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German Pages 426 [428] Year 2004
Silke Hensel Leben auf der Grenze. Diskursive Aus- und Abgrenzungen von Mexican Americans und Puertoricanern in den USA
FORUM IBERO-AMER1CANUM ACTA COLONIENSIA Band 3
herausgegeben von Christian WentzlafF-Eggebert und Barbara Potthast; Hans-Jürgen Prien und Michael Zeuske
Silke Hensel
Leben auf der Grenze Diskursive Aus- und Abgrenzungen von Mexican Americans und Puertoricanern in den USA
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 2004
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der DFG
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2004 ISBN 3-86527-136-7 Alle Rechte vorbehalten Zugl. Habil. 2002 Universität zu Köln Umschlag unter Verwendung der Fotos: The Jesús Colón Papers, Centro de Estudios Puertorriqueños, Hunter College, CUNY und E.O. Goldbeck, Alamo City Employment Agency, Harry Ransom Humanities Research Center, The Univerity of Texas at Austin Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany
fur Werner
INHALT Vorwort I.
Einleitung
II.
Formen kollektiver Identitäten: Die Konstruktion von Rassen
1. 2.
und ethnischen Gruppen Die Vorstellung von Rassen Die Erfindung der Ethnizität
9 11
33 34 64
III. Die Einwanderung und die sozioökonomische Lage der mexikanisch- und der puertoricanischstämmigen Bevölkerung 1. Die mexikanischstämmige Bevölkerung im Südwesten 2. Puertoricaner in New York
91 92 111
IV. 1. a. b. 2. a. b.
Rasse und Staatsbürgerschaft Die Konstruktion der "mexikanischen Rasse" Von "Indianern" und "Mongrels" zur "mexikanischen Rasse" Von "la raza" zu "Kaukasiern" "Fremde Staatsbürger": Puertoricaner in New York Puertoricaner zwischen schwarz und weiß Weder schwarz noch weiß, sondern hispano
131 131 133 161 185 186 206
V. 1. a. b.
Die soziale Konstruktion ethnischer Gruppen Die Ethnisierung der mexikanischstämmigen Bevölkerung Von der "mexikanischen Rasse" zur ethnischen Gruppe Vom loyalen amerikanischen Staatsbürger zurück nach Aztlän Der Wandel der kollektiven Identität der Puertoricaner Das "Puerto Rican Problem" Vom hispano zum Nuyorican
233 233 236 266 299 300 326
VI. Schluss: vergleichende Überlegungen zu Mexican Americans und Puertoricanern
351
2. a. b.
8
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Abkürzungsverzeichnis Quellen- und Literaturverzeichnis Personen- und Sachregister
364 365 421
Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Anzahl der mexikanischen Einwanderer, 1910-1960 Tabelle 2: Die mexikanischstämmige Bevölkerung in den USA insgesamt und ihre Verteilung auf Texas und Kalifornien Tabelle 3: Auf dem Festland und in New York lebende Puertoricaner der ersten und zweiten Generation, 1910-1970
101 102 124
Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1: Uncle Sam's New Class in the Art of Self-Government, William Allan Rogers, Harpers Weekly, August 27,1898 Abbildung 2: John Bull: "It's really most extraordinary what training will do. Why, only the other day I thought that man unable to support himself.", Fred Morgan, Philadelphia Inquirer, 1898 Abbildung 3: The Cares of a Growing Family, J. Campbell Corey, New York Bee, May 25, 1898 Abbildung 4: Gran Baile, 1932 Abbildung 5: Cabral's Cantinflas on Jim Crow Restaurants, Times Magazine, February 7, 1944 Abbildung 6: "Puertorriqueño, este es tu día. Celébralo con orgullo!", La Prensa, 3.7.1958
189
190 191 222 248 335
Vorwort
9
Vorwort Der Begriff der ethnischen oder nationalen Identität ist in den letzten Jahren sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in den Medien populär geworden und beeinflusst unsere Vorstellungen über Politik, Kultur und Gesellschaft. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der weltweit zunehmenden Vernetzung von Gesellschaften sowie mit den ebenfalls globalen Wanderungsbewegungen. Die feste, unumstrittene Zugehörigkeit zu einer scheinbar "natürlichen" Gruppe gewinnt vor diesem Hintergrund immer stärker an Bedeutung, da sie soziale Orientierung vermittelt. Auf diese Weise ist der Begriff der Identität eng verbunden mit Grenzen, die mit unterschiedlichsten Begründungen in Bezug auf die jeweilige "Wesensart" oder Kultur zwischen den aufeinander treffenden Kollektiven gezogen werden. Für Migranten bedeutet das Überschreiten einer Staatsgrenze häufig nur die Überwindung einer ersten Hürde. Ihr Leben im Aufnahmeland ist vielfach geprägt durch politische, soziale und kulturelle Aus- und Abgrenzungen. Diese Grenzziehungen entstehen im Diskurs über das Eigene und das Fremde, an dem sich neben den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft auch die Migranten und deren Nachkommen beteiligen. Solche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen folgen spezifischen historischen Gegebenheiten und unterscheiden sich dementsprechend in ihren Ausprägungen und Bedeutungen von Gesellschaft zu Gesellschaft. Außerdem unterliegen sie einem historischen Wandel. Dies bedeutet auch, dass Identitäten immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden und sich in ständigem Fluss befinden. Von der Ausbildung und dem Wandel sozialer und kultureller Grenzen und ihrer Bedeutung für mexikanische und puertoricanische Migranten in den USA handelt die vorliegende Studie. Die Diskriminierung von Puertoricanern und mexikanischstämmigen USAmerikanern geht mit einer starken Politisierung ihrer jeweiligen kollektiven Identität einher. Vor diesem Hintergrund ist auch die akademische Landschaft in den USA von Grenzen durchzogen. Manchmal wurde mein Interesse für ihre Geschichte skeptisch betrachtet, da ich keiner der untersuchten Gruppen angehöre. Ich hoffe jedoch, mit den Ergebnissen der Studie zeigen zu können, dass persönliche Betroffenheit keine Voraussetzung für eine emanzipatorische Geschichtsschreibung darstellt und dass vielmehr die Distanz zu neuen Perspektiven fuhren kann. Überwiegend bin ich in den USA jedoch auf große Hilfsbereitschaft getroffen. Wichtige Hinweise in einer frühen Phase der Studie
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gaben Albert Camarillo und Devra Weber. Bei der Materialsuche standen die Wissenschaftler und Archivare der National Archives, Washington, D.C., der Nettie Lee Benson Library und dem Center for American History an der University of Texas in Austin, den Special Collections der University of Texas in El Paso, den Special Collections und dem Center for Chicano Studies der University of California in Los Angeles, den Special Collections der Stanford University sowie der Bancroft Library der University of California in Berkeley immer hilfreich zur Seite. Besonders danken möchte ich für die fachliche Beratung und herzliche Aufnahme am Center for Puerto Rican Studies, Hunter College, CUNY. Die Aufenthalte in Kalifornien haben Mark Cioc und Sandra Brod mit ihrer Gastfreundschaft erheblich erleichtert. Danken möchte ich auch Jaime E. Rodriguez O. Vor allem möchte ich John Nieto-Phillips für die vielen Diskussionen und seine Freundschaft danken. Angesichts einer beschleunigten Globalisierung wird es in Deutschland immer dringender, sich mit den Problemen der weltweiten Wanderungsbewegungen sowie ethnischer Grenzziehungen auseinander zu setzen. Ich hoffe, dass die vorliegende Untersuchung einen Beitrag zur Entprovinzialisierung und damit zur Internationalisierung der akademischen sowie der öffentlichen Debatten leisten kann. Eine Reihe von Personen standen meinem Vorhaben von Anfang an wohlwollend gegenüber. Ihre Unterstützung trug maßgeblich zum Gelingen der Studie bei. Zunächst möchte ich Barbara Potthast herzlich danken für ihre fachliche und freundschaftliche Begleitung des Projekts. Sie hat mir stets hilfreich zur Seite gestanden, wenn es notwendig war, und ansonsten die notwendigen Freiheiten gewährt. Danken möchte ich außerdem Michael Zeuske, Norbert Finzsch, Jost Dülffer und Hanjo Beressem. In der Phase des Schreibens haben Hans-Walter Schmuhl, Heike Bungert und Anke Ortlepp mit Rat und Kritik zur Seite gestanden. Steffi Sauter hat dankenswerterweise die Endkorrektur übernommen. Finanzielle Unterstützung für die Archivreisen und die nachfolgende Ausarbeitung der Ergebnisse erhielt ich vom German Marshall Fund und als Habilitationsstipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der DFG möchte ich außerdem für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses herzlich danken. Für die Aufnahme in die Reihe "Forum Ibero-Americanum. Acta coloniensia" danke ich den Herausgeberinnen Christian Wentzlaff-Eggebert, Barbara Potthast, HansJürgen Prien und Michael Zeuske. Mein besonderer Dank gilt meinem Mann Werner Lamottke, der mir auch in den schwierigen Phasen beigestanden hat und ohne den die Studie in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Bonn, im Januar 2004
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I. Einleitung "Wesen ist was gewesen ist. " Pierre Bourdieu
Die Vorstellung von Kulturunterschieden als Konfliktursache, die in letzter Konsequenz zu Krieg und so genannten "ethnischen Säuberungen" fuhren können, ist in den letzten Jahren sowohl in akademischen Kreisen als auch in der Öffentlichkeit verstärkt thematisiert worden. Die These von Samuel Huntington, der nach dem Ende des Kalten Krieges Kulturzusammenstöße als die künftig global wirkenden Probleme sieht, ist zwar mehrfach kritisiert worden, die Rede davon hat aber gerade angesichts der Terroranschläge in New York und Washington im September 2001 einen enormen Auftrieb erhalten.1 Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse erscheinen Prozesse, die in den industrialisierten Ländern schon seit längerem als problematisch angesehen werden - namentlich die weltweiten Migrationsbewegungen - , vielen als Quelle künftigen Unheils.2 Angesichts der Rede von Kulturzusammenstößen birgt schon allein die Anwesenheit von Fremden scheinbar eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnimg. Die als homogen imaginierte nationale Gemeinschaft sieht ihre Werte, ihren Lebensstandard, ja ihre Identität bedroht von den Anderen, die kommen um zu bleiben.3 Die Vorstellung vom "Konflikt der Kulturen" wird damit in die eigene
Pierre Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2, Hamburg 1997, S. 51. (Im Original auf deutsch.) 1
Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order, New York 1996. Kritisch dazu Thomas Meyer, Identitäts- Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds, Berlin 1997, S. 65ff. Vgl. auch Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, München 1998.
2
Zu Migration vgl. Klaus J. Bade, Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Ostfildern 1984, ders., Migration, Ethnizität, Konflikt, Osnabrück 1996.
3
Frei nach Georg Simmel, "Exkurs über den Fremden", in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 509-512. Wieder abgedruckt in Almut Loycke (Hg.), Der Gast der bleibt. Dimensionen von Georg Simmeis Analyse des Fremdseins, Frankfurt a.M. 1992, S. 9-16.
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Gesellschaft hineingetragen und kann nicht an ihren Grenzen aufgehalten werden. In den Vereinigten Staaten gewinnen solche Warnungen vor einer multikulturellen Gesellschaft in letzter Zeit wieder an Einfluss, nachdem seit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre kulturelle Diversität in weiten Kreisen der Gesellschaft als wertvoll erachtet wurde. Kritische Stimmen fragen vornehmlich nach dem Kitt, der die Gesellschaft zusammenhalten kann, wenn eine Vielzahl von Gruppen sich auf unterschiedliche kulturelle Werte berufen. Was Huntington für die globale politische Entwicklung prophezeite, formulierte Arthur M. Schlesinger Jr. als einer der prominentesten Vertreter dieser Sichtweise für die nationale Ebene: "Ethnic and racial conflict, it seems evident, will now replace the conflict of ideologies as the explosive issue of our time."4 Eine der Gruppen, deren politische Forderungen Schlesinger und mit ihm andere als Gefahr für den nationalen Zusammenhalt der USA beurteilen, sind Hispanics? Dagegen lässt sich allerdings fragen, ob der gesellschaftliche Zusammenhalt vor dem beklagten Aufkommen des Multikulturalismus tatsächlich größer war, oder ob dieses Bild nicht vielmehr trügt, da ein nicht unbeträchtlicher Anteil der USamerikanischen Staatsbürger als Rassen oder ethnische Gruppen unterschieden und deshalb von der vorgestellten nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen blieben.6 Hinzu kommt, dass die Bezeichnung Hispanics keine unumstrittene Gruppe benennt. Sie wird von offizieller Seite auf alle Einwanderer aus Lateinamerika und deren Nachkommen angewendet und definiert auf diese Weise eine gesell4
Arthur M. Schlesinger Jr., The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society, New York 1992, S. 10. Vgl. auch Charles Lindholm, John A. Hall, "Is the United States Falling Apart?", in: Daedalus 126 (1997), S. 183-210. In Großbritannien brachten konservative Politiker seit den 1980er Jahren mit der Rede von der "Unvereinbarkeit der Kulturen" eine ähnliche These in Umlauf. Vgl. Wolfgang Kaschuba, "Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs", in: ders. (Hg.), Kulturen - Identitäten - Diskurse. Perspektiven europäischer Ethnologen, Berlin 1995, S. 11-30, hier S. 22. In der Bundesrepublik äußert sich eine ähnliche Sichtweise in der bis heute verteidigten Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Bereits in der Bezeichnung der Immigranten als Zuwanderer findet ihre Ausgrenzung statt.
5
Schlesinger, The Disuniting, S. 107ff. Diese Sichtweise hat Hans-Ulrich Wehler übernommen. Seiner Meinung nach bieten die USA das beste Beispiel für eine Staatsbürgergesellschaft, die allerdings in den letzten Jahrzehnten durch den Kulturnationalismus der Hispanics in Frage gestellt würde. Hans-Ulrich Wehler, "Nationalismus und Fremdenhaß", in: ders., Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München 1995, S. 144-158, hier S. 154.
6
Zur Nation als vorgestellter Gemeinschaft vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, erw. Neuaufl., Frankfurt a.M. 1996.
I. Einleitung
13
schaftliche Großgruppe. Im nationalen Zensus, der alle zehn Jahre durchgeführt wird, gibt es seit 1980 die Rubrik "Hispanic" und seitdem hat die Rede von ihnen als der zukünftig größten Minderheit in den USA, noch vor den African Americans, stark zugenommen.7 Diese von außen stattfindende diskursive Vereinheitlichung der lateinamerikanischstämmigen Bevölkerung wird innerhalb der Gruppierung allerdings nicht vorbehaltlos akzeptiert.8 Die meisten bevorzugen den Begriff "Latino" oder betonen ihre jeweilige nationale Herkunft und ihre besondere Einwanderungserfahrung. Dies trifft vor allem auf die größten Gruppen unter den Latinos zu, namentlich Mexican Americans und Puertoricaner, deren demographische Schwerpunkte in verschiedenen Regionen der USA liegen. Während die meisten Mexican Americans bis heute im Südwesten und Westen leben, ließen Puertoricaner sich lange Zeit fast ausschließlich an der Ostküste und dort wiederum vor allem in New York nieder.9 Von diesen beiden Gruppen handelt die vorliegende Studie.10 Im Mittelpunkt steht die Frage, wie es zur Ausbildung der beiden Kollektive kam, die sich auf eine von der US-amerikanischen Nation unterschiedene Identität berufen. Anders als in der These Schlesingers, der ethnische Gruppen und Rassen als Kategorien auffasst, mit denen sich gesellschaftliche Konflikte erklären lassen, steht hier das Problem im Vordergrund, wie diese sozialen Handlungseinheiten ent7
Auf die Bedeutung von bürokratischen Entscheidungen, in diesem Falle von Bevölkerungsstatistiken!, für die Sozialgeschichte verweist Lutz Raphael, "Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts", in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.
8
Vgl. Suzanne Oboler, Ethnic Labels, Latino Lives: Identity and the Politics of (Re-) Presentation in the United States, Minneapolis/London 1995. In einigen Bereichen schließen sich die Angehörigen unterschiedlicher Gruppen allerdings zu Hispanics zusammen, so z.B. im Hispanic Caucus der Abgeordneten im US-Kongress. Auch die älteste Bürgerrechtsorganisation von Mexican Americans, die League of United Latin American Citizens, verwendet heute die Bezeichnung Hispanics. Vgl. dazu Kap. IV.l.b. Vgl. auch Geoffrey Fox, Hispanic Nation: Culture, Politics, and the Constructing of /dentity, Secaucus 1996.
9
Neben Puertoricanem sind heute in New York besonders Dominikaner sehr staik vertreten. Und es gibt auch größere puertoricanische Gemeinden in Chicago und Florida. Eine weitere große Gruppe von Latinos stellen die Kubaner, die Teile von Florida stark prägen. Von ihnen handelt diese Studie jedoch nicht, weil ihre Einwanderung in größerem Umfang und eine bevorzugte Behandlung durch die US-Regierung erst mit der kubanischen Revolution von 1959 begann und damit nur wenige Jahre in den Untersuchungszeitraum hineinragt.
10
Die Frage, wie Hispanics zu kategorisieren seien, stellt z.B. Margarita Melville, "Hispanics: Race, Class, or Ethnicity?", in: Journal of Ethnic Studies 16 (1988), S. 6783. Zu den Begriffen "Rasse" und "ethnische Gruppe" vgl. Kap. II.l. und II.2.
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standen sind.11 Rassen und ethnische Gruppen werden vielfach als Entitäten gedacht, deren Zuordnungen auf festen, klar zu benennenden kulturellen Eigenschaften basieren und gewissermaßen evident erscheinen. Die Problematik einer solchen Sichtweise zeigt sich allerdings schon darin, dass Mexican Americans und Puertoricaner heute einen Status einnehmen, der zwischen einer Rasse und einer ethnischen Gruppe changiert. Daher folgt die Studie demgegenüber einem Kulturverständnis, dass darin kein ontologisches Prinzip,12 sondern vielmehr den Prozess von Bedeutungsproduktionen sieht.13 Es geht um die Untersuchung von Fremd- und Selbstwahrnehmung der Mexican Americans und der Puertoricaner in der US-Gesellschaft und um die Bedeutungen, die ihnen als sozialen Gruppen beigemessen wurden.14 Die Studie schließt sich damit neueren Überlegungen an, die Immigranten nicht allein aufgrund ihrer gemeinsamen nationalen Herkunft als eine ethnische Gemeinschaft sehen.15 In den Vereinigten Staaten als einem klassischen Einwanderungsland hat die Beschäftigung mit Migranten, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt wurden mit ethnischen Gruppen, eine lange Tradition. Die Sozialwissenschaften bezogen daraus ihre Legitimation, als sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Universitäten institutionalisiert wurden.16 In der gesellschaftlichen Thematisie11
Diese Unterscheidung von Studien trifft auch Ewa Morawska, "Ethnizität als doppelte Struktur. Ein historisch-vergleichender Ansatz am Beispiel der US-amerikanischen Ethnohistorie", in: Comparativ 8 (1998), S. 48-76, hier S. 54.
12
Zur Kritik an einer solchen Sichtweise vgl. Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt a.M. 1993 (Orig.ausg. 1980), S. 51 f.
13
Christoph Conrad, Martina Kessel, "Blickwechsel: Moderne, Kultur, Geschichte", in: dies. (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 9-42, hier S. lOf.
14
Zur Bedeutung, die diese Ebenen in kulturhistorisch ausgerichteten Studien der Historischen Anthropologie und der Alltagsgeschichte einnehmen vgl. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 298ff. Rudolf Vierhaus, "Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme modemer Kulturgeschichtsschreibung", in: Hartmut Lehmann (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995, S. 7-28, hier S. 13f.
15
Vgl. Werner Sollors (Hg.), The Invention of Ethnicity, New York 1989, Kathleen Neils Conzen, David A. Gerber, Ewa Morawska, George E. Pozzetta, Rudolph Vecoli, "The Invention of Ethnicity: A Perspective from the U.S.A.", in: Journal of American Ethnic History 12 (1992), S. 3-41, Georg Elwert, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen, (Ethnizität und Gesellschaft, Occasional Papers No. 22), Göttingen 1989.
16
William H. Katerberg, "The Irony of Identity: An Essay on Nativism, Liberal Democracy, and Parochial Identities in Canada and the United States", in: American Quarterly 47 (1995), S. 493-524, hier S. 507. An mehreren Universitäten wurden groß angelegte Forschungsprojekte in Angriff genommen. Vgl. Survey of Race Relations, Hoover Institute
I.
Einleitung
15
rung von Migration lassen sich über die Zeit gewisse Wellen beobachten: Mal überwiegt im Diskurs über Immigranten die Ablehnung, dann kommt es zu einer positiven Bewertung ihrer Anwesenheit bzw. der Offenheit der Vereinigten Staaten gegenüber den Einwanderungswilligen. 17 Dieser Diskurs enthält immer soziale Ordnungsvorstellungen, in denen die Einwanderer und ihre Nachkommen von der Gesellschaft unterschieden werden. Besteht das Ziel der Gegner von Einwanderung in einer homogenen und deshalb ihrer Meinung nach konfliktfreien Gesellschaft, so haben die Befürworter eine multikulturelle gesellschaftliche Ordnung im Blick. Dabei verstehen sie unter "multikulturell" vielfach das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen. Gemeinsam ist beiden Sichtweisen die Befürchtung, kulturelle Differenz könnte zu Konflikten führen. Während die einen dies mit einer Homogenisierung der Bevölkerung vermeiden wollen, appellieren die anderen an die Moral, indem sie Toleranz als einen wichtigen Wert hervorheben.18
Archives, Stanford University, Paul S. Taylor, Mexican Labor in the United States, 5 Bde., Berkeley 1928-1932. Zur Chicagoer Schule vgl. Stow Persons, Ethnic Studies at Chicago, 1905-1945, Uibana/Chicago, 111. 1987. 17
Diese Offenheit und den Umgang der USA mit ethnischen Unterschieden lobte erst kürzlich der Politikwissenschaftler Lawrence Fuchs, der glaubt, dass "no nation before had ever made diversity itself a source of national identity and unity". Lawrence Fuchs, The American Kaleidoscope: Race, Ethnicity, and Civic Culture, Hanover, N.H. 1990, S. 261.
18
Zum Begriff der "multikulturellen Gesellschaft" und den Vorstellungen dazu in den USA vgl. Claus Leggewie, "Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft", in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfürt a.M. 1994, S. 4665. Ders., "Vom Deutschen Reich zur Bundesrepublik - und nicht zurück. Zur politischen Gestalt einer multikulturellen Gesellschaft", in: Friedrich Balke et al. (Hg.), Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern, Frankfurt a.M. 1993, S. 3-20. Frank-Olaf Radtke, "Lob der Gleich-Gültigkeit. Die Konstruktion des Fremden im Diskurs des Multikulturalismus", in: Uli Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1992, S. 79-96. Ders., "Multikulturalismus: ein postmodemer Nachfahre des Nationalismus?", in: Berndt Ostendorf (Hg.), Multikulturelle Gesellschaft: Modell Amerika?, München 1994, S. 229-235. Hans-Jürgen Puhle, "'Multikulturalismus' und der amerikanische 'consensus'", in: ebd., S. 77-93. Werner Sollors, '"De Pluribus Una/E Pluribus Unus', Matthew Arnold, George Orwell, Holocaust und Assimilation. Bemerkungen zur amerikanischen Multikulturalismusdebatte", in: ebd. S. 53-74. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. 1993, Christiane Harzig et al. (Hg.), Widersprüche des Multikulturalismus, Hamburg 1995. Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997.
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Mit den Mexican Americans und Puertoricanern werden zwei Bevölkerungsgruppen in den Blick genommen, die erst seit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre ein gesteigertes Interesse auf sich ziehen. Damit entstanden viele Studien über sie in einer Phase, in der es allgemein zu einer positiveren Bewertung von ethnischen Gruppen und kultureller Vielfalt kam. Die gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit führten zu einer Ausweitung universitärer Einrichtungen, die sich mit Mexican Americans und Puertoricanern beschäftigten, und Angehörige der Gruppen erhielten Stellen in den neuen Instituten. Gleichzeitig erfuhren kulturelle Differenzen, die unter dem Begriff Ethnizität oder ethnische Identität gefasst wurden, als Folge der Bürgerrechtsbewegung eine Aufwertung. Die alten Vorstellungen über eine notwendige Assimilation von Immigranten, mit der häufig eine einseitige Anpassung an die Aufhahmegesellschaft gemeint war, geriet zunehmend in die Kritik. Stattdessen wurde dem Ideal von individuellen Rechten die Forderung nach Gruppenrechten zur Seite gestellt. Die US-amerikanische Gesellschaft erschien nicht mehr als "melting pot",19 sondern als ein Konglomerat verschiedener ethnischer Gemeinschaften. Innerhalb dieser pluralistischen Sichtweise lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Einerseits betonten die Studien über ethnische Gruppen trotz der oft Generationen zurückreichenden Immigration den Erhalt der jeweiligen kulturellen Eigenständigkeit, andererseits beschäftigten sich Historiker und Sozialwissenschaftler vor allem mit der Frage der Herrschaftsverhältnisse in den Vereinigten Staaten, die jetzt als wesentlich konfliktreicher angesehen wurden, als dies bis in die 1960er Jahre der Fall war. In der Untersuchung der Klassenverhältnisse kamen ethnische Gruppen als integrale Bestandteile der ausgebeuteten Arbeiterklasse in den Blick.20 Beiden Richtungen ist allerdings gemein, dass sie Rassen und Ethnien als gegeben - überspitzt ließe sich auch formulieren: als ahistorisch - ansehen. Dies gilt auch für den überwiegenden Teil der Studien zu lateinamerikanischen Einwanderern. Als größte Gruppe von Einwanderern lateinamerikanischer Herkunft standen zunächst Mexican Americans im Mittelpunkt des Interesses. Frühe, meist von außen vorgenommene Studien, die noch dem Assimilationsmodell anhingen, sahen in der mangelnden sozialen Mobilität der Mexican Americans eine Folge ihrer defizitären Kultur. Den Mexikanern haftete das Stigma an, servil, aber19
Vgl. Volker Bischoff, Marino Mania, "Melting Pot-Mythen als Szenarien amerikanischer Identität zur Zeit der New Immigration", in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 513-536, Werner Sollors, "Konstruktionsversuche nationaler und ethnischer Identität in der amerikanischen Literatur", in: ebd., S. 537-570.
20
John Higham, "Current Trends in the Study of Ethnicity in the United States", in: Journal of American Ethnic History 2 (1982), S. 5-15, hier S. 7ff.
I. Einleitung
17
gläubisch, passiv, fatalistisch und emotional zu sein.21 Diese Wahrnehmung dürfte ihren Ursprung auch in dem Vergleich zwischen Lateinamerika und den Vereinigten Staaten nach dem Ende der jeweiligen Kolonialherrschaft gehabt haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspann sich eine Debatte, in der die politische Instabilität und der wirtschaftliche Niedergang der lateinamerikanischen Staaten während des 19. Jahrhunderts auf das katholische Erbe zurückgeführt wurde.22 Die seit den 1970er Jahren zumeist von Angehörigen der Gruppe selbst unternommenen Studien wandten sich verständlicherweise zunächst gegen diese Stigmatisierungen. Der postulierten Minderwertigkeit der mexikanischen Kultur stellten sie die Notwendigkeit der Gruppenidentifikation der Mexican Americans in einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt gegenüber.23 Ins Blickfeld geriet zum einen der Widerstand der mexikanischstämmigen Bevölkerung gegen die Okkupation der nördlichen Gebiete Mexikos durch die USA Mitte des 19. Jahrhunderts. Zum anderen traten viele Untersuchungen dem Stereotyp des Mexikaners als passivem, nicht zu organisierendem Arbeiter entgegen, indem sie die Beteiligung von Mexican Americans an Arbeitskämpfen und der Bildung von Gewerkschaften hervorhoben.24 Als Ursache für die schlechte soziale Stellung und mangelnde Mobilitätschancen der mexikanischstämmigen Bevölkerung galten die rassistisch motivierten Diskriminierungen durch die Weißen. Einen theoretischen Rahmen bot hier das Modell des internen Kolonialismus.25 Ebenso wie die ältere These einer mangelnden Assimilationsfähigkeit der Mexican Americans betrachtete diese Interpretation die angloamerikanische und die mexikanischstämmige Bevölkerung als zwei entgegengesetzte
21
Leo Grebler (Hg.), The Mexican-American People: The Nation's Second Largest Minority, New York 1970, S. 10.
22
Vgl. Horst Pietschmann, "Lateinamerikanische Geschichte als historische Teildisziplin", in: Historische Zeitschrift 248 (1989), S. 304-342, hier S. 312f.
23
Vgl. z.B. Ricardo Romo, East Los Angeles: History of a Barrio, Austin 1983.
24
Besonders deutlich wird dieses Bestreben bei Juan Gómez-Quiñones, "The First Steps: Chicano Labor Conflict and Organizing 1900-1920", in: Aztlán 3,1 (1973), S. 13-49. Er sieht den Grund fur die größere Anziehungskraft der IWW (International Workers of the World) auf die Mexican Americans in ihrer Radikalität im Vergleich zur AFL (American Federation of Labor). Tatsächlich dürfte der höhere Organisierungsgrad von Mexican Americans in der IWW an der Öffnung der Gewerkschaft für Immigranten gelegen haben. Die AFL war mexikanischstämmigen Arbeitern gegenüber wesentlich reservierter eingestellt
25
Vgl. Rodolfo Acuña, Occupied America: A History of Chícanos, 2. Aufl., New York 1981. In der ersten Auflage von 1972 sah Acuña den internen Kolonialismus als adäquates Erklärungsmodell fur das 19. und 20. Jahrhundert, in der zweiten Auflage beschränkte er dies auf das 19. Jahrhundert.
18
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Pole von ethnischen, in ihrem Wesen gleichbleibenden Gruppen. Die Bedingungen, unter denen sich ein Solidarbewusstsein auf der Grundlage der Herkunft bildete, wurden kaum untersucht, da der Gruppenzusammenhalt vorausgesetzt wurde.26 Die Erzählung der Geschichte der mexikanischstämmigen Bevölkerung wurde vielfach als "them-versus-us-story" konzipiert,27 in der kein Platz für die Region zwischen den beiden Polen von mexikanischer und US-amerikanischer Kultur war.28 Im Rahmen der new labor history entstanden seit den späten 1970er Jahren eine Reihe von Untersuchungen, die die Klassenzugehörigkeit der Mexican Americans als wichtigste Ungleichheitsdimension in den Vordergrund stellten.29 In einer Langzeitstudie über Texas sah David Montejano Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur als Ursache für einen Wandel in den Beziehungen zwischen Angloamerikanern und Mexikanern bzw. Mexican Americans.30 Die Betonung der Klassenstruktur der US-amerikanischen Gesellschaft ist in den letzten Jahren allerdings nachhaltig revidiert worden, indem die Bedeutung der Rassenzugehörigkeit innerhalb der Arbeiterschaft nicht nur für Minderheiten, sondern auch für Weiße gezeigt wurde.31
26
Eine Ausnahme ist die Studie von Francisco E. Balderrama, In Defense of La Raza: The Los Angeles Mexican Consulate and the Mexican Community, 1929-1936, Tucson 1982. Der Autor untersucht, wie die mexikanische Regierung bestrebt war, das Nationalbewusstsein der mexikanischen Immigranten in den USA für ihre eigenen Interessen zu fordern und auszunutzen.
27
Alex M. Saragoza, "Recent Chicano Historiography: An Interpretive Essay", in: Aztlän 19,1 (1990), S. 1-77, hier S. 8.
28
Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die Assimilation von Einwanderern weiterhin als ein einseitig verlaufender Prozess gedacht wurde, in dem die Immigranten die Kultur der Aufnahmegesellschaft übernahmen, umgekehrt aber keine Beeinflussung stattfand. Neue Studien zum Einfluss der afroamerikanischen auf die "weiße", angloamerikanische Kultur zeigen, dass diese Sichtweise falsch ist. Vgl. Shelley Fisher Fishkin, "Interrogating 'Whiteness', Complicating 'Blackness': Remapping American Culture", in: American Quarterly 47 (1995), S. 428-466.
29
Vgl. Albert Camarillo, Chicanos in a Changing Society: From Mexican Pueblos to American Barrios in Santa Barbara and Southern California, 1848-1930, Cambridge, Mass. 1979, Mario T. Garcia, Desert Immigrants. The Mexicans of El Paso, 1880-1920, New Haven 1981, Thomas E. Sheridan, Tucsoneses: The Mexican Community in Tucson, 1854-1941, Tucson 1986.
30
David Montejano, Anglos and Mexicans in the Making of Texas, 1836-1986, Austin 1987.
31
David R. Roediger, The Wages of Whiteness: Race and the Making of the American Working Class, Überarb. Aufl., London/New York 1999. Dieser Ansatz wird mittlerweile auch für Mexican Americans aufgegriffen. Vgl. Neil Foley, The White Scourge: Me-
I.
Einleitung
19
Die Tendenz, die mexikanischen Einwanderer und ihre Nachfahren nicht mehr als eine homogene Gruppe zu betrachten, zeigte sich zunächst in Studien über die Geschlechterdifferenz. 32 In den letzten Jahren gilt dies auch für Untersuchungen zur inneren Differenzierung der Gruppe nach der Klassenzugehörigkeit33 sowie in Bezug auf die kulturelle Orientierung.34 Die ethnische Identität, xican, Blacks, and Poor Whites in Texas Cotton Culture, Berkeley 1997. Vgl. dazu Kap. II.l. und Kap. IV.l.b. 32
Zunächst entstanden Studien zur speziellen Erfahrung von Lohnarbeiterinnen. Vgl. Joan M. Jensen, "Canning Comes to New Mexico: Women and the Agricultural Extension Service, 1914-1919", in: New Mexico Historical Review 57,4 (1982), S. 361-386, Vicki L. Ruiz, Cannery Women - Cannery Lives. Mexican Women, Unionization, and the California Food Processing Industry, 1930-1950, Albuquerque 1987, Adelaida R. DelCastillo (Hg.), Between Borders. Essays on Mexicana/Chicana History, Los Angeles 1990. Über das Geschlechterveihältnis außerhalb der Arbeitswelt entstanden dagegen vorwiegend sozialwissenschaftliche Studien. Vgl. Maxine Baca Zinn, "Mexican American Women in the Social Sciences", in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 8,2 (1982), S. 259272. Bisher liegen nur wenige historische Arbeiten hierzu vor, vgl. Richard Griswold del Castillo, La Familia. Chicano Families in the Urban Southwest, 1848 to the Present, Notre Dame 1984. Als erklärungsbedürftig gelten vor allem die vom angloamerikanischen Modell abweichenden Familienstrukturen und der machismo. Beides wird häufig mit der Traditionalität der mexikanischen Kultur und der aus ihr resultierenden Sozialstruktur erklärt. Aus dieser Perspektive erscheint es als Fortschritt fur die mexikanischstämmigen Frauen, in der kapitalistischen Gesellschaft der USA zu leben, da sie als Albeiterinnen einen unabhängigen ökonomischen Status erwerben können. So z.B. Rosalinda M. González, "Chicanas and Mexican Immigrant Families 1920-1940: Women's Subordination and Family Exploitation", in: Lois Scharf, Joan M. Jensen (Hg.), Decades of Discontent. The Women's Movement, 1920-1940, Boston 1983, S. 59-84. Mit ihrer Studie über Dorfgemeinden in New Mexico, deren Bevölkerung aus ökonomischen Gründen zur Abwanderung vor allem nach Colorado gezwungen war, widerspricht Sarah Deutsch diesem Bild, indem sie zeigt, wie sich die Stellung der Frauen als Folge der Migration verschlechterte. Sarah Deutsch, No Separate Refuge: Culture, Class, and Gender on an Anglo-Hispanic Frontier in the American Southwest, 1880-1940, New York 1987. Einen Überblick gibt neuerdings Vicki L. Ruiz, From Out of the Shadows: Mexican Women in TwentiethCentury America, New York/Oxford 1998.
33
Richard A. Garcia, Rise of the Mexican American Middle Class, San Antonio, 19291941, College Station, TX 1991.
34
George Sánchez, Becoming Mexican American: Ethnicity, Culture, and Identity in Chicano Los Angeles, 1900-1945, New York/Oxford 1993. Sánchez fragt einerseits nach dem Wandel der Identität der mexikanischen Einwanderer in den USA. Er problematisiert dabei allerdings nicht, ob und inwiefern diese Einwanderer bereits als ethnische Gruppe zu bezeichnen sind, oder ob es nicht vielmehr im Migrationsprozess zu einer Vereinheitlichung als "Mexikaner" kam. Andererseits zeigt er, dass die kulturelle Anpassung der Immigranten an die neue Umgebung nicht einherging mit einem sozialen Aufstieg. Gutiérrez untersucht dagegen die Konflikte zwischen Mexican Americans und Einwanderern der ersten Generation. David G. Gutiérrez, Walls and Mirrors: Mexican Americans, Mexican Immigrants, and the Politics of Ethnicity, Berkeley 1995.
20
Silke Hensel
die in gemeinsamen kulturellen Merkmalen gesehen wird, gilt immer weniger als eine feste Einheit, die praktisch keinem Wandel unterworfen ist. Damit wird auch ein neues Verständnis von Assimilationsprozessen möglich, die nun nicht mehr als einseitig verlaufende Anpassung, sondern als komplexer Interaktionsprozess verschiedener Gruppen fassbar wird. Der kulturelle Wandel, der mit der Migration einsetzt, gerät als "invention of tradition" in den Blick.35 In der Historiographie über Mexican Americans richtet sich das Interesse der meisten Studien auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für diesen Zeitraum entstanden dem allgemeinen Trend der Sozialgeschichtsschreibung seit den 1970er Jahren folgend eine Reihe von Untersuchungen, die sich auf die Mikroebene konzentrieren, die also eine Stadt, eine landwirtschaftliche Region oder seltener einen Bundesstaat in den Blick nehmen.36 Die Ausweitung von Lokalstudien hing eng mit neuen Methoden in der Untersuchung der Unterschichten zusammen. Die oral history erhielt in diesem Rahmen einen wichtigen Stellenwert.37 Im Vergleich zu den Studien über Mexican Americans nehmen sich Umfang und Vielfalt der historischen Literatur über Puertoricaner wesentlich geringer
35
Vgl. Lisbeth Haas, Conquest and Historical Identities in California, 1769-1936, Berkeley 1995. Zum Konzept der "invention of tradition" s. Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, vgl. auch Kap. II.2. In Bezug auf die Studien über Einwanderung allgemein und über Mexican Americans im Besonderen gilt, dass sie meistens von ethnischen Gruppen und Ethnizität handeln, sich aber seltener für den Prozess, in dem solche Gruppen zu Rassen wurden, interessieren. George Sánchez, "Race, Nation, and Culture in Recent Immigrant Studies", in: Journal of American Ethnic History 18 (1999), S. 66.84.
36
Vgl. neben den bereits genannten Titeln Oscar J. Martinez, Border Boom Town: Ciudad Juárez Since 1848, Austin 1978, Amaldo de León, Ethnicity in the Sunbelt: A History of Mexican Americans in Houston, Houston 1989, Douglas Monroy, Rebirth: Mexican Los Angeles From the Great Migration to the Great Depression, Berkeley 1999, Rodolfo Rosales, The Illusion of Inclusion: The Untold Political Story of San Antonio, Austin 2000, Gilbert G. González, Labor and Community: Mexican Citrus Worker Villages in a Southern California County, 1900-1950, Urbana/Chicago 1994. Los Angeles, das seit den 1930er Jahren die größte "mexikanische" Stadt in den USA war, zieht zweifelsohne auch das größte Interesse auf sich.
37
Zur Historiographie über Einwanderer allgemein vgl. Rudolph Vecoli, "Return to the Melting Pot: Ethnicity in the United States in the Eighties", in: Journal of American Ethnic History 5 (1985), S. 7-20, hier S. 13f. Neben den in der vorangegangenen Fußnote genannten Arbeiten vgl. Devra Weber, Dark Sweat, White Gold: California Farm Workers, Cotton, and the New Deal, Berkeley 1994, Camarillo, Chícanos in a Changing Society, Ruiz, Cannery Women.
I.
21
Einleitung
aus. 38 Dabei spielt das größere demographische Gewicht der mexikanischstämmigen Bevölkerung, die zudem auf mehrere Bundesstaaten verteilt ist, eine wichtige Rolle. Daneben besteht ein wichtiger inhaltlicher Unterschied in den Interpretationsmustern. D i e besondere Situation Puerto Ricos, das bis 1898 spanische Kolonie war und nach dem spanisch-amerikanischen Krieg v o n Spanien an die Vereinigten Staaten abgetreten werden musste, sowie die folgende ununterbrochene Zugehörigkeit zu den U S A - wenn auch mit einigen Statusveränderungen - hat den Kolonialismus zum beherrschenden Thema in der neueren Literatur über Puertoricaner gemacht. 39 Während ältere Untersuchungen
dem
allgemeinen Interpretationsmuster folgend in der bäuerlichen Herkunftskultur der Migranten aus Puerto Rico ein Problem sahen, 40 heben neuere Studien die koloniale Situation hervor. 41 Damit zusammenhängend findet allerdings eine Vereinheitlichung
der
Puertoricaner
auf
der
Insel
und
auf
dem
US-
amerikanischen Festland statt, die in Bezug auf das Selbstverständnis beider nur bedingt zutrifft. 42 Neben der kolonialen Situation spielte für puertoricanische Migranten, ebenso wie dies für andere Einwandergruppen galt, der Rassismus
38
Die ausführlichste Studie über Puertoricaner in New York behandelt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Virginia Sánchez Korrol, From Colonia to Community: The History of Puerto Ricans in New York City, 1917-1948, Westport, Conn. 1983.
39
Vgl. Center for Puerto Rican Studies, Taller de migración, conferencia de historiografía, Abril 1974, New York 1975. Die Beiträge in dem Sammelband interpretieren die Migration der Puertoricaner als Folge der US-amerikanischen kapitalistischen Herrschaft. Eine ähnliche Position vertritt Manuel Maldonado-Denis, The Emigration Dialectic: Puerto Rico and the USA, New York 1980. Anders Maldonado, die in den "PullFaktoren", nämlich der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard, die Hauptursache für die Migration sieht. Rita M. Maldonado, "Why Puerto Ricans Migrated to the United States in 1947-73", in: Monthly Labor Review 99,9 (1976), S. 7-18. Ebenso Nathan Glazer, Patrick Moynihan, Beyond the Melting Pot: The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, Cambridge, Mass. 1963, S. 91-99.
40
Ebd., S. 86ff. Andere Autoren schätzten die Zukunft der Puerto Ricaner in den USA positiver ein und glaubten, eine Entwicklung von Assimilation und sozialer Mobilität prognostizieren zu können. Vgl. Oscar Handlin, The Newcomers: Negroes and Puerto Ricans in a Changing Metropolis, Cambridge, Mass. 1959. Ebenso Joseph Fitzpatrick, Puerto Rican Americans: The Meaning of Migration to the Mainland, Englewood Cliffs 1971.
41
Der Bezug auf den Kolonialismus findet sich vor allem bei Puertoricanem, die seit den späten 1960er Jahren publizierten. Vgl. z.B. Felix M. Padilla, Puerto Rican Chicago, Notre Dame 1987. In Bezug auf Puerto Rico vgl. Pedro A. Cabán, Constructing a Colonial People: Puerto Rico and the United States, 1898-1912, Boulder, Col. 1999.
42
Vgl. Juan Flores, "National Culture and Migration: Perspectives from the Puerto Rican Working Class", in: ders., Divided Borders: Essays on Puerto Rican Identity, Houston 1993, S. 111-141. Vgl. Kap. IV.2.b.
22
Silke Hensel
eine wichtige Rolle.43 In der Historiographie zu Puertoricanem in New York hat sich außerdem in den letzten Jahren vergleichbar zur Literatur über Mexican Americans ein Schwerpunkt in der Beschäftigung mit ihrer Lage als Arbeiter und Arbeiterinnen herausgebildet.44 Anders als für Mexican Americans ist in Bezug auf Puertoricaner in New York bisher noch keine Studie erschienen, die die Heterogenität der Gruppe in den Blick nimmt und Ethnizität als prozesshaft, im historischen Wandel befindlich interpretiert.45 Allerdings gilt auch für die Literatur über die mexikanischstämmige Bevölkerung, dass einige Autoren zwar einen Wandel verzeichnen, der sich in der Selbstbenennung von Mexican Americans einerseits und Chicanos46 andererseits manifestiert, sie beurteilen dann aber die Identität ersterer als "falsch", da sie an den Weißen ausgerichtet sei. Nur Chicanos sind demnach die "echten" Vertreter der Gruppe. Hier geht es also weniger darum, den Blick für die Flexibilität und Mehrdeutigkeit von Identitäten zu schärfen, als vielmehr darum, Grenzen zu verschieben.47 Die Frage nach der Rolle von Wahrnehmungen und der Bedeutung von Bildern für Wir-Gruppen-Prozesse beinhaltet dagegen ein Verständnis von sozialen Formationen, das ihnen keine innewohnende Essenz zuschreibt. Anders als Huntington oder Schlesinger geht diese Arbeit nicht davon aus, dass ethnisch aufgeladene gesellschaftliche Konflikte durch die Feststellung kultureller Differenz 43
Vgl. Clara E. Rodríguez, "Puerto Ricans: Between Black and White", in: dies., Virginia Sanchez Korrol, José Oscar Alers (Hg.), The Puerto Rican Struggle. Essays on Survival in the U.S., New York 1980, S. 20-30.
44
Vgl. Altagracia Ortiz, "Puerto Ricans in the Garment Industry of New York City, 19201960", in: Robert Asher, Charles Stephenson (Hg.), Labor Divided: Race and Ethnicity in United States Labor Struggles, 1835-1960, New York 1990, S. 105-128, Virginia Sánchez Korrol, "Survival of Puerto Rican Women in New York Before World War II", in: Clara E. Rodriguez et al. (Hg.), The Puerto Rican Struggle, S. 47-56, Mario Menéndez, "Femmes et emploi: une analyse historique de l'immigration cubaine et portoricaine aux Etats-Unis", in: Elyette Benjamin-Labarthe et al. (Hg.), Actes du Vie Congrès Européen sur les Cultures d'Amerique Latine aux Etats-Unis: Confrontation et Métissages, Bordeaux 7-8-9 juillet 1994, Bordeaux 1995, S. 53-62.
45
Es gibt eine unveröffentlichte Dissertation in Anthropologie von Judith Herbstein, die Ethnizität als politische Ressource interpretiert. Der Autorin zufolge verfügten die Puertoricaner vor den 1960er Jahren über keinen Gruppenzusammenhalt. Judith Herbstein, Rituals and Politics of the Puerto Rican 'Community' in New York City, Ph.D.diss. City University of New York 1978.
46
Der Begriff "Chicano" ist zwar älter, er stieg aber erst während der Bürgerrechtsbewegung als Selbstbezeichnung auf. Vgl. dazu Kap. V.l.b.
47
Als neueres Beispiel für die Haltung s. Roldolfo Acuña, Anything But Mexican: Chicanos in Contemporary Los Angeles, London/New York 1996, S. xii.
I. Einleitung
23
allein hinreichend erklärt werden könnten. Wichtiger als die Unterschiede selbst sind die Bedeutungen, die ihnen jeweils beigemessen werden.48 Eine der fundamentalsten Bedeutungszuweisungen in diesem Zusammenhang besteht in der Unterscheidung von Fremdem und Eigenem.49 Sie fuhrt zur Ausbildung kollektiver Identitäten, die als Rassen oder ethnische Gruppen bezeichnet werden. Mit dem Begriff der kollektiven Identität ist somit eine kommunikative Konstruktion gemeint, der kein Wesen außerhalb sozialer Interaktion anhaftet. Ebenso wie die personale Identität,50 die ein Bewusstsein von sich selbst meint, das nur im Spiegel des Anderen entstehen kann,51 stellt auch die kollektive Identität ein Wir-Bewusstsein, ein Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl in Abgrenzung zu Fremden dar, das für diejenigen, die es teilen, handlungsanleitende Impulse gibt.52 Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit basiert auf angeeigneten Wissensbeständen und Erfahrungsmustem, es stellt einen einheitlichen Bezugspunkt in der Praxis sowie der Selbst- und Weltauffassung dar und ist damit kulturell determiniert.53 Erst die Begegnung mit anderen Gesellschaften bringt zum Vorschein, dass der Sinnhorizont der eigenen Ordnung nicht gleichzusetzen ist mit einer allgemeingültigen Weltordnung und ruft so das Bewusstsein der kollektiven Identität hervor. Dieses Bekenntnis zur eigenen Kultur bedeutet, dass "kollektive Identität (...) eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen" ist.54
48
Vgl. Stuart Hall, "Neue Ethnizitäten", in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 15-25, hier S. 17.
49
Vgl. Alois Hahn, "Die soziale Konstruktion des Fremden", in: Walter M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt a.M. 1994, S. 140-166, hier S. 142.
50
Zur theoretischen Grundlegung des Begriffs der personalen Identität vgl. Erik H. Erikson, Identity: Youth and Crisis, New York 1968, Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994, Jürgen Straub, "Identitätstheorie im Obergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des Nicht-Identischen in subjekttheoretischen Diskursen", in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 14 (1991), S. 49-71.
51
Vgl. Jürgen Link, Wulf Wülfing, "Einleitung", in: dies. (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 7-15, hier S. 9.
52
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. durchges. Aufl., München 1997, S. 134. Zur Begriffsgeschichte von "Identität" vgl. Kap. II.
53
Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 136ff. Vgl. auch Conrad, Kessel, "Blickwechsel", S. 10.
54
Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132, (Hervorh. im Orig.).
24
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Dem Identitätsbegriff haften in seinem Alltagsverständnis zwei Probleme an. Erstens scheint Identität darin als gegeben. Sowohl Personen als auch Kollektiven werden feststehende, unveränderliche Merkmale oder Eigenschaften zugeschrieben, die die Gleichheit mit sich selbst über die Zeit hinweg begründen sollen.55 Dies ist hier jedoch nicht gemeint. Vielmehr finden kollektive Identitäten ihren Ausdruck in übereinstimmenden Selbst- und Weltbeschreibungen, die das Ergebnis von Aushandlungsprozessen darstellen. Die hier getroffenen Übereinkünfte sind oftmals "latentes Alltagswissen, das das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln der Angehörigen des betreffenden Kollektivs gleichsinnig strukturiert und leitet."56 Als imaginäre Größe gehört die kollektive Identität aber durchaus der Wirklichkeit an und zeigt als solche Wirkungsmacht.57 Aus gesellschaftlichen Verständigungsprozessen resultierend, weisen Identitäten Flexibilität auf und unterliegen in dem Maße einem Wandel, wie sich die Gesellschaft und damit auch gesellschaftliche Orientierungen verändern. Darüber hinaus zeigt sich die historische Dimension kollektiver Identitäten noch in einer anderen Weise, da die diskursive Konstruktion der Eigenart und Einheit der Gruppe sich oft auf Ereignisse aus der Vergangenheit stützt. Besonders augenfällig ist dies bei nationalen und ethnisch begründeten Identitätsvorstellungen, die eine in die Tiefe der Zeit so weit zurückreichende Kontinuität behaupten, dass das Wesen der Gemeinschaft gleichsam unverrückbar erscheint. Am extremsten zeigt sich dies vielleicht in der Konstruktion von menschlichen Gemeinschaften als Rassen, deren Ausbildung nicht mehr in den Zeithorizont historischer Gesell-
55
Vgl. Stuart Hall, "Ethnicity: Identity and Difference", in: Radical America 23 (1989), S. 9-22, hier S. 12. Dies kritisiert auch Niethammer und verwirft deshalb alle Untersuchungen, die den Begriff der kollektiven Identität benutzen. Allerdings verkennt er damit diejenigen Studien, deren Anliegen es gerade ist, die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von kollektiven Identitäten aufzuzeigen. Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Kultur, Reinbek 2000.
56
Jürgen Straub, "Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs", in: Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a.M. 1998, S. 73-104, hier S. 103.
57
Ebd. und Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. Das Hinausweisen von Worten und kommunikativen Akten Aber das Sprechen selbst auf die Handlungsebene lässt sich auch mit der Sprechakttheorie begründen, die den Aspekt der Handlung des Sprechens erörtert. Für die Zuweisung von Fremdheit, die kommunikativ unternommen wird, aber gleichzeitig Folgen auf der nichtsprachlichen Ebene hat, tun dies Herfried Münkler, Bernhard Ladwig, "Dimensionen der Fremdheit", in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 11-44. Die Sprechakttheorie geht zurück auf John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1994 (1. Aufl. 1962).
I. Einleitung
25
schaflen gelegt wird, sondern in den der Evolutions- und damit der Naturgeschichte.58 Das Wort der kollektiven Identität beinhaltet als zweiten problematischen Aspekt die Vorstellung von einer Übereinstimmung oder Homogenität aller Mitglieder einer Gemeinschaft. Die Repräsentation von Gemeinschaft als Zusammenschluss von Gleichen beinhaltet allerdings eine Forderung und stellt keine Beschreibung von Kollektiven dar. Sie entspricht deshalb nicht dem hier benutzten Konzept. Gemeinschaften stellen Kristallisationen kollektiver Identifikationen dar, ihnen kann keine Wesenhaftigkeit zugeschrieben werden.59 Gemeinschaften werden im Prozess sozialer Interaktion über die Festlegung von Innen und Außen einer Gruppe hergestellt, d.h. sie konstituieren sich über ihre Grenzen. Diese Art der Konstruktion kollektiver Identität führt dazu, dass es scheinbar ein homogenes Innen gibt, das sich vom Anderen, Abweichenden, Fremden klar abhebt. Spielt auf der Ebene der Vorstellungen die Homogenität der Gruppenmitglieder eine wichtige Rolle, so heißt dies nicht, dass sie tatsächlich in allen Aspekten des sozialen Lebens und der Praktiken bestehen würde.60 Einheitlichkeit lässt sich weder im diachronen noch im synchronen Vergleich feststellen. Innerhalb der Gemeinschaft bestehen Unterschiede und Konflikte, die allerdings in Situationen der Selbstversicherung und der Konfrontation mit Anderen in den Hintergrund treten zu Gunsten der Betonung deijenigen Eigenschaften, die als konstitutiv für die jeweilige Identität erachtet werden. In der Abgrenzung zu anderen findet eine diskursive Vereinheitlichung statt, deren semantische Konstruktionen sich allerdings in einem ständigen Prozess der Umund Neuformulierung befinden.61 Steht die Zugehörigkeit zu einer nationalen oder ethnischen Gemeinschaft nicht in Frage, so kann die Heterogenität in ihrer Mitte zugelassen werden und Differenzen z.B. entlang von Klassenlagen oder dem Geschlecht offenbaren sich als wichtige Kategorien, die wiederum nicht nur die individuelle Identität beeinflussen, sondern selbst kollektive Identitäten sind. 58
Vgl. dazu ausführlich Kap. II. 1.
59
Eine umfassende Kritik des Gemeinschaftsbegriffs in den Sozialwissenschaften gibt Anthony P. Cohen, The Symbolic Construction of Community, London 1985. Vgl. auch Gerd Baumann, "Ethnische Identität als duale diskursive Konstruktion. Dominante und demotische Identitätsdiskurse in einer multiethnischen Vorstadt von London", in: Assmann, Friese (Hg.), Identitäten, S. 288-313, hier S. 294.
60
Stuart Hall, "Die Frage der kulturellen Identität", in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 180-222, hier S. 206.
61
Link und Wülfing bezeichnen diesen Prozess als "semantisches Floating", Link, Wülfing, "Einleitung", S. 12.
Silke Hensel
26
Das hier zugrunde liegende Konzept der diskursiven Herstellung kollektiver Identitäten ist angelehnt an das Diskursverständnis von Michel Foucault62 und Pierre Bourdieu. Ersterer sieht den Diskurs "durch die Gesamtheit aller effektiven Aussagen" zu einem Thema konstituiert,63 und wendet sich in der Diskursanalyse den tatsächlich gemachten Aussagen zu, die stets eine begrenzte Menge darstellen. Die Begrenzung ergibt sich dabei aus dem jeweiligen Kontext, da nicht alles zu jeder Zeit sagbar ist.64 Foucault verortet in den Diskursen die Produktion und Reproduktion von Wissen.65 Erst der Diskurs konstituiert und transformiert seinen Gegenstand, deshalb macht Foucault nicht den Gegenstand, sondern diese Konstituierung selbst zu seinem Thema, wobei er diesen Prozess nicht allein auf der sprachlichen Ebene ansiedelt, sondern sich auch in Maßnahmen oder Praktiken vollziehen sieht.66 Die Überlegungen Bourdieus, der die soziale Konstruktion der Wirklichkeit hervorhebt, sind für die hier vorgenommene Analyse jedoch wichtiger, da sie für die Vorgehensweise besser operationalisierbar sind. Bourdieu sieht in den Vorstellungen, die Akteure sich von der sozialen Welt machen, einen bedeutenden Beitrag zur Konstruktion dieser Welt. Dies geschieht über die Repräsentationsarbeit, mit der die Akteure ihre Weltsicht und Auffassung von ihrer eigenen 62
Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991 (Orig.ausg. 1972), ders., Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981 (Orig.ausg. 1973). Dieses Verständnis von "Diskurs" unterscheidet sich von dem Habermas'sehen. Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985. Die beiden Konzepte vergleicht Peter Schüttler, "Wer hat Angst vorm 'linguistic tum'?", in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134-151.
63
Foucault, Archäologie, S. 41.
64
Ebd., S. 41 f.
65
Ebd., S. 259ff. Vgl. auch Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1988 (Orig.ausg. 1976). S. dazu Stuart Hall, "The Work of Representation", in: ders. (Hg.), Representation: Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 13-74, hier S. 43ff.
66
Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 171f. Vgl. auch Hinrich Fink-Eitel, Foucault zur Einßihrung, Hamburg 1989, S. 55ff, Clemens Kammler, "Historische Diskursanalyse", in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einßihrung, 2. Aufl., Opladen 1997, S. 32-56. Kritisch dazu, aber das Potenzial des Diskursbegriffs m.E. verkennend, Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, S. 45ff. Eine anschauliche Untersuchung über die Bedeutung symbolischer Praktiken, die sich auf Foucault bezieht, stammt von Lynn Hunt, Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a.M. 1989, s. bes. S. 70ff. Weitere Beispiele für diskursgeschichtliche Untersuchungen finden sich in Dietrich Busse, Fritz Hermanns, Wolfgang Teubert (Hg.), Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen 1994.
I. Einleitung
27
Stellung darin durchzusetzen suchen.67 Daraus entstehen Konflikte "(...) im Kampf um die Macht zum Erhalt oder zur Veränderung der herrschenden sozialen Welt durch Erhalt oder Veränderung der herrschenden Kategorien zur Wahrnehmung dieser Welt."68 Dies führt zur Frage nach den Akteuren, die an der Ausbildung und Umformulierung der Kategorien und Bilder maßgeblich beteiligt sind. Bernhard Giesen sieht hier Intellektuelle wirken, auch John Higham schreibt ihnen eine große Bedeutung in der Ausbildung nationaler Identität zu. Jürgen Link und Wulf Wülfing schließlich machen Literaten und Künstler als Mitproduzenten nationaler Symbole und Mythen aus.69 Allerdings bleibt dabei die Frage ungeklärt, warum und wie sich die Vorstellungen eines kleinen Teils der Oberschicht verbreiteten.™ Es scheint daher sinnvoller, nach solchen Akteuren zu suchen, die über ausreichend soziales und kulturelles Kapital verfügen, um Projektionsflächen für kollektive Identifikationen zu schaffen, und über ausreichend symbolisches Kapital, um für ihre Vorstellungen Gehör zu finden.71 Die Macht, Diskurse durchzusetzen beruht nicht nur auf sprachlichen Kompetenzen, sondern auch darauf, solche Bewertungskriterien durchzusetzen, die die eigenen Aussagen begünstigen.72 Um Bourdieu noch einmal zu zitieren:
67
Pierre Bourdieu, "Sozialer Raum und 'Klassen'", in: ders., Sozialer Raum und "Klassen". Leçon sur la leçon: Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 7-46, hier S. 16f.
68
Ebd., S. 18f.
69
Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt a.M. 1999, John Higham, "The Redefinition of America in the Twentieth Century", in: Hartmut Lehmann, Hermann Wellenreuther (Hg.), German and American Nationalism. A Comparative Perspective, New York 1999, S. 301-325. Link/Wülfing, "Einleitung", S. 10.
70
Vgl. eine entsprechende Kritik bei Heinz-Gerhard Haupt, Charlotte Tacke, "Die Kultur des Nationalen. Sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung des europäischen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert", in: Wolfgang Hardtwig, HansUlrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996 (Geschichte und Gesellschaft, SH 16), S. 255-283, hier S. 262.
71
Pierre Bourdieu, "Ökonomisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital", in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198. Zum symbolischen Kapital ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997 (Orig.ausg. 1980). Vgl. auch Sven Reichardt, "Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte", in: Thomas Mergel, Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 71-94, hier S. 79.
72
Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1998 (Orig.ausg. 1994), S. 153, vgl. auch Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren, Tübingen 2001, S. 94.
28
Silke Hensel Die Fähigkeit, etwas explizit, öffentlich zu machen, zu veröffentlichen, gegenständlich, sichtbar, in Worten faßbar, ja offiziell werden zu lassen, was bislang wegen fehlender oder kollektiver Existenz auf der Ebene individueller bzw. serieller Erfahrung verblieb - Ängste, Nöte, Beklemmungen, Hoffnungen und Ungewissheit - , stellt eine außergewöhnliche Macht dar: die, eine Gruppe zu schaffen durch Schaffung des common sense, des ausdrücklichen Konsens der ganzen Gruppe. 73
Im Anschluss an die neuere kulturhistorisch geprägte Literatur über die Bildung von Wir-Gruppen ist es das Anliegen dieser Studie, den Formierungsprozess eines Zusammengehörigkeitsgefühls von Mexican Americans und Puertoricanern zu untersuchen und die Mehrdeutigkeit und den Wandel dieser Identitätskonstruktionen zu beleuchten. Folgende Fragen stehen dabei im Vordergrund: erstens, welche Fremdtypisierungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Mexikaner und Puertoricaner in den Vereinigten Staaten bestanden und wie vonseiten der Mehrheitsgesellschaft eine Abgrenzung gegenüber den Migranten stattfand. Semantische Konstruktionen von Unterschieden zwischen Eigenem und Fremdem spielen für die Ausformung der Grenze zwischen Kollektiven eine wichtige Rolle. Allgemein lassen sich folgende mögliche Formen der Unterscheidung von Migranten als Fremde herausfiltern: Zum einen kann die Fremd- und Eigentypisierung über rassenideologische Konstrukte stattfinden. Dem Fremden werden auf der Grundlage behaupteter biologisch feststehender Merkmale bestimmte soziale und kulturelle Eigenschaften zugeschrieben. Zum anderen kann die Dichotomisierung über kulturalistische Interpretationen erfolgen, die jeder Ethnie eine eigene, in der Essenz unveränderliche und damit nicht "erwerbbare" Kultur zuschreiben.74 Die Bedeutung dieser Formen soll in Bezug auf Mexican Americans und Puertoricaner aufgezeigt werden. Zweitens wird zu fragen sein, welche Vorstellungen die Einwanderer und ihre Nachkommen von sich und ihrer Gruppe hatten. Welchem Kollektiv rechneten sie selbst sich zu, der Herkunftsgesellschaft der ersten Generation von Immigranten oder der Aufnahmegesellschaft? Wie beurteilten sie ihre Position innerhalb der US-Gesellschaft? Wie gingen sie mit den Fremdbildern um? Lässt sich ein Wandel in der Selbstwahrnehmung und damit der kollektiven Identitäten feststellen? Wenn ja, in welchem Zusammenhang stehen solche Veränderungen mit der gesellschaftlichen Entwicklung in den USA? Die letzte Frage nach der Verbindung zur gesamtgesellschaftlichen Ebene verweist auf den Zusammen73
Bourdieu, Sozialer Raum, S. 19.
74
Kurt Imhof, "Nationalismus, Nationalstaat und Minderheiten. Zur Soziologie der Minoritäten", in: Soziale Welt 44 (1993), S. 327-357, hier S. 327f. Imhof sieht noch eine weitere Möglichkeit in der religiösen Unterscheidung, die allerdings m.E. in die kulturalistische einbezogen werden kann.
I. Einleitung
29
hang zwischen der Herstellung von nationalen und ethnischen Identitäten, zumal die Konstituierungen solcher Gemeinschaften immer auch politisch-soziale Ordnungsvorstellungen beinhalten.75 So liefern die Bilder über Andere den Begründungszusammenhang für politische Maßnahmen und helfen soziale Verhältnisse zu legitimieren, die dann häufig nicht mehr hinterfragt werden. Im Hinblick auf die eingangs erwähnte Warnung, der Kulturnationalismus der Hispanics gefährde den Zusammenhalt der staatsbürgerlich konzipierten USGesellschaft, gilt es schließlich zu klären, ob nicht auch für die Vereinigten Staaten zwischen Staat und Nation unterschieden werden muss76 und ob die nationalistischen bzw. ethnischen Artikulationen von Hispanics auf der Grundlage kultureller Identifikationen eine Reaktion auf den Ausschluss von der US-amerikanischen Nation darstellen.77 Für dieses Problem ist ein Vergleich von Mexican Americans und Puertoricanern auf Grund ihrer unterschiedlichen rechtlichen Situation besonders geeignet, da letztere 1917 die US-Staatsbürgerschaft erhielten. Die vergleichende Untersuchung dieser beiden Gruppen ermöglicht darüber hinaus weitere Einsichten. Da beide in unterschiedliche Regionen der USA lebten, kann der Frage nachgegangen werden, inwieweit die jeweiligen Bedingungen vor Ort eine Rolle im Prozess der Ethnogenese spielten. Mexikaner blieben besonders in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Südwesten der USA, wo sie zu einem großen Teil der ländlichen Bevölkerung angehörten.78 Dagegen stellten die Puertoricaner vom Beginn ihrer Migration auf das USamerikanische Festland eine städtische Bevölkerungsgruppe dar, da über 90% von ihnen in New York blieben.79 75
Vgl. Anderson, Die Erfindung der Nation.
76
Vgl. zu Deutschland James J. Sheehan, "Nation und Staat. Deutschland als 'imaginierte Gemeinschaft'", in: Manfred Hettling, Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 33-45, hier S. 37ff.
77
Vgl. auch Barbara Schmitter Heisler, "The Future of Immigrant Incorporation: Which Models? Which Concepts", in: International Migration Review 26,2 (1992), S. 623-645, hier S. 636f.
78
Gilbert G. González, Raul Fernández, "Chicano History: Transcending Cultural Models", in: Pacific Historical Review 63 (1994), S. 469-497, hier S. 473.
79
Vgl. Kap. III.2. Zum Ansatz des Vergleichs allgemein s. Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka, "Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung", in: dies. (Hg.), Geschichte im Vergleich:Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt 1996 , S. 9-45. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1999. Kritisert wird der Mangel an vergleichenden Studien in den USA von R. Grew, "The Comparative Weakness of American History", in: Journal of Interdisciplinary History 16 (1985/86), S. 87-101. Dies trifft auch fur deutsche Historiographie zu, vgl. Jürgen Kocka, "Historische Komparatistik in Deutschland", in: Haupt, Kocka (Hg.), Geschichte im
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Für die Untersuchung der Aus- und Umbildung der kollektiven Identitäten von Mexican Americans und Puertoricanern müssen die Aussagen, die von anderen über beide Gruppen getätigt wurden, ebenso in den Blick genommen werden wie die Rede der Mexican Americans und Puertoricaner über sich selbst. Umfangreiches Quellenmaterial zum ersten Teil der Frage liegt immer dann vor, wenn die Einwanderung von Mexikanern und Puertoricanern in der Öffentlichkeit als krisenhaft empfunden wurde. Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten verstärkt Artikel, die sich mit ihnen befassten, und sie begannen das Interesse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ebenso zu wecken, wie das von Politikern.80 Darüber hinaus lassen sich für bestimmte Situationen aber auch Aussagen über den alltäglichen Diskurs der so genannten einfachen Leute über die beiden Gruppen machen. Dies trifft vor allem für Mexican Americans in den 1920er und 1930er Jahren zu, da hier zwei wichtige Quellensammlungen zur Verfügung stehen. Es handelt sich um die Unterlagen des Wirtschaftswissenschaftlers Paul S. Taylor, der umfangreiche Interviews im Südwesten führte, in denen das Verhältnis der Interviewten zu mexikanischen Einwanderern und deren Nachkommen im Mittelpunkt standen.81 Außerdem finden sich in den Akten des Immigration and Naturalization Service eine Vielzahl von Briefen, in denen US-Amerikaner während der Weltwirtschaftskrise ihre Meinung über Mexikaner und Mexican Americans zum Ausdruck brachten. 82 Weiterhin geben Unterlagen von Institutionen, wie z.B. Kirchen oder zivilen Organisationen, die sich an Einwanderer richteten, Auskunft über die Fremdsicht. Die Thematisierung der eigenen Identität durch Mexican Americans und Puertoricaner lässt sich neben Veröffentlichungen im publizistischen und wissenschaftlichen Bereich 83 vor allem anhand von Vereinsunterlagen nachvollziehen. Vergleich, S. 47-60, hier S. 47f. Kocka erkennt als einen Grund dafür, dass kollektive Identitäten sich sehr stark auf die Nation beziehen, und bestätigt damit ungewollt die Feststellung, dass die deutsche Geschichtswissenschaft ethnische Differenzierungen vielfach noch nicht wahrnimmt. Ebd. S. 51 f. 80
Vgl. das Quellenverzeichnis für die Angaben der entsprechenden Veröffentlichungen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit den Konzepten von Öffentlichkeit und Medien findet sich bei Jörg Requate, "Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse", in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-32.
81
Paul S. Taylor Papers, Bancroft Library, University of California, Berkeley.
82
Records of the Immigration and Naturalization Service. Records of the Central Office, Subject Correspondence, 1906-1932, National Archives and Records Administration, Washington, D.C., Record Group 85. Im Folgenden: NARA, RG 85.
83
Dabei handelte es sich um eine Reihe von spanischsprachigen Zeitungen mit lokaler Bedeutung. Vgl. das Quellenverzeichnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen auch wissenschaftliche Studien von Autoren, die sich einer der beiden Gruppen zurechneten.
I. Einleitung
31
Angehörige der beiden Gruppen organisierten Vereine mit den unterschiedlichsten sozialen, politischen und kulturellen Zielen. Alle mussten sich aber bereits in den Statuten zur Frage der Identifikation ihrer Mitglieder äußern, wenn sie festlegten, wer dem Verein beitreten konnte. Vielfach richteten sich die Ziele darauf, ein bestimmtes Bild der Gruppe in der Gesellschaft insgesamt durchzusetzen. Das geringe Interesse, das die Mehrheitsgesellschaft dem konkreten Leben der Migranten aus Mexiko und Puerto Rico entgegenbrachte, führte allerdings dazu, dass bis in die 1970er Jahre wenige Materialien solcher Organisationen für die Archive interessant erschienen. So sind von kaum einem Verein zusammenhängende Unterlagen erhalten,84 stattdessen finden sich die meisten Papiere in den Nachlässen von Personen, die in den Organisationen aktiv waren.85 Analog zur unterschiedlichen Größe der beiden untersuchten Gruppen verhält sich die Anzahl der Sammlungen. Im Südwesten der USA haben die großen Forschungsuniversitäten mittlerweile wichtige und umfangreiche Bestände von und über Mexican Americans aufgebaut.86 Dagegen besteht nur eine Forschungsinstitution in New York, deren Interesse sich auf die Geschichte der Puertoricaner richtet.87 Vor der Untersuchung der Fallbeispiele behandelt Kapitel II die Kernbegriffe "Rasse" und "ethnische Gruppe", die in den USA zur Bezeichnung von Minderheiten dienen. Ihre historische Herleitung sowie ihre spezifischen BedeuEine Ausweitung solcher Publikationen fand allerdings erst in den 1970er Jahren als Folge der Bürgerrechtsbewegung und den daraufhin verbesserten Möglichkeiten von Angehörigen der Minderheiten, an den Universitäten nicht nur eine Ausbildung zu bekommen, sondern selbst in Forschung und Lehre tätig zu sein. 84
Eine Ausnahme stellen die Papiere der ältesten, noch bestehenden Organisation von Mexican Americans dar, der League of United Latin American Citizens (LULAC), die 1929 gegründet wurde. Vgl. LULAC Archives, Benson Library, General Libraries, University of Texas, Austin. Außerdem hat die University of Stanford das Archiv des Mexican American Legal and Educational Fund (MALDEF), der 1970 gegründet wurde, übernommen. MALDEF Papers, Special Collections, Green Library, University of Stanford.
85
Vgl. die einzelnen Sammlungen im Quellenveizeichnis.
86
Es handelt sich vor allem um folgende Universitäten: University of Texas, Austin, University of California an verschiedenen Standorten und die University of Stanford. Aber auch kleinere Universitäten haben entsprechende Sammlungen aufgebaut und die lokal organisierten Historical Societies, die auf private Initiativen zurückgehen, haben in den letzten Jahren vermehrt Materialien zu Minderheiten gesammelt. Mittlerweile haben auch einige Universitäten im Mittleren Westen ihr Sammelgebiet auf Mexican Americans ausgeweitet. So hat z.B. die Universität von Chicago den Nachlass des Gewerkschaftsführers César Chávez erworben.
87
Center for Puerto Rican Studies, Hunter College, City University of New York.
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tungen und der Verwendungszusammenhang in der US-Gesellschaft stehen hier im Mittelpunkt. Daran schließt sich in Kapitel III ein Aufriss der Migrationsgeschichte von Mexikanern und Puertoricanern an. In Kapitel IV und V folgt die Untersuchung der Fremd- und Selbstwahrnehmung der beiden Gruppen. Der erste Abschnitt behandelt dabei die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, der in den USA auch eine innergesellschaftliche Zäsur darstellte, der zweite untersucht dementsprechend die Zeit seit den 1940er Jahren bis zur Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Abschließend stellt Kapitel VI die beiden untersuchten Fälle in zusammenfassender Form gegenüber. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, da in den 1910er Jahren eine verstärkte Immigration von Mexikanern und Puertoricanern einsetzte. Der Einschnitt der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre stellte einen geeigneten Endpunkt dar, weil die von ihr ausgelösten Veränderungen erheblichen Einfluss sowohl auf das Selbstverständnis der beiden untersuchten Gruppen nahmen als auch auf die Sichtweise der US-Gesellschaft insgesamt von sich selbst. Eine letzte Erläuterung sei hier noch zur Begrifflichkeit angeführt. Manchem mag es merkwürdig anmuten, dass die englische Bezeichnung für Mexican Americans hier beibehalten wird. Dies liegt im Übersetzungsproblem begründet der Versuch, mit dem Begriff Mexiko-Amerikaner eine analoge Bezeichnung zu Anglo-Amerikaner oder Afro-Amerikaner zu finden, klingt nicht nur gestelzt, seine Konnotation entspricht auch nicht der englischen Bedeutung, da sie stärker auf die mexikanische Seite verweist, als die Akteure dies wollten. Die im Deutschen auch üblich gewordene Bezeichnung "Chicano" ist hingegen eng mit dem Selbstverständnis der Gruppe seit den 1960er Jahren verbunden und deshalb nicht ohne weiteres auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu übertragen. Für Puertoricaner ist die Benennung etwas einfacher, da sie, auch wenn sie auf dem Festland lebten, als solche bezeichnet wurden.
II. Formen kollektiver Identitäten: Die Konstruktion von Rassen und ethnischen Gruppen Der Begriff der Identität ist in den letzten Jahrzehnten in den Sozialwissenschafiten zu einer zentralen Kategorie aufgestiegen.1 Diese Entwicklung weckt bei einigen Autoren und Autorinnen mittlerweile großes Unbehagen, zumal mit seiner Verwendung in der Geschichtswissenschaft vielfach ein kultur- gegenüber einem sozialhistorischen Programm verbunden ist.2 Für den Aufstieg des Begriffs hatten die Arbeiten des Psychoanalytikers und Sozialisationsforschers Erik Erikson einen kaum zu überschätzenden Einfluss.3 Erikson konzipierte Identität einerseits als den Prozess, den eine Person auf der Suche nach Kontinuität und Kohärenz der eigenen Biographie durchläuft. Die Ausbildung einer IchIdentität sah Erikson vor allem in der gelungenen Überwindung von Krisenphasen, etwa der Adoleszenz, die jeder Mensch durchlebt. Andererseits verwendete er den Identitätsbegriff als Synonym für das Konzept des Nationalcharakters.4 Die Frage nach einem solchen Charakter beschäftigte in den 1950er Jahren nicht nur viele Sozialwissenschaftler, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit, die zudem großes Vertrauen in sozialwissenschaftliche Methoden hegte.5 So verwundert es nicht, dass der Identitätsbegriff schnell Verbreitung fand. Die doppelte Verwendung des Begriffs sowohl auf Individuen als auch auf Kollektive ist bis heute üblich geblieben. Dabei hat die Karriere des Wortes dazu geführt, dass dies vielfach ohne eine explizite Verständigung über seine Bedeutung geschieht. Innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft spielen die 1
Vgl. z.B. Odo Marquardt, Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, vgl. auch Hans-Ulrich Wehler, "Erik Erikson. Der unaufhaltsame Siegeszug der Identität", in: ders., Herausforderung, S. 130-135, hier S. 130.
2
Dies wird z.B bei Eric Hobsbawm deutlich, der sich eigentlich gegen den so genannten "linguistic turn" in der Geschichtsschreibung wendet. Eric Hobsbawm, "Identity History Is Not Enough", in: ders., On History, 2. Aufl., London 1998, S. 351-366. Ähnlich auch bei Richard Evans, der vor allem gegen politische Forderungen anschreibt, dass nur Angehörige einer Gruppe auch über die Geschichte derselben sinnvoll schreiben könnten. Richard Evans, In Defense of History, 2. Aufl., New York 2000, S. 181ff.
3
Philip Gleason, "Identifying Identity: A Semantic History", in: Werner Sollors (Hg.), Theories of Ethnicity: A Classical Reader, New York 1996, S. 460-487, hier S. 464. Straub, "Personale und kollektive Identität", S. 76. Zu Erikson vgl. auch Lawrence J. Friedman, Identity 's Architect: A Biography of Erik H. Erikson, New York 1999.
4
Vgl. Erik H. Erikson, Childhood and Society, New York 1950. Ders., Identity.
5
Gleason, "Identifying", S. 472f.
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Kategorien "Rasse" und "ethnische Gruppe" eine wichtige Rolle in den Vorstellungen der sozialen Ordnung. Sie entstanden in unterschiedlichen Epochen und strukturieren bis heute Wahrnehmungsweisen und soziale Wirklichkeit in den Vereinigten Staaten.6 Die Geschichte der beiden Begriffe sowie der Diskurs über diese Identitäten, denen gegenüber anderen Zuschreibungen und Identifikationen häufig eine größere Bedeutung beigemessen wurde, stehen im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen. 1. Die Vorstellung von Rassen Seit dem 19. Jahrhundert stellt der Begriff der Rasse eine wichtige Kategorie in der Rede über die Sozialstruktur der US-amerikanischen Gesellschaft dar.7 Trotz dieser Kontinuität fand jedoch ein tiefgreifender Wandel in der Bedeutung des Begriffs statt, der auch erklärt, warum es in den USA noch heute üblich und möglich ist von "races" zu sprechen,8 während das Wort "Rasse" in Deutschland nach dem Rassenwahn der Nationalsozialisten mehr oder weniger aus dem Wortschatz verbannt wurde.9 Im Deutschen ergeben sich zwei grundsätzliche Probleme in der Darstellung der Entwicklung von Rassevorstellungen in anderen Gesellschaften. Einerseits ist das semantische Feld des deutschen Wortes untrennbar verbunden mit den Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit, andererseits stellt sich die Frage, inwieweit die Ausformung der sozialen Ungleichheit beschrieben werden kann, ohne die entsprechenden zeitgenössischen Zuordnungsbegriffe zu verwenden. Die Fortfuhrung der Begriffe birgt allerdings die Gefahr in sich, die
6
Vgl. George M. Fredrickson, "America's Diversity in Comparative Perspective", in: Journal ofAmerican History 85 (1999), S. 859-874, hier S. 859f.
7
Michael Banton beklagt diesen Umstand, wenn er feststellt, dass "race" im Englischen ungleich stärker Verwendung findet als die entsprechenden Wörter in anderen Sprachen. ders., Racial Theories, Cambridge 1987, S. 1.
8
Dabei ist das Fortbestehen der Kategorie natürlich nicht unproblematisch, da es die älteren Konnotationen noch in sich trägt. Zu einer Kritik an der heute noch üblichen Verwendung der Unterscheidung von Rassen vgl. Donal E. Muir, "Race: The Mythic Root of Racism", in: Social Inquiry 63,3 (1993), S. 339-350.
9
Zum Begriff der Rasse in Deutschland vgl. Werner Conze, Antje Sommer, "Rasse", in: Otto Brunner, Wemer Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135-178. In einigen Bereichen fand das Wort "Rasse" aber durchaus noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg Anwendung, z.B. in der Ethnologie. Vgl. Wilhelm E. Mühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne Ethnologie, Neuwied/Berlin 1964, besonders S. 77ff.
II. Formen
kollektiver
Identitäten
35
dahinter liegenden Bilder und Vorstellungen ebenfalls weiter zu transportieren. 10 D e m soll hier insofern entgegengewirkt werden, indem das semantische Feld zunächst ausgeleuchtet wird und dann in den folgenden Kapiteln anhand der konkreten Beispiele der mexikanischstämmigen und puertoricanischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten die Mehrdeutigkeit der Kategorie "Rasse" s o w i e die Abhängigkeit ihrer Anwendung von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation untersucht werden." Trotz der erwähnten Assoziation des Holocaust mit dem deutschen Wort Rasse, ziehe ich es der englischen Bezeichnung vor, um den Gang der Darstellung nicht übermäßig zu strapazieren. 12 Zwar führte die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten zu einem singulären Massenmord, die Einteilung der Menschheit in Rassen mit dem dahinter stehenden Konglomerat von Vorstellungen zur sozialen Hierarchie ist dagegen kein genuin deutsches Phänomen. 1 3 Der Ursprung v o n Rassentheorien wird vielmehr als eine europäische Entwicklung betrachtet, die in ihrer modernen Ausformung auf die Aufklärung zurückzuführen ist. 14
10
Zu diesem Dilemma vgl. Elisabeth Beck-Gernsheim, Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften, Frankfurt 1999, S. 70ff. Goldberg verweist ebenfalls darauf, dass sich der Begriff Rasse nicht trennen lässt von den biologistischen Argumentationsweisen. David Theo Goldberg, "The Semantics of Race", in: Ethnic and Racial Studies 15,4 (1992), S. 543-569, hier S. 543.
11
Vgl. dazu die Kap. IV und V.
12
Genau genommen würde es auch nicht ausreichen, das englische "race" zu verwenden oder das Wort in Anführungszeichen zu setzen. Die einzelnen Gruppenbezeichnungen wie "Weiße" und "Schwarze" müssten ebenso verwendet werden, um ihren kontextabhängigen Gebrauch zu verdeutlichen. Schließlich müsste bei der Darstellung der Selbstsicht der Mexican Americans und Puertoricaner dann auch die spanische Bezeichnung verwendet werden, da das semantische Feld von "la raza" wiederum anders strukturiert ist als das für "race".
13
Außerdem bedeutete der Verzicht auf eine Übersetzung bei der Untersuchung der rassistischen Vorstellungen wohl eine sehr auf Deutschland zentrierte Sicht, die zumindest verschleiern würde, dass sich im 19. Jahrhundert noch keine deutsche Sonderentwicklung in dieser Hinsicht ausmachen lässt bei der Feststellung, dass die Vorstellung einer Hierarchie der Rassen und der natürlichen Minderwertigkeit einiger Rassen in Europa und ganz Amerika enorme Attraktivität und Einfluss ausübte. Darauf verweist Hannah Arendt, "Race-Thinking Before Racism", in: Review ofPolitics 6 (1944), S. 36-73.
14
Vgl. George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 1990, Leon Poliakov, "Racism from the Enlightenment to the Age of Imperialism" in: Robert Ross (Hg.), Racism and Colonialism: Essays on Ideology and Social Structure, Leiden 1982, S. 55-64, hier S. 55ff. Vgl. auch Emmanuel Chukwudi Eze (Hg.), Race and the Enlightenment, London 1997. Zu den Rassevorstellungen und Rassismus in den einzelnen europäischen Ländern liegen neben Deutschland vor allem Studien zu den Kolonialmächten England, Frankreich sowie den Niederlanden vor. Vgl. Robert Miles, "Die Idee der 'Rasse' und Theorien über Rassismus: Überlegungen zur britischen Diskussi-
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Während das Wort "Rasse" in den romanischen Sprachen bereits im 13. Jahrhundert vereinzelt auftauchte, kam es erst ab dem 16. Jahrhundert zu einem stärkeren Gebrauch. 15 Jetzt trat der Begriff auch im Englischen auf. 16 Zunächst wurde das Wort im Sinne von lineage oder Abstammung von einer Familie, einem Geschlecht benutzt und erhielt erst im 18. Jahrhundert eine Bedeutung, die auf natürliche Unterschiede verwies. 17 Im 19. Jahrhundert setzte sich schließlich die Konnotation von Rasse als Bezeichnung physischer und erblicher Qualität vollends durch.18 Die erste Verwendung des Rassebegriffs als Klassifikation von Menschengruppen findet sich bei dem französischen Arzt François Bernier, der 1684 einen Reisebericht veröffentlichte, in dem er die Menschheit verschiedener Weltregioori", in: Bielefeld (Hg.), Das Eigene, S. 189-220, Tzvetan Todorov, On Human Diversity: Nationalism, Racism, and Exoticism in French Thought, Cambrigde, Mass./London 1993. Dies gilt dagegen nicht für Spanien und Portugal, was mit der gesellschaftlichen Entwicklung der jeweiligen Kolonien zusammenhängt. Hier wurde lange Zeit angenommen, dass der Rassismus aufgrund der starken Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht Fuß fassen konnte. Zu Lateinamerika vgl. Richard Graham (Hg.), The Idea ofRace in Latin America. 1870-1940, Austin 1990. Ein weiterer Aspekt bestand in den unterschiedlichen Beurteilungen der Sklaverei in spanischen und portugiesischen auf der einen und den englischen Kolonien bzw. den USA auf der anderen Seite. Die Sklaverei in Lateinamerika wurde als humaner angesehen. Vgl. den klassischen Text von Frank Tannenbaum, Slave and Citizen, Boston 1992 (1. Aufl. 1946). Von Europa gingen vielfach Impulse auf andere Weltregionen aus. Zu den Vereinigten Staaten vgl. weiter unten. Einen Vergleich zwischen den USA und Südafrika unternimmt George M. Fredrickson, White Supremacy: A Comparative Study in American and South African History, Oxford 1981. In jüngerer Zeit werden auch Untersuchungen zum Rassedenken in Asien angestellt. Zu China vgl. Frank Dikötter, The Discourse of Race in Modern China, London 1992. Die Frage nach Rassevorstellungen vor dem Einfluss europäischer Kolonialherren stellen die verschiedenen Beiträge in Peter Robb (Hg.), The Concept ofRace in South Asia, New Delhi 1995. 15
Conze, Sommer, "Rasse", S. 137. Es gibt zwei Thesen über die etymologische Herkunft des Wortes. Eine Erklärung führt es auf das lateinische "radix" als genealogisch "Wurzel" zurück, die andere sieht den Stamm des Wortes im arabischen "räz": "Kopf', "Haupt", "Führer". Ebd. und Immanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 16f. Geiss vertritt die zweite Auffassung.
16
Im Englischen tauchte "race" zum ersten Mal 1508 in einem Gedicht von William Dunbar auf. Banton, Racial Theories, S. 16.
17
Die Einteilung der Menschheit in Rassen wird von manchen bis auf Aristoteles zurückgeführt, Hannaford zeigt allerdings, dass dies zu Unrecht der Fall ist. Die Unterscheidung zwischen Griechen und "Barbaren" und damit die Vorstellung der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen basierte auf der "guten Ausübung der Bürgerpflichten" und damit auf den politischen Bereich. Ivan Hannaford, Race: The History of an Idea in the West, Baltimore/London 1996, S. 17ff.
18
Michael Banton, The Idea of Race, London 1977, S. 18.
II. Formen kollektiver Identitäten
37
nen in "espèces ou races" einteilte.19 In der von dem schwedischen Professor für Botanik Carl von Linné Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Systematik fur Flora und Fauna war auch der Mensch mit mehreren Gruppen aufgeführt, die Linné zwar noch nicht als Rassen bezeichnete, sondern als Spezies. Sein Klassifikationsschema ist jedoch bedeutsam, da Linné den Menschen in das Reich der Natur einfügte. In späteren Auflagen seines Werkes veränderte er die Einteilung der Menschheit weiter, bis somatische Kriterien mit moralischen und charakterlichen Eigenschaften in der 10. Auflage von 1758 miteinander in Verbindung standen.20 Ähnlich wie Linné ordnete auch George Louis Leclerc, Comte de Buffon, in seinem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienenen Werk den Menschen ins Tierreich ein und ging von einer Stufung vom einfachsten Lebewesen bis zum Menschen aus. Er glaubte, dass die Spezies des Menschen einen einzigen Ursprung hatte und sich die Varietäten oder Rassen im Laufe einer langen Zeit aufgrund der Einwirkungen von Klima, Nahrung sowie der Lebensweise herausgebildet hätten.21 Der in Göttingen lehrende Professor für Medizin Johann Friedrich Blumenbach, der als einer der Begründer der Anthropologie gilt, griff in seiner Abhandlung "Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte" - so der Titel der deutschen Veröffentlichung von 1798 seines 23 Jahre zuvor in Frankreich erschienenen Werkes Buffons Vorstellung von der Einheit des menschlichen Ursprungs auf. Blumenbach unterteilte die Menschheit in fünf Rassen und prägte den Begriff der kaukasischen Rasse, die seiner Meinung nach alle Europäer und die Bewohner des westlichen Asiens umfasste.22 Diese Bezeichnung wird heute in den Vereinigten Staaten noch synonym fur "weiß" verwendet, kam dort allerdings erst in den 1920er Jahren in Gebrauch.23 Die Unterschiede im Aussehen der Menschen wurden verbunden mit ihren inneren Werten und man glaubte, dass letztere sich in den äußeren Merkmalen widerspiegelten. So entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts die Phrenologie und Physiognomik, die behaupteten, anhand der Kopfform bzw. der Gesichtszü-
19
Ebd. Vgl. auch Marco Schütz, Rassenideologien in den Sozialwissenschaften, Bern 1994, S. 34f.
20
Hannaford, Race, S. 203f. Conze, Sommer, "Rasse", S. 145.
21
Ebd., S. 146.
22
Hannaford, Race, S. 206f.
23
Matthew Frye Jacobson, Whiteness of a Different Color: European Immigrants and the Alchemy of Race, Cambrigde, Mass. 1998, S. 9 Iff.
38
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ge auf die Charaktereigenschaften der Menschen schließen zu können.24 Die Einordnung der Winkel der Gesichtszüge und damit die Stellung in der Hierarchie der Rassen orientierte sich dabei an dem im 18. Jahrhundert gepriesenen Vorbild der griechischen Antike.25 Die äußere Erscheinung wurde zudem bald verbunden mit der Tugendhaftigkeit.26 In den Vereinigten Staaten stieß vor allem die Phrenologie auf Interesse. Der in Philadelphia praktizierende Arzt Samuel George Morton befasste sich ausgiebig mit der Vermessung von Schädeln und veröffentlichte 1839 ein Buch mit dem Titel "Crania Americana", in dem er über die Vermessung von ca. 250 Schädeln berichtete und zu dem Schluss gelangte, diejenigen von Kaukasiern hätten das größte Fassungsvermögen. Daraus folgte für Morton, dass die Gehirne von Angehörigen der kaukasischen Rasse zu der er Anglo-Amerikaner, Europäer und, gemäß der These des arischen Ursprungs in Indien, Hindus zählte - am größten waren. Dieses Ergebnis zeigte Morton die höhere Kapazität zur Zivilisation der kaukasischen Rasse. Wenig überraschend folgten in der aufgestellten Rassenhiercharchie Mongolen, Malaien, Amerikaner (damit waren Angehörige der indigenen Bevölkerungen gemeint) und Äthiopier.27 In der Frage der Ursachen für die menschliche Varianz gab es mehrere Erklärungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand zunächst die Umwelttheorie von J.B. Antoine de Lamarck im Vordergrund. Sie besagte, dass die Bedingungen der Umwelt Natur und Mutationen einer jeden Art bestimmten. Veränderten sich die Gegebenheiten, so fand mit der Anpassung daran unweigerlich ein Wandel in der Form der Art statt. Dieser Theorie zufolge konnte es keine angeborene Überlegenheit geben. Anhänger der Erklärung in den USA glaubten dementsprechend, dass die soziale Lage der afrikanischstämmigen Sklaven deren behauptete Minderwertigkeit verursachte und sich dieser Zustand mit der Abschaffung der Sklaverei und der Einfuhrung der Schulbildung für Schwarze
24
Vgl. Stephen Jay Gould, The Mismeasure of Man, Überarb. und erw. Aufl., New York 1996, S. 62ff. Diese Kriterien wurden bis ins 20. Jahrhundert beibehalten und einige Wissenschaftler gingen von der Notwendigkeit des Messens ab und behaupteten, dass sie aufgrund ihrer Erfahrung schon allein durch die Anschauung beurteilen konnten, welcher Rasse ein Mensch zuzurechnen war. So z.B. einer der Pioniere der Soziologie in den USA, Edward A. Ross, "American Blood and Immigrant Blood", in: Michael Kämmen (Hg.), Contested Values: Democracy and Diversity in Americans Culture, New York, 1995, S. 117-120, hier S. 118. (Der Text erschien erstmals 1914.)
25
Auf das ständige Oberwechseln von der Wissenschaft zur Ästhetik als ein wesentliches Merkmal des modernen Rassismus verweist Mosse, Geschichte, S. 29.
26
Ebd., S. 46f.
27
Vgl. Banton, Theories, S. 34ff.
II. Formen kollektiver Identitäten
39
umkehren ließe.28 Diese Vorstellung wich jedoch in Europa und den USA bald der These, dass Rassenmerkmale grundsätzlicher Natur seien und über Generationen weitergegeben wurden.29 An die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Rassen glaubte auch Morton, der die Ursache hierfür darin sah, dass die Menschheit nicht einen, sondern mehrere Ursprünge hatte. Diese Position erlangte vor allem durch die Schriften von zwei Anhängern Mortons in den Vereinigten Staaten Popularität. Josiah Clark Nott und George Robin Gliddon folgten Morton und vertraten in ihrem 1854 veröffentlichten Buch "Types of Mankind" die These vom polygenetischen Ursprung der Menschheit. Dieses Buch war bald nach seinem Erscheinen vergriffen und wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mehrere Male neu aufgelegt.30 Obwohl diese Sicht eine Möglichkeit zur Rechtfertigung der Sklaverei geboten hätte, kamen ihre schärfsten Kritiker in den USA aus dem Süden. Sie argumentierten von einem religiösen Standpunkt aus und blieben bei der Vorstellung eines einzigen Ursprungs der Menschheit.31 Die Evolutionstheorie von Charles Darwin, die er 1859 publizierte, setzte dem Streit ein Ende. Sie zeigte, wie es zu Unterschieden zwischen den Rassen kommen konnte, ohne dass diese Differenz bereits in verschiedenen Ursprüngen der Rassen angelegt war. Die Vorstellung des Kampfes mit den Schlagworten vom "Überleben der Tüchtigsten" und der "natürlichen Auslese", die von Herbert Spencer auf die Menschheit übertragen wurde, fand in den USA schnell Anhänger in der Biologie und den Sozialwissenschaften.32
28
Gary Nash, Forging Freedom: The Formation of Philadelphia's Black Community, 1720-1840, Cambridge, Mass. 1988, S. 224ff.
29
Thomas F. Gosse«, Race: The History of an Idea in America, 2. Aufl. Oxford 1997 (1. Aufl. 1963), S. 33f.
30
Ebd., S. 64f. Gliddon war, bevor er in den Vereinigten Staaten lebte, in Ägypten als Vize-Konsul der USA tätig. Dort wurde er zum Hobbyägyptologen. Sein Bild über die alten Kulturen in Ägypten war durchzogen von Rassevorstellungen, so glaubte er z.B., dass die alten Ägypter nicht der schwarzen, sondern der weißen Rasse angehörten. Seit den 1830er Jahren lebte Gliddon in den USA und betätigte sich als Vortragsreisender. Stanton glaubt, dass Gliddon mit seinen Vorträgen mehr als 100.000 Menschen erreichte. Zusätzlich verkaufte eine Zeitschrift von einer ihrer Ausgaben, die eine Abhandlung Gliddons enthielt, 24.000 Exemplare. William Stanton, The Leopard's Spots: Scientific Attitudes Toward Race in America, 1815-1859, Chicago 1960, S. 45ff.
31
Gossett, Race, S. 65ff.
32
Zu Darwin und dem Sozialdarwinismus vgl. Carl N. Degler, In Search of Human Nature: The Decline and Revival of Darwinism in American Social Thought, New York/ Oxford 1991, S. 9ff. Arendt führt die schnelle Rezeption der Evolutionstheorie darauf zurück, dass der Darwinismus dem generellen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts entgegenkam. Arendt, "Race-Thinking", S. 64f. Vgl. auch Richard Hofstaedter, Social Darwinism in American Thought, Boston 1992 (1. Aufl. 1944),
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Die Entwicklungen in der Anthropologie und der Biologie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verweisen auf die Suche der sich ausbildenden Wissenschaften nach einer natürlichen Ordnung, in die sie die ganze Welt inklusive der Menschheit einbeziehen konnten. Der wissenschaftliche Rassismus speiste sich allerdings nicht allein aus diesen Quellen, es kamen vielmehr Überlegungen aus anderen Bereichen hinzu. 33 Eine der entscheidenden Verbindungen bestand zur Geschichte. Stieg der Rassebegriff zunächst zu einer wichtigen Kategorie in der Naturgeschichte des Menschen auf, so erhob Arthur Comte de Gobineau ihn in seinem Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenen "Essai sur l'inégalité des race humaines" zum Schlüsselbegriff der historischen Entwicklung insgesamt. Er ging davon aus, dass die Rassen mit je spezifischen Eigenschaften auch eigene Kulturen schufen, die dem Zyklus von Aufstieg und Niedergang unterworfen waren. Gobineau interessierte sich allerdings mehr für den Niedergang und glaubte die Vermischung von Rassen als Ursache zu erkennen, da ein solcher Prozess unweigerlich zur Degeneration führe. 34 Gobineau, der zwar von der weißen, gelben und schwarzen Rasse als den Grundgruppierungen sprach, glaubte an eine weitere Ausdifferenzierung der Rassen. Die Untergruppen setzte er praktisch gleich mit "Völkern". Diese Vermischung der Begrifflichkeiten "Rasse" und "Volk", zu denen noch "Nation" hinzutrat, lässt sich bereits vor Gobineau in einigen Schriften festmachen. In Frankreich schrieben die Brüder Augustin und Amadée Thierry 1820 die "Volksgeschichte" als "Rassengeschichte".35 In England fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine begriffliche Verbindung zwischen dem "Volk" und dem angelsächsischen Erbe statt. Die Angelsachsen galten als Teil der teutonischen Stämme, deren Traditionen wiederum für die freiheitlichen Institutionen in England verantwortlich sein sollten. Diese Vorstellungen über die nationalen Ursprünge bekamen seit der Mitte des Jahrhunderts zunehmend einen rassistischen Beigeschmack, demzufolge nur die
Stow Persons (Hg.), Evolutionary Thought in America, New Haven 1950. Zum Einfluss Spencers in den Vereinigten Staaten, wo immerhin 300.000 Exemplare seiner Bücher verkauft wurden, vgl. Norbert Finzsch, "Wissenschaftlicher Rassismus in den USA, 1850-1930", in: Heidrun Kaupen-Haas, Christian Salier (Hg.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. 1999, S. 84-110, hier S. 94. Zur Entwicklung der Rassenvorstellungen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen allgemein vgl. Nancy Stepan, The Idea of Race in Science, London 1982. 33
Diese Einschätzung teilen Jacques Barzun, Race: A Study in Modern Superstition, New York 1965 (1. Aufl. 1937), S. 39. Hannaford, Race, S. 214.
34
Mosse, Geschichte, S. 76ff.
35
Conze, Sommer, "Rasse", S. 156.
II. Formen kollektiver Identitäten
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Teutonen oder Angelsachsen zur Freiheit befähigt waren.36 "Rasse" stieg auch in England zu der angeblich alles erklärenden Kategorie auf. Der Anatom Robert Knox formulierte dies 1850 in der Behauptung, dass Rasse alles sei und von ihr die Kultur abhinge, womit er keineswegs alleine stand.37 Dieser Glaube an die Freiheitsliebe der Angelsachsen als einer Eigenschaft, die anderen Rassen abging, fand in den USA eine breite Anhängerschaft und kam bereits im Krieg gegen Mexiko (1846-48) zur Anwendung, indem die Annexion der Gebiete im Westen mit der Behauptung legitimiert wurde, die Mexikaner seien zu einer freien Regierung und zur Selbstbestimmung aufgrund ihrer natürlichen Eigenschaften gar nicht in der Lage.38 Zum Ende des 19. Jahrhunderts dominierte die Theorie der teutonischen Ursprünge die US-amerikanische Geschichtswissenschaft weitgehend.39 Die hier skizzierte Entwicklung der wissenschaftlichen Rassevorstellungen lässt sich nur schwer in eine zusammenhängende Erzählung bringen.40 Dies liegt in dem Begriff und seiner Verwendung selbst. Einmal auf den Menschen angewendet, machte er eine erstaunliche Karriere durch, die letztlich zu der Vorstellung führte, die Kategorie könne nicht nur die gesamte Entwicklung der Menschheit und die aktuelle Stellung aller sozialen Gruppen zueinander erklären, sondern diese gesellschaftlichen Verhältnisse auch legitimieren. Spätestens damit war die Grenze zwischen wissenschaftlichen Theorien, alltäglichen Vorstellungen und Ideologien über die gesellschaftliche Ordnung überschritten. Dieser Umstand erklärt, warum der auf internationaler Ebene geführte wissenschaftliche Diskurs des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Ausprägungen in den verschiedenen Ländern Europas und den USA aufwies. Die kulturell bedingten Differenzen einerseits sowie andererseits die Beteiligung mehrerer Disziplinen und die verschiedenartigen Perspektiven der einzelnen Wissenschaftler, die mit dem Begriff operierten, führte dazu, dass es sich insgesamt eher um ein Kong36
Gossett, Race, S. 84ff., Mosse, Geschichte, S. 90f.
37
Ebd., S. 91.
38
Vgl. Reginald Horsman, Race and Manifest Destiny: The Origins of American Racial Anglo Saxonism, Cambridge, Mass. 1981, S. 208ff.
39
Gossett, Race, S. 11 Iff.
40
Darin dürfte auch der Grund fur die oftmals bloße Aneinanderreihung von Rassetheoretikern in entsprechenden Studien liegen. Die Strukturierung des Stoffes folgt entweder einer solchen Einteilung nach Personen, oder die Systematik hält Disziplingrenzen ein, obwohl es gerade ein Merkmal der Rassevorstellungen ist, dass sie sich in den verschiedensten Richtungen durchsetzten. Schließlich ordnen manche Autoren das Material auch nach Ländern. Als Beispiele vgl. Hannaford, Race; Gossett, Race; Banton, Theories.
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lomerat von Bedeutungen und Konnotationen handelte als um ein Konzept, mit dem gesellschaftliche Erscheinungen schlüssig hätten erklärt werden können.41 Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts traf der oben erwähnte Ausspruch von Knox, dass Rasse alles sei, insofern zu, als der Begriff zur Erklärung vielfältiger Phänomene herangezogen wurde. Neben dem Gang der Geschichte vermeinte man die Entwicklung der Sprachen und Literatur mit dem Einfluss der Rasse erfassen zu können. In der Medizin bezog sich die Suche nach den Ursachen von Krankheiten ebenso auf die Rasse wie Psychologen den Ursprung von Kriminalität und Geisteskrankheiten letztlich darin zu finden glaubten.42 Alle Sozialwissenschaften bezogen die Rasse als eine wichtige Kategorie in ihre Überlegungen ein.43 Insgesamt kam es in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu Überlagerungen und Widersprüchen sowohl in Bezug auf die Merkmale, anhand derer Rassen am besten zu unterscheiden seien, als auch hinsichtlich der Bedeutung, die ihr beigemessen wurde. Es konnte noch nicht einmal Einigkeit darüber erzielt werden, wie viele Rassen es genau gab. Als Kriterium für die Bestimmung der Rassezugehörigkeit wurden u.a. Hautfarbe, Haarform, Kopfform, Gesichtszüge und auch insgesamt die körperliche Gestalt herangezogen. Zwar stellte sich keines dieser Kriterien als zuverlässiges Merkmal heraus, nichtsdestotrotz wurden sie allein oder auch mehrere gleichzeitig beibehalten.44 Mit der 41
Colette Guillaumin, "RASSE. Das Wort und die Vorstellung", in: Bielefeld (Hg.), Das Eigene, S. 159-173, hier S. 164.
42
Vgl. Stuart Gilman, "Degeneracy and Race in the Nineteenth Century: The Impact of Clinical Medicine", in: Journal of Ethnic Studies 10,4 (1983), S. 27-50.
43
Insofern ist das Ergebnis von George Stocking nicht nachvollziehbar, es habe in 23 von ihm untersuchten US-amerikanischen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften im Zeitraum 1890-1915 nur wenige Artikel gegeben, die das menschliche Verhalten mit der Rasse erklären wollten. George Stocking Jr., American Social Scientists and Race Theory, 1890-1915, Ph.D.diss., University of Pennsylvania 1960, S. 590. Vgl. dazu die Kritik von Finzsch, "Wissenschaftlicher Rassismus", S. 93f und Anm. 44.
44
Vgl. den Eintrag "Races, Origins o f ' von B.L. Stevenson in der Encyclopedia Americana, New York/Chicago 1918, Bd. 23, S. 107-111, der die unbefriedigende Definition der Rasse zwar behandelt, die Kategorie als solche jedoch nicht in Frage stellt, denn trotz der Unklarheit in Bezug auf die Rasse legt der Text auch dar, dass es für Nationen zwingend notwendig sei, eine homogene Bevölkerung zu haben. Dieser Text verblieb in den folgenden Ausgaben der Encyclopedia bis einschließlich 1949. Zur Hautfarbe als Kriterium der Rasseneinteilung vgl. John Hope Franklin (Hg.), Color and Race, Boston 1968, Wulf D. Hund, "Die Farbe der Schwarzen", in: ders., Rassismus. Die soziale Konstruktion natürlicher Ungleichheit, Münster 1999, S. 15-38. Zu den verschiedenen Zählungen der Rassen vgl. Léon Poliakov, Christian Delacampagne, Patrick Girard, Über den Rassismus. Sechzehn Kapitel zur Anatomie, Geschichte und Deutung des Rassenwahns, Berlin 1984, S. 18ff.
II. Formen kollektiver
Identitäten
43
Entwicklung der so genannten Intelligenztests 1916 trat die Intelligenz als vermeintlich biologisch festgelegtes Element hinzu, das nicht mehr auf der Ebene des Phänotyps lag, aber als erbliche Eigenschaft betrachtet wurde. 45 Dass die Grundkategorie der Rassentheorien nicht hinreichend bestimmt werden konnte, erwies sich sogar als Vorteil für den Fortbestand der Vorstellungen und ihre Aufnahme in der Öffentlichkeit. 46 Der Begriff konnte flexibel genug verwendet werden, um in verschiedenen Situationen als primordialer Code zur sozialen Abgrenzung zu dienen, in der die Definition von gesellschaftlichem Innen und Außen je nach den Bedingungen vor Ort ganz unterschiedlich ausfiel. In den Vereinigten Staaten konnte nach dem Bürgerkrieg über die Behauptung einer natürlichen Hierarchie von Weißen und Schwarzen der fortgesetzte Ausschluss letzterer aus der nationalen Gemeinschaft ebenso legitimiert werden wie etwa fünf Jahrzehnte später die aufgrund rassistischer Überlegungen durchgesetzte Quotenregelung im Immigrationsgesetz von 1924, die praktisch die Einwanderung von Süd- und Osteuropäern unterband. Diesem Gesetz war die Ausdifferenzierung der "weißen Rasse" vorangegangen, in der Rasse- und Nationszugehörigkeit mehr oder weniger gleichgesetzt wurden. 47
45
1917 unternahm die US-amerikanische Armee eine umfangreiche Testreihe ihrer Rekruten. Ihr Ergebnis fiel in den Augen der Durchfuhrenden erwartungsgemäß aus, d.h. African Americans waren angeblich dümmer als die Weißen, die wiederum aufgeteilt wurden in eine nordische, intelligente Gruppe und weniger intelligente Einwanderer aus Süd- und Osteuropa. Vgl. Stephen Jay Gould, The Mismeasure of Man, Überarb. und erw. Aufl., New York 1996, S. 176ff. William H. Tucker, The Sciences and Politics of Racial Research, Urbana, 111. 1994, S. 80ff. Finzsch, "Wissenschaftlicher Rassismus", S. 99f. Die Verknüpfung von Rasse und Intelligenz ist ebensowenig wie der Begriff der Rasse selbst, aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. So widmete z.B. der Soziologe Richard A. Goldsby dem Thema ein Kapitel in seinem Buch, Race and Races, New York 1971. Seine Absicht war es, der Annahme einer Höher- und Minderwertigkeit von Rassen entgegenzuwirken. Anders dagegen die Veröffentlichung von Charles Murray, Richard Hermstein, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life, New York 1994. Die Autoren behaupten die biologische Festlegung von Intelligenz und lösten damit eine Debatte in den USA aus. Vgl. Russell Jacoby, Naomi Glauberman (Hg.), The Bell Curve Debate: History, Documents, Opinions, New York 1995, Ashley Montagu (Hg.), Race and IQ, New York 1996.
46
Dies hatte wiederum Rückwirkungen auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff. Solange er gesellschaftlich akzeptiert blieb, musste niemand die eigene wissenschaftliche Arbeit hinterfragen. Für einige Disziplinen hätte die Anerkennung, dass es keine Rassen gibt, erhebliche Konsequenzen, so z.B. für die physische Anthropologie. Vgl. dazu Alice Littlefield, Leonard Lieberman, Larry T. Reynolds (Hg.), "Redefining Race: The Potential Demise of a Concept in Physical Anthropology", in: Current Anthropology 23,6 (1982), S. 641-652.
47
Zu den Problemen, die sich in der Umsetzung des Gesetzes besonders für Demographen und Statistiker bei der Festlegung der Quoten ergaben vgl. Mae M. Ngai, "The
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Der Diskurs über Rassen umspannte also verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und die alltägliche Rede über diejenigen, die als Fremde wahrgenommen wurden. Die Frage nach der konkreten gegenseitigen Beeinflussung zwischen Wissenschaften und der Öffentlichkeit ist jedoch nicht einfach zu klären. 48 Die ältere Ideengeschichte beschäftigte sich zumeist ausschließlich mit der Entwicklung der Rassentheorien in den Schriften von Wissenschaftlern und Intellektuellen und nahm implizit oder explizit an, dass die Ideen langsam von der Öffentlichkeit rezipiert wurden, in das Alltagswissen eingingen und die gesellschaftlichen Vorstellungen insgesamt beeinflussten. 49 Diese Diffusion von Ideen und Konzepten von oben nach unten fand sicherlich statt, umgekehrt spielte aber auch die zeitgenössische Gewissheit über den Einfluss, den die Rassenzugehörigkeit auf die Fähigkeiten und Eigenschaften der Menschen nahm, eine große Rolle darin, dass die Wissenschaftler nicht von der Kategorie abrückten. Im 20. Jahrhundert dürfte die Aufnahme wissenschaftlicher Überlegungen in die alltäglichen Vorstellungen relativ stark gewesen sein, zumal die Entwicklung der Wissenschaften einherging mit der Ausweitung des Bildungssystems insgesamt, das seit dem 19. Jahrhundert immer breitere Schichten erreichte.50 Außerdem stieg die Bedeutung von Zeitungen und Zeitschriften, in denen wissenschaftliche Diskussionen aufgegriffen und in vereinfachter Form wiedergegeben wurden. Im 20. Jahrhundert kamen zu den Printmedien das Radio, dann Kinofilme sowie Architecture of Race in American Immigration Law: A Reexamination of the Immigration Act of 1924", in: Journal of American History 86 (1999), S. 67-92. 48
Mit diesem Problem setzt sich auch Holt auseinander. Thomas C. Holt, "Race, Racemaking, and the Writing of History", in: American Historical Review 100 (1995), S. 120.
49
Vgl. z.B. Gossett, Race.
50
Zur Entwicklung des Bildungssystems in den USA vgl. John W. Meyer, David Tyack, Joane Nagel, Audri Gordon, "Public Education as Nation-Building in America: Enrollments and Bureaucratization in the American States, 1870-1930", in: American Journal of Sociology 85 (1979), S. 591-613, Cecilia Elizabeth O'Leary, To Die For: The Paradox of American Patriotism, Princeton, N.J. 1999, S. 172ff., Lawrence A. Cremin, American Education: The Metropolitan Experience, 1876-1980, New York 1988, ders., The Transformation of the School: Progressive American Education, 1876-1957, New York 1961, Michael B. Katz, Reconstructing Education, Cambridge, Mass. 1987. Die Ausweitung des höheren Bildungswesens wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Kalifornien vorangetrieben. Vgl. John Aubrey Douglass, The California Idea and American Higher Education: 1850 to the 1960 Master Plan, Stanford 2000. Zur Verbreitung der Rassevorstellungen in den Schulen vgl. Ruth Miller Elson, Guardians of Tradition. American Schoolbooks of the Nineteenth Century, Lincoln 1964. Die Autorin zeigt, dass die Existenz von Rassen in den Schulbüchern nie hinterfragt wurde, sondern vielmehr in den verschiedensten Fächern auftauchten, u.a. auch bei der Formulierung von Rechenaufgaben. Ebd., S. 65ff.
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schließlich das Femsehen hinzu.51 Darüber hinaus fanden die Rassevorstellungen schließlich in Museen und Ausstellungen Verbreitung, deren Besucherzahlen ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert anstiegen.52 Bereits in der als Progressivism bezeichneten Reformphase vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg setzte insgesamt eine "Akademisierung" der Gesellschaft ein, die ein breites Vertrauen gegenüber den Wissenschaften beinhaltete. Der Glaube an die Lösungsmöglichkeit sozialer Probleme mit wissenschaftlichen Methoden nahm in dieser Zeit stark zu und ging mit einer Professionalisierung der Sozialarbeit einher.53 Die Sozialarbeiter und -arbeiterinnen waren daran beteiligt, die Rassenvorstellungen in die Gesellschaft und die Politik zu tragen, indem sie soziale Probleme als Rassenprobleme verstanden und mit entsprechenden Antworten darauf reagieren wollten. Obwohl der Progressivism vielfach als Vorläufer großer sozialreformerischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert interpretiert wird, besonders der Politik des New Deal unter Präsident Franklin D. Roosevelt und der Great Society von Präsident Lyndon B. Johnson, verweist Eric Foner darauf, dass diese Strömung stark von Rassenvorstellungen geprägt war: "The 'idea of race' (...) consciously or not, (...) circumscribed the 'imagined Community' of Progressive America."54
51
Zur steigenden Bedeutung des Radios vgl. Frank Luther Mott, American Journalism: A History of Newspapers in the United States Through 260 Years, 1690 to 1950, Überarb. Aufl., New York 1953, S. 678ff. Zum Film vgl. Lary May, Screening Out the Past: The Birth of Mass Culture and the Motion Picture Industry, Chicago 1980. Zur Bedeutung der Kinos für Immigranten und Immigrantinnen einerseits sowie Angehörige der Arbeiterklasse andererseits vgl. Stuart Ewen, Elizabeth Ewen, Channels of Desire: Mass Images and the Shaping of American Consciousness, New York 1982, S. 82ff. Lizbeth Cohen, Making a New Deal: Industrial Workers in Chicago, 1919-1939, Cambridge, Mass. 1990, S. 120ff.
52
In den 1920er und 1930er Jahren gingen eine Reihe von privaten Sammlungen von Americana in nationale Museen über, deren Anliegen in der Bildung der Bevölkerung in Bezug auf die US-amerikanische Geschichte lag. Vgl. dazu Michael Kämmen, Mystic Chords of Memory: The Transformation of Tradition in American Culture, New York 1991, S. 299-342. Im Museum of Natural History in New York wurde z.B. 1883 in der "Halle der Säugetiere" die Höherwertigkeit der Weißen behauptet. Jacobson, Whiteness, S. 148.
53
Jürgen Heideking, Geschichte der USA, Tübingen 1996, S. 246. Degler, In Search, S. lOf. Arthur S. Link, Richard L. McCormick, Progressivism, Arlington Heights, 111. 1983, S. 85ff. Zur Professionalisierung in der Sozialarbeit vgl. Daniel J. Walkowitz, "The Making of a Feminine Professional Identity: Social Workers in the 1920s", in: American Historical Review 95 (1990), S. 1051-1075.
54
Eric Foner, The Story of American Freedom, New York/London 1998, S. 185. Foner sieht diese Rassevorstellungen eher als einen Überrest aus dem 19. Jahrhundert, dass die Anhänger des Progressivism allerdings ebenso Affinitäten zu den Rassenvorstellungen
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Die Theorien über menschliche Rassen und deren Hierarchie konnten allerdings nur deshalb so großen Einfluss erlangen und im Alltag Fuß fassen, da sie auf entsprechende gesellschaftliche Dispositionen trafen. 55 Zu einer solchen Disposition führte z.B. die Sklaverei, die mit der behaupteten Minderwertigkeit von Schwarzen hervorragend legitimiert werden konnte. 56 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildeten neben dem Widerstand der Weißen gegen die Gleichstellung von Schwarzen die außenpolitischen Interessen der USA ein wichtiges Umfeld, das zur Verbreitung der Vorstellung von einer natürlichen Hierarchie menschlicher Gruppen beitrug, da sie die imperialistischen Bestrebungen legitimieren half. 57 Die in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen so wichtige Frage nach den Kriterien, die die Rassezugehörigkeit am besten zeigten, war für das Alltagswissen dagegen unerheblich. Im konkreten sozialen Umfeld schien die Antwort vielmehr auf der Hand zu liegen, ebenso wie die als natürlich angenommene Hierarchie der Gruppen. Mit dem Rassebegriff konnten soziale Praktiken der Exklusion hervorragend erklärt und eingeordnet werden, er bot eine einfache Formel für die Benennung der sozialen Ordnung. Die Rassevorstellungen nahmen ideologische Züge an, die die US-amerikanische Kultur zunehmend durchdrangen. 58 Deutlich sichtbar wurde dies in der Trennung der öfdes 20. Jahrhunderts hegten, zeigt Donald Pickens, Eugenics and the Progressives, Nashville 1968, S. 214ff. 55
Vgl. Holt, "Race, Race-making".
56
Es gibt eine lange Debatte über die Frage, ob die Sklaverei zu Rassismus gefuhrt habe oder umgekehrt. Vgl. dazu Edmund S. Morgan, American Slavery - American Freedom: The Ordeal of Virginia, New York 1975. Morgan sieht eher die Sklaverei als die Ursache für die darauf folgende Verbindung von Sklaven und Schwarzen in der Vorstellungswelt der europäischen Kolonisten. Fredrickson meint dagegen, dass die Versklavung von Afrikanern ohne eine rassistische Haltung nicht denkbar gewesen wäre. George M. Fredrickson, "The Social Origins of American Racism", in: ders., The Arrogance of Race: Historical Perspectives on Slavery, Racism, and Social Inequality, Hanover 1988, S. 189-205. Vgl. auch Winthrop D. Jordan, The White Man's Burden: Historical Origins of Racism in the United States, New York 1974.
57
Vgl. Matthew Frye Jacobson, Barbarian Virtues: The United States Encounters Foreign Peoples at Home and Abroad, 1876-1917, New York 2001, 221ff., Thomas G. Dyer, Theodore Roosevelt and the Idea of Race, Baton Rouge/London 1980, S. 123fF., Amy Kaplan, "Left Alone With America: The Absence of Empire in the Study of American Culture", in: dies., Donald E. Pease (Hg.), Cultures of United States Imperialism, Durham, N.C. 1993, S. 3-21.
58
Thomas Holt, "Explaining Racism in American History", in: Anthony Molho, Gordon S. Wood (Hg.), Imagined Histories: American Historians Interprete the Past, Princeton 1998, S. 107-119, hier S. 116, verweist darauf, dass es sich um ein kulturelles Phänomen handelte. Den ideologischen Charakter des Rassismus betont Mosse, Geschichte. Ebenso Patrick von zur Mühlen, Rassenideologien, Berlin/Bonn 1977, S. 27f.
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fentlichen Sphäre für Weiße und Schwarze, der im Süden des Landes nach der Reconstruction in Gesetze gegossenen und erst Mitte des 20. Jahrhunderts schrittweise aufgehobenen Segregation. Daneben tauchte die Einteilung der Menschen in Rassen und die damit einhergehende Verbindung mit angeblichen sozialen Eigenschaften in alltäglichen Bereichen auf, die mit der Frage der sozialen Ordnung in keinem direkten Zusammenhang mehr standen, so z.B. in der Reklame.59 Romane und Gedichte sowie die Filmindustrie transportierten und beeinflussten die Rassenvorstellungen.60 Die Allgegenwärtigkeit des Begriffs manifestierte sich schließlich darin, dass alle sozialen Gruppen die Existenz von Rassen als gegeben ansahen, auch wenn sie selbst in der vorherrschenden Konstruktion der Hierarchie eine untergeordnete Position einnahmen. Allerdings nahm der Begriff für sie eine andere Bedeutung an.61 Der Aufstieg der Rassevorstellungen seit dem 18. Jahrhundert stand zudem in enger Verbindung mit einer anderen Idee: der Nation.62 Mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten erlangte sie als ein nach innen gerichteter politischer Begriff an Bedeutung. Die Vorstellung von der Nation begründete eine politische Gemeinschaft, deren Zusammenhalt hauptsächlich in der Gemeinsamkeit von Wertvorstellungen, Institutionen und politischen Überzeugungen gesehen wurde.63 Nicht die ganze Bevölkerung galt allerdings als befähigt, die 59
Jacobson, Barbarian Virtues, S. 142. Holt, "Race, Race-making", S. 16f. Leider fehlen Studien, die sich vergleichbar mit derjenigen Chartiers über die französische Revolution systematisch der Frage widmen, wie genau, über welche Medien und in welchem Umfang sich diese Vorstellungen verbreiteten. Vgl. Roger Chartier, Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1995. Theoretisch zu einer künftigen Mediengeschichte vgl. Requate, "Öffentlichkeit und Medien".
60
Das wohl bekannteste Beispiel eines ausgesprochen rassistischen Films stellte der 1915 von D. W. Griffith gedrehte "The Birth of a Nation" dar, der die Zeit der Reconstruction nach dem Bürgerkrieg so interpretierte, wie weiße Gegner der Abolition, die behaupteten, die Bürgerrechte für Scharze hätten zu Chaos und Ungerechtigkeiten gegenüber der weißen Bevölkerung geführt. Der Film stieg schnell zu einem der populärsten seiner Zeit auf. May, Screening, S. 80-83.
61
Vgl. z.B. W.E.B. Du Bois, The Souls of Black Folk, New York 1989 (1. Aufl. 1903). Vgl. Judith Stein, "Defming the Race 1890-1930", in: Sollors (Hg.), Invention ofEthnicity, S. 77-104, hier S. 82ff. Zur Bedeutung der Kategorie für Mexican Americans und Puertoricaner vgl. Kap. IV.
62
Zum Aufstieg der Nation vgl. Anderson, Erfindung der Nation, Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München 1996, Emest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.
63
Zur Unterscheidung von ethnisch und politisch begründeten Nationalstaatskonzepten vgl. Friedrich Heckmann, "Ethnos, Demos, und Nation, oder: Woher stammt die Intoleranz des Nationalstaats gegenüber ethnischen Minderheiten?", in: Bielefeld (Hg.), Das Eigene, S. 51-78, hier S. 66ff.
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politischen Rechte, die mit der Staatsbürgerschaft verbunden waren, auszuüben.64 Mit einem Naturalisierungsgesetz von 1790 legte der Kongress außerdem fest, dass nur "free white persons" die Staatsbürgerschaft erhalten sollten.65 Bis zur Aufhebung des Gesetzes 1952 blieb allerdings die Frage, wer als weiß galt, umstritten. So wurden von 1878 bis 1952 zweiundfünfzig Verfahren vor Gericht verhandelt, in denen es letztlich den Richtern oblag zu bestimmen, ob die Kläger der weißen Rasse angehörten oder nicht.66 In dem politisch begründeten Nationskonzept der USA befanden sich also von Beginn an Elemente einer rassischen Konstruktion. Standen nach der Unabhängigkeit der USA aufgrund der Sklaverei und der Frage der Abolition zunächst die Kategorien der weißen und schwarzen Rasse im Vordergrund des öffentlichen Diskurses, so änderte sich dies im Laufe des 19. Jahrhunderts. Afroamerikaner blieben einer Rasse zugeordnet, deren Fähigkeiten und Potenziale als geringer galten als die der weißen Rasse. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde allerdings die Segregation verschärft. Zunächst entschied der Oberste Gerichtshof 1896 in dem Verfahren "Plessy vs. Ferguson", dass der Grundsatz "separate but equal" verfassungsgemäß sei. Damit bestätigte das Gericht die Segregationspolitik und in der Folge kamen neue Regelungen hinzu. So übernahm z.B. die Bundesregierung in ihren Einrichtungen 1913 die Trennung der Bereiche für Schwarze und Weiße.67 Die Einheit der Weißen oder europäischstämmigen Bevölkerung hatte aber mit der massiven Einwanderung von Iren bereits einen ersten Bruch bekommen, der sich zum Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der steigenden Immigration von Süd- und Osteuropäern verstärken sollte. Ins öffentliche Interesse rückte nun die Aufteilung der Europäer in verschiedene Rassen. Ebenso wie den irischen Einwanderern der Status als Weiße aberkannt worden war,68 folgten jetzt die Einwanderer aus Süd- und Osteuropa. In der Zeit ihrer Immigration führten 64
Vgl. Linda K. Kerber, "The Meanings of Citizenship", in: Journal ofAmerican History 84 (1997), S. 833-854.
65
Vgl. Jacobson, Whiteness, S. 22fF.
66
Diese Fälle untersucht Ian F. Haney Lopez, White by Law: The Legal Construction of Race, New York/London 1996, S. 49ff.
67
John Hope Franklin, "Two Worlds of Race: A Historical View", in: ders., Race and History. Selected Essays 1938-1988, Baton Rouge/London, S. 132-152, hier S. 142.
68
Theodor Allen fuhrt dies auf den Rassismus zurück, mit dem die Engländer den Iren im Zuge der Unterwerfung begegneten. Ders., The Invention of the White Race, Bd. 1: Racial Oppression and Social Control, London 1994. Mit der Frage, wie Iren die Inklusion in die weiße Rasse langfristig in den USA erreichten, beschäftigt sich Noel Ignatiev, How the Irish Became White, New York 1995.
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parallel verlaufende gesellschaftliche Veränderungen zu einem Wandel in der Wahrnehmung dieser Neuankömmlinge. Besonders in den Städten, in denen viele der Einwanderer blieben, um in den neuen Industriebetrieben zu arbeiten, erschienen sie als Andere und wurden vor allem als Problem wahrgenommen.69 Führten die Prozesse von Industrialisierung, Verstädterung und der Ausweitung der staatlichen Einflusssphäre dazu, dass die US-amerikanische Bevölkerung näher zusammenrückte, so kam es im Zuge dieser Entwicklung auch zu einer stärkeren Wahrnehmung kultureller Differenzen. Dies verstärkte einerseits die Suche nach einer nationalen Einheit und dem Inhalt des "Amerikanisch-Seins", andererseits führte es zu einer zunehmenden Ablehnung von Immigranten.70 Die Unterteilung der vormals europäischen (oder weißen) Rasse in mehrere Kategorien ermöglichte den diskursiven Ausschluss der süd- und osteuropäischen Immigranten von der Nation. Es kam zu einer Verengung des "Weiß-Seins" auf die angelsächsische Abstammung. "American" und "Anglo-American" wurden zu Synonymen.71 Den Überlegungen zur angelsächsischen Rasse zufolge waren nur ihre Angehörigen in der Lage, sich selbst zu regieren, alle anderen dagegen nicht. Dies führte zwar nicht zur gesetzlichen Aberkennung der zivilen und politischen Bürgerrechte für europäische Einwanderer oder deren Nachfahren, wohl aber zur Einschränkung ihrer sozialen Rechte.72 Außerdem stellten sie in den Augen vieler Anglo-Amerikaner eine Bevölkerungsgruppe dar, deren Status in der Rassenhierarchie nicht eindeutig war.73 Sie galten weder als "farbig" oder "schwarz" noch als "weiß", sondern fielen mit der Bezeichnung "non-white" in eine Zwischenkategorie.74 Gegründet auf das Rassendenken erhielt neben dem Nativismus in den Vereinigten Staaten auch die Eugenik großen Auftrieb.75 Der 69
John Higham, Strangers in the Land. Patterns of American Nativism 1860-1925, 2. Aufl., New York 1971, S. 13Iff.
70
Vgl. John Higham, "Integrating America: The Problem of Assimilation in the Nineteenth Century", in: Journal of American Ethnic History 1 (1981), S. 7-22.
71
Persons, Ethnic Studies, S. 3.
72
Zur Unterscheidung der drei Ebenen der Staatsbürgerschaft vgl. T. H. Marshall, "Citizenship and Social Class", in: Bryan S. Turner, Peter Hamilton (Hg.), Citizenship: Critical Concepts, Bd. 2, London/New York 1994, S. 5-44, hier S. 9f. Der Text von Marshall erschien ursprünglich 1964.
73
Jacobson bringt verschiedene Beispiele, die auf die regionalen Unterschiede diesbezüglich verweisen. Jacobson, Whiteness, S. 52flf.
74
James R. Barrett, David Roediger, "Inbetween Peoples: Race, Nationality, and the 'New Immigrant' Working Class", in: Journal of American Ethnic Studies 16 (1996/97), S. 344, hier S. 3f.
75
Vgl. Garland E. Allen, "The Misuse of Biological Hierarchies: The American Eugenics Movement, 1900-1940", in: History and Philosophy of Life Sciences 5,2 (1983), S. 105-
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Vorstellung, dass die Politik aktiv die Zusammensetzung und die "rassische Gesundheit" der Bevölkerung gestalten müsse, bildeten die Folie, auf der die Einwanderungsgesetze aus den 1920er Jahren legitimiert wurden.76 Während des Ersten Weltkrieges erhielten die Nativisten verstärkten Zulauf. Die US-Regierung verband den Eintritt der USA in den Krieg mit einer groß angelegten Initiative zur Förderung des Patriotismus. Die Rede von Demokratie und Freiheit schürte zwar bei Schwarzen und Arbeitern gleichermaßen die Hoffnung, dass sich ihre Lage verbessern ließe.77 Sie mussten jedoch feststellen, dass sie die Begriffe anders füllten als es im vorherrschenden Diskurs der Fall war. Ausdruck dessen waren die 1919 in Chicago und anderen Städten eskalierenden Rassenunruhen78 sowie die Unterdrückung eines großen Streiks in der Stahlindustrie im gleichen Jahr, mit dessen Niederlage der Bedeutungsverlust der Gewerkschaften in den folgenden Jahrzehnten begann.79 Mit dem Versuch, eine nationale Unterstützung für den Krieg zu erhalten, verband sich die Ablehnung alles Fremden ebenso wie von politisch abweichenden Meinungen. Staatliche Institutionen beteiligten sich als wichtige Akteure am Diskurs über Patriotismus und beförderten ein antiliberales, chauvinistisches Konzept der Nation.80 Die Regierungspolitik erhöhte den Konformitätsdruck auf Einwanderer und deren Nachfahren sowie auf andere Bevölkerungsgruppen, die als "un-amerikanisch" 128. Die Vorstellungen der Eugeniker wurden in Zeitschriften, wie z.B. der Saturday Evening Post, über Bücher, die sich zu Bestsellern entwickelten, und über den Schulunterricht verbreitet. So fanden 1928 an 376 Colleges Eugenikkurse statt. Schließlich gab es eine Reihe von privaten Vereinen und Organisationen, die sich die Verbreitung der Eugenik auf die Fahnen geschrieben hatten, sodass Allen zu dem Schluss kommt, um 1915 sei es kaum einer des Lesens mächtigen und in einer Stadt lebenden Person möglich gewesen, nicht mit den Vorstellungen der Eugeniker in Kontakt zu kommen. Ebd., S. llSf. Den Einfluss der eugenischen Bewegung auf politische Maßnahmen nicht in Bezug auf Einwanderer, sondern auf so genannte "Geisteskranke" im Süden des Landes untersucht Edward J. Larson, Sex, Race, and Science: Eugenics in the Deep South, Baltimore/London 1995. Die internationalen Verbindungen der Eugeniker untersucht Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung fiir Eugenik und Rassenhygiene im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997. Zur eugenischen Bewegung vgl. auch Kap. IV. 1 .a. 76
Degler teilt die Einschätzung, dass das Einwanderungsgesetz von 1924 rassistisch motiviert war, nicht, kann mit seiner Argumentation aber kaum überzeugen. Degler, In Search, S. 54f.
77
O'Leary, To Die For, S. 208ff.
78
Die Unruhen 1919 in Chicago, wo sie am stärksten eskalierten, untersucht William Tuttle, Race Riot: Chicago in the Red Summer ofI9I9, New York 1970.
79
Vgl. Foner, American Freedom, S. 170ff.
80
O'Leary, To Die For, S. 221.
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galten.81 So überwachte das neu gegründete Bureau of Investigation, das später umbenannt wurde in Federal Bureau of Investigation (FBI), Schwarze im Süden, da es Gerüchte gab über eine Propagandakampagne der Deutschen, die angeblich versuchten, die African Americans auf ihre Seite zu ziehen.82 Die Bundesregierung teilte offenbar die Ansicht, dass Afroamerikaner nicht als loyale Bürger einzuschätzen seien. Die Frage nach der Loyalität der einzelnen Einwanderergruppen gegenüber der US-amerikanischen Nation erlangte mit dem Ersten Weltkrieg in den öffentlichen Debatten eine große Bedeutung. Gefordert wurde jetzt ein "100 per cent Americanism" aller Bürger. Hatte die so genannte Amerikanisierung von Einwanderern vorher vorwiegend in der Hand von privaten Vereinen und Organisationen gelegen, so übernahm jetzt die Regierung die Kampagne und gab ihr einen ausgesprochen konservativen Charakter.83 Patriotismus bedeutete nun unbedingte Unterstützung der Regierung. Politische Sympathien mit der Russischen Revolution, die Beteiligung an der Gewerkschaftsbewegung sowie der Erhalt kultureller Praktiken, die die Einwanderer aus ihren Herkunftsländern mitgebracht hatten, wurden dagegen als un-amerikanisch stigmatisiert.84 Die enge diskursive Festlegung dessen, was es bedeutete "Amerikaner" zu sein, führte schnell zu der Frage, ob denn die Einwanderer aus den verschiedenen europäischen Ländern, die als Angehörige unterschiedlicher Rassen angesehen wurden, überhaupt assimilierbar seien. Die Assimilation galt allgemein als ein Prozess, in dem die Einwanderer sich den gesellschaftlichen Normen und Werten anpassten bzw. sie in sich aufnahmen.85 Diese Normen und Werte wie-
81
Diese Entwicklung ging einher mit einer Zentralisierung der Massenmedien und der großen wirtschaftlichen Korporation, die ebenfalls den Druck zur Angleichung von ethnischen Minderheiten an die US-Kultur verstärkten. Gary Gerstle, Working-Class Americanism: The Politics of Labor in a Textile City, 1914-1960, Cambridge 1989, S. Iff.
82
O'Leary, To Die For, S. 231 f.
83
Higham, Strangers, S. 242ff., James Barrett, "Americanization from the Bottom Up: Immigration and the Remaking of the Working Class in the United States, 1880-1930", in: Journal of American History 79 (1992), S. 996-1020, hier S. 1018.
84
Foner, American Freedom, S. 187.
85
Diese Definition von Assimilation als einem einseitigen Prozess, in dem nicht beide Seiten von der jeweils anderen beeinflusst werden und Elemente der fremden Kultur aufgreifen, findet sich auch bei Robert Ezra Park, "Racial Assimilation in Secondary Groups with Special Reference to the Negro", in: ders., Race and Culture, Chicago 1950, S. 206-220. Der Artikel erschien ursprünglich bereits 1913. Später modifizierte Park seine Vorstellung von Assimilation dahingehend, dass dabei nur bestimmte grundlegende Nonnen übernommen würden und nicht alle Werte und Normen der Aufnahmegesellschaft. Philip Gleason, "Americans All: World War II and the Shaping of Arne-
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derum, die sich im American Way of Life manifestierten, stellten aber in der vom Rassedenken geprägten Konstruktion der US-amerikanischen Nation natürliche, angeborene Eigenschaften dar.86 Hier zeigten sich die Folgen einer Naturalisierung des Selbst- und Fremdbildes, die mit den Rassenvorstellungen einhergingen.87 Der American Way of Life konnte nicht einfach übernommen werden, sondern musste sich den Einwanderern gewissermaßen in den Körper einschreiben. Der vom Rassismus geprägte Diskurs beurteilte die Möglichkeiten für einen solchen Prozess eher negativ. Hinzu kam, dass die Anhänger der eugenischen Bewegung behaupteten, der Zuzug von Angehörigen ihrer Meinung nach minderwertiger Rassen würde die natürliche Ausstattung des US-amerikanischen Volkes auf Dauer gar gefährden, da es unweigerlich zu einer Vermischung kommen würde, in deren Verlauf die schlechteren erblichen Eigenschaften weitergegeben würden.88 Die Auseinandersetzungen und Konflikte, die es um die Frage der möglichen Assimilation der Einwanderer gegeben hatte, führte in den Sozialwissenschaften in der Zwischenkriegszeit dazu, dass die Beziehungen zwischen Einheimischen und Immigranten in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Die Kategorisierung dieser Gruppen als Rassen behielten viele Sozialwissenschaftler bei, auch wenn sie die Vorstellung von grundsätzlich festgelegten und unveränderbaren Eigenschaften der unterschiedlichen Rassen nicht teilten. Sie interessierten sich für die möglichen Wege der Integration; dass es sich bei den zunächst vorhandenen Konflikten um "Rassenkonflikte" handelte, darin bestand für die meisten dagegen kein Zweifel. Allen voran spielten William Isaac Thomas, Robert E. Park und Emest Burgess von der Universität in Chicago hier eine zentrale Rolle.89 Park formulierte eine Theorie der "race relations cycles", mit der er die Entwicklung der Beziehungen zwischen Einwanderergruppen und Aufnahmegesellschaft zu erklären suchte. Zusammen mit Burgess veröffentlichte er seine Überlegun-
rican Identity", in: ders., Speaking of Diversity: Language and Ethnicity in TwentiethCentury America, Baltimore 1992, S. 153-187, hier S. 159. 86
Lawrence B. Glickman, "Inventing the 'American Standard of Living': Gender, Race, and Working Class Identity, 1880-1925", in: Labor History 34 (1993), S. 221-235.
87
Persons, Ethnic Studies, S. 6.
88
Von den Eugenikern wurden in den USA um die Jahrhundertwende bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem die Schriften von Theodore Lothrop Stoddard und Madison Grant rezipiert. Vgl. dazu Kap. IV.l.a.
89
Zu Park Barbara Ballis Lai, The Romance of Culture in an Urban Civilization: Robert E. Park on Race and Ethnic Relations in Cities, London/New York, 1990, vgl. auch Dorothy Ross, The Origins of American Social Sciences, Cambridge, Mass. 1991, S. 357ff.
//. Formen kollektiver Identitäten
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gen zum Prozess der Assimilation 1921.90 Park sah vier Stadien, die in der Entwicklung der Beziehung von unterschiedlichen Rassen aufeinander folgen würden. Nach der Phase des Kontaktes käme es zu einem Wettbewerb, der zunächst übergehen würde in die dritte Phase der Anpassung, schließlich würde es im letzten Stadium zur Assimilation kommen. Diese Entwicklung sah Park auf gleichsam natürliche Weise ablaufen, sie musste und konnte nicht durch soziale Programme befördert werden. Damit erteilte Park der Behauptung von angeborenen Eigenschaften, die eine Assimilation verhinderten, ebenso eine Absage wie den Vorstellungen der Amerikanisierungsbewegung.91 Park, der großen Einfluss auf die Entwicklung der Soziologie in den Vereinigten Staaten hatte, trug mit seinen Arbeiten dazu bei, dass der Begriff der Rasse weiter benutzt wurde, auch wenn er der Behauptung, biologische Unterschiede bildeten die Ursache für soziale Differenzierungen und Hierarchien, widersprach. In seinen Überlegungen ging es Park vor allem um die Beziehungen zwischen Gruppen, die ein Bewusstsein rassischer Unterschiede ausgebildet hatten.92 In der Öffentlichkeit wurde diese von einer biologistischen Sichtweise abweichende Definition jedoch ebenso wenig wahrgenommen wie die Bemühungen in anderen Disziplinen.93 Hier spielte eher eine Rolle, dass in den wissenschaftlichen Abhandlungen der Begriff der Rasse weiterhin als eine wichtige Analysekategorie Verwendung fand. Nachdem die Einwanderung aus Europa erst durch den Ersten Weltkrieg und dann aufgrund der gesetzlichen Einschränkungen Mitte der 1920er Jahre bereits deutlich zurückgegangen war, nahm der größte Teil der Wissenschaftler und der Öffentlichkeit gleichermaßen eine Unterteilung der Menschheit in Großrassen vor, deren Anzahl meistens mit fünf angegeben wurde.94 Diese neue Nomenklatur beinhaltete die Integration der gesamten europäischstämmigen Bevölkerung in die Gruppe der Kaukasier und damit die Verschmelzung der vormals unterschiedlichen europäischen Rassen. Dieser Prozess zog sich über längere Zeit hin und kam erst in den 1960er Jahren 90
Robert E. Park, Ernest W. Burgess, Introduction to the Science of Sociology, Chicago 1921. Vgl. auch Oliver Cox, Race Relations. Elements and Social Dynamics, Detroit 1976, S. 36ff.
91
Gary Gerstle, "Liberty, Coercion, and the Making of Americans", in: Journal of American History 84 (1997), S. 524-558, hier S. 531.
92
Robert E. Park, "The Nature of Race Relations", in: Edgar T. Thompson (Hg.), Race Relations and the Race Problem: A Definition and an Analysis, Durham, N.C. 1939, S. 3-45, hier S. 4.
93
Vgl. dazu Kap. II.2.
94
Dabei handelte es sich um die Gruppen von Schwarzen, Kaukasiern, Mongolen, Malaien und Australiern. Vgl. Jacobson, Whiteness, S. 92.
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zum Abschluss. 95 Seitdem wird "race" in den Vereinigten Staaten vor allem dann angewendet, wenn die Rede von African Americans ist, das Verständnis des Rassebegriffs blieb aber weiterhin einem großen Wandel unterworfen. 96 In den späten 1930er Jahren begannen Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen erneut, sich stärker mit der Kategorie der Rasse grundsätzlich zu beschäftigen. In den U S A spielte dabei der Anthropologe Franz Boas, der an der Columbia University in N e w York lehrte, eine entscheidende Rolle. 97 Boas hatte bereits in den 1910er und 1920er Jahren begonnen, in seinen eigenen Arbeiten nachzuweisen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Rasse und seinen geistigen Fähigkeiten gebe. Er insistierte vielmehr auf dem Einfluss der Umwelt auf menschliche Charakteristika. Selbst körperliche Merkmale wie die Kopfform veränderten sich seinen Untersuchungen zufolge über Generationen hinweg bei einem Wandel der äußeren Bedingungen. 98 Boas, der aus Deutschland in die U S A emigriert war, be95
Ebd., S. 93.
96
Diese stark dichotomische Sichtweise, die die US-Gesellschaft in zwei Rassen, nämlich die weiße und die schwarze einteilt, wird vielfach rückprojeziert auf die Vergangenheit. Deshalb kamen die rassisch begründeten Zuschreibungen für europäische Einwanderergruppen in der Forschung lange nicht in den Blick. Zu einer Kritik dieser binären Gegenüberstellung, die auch andere als Rassen ausgeschlossene Gruppen vergisst, vgl. Jack D. Forbes, "The Manipulation of Race, Caste and Identity: Classifying Afroamericans, Native Americans and Red-Black People", in: Journal of Ethnic Studies 17,4 (1990), S. 1-51, hier S. llff.
97
Gossett, Race, S. 409ff. Degler, In Search, S. 84ff. Elazar Barkan, The Retreat of Scientific Racism. Changing Concepts of Race in Britain and the United States Between the World Wars, Cambridge/New York 1992, S. 279ff. Zu Boas vgl. auch Doris Kaufmann, '"Rasse und Kultur'. Die amerikanische Kulturanthropologie um Franz Boas (18581942) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - ein Gegenentwurf zur Rassenforschung in Deutschland", in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an KaiserWilhelm- Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, S. 309-327.
98
Vgl. Franz Boas, The Mind of Primitive Man, New York 1911, ders., "Changes in Bodily Form of Descendants of Immigrants", (1910-1913) in: ders., Race, Language, and Culture, New York 1940, S. 60-75, ders. "Race", in: Edwin R. Seligman (Hg.), Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 13, New York 1934, S. 25-34. Boas versuchte, seine Ergebnisse einem breiteren Publikum nahe zu bringen. Vgl. z.B. ders., "What Is a Race?", in: The Nation 120 (1925), S. 89-91. In der Literatur über den wissenschaftlichen Rassismus wird Boas immer als die Hauptfigur im Kampf gegen die falschen Vorstellungen dargestellt. Dies stimmt insofern, als er einer der prominentesten Anthropologen in den USA war und sein Einfluss nicht nur über die Fachdisziplin, sondern auch über die Universität hinausging. Boas war allerdings keineswegs der einzige, der schon vor den 1930er Jahren gegen die Behauptung vorging, Rasse und geistige Eigenschaften hingen zusammen. Auch Wissenschaftler aus anderen Disziplinen vertraten die Ansicht, dass nicht die Rassenzugehörigkeit sondern die Kultur entscheidend sei für die Ausprägung bestimmter Charakteristika. Vgl. z.B. Robert E. Speer, Race and Race Relations:
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gann 1933, sich aufgrund der Entwicklung in seiner alten Heimat zunehmend politisch zu engagieren. Er unterstützte einerseits deutsche Flüchtlinge und versuchte andererseits, den wissenschaftlichen Rassismus öffentlich zu bekämpfen." Für seine Anliegen in diesem Bereich fand er allerdings in den ersten Jahren nur wenige Mitstreiter. Bis Ende der 1930er Jahre unterstützte keine Wissenschaftsorganisation antirassistische Erklärungen oder Forschungsprojekte. Allerdings veröffentlichten Einzelpersonen Studien, die sich gegen den wissenschaftlichen Rassebegriff, der biologische und soziale Eigenschaften miteinander verband, wandten.100 Besonders jüdische Bürgerrechtsorganisationen bemühten sich um die Fortsetzung dieser Aktivitäten, die sie teilweise auch finanzierten. Boas gelang es 1935, eine finanzielle Förderung der Carnegie Foundation für seine eigenen Studien einzuwerben, zwei Jahre später unterstützte die Stiftung dann eine gemeinschaftliche Studie von einer Gruppe von Wissenschaftlern, die Boas und Henry F. Osborne, der Direktor des New Yorker Museum of Natural History, zusammengestellt hatten. Diese Finanzierung zeigte einen Schwenk in breiteren Kreisen in den USA an, hatte doch die Carnegie Foundation lange Jahre die Studien von Charles Davenport, einem der bekanntesten Vertreter der Eugenik, gefördert.101 Während und nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen immer mehr Bücher, die dem wissenschaftlichen Rassismus eine Absage erteilten. Das bekannteste stammte aus der Feder der Boas-Schülerin Ruth Benedict und erschien 1940 unter dem Titel Race: Science and Politics.102 Drei Jahre später erfolgte bereits eiA Christian View of Human Contacts, New York 1924, Wilson D. Wallis, "Race and Culture", in: Scientific Monthly, Oct. 1926, S. 313-321, Leslie D. Zeleny, "Race and Culture", in Sociology and Social Research 14 (1929/30), S. 438-449. 99
Barkan, Retreat, S. 282f.
100 Gegen Ende der 1930er Jahre nahm die Anzahl solcher Veröffentlichungen zu. Es bliebe zu untersuchen, ob nicht nur die Autoren, sondern auch die Verlage den Zeitpunkt mitbestimmten, ob also vorher in den Verlagen kein Interesse für solche Themen bestanden hatte und sie erst mit den Entwicklungen in Deutschland und der wachsenden Besorgnis vieler Kreise in den Vereinigten Staaten die Aussicht auf Profite sahen. Vgl. Otto Klineberg, Race Differences, New York 1935. 1938 erschien eine überarbeitete Auflage von Franz Boas, The Mind of Primitive Man, Überarb. Aufl., New York 1938. Es erschienen auch eine Reihe von kleineren Broschüren, mit denen einem breiteren Publikum die neue Position in den Wissenschaften näher gebracht werden sollten. Vgl. z.B. Caroline Singer, Race? What the Scientist Say, Camden, N.J. 1939. Dieses Heft von 15 Seiten erschien in einer Auflage von 1.000 Stück. 101 Barkan, Retreat, S. 330f. Vgl. zu Boas auch Kap. II.2. 102 New York 1940. Dieses Buch wird in den meisten Darstellungen als eines der einflussreichsten in Bezug auf den Wandel der Rassevorstellungen gesehen, während Gleason bereits die Studie von Ruth Benedict, Patterns of Culture, New York 1934, als eines der
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ne zweite Auflage und 1945 erschien eine überarbeitete Version, die 1951, 1953 und 1959 neu aufgelegt wurde. Außerdem wurde der Text bald auch in anderen Ländern veröffentlicht.103 Benedict erläuterte darin zunächst die Bemühungen der physischen Anthropologie, die Menschheit zu ordnen, und betonte, dass die Untersuchung von Rassen nicht gleichzusetzen sei mit Rassismus. Sie diskutierte die wichtigsten Kriterien und Argumentationsmuster, mit denen die Höherwertigkeit der weißen Rasse getestet und begründet wurde, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass nicht in der Rasse, sondern in der Kultur die wichtigste Ursache für Unterschiede zwischen Menschengruppen lag. Trotz dieser Kritik an den Versuchen, von Rassen auf geistige Fähigkeiten zu schließen, betonte Benedict, Rassen stellten eine Tatsache dar und könnten keineswegs als Aberglaube gelten.104 Der Rassismus dagegen stelle ein Dogma dar, das Glauben machen wolle, einige ethnische Gruppen seien von der Natur zu angeborener Minderwertigkeit verurteilt, während andere sich auf ihre angeborene Überlegenheit stützen könnten. Diese Vorstellung basierte laut Benedict auf dem anthropologischen Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören, die stets als die beste angesehen wurde. Im Laufe der Geschichte habe sich allerdings die Zuordnung der Gruppen geändert, bis in der Moderne die Rasse als Unterscheidung herangezogen wurde. Die Ursache für die Abgrenzung sah Benedict in sozialen Problemen, erst wenn die Lebensbedingungen aller besser seien, werde es auch zu keinem Rassismus mehr kommen.105 Benedict verfasste kurze Zeit später zusammen mit der Anthropologin Gene Weltfish, ebenfalls von der Columbia University, eine kleine Broschüre mit dem Titel "Races of Mankind", die die Aussage von Benedicts Buch zusammenfasste und für ein breiteres Publikum gestaltete. Auf Englisch
am häufigsten gelesenen anthropologischen Werke überhaupt bezeichnet. Philip Gleason, "Americans AH", S. 157. Bereits in Patterns of Culture legte Benedict die Bedeutung der Kultur für menschliches Verhalten dar. Vgl. auch Degler, In Search, S. 206f. Die schnell aufeinander folgenden Auflagen von Race: Science and Politics und die Veröffentlichungen in anderen Ländern unterstützen die Auffassung, dass Benedicts Buch über Rassen und Rassismus wesentlich stärker rezipiert wurde. Barkan schreibt, Benedict habe dieses Buch zwar verfasst, eigentlicher Autor sei allerdings Boas gewesen, dem Benedict die einzelnen Kapitel zusandte und der den Inhalt kontrolliert habe. Balkan schließt dies aus einer Bemerkung Benedicts in einem Brief, allerdings ist dieser Hinweis wohl kaum ausreichend für seine Einschätzung. Barkan, Retreat, S. 333. Zu Benedict vgl. Margaret M. Caflrey, Ruth Benedict: Stranger in This Land, Austin 1989. 103 So in England unter dem Titel Race and Racism, London, 1942. In deutscher Übersetzung erschien das Buch 1947 und dem Titel Die Rassenfrage in Wissenschaft und Politik, Bergen (Oberbayem) 1947. 104 Ebd., S. 96. Benedict bezog sich damit auf das Buch von Barzun, Race. 105 Benedict, Race, S. 96ff.
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erschien sie in einer Auflage von 500.000 Stück. Das Interesse von Angehörigen von Minderheiten manifestierte sich darin, dass z.B. puertoricanische Bürgerrechtsaktivisten den Text übersetzten und ihn in einer Auflage von 100.000 Exemplaren veröffentlichten.106 Aus dem Umkreis von Boas kam 1942 eine weitere kritische Veröffentlichung über das Rassekonzept.107 Ashley Montagu, der seine Dissertation bei Boas geschrieben hatte, ging in seinem Buch allerdings weiter als Benedict. Er sah das Konzept der Rasse insgesamt als falsch an und er bestritt, dass eine biologische Einteilung der Menschheit sinnvoll erfolgen könne, da die einzelnen physischen Merkmale in unterschiedlicher Verteilung auftraten, also nicht zwei Eigenschaften gleichzeitig bei einer bestimmten Gruppe anzutreffen waren, während sie bei beim Rest der Menschheit anders ausgeprägt waren. Montagu schrieb außerdem gegen die politische Anwendung der Rassevorstellung. Dieser Teil seiner Darlegung wurde wesentlich stärker in der Öffentlichkeit aufgenommen, während seine Erläuterungen, dass es keine Rassen gebe, als politisch gefärbt abgetan wurden.108 Trotzdem fand das Buch angesichts der zunehmenden Besorgnis, die in den USA in Bezug auf das nationalsozialistische Deutschland bestand, breite Aufnahme und ging bereits 1945 in die zweite Auflage. Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschien schließlich eine weitere Studie, die großen Einfluss sowohl auf die Sozialwissenschaften als auch auf die öffentliche Meinung nehmen sollte. Dabei handelte es sich um die Untersuchung des schwedischen Wirtschaftswissenschaftlers Gunnar Myrdal zur Lage der African Americans.109 Myrdal war auf Einladung der New Yorker Carnegie Corporation 1938 in die Vereinigten Staaten gekommen, um die sozi-
106 Ruth Benedict, Gene Weltfish, Las Razas Humanas, o.O. o.J. (Die Broschüre erschien noch während des Zweiten Weltkrieges), in Jesús Colón Papers, Center for Puertorican Studies, Hunter College, City University of New York, box 2, folder 5. In Englisch erschien die Broschüre unter dem Titel The Races of Mankind, Washington, D.C. 1943. Zur zeitgenössischen negativen Reaktion anderer Anthropologen auf diese Broschüre vgl. Barkan, Retreat, S. 317. Eine Kritik an der Beibehaltung des Rassebegriffs formuliert Peggy Pascoe, "Miscegenation Law, Court Cases, and Ideologies of 'Race' in Twentieth-Century America", in: Journal of American History 83 (1996), S. 44-69, hier S. 55. 107 Ashley Montagu, Man 's Most Dangerous Myth: The Fallacy of Race, New York 1942. 108 Vgl. das Vorwort von C. Loring Brace in der 6. Aufl. von Montagus Buch, Walnut Creek, C.A. 1997, S. 16f. 109 Gunnar Myrdal, An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy, New York 1944. Zum Einfluss von Myrdals Buch vgl. Walter A. Jackson, Gunnar Myrdal and America's Conscience: Social Engineering and Racial Liberalism, 19381987, Chapel Hill/London 1990, S. xif.
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ale Lage der schwarzen Bevölkerung zu untersuchen. In seiner Studie stellte er fest, dass es eigentlich kein "Negro problem" gebe, sondern die Weißen in einem Konflikt stünden, da sie einerseits dem "American creed" von Demokratie und Chancengleichheit anhingen, während sie andererseits Vorurteile gegen Schwarze hegten und ihnen deswegen viele gesellschaftliche Möglichkeiten nicht einräumten. Myrdal zufolge handelten die weißen US-Amerikaner also nicht getreu ihren eigenen Prinzipien, allerdings glaubte er, dass die Werte langfristig für alle Bevölkerungsgruppen umgesetzt würden. Myrdals Untersuchung110 trug dazu bei, dass immer mehr US-Amerikaner die Rassenvorurteile als Ursache der sozialen Probleme der African Americans ansahen und nicht mehr die lange behauptete Minderwertigkeit dafür verantwortlich machten. Die Studie hinterfragte allerdings ebenso wenig wie die meisten anderen in den 1940er Jahren erschienenen Bücher zum Thema den Rassebegriff selbst.111 Dagegen trug sie stark dazu bei, dass sich die Annahme durchsetzte, "Rasse" beeinflusse nur das Leben deijenigen, die unter rassistischer Diskriminierung zu leiden hatten. Dementsprechend blieb der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Studien über die soziale Lage von African Americans oder anderen Minderheiten eine wichtige Kategorie. In den folgenden Jahren setzte sich in den Sozialwissenschaften eine Perspektive auf die Problematik durch, die Michael Omi und Howard Winant als
110 Die Beschränkung der Autorschaft auf Myrdal ist insofern irreführend, als er einen großen Mitarbeiter- und Beraterstab zur Seite hatte, deren Mitglieder sein Denken und das Ergebnis der Studie sicher stärker beeinflussten als ihre Schriften allein dies vermocht hätten. Zu den Berater und Beraterinnen gehörten u.a. W.E.B. Du Bois, Robert E. Park und Ruth Benedict. Eine umfassende Aufzählung geben Michael Omi, Howard Winant, Racial Formation in the United States: From the 1960s to the 1990s, 2. Aufl., New York/ London 1994, S. 166, Anm. 14. 111 Das zeigt sich z.B. auch an dem Eintrag "Races, Nature and Origins o f ' von Th. Dobzhansky in der Encyclopedia Americana, Bd. 23, New York 1950, S. 107-111. Der Zoologe Dobzhansky schrieb, dass sich Rassen auch bei den Menschen unterscheiden ließen und Unklarheiten, die diesbezüglich bestanden hätten, aus der "Bluttheorie" resultierten. Mit den neuen Erkenntnissen der Genetik ließen sich genauere Angaben machen. Danach legt der Autor allerdings dar, dass es je nach dem vererbten Merkmal, das als Kriterium gewählt wird, zu sehr unterschiedlichen Rasseneinteilungen kommen könnte. Der Beitrag bleibt bei physischen und somatischen Merkmalen und erwähnt Fähigkeiten oder sozialen Eigenschaften. Allerdings definiert er Rasse an einer Stelle sozial, wenn er sie als "Bevölkerung" oder Gruppe von Individuen bezeichnete, die sich untereinander vermehren, und für den Menschen feststellte, dass die Grenze der Vermischung nicht nur auf geographischen Gegebenheiten, sondern auch auf sozialen Tabus bis hin zu Gesetzen, die eine solche Vermischung untersagten, basieren konnten. Dieser Beitrag blieb in den folgenden Auflagen der Enzyklopädie bis 1978 mit nur wenigen kleineren Veränderungen erhalten.
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ethnisches Paradigma bezeichnen.112 Sie beziehen sich damit auf die Analogie, die zwischen der Geschichte von verschiedenen europäischen Einwanderern einerseits und als Rassen ausgegrenzten Gruppen andererseits, gezogen wurde. Die meisten Sozialwissenschaftler glaubten, dass die erfolgreiche Integration der Immigranten letztlich die Entwicklung auch für African Americans und andere "Rassen" vorzeichnete, sofern sich diese nur entsprechend anpassten. Oscar Handlin sah in seinen Studien über europäische Einwanderergruppen den Prozess der Assimilation letztlich als unvermeidbar, wenn auch nicht als unproblematisch für die Betroffenen an.113 Die Übertragung des Assimilationsmodells auf African Americans und Puertoricaner, wie es für die europäischen Immigranten formuliert worden war, zeigte sich in Handlins Untersuchung dieser beiden Gruppen an der Ostküste. Er glaubte, dass sich die Situation dieser "Newcomer" nicht wesentlich von der anderer Einwanderer vorher unterschied. Sie würden ebenso ihren Weg machen und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, dazu bedurfte es lediglich ihres Willens und der Toleranz der Weißen.114 Handlin repräsentierte mit dieser Sichtweise den "liberal consensus" der 1940er und 1950er Jahre. Diese Konsensvorstellung bezog sich auf das Bild der eigenen Nation als einer eigentlich klassenlosen Gesellschaft, in der selten größere soziale und politische Konflikte ausgetragen worden seien und die soziale Gegensätze auch in Zukunft ausgleichen würde.115 Die Auseinandersetzungen der Bürgerrechtsbewegung nahmen in den 1960er Jahren aufgrund des starken Widerstands gegen eine Gleichstellung der "rassischen" Minderheiten durch die weiße Bevölkerung im Süden und in geringerem Ausmaß auch im Norden zu. Diese Entwicklung ging einher mit einem neuen Selbstverständnis der beteiligten Gruppen. Die "black power" und in Anlehnung daran die von den Chicanos propagierte "brown power"116 Bewegungen beriefen
112 Orai, Winant, Racial Formations, 14ff. 113 Oscar Handlin, Boston 's Immigrants: A Study in Acculturation, Cambridge, Mass. 1941, ders., The Uprooted: The Epic Story of the Great Migrations That Made the American People, Boston 1951. Besonders das zweite Buch, für das Handlin den Pulitzer Preis bekam, erreichte ein Publikum weit über die akademischen Kreise hinaus und machte Handlin zu einem der bekanntesten Wissenschaftler seiner Zeit. Philip Gleason, "Crevecoeur's Question. Historical Writing on Immigration, Ethnicity, and National Identity", in: Molho, Wood (Hg.), Imagined Histories, S. 120-143, hier S. 127. 114 Handlin, The Newcomers, S. 118ff. 115 Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 37. Vgl. auch John Higham, "Changing Paradigms: The Collapse of Consensus History", in: Journal of American History 76 (1989), S. 460-466. 116 Vgl. Kap. V.l.b.
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sich auf ihre "rassische" Identität, mit der sie sich von den ethnischen Gruppen europäischer Herkunft abhoben. Während der Bürgerrechtsbewegung zeichnete sich ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften ab. Der liberale Konsens wurde zunehmend abgelehnt und dagegen marxistischen bzw. vom Marxismus inspirierten Ansätzen der Vorzug gegeben.117 Dies führte einerseits dazu, dass der Blick stärker auf Probleme und Konflikte gelenkt wurde, andererseits standen jetzt Klassen als Analysekategorien im Vordergrund. Dies schlug sich auch in Theorien zur Erklärung des Rassismus nieder, die in den 1960er und 1970er Jahren stark ökonomisch argumentierten. Hier lassen sich zwei Ansätze unterscheiden.118 Der eine sieht die Ursache für rassistisch motivierte Auseinandersetzungen im Interesse der Kapitalisten begründet, keiner einheitlich auftretenden Arbeiterschaft gegenüberzustehen.119 Der andere geht von einem Interessenkonflikt innerhalb der Arbeiterschaft aus, in der eine dominante Gruppe ihr eigenes Lohnniveau erhalten will und deshalb gegen billige Arbeitskräfte angeht.120 Eine weitere Theorie zur sozialen Ungleichheit fuhrt rassistische Unterdrückungen auf Situationen von internem Kolonialismus zurück, argumentiert aber letztlich ebenfalls ökonomisch, da sie rassistische Vorstellungen als ideologische Absicherung ökonomischer Interessen sieht.121 Das Problem dieser Ansätze liegt darin, dass sie eine eindimensionale Perspektive einnehmen, die zwar eine plausible Analyse für einige historische Situationen bietet, dagegen andere nicht erklären kann. Am gravierendsten scheint jedoch der Umstand, dass diese Theorien "Rasse" lediglich als Funktion von Klasse sehen und der Vorstellung selbst keine eigene Wirkungsmacht zusprechen.122 Der ökonomische Ansatz übersieht, dass nicht nur die Klassenzugehörigkeit, sondern in starkem Maße auch die Rassenzugehörigkeit die gesellschaftliche Lage und soziale Situation bestimmte. 117 Zu diesem Wandel vgl. Jonathan Wiener, "Radical Historians and the Crisis in American History, 1959-1980", in: Journal of American History 76 (1989), S. 399-434, Dorothy Ross, "The New and Newer Histories: Social Theory and Historiography in an American Key", in: Anthony Molho, Gordon S. Wood, Imagined Histories: American Historians Interpret the Past, Princeton, N.J. 1998, S. 85-106, hier S. 94f. 118 Vgl. Omi, Winant, Racial Formation, S. 29ff. 119 Vgl. Oliver S. Cox, Caste, Class, and Race, New York 1970 (1. Aufl. 1948). 120 Vgl. Edna Bonacich, "A Theory of Ethnic Antagonism: the Split Labor Market", in: American Sociological Review 37 (1972), S. 547-559. 121 Mario Barrera, Race and Class in the Southwest: A Theory of Racial Inequality, Notre Dame 1979, S. 196ff. Zum Konzept des internen Kolonialismus vgl. Robert Blauner, Racial Oppression in America, New York 1972. Michael Hechter, Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Development, 1536-1966, Berkeley 1975. 122 Vgl. Omi, Winant, Racial Formation, S. 34.
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Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Kategorien - Klasse und Rasse - wirkte seit den späten 1960er Jahren besonders in der "new labor history" stark strukturierend. Eine Reihe von Studien wandten sich dem Problem zu, ob die gesellschaftliche Stellung von African Americans sowie ihre Identität stärker durch ihre Zugehörigkeit zu einer Klasse oder durch ihre Rasse bestimmt war. Einen wichtigen Anstoß fur entsprechende Studien gab die 1968 veröffentlichte Untersuchung Herbert G. Gutmans über schwarze Minenarbeiter und ihr Engagement in der Gewerkschaft der United Mine Workers Ende des 19. Jahrhunderts, in der Gutman zeigte, dass die Klassenzugehörigkeit für African Americans eine wichtige Rolle für ihr politisches Engagement spielte, obwohl die Einschränkungen der Bürgerrechte von African Americans nach der Reconstruction auch eine stärkere Solidarität unter der afroamerikanischen Bevölkerung hervorrief.123 Während Gutman hier eher die Klasse als strukturierende Kategorie bewertete, kamen die von ihm angestoßenen weiteren Untersuchungen insgesamt zu einem ausgewogenen Bild, demzufolge es kein "entweder oder" in der Frage gibt, welcher Aspekt der sozialen Lage letztlich wichtiger war. Vielmehr zeigen sie, dass sowohl die Klassen- als auch die Rassenzugehörigkeit auf die gesellschaftliche Stellung einen großen Einfluss ausübten.124 Der Schwerpunkt der Geschichtsschreibung in den USA, die sich mit Rassen beschäftigte, lag und liegt eindeutig auf Studien zu African Americans. Die Ursachen hierfür dürften in der langen Geschichte von Schwarzen in den USA, den Besonderheiten der Sklaverei und der Tatsache liegen, dass Afroamerikaner bis vor kurzem die größte Minderheit darstellten. Außerdem lässt sich generell eine höhere Bewertung der Ostküste gegenüber dem Westen des Landes feststellen, womit die Konzentration auf African Americans weiter gefördert wird, da die Einwanderer, die anderen Rassen zugeordnet wurden, sich vorwiegend im Westen niederließen.125 Die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre trug ebenfalls 123 Herbert G. Gutman, "The Negro and the United Mine Workers of America: The Career and Letters of Richard L. Davis and Something of Their Meaning: 1890-1900", in: ders., Work, Culture, and Society in Industrializing America. Essays in American WorHngClass and Social History, New York 1977, S. 121-208. 124 Vgl. z.B. Joe W. Trotter Jr., Coal, Class, and Color: Blacks in Southern West Virginia, 1915-1932, Urbana/Chicago 1995, Eric Amesen, "Following the Color Line of Labor: Black Workers and the Labor Movement Before 1930", in: Radical History Review 55 (1993), S. 53-87, Alan Dawley, Joe W. Trotter, "Race and Class", in: Labor History 35 (1995), S. 486-494. Für eine ausführlichere Diskussion dieser Studien vgl. Silke Hensel, "Race versus Class: An Historiographie Analysis of Social Inequality in Mexico and the United States", in: Jahrbuchßr Geschichte Lateinamerikas 36 (1999), S. 325-348, hier S. 336ff. 125
Richard White, "Race Relations in the American West", in: American Quarterly 38 (1986), S. 396-416.
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dazu bei. Sie begann zwar vor allem als ein Kampf der African Americans für Gleichberechtigung, blieb aber nicht auf diese Bevölkerungsgruppe beschränkt.126 Diese Ausweitung sollte sich schließlich auch an den Universitäten und in der Literatur niederschlagen. Programme wie affirmative action, die Angehörigen von Minderheiten in größerem Umfang als zuvor ermöglichten, ein Studium zu absolvieren und anschließend an der Universität eine Position zu bekommen, waren eng verbunden mit Forderungen, Studiengänge und Institute einzurichten, die sich mit einzelnen Gruppen befassten.127 Diese Entwicklung trug dazu bei, dass neben dem gestiegenen akademischen Interesse für African Americans, das sich vor allem an der Ostküste und im Süden der USA institutionell niederschlug, auch anderen als Rassen bezeichneten Gruppen eine größere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Im Südwesten und Westen traf dies vor allem für Mexican Americans und Asian Americans zu.128 Die Arbeitergeschichtsschreibung hat in den letzten Jahren eine neue Tendenz hervorgebracht, die in Bezug auf die Rassevorstellungen wichtig ist. Jetzt wird nicht mehr nur nach dem Einfluss der Rasse auf das Leben von African Americans oder anderen Minderheiten gefragt, sondern die Bedeutung der Rassenzuordnung für Weiße in den Blick genommen. David Roediger zeigt in seiner Studie über Arbeiter im 19. Jahrhundert, dass die Herstellung ihrer Identität als Weiße für sie ausgesprochen wichtig war.129 Deshalb lehnt er die Interpretation des Rassismus in der Arbeiterklasse als einen rein ökonomischen Konflikt ab, da sie suggeriert, ein solcher Rassismus würde verschwinden, wenn es keine Klassenunterschiede mehr gebe. Roediger sieht dagegen die Herstellung von "Weißheit" und die damit einhergehende Abgrenzung von allen, denen diese Eigenschaft abgesprochen wurde, als einen Teil der Arbeiterkultur des 19. Jahrhunderts, der unabhängig von anderen gesellschaftlichen Faktoren wirkte. In der Abgrenzung vom rassisch definierten Anderen - zu dieser Zeit vor allem ver-
126 Vgl. Kap. V. 127 Zu den Maßnahmen der affirmative action vgl. Paul D. Moreno, From Direct Action to Affirmative Action: Fair Employment Law and Policy in America, 1933-1972, Baton Rouge 1997. 128 Einen Überblick über Asian Americans geben Roger Daniels, Asian America: Chinese and Japanese in the United States Since 1850, Seattle 1988, Ronal Takaki, Strangers from a Different Shore, New York 1990, Sucheng Chan, Asian Americans: An Interpretive History, Boston 1991. Vgl. auch Ronald Takaki, Iron Cages: Race and Culture in Nineteenth-Century America, New Yoik 1979, Alexander Saxton, The Indispensable Enemy: Labor and the Anti-Chinese Movement in California, Berkeley 1971, Judy Yung, Unbound Feet: A Social History of Chinese Women in San Francisco, Berkeley 1995. 129 Roediger, Wages.
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körpert von Schwarzen - versicherten sich die Arbeiter, die häufig Einwanderer der ersten Generation waren oder Einheimische, die vom Land in die Stadt migriert waren, ihres eigenen Status innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft. Diese Suche fand ihren Ausdruck in den so genannten "minstrel shows". Dabei handelte es sich um Variete-Programme, in denen ein Bild von African Americans als natürlich Unterworfenen gezeichnet wurde.130 Die Stereotypisierung der Schwarzen in den Darstellungen diente der Abgrenzung von ihnen. Die Einwanderergruppen, denen das erfolgreich gelang, konnten für sich nicht nur ein höheres Ansehen, sondern vielfaltige weitere soziale Vorteile in Anspruch nehmen.131 Diese Betonung der Identität von Weißen als einem wichtigen Teil der Geschichte der Rassenvorstellungen überhaupt steht im Zusammenhang mit einem neuen Verständnis von "Rasse". Der Begriff gilt nicht länger als eine gegebene Größe, sondern als Ideologie132 und als "... a social construction predicated upon the récognition of différence and signifying the simultaneous distinguishing and positioning of groups vis-à-vis one another."133 Das Verständnis von Rassen als geschaffenen sozialen Gruppen hebt hervor, dass es sich dabei um Einheiten handelt, die aufgrund sozialer Interaktionen entstanden und damit jeglicher natürlichen, außerhalb der historischen Entwicklung angesiedelten Grundlage entbehren. Entscheidend ist also, dass von den körperlichen Unterschieden, die zwischen allen menschlichen Individuen bestehen, zunächst einige wenige Merkmale herausgegriffen und zur Bezeichnung von Gruppen herangezogen wurden, die dann soziale Bedeutung zugewiesen bekamen. Die Zuschreibungen dienten der Definition von gesellschaftlichem Innen und Außen, sie führten zu Grenzziehungen im sozialen Leben und etablierten eine soziale Hierarchie. Die Trennung zwischen Rassen basiert auf einem pri-
130 Roediger, Wages, S. 115-119. Holt, "Race, Race-making", S. 14ff. Zu den minstrelshows vgl. auch Robert C. Toll, Blacking Up: The Minstrel Show in Nineteenth-Century America, New York 1974, New York 1991, Eric Lott, Love and Theft: Blackface Minstrelsy and the American Working Class, New York 1993. 131 Vgl. George Lipsitz, "The Possessive Investment in Whiteness: Racialized Social Democracy and the 'White' Problem in American Studies", in: American Quarterly 47 (1995), S. 369-387. 132 Barbara J. Fields, "Ideology and Race in American History", in: J. Morgan Kousser, James McPherson (Hg.), Region, Race, and Reconstruction: Essays in Honor of C. Vann Woodward, New York 1982, S. 143-177. 133 Evelyn Brooks Higginbotham, "African-American Women's History and the Metalanguage of Race", in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 17 (1992), S. 251274, hier S. 253.
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mordialen Code, der radikale Grenzen zieht, deren Überschreitung nur in seltenen Fällen möglich ist.134 In den USA stieg der Einfluss von Rassenvorstellungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich und strukturierte die sozialen Beziehungen zwischen Angloamerikanern und Afroamerikanern einerseits, aber andererseits in weiten Bereichen auch zwischen Angloamerikanern und Einwanderergruppen aus Asien, Europa und Lateinamerika. Mit der Rassenkonstruktion wurde jeweils ein Binnenraum geschaffen, der von den Anderen, Fremden abgeschirmt wurde. Damit blieben die Nachfahren von Sklaven, denen nach dem Bürgerkrieg zunächst die staatsbürgerlichen Rechte zugesprochen worden waren, ebenso von der Gemeinschaft der US-amerikanischen Nation ausgeschlossen135 wie Einwanderergruppen und deren Nachfahren, die formal ebenfalls als Bürger dem Staat angehörten. Die Rassenbezeichnungen unterstellten den damit erfassten Gruppen zudem, sie bildeten naturale Konstanten.136 Diese Konstruktionen variierten jedoch sowohl aufgrund regionaler Unterschiede in der Gesellschaft als auch in der Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg begannen sich zwar Zweifel an der Unterscheidung der Menschen nach ihrer vermeintlichen Rassezugehörigkeit auszubreiten, der Begriff blieb aber bis heute im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch erhalten. Trotz seiner teilweise neuen Inhalte schwingen die alten Konnotationen einer biologischen Erklärung weiter darin mit und es bleibt bis heute dabei, dass die sozialen Grenzen zwischen Gruppen, die als Rassen unterschieden werden, strikter gezogen sind als diejenigen zu ethnischen Gruppen. Diese letzte Kategorie soll Inhalt des folgenden Kapitels sein. 2. Die Erfindung der Ethnizität137 Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann die Bezeichnung "ethnische Gruppe" in der Rede von Unterschieden zwischen Menschengruppen den Rassebegriff in den USA teilweise zu ersetzen. Dieser Prozess erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg einen enormen Schub und spätestens mit dem so genannten "ethnic revival" erhielt der Begriff "ethnische Gruppe" eine breite gesellschaftli134 Vgl. Giesen, Kollektive Identität, S. 32ff. 135 Vgl. Toni Morrison, Playing in the Dark: Whiteness in the Literary Imagination, Cambridge, Mass. 1992, S. 47. 136 Reinhart Koselleck, "Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe", in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 211-259, hier S. 217 und 221. 137 Der Titel ist entliehen von Sollors (Hg.), Invention of Ethnicity. Vgl. auch Conzen et al., "Invention of Ethnicity".
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che Anerkennung. Dieser relativ späte Aufstieg des Wortes führte dazu, dass bisher keine breit angelegte Begriffsgeschichte dazu vorgelegt wurde.138 Der Wortstamm ist das griechische "ethnos", von dem die Worte Ethnologie, Ethnie, ethnische Gruppe und schließlich Ethnizität abgeleitet sind.139 Der Oxford English Dictionary erwähnte das Adjektiv "ethnic" erstmals 1851, zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchte es häufiger im Sprachgebrauch auf.140 Zur gleichen Zeit fanden sich in der Encyclopedia Americana allerdings lediglich Einträge zu den Bezeichnungen "Ethnography" und "Ethnology". In der Erläuterung zur Ethnologie hieß es dort, es handele sich um die Wissenschaft von den menschlichen
138 Hinzu kommt, dass die Begriffsgeschichte in Deutschland begründet wurde, hier das Wort "Ethnie" und seine Ableitungen aber erst seit jüngster Zeit in verstärktem Maße in die Alltagssprache aufgenommen wurden. Auch in den Sozialwissenschaften strukturierte der Begriff die Forschung nur wenig. Max Weber legte zwar eine Definition von "ethnischer Gruppe" vor, allerdings betonte er in direktem Anschluss, dass das Konzept wenig hilfreich sei. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe hg. von Johannes Winckelmann, 5. Überarb. Aufl., Tübingen 1972, S. 237 und S. 537. Dies erklärt wohl teilweise, dass ein entsprechender Eintrag in Geschichtliche Grundbegriffe fehlt. Ein weiterer Grund dürfte darin liegen, dass im Deutschen der Volksbegriff gegenüber dem der Ethnie bzw. ethnischen Gruppe eine größere Rolle spielte, ohne dass die Bedeutungen übereinstimmen. Das semantische Feld von "Volk" ist seit den Umwälzungen Mitte des 18. Jahrhunderts stärker mit "Nation" verknüpft, wogegen ethnische Gruppe gerade die Verschiedenheit zu Nation beinhaltet. Vgl. Reinhard Koselleck, Fritz Gschnitzer, Karl Ferdinand Werner, Bernd Schönemann, "Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 143-431, hier S. 147f., Lutz Hoffmann, "Der Volksbegriff und seine verschiedenen Bedeutungen: Überlegungen zu einer grundlegenden Kategorie der Moderne", in: Klaus J. Bade (Hg.), Migration - Ethnizität Konflikt: Systemfragen und Fallstudien, Osnabrück 1996, S. 149-170. Die Feststellung, dass "Ethnizität" und "ethnische Gruppe" in den Sozialwissenschaften in Deutschland kaum eine Rolle spielt, trifft natürlich vor allem auf diejenigen Bereiche zu, die sich mit der eigenen Gesellschaft beschäftigen, nicht jedoch auf alle Fächer oder Teildisziplinen. Vgl. Peter Waldmann, Georg Elwert (Hg.), Ethnizität im Wandel, Saarbrücken 1989. In der Historiographie beginnt das Ethnizitätskonzept auch für die deutsche Geschichte an Einfluss zu gewinnen. Vgl. z.B. Klaus J. Bade, "Transnationale Migration, ethnonationale Diskussion und staatliche Migrationspolitik im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts", in: ders. (Hg.), Migration - Ethnizität - Konflikt, S. 403-430. Marco Heinz, Ethnizität und ethnische Identität. Eine Begriffsgeschichte, Bonn 1993, bezeichnet seine Studie zwar im Untertitel als eine Begriffsgeschichte, tatsächlich stellt er aber die Entwicklung der Konzepte in der Anthropologie dar. 139 Die Griechen benutzten in der Antike den Ethnos-Begriff für alle nicht-hellenischen Menschengruppen. Er fand also Verwendung auf alle Anderen im weitesten Sinne. Wolfgang Rudolph, "Ethnos und Kultur", in: Hans Fischer (Hg.), Ethnologie: eine Einführung., Berlin 1983, S. 47-68, hier S. 48. 140 Werner Sollors, "Theories of Ethnicity", in: ders. (Hg.), Theories ofEthnicity: A Classical Reader, London 1996, S. xxxvii, Anm. 2.
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Rassen und ihren Ursprüngen, die der größeren Disziplin der Anthropologie zuzurechnen war.141 Auch in der Fachenzyklopädie der Sozialwissenschaften von 1930 wird deutlich, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine scharfe Trennlinie zwischen den Begriffen "ethnic Community" und "race" existierte. So hieß es in dem Eintrag zu "ethnic Community", es handele sich dabei um Gruppen, die über die gemeinsame Rasse, Nationalität oder Kultur miteinander verbunden seien und in einer fremden Zivilisation lebten, von der sie sich kulturell absetzten.142 In dieser Definition kommt allerdings auch zum Ausdruck, dass den kulturellen Unterschieden als Abgrenzungsmerkmal größere Bedeutung beigemessen wurde. Damit stand sie einer relativ jungen Tendenz in der Anthropologie nahe, die vor allem von Franz Boas getragen wurde. Boas versuchte schon seit Beginn des Jahrhunderts mit seinen Arbeiten die wesentlich größere Bedeutung der Kultur für das menschliche Verhalten gegenüber der Rasse nachzuweisen.143 Obwohl Boas eine entscheidende Rolle in diesem langwierigen Prozess spielte, sprach er selbst nicht von ethnischen Gruppen, sondern benutzte noch den Begriff der "Rasse" als Bezeichnung menschlicher Großgruppen und für kleinere Einheiten verwendete er häufig "Typ".144 In Boas' Augen waren aber alle umfangreichen Untersuchungen gescheitert, mit denen die Bedeutung angeborener Eigenschaften für die Rassenzugehörigkeit und damit für den Charakter des Einzelnen sowie den Zivilisationsstand einer Gesellschaft insgesamt bewiesen werden sollten. Er stellte vielmehr fest, dass die Umwelt den Menschen prägte. In seinem wichtigsten Werk The Mind of Primitive Man, führte Boas aus, dass die potenziellen Fähigkeiten von so genannten Wilden denen glichen, die höher stehenden Gesellschaften angehörten.145 Boas konzentrierte einen guten Teil seiner Arbeit darauf, den Einfluss der Umwelt selbst auf die vermeintlich im Vererbungsgang festgelegten somatischen Kennzeichen wie etwa den
141 "Ethnology" in: Encyclopedia Americana, Bd. 7, New York 1903. Im weiteren Text war dann die Rede von "races" oder "stocks". Der Eintrag blieb bis 1956 mit lediglich kleineren Änderungen erhalten. Vgl. auch "Ethnology" in: Collier's New Encyclopedia, Bd. 4, New York, 1929. 142 Caroline F. Ware, "Ethnic Communities", in: Edwin R. A. Seligman (Hg.), Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1930, S. 607-613, hier S. 607. 143 Zu Boas vgl. auch Kap. II.l. Zum Kulturbegriff bei Boas vgl. Carl N. Degler, Culture versus Biology in the Thought of Franz Boas and Alfred L. Kroeber (German Historical Institute, Washington D.C., Annual Lecture Series 2), New York/Oxford/Munich 1989. 144 Vgl Boas, Race, Language and Culture. 145 Boas, The Mind of Primitive Man.
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Kopfiimfang oder mentale Eigenschaften wie die Intelligenz zu zeigen.146 Trotz seiner Zweifel an den Rassenvorstellungen der Zeit konnte er sich nicht vollkommen davon lösen, glaubte er doch, dass es neben den physischen Unterschieden zwischen Weißen und Schwarzen höchst wahrscheinlich auch psychische gab.147 Eine ähnliche Sichtweise hatte er von Native Americans.148 Diese Vorstellung hielt Boas allerdings nicht davon ab, sich für die Aufhebung der Segregation von African Americans einzusetzen und insgesamt für ihre Integration zu plädieren.149 Darunter verstand der Anthropologe einen Prozess, in dem sich die African Americans vollkommen der weißen Kultur angleichen sollten, da er zwar biologische Ursachen für den Entwicklungsstand einer Kultur ablehnte, nichtsdestotrotz aber eine Hierarchie sah, in der die westliche Zivilisation an der Spitze stand.150 Boas vertrat also keine Position kulturellen Pluralis-
146 Ebenfalls 1911 erschien eine Studie mit dem Titel "Changes in Bodily Form of the Descendants of Immigrants", wiederabgedruckt in: Boas, Race, Language, and Culture, S. 60-75. 1931 beschäftigte ersieh in "Race and Progress", in: ebd., S. 3-17, unter anderem mit der Frage der Intelligenz und kritisierte die Intelligenztests, die in jenen Jahren sehr häufig durchgeführt wurden mit dem Ziel, die Abhängigkeit der geistigen Fähigkeiten von der Rasse zu zeigen. 147 Degler verweist darauf, dass Boas entgegen späterer Behauptungen nie vollkommen von der Vorstellung abrückte, Biologie und Vererbung hätten Einfluss auf das menschliche Verhalten. Degler, In Search, S. 80. 148 Einige Beispiele aus Boas' Korrespondenz finden sich bei Degler, Culture versus Biology, S. 7f. 149 Vgl. Marshall Hyatt, "Franz Boas and the Struggle for Black Equality: The Dynamics of Ethnicity", in: Perspectives in American History, Neue Folge 2 (1985), S. 269-296, ders., Franz Boas - Social Activist: The Dynamics of Ethnicity, New York 1990. Über den Einfluss von Boas' Schriften auf afroamerikanische Bürgerrechtsaktivisten vgl. Vernon J. Williams Jr., Rethinking Race: Franz Boas and His Contemporaries, Lexington, KY, 1996, S. 37ff. 150 Degler, Culture versus Biology, S. 9. Zu einer Kritik der Boas'schen Definition von "Kultur", die implizit von einer Hierarchie der Kulturen ausging, vgl. Robert J. C. Young, Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race, London/New York 1995, S. SOf. 151 Degler, Culture versus Biology, S. 9, Gleason, "Americans All", S. 159. Gleason sieht diese Position bereits im Boas'schen Kulturkonzept angelegt. Zwar erkannte dies kulturelle Diversität zwischen verschiedenen Gesellschaften an, betrachtete aber eine solche Diversität im Innern einer Gesellschaft als problematisch. Pike behauptet dagegen, Boas habe eine Position des kulturellen Pluralismus vertreten. Fredrick B. Pike, The United States and Latin America: Myths and Stereotypes of Civilization and Nature, Austin 1992, S. 262f.
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Obwohl Boas den Rassebegriff noch benutzte, womit die Macht der dahinter stehenden Vorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich wird, 152 stellte die von ihm angestoßene Richtung in der Anthropologie, die eine kulturelle Determinierung des menschlichen Handelns betonte, einen wichtigen Schritt dar, der schließlich den Wandel der Terminologie und der Bedeutungen ermöglichte. 153 Einige wenige Sozial Wissenschaftler begannen bereits in den 1920er und 1930er Jahren, "ethnische Gruppe" als Kategorie in ihren Analysen zu gebrauchen. 154 Das Substantiv "Ethnizität" führte der Soziologe Lloyd W. Warner erst 1941 ein und schlug vor, den Rassebegriff dadurch zu ersetzen. 155 Bevor der Begriff der ethnischen Gemeinschaft oder Gruppe jedoch wirklich Verbreitung finden konnte, musste zunächst ein Konsens darüber bestehen, dass nicht Rassenunterschiede, sondern kulturelle Alterität zur Bildung großer sozialer Gruppen führen konnte. Außerdem bedurfte es einer gesellschaftlichen Situation, in der die Bezeichnung "ethnische Gruppe" mit Sinn belegt werden konnte. Dies traf nach dem Zweiten Weltkrieg in den U S A in verstärktem Maße zu. Hatte der Krieg einerseits den Konformitätsdruck auf die Bevölkerung stark erhöht, so war in den 1950er Jahren auch die Erinnerung an die Diversität der verschiede-
152 Es spielte sicher auch eine Rolle, dass Boas eine Ausbildung in physischer Anthropologie erhalten hatte und er deshalb diesem Denken teilweise verhaftet blieb. Degler, In Search, S. 81. Darüber hinaus wird hier aber deutlich, was Foucault damit meint, dass nicht alles zu jeder Zeit sagbar ist. Boas setzte auf der einen Seite seine ganze Arbeit daran, die falschen Rassenvorstellungen zu korrigieren, er war der alten Terminologie samt ihrer Bedeutungen aber noch verhaftet. 153 Zum Helden dieser Entwicklung erklärt ihn Gossett, Race, S. 418, eine skeptischere Beurteilung findet sich bei Degler, In Search, und bei Pascoe, "Miscegenation Law". Beide heben hervor, dass Boas damit auch das Ziel einer eigenen, eindeutig abgegrenzten Disziplin verfolgte. Da Boas sich auch politisch engagierte, sieht Degler bei ihm ebenso, wie bei denjenigen, die Boas kritisierte, ideologische Motive im Vordergrund stehen. Degler erkennt in Alired Kroeber, einem Schüler von Boas, denjenigen, der auf "rein wissenschaftlicher Ebene das Konzept der Kultur in den Vordergrund seiner Überlegungen stellte. Degler zeigt allerdings selbst, dass ein wichtiger Teil der Arbeiten von Boas darauf ausgerichtet war, die Unhaltbarkeit der Rassetheorien angesichts mangelnder Beweise zu zeigen. Ob politisch motiviert oder nicht, so entspricht dieses Verfahren doch den wissenschaftlichen Gepflogenheiten. Degler scheint einer Vorstellung von der "reinen Wissenschaft" anzuhängen. 154 So z.B. Isaac B. Berkson, Theories of Americanization: A Critical Study with Special Reference to the Jewish Group, New York 1920, Horace M. Kallen, Culture and Democracy in the United States, New York 1924, T. J. Woofter, Races and Ethnic Groups in American Life, New York/London 1933. 155 W. Lloyd Warner, Paul S. Lunt, The Social Life of a Modern Community, New Haven 1941. Vgl. auch Schlesinger, The Disuniting, S. 48, Sollors, "Theories of Ethnicity", S. xxix.
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nen Einwanderergruppen aus Europa noch nicht vollkommen verblasst. Dies traf für beide Seiten zu, für diejenigen, die die Immigranten als Fremde gesehen hatten ebenso, wie für die Einwanderer und deren Nachfahren selbst. Angesichts der Zusammenfassung der europäischstämmigen Bevölkerung in der "kaukasischen Rasse" musste für diese Unterscheidung eine neue Bezeichnung gefunden werden. Der aus der wissenschaftlichen Terminologie stammende Begriff der ethnischen Gruppe erfüllte dieses Bedürfnis. So kam es, dass die Bezeichnung von Beginn an eine gewisse Ambiguität implizierte, die bis heute erhalten blieb. Sie war gedacht als Ersatz für den Rassebegriff, konnte diesen jedoch nie vollkommen verdrängen. Beide Bezeichnungen stehen häufig nebeneinander, ohne dass ihr Verhältais zueinander geklärt wird. Allerdings hat sich um diese Frage mittlerweile eine Auseinandersetzung entsponnen, in der einige Sozialwissenschaftler dafür plädieren, "Rasse" als eine Sonderform von Ethnizität zu sehen, während andere darauf verweisen, dass damit die besondere historische Erfahrung der Angehörigen von unterdrückten Rassen aus dem Blick geriete.156 Eine weitere Uneindeutigkeit des Ethnizitätsbegriffs stand in Zusammenhang mit den in den 1940er Jahren verstärkt durchgeführten Studien über den USamerikanischen Nationalcharakter,157 die den Begriff auf die europäischen Einwanderer und deren kulturelle Diversität anwandten. Einerseits galt Ethnizität hier als eine positive Eigenschaft, andererseits wurde aber gerade die Geschichte 156 Die erste Position vertritt z.B. Richard Alba, "Ethnicity", in: Edgar F. Borgatta, Marie L. Borgatta (Hg.), Encyclopedia of Sociology, New York 1992, S. 575-584, hier S. 575. Den Vorbehalt dagegen äußern Omi, Winant, Racial Formation, S. 16. Hier kommt ein weiteres Dilemma der Begriffswahl auf. Zumindest in dem speziellen Kontext der USamerikanischen Geschichte ist "Ethnizität" klar verbunden mit den europäischen Einwanderern, deren Anerkennung als US-Amerikaner und die damit einhergehenden Zugeständnisse rechtlicher und sozialer Art auf lange Sicht wesentlich schneller und erfolgreicher verlief, als dies fur die African Americans der Fall war. Insofern ist die Kritik von Omi und Winant an der Gleichsetzung von "ethnischer Gruppe" und "Rasse" berechtigt. Vgl. auch Ronald Takaki, A Different Mirror: A History of Multicultural America, Boston 1993, S. 10. Es bleibt aber das Problem, dass mit der Beibehaltung der Begrifflichkeit eben auch die dahinter stehenden Konnotationen weitergetragen werden und es nicht möglich ist, den Begriff und seine Bedeutungen zu kontrollieren. Während Alba auf der einen und auf der anderen Seite Omi, Winant eine klare Aussage darüber treffen, in welchem Verhältnis sie Ethnizität und Rasse zueinander sehen, ist dies für den überwiegenden Teil von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nicht der Fall. Häufig finden sich im Titel die Worte "racial and ethnic", ohne dass im Text ausgeführt würde, ob ein Unterschied zwischen beiden besteht oder nicht. 157 Die einflussreichsten Studien über dieses Thema waren Margaret Mead, And Keep Your Powder Dry, New York 1942, Geoffrey Gorer, The American People: A Study in National Character, New York 1948, Erik H. Erikson, "Reflections on the American Identity", in: ders., Childhood, S. 285-325.
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ihrer Veränderung - also die Assimilation der Immigranten - zum positiven Wert des ständigen Wandels und damit zur Quintessenz der "amerikanischen" Erfahrung erklärt.158 Für diese Sichtweise fand Oscar Handlin 1950 einen treffenden Ausspruch, der immer wieder zitiert wird: "Once I thought to write a history of the immigrants in America. Then I discovered that the immigrants were American history."159 Wenn dem aber so war, dann stellte sich die Frage, wie diese verschiedenen Einwanderer zu "Amerikanern" geworden waren. So erhielt dieses bereits im 18. Jahrhundert formulierte Problem erneute Aufmerksamkeit.160 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts diente der melting-pot als Symbol für den Prozess der Ausbildung einer "amerikanischen" Gesellschaft aus den verschiedenen Einwanderergruppen.161 Israel Zangwill, selbst ein aus England stammender jüdischer Einwanderer, schrieb das Theaterstück The Melting-Pot, das 1908 uraufgeführt wurde.162 Als Publikumsmagnet und in den Zeitungen viel beachtetes Stück brachte es den Begriff bald in die öffentliche Debatte über die Zukunft der Gesellschaft und über die Frage, wie mit den vielen Immigranten aus Europa umzugehen sei. Hinter der Vorstellung eines solchen Schmelztiegels standen allerdings mehrere Bedeutungen über die Art der Assimilation, die damit gemeint war. Ein Bild zeichnete die Gesellschaft als das Ergebnis einer Verschmelzung der vielen Einwanderergruppen und -kulturen zu einer neuen, noch nicht vorhandenen Einheit, die Elemente aller Beteiligten zusammenfügte. Ein anderes sah den Prozess, den die Einwanderer im melting pot durchliefen, dagegen als
158 Gleason, "Americans All", S. 167ff. 159 Handlin, The Uprooted, S. 3. 160 Die klassische Beschäftigung mit der Frage stammt von J. Hector St. John de Crèvecoeur, Letters from an American Farmer, New York 1957 (1. Aufl. 1782), der in "Amerika" einen neuen Menschen im Entstehen sah. Vgl. Gleason, "Crèvecoeur's Question", S. 120. Zu Crèvecoeur vgl. auch Werner Sollors, "A Defense of the 'Melting Pot'", in: Rob Kroes (Hg.), The American Identity: Fusion and Fragmentation, Amsterdam 1980, S. 181-214, hier S. 185fF. Diese Perspektive in den Studien über Immigration, die vor allem nach dem Charakter der "Amerikaner" fragte, führte allerdings auch dazu, dass die verschiedenen Einwanderergruppen und ihr Einfluss auf die US-amerikanische Gesellschaft zu wenig Beachtung fand, trotz der Aussage Handlins. Vgl. Thomas Archdeacon, "Problems and Possibilities in the Study of American Immigration and Ethnic History", in: International Migration Review 19 (1985), S. 112-134, hier S. 112ff. 161 Zwar vertraten auch schon vorher einige Autoren Ideen, die der melting pot- Vorstellung z.T. entsprechen, sie benutzten aber nicht diese Metapher. Vgl. dazu Philip Gleason, "The Melting Pot: Symbol of Fusion or Confusion?", in: ders., Speaking of Diversity, S. 3-31, hier S. 5fT. 162 Israel Zangwill, The Melting-Pot. A Drama in Four Acts, New York 1909.
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ein Ablegen der alten Eigenschaften, um sich den US-Amerikanern vollkommen anzugleichen. Diese zweite Vorstellung setzte sich besonders seit dem Ersten Weltkrieg durch, als Zweifel an der Loyalität der europäischen Immigranten gegenüber ihrer neuen Heimat laut wurden und der Nativismus einen Höhepunkt erreichte.163 Die Amerikanisierungsbewegung der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bezog sich weitgehend auf die zweite Interpretation des melting pot.164 Sie strebte eine vom Staat sowie von privaten, wohltätigen und patriotischen Vereinen aktiv vorangetriebene Angleichung der Einwanderer an den "American way of living" an. Diese Formel legte die Identität der USAmerikaner diskursiv auf einige Eigenschaften und Merkmale fest. Dazu gehörten neben der Herkunft oder Abstammung eine geschlechtliche Identität ebenso wie eine religiöse. Schließlich ging die Art der Lebensführung als Distinktionsmerkmal in den "American way of living" ein.165 Gegen die zweite Version der Assimilation, die der melting pot symbolisierte, und in der für viele eine positive Kraft der US-amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck kam, ließen sich bald oppositionelle Stimmen vernehmen. Einerseits erhoben Protagonisten der eugenischen Bewegung starke Einwände gegen einen solchen angenommenen Verschmelzungsprozess. In ihren Warnungen vor den Gefahren beteuerten die Eugeniker, dass die angloamerikanische Rasse so auf Dauer ausgerottet würde, da die abschätzig als Mischlinge bezeichneten Kinder aus Verbindungen zwischen Weißen und Angehörigen anderer Rassen sich immer weiter ausbreiten würden. Die Eugeniker sahen den Prozess
163 Gleason, "Melting Pot", S. 7. John Higham, Send These to Me. Jews and Other Immigrants in Urban America, New York 1975, S. 213f. 164 Einige Studien betonen stärker die sozialreformerische Tendenz der Bewegung, die mit einer aktiven Sozial- und Bildungspolitik hofften, die Probleme der Immigranten zu lösen und häufig auch eine positivere Haltung gegenüber den Einwanderern und deren AmerikanisierungsbeweKultur hatten. Vgl. Dietrich Hemnann, "Be an American!", gung und Theorien zur Einwandererinte-gration, Frankfurt a.M. 1996. Den Zwangscharakter betont dagegen Gerstle, "Liberty, Coercion", S. 528-558. 165 Vgl. Glickman, "Inventing", John F. McClymer, "Gender and the 'American Way of Life': Women and the Americanization Movement", in: Journal of American Ethnic History 10 (1991), S. 3-20. Gayle Gullett, "Women Progressives and the Politics of Americanization in California, 1915-1920", in: Pacific Historical Review 64 (1995), S. 71-94. Stephen Meyer, "Adapting the Immigrant to the Line: Americanization in the Ford Factory, 1914-1921", in: Journal of Social History 14 (1980), S. 67-82. Speziell auf die Lebensführung im Hygiene- und Gesundheitsbereich bezogen vgl. Alan Kraut, Silent Travellers: Germs, Genes and the 'Immigration Menace', New York 1994, S. 105fT. Vgl. auch Kap. IV.l.a.
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der Assimilation als eine Form der Unterwerfung an.166 Diese Position verlor allerdings mit den Rassenvorstellungen insgesamt an Bedeutung. Andererseits entstand eine Gegenposition, die unter der Bezeichnung des kulturellen Pluralismus bis heute Anhänger findet. Sie wurde zuerst von Horace Kallen formuliert, der jüdischer Herkunft war und als Kind in die Vereinigten Staaten kam. Kallen stellte dem Assimilationskonzept bereits 1915 seine Vision einer Gesellschaft gegenüber, die kulturelle Diversität akzeptieren sollte, und er glaubte, dass sich gerade darin die "amerikanische" Demokratie äußern müsse.167 In einer erneuten Veröffentlichung des Artikels von 1924 wählte Kallen selbst die Bezeichnung "cultural pluralism" für seinen Ansatz.168 In eine ähnliche Richtung wies die Argumentation von Randolph Bourne über den nationalen Charakter der US-Amerikaner. Er wandte sich gegen die Dominanz der angelsächsischen Kultur gegenüber den anderen Einwandererkulturen. Die Konzeption einer Gesellschaft, die kulturelle Unterschiede von Einwanderergruppen nicht nur zuließ, sondern sie gewissermaßen zum Strukturprinzip erhob, erhielt allerdings erst in den 1940er Jahren eine breitere Aufmerksamkeit.169 In der Zwischenkriegszeit kam es zu einer Annäherung der verschiedenen europäischstämmigen Einwanderergruppen. Nachdem 1924 die Immigration aus Europa nahezu unterbunden worden war, nahm der Nativismus rapide ab. In den folgenden Jahren rückten die verschiedenen europäischstämmigen Bevölkerungsgruppen zudem einerseits aufgrund der Ausweitung der Konsumgesellschaft näher zusammen, andererseits trug die Sozialpolitik des New Deal dazu bei.170 In der Arbeiterbewegung begann mit der Gründung des Congress of In166 Willi Paul Adams, "The Melting Pot, Assimilation, Americanization and Other Concepts in American Public Debate Concerning the Immigration Problem, 1890-1930", in: Kroes (Hg.), American Identity, S. 215-234, hier S. 223. Gleason, "Melting Pot", S. 21. Die schärfste Kritik am melting pot aus der Perspektive der Eugeniker formulierte Henry Pratt Fairchild, The Melting-Pot Mistake, Boston 1926. 167 Horace M. Kallen, "Democracy versus the Melting-Pot: A Study of American Nationality", in: The Nation 100 (18.2.1915), S. 190-194 und ebd. (25.2.1915), S. 217220, wieder abgedruckt in Sollors, Theories of Ethnicity, S. 67-92. Vgl. auch Higham, Send These To Me, S. 203ff. 168 Gleason, "Melting Pot", S. 19. 169 Higham, "Redefinition of America", S. 315ff. Der 1916 von Boume im Atlantic Monthly erschienene Artikel ist wiederabgedruckt unter dem Titel, "Trans-National America", in: Sollors (Hg.), Theories of Ethnicity, S. 93-108. 170 Foner, American Freedom, S. 21 Of. Zur Ausweitung des Massenkonsums und den Auswirkungen auf die Arbeiterschaft in den 1930er Jahren vgl. Lizbeth Cohen, "The Class Experience of Mass Consumption: Workers as Consumers in Interwar America", in: Fox, Lears (Hg.), Power of Culture, S. 135-162, hier S. 141ff.
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dustrial Organization (CIO) eine Verschiebung der sozialen Grenzen. Zwischen den Immigrantengruppen aus Europa und der Mehrheitsgesellschaft begannen sie sich aufzulösen, sie blieben allerdings gegenüber anderen, als Rassen unterschiedenen Gruppen weitgehend bestehen.171 Zwar gewannen in den 1930er Jahren erstmals linke Positionen durch den Aufstieg der kommunistischen Partei auch in Politik und Kultur an Einfluss,172 ihre größere Toleranz gegenüber kulturellen Unterschieden führte allerdings erst im Zusammenhang mit den Konflikten in Europa zur Verbreitung der Idee eines kulturellen Pluralismus.173 Auch diese neu aufflammende Sympathie kam vor allem der europäischstämmigen Bevölkerung zu Gute.174 Native Americans, African Americans, Mexican Americans sowie Einwanderer aus Asien konnten nicht ohne weiteres darauf zählen.175 Besonders stark betroffen von der Intoleranz und Xenophobie waren während des Zweiten Weltkrieges Japanese Americans, die nach dem Angriff Japans auf Pearl Habor in Lagern interniert wurden. So lässt sich für die 1930er und 1940er Jahre feststellen, dass die breite Akzeptanz kultureller Unterschiede auf diejenigen Gruppen beschränkt blieb, die zunehmend in die Mehrheitsgesellschaft integriert wurden. Im Pluralismus, der als Gegensatz zur Assimilation formuliert wurde, blieb die Vorstellung vom melting pot also erhalten, wenn auch versteckt.176 Der melting pot auf der einen Seite und auf der anderen die Vorstellung, dass die US-amerikanische Gesellschaft sich aus kulturell verschiedenen Gruppen zusammensetzt, blieben auch nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Fixpunkte des öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskurses. In der Auseinandersetzung darum fand allerdings eine Vermischung der Argumentationsmuster statt, da beide Konzepte gleichzeitig zur Beschreibung der historischen Entwicklung sowie der Zukunftserwartungen herangezogen wurden. Fast alle Kritiker des melting pot behaupteten für die Vergangenheit, es habe keine gesellschaftlichen 171 Vgl. Thomas Gobel, "Becoming American: Ethnic Workers and the Rise of the CIO", in: Labor History 29 (1988), S. 173-198. Zur Aufrechterhaltung der Grenzen gegenüber Mexican Americans und Puertoricanem vgl. Kap. IV. 172 Foner, American Freedom, S. 211. Zur kommunistischen Partei vgl. Mark Solomon, The Cry was Unity: Communists and African Americans, 1917-1936, Jackson, Miss. 1998. 173 Gleason, "Americans All", S. 164f. Higham, "Redefinition of America", S. 318ff. 174 Diese Tendenz zeigte sich bereits in Kallen, dessen Toleranz sich keineswegs auf alle Bevölkerungsgruppen bezog. Zu einer Kritik vgl. Jacobson, Whiteness, S. 214f. 175 Vgl. dazu Kap. V. 176 Vgl. zu diesem Widerspruch innerhalb des Konzepts des Pluralismus allgemein vgl. Sollors, "A Defense" und Higham, Send These to Me, S. 198.
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Prozesse gegeben, für die der melting pot eine sinnvolle Metapher darstellen könne. Während aber liberale und linke Kreise die Intoleranz des melting pot besonders in seiner Variante der "Anglokonformität" beklagten, resultierten von konservativer Seite geäußerte Zweifel am melting pot dagegen mehr aus der Skepsis gegenüber einer Integration der zuletzt eingewanderten Gruppen, die nicht aus Europa, sondern anderen Kontinenten kamen. In ihrer 1963 erschienenen und breit rezipierten Studie Beyond the Melting Pot schrieben Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan,177 es habe den melting pot nie gegeben. Sie verstanden Ethnizität vor allem als eine Ressource in politischen Auseinandersetzungen. Ganz ablassen konnten sie von dem ihrer Meinung nach inexistenten melting pot allerdings nicht, wenn sie sich um die Fähigkeit zur Assimilation von African Americans und Puertoricanern Gedanken machten und diese anzweifelten.178 Mit der Infragestellung der "amerikanischen" Werte und Ideale während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre erhielt der Pluralismus als gesellschaftliche Zielvorstellung weiter an Auftrieb,179 was allerdings nicht zu einer Klärung des Konzepts beitrug.180 Viele Nachkommen europäischer Einwanderer beriefen sich auf ihre ethnische Identität, d.h. sie betonten wieder stärker die ehemalige nationale Herkunft ihrer Vorfahren und besannen sich auf Elemente aus deren Kultur. Diese gesellschaftliche Tendenz drückte sich auch in solchen Buchtiteln wie The Rise of the Unmeltable Ethnics von Peter Novak aus.181 Gewissermaßen im Gepäck des Pluralismus stieg jetzt das Konzept der Ethnizität zu einer zentralen Kategorie sowohl im sozialwissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs auf.182 Seit den 1970er Jahren entstanden eine Vielzahl von 177 Glazer, Moynihan, Beyond the Melting Pot. Zur Rezeption der Studie vgl. Sollors, "A Defense", S. 184f. 1972 erfolgte eine zweite Auflage der Studie. Von dem Buch verkauften sich insgesamt 300.000 Exemplare. Nathan Glazer, "Pluralism and Ethnicity", in: Joseph B. Maier, Chaim I. Waxman (Hg.), Ethnicity, Identity, and History, New Brunswick/London 1983, S. 199-209, hier S. 209, Anm. 13. 178 Zur Behauptung der Nichtexistenz des melting pot vgl. S. v und 290. Zu Puertoricanern vgl. S. 86ff. 179 Eine der letzten großen Studien zur Assimilation stammte wohl von Milton Gordon, Assimilation in American Life, New York 1964. 180 Gleason weist zu Recht darauf hin, dass das Konzept des Pluralismus ebenso unklar und mehrdeutig ist wie das des melting pot bzw. der Assimilation. Vgl. Philip Gleason, "The Odd Couple: Pluralism and Assimilation", in: ders., Speaking of Diversity, S. 47-64. 181 New York 1972. 182 Rudolph J. Vecoli, "El significado de la inmigración en la formación de una identidad americana", in: Estudios Migratorios Latinoamericanos 8 (1993), S. 315-336, hier S. 332f.
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Studien, die jeweils eine einzelne ethnische Gruppe in den Blick nahmen und ihre besondere Geschichte in den Vereinigten Staaten darstellen wollten.183 Die vormals als Immigranten bezeichneten Gruppen wurden jetzt zu "ethnics" und der Bezug auf die Herkunft galt als Quelle sozialer Selbstversicherung in einer fremden und feindlichen Umgebung,184 wogegen die Kräfte von Akkulturation und Assimilation als zu hoch bewertet angesehen wurden. Gegen diese Tendenz, Ethnizität als das Fortbestehen von Einwandererkulturen zu sehen, formulierte Herbert J. Gans seinen Ansatz der symbolischen Ethnizität, in dem er darlegen wollte, dass es keinen "ethnic revival" gegeben habe. Der Bezug auf die ethnische Herkunft war bei den Immigranten der dritten und folgender Generationen seiner Meinung nach nur noch symbolischer Natur und spielte im Alltag der Nachfahren von Immigranten keine Rolle mehr. Lediglich nostalgische Gefühle führten in passend erscheinenden Momenten zum Aufgreifen einiger ausgewählter Elemente der ehemaligen Herkunftskultur.185 Diese Form der Ethnizität stand deshalb nicht im Widerspruch zum Prozess der Assimilation, den Gans weiter voranschreiten sah. Das Interesse von Gans an der Entwicklung der Einwanderergruppen und -kulturen entsprach dem generellen Trend in der Soziologie, die sich mit Immigration befasste. Ihre Vertreter folgten der Chicagoer Schule und beschäftigten sich vor allem mit der Frage, wie die Zukunft ethnischer Gruppen einzuschätzen
183 So entstanden z.B. von den 3.534 Doktorarbeiten über Immigrantengruppen, die von 1885-1982 in den USA verfasst wurden, über die Hälfte seit 1970. Rudolph J. Vecoli, "From The Uprooted to The Transplanted: The Writing of American Immigration History, 1951-1989", in: Valeria Gennaro Lerda (Hg.), From 'Melting Pot' to Multiculturalism: The Evolution of Ethnic Relations in the United States and Canada, Rom 1990, S. 25-53, hier S. 28. Das gestiegene Interesse an Immigrantengruppen und deren Entwicklung in den USA und ihre allgemeine Umbenennung in ethnische Gruppen zeigt sich auch in der Zeitschrift Journal of American Ethnic History, die seit 1980 erscheint, oder der im gleichen Jahr erfolgten Veröffentlichung von Stephan Thernstrom (Hg.), Harvard Encyclopedia of American Ethnic Groups, Cambridge, Mass. 1980. Vgl. auch Higham, "Current Trends", S. 7f. Archdeacon verweist darauf, dass diese Studien oftmals von Angehörigen der ethnischen Gruppe, die den Untersuchungsgegenstand bildete, durchgeführt wurden und glaubt, dass dies ein Desinteresse der US-amerikanischen Geschichtswissenschaft insgesamt an der Frage anzeigt, inwiefern die Immigranten die Gesellschaft als ganze prägten. Archdeacon, "Problems and Possibilities", S. 116. 184 Das zeigt sich bereits in Buchtiteln wie z.B. Roger Daniels, Coming to America: A History of Immigration and Ethnicity in American Life, New York 1990, Thomas Walch (Hg.), Immigrant America: European Ethnicity in the United States, New York 1994. Vgl. auch Vecoli, "Return", S. 12ff. 185 Herbert J. Gans, "Symbolic Ethnicity: The Future of Ethnic Groups and Cultures in America", in: Ethnic and Racial Studies 2 (1979), S. 1 -20.
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sei. 186 Der Verlauf des Anpassungsprozesses stand auch deshalb im Vordergrund, weil die Modernisierungstheorien bis in die 1970er Jahre und zum Teil darüber hinaus davon ausgingen, dass Gruppenloyalitäten, die sich auf die ethnische Herkunft bezogen, im Prozess der funktionalen Differenzierung verschwinden würden. 187 Mit zunehmender Modernisierung, so die These, würden soziale Zuordnungen, die darauf ausgelegt waren, eine Identität festzulegen, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste bzw. in allen Teilsystemen Gültigkeit besaß, an Attraktivität und Einfluss verlieren. Auch marxistisch beeinflusste Ansätze glaubten an das Verschwinden der als traditional betrachteten ethnischen Gruppenzuordnungen zugunsten der Klassenzugehörigkeit. Ebenso wie für Rassen entstanden deshalb Studien, die versuchten, den im kapitalistischen System angelegten Ursachen für ethnische Konflikte nachzuspüren.188 Der Zusammenhang zwischen Klassen und ethnischen Gruppen beschäftigte auch die Arbeitergeschichte. Folgten ältere Studien noch den modernisierungstheoretischen Hypothesen und nahmen an, dass die beiden Formen des Solidargefühls und -handelns einander ausschlössen, so entstanden seit den 1970er Jahren zunehmend Untersuchungen, die der wichtigen Rolle von Angehörigen
186 In Darstellungen zur theoretischen Beschäftigung mit ethnischen Gruppen in den USA werden die Mitglieder der Chicago School häufig als die ersten in der Soziologie gesehen, die sich mit dem Thema befassten. Dies stimmt insofern, als viele Vertreter der Chicago School sich mit Einwanderern aus Europa beschäftigten und großen Einfluss auf spätere Vorstellungen über die Eingliederung der Einwanderer in die USamerikanische Gesellschaft prägten. Von ethnischen Gruppen war hier jedoch nicht die Rede. Wenn ein anderer Begriff für die Einwanderergruppen benutzt wurde, dann war es der der "Rasse". Vgl. dazu Kap. II.l. Neben der dort erwähnten Literatur waren die einflussreichsten Studien von Vertretern der Chicago School: William I. Thomas, Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America: Monograph of an Immigrant Group, 5 Bde., Bd. 1-2 Chicago 1918, Bd. 3-5 Boston 1919-1920, Robert E. Park, Herbert A. Miller, Old World Traits Transplanted, New York 1921. Zu diesen Studien vgl. auch Kathleen Neils Conzen, "Thomas and Znaniecki and the Historiography of Immigration", in: Journal of American Ethnic History 16,1 (1996), S. 16-25, Fred Matthews, Quest for an American Sociology: Robert E. Park and the Chicago School, Montreal 1977. 187 Talcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs, N.J. 1971, S. 26ff. Vgl. dazu Hartmut Esser, "Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft", in: Zeitschrift fur Soziologie 17,4 (1988), S. 235-248. Nassehi diskutiert die Möglichkeiten, ethnische und funktionale Differenzierung in der Systemtheorie doch zusammenzubringen, Arnim Nassehi, "Zum Funktionswandel von Ethnizität im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung", in: Soziale Welt 41 (1990), S. 261-282. 188 Vgl. Kap. II.l. Einen Überblick über die verschiedenen theoretischen Richtungen in diesem Bereich gibt Edna Bonacich, "Class Approaches to Ethnicity and Race", in: Insurgent Sociologist 10,2 (1980), S. 9-23. Vgl. auch dies., "A Theory".
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ethnischer Gruppen in der Arbeiterbewegung nachgingen.189 Außerdem fragen eine Reihe von neueren Arbeiten nach dem Wechselspiel zwischen Ethnizität und Klassenzugehörigkeit.190 In der Anthropologie dagegen verliefen die Diskussionen angesichts der Tatsache, dass "Ethnien" und "ethnische Gruppen" eine Hauptkategorie der Disziplin bilden, stärker entlang der Bemühungen, die Begriffe zu definieren.191 Bestimmend wurde hier zunächst der Ansatz des Primordialismus, der davon ausgeht, dass die ethnische Herkunft eine feste Grundlage fiir Gemeinschaftsgefühle bildet, gewissermaßen eine Essenz darstellt, die als gar nicht oder nur sehr schwer veränderbar gilt. Diese primordiale Definition von Ethnizität wird auf den Anthropologen Clifford Geertz zurückgeführt, der 1963 in einem viel beachteten Aufsatz den Begriff der "primordial ties" von Edward Shils aufgriff.192 Viele Studien zu ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten bezogen sich auf den von Geertz formulierten Ansatz ursprünglicher, primordialer Bindungen von Menschen aneinander. Auch wenn der Zusammenhalt der einzelnen Mitglieder auf kulturellen Gemeinsamkeiten basierte, glichen ethnische Gruppen in dieser Konzeption naturalisierten Einheiten und kamen darin den Rassenvorstellungen sehr nahe. Letztlich machte es kaum einen Unterschied, ob die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als biologisch oder kulturell vererbt angesehen wurde, im Voraus determiniert war sie in beiden Fällen. Diese Sichtweise ethnischer Gruppen ist zwar zu Recht kritisiert worden,193 Geertz steht dabei allerdings zu Unrecht als alleiniger Urheber der Vorstellung im Visier.194 In sei189 Vgl. Victor Greene, The Slavic Community on Strike, Notre Dame 1968. Dirk Hoerder, "International Labor Markets and Community Building by Migrant Workers", in: Rudolph J. Vecoli, A Century of European Migrations, 1830-1930, Urbana, III. 1991, S. 78-110. 190 Vgl. z.B. Cohen, Making a New Deal, John Bodnar, Workers' World: Kinship, Community and Protest in an Industrial Society, 1900-1940, Baltimore 1982, Herbert G. Gutman, Work, Culture and Society in Industrializing America, New York 1977. 191 Einen Überblick gibt G. Carter Bentley, "Theoretical Perspectives on Ethnicity and Nationa-lity", Part 1, in: Sage Race Relations Abstracts 8,2 (1983), S. 1-53. 192 Clifford Geertz, "The Integrative Revolution: Primordial Sentiments and Civil Politics in the New States", in: ders., The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York 1973 (der Text erschien erstmals 1963), S. 255-310. Edward Shils verwendete den Begriff "primordial ties" in seinem Aufsatz, "Primordial, Personal, Sacred and Civil Ties", in: British Journal of Sociology 8 (1957), S. 130-145. 193 Kritisch zu dem Ansatz, der auch als "ethnic revival" bezeichnet wird vgl. Stephen Steinberg, The Ethnic Myth: Race, Ethnicity and Class in America, New York 1981. 194 Besonders vehement wenden sich Eller und Coughlan gegen Geertz. M.E. beziehen sie sich allerdings zu sehr auf Geertz* Erklärung der "primordial ties", die sie gleichsetzen mit einer Definition von ethnischer Gruppe und den Zusammenhang des Textes ver-
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nem Text beschäftigte sich der Anthropologe mit der Frage, warum es nach der Dekolonisierung in so vielen Staaten Asiens und Afrikas zu Konflikten zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen und den Vertretern der als Nationalstaaten konzipierten neuen, größeren Einheiten kam. Geertz sah hinter diesen Auseinandersetzungen die Suche der Konfliktparteien nach einer sozialen Selbstversicherung und nach der Anerkennung der eigenen Identität, die sich in einer politischen Machtposition innerhalb des neuen Staates ausdrücken sollte. Die Vergewisserung des Selbst und der Gruppenzugehörigkeit war von primordialen Bindungen geprägt. Worin diese Bindungen allerdings bestanden, ob in der Religion, der Sprache, der Region, oder ob sie in einer Abstammungsgemeinschaft gesehen wurden und wie stark sie ausgeprägt waren, das hing von der jeweiligen historischen Entwicklung und Situation ab. Geertz definierte "primordial ties" als affektive Bindungen, die sich auf die Gegebenheiten der sozialen Existenz bezogen. Bis hierhin scheint der Vorwurf noch zutreffend, hätte Geertz nicht hinzugefügt, dass es sich um kulturell bestimmte Vorstellungen des sozialen Daseins handelte.195 Man könnte Geertz so lesen, dass die Konflikte in den gerade unabhängig gewordenen Staaten daraus resultierten, dass große Teile der Bevölkerung diese neue, als Nation konzipierte Einheit, die Innen und Außen der Gesellschaft festlegte, eben noch nicht als eine "Tatsache" ansahen und akzeptierten. Allerdings zeigen sich Unklarheiten in dem Text, die dazu beigetragen haben, dass die Vorstellung eines primordialen, aber unaussprechlichen Gruppenzusammenhalts196 sich durchsetzen konnte. Obwohl Geertz die Stärke und Ausprägung der primordialen Bindungen als variabel sah, glaubte er, ihre Existenz stelle gewissermaßen eine anthropologische Konstante dar, die sich eher aus einer natürlichen oder spirituellen Affinität zu speisen schien als aus sozialer Interaktion.197
nachlässigen. Jack David Eller, Reed M. Coughlan, "The Poverty of Primordialism: The Démystification of Ethnie Attachments", in: Ethnie and Racial Studies 16 (1993), S. 183-201, hier S. 185ff. 195 Geertz, "Integrative Revolution", S. 259. 196 Die "Unaussprechlichkeit" stellt einen der Hauptkritikpunkte dar bei Eller, Coughlan, "The Poverty", S. 187. Immerhin gestehen die Autoren Geertz zu, dass er mit seiner Formulierung die Sichtweise der sozialen Akteure darstellen wollte. Ebd., S. 189. 197 Geertz, "Integrative Revolution", S. 259f. Zu einer Kritik dieses Aspekts bei Geertz vgl. auch Richard H. Thompson, Theories of Ethnicity: A Critical Appraisal, Westport, Conn. 1989, S. 60ff. Weitere Vertreter des Primordialismus sind Andrew Greeley, Ethnicity in the United States: A Preliminary Reconnaissance, New York 1974, Harold R. Isaacs, Idols of the Tribe: Group Identity and Political Change, New York 1975. Eine neuere Verteidigung der primordialen Begründung ethnischer Solidarität findet sich bei George M. Scott Jr., "A Resynthesis of the Primordial and Circumstantial Approa-
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Die Ursache für die Rezeption von Geertz' Darstellung als einem Konzept menschlicher Gruppen, deren Zusammenhalt noch vor sozialen Handlungen auf der Basis von letztlich mysteriös bleibenden "primordial ties" bereits besteht und deshalb kaum einem Wandel unterworfen ist, muss wohl auch im Ursprung des Begriffs "ethnische Gruppe" als Ersatz für "Rasse" gesehen werden.198 Außerdem spielte der Diskussionszusammenhang, in dem der Primordialismus aufstieg, eine große Rolle. Ethnizität erfuhr in den 1960er und 1970er Jahren einen Bewertungswandel, sie erschien nun als positive Eigenschaft, die es gegen den Zwang der Anpassung oder Assimilation zu verteidigen galt. Dies schlug sich auch in historischen Studien nieder. Die Geschichtsschreibung über Einwanderer wurde jetzt zur Geschichte der ethnischen Gruppen und es fand eine Suche nach dem Erhalt der einzelnen Gemeinschaften statt, nicht nach dem Prozess ihrer Auflösung oder Integration in die Mehrheitsgesellschaft.199 Ethnizität wurde dabei gleichgesetzt mit einer grundlegenden, kulturellen Essenz der Gruppe, die auch im Wanderungsprozess erhalten blieb. Damit wurden bereits die Auswirkungen der Migration ganz anders beurteilt. Hatte Handlin noch von einer Entwurzelung gesprochen, da die Wanderer in der Fremde desorientiert waren und darunter litten, so stellte John Bodnar diesem Bild das der "Verpflanzten" gegenüber, und meinte damit, dass die Immigranten bereits in der Alten Welt auf den Wandel vorbereitet waren und eine freie, rationale Entscheidung für die Wanderung trafen.200 Bodnar bezog diese Sichtweise vor allem auf die Sozialches to Ethnic Group Solidarity: Towards an Explanatory Model", in: Ethnic and Racial Studies 13 (1990), S. 146-171. Ebenso bei Karl-Heinz Kohl, "Ethnizität und Tradition aus ethnologischer Sicht", in: Assmann, Friese (Hg.), Identitäten, S. 269-287, hier S. 285ff. Zum Einfluss der verschiedenen Ansätze von Geertz auf die Geschichtswissenschaft vgl. Aletta Biersack, "Local Knowledge, Local History: Geertz and Beyond", in: Lynn Hunt (Hg.), The New Cultural History, Berkeley 1989, S. 72-96. Der britische Soziologe Rex will Ethnizität sogar noch enger fassen als Geertz, bleibt darin aber unklar. Er sieht Ethnizität als ein Gemeinschaftsgefühl mit anderen, die über die gleichen feststellbaren Merkmale verfügen. Diese Charakteristiken spezifiert der Autor allerdings nur noch negativ, sie sind weder kultureller noch religiöser oder sozialer Art. John Rex, Ethnic Identity and Ethnic Mobilisation in Britain, Warwick 1991, S. lOff. 198 Tatsächlich ergaben sich hier ähnliche Debatten, wie sie in Bezug auf die Unterschiede zwischen Rassen im 19. Jahrhundert geführt wurden, da dem Primordialismus eine Position entgegentrat, die ethnische Zusammengehörigkeitsgefühle auf die strukturellen Bedingungen der Umwelt zurückführte. Zu den beiden Positionen vgl. Michael Hechter, "Theories of Ethnic Relations", in: John F. Stack Jr. (Hg.), The Primordial Challenge: Ethnicity in the Contemporary World, New York/Westport, Conn. 1986, S. 13-24, hier S. 13f. 199 Vgl. Gleason, "Crevecoeur's Question", S. 134ff. 200 John Bodnar, The Transplanted: A History of Immigrants in Urban America, Bloomington, Ind. 1985.
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struktur. Er stellte der alten assimilationistischen Perspektive, die Einwanderer als ländliche Bevölkerung in traditionalen Gemeinschaften lebend charakterisierte, seine Interpretation von den Migranten als Arbeitern gegenüber, die bereits in ihren Herkunftsländern mit der modernen, unpersönlichen Gesellschaft in Kontakt gekommen waren. Ihre Identität erschien deshalb in den USA weniger stark angegriffen als ältere Studien annahmen.201 Während der Primordialismus, der in der Geschichtswissenschaft häufig nur implizit das Verständnis von ethnischen Gruppen anleitete, von der inneren Beschaffenheit der Gruppe ausging und geteilte kulturelle Werte von Individuen in Übereinstimmung mit der Gruppenzugehörigkeit sah, entstand eine andere anthropologische Schule, die Ethnizität nicht aus dem Inneren der Gruppe heraus zu erklären versuchte. Einer der herausragenden Vertreter dieser Richtung ist Fredrik Barth. In einem Schlüsseltext von 1969 formulierte er den als funktionalistisch bezeichneten Ansatz, der sich auf die sozialen Grenzen als entscheidende Faktoren konzentriert.202 Barth betonte, dass nicht die gemeinsame Kultur eine Gruppe konstituiere, sondern in der sozialen Interaktion gezogene Grenzen zu ihrer Ausbildung führe. Der Bestand einer solchen sozialen Einheit hing also von der Aufrechterhaltung der Grenze ab und nicht von einer mehr oder weniger statischen Kultur. Barths Definition schärfte den Blick dafür, dass ethnische Gruppen nicht auf einer Essenz beruhten, er verstand sie vielmehr als eine Form der sozialen Organisation. Über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe bestimmen demnach Selbst- und Fremdzuschreibungen, die auf der Vorstellung einer grundlegenden, allgemeinen Identität beruhen. Der Glaube an eine gemeinsame Herkunft und Kultur ist weniger Ursache denn Folge der Ausbildung einer ethnischen Gruppe.203 Dem Ansatz Barths mit seiner Konzentration auf die Funktion ethnischer Zuschreibungen fehlte laut der Kritik von Abner Cohen allerdings ein dynamisches Element in Bezug auf ethnische Gruppen.204 Barth erachtete zwar die personelle Veränderung der Gruppen beiderseits der Grenze für möglich und sah auch, dass sich der kulturelle Gehalt einer Gruppe ändern 201 Vgl. Peter Kivisto, "The Transplanted then and now: the Reorientation of Immigration Studies from the Chicago School to the New Social History", in: Ethnic and Racial Studies 13 (1990), S. 455-481, hier S. 470ff. 202 Fredrik Barth, "Introduction", in: ders., Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, Bergen/Oslo/London 1969, S. 9-38 203 Diese Definition ermöglicht u.a. ein Verständnis dafür, wie es dazu kommen kann, dass Einwanderergruppen, die aus ethnisch differenzierten Gesellschaften kommen, im Aufnahmeland eine gemeinsame Gruppe bilden können. 204 Abner Cohen, "Introduction: The Lessons of Ethnicity" in: ders. (Hg.), Urban Ethnicity, London 1974, S. xv.
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konnte, sein Konzept umfasste jedoch nicht die Möglichkeit der Neuformierung ethnischer Gruppen. Insgesamt kommt der Arbeit Barths aber ein zentraler Stellenwert dabei zu, den Primordialismus zu überwinden. Obwohl dieses neue Verständnis von Ethnizität und ethnischen Gruppen in der Anthropologie breit rezipiert und diskutiert wurde,205 erfolgte erst seit den 1980er Jahren eine teilweise Übernahme in der Geschichtsschreibung über Immigranten in den USA.206 Vorher blieb in der Historiographie die Definition von ethnischen Gruppen als Träger einer gemeinsamen Kultur, die sich aus den von den Migranten aus ihren Herkunftsgesellschaften mitgebrachten Traditionen speisten, bestimmend und forschungsstrukturierend. Um dies zu ändern, waren Anstöße aus der eigenen Disziplin notwendig. Hier spielte das von Eric Hobsbawm und Terence Ranger formulierte Konzept der "Invention of Tradition" eine entscheidende Rolle.207 Hobsbawm historisierte in seiner Einleitung zu dem Sammelband das Konzept von "Tradition", das vorher gerade auf der Vorstellung von Praktiken mit einer weit zurückreichenden Geschichte ohne Wandel basierte.208 Er betonte dagegen, dass es sich bei erfundenen Traditionen um Verhaltensweisen handelt, die Orientierung geben, indem sie sich auf die Vergangenheit beziehen und zumindest einige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens als unverändert darstellen. Hobsbawm vermutet, dass solche Praktiken vor allem in Umbruchzeiten entstehen und deshalb in den vergangenen 200 Jahren angesichts des immer schneller stattfindenden Wandels in der Moderne geradezu ein Charakteristikum dieser Epoche wurden. Eine der Hauptfunktionen von erfundenen Traditionen sieht der Autor darin, soziale Kohäsion oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen herzustellen und zu symbolisieren.209 Damit war die Vorstellung von einer kontinuierlichen Fortsetzung des Hergebrachten, Überkommenen in Frage gestellt und führte dazu, dass die Definition von ethnischen Gruppen als sozialen Einheiten, deren Angehörige sich auf ihre gemein-
205
Vgl. dazu Gisela Welz, "Die soziale Organisation kultureller Differenz. Zur Kritik des Ethnosbegriffs in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie", in: Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein, S. 66-81. Heinz, Ethnizität, S. 125ff.
206 Ein Beispiel ist die Studie von Kathleen Neils Conzen, "Deutschamerikaner und die Erfindung der Ethnizität", in: Frank Trommler (Hg.), Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, Opladen 1986, S. 149-164. Allerdings analysiert Conzen ihren Untersuchungsgegenstand nicht konsequent nach dem Modell von Barth, sie konzentriert sich vielmehr auf die inneren kulturellen Aspekte der deutschamerikanischen Identität. 207 Hobsbawm, Ranger (Hg.), Invention of Tradition. 208 Eric Hobsbawm, "Introduction: Inventing Traditions", in: ebd., S. 1-14. 209 Hobsbawm bezog sich hier vor allem auf die Schaffung von Nationen.
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same Herkunft und auf ihre stabilen, in der Kultur verankerten Traditionen beriefen, ebenfalls überdacht werden musste.210 Im Zusammenhang mit dem "ethnic revival" und den globalen politischen Entwicklungen seit den 1980er Jahren, in denen ethnische Konflikte zunahmen, bekräftigte die These von der "invention of tradition" eine weitere Kritik. Die bereits erwähnte Behauptung von Modernisierungstheorien in der Soziologie, dass ethnische Differenzierungen mit fortschreitender Modernisierung immer unwichtiger würden, ging einher mit der Vorstellung, dass nur einfache, weniger komplexe Gesellschaften in Traditionen verhaftet seien. Dagegen fand Hobsbawm zufolge gerade in den westlichen Gesellschaften seit dem Beginn der Industrialisierung eine Intensivierung der Erfindung von Traditionen statt. Ebenso wie diese Schwerpunktverlagerung bei Traditionen gehen neuere Ansätze über Ethnizität davon aus, dass es sich nicht um ein Überbleibsel aus der vormodernen Welt handelt, sondern dass die Bildung von ethnischen Gruppen erst in der Moderne anzusiedeln ist und damit in engem Zusammenhang mit dem im 18. Jahrhundert aufkommenden Nationalismus steht.211 Werner Sollors übertrug den Ansatz von Hobsbawm und Ranger als erster auf ethnische Gruppen.212 Der Vorstellung von Ethnizität als primordial oder natürlich setzte er die kulturelle Konstruktion bzw. Erfindung entgegen. Dieser Ansatz fand in den letzten Jahren in der Geschichtswissenschaft breitere Aufmerksamkeit. So schlössen sich einige Historikerinnen und Historiker, die sich 210 Hobsbawms Ansatz steht im Zusammenhang mit der "new cultural history" und erfuhr aufgrund dieser allgemein sich verändernden Sichtweise auf Geschichte große Aufmerksamkeit. Zur neuen Kulturgeschichte vgl. Hunt (Hg.), Cultural History. 211 Zum Nationalismus und seiner Bedeutung für die Schaffung oder "Erfindung" von Nationen vgl. neben Anderson, Gellner, Nations and Nationalism, Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Benedict Anderson bezog sich vor allem darauf, dass Nationen als imaginiert gelten müssen. In der deutschen Übersetzung wurde dann aber der Begriff der Erfindung für "imagined" gewählt. Mit seiner Bezeichnung von Nationen als imaginierten oder vorgestellten Gemeinschaften wollte Anderson allerdings nicht nur den Aspekt der Erfindung i.S. Hobsbawms ausdrücken, sondern den Charakter des Zusammenhalts benennen, der auf der Vorstellung einer politischen, souveränen und begrenzten Gemeinschaft beruht. Anderson, Erfindung der Nation, S. 15. Die Vorstellung, dass Nationen ihren Ursprung in wesentlichen älteren, ethnischen Einheiten haben, wird allerdings auch noch von einflussreicher Seite vertreten. Vgl. Anthony D. Smith, National Identity, Reno/Las Vegas/London 1991, S. 19ff. Smith glaubt, dass ethnische Gruppen eine universale und über die Zeit hinweg bestehende Erscheinung darstellen und Ethnien das Organisationsmuster von Gesellschaften darstellen, die nicht als Nationen verfasst sind. Vgl. dagegen Georg Elwert, "Nationalismus, Ethnizität und Nativismus Über Wir-Gruppenprozesse", in: Waldmann, Elwert (Hg.), Ethnizität, S. 21-60. 212 Werner Sollors, "Introduction: The Invention of Ethnicity", in: ders. (Hg.), Invention of Ethnicity, S. ix-xx.
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seit langem mit der Entwicklung ethnischer Gruppen in den USA beschäftigt hatten, dem Konzept in einem programmatischen Aufsatz an.213 Sie sehen den Prozess ethnischer Konstruktionen erstmals im 19. Jahrhundert als eine Reaktion auf die Ausbildung einer nationalen Identität der Vereinigten Staaten wirken. Obwohl damit der Rahmen angesprochen ist, innerhalb dessen die Ethnizität eine mögliche Identifikation bot, bleibt in diesem Artikel allerdings die Konzentration auf die Einwanderer erhalten. Eher im Vorbeigehen behandelt er die Frage, warum es zur Ausbildung von ethnischen Gruppen kam, warum also die nationale US-amerikanische Identität nicht so offen konzipiert war, dass die verschiedenen Immigranten darin Platz finden konnten. Diese Konzentration auf den inneren Zusammenhalt der ethnischen Gruppen, zu dessen Erhalt die ständige "Neu-Erfindung" der spezifischen Ethnizität dient, führt allerdings zu einer Unklarheit. Zwar wollen die Autorinnen und Autoren Ethnizität historisieren - was auch die Frage beinhalten müsste, ob sich eine Phase der Ausbildung der ethnischen Identität ausmachen lässt - , sie sehen Ethnizität aber als:"... a process of construction or invention which incorporates, adapts, and amplifies preexisting communal solidarities, cultural attributes, and historical memories. That is, it is grounded in real life context and social experience."214 Was jedoch fehlt, ist eine Erläuterung der bereits bestehenden Gemeinschaftssolidarität, auf der die Ausbildung von Ethnizität in den Augen der Autoren und Autorinnen aufbaut. Handelte es sich um nationale Zugehörigkeitsgefühle oder um eine andere Form? Da die Nation für das frühe 19. Jahrhundert einen schwierigen Bezugspunkt darstellt, die Autorinnen und Autoren aber Italoamerikaner als ein Fallbeispiel anführen, scheinen die bereits bestehenden Bande eher ethnischer Natur gewesen zu sein. Dann läge allerdings ein Zirkelschluss vor, indem Ethnizität zwar konstruiert ist, allerdings aus vorher schon bestehenden ethnischen Identitäten, deren Differenz gegenüber ihrer neuen Formierung nicht deutlich wird. Um diesem Problem zu entkommen, scheint eine stärkere Betonung der Definition Barths sinnvoll zu sein, der bei der Festlegung der sozialen Grenzen zwischen ethnischen Gruppen nicht die Kultur in ihrer Gesamtheit als bedeutend ansah, sondern betonte, dass Fremd- und Selbstsicht eine entscheidende Rolle spielen bei der Bildung von Wir-Gruppen und der Abgrenzung von "wir" und
213 Conzen et al., "Invention of Ethnicity", 214
Ebd., S.4f.
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"sie".215 Das bedeutet, dass eine ethnische Gruppe nur in Situationen sozialer Interaktion entsteht, in denen Inklusions- und Exklusionsprozesse stattfinden. Dabei spielt der Aspekt der Fremdheit in der gegenseitigen Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Die Wahrnehmung von Alterität alleine führt allerdings noch nicht zur Gruppenbildung. Notwendig sind dafür außerdem - und hier wäre den Autorinnen und Autoren des Zitats zuzustimmen - kulturelle Attribute oder historische Erinnerungen, die einen Gemeinschaftsglauben ermöglichen und plausibel erscheinen lassen. Um dies zu verdeutlichen, seien erneut italienischstämmige Einwanderer als Beispiel herangezogen. In Ybor City, Florida, bildeten Sizilianer zusammen mit Immigranten aus Spanien und Kuba eine "lateinische" Identität aus. Dazu konnte u.a. auf einen gemeinsamen Ursprung der Sprachen zurückgegriffen werden, ein vorher bestehendes Solidarbewusstsein der Gruppen ist dagegen sehr unwahrscheinlich.216 Ihre Identität als Angehörige einer "lateinischen" Kultur stellte sich erst im Prozess der sozialen Interaktion mit anderen Gruppen in Ybor City her. Dieses Beispiel verweist darauf, dass Identität sich nicht auf festgefugten Eigenschaften gründet, sondern flexibel und mehrdeutig ist. Die Herstellung von ethnischen Identitäten ist abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation.217 Ein ethnischer Zusammenhalt entsteht, wenn eine Gruppe von Menschen aus der vorgestellten Gemeinschaft der Nation ausgeschlossen wird und diese Exklusion mit Argumenten in Bezug auf die Unterschiede der Außenseiter in ihrer Kultur und Tradition untermauert wird. Der Prozess bedarf außerdem der Identifikation der Ausgeschlossenen. Die Vorstellung von Gemeinschaft beruft sich also sowohl auf Gleichheit als auch auf Differenz, erstere ist nach innen ge215 Dies hebt auch Jenkins hervor. Richard Jenkins, "Rethinking Ethnicity: Identity, Categorization and Power", in: Ethnic and Racial Studies 17 (1994), S. 197-223. 216 Gary Mormina, George Pozzetta, The Immigrant World of Ybor City: Italians and their Latin Neighbors in Tampa, 1885-1985, Urbana, 111. 1987. Für ein ähnliches Beispiel
vgl. Kap. rv.2.b.
217 Diese Situationsabhängigkeit geht allerdings nicht so weit, wie Garcia Canclini für Lateinamerika behauptet. Canclini meint, dass dort die ethnische Identität heute in jeder Situation von den einzelnen Individuen frei gewählt werden könne. Damit treibt er die Handlungstheorie postmodern weiter, indem er nicht mehr von rein rational angeleiteten Entscheidungen für den eigenen Vorteil ausgeht, sondern vom eigenen Interesse, mit der Identität zu "spielen". Néstor García Canclini, Culturas híbridas: estrategias para entrar y salir de la modernidad, México 1989. Aus einer etwas anderen Perspektive kritisiert Lienhard den Ansatz von Canclini. Martin Lienhard, "Of Mestizajes, Heterogeneities, Hybridism and Other Chimeras: On the Macroprocesses of Cultural Interaction in Latin America", in: Journal of Latin American Cultural Studies 6 (1997), S. 183-200. Zum Konzept der situationeilen Ethnizität vgl. auch Jonathan Y. Okamura, "Situational ethnicity", in: Ethnic and Racial Studies 4 (1981), S. 452-465.
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richtet, letztere dagegen nach außen.218 Sowohl die US-amerikanische Nation als auch ethnische Gruppen sind vorgestellte Gemeinschaften, die weder als kulturell und sozial einheitlich noch als ursprünglich gelten können. Der Zusammenhalt wird über gemeinsame Symbolsysteme hergestellt. Der Prozess der Grenzbildung zwischen verschiedenen Kollektiven beinhaltet ein Konfliktpotenzial, da die Ausgrenzung verbunden ist mit einem eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen. Bei der Ausbildung von ethnischen Gruppen spielt Macht also eine wichtige Rolle.219 Dieser Aspekt kann die Unterschiede zwischen ethnischen und nationalen Kollektiven verdeutlichen. Während nationale Gemeinschaften sich auf ein Gemeinwesen beziehen, das vom Anspruch her ihrer Kontrolle unterliegt, sich gewissermaßen in ihrem Besitz befindet, gehören die Mitglieder von ethnischen Gruppen zwar einem Staat an, ohne jedoch daraus abgeleitete Rechte selbstverständlich ausüben zu können, da sie von der als souverän konstruierten Nation ausgeschlossen bleiben. Die nationale Gemeinschaft umfasst also nicht alle Staatsangehörigen, hier erhebt vielmehr eine konkrete Gruppe der Bevölkerung den Anspruch auf die Allgemeinheit.220 Gemeinsam ist den beiden Formen der Ausbildung kollektiver Identitäten, dass sie in den modernen Gesellschaften mit zunehmender funktionaler Differenzierung eine mögliche Orientierung bieten, deren Vorstellung einer sozialen Ordnung sich auf die Gesellschaft insgesamt bezieht. Während in den einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen die jeweils ausgeübte Funktion oder Rolle über die soziale Anerkennung bestimmt, bezieht sich die Zugehörigkeit zur Nation oder ethnischen Gruppe auf den ganzen Menschen und hängt nicht von der eigenen Leistung ab, sondern ist scheinbar etwas fest Vorgegebenes.221 Zur erfolgreichen Konstruktion kollektiver Identitäten müssen allerdings bestehende Differenzen und Vielfalt übersehen werden. Dies bedarf konkreter Anstrengungen und Verfahren, mit denen die Homogenität und der "natürliche" Zusammenhalt der Gruppe als plausibel dargestellt werden können.222 Nationen und ethnische Gruppen sind immer aus den Geschlechtern und mehreren sozialen Klassen zusammengesetzt. Ihre Mitglieder zeichnen sich außerdem nicht alle durch die Ausübung der gleichen Gebräuche, Religionen und Traditionen aus, 218 Vgl. Cohen, Symbolic Construction, S. 12. 219 Conzen et al, "Invention of Ethnicity", S. 13. Vgl. Hall, "Die Frage", S. 206f., Bourdieu, Sozialer Raum. 220 Vgl. Koselleck, "Zur historisch-politischen Semantik", S. 214. 221
Münkler, Ladwig, "Dimensionen der Fremdheit", S. 21.
222
Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, Frankfurt 1993, S. 68f.
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sie sprechen noch nicht einmal notwendigerweise die gleiche Sprache. So versuchen nationale und ethnische Identitätskonstruktionen, eine Einheit über Klassengrenzen hinweg zu schaffen und sind geschlechtskonnotiert.223 Dieser letzte Aspekt hat allerdings in der Forschung zu ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten bisher kaum einen Niederschlag gefunden,224 obwohl im Rahmen des wachsenden Interesses an der Frauengeschichtsschreibung seit den 1980er Jahren immer mehr Studien über die speziellen Erfahrungen von Einwanderinnen entstanden.225 Eine Untersuchung der Rolle, die das Geschlecht für die Ethnizität spielt, wäre aus mehreren Gründen von Bedeutung. Zum einen könnte damit die Behauptung, dass Frauen für den Erhalt der Ethnizität - die ja lange als traditionale Identität gesehen wurde - in einem neuen Licht erscheinen. Neuere Untersuchungen zu lateinamerikanischen Gesellschaften, in denen diese These gleichermaßen als zutreffend erachtet wurde, zeigen, dass dieser Zusammenhang von ethnischer und geschlechtlicher Identität zustande kommt, indem beide sich gewissermaßen gegenseitig bedingen. Frauen wird deshalb häufig eine indianische Identität zugewiesen, die sich in dem Maße ändert, wie sich die Lage der Frauen ändert und umgekehrt.226 Damit zusammenhängend könnte 223 Hall, "Die Frage", S. 206f. Die geschlechtliche Konnotation der eigenen Identität wird dabei vielfach besonders in der Abgrenzung zu derjenigen des Anderen hergestellt. Vgl. dazu Kap. V.2.a. 224 Es gibt dagegen einige Studien zur geschlechtlichen Konnotation der USamerikanischen Nation. Vgl. Michael Hunt, Ideology and U.S. Foreign Policy, New Häven/London 1987, S. 6Iff. Kristin L. Hoganson, Fighting for American Manhood: How Gender Politics Provoked the Spa-nish-American and Philippine-American Wars, New Haven/London 1998. John J. Johnson, Latin America in Caricature, Austin/London 1980, S. 72-115. Ein Ansatz in dieser Richtung findet sich bei Foley, White Scourge, S. 141ff. 225 Studien zu Einwanderinnen sind z.B. Maxine Schwartz Seller, Immigrant Women, Philadelphia 1981, Elizabeth Ewen, Immigrant Women in the Land of Dollars: Life and Culture on the Lower East Side, 1890-1925, New York 1985, Doris Weatherford, Foreign and Female: Immigrant Women in America, 1840-1930, New York 1986, Donna Gabaccia (Hg.), Immigrant Women in the United States: A Selective Annoted Multidisciplinary Bibliography, New York 1989, Miriam Cohen, Workshop to Office: Two Generations of Italian Women in New York 1900-1950, Ithaca/London 1992, Yung, Unbound Feet, Christiane Harzig (Hg.), Frauen wandern aus: Deutsche Migrantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Bremen 1990, Silke Wehner, "German Domestic Servants in America, 1850-1914: A New Look at German Immigrant Women's Experience", in: Dirk Hoerder, Jörg Nagler (Hg.), People in Transit: German Migrations in Comparative Perspective, Cambridge, Mass. 1995, S. 267-294. 226 Marisol de la Cadena, '"Women Are More Indian': Ethnicity and Gender in a Community Near Cuzco", in: Brooke Larson, Olivia Harris (Hg.), Ethnicity, Markets, and Migration in the Andes: At the Crossroads of History and Anthropology, Durham/London 1995, S. 329-348, Barbara Potthast, "Alterität als nationale Identität. Die Neuformulie-
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zum anderen die Frage, ob die ethnische Zuordnimg für Männer und Frauen tatsächlich gleichermaßen stabil ist, erneut gestellt werden. Ein Blick nach Lateinamerika legt die Annahme nahe, dass dem nicht so war, sondern dass die ethnische Zuordnung von Frauen je nach ihrem Familienstatus stark von derjenigen ihres Vaters bzw. ihres Ehemanns abhing.227 Insgesamt lässt sich festhalten, dass im diskursiven Entwurf kollektiver Identitäten eine Vereinheitlichung stattfindet, die Homogenität der Gruppe konstruiert und Gegensätze herunterspielt. Dies trifft nicht nur für nationale und ethnische Gemeinschaften zu, sondern auch für Gruppen, die als Rassen bezeichnet werden. Die beiden letzten Kategorien stellen soziale Einheiten unterhalb der nationalen Ebene dar und die Entstehungsgeschichte des Begriffs der ethnischen Gruppe als ein Gegenkonzept zu Rasse ist eng an die Entwicklung des Rassenverständnisses gebunden. Ihre Trennung voneinander ist oftmals nur unklar.228 Deshalb soll hier die eingangs erwähnte Frage nach dem Verhältnis der beiden letzten Kategorien zueinander nochmals aufgegriffen werden. Gemeinsam ist den beiden Begriffen, dass sie die Bedeutung von Differenz gegenüber dem als Nation konstituierten Kollektiv in sich tragen. Dies führt dazu, dass bei Rassen und ethnischen Gruppen angenommen wird, ihre Mitglieder
rung der nationalen Identität in Paraguay nach dem Tripel Allianz Krieg", in: Michael Riekenberg, Stefan Rinke, Peer Schmidt (Hg.): Kultur-Diskurs: Kontinuität und Wandel der Diskussion um Identitäten in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 239-258. 227 Für Lateinamerika gibt es eine Reihe von Studien, die für die Kolonialzeit nachweisen, dass Frauen bei ihrer Heirat meistens in die ethnische Gruppe ihres Ehemanns übergingen. Literaturangaben dazu finden sich in Hensel, "Race versus Class". In den USA scheint es diese Tendenz auch gegeben zu haben, sie ist allerdings bisher nicht ausreichend untersucht. Vgl. David M. Schneider, American Kinship: A Cultural Account, Englewood Cliffs 1968. Schneider fand heraus, dass in vielen Familien, die ihre italoamerikanische Ethnizität betonten, tatsächlich viele Vorfahrinnen aus anderen Einwanderergruppen kamen, aber anscheinend mit der Heirat in die ethnische Gruppe ihres Mannes aufgenommen wurden. Vgl. auch Talcott Parsons, "Some Theoretical Considerations on the Nature and Trends of Change in Ethnicity", in: Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan (Hg.), Ethnicity. Theory and Experience, Cambridge, Mass. 1975, S. 5383, hier S. 64ff. 228 Deutlich zutage tritt dies in folgendem Zitat: "Of the various criteria of ethnicity, race is in many respects the most significant; the characteristics of the body, that most palpable element of one's persona, have been used throughout history to define the most pervasive type of group identity." William Peterson, "Concepts of Ethnicity", in: Stephan Thernstrom (Hg.), Dimensions of Ethnicity, Harvard 1980, S. 1-26, hier S. 5. Es zeigt sich aber auch in Zeitschriftentiteln wie Ethnic and Racial Studies, und trifft auf eine Vielzahl von Studien zu, die beide Kategorien im Titel führen, ohne im Text eine Unterscheidung vorzunehmen.
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hätten Partikularinteressen, die nicht den gesamtgesellschaftlichen Interessen oder dem Allgemeinwohl entsprechen. Beide Begriffe bezeichnen soziale Gruppen, die ebenso wie Nationen klassen- oder schichten-, geschlechter- und generationenübergreifend sind. Diese Gruppen bestehen allerdings nicht aufgrund von natürlichen Eigenschaften, die ihre Mitglieder unabhängig von der jeweiligen Situation verbinden, es handelt sich vielmehr um soziale Konstruktionen, deren Bedeutungen abhängen von den gesellschaftlichen und historischen Umständen, in denen sie wirken. Bei der Ausbildung dieser sozialen Handlungseinheiten greifen Fremd- und Selbstsicht in einem ständigen Wechsel ineinander. Beide beeinflussen sich, ohne jedoch einfach übernommen zu werden. Es formen sich Bilder des Eigenen und des Fremden, die nicht unabhängig von ihrer Umwelt sind, deren Bedeutung aber flexibel ist. Bei den Kämpfen um die Durchsetzung der Prinzipien der sozialen Gliederung und damit verbunden bestimmter Vorstellungen über die soziale Welt tritt die nationale Gemeinschaft zwar als mächtigere Gruppe auf, sie kann ihr Bild vom Fremden ihrem Gegenüber aber nicht einfach aufdrücken. Die Grenzziehung fuhrt zunächst zu einem Konsens über den Sinn, die Einheit und die Identität der eigenen Gruppe. Die von der Exklusion Betroffenen wissen zwar um diese Sichtweise, es kommt aber schon im Prozess der Wahrnehmung zu Abwandlungen und Umdeutungen. Für sie gilt ebenso, dass sie ihrer Gruppe über die gemeinsamen Ordnungsvorstellungen der sozialen Welt Sinn geben.229 "Rassen" und "ethnischen Gruppen" ist schließlich gemeinsam, dass sie häufig als Universalie oder als anthropologische Konstante gelten, womit der Prozess der Erfindung und ständigen Neuerfindung verschleiert wird. Tatsächlich handelt es sich bei der Konstruktion von Rassen und Ethnien aber keineswegs um immer schon da gewesene Relikte vormoderner Gesellschaften, sie sind vielmehr Produkt und Bestandteil der Moderne.230 Ein Unterschied wird häufig darin gesehen, dass Rassen biologisch definiert würden, während für ethnische Gruppen kulturelle Merkmale herangezogen würden. Dies scheint allerdings nur oberflächlich betrachtet eine Möglichkeit zu sein, die beiden Kategorien klar voneinander zu trennen.231 Wenn Rassen auch vielfach zunächst an physischen oder phänotypischen Merkmalen festgemacht werden, so sind daran doch immer soziale und kulturelle Bedeutungen geknüpft, die keineswegs so unveränderlich sind, wie die Behauptung der biologisch fest-
229 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, S. 90ff. 230 Leggewie, "Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft", S. 48. 231 Barbara Fields, "Ideology and Race", S. 146.
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gelegten Merkmale suggerieren möchte.232 Dies ist auch im Hinblick auf die Frage, was unter Rassismus gefasst wird, von Bedeutung.233 Entgegen der üblichen Definition, in der nur die Wahrnehmung von Differenz und ihre Repräsentation in somatischen Merkmalen als rassistisch verstanden wird, geht die hier angewendete Konzeption weiter: Wenn einzelne Eigenschaften oder Merkmale aus der Fülle menschlicher Charakterisierungen herausgegriffen und verabsolutiert als Grundlage für die Bildung menschlicher Kollektive gelten und dies wiederum als Legitimation von sozialer Ungleichheit herangezogen wird, dann ist dies rassistisch. Letztlich geht es im Rassismus also um die "Naturalisierung" der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei müssen nicht notwendigerweise biologische Unterschiede, etwa phänotypischer oder genetischer Art artikuliert werden, es können auch moralische oder allgemein kulturelle als quasi-natürlich konzipiert werden. Das bedeutet also, dass auch kulturell definierte Gruppen rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sein können.234 Es scheint deshalb für den US-amerikanischen Kontext am sinnvollsten, die Art der Grenzziehung, die Rassen und ethnische Gruppen vom nationalen Kollektiv trennt, als Ausgangspunkt für die Unterschiede zwischen beiden Begriffen heranzuziehen.235 Danach basiert die Unterscheidung von Rassen auf einem primordialen Code, der die Grenzüberschreitung kaum ermöglicht.236 Die Vorstellungen und Rituale, mit denen die Ausgrenzung aufrecht erhalten wird, dämonisieren den Anderen, sehen ihn als Gefährdung für die eigene Reinheit und Gesundheit. Schon ein einfacher Kontakt kann so zur Gefahr stilisiert werden 232 Sollors, "Theories of Ethnicity", S. xxxivf. 233 Einen Überblick über verschiedene Theorien gibt der Band von Martin Bulmer, John Solomos (Hg.), Racism, Oxford 1999. Vgl. auch Albert Memmi, Rassismus, Hamburg 1992 (Orig.ausg. 1982), Robert Miles, Racism, London 1989. 234 Stuart Hall, "'Rasse', Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante", in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 89-136, hier S. 130ff. Zu einer Form der Naturalisierung von Unterschieden, die nicht auf somatischen Kennzeichen basiert, vgl. Pierre Bourdieu, "Der Rassismus der Intelligenz", in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt 1993 (Orig.ausg. 1980), S. 252-256. 235 Zur Charakterisierung der Grenzziehung vgl. Giesen, Kollektive Identität. 236 Dies wird in der US-Gesellschaft am deutlichsten in der so genannten "one drop rule", die jeden, der auch nur einen einzigen afrikanischstämmigen Vorfahren hat, als African American kategorisiert. Obwohl es das Phänomen der Grenzüberschreitung gibt, in den USA als "passing" bezeichnet, bedeutet ein solcher Schritt für die Akteure, dass sie sich vollkommen lossagen müssen von einem sozialen Umfeld, das von African Americans geprägt ist, ansonsten laufen sie Gefahr, "entdeckt" zu werden. Zur "one drop rule" vgl. F. James Davis, Who Is Black? One Nation 's Definition, Pennsylvania 1991. Zum "passing" vgl. Elaine K. Ginsberg (Hg.), Passing and the Fictions of Identity, Durham/London 1996.
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und schließlich findet eine Reduktion der Außenseiter auf wenige als grundlegend dargestellte Elemente statt. Die Grenzziehung gegenüber ethnischen Gruppen verläuft dagegen nicht so radikal, sie gründet auf einem traditionalen Code. In- und Exklusion verlaufen entlang der Vorstellung von zeitlicher Kontinuität und Ortsgebundenheit. Wer die historische Erinnerung, die mittels Ritualen wachgehalten wird, nicht teilt oder nicht der eigenen Lokalität zugerechnet wird, gehört der Gemeinschaft nicht an. Bei dieser Form der Exklusion ist eine Grenzüberschreitung zwar nicht ohne weiteres, aber doch leichter möglich als bei einer primordialen Codierung der Grenze. Versucht man also Rassen und ethnische Gruppen von der Art der Grenzziehung her zu verstehen, so macht es wenig Sinn, die eine Kategorie in der anderen subsumieren zu wollen. Dieser Ansatz ermöglicht es vielmehr, die Unterschiede zu erfassen, die sich für die Ausgegrenzten ergeben, obwohl es sich bei Rassen und ethnischen Gruppen um soziale Konstruktionen oder Erfindungen handelt. Weiterhin eröffnet diese Perspektive ein Verständnis für die notwendigen Veränderungen, die dazu führen können, dass eine auf Rassenkonstruktionen basierende Exklusion in eine ethnisch begründete übergehen kann.
III. Die Einwanderung und die sozioökonomische Lage der mexikanisch- und puertoricanischstämmigen Bevölkerung Die Immigrationspolitik der Vereinigten Staaten war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend von Einschränkungen geprägt. Das erste Gesetz, das einer bestimmten Gruppe die Einreise untersagte, war der Chinese Exclusion Act von 1882, mit dem die Regierung auf eine starke rassistische Bewegung besonders im Westen des Landes reagierte. An der Ostküste erhoben ebenfalls zum Ende des 19. Jahrhunderts Nativisten ihre Stimme gegen den Einlass von süd- und osteuropäischen Einwanderern. Diese Bewegung hatte schließlich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Erfolg. Ein erstes Gesetz untersagte 1917 die Einreise von Analphabeten. 1921 und 1924 folgten Quotenregelungen, die die Einwanderung von Ost- und Südeuropäern praktisch zum Erliegen brachten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einigen neuen Regelungen, die zumindest für einige Gruppen die Grenzen wieder öffneten. Allerdings handelte es sich hier vor allem um Europäer. Erst mit dem Hart Celler Act von 1965 erließ der Kongress ein Gesetz, das für alle Länder der so genannten östlichen Hemisphäre eine gleich hohe Quote festlegte.1 Von all diesen Gesetzen waren Einwanderer aus der westlichen Hemisphäre, also aus Amerika, nicht bzw. kaum betroffen. Ihre Einreise in die USA unterlag keinen grundsätzlichen Beschränkungen, allerdings erschwerten eine 1917 eingeführte Kopfsteuer und eine 1924 erhobene Visumsgebühr den legalen Grenzübertritt. Infolge dessen entschieden sich viele aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten für die illegale Einreise. Außerdem führten diese Bestimmungen dazu, dass in der Landwirtschaft tätige Arbeiter nach der Erntesaison nicht mehr regelmäßig nach Mexiko zurückgingen, sondern es vorzogen, bis zur nächsten Ernte in den USA zu bleiben.2 Im Laufe des 20. Jahrhunderts stieg der Anteil von Immigranten aus der westlichen Hemisphäre an der gesamten Einwanderung in die USA von 4,1 % im ersten Jahrzehnt auf über 50 % in den Jahren von 1961 bis 1970.3 Innerhalb 1
Einen Überblick über die Einwanderungspolitik gibt Bemdt Ostendorf, "Einwanderungspolitik der USA: eine historische Skizze", in: ders. (Hg.), Multikulturelle Gesellschaft, S. 15-31. Zu nativistischen Bewegungen vgl. John Higham, Strangers.
2
Acuña, Occupied America, S. 130ff. Sánchez, Becoming Mexican American, S. 57.
3
Richard A. Easterlin, "Immigration: Economic and Social Characteristics", Themstrom (Hg.), Harvard Encyclopedia, S. 480.
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dieser Gruppe wiederum war der Anteil von Mexikanern am höchsten. Puertoricaner gelten hingegen seit 1917 nicht als Einwanderer, da sie in diesem Jahr die US-Staatsbürgerschaft erhielten. Dementsprechend tauchen sie zwar nicht in den Statistiken zur Immigration auf, sie werden aber nichtsdestotrotz in anderem Zusammenhang als Einwanderer aus Lateinamerika wahrgenommen. Obwohl die Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von rassistischen Motiven geprägt war, bedeutete die weitgehend ungehinderte Einwanderung aus Mexiko und Puerto Rico nicht, dass Einwanderer bzw. Migranten aus diesen Ländern nicht diskriminiert worden wären. Die Angehörigen der beiden Gruppen konnten zwar aus unterschiedlichen Gründen vergleichsweise ungehindert in die USA einreisen, sie sahen und sehen dies allerdings keineswegs als ein Privileg. Vielmehr verstehen sie ihre Position aufgrund ganz anderer Umstände als besonders diskriminiert. Die jeweiligen kollektiven Vorstellungen beziehen sich dabei auf die Geschichte des mexikanischen Nordens, der zum US-amerikanischen Südwesten wurde, bzw. auf Puerto Rico und interpretieren sie als koloniale Unterwerfung. Um diese Sichtweise verständlich zu machen, werden im Folgenden die historischen Hintergründe ebenso beleuchtet, wie die demographische Entwicklung und die soziale Position der Angehörigen beider Gruppen. 1. Die mexikanischstämmige Bevölkerung im Südwesten Mit dem 1848 zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten geschlossenen Vertrag von Guadalupe Hidalgo, der den Krieg zwischen den beiden Ländern (1846-1848) offiziell beendete, verlor Mexiko etwa die Hälfte seines Territoriums. Die USA gewannen die Gebiete der heutigen Bundesstaaten Kalifornien, New Mexico, Nevada, Utah und Texas4 und weiterhin Teile von Colorado und Arizona. Mit annähernd 100.000 mexikanischen Einwohnern war dieses Gebiet von fast zwei Millionen Quadratkilometern sehr dünn besiedelt. 1848 lebten die 4
Texas erklärte sich bereits 1836 von Mexiko unabhängig, durfte aber laut einem Vertrag mit Mexiko nicht US-Bundesstaat werden. 1845 annektierten die USA Texas trotzdem und provozierten damit bewusst einen Konflikt mit Mexiko, der schließlich in den Krieg zwischen den beiden Ländern mündete. Zur Geschichte der unabhängigen Republik Texas aus einer eher US-amerikanischen Perspektive vgl. Andreas Reichstein, Der texanische Unabhängigkeitskrieg 1835/36. Ursachen und Wirkungen, Berlin 1984. Aus der mexikanischen Perspektive betrachten das Thema Josefina Z. Vázquez, Lorenzo Meyer, México frente a Estados Unidos. Un ensayo historico, 1776-1988, 2. Aufl., México 1989 und Josefina Z. Vázquez, "The Texas Question in Mexican Politics", in: Southwestern Historical Quarterly 89 (1986), S. 309-341.
III. Einwanderuns und sozioökonomische Lage
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meisten Mexikaner, nämlich 75.000 Personen, in New Mexico. Lediglich Texas verfugte zu diesem Zeitpunkt schon über eine relativ große angloamerikanische5 Bevölkerungsgruppe. Mit den Goldfunden in Kalifornien stieg die Bevölkerung allerdings in Kalifornien sehr stark an und belief sich um 1850 bereits auf 100.000 Menschen.6 Der Vertrag von Guadalupe Hidalgo regelte neben dem Wechsel der Souveränität über die Gebiete, die heute den Südwesten der USA bilden, auch die staatsbürgerliche Stellung der dort lebenden Mexikaner. Sie bekamen alle die US-Staatsbürgerschaft zuerkannt. Diese legale Gleichstellung der Eroberten führte jedoch keineswegs zu einer tatsächlich gleichberechtigten Stellung, vielmehr verschlechterte sich die gesellschaftliche Position der Mexican Americans im Laufe des 19. Jahrhunderts. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ein Trend zur Vereinheitlichung der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der mexikanischstämmigen Bevölkerung ab. Dieser Prozess verlief allerdings regional und zeitlich unterschiedlich. Die Situation der mexikanischstämmigen Bevölkerung in New Mexico und in Arizona war am längsten durch relativ stabile Verhältnisse gekennzeichnet. Die geringe Zuwanderung von Angloamerikanern führte hier dazu, dass die Beziehungen zwischen beiden Gruppen kooperativ verliefen. Viele Angloamerikaner heirateten in mexikanischstämmige Familien ein und passten sich der hispanisch geprägten Kultur an.7 Ein weiterer Aspekt, der zu einer relativen Eintracht führte, war die gemeinsame Feindschaft gegenüber Native Americans, die auf das Eindringen in ihre Gebiete mit kriegerischen Mitteln antworteten. Gemeinsam bekämpften die mexikanischstämmige und die angloamerikanische Bevölkerung diese Gruppen.8 In Kalifornien und Texas, den beiden Staaten, auf die sich im 20. Jahrhundert sowohl die mexikanische Einwanderung als auch die Migration von Mexican Americans konzentrierte, entstanden allerdings recht schnell nach dem Vertrag von Guadalupe Hidalgo Konflikte zwischen der angloamerikanischen und der mexikanischstämmigen Bevölkerung. In Kalifornien trug der Goldrausch 5
Diese hier unter dem Begriff Angloamerikaner zusammengefasste Bevölkerung soll nicht als eine Gruppe gleicher Herkunft verstanden werden. Tatsächlich kamen die Einwanderer in Texas aus den unterschiedlichsten Regionen der USA und vielen europäischen Ländern. In der Konfrontation mit der mexikanischstämmigen Bevölkerung fand allerdings ihre Vereinheitlichung zu Angloamerikanern statt.
6
Finzsch, Norbert, Die Goldgräber Kaliforniens. Arbeitsbedingungen, Lebensstandard und politisches System um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1982, 13f.
7
Vgl. Sheridan, Tucsonenses.
8
Manuel G. Gonzales, Mexicanos: A History of Mexicans in the United States, Bloomington 1999, S. 91 ff.
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dazu bei, dass diese Auseinandersetzungen oft gewaltsam ausgetragen wurden. Noch vor dem Vertragsabschluss verbreitete sich die Nachricht von Goldfunden in Kalifornien rasant in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus. Tausende von Goldgräbern kamen, um ihr Glück zu suchen, unter ihnen befanden sich auch viele Mexikaner und Südamerikaner. Gegen sie sowie gegen die Mexican Americans richteten sich bald Ressentiments aufgrund der wirtschaftlichen Konkurrenz, einer schnell wachsenden nativistischen Bewegung in Kalifornien, einem starken Antikatholizismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt wegen rassistischer Vorstellungen.9 Es kam zu zahlreichen gewaltsamen Vertreibungen von mexikanischstämmigen bzw. lateinamerikanischen Goldgräbern, eine Steuer für ausländische Goldgräber wurde eingeführt und die kalifornische Legislative erließ darüber hinaus Gesetze, die den Besitz von Goldminen für Mexikaner und deren Nachfahren untersagten.10 Weiteres Konfliktpotenzial beinhaltete vor allem die Frage des Landbesitzes. Viele Angehörige der mexikanischen Oberschicht verfugten über riesige Ländereien, die ihren Familien noch von der spanischen Krone zugeteilt worden waren. Aus dem Osten kommende Siedler besetzten dieses Land häufig. In den nachfolgenden Auseinandersetzungen wurde entschieden, dass die Landbesitzer Nachweise über die Rechtmäßigkeit des Eigentums erbringen mussten, um es behalten zu können. Die zum Teil aus der Kolonialzeit stammenden Besitztitel entsprachen häufig nicht den Anforderungen des US-amerikanischen Rechtssystems des 19. Jahrhunderts und so folgten oft jahrelange Verfahren, in denen viele Besitzer ihr Land weniger verloren, weil die Gerichte gegen sie entschieden, sondern vielmehr wegen der hohen Verfahrenskosten. Die Rechtsanwälte der Landbesitzer werden daher oft als die eigentlichen Gewinner dargestellt.11 Andere mexikanischstämmige Landbesitzer verloren ihr Land aufgrund von illegalen Maßnahmen. In Texas zog die Landrechtsfrage noch weitere Kreise als in Kalifornien. Die Verfassung des Bundesstaates schloss die mexikanischstämmige Bevölkerung vom Erwerb öffentlicher Ländereien aus, nur "freie weiße" Siedler erhielten Parzellen.12 Implizit wurde den Mexikanern damit bereits die Zugehörigkeit zur weißen Rasse abgesprochen.13 9
Finzsch, Goldgräber, S. 6Iff. Zum Antikatholizismus Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA insgesamt vgl. Ray Allen Billington, The Protestant Crusade, 1800-1860. A Study of the Origins ofAmerican Nativism, 4. Aufl., Chicago 1964.
10
Finzsch, Goldgräber, S. 63ff.
11
Gonzales, Mexicanos, S. 87f.
12
Foley, White Scourge, S. 19.
13
Vgl. zu diesem Konflikt Kap. IV. 1 .a.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
95
Während die wirtschaftliche Entwicklung im Südwesten vielen europäischstämmigen Siedlern soziale Aufstiegsmöglichkeiten bot, blieben solche Chancen zur sozialen Mobilität Mexikanern und Mexican Americans weitgehend verwehrt. Allerdings änderte sich die Klassenstruktur der mexikanischstämmigen Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtlich. Um 1850 waren von der ländlichen Bevölkerung 34% Besitzer von Farmen oder Viehranches, 29% gelernte und 34% ungelernte Arbeiter. Um 1900 besaßen nur noch 16% Land, der Anteil der gelernten Arbeiter betrug 12% und insgesamt 67% der mexikanischstämmigen Einwohner wurden als ungelernte Arbeiter beschäftigt.14 Mexican Americans sahen sich immer stärker in schlechte und unsichere Positionen abgedrängt. Sie arbeiteten als share cropper, Saison- und Hilfsarbeiter und erhielten ausgesprochen niedrige Löhne, die ihnen kaum das Überleben sicherten. Neben der Landwirtschaft selbst fanden mexikanischstämmige Arbeiter und Arbeiterinnen Beschäftigung in der Nahrungsmittel verarbeitenden Industrie und dem Eisenbahnbau. Zum Ende des 19. Jahrhundert erhielten sie auch Anstellungen in der Bergbauindustrie. Neben wirtschaftlichen Interessen führten aber auch Antikatholizismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu einer zunehmenden Verschlechterung der Situation der mexikanischstämmigen Bevölkerung. Weiterhin begann mit dem wirtschaftlichen Niedergang auch der politische Einfluss der Mexican Americans zu schwinden. So lässt sich insgesamt für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zur Vereinheitlichung der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten beobachten.15 Die Mittel- und Oberschicht schwanden rapide und die untere Schicht von ungelernten Arbeitern in der Landwirtschaft, dem Bergbau und dem Eisenbahnbau stieg stark an. Das Wachstum der Gruppe seit dem 19. Jahrhundert führte zu einer verstärkten Sichtbarkeit der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten. Sie ersetzten andere Gruppen als Arbeiter in der Landwirtschaft.16 Es entstanden Arbeitercamps auf dem Land, die ausschließlich von Mexican Americans und Mexikanern bewohnt waren und die sich zu neuen festen Siedlungen auszubilden begannen. Diese Ortschaften hießen "colonias", in den Städten wurden die mexikanisch geprägten Viertel als "barrios" bezeichnet. Beide Siedlungsformen zeichneten sich auch im
14
Montejano, Anglos and Mexicans, S. 73.
15
Gonzales, Mexicanos, S. 88.
16
In Kalifornien hatten zunächst Chinesen und nach dem Chinese Exclusion Act Japaner einen großen Teil der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte gestellt. In Texas traten Mexican Americans und Mexikaner oft an die Stelle von Weißen und Schwarzen. Weber, Dark Sweat, zu Texas Foley, White Scourge.
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20. Jahrhundert noch durch das Fehlen einer Infrastruktur wie z.B. Wasser- und Stromversorgung aus. Die Häuser waren häufig einfachste Behausungen und auf dem Land fehlten öffentliche Einrichtungen so gut wie vollkommen. Der Prozess der so genannten "barrioization" setzte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fast überall im Südwesten durch. Befördert wurde er durch die steigende Einwanderung von Mexikanern, die vor den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihrer Heimat und seit 1910 auch häufig vor den Revolutionswirren über die Grenze in die Vereinigten Staaten flohen.17 In der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts umfasste die mexikanische Einwanderung in die USA etwa 500.000 Menschen.18 Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Texas und Kalifornien die Hauptziele der Einwanderer dar. Hier wurden in der expandierenden kommerziellen Landwirtschaft, beim Bau von Eisenbahnlinien und im Bergbau immer mehr Arbeitskräfte benötigt.19 In Texas verdoppelte sich die Anzahl von mexikanischstämmigen Einwohnern von 1890 bis 1910.20 Von 1900 bis 1930 stieg die Zahl der in Texas lebenden Mexikaner und Mexican Americans von mehr als 70.000 auf über 680.000 Personen.21 In den folgenden Jahrzehnten sank zwar der Anteil der mexikanischstämmigen Bevölkerung in Texas, trotzdem blieb der Bundesstaat ihr demographisches Zentrum. Hatten 1910 noch über 55% mexikanische Immigranten und Mexican Americans der ersten Generation in Texas gelebt, so verzeichnete der nationale Zensus von 1930, dass 40% von ihnen in Texas ansässig waren. Der Anteil Kaliforniens stieg in diesen beiden Dekaden von fast 20% auf 30% der gesamten mexika-
17
Albert Camarillo, The Making of a Chicano Community: A History of the Chícanos in Santa Barbara, California, 1850-1930, Ph.D.diss., University of California, S. 318ff. Romo, East Los Angeles, S. 6Iff. Von 1900 bis 1930 immigrierten ca. 750.000 Mexikaner in die Vereinigten Staaten. González, Labor and Community, S. 53f.
18
Benjamin Márquez, LULAC: The Evolution of a Mexican American Political Organization, Austin 1993, S. 15.
19
Die Gründe fur die Auswanderung der Mexikaner lagen vor allem in der Wirtschaftspolitik im Porñriat. Viele Bauern verloren ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage. Andere waren nicht konkurrenzfähig gegenüber den sich ausbreitenden kommerziellen Betrieben.
20
Im Zensus von 1910 wurde Mexiko zum ersten Mal als Herkunftsland von Einwanderern aufgeführt. Thomas D. Boswell, "The Growth and Proportional Redistribution of the Mexican Stock Population in the United States, 1910-1970", in: Mississippi Geographer 7 (1979), S. 57-76, hier S. 57. Diese gesonderte Auflistung mexikanischer Immigranten und ihrer direkten Nachkommen zeigt, dass ihre Bedeutung in der Wahrnehmung stieg.
21
Gonzales, Mexicanos, S. 121.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
97
nischstämmigen Bevölkerung in den USA.22 1930 hatte sich außerdem das Verhältnis zwischen mexikanischen Einwanderern zu Mexican Americans geändert. Dem Zensus zufolge überwogen jetzt zum ersten Mal die in den USA Geborenen, die deshalb auch über die US-Staatsbürgerschaft verfügten.23 Der Zensus von 1930 verdeutlichte einen weiteren Trend in der demographischen Entwicklung. Zum ersten Mal zeichnete sich hier der Wandel der Mexican Americans von einer vorwiegend ländlichen zu einer städtischen Bevölkerungsgruppe ab, da jetzt bereits 50% in Städten lebten.24 In Kalifornien bildete Los Angeles das größte Urbane Zentrum der mexikanischstämmigen Einwohner, in Texas waren es San Antonio und El Paso.25 Für die Migration der Mexikaner waren nicht allein interne Gründe entscheidend, da in den USA gleichzeitig der Bedarf an Lohnarbeitern in der Landwirtschaft stieg. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden die bewässerten Flächen, die somit für die Landwirtschaft nutzbar gemacht wurden, beständig ausgeweitet und stiegen bis 1909 auf fast 14 Millionen acres an.26 Lag der Wert der kalifornischen landwirtschaftlichen Produktion im Vergleich mit den anderen US-Bundesstaaten noch an fünfter Stelle, so stieg Kalifornien zusammen mit Iowa bis 1930 zum wichtigsten Produzenten landwirtschaftlicher Güter auf.27 Mit dieser Entwicklung ging ein Strukturwandel in der Landwirtschaft einher. An die Stelle von kleinen Farmen, die als Familienbetrieb mit wenigen zusätzlichen Arbeitern betrieben wurden, traten immer mehr agroindustrielle Betriebe. 22
Roberto Calderón, Emilio Zamora, "Manuela Solis Sager, Emma Tenayuca: A Tribute", in: Teresa Córdava et al. (Hg.), Chicana Voices: Intersections of Class, Race, and Gender, Austin 1986, S. 30-41, hier S. 31.
23
Mario T. Garcia, Mexican Americans. Leadership, Ideology, and Identity, 1930-1960, New Haven/London 1989, S. 13f.
24
In dem Zensus wurden alle Orte mit mehr als 2.500 Einwohnern als Städte bezeichnet. T. Wilson Longmore, Homer L. Hitt, "A Demographic Analysis of First and Second Generation Mexican Population of the United States: 1930", in: Southwestern Social Science Quarterly 24 (1943), S. 138-149, hier S. 143f.
25
San Antonios Bevölkerung war zu über 50% mexikanischstämmig. Garcia, Rise, S. 3. In El Paso betrug der Anteil der mexikanischstämmigen Bevölkerung etwa 40% an der Anzahl der Einwohner. Alexandra Minna Stern, "Buildings, Boundaries, and Blood: Medicalization and Nation-Building on the U.S.-Mexico Border, 1910-1930", in: Hispanic American Historical Review 79 (1999), S. 64. 1930 lag der Anteil der mexikanischstämmigen Bevölkerung an der Gesamteinwohnerzahl von Los Angeles County bei 13,5%. In absoluten Zahlen handelte es sich um 167.024 Personen. Damit war Los Angeles die größte mexikanische Stadt außerhalb Mexikos. Monroy, Rebirth, S. 158.
26
Gutiérrez, Walls and Mirrors, S. 41.
27
Camille Guerin-González, Mexican Workers and American Dreams: Immigration, Repatriation, and California Farm Labor, 1900-1939, New Brunswick 1994, S. 15.
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Die großen Agrarunternehmen im Südwesten beauftragten Vermittlungsagenturen mit der Anwerbung von Arbeitskräften in Mexiko.28 Der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg erhöhte den Bedarf weiter, aber auch danach waren besonders die großen Landbesitzer an einem ständigen Zuzug von Mexikanern interessiert.29 In Kalifornien gründeten die Farmer des San Joaquin Valley 1926 das Agricultural Labor Bureau, das unter anderem für die Rekrutierung mexikanischer Arbeitskräfte zuständig war.30 Die Ausbreitung des Baumwollanbaus in Texas und Kalifornien zeigt exemplarisch den Wandel in der Landwirtschaft weg von kleinen Farmen hin zu agroindustriellen Großbetrieben, die während der Erntezeit einen hohen Bedarf an Saisonarbeitern hatten, in der restlichen Zeit des Jahres aber nur wenige Arbeiter benötigten. In Texas begann der Baumwollboom Ende des 19. Jahrhunderts, in Kalifornien hielt "King Cotton" in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Einzug.31 Diese Ausbreitung wäre ohne die Verfügbarkeit von Saison- und Wanderarbeitern nicht möglich gewesen, und die Arbeiter waren zum überwiegenden Teil entweder Mexican Americans oder Mexikaner. 1926 stellten Mexikaner 80% der in der Baumwollernte Tätigen.32 Ähnlich hoch war ihr Anteil in anderen Bereichen der Landwirtschaft.33 Dem starken Anstieg der Einwanderung aus Mexiko in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts folgten einige Jahre des Rückgangs. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch die Weltwirtschaftskrise.34 Die steigende Arbeitslosigkeit aufgrund der ökonomischen Krise führte zu einer steigenden Konkurrenz um verbleibende Arbeitsplätze.35 Dies traf auch für die Landwirtschaft zu. Im Zu28
Vgl. Maik Reisler, By the Sweat of Their Brow: Mexican Immigrant Labor in the United States, 1900-1940, Westport 1976, S. 1-23. Vgl. auch Carey McWilliams, North From Mexico: The Spanish-Speaking People of the United States, New York 1968 (1. Aufl. 1948), S. 175.
29
Vgl. dazu auch Kapitel IV. 1 .a.
30
Weber, Dark Sweat, S. 39.
31
Siehe zu Texas Foley, White Scourge, S. 29ff; zu Kalifornien Weber, Dark Sweat, S. 17ff.
32
Weber, Dark Sweat, S. 35.
33
Vgl. González, Labor and Community und Weber, Dark Sweat.
34
Zur Weltwirtschaftskrise in Kalifornien allgemein vgl. Kevin Starr, Endangered Dreams: The Great Depression in California, New York/Oxford 1996.
35
Von Ende 1930 bis Anfang 1933 stieg die Anzahl der Arbeitslosen in den Vereinigten Staaten von 4 auf 13 Millionen Menschen. Abraham Hoffman, "Mexican Repatriation During the Great Depression: A Reappraisal", in: Arthur F. Corwin (Hg.), Immigrants and Immigrants. Perspectives on Mexican Labor Migration to the United States, Westport 1978, S. 225-247, hier S. 225.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
99
sammenhang mit den rassistischen Vorstellungen über Mexikaner rief diese Entwicklung eine zunehmende Feindschaft gegenüber der mexikanischstämmigen Bevölkerung hervor,36 die schließlich in Programme zur Deportation bzw. Repatriierung von Mexikanern mündete. Betroffen waren davon nicht nur mexikanische Immigranten, sondern in geringerem Umfang auch Mexican Americans. Entgegen einiger Behauptungen in der Literatur handelte es sich allerdings bei den meisten Fällen nicht um die zwangsweise Rückkehr nach Mexiko, sondern um zumindest formal freie Entscheidungen.37 Viele Mexikaner vermissten aufgrund der Wirtschaftskrise bessere Lebenschancen in den USA und kehrten deshalb nach Mexiko zurück. Die mexikanische Regierung engagierte sich in diesem Prozess, indem sie häufig die Reisekosten der Rückkehrwilligen übernahm.38 Insgesamt traten zwischen 350.000 und 600.000 Mexikanern bzw. auch Mexican Americans die Migration gen Süden an.39 Die erste Zahl scheint dabei etwas gering, betrachtet man die Angaben für Texas allein, für das geschätzt wird, dass bis zu 250.000 Mexikaner mit ihren US-amerikanischen Kindern nach Mexiko gingen.40 Die höhere Angabe ist möglicherweise übertrieben. Bis zu Beginn der 1940er Jahre prägte diese Migrationsrichtung vom Norden in den Süden den Trend der demographischen Entwicklung der mexikanischstämmigen Bevölkerung in den USA. Dann zeichnete sich aufgrund der Umstellung auf die Kriegswirtschaft eine Umkehr ab. Jetzt wurden Mexikaner wieder verstärkt als Arbeitskräfte benötigt. Neben der Landwirtschaft im Südwesten boten nun auch Industriebranchen im Mittleren Westen Beschäftigungsmöglichkeiten.41 1942 vereinbarten die US-amerikanische und die mexikanische Regierung in einem Vertrag das erste so genannte ¿racero-Programm.42 Darin wurde die Entsendung von mexikanischen Arbeitskräften vereinbart. Diese braceros durften laut dem Vertrag nur für eine bestimmte Zeit in die USA einreisen, um dort 36
Vgl. dazu Kap. IV.l.a.
37
Hoffman, "Mexican Reparation", S. 227.
38
Guerin-Gonzalez, Mexican Workers, S. 77ff.
39
Abraham Hoffman, Unwanted Mexican Americans in the Great Depression. Repatriation Pressures 1929-1939, Tucson 1974. D. H. Dinwoodie, "Deportation: The Immigration Service and the Chicano Labor Movement in the 1930s", in: New Mexico Historical Review 52,3 (1977), S. 193-206. Zur Haltung der mexikanischen Regierung vgl. Balderrama, In Defense.
40
Arnaldo de León, Mexican Americans in Texas, Wheeling, III. 1993, S. 95.
41
Zur Entwicklung der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Mittleren Westen vgl. Acuña, Occupied America, S. 208f.
42
Wörtlich übersetzt bedeutet bracero Arm, gemeint ist die Anwerbung von Arbeitern vor allem für die Landwirtschaft.
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einen vorher festgelegten Arbeitsauftrag zu erfüllen. Die mexikanische Regierung hatte zwar auf einigen sozialen Garantien bestanden, die allerdings häufig nicht eingehalten wurden. Aufgrund der Diskriminierung in Texas weigerte sich die mexikanische Regierung bis 1947 außerdem, Arbeitskräfte dorthin zu entsenden.43 Das bracero-Programm führte neben der legalen auch zum Anstieg der illegalen Einwanderung aus Mexiko, da Arbeiter, die nicht in dem Programm akzeptiert wurden, häufig auf eigene Faust und illegal über die Grenze gingen. Außerdem kehrten viele der offiziell ins Land Gekommenen nach dem Ablauf ihres Arbeitsvertrages nicht nach Mexiko zurück, wie es das Abkommen vorsah. Die Programme wurden mehrfach neu aufgelegt und bis in die 1950er Jahre kamen darüber etwa 5 Millionen Mexikaner in die Vereinigten Staaten, von denen allerdings die Mehrzahl nur für einen begrenzten Zeitraum blieb.44 Bereits der Beginn des öracero-Frogramms fiel zusammen mit einer verstärkten antimexikanischen Haltung innerhalb der Bevölkerung. 1943 äußerte sich diese Stimmung in den so genannten zoot-suit-riots in Los Angeles, in der Seeleute zunächst mexikanische Jugendliche angriffen, die der Jugendkultur der pachucos anhingen und sich auf eine relativ auffällige Weise (den zoot suits) kleidete. Bald schon wurden allerdings überhaupt mexikanisch aussehende Passanten angriffen.45 Mit der zunehmenden Zahl von mexikanischen Einwanderern stieg diese xenophobische Haltung innerhalb der Bevölkerung. Sie führte 1954 schließlich zur Operation Wetback, in der der Immigration and Naturalization Service etwa eine Million Mexikaner nach Mexiko deportierte.46 Trotz dieser Kampagnen gegen Einwanderer, die nicht über die offiziellen Papiere für einen legalen Aufenthalt in den USA verfügten, endete das ¿racero-Programm erst 1965 endgültig. Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Einwanderung aus Mexiko vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
43
Richard Griswold del Castillo, Aztlän reocupada: A Political and Cultural History since 1945: The Influence of Mexico on Mexican American Society in Post War America, Mexico 1996, S. 18.
44
Ebd., S. 19.
45
Die ausführlichste Studie zu den zoot-suit-riots stammt von Mauricio Mazön, The ZootSuit Riots. The Psychology of Symbolic Annihilation, Austin 1984. Vgl. dazu Kap. V.l.a.
46
Griswold del Castillo, Aztlän reocupada, S. 20.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
101
Tabelle 1: Anzahl der mexikanischen Einwanderer, 1910-1960 Jahr
1910 1920 1930 1940 1950 1960
In den USA lebende mexikanische Staatsbürger 222.000 486.000 617.000 377.000 454.000 576.000
Dekade
1901-1910 1911-1920 1921-1930 1931-1940 1941-1950 1951-1960
mexikanische Einwanderer je Dekade 49.642 219.004 459.287 22.319 60.589 299.811
Quelle: Susan González Baker, Frank D. Bean, Augustin Escobar Latapi, Sidney Weintraub, "U.S. Immigration Policies and Trends: The Growing Importance of Migration from Mexico", in: Marcelo M. Suárez-Orozco (Hg.), Crossings: Mexican Immigration in Interdisciplinary Perspectives, Cambridge 1998, S. 81-109, hier S. 87 und S. 88.
Tabelle 2 zeigt die Entwicklung der mexikanischstämmigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten sowie den Anteil der Gruppe, der in Texas und Kalifornien lebte. Bei diesen Zahlen ist allerdings zu bedenken, dass die nationalen Volkszählungen jeweils unterschiedliche Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe anlegten. 1930 galten alle diejenigen als Mexikaner, die selbst aus Mexiko stammten oder deren Eltern aus Mexiko eingewandert waren und die nicht eindeutig der als Rassen bezeichneten Gruppen der Weißen, Schwarzen, Indianer, Chinesen oder Japaner angehörten. Im darauf folgenden Zensus zog die Regierung die zu Hause gesprochene Sprache als Kriterium der Gruppenzuordnung heran. Wer also zu Hause Spanisch sprach, galt im Südwesten als Person mexikanischer Abstammung. Abgesehen von dem Problem, dass Minderheiten in den Zensus normalerweise unterrepräsentiert sind, wurden z.T. die dritte und weitere Generationen von Immigranten nicht mehr in die Zählung einbezogen. Bei der Sprache als Hinweis für die Zugehörigkeit sind Ungenauigkeiten ebenfalls sehr wahrscheinlich.47
47
Zu den Problemen bei der Bestimmung der Anzahl der mexikanischstämmigen Bevölkerung in den USA, die sich aufgrund wandelnder Bestimmungen und Verfahren bei der Zensuserhebung unterschiedlich darstellten, vgl. Boswell, "Growth". Zu den generellen Problemen von Zensus als Quelle für demographische Daten über "rassische" Gruppen vgl. Calvin L. Beale, "Census Problems of Racial Enumeration", in: Edgar T. Thompson, Everett C. Hughes, Race: Individual and Collective Behavior, Glencoe 1958, S. 537-540.
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Tabelle 2: Die mexikanischstämmige Bevölkerung in den USA und ihre Verteilung auf Texas und Kalifornien Jahr
Mexikanischstämmige Bevölkerung in den USA
1910 1920 1930 1940 1950 1960
382.000 730.000 1.222.400 1.076.600 1.342.600 2.298.600
Anteil der mexikanischstämmigen Bevölkerung in Texas in % 56,3 51,8 41,5 42,3 43,5 35,1
Anteil der mexikanischstämmigen Bevölkerung in Kalifornien in % 15,2 18,2 31,1 35,6 36,0 43,2
Quelle: Boswell, "Growth", S. 66.
Bedingt durch die Einwanderungspolitik und die Nachfrage nach Arbeitskräften in den Vereinigten Staaten, verlief die mexikanische Immigration während des 20. Jahrhunderts zyklisch. Phasen hoher Immigrationsraten wechselten sich mit solchen ab, in denen die Rückwanderung stärker war bzw. die Einwanderung nur relativ geringe Ausmaße annahm. Langfristig stieg allerdings die mexikanischstämmige Bevölkerung in den USA insgesamt an. Prognosen von Demographen sagen voraus, dass die Latino-Bevölkerung, deren größte Untergruppe die mexikanischstämmigen Einwohner bilden, bald die größte Minderheit noch vor den African Americans darstellen werden. Die Ursachen für das Wachstum liegen neben der Einwanderung aus dem Süden, gegen die in den letzten Jahren wieder verstärkt Bemühungen zur Schließung der Grenze unternommen werden, an dem natürlichen Bevölkerungswachstum der Mexican Americans. Obwohl Mexikaner und Mexican Americans zunehmend in andere Regionen migrierten, blieb der Südwesten der Vereinigten Staaten das demographische Zentrum. Ebenso wie die Einwanderung von Mexikanern in die USA in Zyklen verlief, lassen sich Trends der Vereinheitlichung und erneuten Differenzierung in der sozialen Stellung und Lage der mexikanischstämmigen Bevölkerung ausmachen. Im 19. Jahrhundert wirkten die Folgen der Eroberung des Südwestens und die verstärkte Migration von Angloamerikanern in die Region zunächst im Sinne einer Einebnung von sozialen Unterschieden innerhalb der Gruppe. Die Oberschicht verlor ihre Position weitgehend oder sie ging über Familienbeziehungen in der angloamerikanischen Bevölkerung auf. Die mexikanische Revolution führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings zur Flucht von Angehörigen der mexikanischen Oberschicht in die Vereinigten Staaten. Das bekannteste Beispiel ist Silvestre Terrazas, ein Mitglied des mächtigen Terrazas-Creel Clans in
III. Einwanderung und sozioökonomische Lase
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Chihuahua. Er ging 1913 nach Texas ins Exil und blieb dort mit einer kurzen Unterbrechung bis 1925. Terrazas gelang es in den USA, weiter Geschäfte zu machen. Außerdem engagierte er sich politisch. 1919 gründete er in El Paso die spanischsprachige Zeitung "La Patria", deren Hauptinteresse auf die Ereignisse in Mexiko gerichtet war. Terrazas fungierte darüber hinaus in vielen Vereinen der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten als Ehrenmitglied und verfugte über ein großes Gewicht in politischen Fragen.48 Angehörige der mexikanischen Oberschicht wie Terrazas übten ihren Einfluss vor allem unter den ebenfalls vor den Revolutionswirren in Mexiko geflüchteten Mitgliedern anderer Schichten aus, deren Orientierung sich noch stark auf ihr Herkunftsland bezog. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand eine mexikanischstämmige Mittelschicht, deren Aufstieg der wachsenden Zahl von städtischen barrios geschuldet war. Die in den mexikanisch geprägten Stadtteilen notwendigen Dienstleistungen wurden von Angehörigen dieser aufsteigenden Gruppe verrichtet. Ladenbesitzer versorgten die Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen Waren, Arzte kümmerten sich um die Gesundheit, Rechtsanwälte vertraten Mexikaner und Mexican Americans vor Gericht, Restaurant- und Barbesitzer sowie Kino- oder Theaterbetreiber sorgten für Vergnügungsangebote.49 Die große Masse der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten gehörte allerdings in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Unterschichten an. Insgesamt 70% der mexikanischen Immigranten und der Mexican Americans waren Arbeiter. Seit den 1920er Jahren arbeitete die überwiegende Mehrzahl von ihnen in der Landwirtschaft, daneben stellten der Eisenbahnbau und der Bergbau Beschäftigungsfelder dar.50 1930 betrug der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen mexikanischstämmigen Männer über 40%, 26% waren in der Industrie beschäftigt und etwas über 16% im Transportwesen.51 Der Anteil der erwerbstätigen Frauen in der Landwirtschaft lag bei 21%, etwa 25% arbeiteten in der Industrie und 15% fanden eine Anstellung als Verkäuferin oder Büroangestellte. Die Mehrheit, nämlich annähernd 40% arbeitete allerdings im Dienstleistungsbereich.52 Die Arbeit in der Landwirtschaft und im Transportwesen verlangte eine hohe geographische Mobilität. Die meisten Landarbeiter hatten keine feste An48
Vgl. Silvestre Terrazas Papers, Bancroft Library, University of California, Berkeley.
49
Vgl. García, Rise, Nicolás Kanellos, A History of Hispanic Theatre in the United States.
50
Acuña, Occupied America, S. 205f.
Origins to 1940, Austin 1990. 51
Ebd., S. 209. Der Autor gibt ausdrücklich nur die Zahlen für Männer. Zu Frauen s.u.
52
Ruiz, From Out of the Shadows, S. 153.
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Stellung, sondern zogen als Saisonarbeiter durch den Südwesten dorthin, wo Arbeitskräfte gerade in großer Zahl benötigt wurden. In den Wintermonaten blieben sie vielfach auch ohne eine Verdienstmöglichkeit. Im September wurden besonders viele Produkte geerntet und deshalb war der Bedarf an Arbeitskräften in diesem Monat am höchsten.53 Die Zeit, in der die Landarbeiter eine Beschäftigung fanden, konnte dadurch verlängert werden, dass sie den Zyklen der verschiedenen landwirtschaftlichen Produkte folgten und von Region zu Region und Bundesstaat zu Bundesstaat zogen. Die Wanderarbeiter waren mit der ganzen Familie unterwegs und alle bis auf die kleinsten Kinder mussten auf dem Feld helfen. Die Besitzer von landwirtschaftlichen Betrieben betonten manchmal die Vorzüge von mexikanischstämmigen Arbeitern, da sie meistens große Familien hatten und deshalb auch mehr Hände bei der Arbeit halfen. Angeheuert und bezahlt wurden allerdings jeweils nur die Männer. Frauen und Kinder erhielten weder einen eigenen Vertrag noch eine eigene Bezahlung.54 Für die Kinder bedeutete die Notwendigkeit der Arbeitsmigration außerdem, dass der Schulbesuch auf wenige Monate im Winter beschränkt blieb. Die Tendenz zur Verstädterung, die sich seit den 1930er Jahren abzeichnete, äußerte sich auch im Wandel der Beschäftigungsstruktur. Viele ehemalige Landarbeiter versuchten, den Problemen der Wanderarbeit zu entgehen, indem sie eine Beschäftigung in der wachsenden Industrie annahmen. Mexikanischstämmige Arbeiter waren bis nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als Unund Angelernte in der Leichtindustrie tätig. Einen bedeutenden Industriezweig in Kalifornien stellte die Nahrungsmittelindustrie dar. Ebenso wie in der Landwirtschaft, in der die mexikanischstämmige Bevölkerung die unsichersten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten verrichteten, fanden sie auch in der Industrie fast ausschließlich Anstellungen in den untersten Positionen. In den 1930er Jahren arbeiteten 77,5% der mexikanischstämmigen Männer in ungelernten und angelernten Positionen. Nur 9,5% galten als gelernte Arbeiter. Wiederum lassen sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen feststellen. Bei Frauen lag der Anteil derjenigen, die als ungelernte oder angelernte Kräfte tätig waren mit 85,4% noch höher als bei den Männern.55 Frauen fanden vor allem in der Textilund Nahrungsmittelindustrie Arbeit, wo sie häufig nur in der Saison und nicht das ganze Jahr über in den untersten Positionen arbeiteten. Dies traf z.B. für die Weiterverarbeitung von Obst und Gemüse zu. Nach der Erntezeit, wenn der Bedarf an Arbeitskräften fiir die Vorbereitung von Früchten, bevor sie in Dosen 53
Reisler, By the Sweat, S. 79f.
54
Deutsch, No Seperate Refiige.
55
Monroy, Rebirth, S. 159.
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verpackt werden konnten, besonders hoch war, fanden viele Frauen eine zeitweise Beschäftigung.56 Auch in Texas war dies ein Bereich, in dem Frauen in der Industrie Arbeit fanden. In San Antonio arbeiteten z.B. über 2.000 Frauen in der Verarbeitung von Nüssen.57 Weitere Beschäftigungsmöglichkeiten in den Städten boten sich für Frauen nur noch als Haushaltshilfen.58 Im Zweiten Weltkrieg erhielt die Industrialisierung im Südwesten der Vereinigten Staaten neue Impulse, besonders durch den Aufbau von Rüstungsbetrieben. Aufgrund dieser Entwicklung boten sich auch für Mexican Americans immer mehr Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz in der Industrie zu bekommen. Sie rückten in die Stellungen nach, die von anderen Arbeitern zugunsten der besser bezahlten Positionen in der Rüstungsindustrie verlassen worden waren. Die Tendenz der Industrialisierung gemeinsam mit einer zunehmenden Urbanisierung blieb auch nach Kriegsende erhalten. Ebenfalls erhalten blieb die niedrige soziale Stellung der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Vergleich zu anderen Gruppen. In der Literatur ist deshalb zum Teil die Rede von einem segmentierten Arbeitsmarkt, in dem zwar die Angehörigen der verschiedenen rassischen und ethnischen Gruppen in allen Klassen zu finden seien, die einzelnen Segmente des Arbeitsmarktes aber durch eine Hierarchie dieser Gruppen gekennzeichnet seien.59 Allerdings ermöglichten die neuen Möglichkeiten in der Industrie und die verstärkte Ansiedlung von Mexican Americans in den Städten des Südwestens auch den Aufstieg einer Mittelschicht.60 Das Wachstum der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten der USA führte im Zusammenhang mit der Abgrenzung der angloamerikanischen Bevölkerung zur Ausbildung einer eigenen Gruppenidentität, die sich u.a. in der Gründung von Vereinen, politischen Organisationen und kulturellen Einrichtungen manifestierte. Das Vereinsleben trug dann selbst wieder zur Ausbildung bzw. Stärkung der Gemeinschaft der mexikanischstämmigen Bevölkerung und damit auch zur Vorstellung von Zugehörigkeiten bei. Die Aktivitäten der Vereine beeinflussten die Orientierungen nicht nur ihrer Mitglieder, sondern wohl häufig weiter Teile der Gemeinde, in der sie tätig waren, indem sie soziale und kulturelle Aktivitäten organisierten, an denen die ganze Gemeinde teilnehmen konnte. So gestalteten die Vereine z.B. häufig die Feierlichkeiten zu mexikanischen Nationalfeiertagen. Im Vordergrund standen der Unabhängigkeitstag am 56
Vgl. Ruiz, Cannery Women.
57
Calderón, Zamora, "Manuela Solis Sager", S. 33f.
58
Monroy, Rebirth, S. 159.
59
Barrera, Race and Class.
60
Gutiérrez, Walls and Mirrors, S. 117ff.
106
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16. September und der 5. Mai, der als Cinco de Mayo an den Sieg der mexikanischen Armee über französische Invasionstruppen 1862 erinnert.61 Die breite Vereinstätigkeit der mexikanischstämmigen Bevölkerung in den USA fand lange Zeit keinerlei Beachtung in der Literatur. Die mexikanische Kultur wurde vielmehr als defizitär angesehen. Zumindest den mexikanischen Einwanderern wurde unterstellt, dass sie sich in einem Zustand der sozialen Desorganisation befänden und deshalb auch kein "normales" Gemeindeleben hätten. Das vermeintliche Fehlen von verschiedenartigsten Organisationen zur Verwirklichung von Anliegen und Durchsetzung von Interessen spielte wiederum in der Erklärung der schlechten sozialen Lage der mexikanischstämmigen Bevölkerung eine Rolle.62 Erst in den letzten Jahren entstanden im Zuge des Aufstiegs der Chicano Studies auch Untersuchungen zum Vereinsleben, das sich als wesentlich umfangreicher und vielfaltiger erweist als lange angenommen.63 Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden in Orten mit einer relativ hohen mexikanischstämmigen Arbeiterschaft so genannte mutualistas. Diese Vereine der Arbeiterselbsthilfe erleichterten den Immigranten das Einleben in der neuen Umgebung und boten ihren Mitgliedern soziale Absicherungen in Krankheits- oder Sterbefällen.64 Sie waren nicht nach Berufssparten organisiert und verbanden so häufig die Arbeiterschaft in der Landwirtschaft mit der in anderen Wirtschaftssektoren.65 Neben der materiellen Absicherung übten die mutualistas weitere soziale Funktionen aus. Sie organisierten z.B. Feierlichkeiten zu mexikanischen Festtagen, mit denen die symbolische Verbindung der 61
Der Erfolg vom S. Mai 1862 stellte allerdings nicht den endgültigen Sieg über die französischen Truppen dar. Sie konnten erst 1867 des Landes verwiesen werden. Als Feiertag erlangte der Cinco de Mayo im Südwesten der USA eine besondere Bedeutung. Er ist dort auch heute noch wichtiger als in Mexiko selbst. Dies ist vermutlich der Fall, weil er an den einzigen "glorreichen" Sieg mexikanischer über ausländische Truppen erinnert und dies gerade im Verhältnis zu den USA ein heikles Thema darstellt. Leider gibt es meines Wissens keine Untersuchungen Aber den Cinco de Mayo und seine Bedeutung in Mexiko und den USA im Vergleich.
62
Vgl. Emoiy S. Bogardus, The Mexican in the United States, Los Angeles 1934, S. 18.
63
Vgl. Nelson A. Pichardo, "The Establishment and Development of Chicano Voluntaiy Association in California, 1910-1930", in: Aztlän 19,2 (1988-1990), S. 93-155. Der Autor listet mehrere hundert Vereine bzw. Ortsgruppen von überregionalen Vereinen auf, die er in spanischsprachigen Zeitungen Kaliforniens erwähnt fand. Diese Auswertung der Zeitungen besagt nichts über die Größe der Vereine oder die Dauer ihres Bestehens. Trotzdem stellt sie die Behauptung der sozialen Desorganisation der mexikanischstämmigen Bevölkerung hinreichend in Frage.
64
Julie Pycior, La Raza Organizes: Mexican American Life in San Antonio, 1915-1930. As Reflected in Mutuatisi Activities, Ph.D.diss., University of Notre Dame 1979, S. 8f.
65
Pichardo, "The Establishment", S. 99.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
107
Einwanderer zu ihrem Herkunftsland aufrechterhalten wurde.66 Einer der ältesten Arbeitervereine, der überregionale Bedeutung gewann, war die Alianza Hispano Americana, die 1894 in Arizona gegründet wurde.67 Mexikanische Arbeiter und Arbeiterinnen organisierten sich aber auch in Gewerkschaften, in denen der politische Einsatz für ihre Rechte gegenüber sozialen Absicherungsmaßnahmen überwog. Allerdings war die gewerkschaftliche Organisation häufig nicht einfach, da besonders der Dachverband AFL (American Federation of Labor) den Einwanderern und ihren Nachkommen keineswegs positiv gegenüberstand. Der AFL schloss die mexikanischstämmigen Arbeiter mit der Begründung aus der gewerkschaftlichen Organisation aus, dass sie keinen Beruf erlernt hatten.68 Diese Haltung schränkte die gewerkschaftliche Organisierung der mexikanischstämmigen Bevölkerung zwar ein, konnte sie jedoch keineswegs unterbinden. Sie bildeten unabhängige Gewerkschaften oder schlössen sich den International Workers of the World (IWW) an.69 Besonders in den 1930er Jahren gab es einen Schub von lokalen Gewerkschaftsgründungen unter den Landarbeitern und es kam zu einer Reihe von Streiks vor allem im Süden von Kalifornien.70 Außerdem begannen der 1935 neu gegründete Congress of Industrial Organizations (CIO) und der AFL nun auch, die Landarbeiter zu organisieren.71 Zu Beginn der 1950er Jahre erhielten kleinere Gewerkschaften, die Bergbauarbeiter organisierten, durch einen Streik in Arizona und seine Verewigung in dem mittlerweile legendären Film, Salt of the Earth, öffentliche Aufmerksamkeit. Allerdings wandte sich dieses Interesse zunächst gegen die Streikenden ebenso wie den Film, die beide als kommunistisch beeinflusst galten und
66
Ebd., S. 96.
67
Vgl. Kaye L. Briegel, Alianza Hispano Americana, 1894-1965: A Mexican American Fraternal Insurance Society, Ph.D.diss., University of Southern California 1974.
68
Garcia, Desert Immigrants, S. 96f.
69
Weber, Dark Sweat, S. 85f.
70
Howard A. DeWitt, Images of Ethnic and Radical Violence in California Politics, 19171930: A Survey, San Francisco 1975, S. 116. Ernesto Galarza, Spiders in the House and Workers in the Field, Notre Dame/London 1970. Ramón D. Chacón, "Labor Unrest and Industrialized Agriculture in California: The Case of the 1933 San Joaquin Valley Cotton Strike", in: Social Science Quarterly 1984, S. 336-353. Vgl. auch Gilbert G. González, Mexican Consuls and Labor Organizing: Imperial Politics in the American Southwest, Austin 1999, S. 82-196.
71
Weber, Dark Sweat, S. 164ff., González, Labor and Community, S. 159, Griswold del Castillo, Aztlán reocupada, S. 31. Luis Leobardo Arroyo, "Chicano Participation in Organized Labor: The CIO in Los Angeles, 1938-1950. An Extended Research Note", in: Aztlán 6,2 (1975), S. 277-303.
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deshalb massiv kritisiert bzw. behindert wurden.72 In den 1960er Jahren erlangten schließlich die Anliegen der Farmarbeiter über César Châvez, der aus Mexiko einwanderte und in Kalifornien lebte und arbeitete, einen hohen Bekanntheitsgrad nicht nur über die Grenzen des Bundesstaates hinaus, sondern auch international. Châvez wurde von der Chicano-Bewegung zur Gallionsfigur im Kampf gegen die Diskriminierung erhoben, auch wenn er selbst diese Position ablehnte.73 Neben den Arbeitervereinen und Gewerkschaften entstanden zahlreiche politische Organisationen, deren Ziele vor allem in der Durchsetzung der Bürgerrechte für Mexican Americans lagen. Die älteste Organisation dieser Art, die bis heute Bestand hat und schnell nach ihrer Gründung einen überregionalen Charakter gewann, ist die League of United Latin American Citizens (LULAC), die 1929 in Texas gegründet wurde.74 Seit den 1950er Jahren folgten weitere Organisationen. Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg für die Demokratie gekämpft hatten, gründeten das American G.I. Forum, da sie bei ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten nicht mehr bereit waren, die Diskriminierungen hinzunehmen.75 So war es besonders in Texas noch in dieser Zeit üblich, dass Mexikanern und Mexican Americans der Zutritt zu vielen Restaurants, Hotels, Kinos und anderen öffentlichen Gebäuden verwehrt war. Obwohl es keine gesetzlichen Bestimmungen diesbezüglich gab, waren auch die Schulen für weiße und mexikanischstämmige Kinder getrennt. Und schließlich sahen sich Mexican Americans häufig Problemen gegenüber, wenn sie ihr Wahlrecht ausüben wollten. All diese Aspekte wurden von den Bürgerrechtsorganisationen bekämpft, einen Schwerpunkt bildete häufig die miserable Schulsituation. Diese Vereine rekrutierten ihre Mitgliedschaft vor allem aus der aufsteigenden Mittelschicht. Sie hatten deshalb auch andere Ziele und Vorstellungen über die Strategie als die Arbeitervereine und Gewerkschaften.76 Während des Chicano-Movement traten schließlich Studenten und Intellektuelle als weitere Trägergruppen politischer Organisationen hinzu. Die Urbanisierung der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten und die Ausbildung eigener Stadtteile förderten außerdem kulturelle Einrichtun72
Zum Film und den Maßnahmen dagegen vgl. Stephen J. Whitfield, The Culture of the Cold War, Baltimore/London 1991, S. 144f.
73
Zu Chávez vgl. Richard Griswold del Castillo, Richard A. García, César Chavez: A Triumph of Spirit, Norman/London 1995.
74
Vgl. Márquez, LULAC.
75
Vgl. Carl Allsup, The American G.I. Forum: Origins and Evolution, Austin 1982.
76
Vgl. García, Mexican Americans.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
109
gen, die sich an die spanischsprachige Bevölkerung richteten. Bis zum Aufstieg des Kinos existierten eine Reihe von spanischsprachigen Theatern in den größeren Städten. Kleinere Orte wurden von Wandertheatertruppen besucht.77 Die Theater waren zwar kommerzielle Unternehmen, sie gingen aber trotzdem auf die Situation der mexikanischstämmigen Bevölkerung in den USA ein und richteten sich ganz speziell an dieses Publikum. Die Weltwirtschaftskrise und in deren Zusammenhang die Repatriierung von Mexikanern sowie die schnelle Ausbreitung der Filmindustrie, die billigere Vorstellungen anbieten konnte, führten zum Niedergang des spanischsprachigen Theaters seit den 1930er Jahren. Der Film stieg zum wichtigsten Unterhaltungsmedium auf. Daneben existierte auch ein Markt für Unterhaltungsmusik, die sich an das mexikanischstämmige Publikum richtete. Bis in die 1930er Jahre war dieses Angebot vor allem spanischsprachig und griff traditionelle Formen mexikanischer Musik auf. Mit der Weltwirtschaftskrise wurde zunächst das Publikum kleiner und in den folgenden Jahrzehnten bestand es zu einem größeren Teil aus Mexican Americans, die neben Spanisch auch Englisch beherrschten. Damit wandelte sich auch das Musikangebot.78 Den Bedürfnissen der spanischsprachigen Gemeinden entsprach schließlich auch die Existenz von vielen lokalen sowie einigen überregionalen Zeitungen, deren Berichterstattung sich an den Wünschen und Interessen der mexikanischstämmigen Bevölkerung orientierte. Gleichzeitig griffen diese Zeitungen in den Prozess der kollektiven Identitätsbildung ein und beteiligten sich auch oft an politischen Kampagnen.79 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Südwesten der USA von Beginn seiner Zugehörigkeit zu den Vereinigten Staaten an stark mexikanisch geprägt war. Bei dem Bild der nahezu menschenleeren frontier im Westen handelt es sich also nicht nur aufgrund der dort lebenden Native Americans um einen Mythos. Allerdings geriet die mexikanischstämmige Bevölkerung nach der Eroberung schnell in eine Minderheitenposition. Ihre Anzahl erhöhte sich erst wieder mit der nahezu das ganze 20. Jahrhundert anhaltenden Immigration. Le77
Kanellos, Hispanic Theatre.
78
Sanchez, Becoming Mexican American, S. 186ff.
79
Carlos E. Cortés, "The Mexican-American Press", in: Sally M. Miller (Hg.), The Ethnic Press in the United States: A Historical Analysis and Handbook, New York/Westport, Conn./London 1987, S. 247-260. Félix Gutiérrez, "Spanish Language Media in America: Background, Resources, History", in: Journalism History 4,2 (1977), S. 34-41 und 65-67. Ramon D. Chacon, "The Chicano Immigrant Press in Los Angeles: The Case of 'El Heraldo de Mexico', 1916-1920", in: Journalism History 4,2 (1977), S. 48-50 und 6264.
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diglich in den 1930er Jahren war die Rückwanderung nach Mexiko höher als die Immigration aus dem Süden. Demographische Zentren waren und blieben bis heute Texas und Kalifornien. Deren Anziehungskraft wechselte jedoch. Während Texas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die meisten mexikanischen Einwanderer anzog, übernahm Kalifornien diese Stellung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Minderheitenposition der Mexican Americans bezog sich allerdings nicht nur auf die quantitativen Verhältnisse. Sie wurden direkt nach dem Krieg Mitte des 19. Jahrhunderts diskriminiert und vielfach ihres Besitzes beraubt. Die Oberschicht konnte ihre Position in der neuen Gesellschaft nicht aufrecht erhalten. Insofern fand eine Vereinheitlichung der sozialen Stellung der mexikanischstämmigen Bevölkerung statt. Im 20. Jahrhundert gehörte der überwiegende Teil von ihnen der Arbeiterschaft an und hier wiederum den unteren Schichten. Der größte Teil der Arbeiter verdingte sich in der Landwirtschaft, die vor allem in Kalifornien stark von den mexikanischstämmigen Arbeitern abhing. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg stieg die Anzahl der Beschäftigten in der Industrie. Diesem Trend ging ein zeitlich etwas vorverlegter Urbanisierungsprozess voraus. Viele Mexican Americans suchten den Bedingungen der Wander- und Saisonarbeit in der Landwirtschaft zu entfliehen und gingen deshalb in die wachsenden Städte der Region. Mit der Ausweitung der städtischen Bevölkerung konnte eine neue Mittelschicht entstehen, deren Klientel der Gruppe der Mexikaner und Mexican Americans entstammt. Während des 20. Jahrhunderts war die mexikanischstämmige Bevölkerung im Südwesten so umfangreich, dass politische, soziale und kulturelle Organisationen und Vereine entstehen konnten, deren Mitgliedschaft ausschließlich mexikanischstämmig war und die sich ganz auf die Belange der Gruppe bezogen. Die Community war auch groß genug, um auf sie konzentrierte Unterhaltungsangebote kommerziell ausreichend attraktiv erscheinen zu lassen. Daraus sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass es sich um eine einheitliche Gruppe handelte, deren kulturelle Orientierung und kollektive Identität ohne Konflikte, Umund Neudeutungen ausgekommen wäre. Die mexikanischstämmige Bevölkerung befand sich in einem Spannungsfeld zwischen Mexiko, den Vereinigten Staaten und dem Südwesten, der einigen als angestammte, spanisch geprägte Heimat galt. Diese geographischen Bezüge standen für das spannungsreiche Verhältnis zwischen mexikanischen Einwanderern und Mexican Americans, die entweder die USA als ihren Bezugs- und Orientierungspunkt wählten oder den Südwesten.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
111
2. Puertoricaner in New York Puertoricaner stellen unter den Einwanderern in die Vereinigten Staaten einen Sonderfall dar. Sie gelten wegen ihrer US-Staatsbürgerschaft nicht als Immigranten. Wenn sie ihren Wohnort von Puerto Rico auf das Festland verlegen, dann handelt es sich formal lediglich um eine Binnenmigration. Trotzdem wird ihre Wanderung von der Öffentlichkeit und der Forschungsliteratur gleichermaßen als Immigration wahrgenommen - und dies mit gutem Grund. Die meisten US-Bürger wissen nicht, dass die Inselbewohner ihre Landsleute sind, und Puertoricaner nutzen zwar ihren Status als US-Staatsbürger, sehen sich jedoch als Angehörige eines von der US-amerikanischen Gesellschaft unterschiedenen Kollektivs. Die meisten von ihnen bestehen bis heute auf dem Erhalt einiger Merkmale, die zur Unterscheidung zwischen US-Amerikanern und Puertoricanern wesentlich beitragen. Dies trifft vor allem für die Sprache zu. Puertoricaner sind "Citizens yet strangers".80 Dieser Umstand ist eng an die politische Geschichte Puerto Ricos seit Ende des 19. Jahrhunderts geknüpft, die deshalb in diesem Abschnitt neben der Migrationsgeschichte im engeren Sinne einbezogen wird.81 Puerto Rico gehörte zusammen mit Kuba und den Philippinen zu den letzten überseeischen kolonialen Besitzungen Spaniens im 19. Jahrhundert. Die beiden Inseln in der Karibik waren die einzigen amerikanischen Teile des ehemaligen spanischen Kolonialreiches, die sich nicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts die 80
Jaime R. Vidal, "Citizens Yet Strangers: The Puerto Rican Experience", in: Jay P. Dolan, Jaime R. Vidal (Hg.), Puerto Rican and Cuban Catholics in the U.S., 1900-1965, Notre Dame/London 1994, S. 11-146. Vidal ist nicht der erste, der diese Formulierung zur Charakterisierung der Situation der Puertoricaner verwendet. 1966 benutzte z.B. der Direktor der Migrationsabteilung des puertoricanischen Arbeitsministeriums, José Monserrat, in einer Kongressanhörung die gleichen Worte, um auf das seiner Meinung nach wichtigste Problem der puertoricanischstämmigen Bevölkerung auf dem Festland aufmerksam zu machen. United States. Congress, Federal Role in Urban Affairs. Hearings before the Subcommittee on Executive Reorganization of the Committee on Government Operations. United States Senate, 89th Congress, 2nd Session (1966), Part 14, Washington 1967, S. 2913.
81
Die Notwendigkeit, nicht nur das Zielland von Migranten, sondern auch das Herkunftsland zu untersuchen, stellt sich zwar bei Puertoricanern ganz besonders, gilt aber zum besseren Verständnis von Migration insgesamt. Dies wird neuerdings auch in der Forschung zur Einwanderung in die USA betont. Lange Zeit konzentrierte sich die Literatur auf die Untersuchung der Anpassungsleistungen der Immigranten an die neuen Verhältnisse. Zum neueren Verständnis der Migrationsforschung vgl. z.B. Virginia YansMcLaughlin (Hg.), Immigration Reconsidered: History, Sociology, and Politics, New York 1990, Walter Nugent, Crossings: The Great Transatlantic Migrations, 1870-1914, Bloomington 1992, Mark Wyman, Round-Trip to America: The Immigrants Return to Europe, 1890-1930, Ithaca 1993.
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Unabhängigkeit erkämpften. Dies lag vor allem an den Befürchtungen der Oberschicht vor einer sozialen Erhebung der Sklavenbevölkerung. Die Sklavenbesitzer zogen es vor, sich dem Mutterland weiterhin politisch zu unterwerfen, dafür aber den Schutz der spanischen Truppen zu genießen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts regte sich Widerstand gegen Spanien, und es wurden Forderungen nach politischer Selbstbestimmung und Unabhängigkeit erhoben. Auf Puerto Rico kam es 1868 zur ersten Rebellion - dem so genannten Grito de Lares - , der allerdings schnell niedergeschlagen wurde. Erst dreißig Jahre später, 1897, gewährte Spanien den Puertoricanern die Autonomie in inneren Angelegenheiten, Freiheiten in der Gestaltung der Außenwirtschaft und schließlich die Vertretung Puerto Ricos im spanischen Parlament. Dieser Erfolg, der nicht allein auf die politischen Forderungen von puertoricanischer Seite zurückzufuhren war, sondern in engem Zusammenhang mit dem seit 1895 zwischen Kolonialmacht und Autonomisten tobenden Krieg auf Kuba stand, sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Im Frühjahr 1898 nutzten die USA eine Explosion auf dem US-Kriegsschiff "Maine", das im Hafen von Havanna lag, zunächst für eine Eskalation der Beziehungen mit Spanien, das daraufhin den USA den Krieg erklärte. Einige Monate später, im Juli 1898, landeten dann auch USamerikanische Truppen auf Puerto Rico. Spanien sah sich schnell gezwungen, seine Niederlage gegenüber den Vereinigten Staaten einzugestehen, und trat Puerto Rico und die Philippinen mit dem Friedensvertrag von Paris an die USA ab, die dafür die Summe von 20 Millionen US-Dollar zahlten. Die Bestimmung des rechtlichen und politischen Status der Inseln sowie ihrer Bewohner war laut Vertrag dem US-Kongress überlassen.82 Zunächst setzten die Vereinigten Staaten auf Puerto Rico eine Militärregierung ein, die 1900 mit dem Erlass des Foraker Act durch den Kongress von einer zivilen Verwaltung abgelöst wurde. Das Gesetz blieb bis 1917 in Kraft und gewährte den Puertoricanern geringere Autonomierechte, als die spanischen Reformen von 1897 ihnen zugestanden hatten. Die Exekutive setzte sich aus einem Gouverneur und einem Rat, dem Consejo Ejecutivo, zusammen. Letzterer bildete nicht nur eine Art Kabinett für den Gouverneur, sondern hatte als senatsähnliche Institution auch legislative Funktionen inne. Der Gouverneur ebenso wie die Mitglieder des Consejo wurden vom US-amerikanischen Präsidenten ernannt. Als einem Teil der Legislative stand dem Consejo noch eine zweite Kammer zur Seite, deren Abgeordnete von der wahlberechtigten männlichen Bevölkerung 82
Zum Spanisch-Amerikanischen Krieg vgl. Louis A. Pérez Jr., The War of 1898: The United States and Cuba in History and Historiography, Chapel Hill 1998, Carmelo Rosario Natal, El 1898 puertorriqueño en la historiografía: ensayo y bibliografía crítica, San Juan 1997.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
113
bestimmt wurden.83 Die Entscheidungen des Repräsentantenhauses bedurften jedoch der Zustimmung durch den US-Kongress, außerdem konnte der Gouverneur sein Veto einlegen. Der Foraker Act übertrug Puerto Rico den Status eines nicht eingegliederten Territoriums der Vereinigten Staaten und degradierte es de facto zu einer Kolonie. In den Worten des Senators Joseph Foraker, nach dem das Gesetz von 1900 benannt wurde, gestaltete sich die Stellung Puerto Ricos folgendermaßen: "Porto Rico belongs to the United States, but it is not the United States, nor a part of the United States."84 Mit dem Gesetz machte der US-Kongress deutlich, dass er nicht bereit war, Puerto Rico in absehbarer Zeit in die Unabhängigkeit zu entlassen. Zunächst erhob sich dagegen von Seiten der puertoricanischen Bevölkerung wenig Widerstand. Die meisten Puertoricaner hatten die Invasion der Vereinigten Staaten 1898 sogar begrüßt.85 Viele hofften, dass die Insel nach einer Zeit als Territorium vollständig in den Staatenverbund eingegliedert würde, wie dies schon vorher mit anderen Gebieten der Fall gewesen war. Die Rhetorik des Oberbefehlshabers Generalmajor Nelson A. Miles, der den Puertoricanern bei der Landung der US-amerikanischen Truppen versprach, ihnen Schutz vor Unterdrückung sowie liberale Institutionen zu bringen, legte diese Hoffnung nahe.86 Das Hauptinteresse der Vereinigten Staaten an Puerto Rico galt der strategischen Lage der Insel. Von hier aus konnten die Karibische See, die von den USA als "mare nostrum" gesehen wurde, ebenso wie der bald eröffnete Pana-
83
Wahlberechtigt waren Männer über 21 Jahre, die lesen und schreiben konnten und außerdem in der Lage waren, eine nicht unbeträchtliche Geldsumme bei der Einschreibung ins Wahlregister zu entrichten. Die Alphabetisienmgsrate lag zu dieser Zeit bei etwa 23% der Bevölkerung. Da vor allem Männer lesen und schreiben konnten, beschränkte diese Klausel die Wahlberechtigung auf etwa die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung. Davon konnten aber nicht alle den erforderlichen Geldbetrag aufbringen. Frauke Gewecke, Puerto Rico zwischen beiden Amerika, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1998, S. 35.
84
Zitiert nach Ronald Fernandez, The Disenchanted Island: Puerto Rico and the United States in the Twentieth Century, New York/Westport 1992, S. 2.
85
Eileen J. Findlay, "Love in the Tropics: Marriage, Divorce, and the Construction of Benevolent Colonialism in Puerto Rico, 1898-1910", in: Gilbert M. Joseph, Catherine LeGrand, Ricardo Salvatore (Hg.), Close Encounters of Empire: Writing the Cultural History of U.S.-Latin American Relations, Durham/London 1998, S. 139-172, hier S. 139. Gervasio Luis Garcia, "I am the Other: Puerto Rico in the Eyes of North Americans, 1898", in: Journal of American History 87,1 (2000), S. 39-64, befasst sich vor allem mit der Zustimmung der puertoricanischen Oberschicht zur Übernahme der Insel durch die USA.
86
Gewecke, Puerto Rico, S. 27.
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makanal hervorragend kontrolliert werden.87 Außerdem bestanden schon seit längerem enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen Puerto Rico und den Vereinigten Staaten, die für die Insel allerdings eine weitaus größere Bedeutung hatten. Ein Großteil der Zuckerproduktion Puerto Ricos ging bereits während der spanischen Kolonialzeit in die USA, da Spanien die eigene Produktion durch hohe Importzölle schützte. Hier ist aus ökonomischer Sicht noch das größte Interesse der USA an der Insel zu finden.88 Nach 1898 strömte US-amerikanisches Kapital, das für die Modernisierung der Produktionsmethoden notwendig war, in den Zuckersektor. Durch technische Neuerungen und die Ausweitung der Anbaufläche erlebte die Branche einen regelrechten Boom. Zuckerrohr stieg zur Monokultur auf, 1930 nahm sein Anbau 44% der landwirtschaftlichen Betriebsfläche ein und brachte etwa 60% der Deviseneriöse Puerto Ricos.89 Parallel dazu und ausgelöst durch den Zuckerboom ging die Herstellung von Nahrungsmitteln immer weiter zurück. Sie wurden ebenso wie die meisten industriellen Produkte vor allem aus den USA importiert. Damit festigte sich die bereits im 19. Jahrhundert bestehende Abhängigkeit der Insel von der US-amerikanischen Wirtschaft noch weiter. Diese Abhängigkeit war zudem von den USA befördert worden, indem der Forakter Act bestimmte, dass im Im- und Exporthandel Puerto Ricos ausschließlich US-amerikanische Schiffe benutzt werden durften.90 Der Foraker Act versagte den Puertoricanern die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und erklärte sie stattdessen zu Bürgern der Insel. Damit verfügten die Puertoricaner über keine völkerrechtlich anerkannte Staatszugehörigkeit.91 Erst der Jones Act von 1917 änderte diese Situation und verlieh Puertoricanern die US-Staatsbürgerschaft. Diese Entscheidung war allerdings nicht nur ohne Konsultation der puertoricanischen Bevölkerung erfolgt, sie fand gegen den ausdrücklichen Willen der stärksten puertoricanischen Partei, der Unión de Puerto 87
Arturo Morales Cairiön, Puerto Rico: A Political and Cultural History, New York/Nashville 1983, S. 135. Fernandez, The Disenchanted Island, S. 58f.
88
James L. Dietz, Economic History of Puerto Rico. Institutional Change and Capitalist Development, Princeton 1986, S. lOlff. Die Erklärung der US-Invasion Puerto Ricos mit wirtschaftlichen Interessen der USA hat eine Reihe von Studien hervorgebracht. Darin wird häufig das US-amerikanische Interesse an neuen Märkten für die eigenen Produkte betont. Angesichts des kleinen Marktes, den Puerto Rico Ende des 19. Jahrhunderts darstellte, erscheint diese Erklärung zumindest als alleiniger Grund fur die Invasion jedoch wenig plausibel. Kritisch dazu Hoganson, Fighting for American Manhood, S. 9f.
89
Dieter Nohlen, "Puerto Rico", in: ders. und Franz Nuscheier (Hg.), Handbuch Dritte Welt, Bd. 3, 3. Überarb. Aufl., Bonn 1995, S. 646-663, hier S. 650.
90
Dietz, Economic History, S. 89ff.
91
Fernando Pic6, Historia general de Puerto Rico, 4. Aufl., Rio Piedras 1988, S. 243.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
115
Rico, statt. Der unbestrittene Wortführer der Unión, Luis Muñoz Rivera, der als Vertreter Puerto Ricos in Washington fungierte, sprach sich folgendermaßen gegen die Verleihung der Staatsbürgerschaft ohne gleichzeitige Lösung der Statusfrage für die Insel aus: If you wish to make us citizens of an inferior class, our country not being allowed to become a State of the Union, or to become an independent State...then we will have to be perpetually a colony, a dependency of the United States. Is that the kind of citizenship you offer us? Then, that is the citizenship we refuse. 92
Muñoz Marin befürchtete zu Recht, dass mit dem Jones Act Puerto Ricos Streben entweder nach Unabhängigkeit oder nach vollständiger Integration in die Vereinigten Staaten durch die Aufnahme als Bundesstaat auf unbestimmte Zeit verzögert würde. Der Jones Act änderte relativ wenig an den politischen Rahmenbedingungen auf der Insel. Das Wahlrecht für die männliche Bevölkerung war bereits 1904 wieder eingeführt worden. Das Parlament wurde 1917 zwar auf zwei gewählte Kammern ausgeweitet, unterlag aber unverändert der Kontrolle durch die USRegierung und den Kongress. Der Gouverneur erhielt seine Ernennung weiterhin vom US-Präsidenten und konnte vom Festland stammen. Ebenso blieb die Position des Resident Commissioner, der die Interessen der Insel in Washington vertrat, ohne wirkliche Einflussmöglichkeit. Er hatte zwar seit 1904 das Recht, an den Kongresssitzungen teilzunehmen und dort das Wort zu ergreifen,93 an Abstimmungen durfte er sich jedoch nicht beteiligen. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft hatte dagegen einige immittelbare Folgen. Zunächst einmal führte sie dazu, dass die Puertoricaner der Wehrpflicht unterlagen und so wurden auch einige im Ersten Weltkrieg eingezogen.94 Außer-
92
United States. Congress, Congressional Record, 64th Congress, Ist Session, Vol. 53, Part 8, Washington 1916, S. 7472.
93
Selbst das blieb ihm in den ersten Jahren verwehrt, sodass er seine Anliegen außerhalb der offiziellen Sitzungen des Kongresses in Einzelgesprächen mit den Abgeordneten und Senatoren vorbringen musste.
94
Viele Puertoricaner sahen dies später als eigentlichen Grund für die Verleihung der USStaatsbürgerschaft. Sie glaubten, dass den Vereinigten Staaten vor allem daran gelegen gewesen sei, Soldaten zu rekrutieren. Vgl. Kapitel IV.b.2. Diese Ansicht setzt sich bis in die Literatur fort. So stellt z.B. Adalberte L. Lopez in seiner Darstellung einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Verleihung der Staatsbürgerschaft und der Rekrutierung von Puertoricanem her. Er behauptet außerdem, Tausende von Puertoricanern hätten in den Krieg gehen müssen und seien in Europa gefallen. "The Puerto Rican Diaspora: A Survey", in: ders. und James Petras (Hg.), Puerto Rico and Puerto Ricans: Studies in History and Society, New York 1974, S. 316-346, hier S. 317. Es ist zwar richtig, dass eine hohe Anzahl von Puertoricanem 1917 in die Armee eingezogen wur-
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dem ermöglichte sie die ungehinderte Wanderung der Inselbewohner auf das US-amerikanische Festland. Diese Freizügigkeit kam zu einem Zeitpunkt, als die nativistische Stimmung in den Vereinigten Staaten ihrem Höhepunkt entgegenging, und entbehrt deshalb nicht einer gewissen Ironie.95 Diesen Nebeneffekt hatten weder der Kongress noch die US-Regierung im Sinn, sie unternahmen vielmehr einen Versuch, die Frage zu lösen, wie für Puertoricaner eine völkerrechtlich tragbare Lage geschaffen werden konnte, ohne die Insel als gleichberechtigtes Mitglied in den Bund aufnehmen zu müssen. Vidal geht sogar soweit, den Jones Act als eine Maßnahme zu charakterisieren, die vor allem zum Ziel hatte, die Endgültigkeit der abhängigen Position Puerto Ricos festzulegen. Danach verhinderte die Verleihung der US-Staatsbürgerschaft eine Unabhängigkeit der Insel in der Zukunft, da mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der USKongress auch die Staatsbürgerschaft aller Inselbewohner wieder hätte aberkennen müssen. Dazu ist er qua Verfassung jedoch nicht ermächtigt. Somit könnte die Unabhängigkeit nur noch gewährt werden, wenn sich in einer Volksabstimmung wirklich alle Puertoricaner dafür aussprechen würden.96 Dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft endgültigen Charakter haben würde, sahen in der Debatte um den Jones Act auch einige Kongressmitglieder. Der Abgeordnete Miller formulierte dies 1916 folgendermaßen: "... Puerto Rico will never go out from under the shadow of the Stars and Stripes.... If you accept and receive citizenship under the American flag, you will take it for yourselves and your children's children for all time."97 Während die Inselbewohner nach dem In-Kraft-Treten des Jones Act nicht über die gleichen Rechte verfugten wie die Bürger des Festlandes, erlangten Puertoricaner zumindest auf dem Papier mit dem Wechsel ihres Wohnortes eine völlige Gleichstellung. Lebten sie auf dem Festland, konnten sie ebenso wie alle anderen Bürger bei den Präsidentschaftswahlen und denen zum US-Kongress abstimmen. Sie hatten das Anrecht auf staatliche Sozialleistungen, was für andere Einwanderer nicht zutraf. Außerdem konnten Puertoricaner auch in New York auf die Unterstützung der Inselregierung zurückgreifen. So richtete diese während der Weltwirtschaftskrise eine Arbeitsvermittlung speziell für Puertoricaner ein und das Arbeitsministerium von Puerto Rico öffnete 1930 ein Büro in New York, das bis 1936 bestand. Insgesamt konnte es fast 2.000 Arbeitsverhältde, nur relativ wenige waren jedoch an Kampfhandlungen beteiligt. Pico, Historia general, S. 245. 95
Auf diesen Widerspruch verweist Vidal, "Citizens Yet Strangers", S. 28f.
96
Vidal, "Citizens Yet Strangers", S. 28.
97
United States. Congress, Congressional Record 64,1 (1916), S. 7473.
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nisse vermitteln.98 Im Vergleich zu Immigranten unterlagen Puertoricaner keinen Kontrollen durch den Immigration and Naturalization Service, ein Umstand, der einige Vorteile mit sich brachte. Puertoricaner mussten, wenn sie nach New York kamen, nicht etwa die Einwanderungsstation Ellis Island mit ihren medizinischen Untersuchungen und Überprüfungen über sich ergehen lassen.99 Die Schiffe, auf denen sie kamen, legten direkt im Hafen von New York bzw. Brooklyn an. Die Staatsbürgerschaft der Puertoricaner führte schließlich dazu, dass sie zumindest einem Vorurteil nie ausgesetzt waren: Das Stigma der Illegalität konnte ihnen nicht angehängt werden - ein Vorwurf der z.B. gegenüber Mexikanern seit den 1920er Jahren immer wieder erhoben wird. Die Tatsache, dass die US-Regierung weder 1917 noch in den folgenden Jahren bereit war, die Insel als gleichberechtigten Staat in den Bund aufzunehmen, trug wesentlich dazu bei, dass die Statusfrage für Puertoricaner unabhängig davon, wo sie lebten, jede politische Debatte und Entscheidung beherrschte wenn auch nicht immer offen, so schwang sie doch im Hindergrund mit. Die Statusfrage bestimmte die öffentliche Auseinandersetzungen so stark, dass viele Parteien sich über ihre Haltung dazu definierten.100 Die mit dem Jones Act gewährte US-Staatsbürgerschaft empfanden viele Puertoricaner im Laufe der Jahre als aufgezwungen. Heute ist in der Literatur in den meisten Fällen die Formulierung der "imposed citizenship" zu finden.101 Die ambivalente Haltung gegenüber der US-Staatsbürgerschaft, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch bestand, trat demgegenüber vollkommen in den Hintergrund. Tatsächlich wandten sich zum Zeitpunkt der Verleihung der Staatsbürgerschaft nur wenige Puertoricaner dagegen. Die meisten nahmen sie entweder hin oder begrüßten sie sogar.102 Und bis heute nutzen sie ihren individuellen Status in der unbeschränkten Bewegungsfreiheit zwischen der Insel und dem Festland.103 98
Lawrence R. Chenault, The Puerto Rican Migrant in New York City, repr., New York 1970 (1. Aufl. 1938), S. 74ff. Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 32f.
99
Zu Ellis Island vgl. David M. Brownstone, Irene M. Franck, Douglass L. Brownstone, Island of Hope, Island of Tears, New York 1979.
100 Vgl. Raymond Carr, Puerto Rico: A Colonial Experiment, New York 1984, S. 107-200. 101 Vgl. z.B. Manuel Maldonado-Denis, Puerto Rico: A Socio-Historic Interpretation, New York 1972, S. 108. 102 Vgl. dazu José A. Cabranes, Citizenship and the American Empire: Notes on the Legislative History of the United States Citizenship of Puerto Ricans, New Haven/London 1979, S. 13f. 103 Die Situation fuhrt außerdem dazu, dass genaue Angaben über die Anzahl von Migranten selten verfügbar sind. Seitdem die Migration vor allem per Flugzeug stattfindet, werden häufig die Flüge von und nach Puerto Rico gezählt, die dann gegeneinander gerechnet die Nettomigration auf das Festland ergeben sollen. Aber hierbei handelt es sich
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Die Folgen der Weltwirtschaftskrise führten in den späten 1930er Jahren zunächst dazu, dass die Statusfrage für einige Zeit in den Hintergrund trat. Luis Muñoz Marín, Sohn von Luis Muñoz Rivera, der mittlerweile zu einem der einflussreichsten Politiker Puerto Ricos aufgestiegen war, gründete 1938 den Partido Popular Democrático (PPD). Anfang der 1940er Jahre gaben Muñoz Marin und der PPD insgesamt das bis dahin vertretene Ziel der Unabhängigkeit Puerto Ricos auf. Das politische Programm konzentrierte sich nun auf die Verbesserung der sozioökonomischen Situation. Für eine breite Unterstützung musste eine Koalition aus verschiedenen sozialen Gruppen geschmiedet werden. Um dieses Ziel zu erreichen, war es wiederum notwendig, die Statusfrage auszublenden. Dementsprechend propagierte Muñoz Marin denn auch: "el status no está en issue."m Implizit trat er damit fiir die Fortschreibung des Status quo ein. Der PPD errang in den Wahlen von 1940 und 1944 überwältigende Siege. 1948 wurde Muñoz Marin nach einer entsprechenden Änderung des Jones Act durch den US-Kongress als erster gewählter Gouverneur Puerto Ricos in sein Amt eingeführt. In den folgenden zwei Jahrzehnten blieb er die zentrale Figur der puertoricanischen Politik. Nach dreimaliger Wiederwahl trat er 1964 von dem Gouverneursposten zurück und kandidierte für den puertoricanischen Senat. Im gleichen Jahr zog sich Muñoz Marin auch vom Vorsitz des PPD zurück. Zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage initiierte Muñoz Marin 1940 mit Unterstützung des Gouverneurs Rexford G. Tugwell ein Programm zur Industrialisierung der Insel. Diese im Spanischen als "Operación Manos a la Obra"105 bezeichnete Initiative erhielt von der Bundesregierung besonders nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhebliche Unterstützung. Zunächst verschärfte der Krieg jedoch die wirtschaftlichen Probleme Puerto Ricos, da die Einschränkung des Seeverkehrs zu einer Versorgungskrise führte. Gleichzeitig gewann die Insel allerdings für die USA an Gewicht, da ihre strategische Bedeutung nun wieder stärker in den Blick geriet. Die Streitkräfte bauten hier den größten Marinestützpunkt in ganz Amerika auf. Mit dem Ost-West-Konflikt nach dem Krieg erhielt die Förderung Puerto Ricos für die Vereinigten Staaten eine weitere Bedeutung. Die Insel sollte zum Vorzeigeobjekt avancieren, dass wirtschaftliche Entwicknur um eine Annäherung, da so alle Reisende, unabhängig von ihrem Motiv, als Migranten gezählt werden. Eine andere Quelle zur Ermittlung der auf dem Festland lebenden Puertoricaner stellen Volkszählungen dar. Allerdings sind auch ihre Angaben lediglich eine Annäherung, da sie zu einer Unterrepräsentation von Minderheiten tendieren. Zu den Problemen der Zensus als Quellen der Demographiegeschichte vgl. Camarillo, Chicanos in a Changing Society, S. 233ff. Und Boswell, "Growth", S. 57ff. 104 Zitiert nach Vidal, "Citizens Yet Strangers", S. 35. 105 Von Gewecke mit "Operation Frisch ans Werk" übersetzt. Gewecke, Puerto Rico, S. 70.
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hing in der Dritten Welt unter kapitalistischen Vorzeichen besser gelänge als unter kommunistischen.106 Das Programm konnte tatsächlich einige Erfolge in der Ansiedlung von Industriebetrieben vorweisen. Andere Ziele, wie eine effektive Agrarreform scheiterten hingegen. Insgesamt konnte die auf Englisch als "Operation Bootstrap" bezeichnete Politik zur Wirtschaftsforderung die weit verbreitete Arbeitslosigkeit und Armut in Puerto Rico nicht beseitigen.107 Deshalb förderten sowohl die Inselregierung als auch die US-Regierung die Emigration der "überschüssigen" Bevölkerung auf das Festland, wo Ende der 1940er Jahre Arbeitskräfte gesucht wurden. Zu diesem Zweck eröffnete die puertoricanische Regierung 1948 ein Büro ihrer dem Arbeitsministerium zugeordneten "Migration Division" in New York. Hier sollten Puertoricaner Unterstützung bei ihrer Niederlassung in New York bzw. auf dem Festland finden. Später wurde ein zweites Büro in Chicago eingerichtet.108 Die Zurückstellung der Statusfrage durch Muñoz Marin gelang nur für einige Jahre, dann stand sie wieder auf der politischen Tagesordnung. Muñoz Marín zeigte nun sein politisches Geschick. Weder die Unabhängigkeit der Insel noch die Aufnahme als gleichberechtigter Bundesstaat in den föderalen Verband der USA erschienen durchsetzbar. Zum einen stand der US-Kongress weiterhin dagegen, zum anderen war auch die Stimmung auf Puerto Rico keineswegs eindeutig. Viele fürchteten größere wirtschaftliche Probleme mit der Unabhängigkeit. Aber auch die bundesstaatliche Lösung rief Ängste hervor, dass sich dann die kulturelle Identität der Puertoricaner, die sich am spanischen Erbe orientierte, nicht erhalten ließe. Muñoz Marín propagierte nun den Estado Libre y Asociado. Diese Formel vom freien und assoziierten Staat behauptete, Puerto Rico sei autonom und schlösse sich freiwillig an die Vereinigten Staaten an. Nachdem zunächst der US-Kongress 1950 das Public Law 600 erließ und den Weg für das Commonwealth of Puerto Rico frei machte und sich 1951 in einem Referendum auf Puerto Rico die meisten Inselbewohner dafür ausgesprochen hatten, konnte 1952 der Estado Libre y Asociado offiziell ausgerufen werden. Auf der symboli-
106 Ramón Grosfoguel, "The Divorce of Nationalist Discourses from the Puerto Rican People: A Socio-historical Perspective", in: Frances Negrón-Muntaner, Ramón Grosfoguel (Hg.), Puerto Rican Jam: Essays on Culture and Politics, Minneapolis 1997, S. 57-77, hier S. 65. 107 Die Erfolge der Industrieansiedlungen basierten zum Teil darauf, dass die Löhne auf Puerto Rico im Vergleich zu den USA niedrig waren. Die Lebenshaltungskosten waren dagegen nicht genauso niedrig und stiegen schneller als die Löhne. Dietz, Economic History, S. 204ff. 108 Vgl. Michael Lapp, Managing Migration: The Migration Division of Puerto Rico and Puerto Ricans in New York City, Ph.D.diss., Johns Hopkins University 1991.
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sehen Ebene änderte die "Autonomie" Puerto Ricos einiges. Jetzt wurde die von den Unabhängigkeitskämpfern zum Ende des 19. Jahrhunderts angenommene Fahne zur offiziellen Flagge Puerto Ricos erhoben und weht seitdem neben dem Sternenbanner auf öffentlichen Gebäuden. Außerdem bekam die Insel mit dem Lied "La Borinqueña" eine offizielle Hymne. Im Inneren brachte die neue Verfassung Puerto Ricos weitgehende Autonomie, allerdings blieben die Beziehungen zu den USA weiterhin von Abhängigkeit geprägt und gestalteten sich keineswegs als "freie Übereinkunft" zwischen beiden Seiten, wie Muñoz Marin Glauben machen wollte.109 Diese unveränderte Beziehung führte letztlich dazu, dass auch der Estado Libre y Asociado heute von vielen Puertoricanern als problematisch wahrgenommen wird und umstritten bleibt. Sowohl die Unabhängigkeit als auch die Erklärung Puerto Ricos zu einem US-Bundesstaat spielen als erwünschter Endstatus weiterhin eine wichtige Rolle in der öffentlichen Diskussion. Die Loslösung hat allerdings innerhalb der Bevölkerung immer mehr an Zustimmung verloren und wird heute nur noch von einer sehr kleinen Minderheit vertreten. Die Migranten auf dem Festland scheinen dagegen in dieser Frage eine radikalere Haltung zu vertreten, was angesichts ihres Wohnortes nicht einer gewissen Widersprüchlichkeit entbehrt. In regelmäßigen Abständen werden Forderungen nach einem Plebiszit über die Statusfrage laut. 1967, 1993 und 1998 fanden solche Abstimmungen auf Puerto Rico statt. Alle drei Male erhielt der aktuelle Status die meisten Stimmen. Ein anderer Ausgang hätte allerdings kaum Folgen gehabt, da der US-Kongress sich in keinem Fall einverstanden erklärte, das Ergebnis der Abstimmung zu akzeptieren. Die Anbindung Puerto Ricos an die USA beeinflusste die Migration auf das Festland ebenso wie die Statusfrage. Die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit der Insel von den Vereinigten Staaten förderte und kanalisierte die Wanderung ihrer Bewohner auf das Festland. Heute leben ca. 75% der Puertoricaner nicht auf der Insel, sondern in New York und anderen US-Städten. Die Statusfrage wiederum nimmt einen entscheidenden Platz in der Ausbildung der kollektiven Identität der Puertoricaner ein. Dies gilt auch für die Kinder und Kindeskinder der Migranten. Im Folgenden sollen die demographische Entwicklung der puertoricanischen Bevölkerung New Yorks sowie ihre sozioökonomische Situation und die Ausbildung der puertoricanischen Community dargelegt werden. Die kollektive Identität wird dagegen in den Kapiteln IV und V behandelt werden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts lebten Puertoricaner in den Vereinigten Staaten. Bei ihnen handelte es sich vor allem um Exilanten und Studenten. Viele Befürworter der Unabhängigkeit Puerto Ricos von Spanien, die die Insel verlas109 Vgl. Gewecke, Puerto Rico, S. 75ff.
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sen mussten, gingen nach New York. Hier schlössen sie sich mit ebenfalls im Exil lebenden Kubanern zusammen und gründeten sogar eine puertoricanische Sektion der Unabhängigkeitspartei Kubas. Ihre Anzahl war jedoch nicht besonders hoch. Auch in den folgenden Jahren ließen sich die Puertoricaner, die auf das Festland zogen, zu 90% in New York nieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwanderung von der Insel auf das Festland weiter an. Die genaue Zahl der in der Stadt lebenden Puertoricaner war in den 1940er und 1950er Jahren umstritten. Schätzungen bewegten sich zwischen 230.000 und 700.000 Personen.110 Der Zensus von 1950 zählte 245.880 Puertoricaner der ersten und zweiten Generation in New York. Davon waren fast 60.000 bereits auf dem Festland geboren.111 Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg brachte wesentliche Veränderungen für Puertoricaner, die nach New York wanderten. Neue Flugverbindungen ersetzten die Fähren. Sie erleichterten und verbilligten die Reise von der Insel auf das Festland. Die Verkürzung der Reisedauer dürfte dazu beigetragen haben, dass die Entfernung in den Augen der Migranten schrumpfte. Seit der Einrichtung regelmäßiger Flüge von San Juan nach New York stieg die Migration in die Stadt stark an. Die schnelle Umstellung der Kriegs- auf eine Friedenswirtschaft, die 1947 abgeschlossen war und der ein Wirtschaftswachstum folgte, trug ebenfalls zum Anstieg der puertoricanischen Wanderung nach New York bei.112 1945 kamen 13.500 Migranten von der Insel, bereits im darauf folgenden Jahre stieg ihre Zahl auf 40.000 und erreichte 1952-53 mit fast 60.000 Personen einen Höhepunkt.113 In diesen Jahren stiegen Puertoricaner zur größten Gruppe spanischsprachiger Migranten in New York auf. Dadurch wuchs ihr quantitatives Gewicht gegenüber anderen Einwanderern aus Lateinamerika und Spanien
110 Die letzte Zahl war eindeutig übertrieben und muss der Wahrnehmung der Puertoricaner als "Puertoricanischem Problem" zugeschrieben werden. City of New York, Vicent R. Impelliteri (Hg.), Interim Report of the Mayor's Committee on Puerto Rican Affairs in New York City, September 1949 to September 1953, New York 1953, S. 14. 111 United States. Bureau of the Census, U.S. Census of Population, 1950, vol. IV, Special Report, Part 3, Chapter D: Puerto Ricans in Continental United States, Washington, D.C. 1953, S. 11. 112 Zur Umstellung der Wirtschaft s. Heideking, Geschichte der USA, S. 369. 113 Glazer, Moynihan, Beyond the Melting Pot, S. 93. Die Zahlen sollten als Annäherung gewertet werden. Sie kommen dadurch zustande, dass die Anzahl der Flüge von Puerto Rico auf das Festland denen nach Puerto Rico gegenüber gestellt werden. Damit werden also auch Personen mitgezählt, die überhaupt nie die Absicht hegten, sich auf dem Festland niederzulassen. Eine solche Aufstellung gibt Fitzpatrick, Puerto Rican Americans, S. 16.
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erheblich. Der Anteil von Puertoricanera an der Gesamteinwohnerzahl der Stadt stieg von ungefähr 1% 1910 auf etwa 10% 1970.114 Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellten Puertoricaner nur einen Teil der spanischsprachigen Bewohner New Yorks. 1930 zählte der Zensus insgesamt fast 140.000 spanischsprachige Personen in der Stadt.115 Einer anderen Schätzung zufolge, die ebenfalls auf dem Zensus von 1930 beruhte, belief sich die Anzahl der spanischsprachigen Einwohner New Yorks auf 100.000 Personen, die zu fast 40% puertoricanischer Herkunft gewesen seien. Als zweitgrößte Gruppe werden die Spanier mit über 22.000 Personen dargestellt, gefolgt von 18.000 Zentral- und Südamerikanem, etwas mehr als 7.000 Kubanern und nicht ganz 3.500 Mexikanern.116 Diese Schätzung ist allerdings in Bezug auf die Kubaner und die hohe Zahl der Zentral- und Südamerikaner nicht plausibel. Andere Angaben beschränken sich auf die Feststellung, 1930 hätten die Kubaner noch 40% der spanischsprachigen Bevölkerung New Yorks ausgemacht.117 Da weder die spanische Einwanderung nach New York noch die kubanische bisher systematischen Studien unterzogen wurden, kann die Frage der genauen Zahlen hier nicht geklärt werden.118 Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gehörten Kubaner und Spanier aber auf jeden Fall zu den größten Gruppen spanischsprachiger Einwanderer. Die Anzahl der Puertoricaner wuchs in den Jahren seit 1917 beständig und vermutlich in den 1930er Jahren übernahmen sie die Spitzenposition innerhalb der Gruppe der spanischsprachigen Immigranten. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kamen noch relativ viele gelernte Arbeiter von der Insel nach New York. Unter ihnen überwogen die Zigar114 Virginia Sánchez Korrol, "Puerto Ricans", in: Kenneth T. Jackson (Hg.), The Encyclopedia of New York City, New York 1995, S. 962-964, hier S. 963. 115 Glazer, Moynihan, Beyond the Melting Pot, S. 102. 116 Ruth Glasser, My Music Is My Flag: Puerto Rican Musicians and Their New York Communities, 1917-1940, Berkeley u.a. 1995, S. 96. 117 Kanellos, Hispanic Theatre, S. 127. 118 New York stellte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fur spanische Einwanderer und ihre Nachkommen den wichtigsten Ansiedlungsort dar. Dies lag u.a. daran, dass hier die meisten spanischen Migranten den US-amerikanischen Kontinent erreichten. 1920 lebten etwas mehr als 35.000 Spanier der ersten und zweiten Generation in den USA, zehn Jahre später war ihre Zahl auf 80.317 gestiegen. Frances Leon Quintana, "Spaniards", in: Thernstrom (Hg.), Harvard Encyclopedia, S. 947-953, hier S. 949. Kubaner siedelten vor allem in Florida, New York stellte für sie ein zweites Zentrum dar. In der Zeit von 1899-1958 wanderten über 170.000 Kubaner in die USA ein. Lisandro Pérez, "Cuban Catholics in the United States", in: Dolan, Vidal (Hg.), Puerto Rican, S. 147-208, hier S. 175.
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rendreher, die in einer der ca. 3.000 Zigarrenfabriken der Stadt eine Anstellung fanden.119 60% der Puertoricaner in New York arbeiteten während der 1920er Jahre in der Tabakindustrie.120 In den folgenden Jahren sank ihre Zahl aufgrund der fortschreitenden Mechanisierung in diesem Bereich allerdings rapide. Die meisten puertoricanischen Migranten, die besser ausgebildet waren als die Bevölkerung der Insel im Durchschnitt, arbeiteten als ungelernte Arbeiter in der Industrie.121 Die Folgen der Weltwirtschaftskrise trafen Puertoricaner als Neueinwanderer vergleichsweise hart. Viele verloren ihre Arbeit und fanden keine neue Beschäftigung. Aufgrund der schlechten Aussichten auf dem Festland ging die Migration zurück. Während der Krisenjahre nahm unter denjenigen, die Arbeit bekamen, bereits die Beschäftigung im Dienstleistungssektor zu.122 Diese Tendenz setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Nun fanden Puertoricaner, die zunehmend direkt vom Land in die USA wanderten123, vor allem als ungelernte Arbeiter oder im Dienstleistungsgewerbe in den untersten, schlecht bezahlten Positionen eine Anstellung. Für Frauen stellte sich die Situation gegenüber der der Männer schwieriger dar, da ihre Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden, noch eingeschränkter waren. Sie fanden vor allem im Textilgewerbe und im Dienstleistungssektor eine Beschäftigung. Viele von ihnen fertigten Textilien in Heimarbeit an.124 Bis in die 1960er Jahre stieg die Bedeutung New Yorks als wichtigster Anlaufstelle für Puertoricaner, die auf das Festland wanderten. Die folgende Tabelle verdeutlicht diesen Trend:
119 Von den 3.000 Zigarrenfabriken waren 500 im Besitz von Híspanles. Félix Ojeda Reyes, "Early Puerto Rican Communities in New York", in: Center for Puerto Rican Studies, Oral History Task Force, Extended Roots: From Hawaii to New York. Migraciones Puertorriqueñas a los Estados Unidos, New York 1986, S. 45-55, hier S. 41. 120 Sánchez Korrol, "Puerto Ricans", S. 963. 121 Wright C. Mills, Clarence Senior, Rose Kohn Goldsen, The Puerto Rican Journey: New York's Newest Migrants, New York, 2. Aufl. 1967, S. 22. 122 Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 33. 123 Mills, Senior, Goldsen, Puerto Rican Journey, S. 33. 124 Für Frauen fand in Bezug auf die Arbeitsmöglichkeiten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ein geringerer Wandel statt. Sánchez Korrol, "Survival of Puerto Rican Women", S. 47-57.
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Silke Hensel Tabelle 3: Auf dem Festland und in New York lebende Puertoricaner der ersten und zweiten Generation, 1910-1970
Zensusa) Puertoricaner auf b) Puertoricaner in Anteil von b) an a) jahr dem Festland New York in % 1910 554 36,6 1.513 1930 52.774 1940 69.967 61.462 87,8 1950 245.880 81,6 301.375 1960 887.662 612.576 69,0 1970 817.712 54,8 1.391.463 Quelle: Joseph P. Fitzpatrick, "Puerto Ricans", in: Themstrom (Hg), Harvard Encyclopedia, S. 858-867, hier S. 860.
Die Bedeutung, die New York als Zielort puertoricanischer Migranten einnahm, hatte mehrere Ursachen. Zunächst war die Stadt am besten zu erreichen, da fast alle Fährverbindungen sowie die ersten Fluglinien Puerto Rico mit New York verbanden. Zudem boten sich in New York die unterschiedlichsten Beschäftigungsmöglichkeiten an, und die Einwanderungsgesetze der 1920er Jahre eröffneten Positionen, die vorher häufig von europäischen Einwanderern ausgelullt worden waren. Je mehr Puertoricaner überdies in der Stadt lebten, desto mehr folgten ihnen. Diese Kettenmigration brachte den Neuankömmlingen einige Vorteile. Sie konnten auf die Unterstützung von bereits in New York ansässigen Verwandten oder Bekannten hoffen. Häufig wohnten sie zunächst bei ihnen, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatten, sofern sie nicht alleinstehend waren und als Untermieter blieben.125 Die Neuankömmlinge profitierten außerdem von den Informationen über Arbeitsmöglichkeiten, die sie von Familienangehörigen und Bekannten erhielten. Letztlich dürfte auch die Infrastruktur insgesamt ein wichtiger Aspekt gewesen sein. In Vierteln mit einer Konzentration von spanischsprachigen Einwohnern existierten Geschäfte, deren Inhaber ebenfalls Spanisch sprachen und die Produkte aus Lateinamerika verkauften. Spanischsprachige Zeitungen informierten ihre Leser nicht nur über die Ereignisse in der Stadt, sondern auch über das Geschehen in Lateinamerika und Spanien. Es entstanden Freizeitmöglichkeiten wie Theater und Kinos, die spanische Stücke bzw. Filme zeigten. Tanzabende mit karibischer Musik wurden ebenso veranstaltet wie Feierlichkeiten zu Festtagen in den Heimatländern. Dies alles führte zusammen mit der materiellen Situation der Puertoricaner zu ihrer Konzentration im östlichen Teil Harlems, einem für seine schlechten Wohnbedingungen bekannten Stadtteil. Seit den 1880er Jahren war East Harlem 125 Zur Einkommensmöglichkeit durch Untervermietung vgl. Sánchez Korrol, "Survival of Puerto Rican Women", S. 53f.
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zunehmend von italienischen Einwanderern geprägt worden, erst seit den 1930er Jahren begann sich der Einfluss der Puertoricaner verstärkt bemerkbar zu machen. Der italienischstämmigen Bevölkerung war es zu diesem Zeitpunkt gelungen, ihren Zwischenstatus in Bezug auf ihre Rassenzugehörigkeit fast vollkommen zu überwinden. Im Gegensatz zu ihrer Stellung als "non-white" noch in den 1920er Jahren, wurden sie jetzt als Weiße - und damit als Amerikaner - akzeptiert. Ein Aspekt in diesem Aufstieg in der Rassenhierarchie lag in der strikten Abgrenzung von Gruppen, denen abgesprochen wurde, den Weißen anzugehören. Diese Notwendigkeit, am eigenen Status keinen Zweifel aufkommen zu lassen, hatte zur Grenzziehung gegenüber den Neuankömmlingen in Harlem geführt und veranlasste die italienischstämmige Bevölkerung, sobald sie es sich finanziell leisten konnte, dem Viertel den Rücken zu kehren.126 Insofern führte also nicht nur die verstärkte Migration von Puertoricanern nach New York zur Ausbildung von Spanish Harlem, sondern ebenso die ausgeprägte Wohnsegregation der Stadtbevölkerung nach der Herkunft der jeweiligen Bewohner. Auch wenn Harlem seit den 1940er Jahren mit der spanischen Bezeichnung "el barrio" zum Inbegriff der puertoricanischstämmigen Gemeinde New Yorks wurde, so lebten Puertoricaner nicht nur dort. Daneben hatte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Ballungszentrum in Brooklyn herausgebildet, das lange erhalten blieb. In den frühen Zeiten der Migration stellte außerdem Chelsea einen Konzentrationspunkt dar, während Teile der Bronx erst seit dem Zweiten Weltkrieg zu puertoricanischen Vierteln wurden. Darüber hinaus existierten weitere kleinere Ballungszentren. Vor allem puertoricanischstämmige Angehörige der Mittelschicht lebten eher verteilt in besseren Stadtteilen.127 Die Ausbildung einer puertoricanischen Community bzw. einer Gemeinschaft der spanischsprachigen Gruppen128 zeigte sich auch in einem vielfaltigen Vereinsleben. Neuere Forschungsergebnisse widersprechen damit einem lange gehegten Vorurteil das ebenso wie Mexican Americans im Südwesten auch über Puertoricaner in New York bestand und sich bis in die historische und sozialwissenschaftliche Literatur fortsetzte. Danach bemühten sich Puertoricaner nicht um die Ausbildung von Organisationsstrukturen, die eine effektive Interessenar-
126 Vgl. Robert Orsi, "The Religious Boundaries of an Inbetween People: Street Fest and the Problem of the Dark-Skinned Other in Italian Harlem, 1920-1990", in: American Quarterly 44,3 (1992), S. 313-347. 127 Zur Verteilung der puertoricanischen Bevölkerung in Manhattan bis in die 1950er Jahre vgl. Robert T. Novak, "Distribution of Puerto Ricans on Manhattan Island", in: Geographical Review 46,2 (1956), S. 182-186. 128 Vgl. dazu Kapitel IV.2.b.
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tikulation und -durchsetzung möglich gemacht hätten. 129 Deshalb stünden sie den Problemen der Migration und Anpassung an die neue Umgebung hilflos gegenüber. Dieser vermeintliche Mangel an politisch-sozialer Organisation diente lange Zeit als eine Erklärung für ihre schlechte sozioökonomische Lage. Puertoricaner gelten heute als ärmste Gruppe innerhalb der Latinos in den USA. 1 3 0 Diese Argumentation war besonders virulent während der Zeit, als die Ursachen einer unvollständigen Integration von Einwanderern noch mehr oder weniger ausschließlich bei ihnen selbst gesucht wurden. 131 Die Behauptung, Puertoricaner verfugten über keine eigenen Interessenvertretungen, resultierte darüber hinaus aus der zeitgenössischen Ablehnung ihrer bestehenden Vereine und politischen Organisationen in N e w York. 132 Seit der Veröffentlichung der Erinnerungen Bemardo Vegas an sein Leben in N e w York ist die Frage der Organisierung puertoricanischer Migranten in der Stadt allerdings neu aufgegriffen worden. 133
129 Zu diesem Bild vgl. auch Kapitel V.2.b. Diese Interpretation ersetzte ältere in der Literatur zur Einwanderung, in der gerade die Organisation der Einwanderer in eigene Vereine unter Beibehaltung der eigenen Sprache und der eigenen Werte und Normen, soweit dies möglich war, als Ursache für die schlechte Integration und damit auch Armut galt. Fitzpatrick und Glazer/Moynihan vertreten die Auffassung, dass die mangelnde Organisation der Puertoricaner ein Problem sei. Joseph P. Fitzpatrick, "The Integration of Puerto Ricans", in: Thought 30 (1955), S. 402-420. Glazer, Moynihan, Beyond the Melting Pot, S. 87 und 102. 130 Gemessen am durchschnittlichen Familieneinkommen stellen Puertoricaner sowohl die ärmste Gruppe in New York dar als auch die ärmste von allen lateinamerikanischen Einwanderergruppen. Fitzpatrick, "Puerto Ricans", S. 862. 131 Diese Sichtweise hatte ihre Entsprechung in der Modernisierungstheorie, die die Unterentwicklung der Dritten Welt vor allem damit erkärte, dass der überwiegende Teil der jeweiligen Gesellschaften noch in traditionellen Lebensformen verhaftet sei. Als Zukunftsperspektive postulierte die Modemisierungstheorie die notwendige Anpassung der Dritten Welt an die Erste Welt, dann würde sich wirtschaftlicher Erfolg ebenso einstellen. 132 Carlos Rodriguez-Fraticelli, Carlos Sanabria, Amílcar Tirado, "Puerto Rican Non-Profit Organizations in New York City", in: Herman E. Gallegos, Michael O'Neill (Hg.), Hispanics and the Nonprofit Sector, New York 1991, S. 33-48, hier S. 39. 133 Bernardo Vega, Memorias de Bernardo Vega. Contribución a la historia de la comunidad puertorriqueña en Nueva York, hg. von César Andreu Iglesias, Rio Piedras 1977. Vega (1885-1965) kam 1918 nach New York, wo er lange als Zigarrendreher arbeitete und vor allem in der Gewerkschaftsbewegung und der sozialistischen Partei aktiv war. Er setzte sich außerdem für die Unabhängigkeit Puerto Ricos ein. Seine Erinnerungen schrieb er in den 1950er Jahren. Sie erschienen allerdings erst posthum und in überarbeiteter Form, wobei nicht klar ist, inwieweit Iglesias das Original veränderte. Vgl. Efraín Barradas, "How to Read Bernardo Vega", in: Carlos Antonio Torre, Hugo
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Entgegen der Fremdwahrnehmung von Puertoricanern als unorganisierter Gruppe entstanden bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts Vereine und Zusammenschlüsse, die ihr Augenmerk zunächst vor allem auf die politische Zukunft der Insel richteten. Mit der steigenden Einwanderung wuchs auch die Anzahl von Vereinen, deren Ausrichtung und Zielsetzung sich auffächerten. In Heimatvereinen, deren Zusammenhalt auf der lokalen Herkunft aus Puerto Rico basierte, kamen die Migranten zu sozialen Zwecken zusammen. In New York konstituierten sich diese Clubs ebenfalls lokal begrenzt auf der Ebene von Stadtvierteln.134 Neben den Heimatvereinen entstanden Organisationen auf der Grundlage von klassenspezifischen Interessen. Arbeiter bildeten Gewerkschaftsgruppen und Arbeiterhilfevereine. Freiberufler und Intellektuelle organisierten sich ebenso wie Händler und Geschäftsleute.135 Darüber hinaus setzten sich einige Organisationen in den frühen 1920er Jahren bereits zum Ziel, die puertoricanischen bzw. die spanischsprachigen Einwohner des gesamten Stadtgebiets zusammenzubringen, um ihre sozialen, kulturellen und politischen Bedürfnisse bzw. Interessen gemeinsam zu bedienen.136 Virginia Sánchez Korrol zählt in ihrer Studie insgesamt 35 Organisationen, deren Mitgliedschaft sich in dem Zeitraum von 1900-1940 aus puertoricanischen und spanischsprachigen Einwanderern und deren Nachkommen in New York zusammensetzte. Dabei handelt es sich jedoch nur um diejenigen Vereine, die sich offiziell bei den städtischen Behörden eintrugen.137 Schon eine kursorische Durchsicht von zwei Jahrgängen (1922 und 1923) der Zeitung La Prensa brachte die Namen von 13 weiteren Organisationen, die sich entweder an Puertoricaner oder an Hispanoamerikaner insgesamt richteten.138 Die genaue Zahl von puertoricanischen und Rodríguez Vecchini, William Burgos (Hg.), The Commuter Nation: Perspectives Puerto Rican Migration, Rio Piedras 1994, S. 313-328.
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134 Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 158. 135 Rodríguez-Fraticelli, Sanabria, Tirado, "Puerto Rican Non-Profit Organizations", S. 36 136 Vgl. dazu Kapitel IV.2.b. 137 Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 243-248. 138 D.h. Organisationen, die sich auf andere nationale Gruppen bezogen, sind hier nicht mitgezählt worden. Bei den Vereinen, die in La Prensa erwähnt werden, handelt es sich um folgende: Casino Iberoamericano (2.1.1922, S. 3), Logia Fraternidad Antillana (5.1.1922, S. 3), Club Latinoamericano (16.1.1922, S. 2), Sociedad Portorriqueña (2.2.1922, S. 4), Asociación Nacionalista Portorriqueña (2.2.1922, S. 1), Junta hispana de damas de San Vicente de Paúl (13.3.1922, S. 1), Asociación Hispanoamericana (12.12.1922, S. 1), Club Democrático Portorriqueño (24.4.1923, S. 1), Club Cívico Portorriqueño (15.8.1923, S. 1), Alianza Obrera Portorriqueña (18.8.1923, S. 1), Asociación Liberal Portorriqueña (ebd.), Puerto Rican Political Club (12.9.1923, S. 1), Puerto Rican Democratic Club de Chelsea (14.10.1923, S. 1).
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hispanischen Vereinen sowie den spanischsprachigen Untergruppen größerer Organisationen lässt sich vermutlich nicht ermitteln. Festhalten lässt sich allerdings, dass bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so viele Vereine und Zusammenschlüsse bestanden, dass sich die Behauptung, Puertoricaner hätten sich nicht organisiert, nicht aufrechtzuerhalten ist. Noch schwieriger als lediglich die Existenz von Organisationen festzustellen, gestaltet sich die Beantwortung der Frage, wie viele Mitglieder die Vereine jeweils hatten und wie viele Personen sie mit ihren zum Teil öffentlichen Veranstaltungen erreichten. Die wenigen Informationen über die Mitgliedschaft zeigen, dass zwischen den Vereinen sehr große Unterschiede bestanden. So berichtete der Präsident des Puerto Rican Democratic Club 1923 von 450 Mitgliedern, während die Asociación Liberal Portorriqueña lediglich 13 Mitglieder zählte.139 Politische Veranstaltungen von puertoricanischen Organisationen stießen teilweise auf ein immenses Interesse. 1923 berichtete La Prensa über die Teilnahme von mehreren tausend Menschen an einer Versammlung verschiedener Vereine, in der über deren Zusammenschluss diskutiert werden sollte.140 Was für die Anzahl der Mitglieder einzelner Vereine gilt, trifft noch stärker für deren sozialen Hintergrund zu, der häufig im Dunkeln bleibt. Immerhin lässt sich feststellen, dass die Organisierung insgesamt nicht auf bestimmte soziale Gruppen beschränkt war. Aufgrund der schwierigen Quellenlage und der bisher relativ wenigen Studien über die Puertoricaner in New York lässt sich keine Aussage darüber treffen, ob es bei der Bildung von Vereinen und der Mitgliedschaft einen langfristigen Wandel gab. Anzunehmen ist allerdings, dass mit wachsender Anzahl von Puertoricanern in der Stadt auch neue und mehr Vereine entstanden. Ob dies allerdings den Organisierungsgrad erhöhte, bliebe zu untersuchen. Bisher konzentrierte sich die Darstellung darauf, den Kontext und den quantitativen Umfang der puertoricanischen Migration nach New York darzustellen. Die Lebenssituation der Migranten und ihrer Nachkommen fand dagegen noch kaum Beachtung. Gerade die als positiv erscheinende Ausbildung der puertoricanischen Gemeinschaft in der Stadt, die in den letzten Jahren in der Literatur hervorgehoben wird, sollte nicht verdecken, dass Puertoricaner in New York vor allem in Slums leben mussten, da sie wenig verdienten und zwischen den 139 La Prensa, 20.8.1923, S. 2. An der Zahl der Mitglieder des Club Democrático Portorriqueño zeigt sich, dass die Demokratische Partei in New York für Puertoricaner die attraktivere Partei darstellte und dass sie auch recht erfolgreich in der Organisation der Puertoricaner war. Zu den Bemühungen der Parteien und einzelner Kandidaten, bei den Puertoricanern und Latinos Unterstützung zu finden vgl. Rosa Estades, Patterns of Political Participation of Puerto Ricans in New York City, Rio Piedras 1978, S. 29ff. 140 La Prensa, 20.8.1923, S. 1.
III. Einwanderung und sozioökonomische Lage
129
verschiedenen Bevölkerungsgruppen hohe soziale Barrieren bestanden. Seit den 1920er Jahren wohnten ca. 80% der puertoricanischstämmigen Bevölkerung New Yorks in Hartem.141 Der Stadtteil war trotz der "Harlem Renaissance", die ihn heute teilweise in einem romantischen Licht erscheinen lassen mag,142 durch die typischen Strukturen eines Slums geprägt. Die Bausubstanz war ausgesprochen schlecht, viele Vermieter ließen ihre Häuser mehr oder weniger verfallen. Die Zahl der Bewohner einer Wohnung war demgegenüber sehr hoch, oft mussten sich viele Familienmitglieder ein bis zwei Zimmer untereinander und gegebenenfalls mit ihren Untermietern teilen. Die städtische Infrastruktur wie Wasser- und Gasversorgung, Müllabfuhr, Straßenreinigung, öffentlicher Verkehr, aber auch Schulen oder gar Bibliotheken und die Gesundheitsversorgung waren hier wesentlich schlechter als in anderen Stadtvierteln. Die Bewohner Harlems - das trifft nicht nur für die Puertoricaner, sondern vor allem auch für die Afro-Amerikaner zu - fanden Beschäftigungen als ungelernte Arbeiter in der Industrie oder als Personal im Dienstleistungssektor. In beiden Bereichen arbeiteten sie vor allem in den schmutzigen, gefahrlichen, eintönigen und schlecht bezahlten Positionen. Nur wenige stiegen im Laufe der Zeit in bessere Stellungen auf. In Krisenzeiten erhielten sie dagegen als erste die Kündigung. Der Verdienst einer Person reichte häufig nicht für den Lebensunterhalt einer Familie aus. Deshalb mussten beide Elternteile und ältere Kinder versuchen, eine Arbeit zu finden. Für Familien entstand dann das Problem der Betreuung von kleineren Kindern.143 Dies führte zusammen mit den mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten dazu, dass viele Frauen Heimarbeit verrichteten. Der durchschnittliche Wochenlohn für Personen mit einem spanischen Nachnamen betrug vor der Weltwirtschaftskrise in New York 21 US-Dollar, der Stücklohn für die in Heimarbeit gefertigten Textilien lag noch darunter und zählte damit zu den niedrigsten Entlohnungen überhaupt.144 Nur relativ wenigen puer-
141 Fitzpatrick, Puerto Rican Americans, S. 53. 142 Zur Harlem Renaissance der 1920er Jahre, als der Stadtteil erstmals hauptsächlich von Afroamerikanern bewohnt war und dort eine ausgesprochen dynamische Kulturszene auflebte vgl. Nathan I. Huggins, Harlem Renaissance, New York 1971. David Levering Lewis, When Harlem Was in Vogue, New York 1981. Ann Douglas, Terrible Honesty: Mongrel Manhattan in the 1920s, New York 1995, S. 303ff. 143 Sánchez Korrol, "Survival of Puerto Rican Women", S. 50. 144 Ebd., S. 49f. Bei einer Beschäftigung das ganze Jahr über, ohne Unterbrechung hätte der Jahresverdienst bei einem Lohn von 21 US-Dollar die Woche insgesamt 1.092 USDollar betragen. Ein U-Bahnfahrer in New York konnte dagegen 1930 über ein Einkommen von 2.000 US-Dollar verfugen und verdiente selbst zwei Jahre später noch 1.200 US-Dollar jährlich. American Social History Project, Who Built America: Wor-
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toricanischen Einwohnern New Yorks gelang der Aufstieg in die Mittelschicht. Selbst wenn dies der Fall war, behielten die meisten eine vergleichsweise enge Bindung an die Community, da sie als Laden- und Restaurantbesitzer, Ärzte, Anwälte oder Apotheker dort ihre Kunden fanden.145 Die steigende Migration von Puertoricanern nach dem Zweiten Weltkrieg fiel weiterhin zusammen mit einer ebenfalls ansteigenden Anzahl von AfroAmerikanern, die aus dem Süden in die Städte des Nordostens zogen. Beide Gruppen konkurrierten in New York um Arbeitsplätze in der Industrie. Gleichzeitig begannen sich die Arbeitsmöglichkeiten in diesem Sektor aufgrund der verstärkt einsetzenden Mechanisierung zu verringern.146 Hinzu kam, dass seit den 1950er Jahren ein Prozess der Abwanderung der weißen Mittelschichtsangehörigen aus den Innenstädten einsetzte. Sie zogen in die rapide wachsenden Vorstädte, wohin ihnen häufig neue industrielle Betriebe folgen.147 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der überwiegende Teil der in New York lebenden Puertoricaner den Unterschichten angehörte und in einem der städtischen Slums wohnte. 1960 lebten in den USA 45 Millionen Menschen unter der amtlich definierten Armutsgrenze von einem Jahreseinkommen von 3.000 Dollar pro Familie. Die meisten Armen waren Afro-Amerikaner und Einwanderer aus der Karibik sowie Lateinamerika.148 Diese Sozialstruktur hat sich bis heute kaum verändert. Statistisch gesehen verfugen Puertoricaner über das geringste Durchschnittseinkommen und haben gleichzeitig den niedrigsten Bildungsstand aller Bevölkerungsgruppen in den USA.149 Durch die ausgeprägte Wohnsegregation entstanden in New York Milieus, die gleichermaßen von der Herkunft als auch der Klasse ihrer Bewohner geprägt waren. Die geteilten Lebensbedingungen erstreckten sich über die Arbeitssituation hinaus auch auf allgemeine "Lebenserfahrungen". Dieser Aspekt spielte bei der Ausbildung der kollektiven Identität von Puertoricanern in New York eine große Rolle.
king People and the Nation's Economy, Politics, Culture, and Society, Bd. 2, New York 1992, S. 325f. 145 Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 62fF. 146 Herbstein, Rituals, S. 33ff. 147 John Patrick Diggins, The Proud Decades: America in War and in Peace, 1941-1960, New York/London 1988, S. 181f. 148 Heideking, Geschichte, S. 376. 149 Fitzpatrick, "Puerto Ricans", S. 862. Thomas Sowell, Ethnic America: A History, New York 1981, S. 237.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft 1. Die Konstruktion der "mexikanischen Rasse" Die Frage "Hispanics: Race, Class, or Ethnicity?"1 im Titel eines Aufsatzes von Margarita Melville verweist auf die Unklarheiten, die in Bezug auf die genannten Kategorien in der US-amerikanischen Gesellschaft bestehen. Melville versucht zwar, eine grundsätzliche Antwort auf die Frage zu finden, sie übersieht dabei jedoch, dass die Antwort vom jeweiligen Untersuchungszeitraum abhängt. Hispanics - und als eine ihrer Untergruppen Mexican Americans - gelten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als ethnische Gruppe, obwohl besonders in den 1960er Jahren eine Selbstbeschreibung als "brown people" unter den Aktivisten der Chicano-Bewegung üblich wurde, die damit auf die zeitgenössische Unterscheidung von Rassen anhand der Hautfarbe zurückgriff. Im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als das Rassendenken und entsprechende Theorien den Diskurs in den Vereinigten Staaten beherrschten, wurden Mexikaner ebenso wie mexikanischstämmige US-Amerikaner jedoch als eigene Rasse zusammengefasst und vom Rest der Gesellschaft abgegrenzt. 1930 sollte diese Wahrnehmung ihren Höhepunkt in der Einführung einer neuen Rubrik im nationalen Zensus finden. Mexican Americans und Mexikaner, die vorher als Weiße gezählt wurden, fanden sich als "Mexicans" nun unter "other races" als eigene Kategorie wieder. Damit schlug sich die bereits lange bestehende, alltägliche Einordnung der Mexican Americans als nicht-weiß offiziell nieder. Diese Sichtweise der mexikanischstämmigen Bevölkerung als Angehörige einer der weißen unterlegenen Rasse beeinträchtigte deren Lebenschancen und den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sehr stark. Eine Fortfuhrung der Einteilung im nationalen Zensus hätte die soziale Grenzziehung auf nationaler Ebene offiziell festgeschrieben und weit reichende Konsequenzen gehabt. Aufgrund der politischen Entwicklung seit 1930 hatte sie jedoch keinen Bestand. In der Literatur zu Mexican Americans bzw. Chicanos wird der Rassismus der anglo-amerikanischen Bevölkerung immer wieder als Grund für die soziale Lage der Gruppe angeführt.2 Es gibt jedoch keine Studien, die sich mit der Kon1
Melville, "Hispanics". Montejano bemerkt ebenfalls, dass oft Unklarheit herrscht über die Frage, ob Mexican Americans eine Rasse oder eine ethnische Gruppe seien. Montejano, Anglos and Mexicans, S. 4.
2
Vgl. z.B. Acuna, Occupied America.
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struktion der "mexikanischen Rasse" beschäftigen. Der Rassismus wurde lange als Tatsache betrachtet, die keinem historischen Wandel unterlag. Er galt gleichsam als Konstante der US-amerikanischen Gesellschaft. Erst einige neuere Studien nehmen nicht nur die Ideengeschichte des Konzeptes "Rasse" in den Blick, sondern untersuchen die Konstruktion einzelner Rassen und deren weitere Entwicklung.3 Seit den späten 1970er Jahren gewannen im Zusammenhang mit der "new labor history" Konzepte an Bedeutung, die die soziale Stellung der Mexican Americans anhand der ökonomischen Struktur und Interessen der USamerikanischen Gesellschaft erklärten.4 Viele Autoren betonten nun, dass die Diskriminierung im Wesentlichen eine Funktion der Wirtschaftsstruktur und der Ausbeutung der Mexican Americans gewesen sei.5 Dass das kulturelle Feld, dem der Rassismus zuzurechnen ist, eine relative Autonomie gegenüber dem ökonomischen Feld hat und hier eine Dynamik zum Tragen kommt, die nicht vollkommen auf die Wirtschaftsstruktur reduziert werden kann, wird weitgehend außer Acht gelassen.6 Im Folgenden steht die Entwicklung des Rassendenkens in Bezug auf Mexican Americans im Mittelpunkt der Untersuchimg. In den USA diskutierten Politiker erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts über den Charakter der mexikanischen Bevölkerung, als mexikanische Gebiete den Westwärtsdrang einschränkten. Nach dem Krieg zwischen den USA und Mexiko (1846-1848) verschwand das Thema zunächst wieder aus der öffentlichen Debatte, erfuhr Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings neue Aktualität, als Gesetze zur Einschränkung der Einwanderung aus Süd- und Osteuropa zunächst breit diskutiert und dann erlassen wurden. Danach richtete sich das Interesse vieler Nativisten auf die mexikanische Immigration. Die Weltwirtschaftskrise verschärfte die Debatten weiter. Das Thema war nie auf akademische und politische Kreise beschränkt. Die Mexican Americans und Mexikaner wurden von den angloamerikanischen Bewohnern des Südwestens als "Fremde" oder "Andere" wahrgenommen und als Angehörige einer anderen Rasse ausgegrenzt.
3
Besonders anregend sind dabei die Studien zur Konstruktion der weißen Rasse. Sie wurde lange Zeit vernachlässigt, da die Vorstellung, einer Rasse gehören immer nur die Anderen an, auch in der Geschichtswissenschaft unhinterfragt blieb. Vgl. Roediger, Wages, Jacobson, Whiteness, Ignatiev, How the Irish became White. Vgl. dazu und zur Historisierung des Rassebegriffs und dem Wandel der Vorstellungen allgemein Kap. II. 1.
4
Barrera, Race and Class.
5
Montejano, Anglos and Mexicans; González, Labor and Community.
6
Zur relativen Autonomie von Feldern vgl. Bourdieu, "Sozialer Raum".
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
133
Nach der Untersuchung der Fremdwahrnehmung der mexikanischstämmigen Bevölkerung im Südwesten wird die Ausformung ihrer kollektiven Identität in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Für die Mexican Americans hatte die Kategorisierung als Rasse durch die weiße Bevölkerung schwerwiegende Konsequenzen. Sie mussten sich nicht nur mit einer entsprechenden Stigmatisierung auf der symbolischen Ebene auseinandersetzen, sondern auch mit der damit verbundenen gesellschaftlichen Position. Die soziale Grenze entlang der konstruierten biologischen Unterscheidung von rassischen Einheiten blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Mexican Americans, die angesichts der asymmetrischen Machtbeziehungen darauf reagieren mussten. a. Von "Indianern" und "Mongrels" zur "mexikanischen Rasse" Als in den Vereinigten Staaten während des Krieges mit Mexiko diskutiert wurde, ob das ganze Land erobert und den USA einverleibt werden sollte, spielte der Charakter der mexikanischen Bevölkerung eine bedeutende Rolle. Befürworter wie Gegner der imperialistischen Bestrebungen bezogen sich auf die Rassenzugehörigkeit der Mexikaner, ohne jedoch von einer "mexikanischen Rasse" zu sprechen. Die Einwohner des südlichen Nachbarn galten als Indianer oder Mischlinge verschiedener Rassen. Beide Kategorien stellten fur Anglos unüberwindbare Hindernisse für eine Assimilierung dar. Indianer galten als wild, auf der untersten Stufe der Zivilisation stehend. Mestizen hatten hingegen die schlechten Eigenschaften der Rassen ihrer Eltern geerbt, nicht jedoch die guten. Während die Imperialisten glaubten, dass es diesen Rassen nur gut täte, wenn sie unter die zivilisierte Regierung der USA gestellt würden,7 befürchteten die Gegner durch eine Integration der Mexikaner eine Destabilisierung der USamerikanischen Gesellschaft. Kurz vor dem Ende des Krieges formulierte Senator John C. Calhoun aus South Carolina diese Angst folgendermaßen: To incorporate Mexico [into the Union] would be the first instance of the kind of incorporating an Indian race; for more than half the Mexicans are Indians, and the other is composed chiefly of mixed tribes. I protest against such a union as that! Ours, Sirs, is the Government of a white race. The greatest misfortunes of Spanish America are to be traced to the fatal error of placing these colored races on an equality with the white race. That error destroyed the social arrangement which formed the basis of society.8
7
Horsman, Race and Manifest Destiny, S. 210.
8
The Congressional Globe, 30th Congress, 1st. session, 1848, S. 98-99. Zitiert nach David J. Weber, (Hg.) Foreigners in Their Native Land: Historical Roots of the Mexican Americans, Albuquerque 1973, S. 135.
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Die Gegner einer Einnahme ganz Mexikos setzten sich durch und die USA gaben sich 1848 im Vertrag von Guadalupe Hidalgo mit dem Rio Grande als neuer Grenze zufrieden.9 Der Vertrag übertrug den ehemaligen Mexikanern die US-Staatsbürgerschaft und erkannte sie damit implizit als Weiße an.10 Diese formelle Anerkennung setzte sich jedoch nur in Teilen durch. Der Status der mexikanischstämmigen Bevölkerung als weiß wurde nicht grundsätzlich akzeptiert. Vorstellungen, die auf die spanische Kolonialzeit zurückgingen, fanden teilweise Einzug in die Kategorisierung der mexikanischstämmigen Bevölkerung." Die Angehörigen der Oberschicht galten aufgrund ihres "spanischen Blutes" als weiß. Im Laufe der Zeit sollte sich jedoch zeigen, dass dieser Status nicht gesichert war. Die weit zurückreichende Konkurrenz zwischen Spanien und England bzw. den Vereinigten Staaten in Nordamerika und die anti-katholische Haltung vieler US-Amerikaner trugen zu Vorurteilen gegenüber Spaniern bei.12 Oft wurde gegen mexikanischstämmige Angehörige der Oberschicht ins Feld geführt, dass es schon während der Kolonialzeit zur Rassenvermischung gekommen sei, sie also keine reinen Spanier mehr seien. Immerhin erkannte die texanische Verfassung das Besitzrecht auf Land für "Spanish Mexicans" an, solange sie weder
9
Neben der genannten Vorstellung einer rassischen Überlegenheit der Angloamerikaner gab es noch weitere Gründe, die zur Ablehnung der Eroberung ganz Mexikos führten: Der Konflikt zwischen den Süd- und Nordstaaten begann sich bereits abzuzeichnen, und die Annexion Mexikos hätte zu seiner Verschärfung beigetragen. Viele Südstaatler glaubten außerdem, dass weite Regionen Mexikos sich nicht für eine Sklavenwirtschaft eigneten. Schließlich gab es Befürchtungen, dass die Eroberung Mexikos zu einem Guerrillakrieg führen würde. Ramón Eduardo Ruiz, "Race and National Destiny", in: Jaime E. Rodríguez O., Kathryn Vincent (Hg.), Common Border, Uncommon Paths: Race, Culture, and National Identity in U.S.-Mexican Relations, Wilmington, Del. 1997, S. 27-42, hier S. 36.
10
Zum Vertrag von Guadalupe Hidalgo vgl. Richard Griswold del Castillo, The Treaty of Guadalupe Hidalgo: A Legacy of Conflict, Norman 1990.
11
Das sogenannte sistema de castas, mit dem in Iberoamerika die gesellschaftliche Hierarchie gemeint war, unterschied folgende Bevölkerungsgruppen: Spanier, Kreolen (in Amerika geborene Spanier), Mestizen, Mulatten, Schwarze und Indianer. Je nach Region und Zeitraum wurden auch noch weitere Gruppen unterschieden. Die Bezeichnungen bezogen sich ursprünglich auf die Herkunft. Ein Mestize war zu Beginn der Kolonialzeit also jemand mit einem spanischen und einem indianischen Elternteil. Die Herkunft trat jedoch bald in den Hintergrund und Unterscheidungen wurden vor allem an kulturellen und sozialen Merkmalen festgemacht. Besonders zum Ende der Kolonialzeit waren die letztgenannten Kriterien für die Kategorisierung von Personen in dem sistema de castas entscheidend.
12
Zur antikatholischen Stimmung in den USA vgl. Billington, Protestant Crusade.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
135
indianische noch schwarze Vorfahren hatten.13 Ein entsprechender Beweis dürfte in vielen Fällen allerdings ausgesprochen schwierig beizubringen gewesen sein. Die in Mexiko getroffenen Statusunterschiede zwischen Mestizen und Indianern fanden dagegen keinen Einzug in das US-amerikanische Rassenschema. Angehörige der Unterschichten galten als Indianer oder Mischlinge, deren Eigenschaften zwar unterschiedlich bewertet wurden, jedoch ohne dass daraus eine Statusdifferenzierung folgte. Beide galten schlicht als minderwertig. In der Rassenhierarchie im Südwesten nahm dieser Teil der mexikanischstämmigen Bevölkerung eine Mittelposition zwischen Schwarzen und Weißen ein.14 Die Unterscheidung von Rassen bezog sich Mitte des 19. Jahrhunderts noch stark auf Kultur, Sprache und Nationalität. Häufig wurden als Merkmal der Differenz die Regierungsform und der Freiheitswille verschiedener Rassen angeführt. Vor allem in der Geschichtsschreibung und in politischen Schriften wurde "Rasse" als erklärende Kategorie herangezogen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand allerdings eine Verschiebung im Rassendenken statt. In den aufsteigenden Sozialwissenschaften wurden zunehmend biologische Konzepte der Evolutionstheorie und der Genetik auf die Menschheit und auf Gesellschaften angewandt. Rassenmerkmale nahmen die Bedeutung unveränderbarer Charakteristika an.15 Diese Tendenz in der akademischen Debatte ging einher mit dem Anwachsen nativistischer Strömungen. Die Ablehnung gegenüber Einwanderern zunächst aus Asien, dann aus Süd- und Osteuropa sowie Lateinamerika stützte sich auf deren vermeintliche biologische Unterlegenheit. Die Behauptung erblicher Minderwertigkeit bestritt, dass der "melting pot" weiterhin dem Wohle Amerikas dienen könne. Nur der Ausschluss der Immigranten - sozusagen das "biological engineering" der Gesellschaft - könne sie vor Schaden bewahren. Entsprechende Forderungen nach einer Begrenzung der Einwanderung "minderwertiger" Rassen erhielten immer stärkere Zustimmung. Der Kongress erließ entsprechende Gesetze in den Jahren 1917, 1921 und 1924. Diese Maßnahmen trafen allerdings vor allem Süd- und Osteuropäer der so genannten "new immigration". Mexikaner blieben davon weitgehend ausgenommen, da die Agroindustrie des Südwestens auf ein hinreichendes Arbeitskräftereservoir
13
Foley, The White Scourge, S. 19.
14
Vgl. Foley, The White Scourge, S. 19ff. Tomás Almaguer, Racial Fault Lines: The Historical Origins of White Supremacy in California, Berkeley 1994.
15
Vgl. Kap. II. 1.
Silke Hensel
136
drängte. Ihre verstärkte Einwanderung seit Beginn des 20. Jahrhunderts zog trotzdem die Aufmerksamkeit von Rassentheoretikern auf sich. In seinem Buch "Passing of the Great Race", das erstmals 1916 erschien und zu Beginn der 1920er Jahre große Popularität erlangte, vertrat Madison Grant die Auffassung, dass der "melting pot", den er biologisch verstand, nur auf eine Katastrophe hinauslaufen könne. Als Beispiel führte er an, dass die Mischlingsbevölkerung Mexikos nicht in der Lage sei, sich selbst zu regieren.16 Auch der Eugeniker Theodore Lothrop Stoddard, der stark beeinflusst war von Grants Schriften und dessen eigene Bücher weite Verbreitung fanden,17 befürchtete eine Verschlechterung des "racial stock", wenn immer mehr Angehörige minderwertiger Rassen in die USA kämen, da diese sich schneller vermehren würden als Weiße und außerdem eine Vermischung nicht zu vermeiden sei, wenn verschiedene Rassen nebeneinander lebten.18 Im Gegensatz zu anderen Intellektuellen, die Rassentheorien vertraten, sah Stoddard allerdings die größte Gefahr in der Ausbreitung der farbigen Rassen nicht nur in den USA, sondern weltweit. Mexikaner gehörten laut Stoddard nicht der "Latin" - und damit implizit der weißen - , sondern der roten Rasse an.19 Die wenigen Weißen, die es in Mexiko gegeben habe, seien nach der Unabhängigkeitsbewegung geflüchtet, zurück geblieben seien Kreolen20, die bereits durch das Klima und den Kontakt mit anderen Rassen einen "schlechteren" Charakter hätten.21 Zusätzlich sei es aber in Mexiko, anders als in den USA, zur Vermischung der verschiedenen dort lebenden Rassen und dadurch zu "grotesken" Mischungen gekommen. Stoddard traf 16
Madison Grant, The Passing of the Great Race, New York 1916, S. 80f. Die erste Auflage des Buches fand zunächst keine große Beachtung. Von zwei weiteren Auflagen von 1921 und 1923 wurden allerdings 16.000 Exemplare verkauft. Außerdem griffen viele große Zeitungen, wie die New York Times und die Saturday Evening Post, die Ideen auf und verbreiteten sie. Higham, Strangers, S. 271.
17
Vgl. Kap. IL 1.
18
Theodore Lothrop Stoddard, The Revolt Against Civilization: The Menace of the Under Man, New York 1923, S. 132.
19
Zur Idee der "lateinischen Rasse" und ihrer Rezeption vgl. Käthe Panick, La race latine. Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Bonn 1978. Frank Ibold, "Die Erfindung Lateinamerikas: Die Idee der latinité im Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Eigenwahmehmung des südlichen Amerika", in: Hans-Joachim König, Stefan Rinke (Hg.), Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika - USA - Europa in Geschichte und Gegenwart (Historamericana Bd. 6), Stuttgart 1998, S. 77-98.
20
Als Kreolen wurden in Amerika geborene Spanier bezeichnet.
21
Theodore Lothrop Stoddard, The Rising Tide of Color Against White World-Supremacy, New York 1920, S. 107.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
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eine Unterscheidung zwischen Indianern und Mestizen. Erstere hatten sich erobern lassen, was schon genug erkennen ließe, wogegen letztere zu gewalttätigen Ausbrüchen neigten, da in ihren Zellen zwei Erbanlagen gegeneinander kämpften.22 Diese Unterscheidung kam in seiner Beurteilung von Mexikanern allerdings nicht weiter zum Tragen. Sowohl die einen als auch die anderen seien unfähig, sich selbst zu regieren.23 Ein ähnliches Urteil fällte Wallace Thompson in seinem Buch "The Mexican Mind".24 Er sah Mexiko als ein Land, das von der "roten Rasse" beherrscht wurde. Zwar habe es seit der Unabhängigkeit im Porfiriat25 eine kurze Zeit gegeben, in der Mexiko zur Welt der Weißen gehört habe, aber mit der Revolution sei dies vorbei gewesen. Auch Thompson sah den Unterschied zwischen Rassen als erblich und beurteilte Mischungen als negativ. Interessanterweise gab es für ihn allerdings Ausnahmen. Porfirio Diaz selbst stufte er als Weißen ein, trotz dessen z.T. indianischer Herkunft, da er "by some stränge prank of heredity, a white man in mind and soul" wurde.26 Ansonsten beschrieb Thompson die Indianer Mexikos dem Klischee des Native American entsprechend: Sie seien blutrünstig, nähmen Skalps und würfen Tomahawks.27 Die Indianer wurden zwar von höher stehenden Zivilisationen erobert, hätten deshalb aber nicht ihren Charakter verändert. Sie stünden praktisch noch auf der gleichen Entwicklungsstufe wie zur Ankunft der Spanier und würden sich auch nicht verändern wollen. Ihr Ziel sei es, den Kommunismus - und zwar nicht den marxistischen, sondern den indianischen - wieder durchzusetzen. Dieser sei allerdings höchst verantwortungslos, da er den gemeinsamen Besitz von Land vorsehe. Dieser spezifische mexikanische Kommunismus führe dazu, dass die Indianer über keine persönliche Initiative verfügten und Personen huldigten.28 Diese Eigenschaften machten die "rote 22
Ebd., S. 120ff.
23
Zu der unauflöslichen Verbindung zwischen "weiß zu sein" und sich selbst regieren zu können, vgl. Jacobson, Whiteness.
24
Wallace Thompson, The Mexican Mind: A Study of National Psychology, Boston 1922.
25
Als Porfiriat wird die Regierungszeit von Porfirio Diaz 1876-1910 bezeichnet. Diaz führte ein autoritäres Regime und setzte weitreichende liberale Wirtschaftsmaßnahmen durch. Die Politik während dieser Zeit öffnete das Land für ausländische Investitionen. Der größte Teil des Kapitals kam aus den USA.
26
Thompson, The Mexican Mind, S. 3.
27
Abgesehen davon, dass Thompson hier das typische Bild eines Barbaren zeichnet, beweist er damit nicht gerade seine Kenntnis der verschiedenen indigenen Kulturen Mexikos.
28
Bei diesem Punkt handelte es sich wohl um einen Angriff auf die mexikanische Revolution und der revolutionären Forderung nach Landverteilung. Während in Mexiko so-
138
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Rasse" in den Augen von Thompson zum größten wissenschaftlichen Problem. Die insgesamt 15 Mio. Mexikaner sah er mehrheitlich als indianisch: 40 Prozent seien Indianer, hinzu kämen fast alle Mestizen, da von den 8 Millionen Angehörigen dieser Gruppe zwei Drittel physisch, mental und spirituell Indianer seien.29 Auch Glen E. Hoover sah die Mexikaner als mehrheitlich der indianischen Rasse angehörig, da die Mestizen physisch und mental den Indios näher kämen als den Weißen. Aufgrund dieser, wie er meinte, von Anthropologen und Eugenikern nachgewiesenen Tatsache kritisierte er die US-Regierung, die Mexikaner im Zensus als Weiße auflistete. Dabei war für ihn Indianisch-Sein gleichbedeutend mit Minderwertigkeit. Hoovers Meinung nach verfugten Mexikaner nicht über die europäische Zivilisation, da sie Tausende von Jahren hinterherhinkten. Er beschrieb Indianer als trunksüchtige Analphabeten, die zusätzlich illegitime Sexualbeziehungen hätten, da die meisten ihrer Kinder außerhalb der Ehe geboren würden.30 Mit dieser Charakterisierung behauptete Hoover implizit, Mexikaner würden nicht den US-amerikanischen Moralstandards entsprechen. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass Mexikaner die am wenigsten assimilierbare Gruppe in den Vereinigten Staaten seien. Dieser Umstand allein war in Hoovers Augen schon schlimm genug, aber er sah noch größere Gefahren für die USA. Auch er meinte, dass Immigration unweigerlich zur Rassenvermischung führe, und im Fall der Mexikaner würde eine solche Entwicklung den rassischen Grundstock des Landes gefährden.31 Obwohl die Anthropologie keine schlüssigen Beweise für biologisch dete Unterschiede zwischen den Rassen liefern konnte, waren sich die theoretiker einig über die Existenz solcher Differenzen.32 Mexikaner demzufolge eine Gefahr für die Gesellschaft der Vereinigten Staaten
begrünRassenstellten dar. Ihr
zialistische Vorstellungen seit Beginn der Revolution vermehrt Unterstützung fanden, herrschte in den USA in der Phase der Red Scare eine ausgeprägte Ablehnung gegenüber sozialistischen und kommunistischen Ideen. Vertreter entsprechender Ideen wurden als Radikale angegriffen und verfolgt. Zur so genannten Red Scare nach dem Ersten Weltkrieg vgl. O'Leaiy, To Die For, S. 242ff. Vgl. auch Donald Johnson, The Challenge to American Freedoms: World War I and the Rise of the American Civil Liberties Union, Lexington, KY 1963. 29
Thompson, The Mexican Mind, S. 5fF.
30
Die illegitime Geburtenrate war zwar in Mexiko höher als in den USA, der von Hoover behauptete Anteil von 70% lag jedoch weit über der tatsächlichen Zahl. Vgl. Woodrow Borah, Sherburne Cook, "Marriage and Legitimacy in Mexican Culture, Mexico and California", in: California Law Review 54 (1966), S. 946-1008.
31
Glen E. Hoover, "Our Mexican Immigrants", in: Foreign Affairs 8 (1929/30), S. 99-107.
32
Zu den verschiedenen Methoden, mit denen Anthropologen Rassenunterschiede zu messen versuchten, vgl. Kap. II.l.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
139
Blut und ihre Gene machten sie zu minderwertigen Geschöpfen, die zur Freiheit und Selbstregierung nicht in der Lage waren.33 Dies zeigte sich auch in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage, deren Ursache nicht in der Gesellschaftsstruktur zu suchen war, sondern in den angenommenen Defiziten der mexikanischen Rasse. Ähnliche Argumente bestimmten die Debatten zur Einwanderungsbeschränkung im US-Kongress, die sich zunächst vor allem auf Immigranten aus Europa bezogen. Eugeniker und Rassentheoretiker gewannen hier erheblich an Einfluss. 1907 setzte der Kongress eine Expertenkommission zur Untersuchung der Einwanderungsproblematik ein. Diese Kommission, oft nach ihrem Vorsitzenden William P. Dillingham benannt, legte 1911 einen voluminösen Bericht vor.34 Darin behaupteten die Verfasser zwar, Rassen als linguistische Gruppen zu verstehen, sofern nicht die Großeinteilung der Menschheit in die fünf Rassen Blumenbachs (Kaukasier, Mongolen, Äthiopier, Malaien und Amerikaner) gemeint sei. Tatsächlich fanden sie aber zwischen den Rassen physische Unterschiede, die mit Differenzen im Charakter, der Moral und der Intelligenz einhergingen.35 Die unklare Definition von Rassen in dem Bericht zeigte sich auch in Bezug auf Mexikaner. Sie wurden einerseits als Rasse bezeichnet, andererseits schien hier noch das alte Bild verschiedener Rassen innerhalb der mexikanischen Bevölkerung durch. Als Mexikaner galt, wer nicht eindeutig Schwarzer oder Indianer war. Die so Definierten machten dem Bericht zufolge ca. 20% der mexikanischen Bevölkerung aus, ihre Sprache und Kultur war spanisch. Diese Definition erklärte Mexikaner zwar zu Weißen, gleichzeitig schloss sie jedoch den größten Teil der mexikanischen Bevölkerung von diesem Status aus.36 Nichtsdestotrotz fasste der Bericht in seiner Beurteilung die mexikanischen Einwanderer alle unter dem Begriff der "Mexican race" zusammen und hielt ihre Anwesenheit angesichts des hohen Arbeitskräftebedarfs für notwendig. Wünschenswert schienen der Kommission Mexikaner jedoch lediglich in der Funkti33
Thompson schrieb, nur die Weißen hätten die Freiheit im Blut. Thompson, The Mexican Mind, S. 1.
34
United States. Congress, ölst Congress, 3rd session, House of Represantatives, Document no. 662, Reports of the Immigration Commission, 42 Bde., Washington, D.C., 1911.
35
Zur Beurteilung der Dillingham Commission vgl. Jacobson, Whiteness, S. 78fF. Zu einer anderen Einschätzung gelangt Adams, der meint, dass der Dillingham Bericht nicht rassistisch gewesen sei. Adams, "The Melting Pot", S. 222.
36
United States. Congress, ölst Congress, 3rd session, Senate, Document no. 747, Abstracts of Reports of the Immigration Commission, Bd. 1, Washington, D.C., 1911, S. 256f.
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on als Arbeitskräfte, als Staatsbürger wurden sie hingegen mit der Begründung ihrer geringen Intelligenz und ihrem mangelnden Erfolgsstreben abgelehnt. Deshalb betrachtete die Kommission Mexikaner auch als gar nicht oder nur sehr schwer assimilierbar.37 In den Debatten der folgenden Jahre um die Beschränkung der Einwanderung gewannen Rassentheoretiker weiter an Einfluss. Die 1894 gegründete Immigration Restriction League trat mit einer rassistischen Ideologie gegen Einwanderung ein.38 Sie stützte sich zunächst auf die Forderung, Analphabeten auszuschließen, legte ihren Schwerpunkt aber immer stärker auf eugenische Argumentationen. Ein Mitglied der Organisation, Henry Cabot Lodge, war als Abgeordneter von Massachusetts im Kongress und agierte dort als einer der aktivsten Befürworter von Einwanderungsbeschränkungen.39 Der Republikaner Albert Johnson, Abgeordneter für den Bundesstaat Washington, wurde 1919 Vorsitzender des House Committee on Immigration and Naturalization. Er hing den Theorien der Eugeniker an und führte im Kongress die Kampagne zur Einwanderungsbeschränkung an. Besonders beeindruckt zeigte sich Johnson von Madison Grant's "The Passing of the Great Race". In der Frage der Ausgestaltung von Einwanderungsgesetzen holte er sich deshalb mehrfach Rat bei Grant. Seine Verbindung zu Eugenikern wird weiterhin an seiner Wahl zum Präsidenten der Eugenics Research Association 1923 deutlich.40 In den Anhörungen zur Einwanderung vor dem House Committee on Immigration and Naturalization in den 1920er Jahren übte weiterhin der Eugeniker Harry H. Laughlin großen Einfluss aus. Er stand in enger Verbindung mit Charles Davenport, dem Direktor des Eugenics Record Office,41 Laughlin wurde von dem Committee als Experte 37
Ebd., S. 683 und 690. Vgl. auch Weber (Hg.), Foreigners in Their Native Land, S. 224.
38
Zur Gründung der Immigration Restriction League vgl. Higham, Strangers in the Land, S. 102f.
39
Roger Daniels, Not Like Us: Immigrants and Minorities in America, 1890-1924, Chicago 1997, S. 43. Zu den rassistischen Vorstellungen von Lodge vgl. auch Gossett, Race, S. 115ff.
40
Gossett, Race, S. 405f. Higham, Strangers, S. 313f. Johnson glaubte, dass das Einwanderungsgesetz von 1924 nicht ausreichte, da es die mexikanische Immigration nicht unterband. Er befürchtete neben dem "Rassenproblem" der Schwarzen, dass die USA immer haben würden, ein weiteres im Südwesten des Landes, wenn Mexikaner nicht von der Einwanderung ausgeschlossen würden. Albert Johnson, "The Opponents of Restricted Immigration", in: Madison Grant, Stewart Davidson (Hg.), The Alien in Our Midst or 'Selling the Birthrightfor a Mess ofPottage', New York 1930, S. 9-12.
41
Das Eugenics Record Office in Cold Springs Habor, Long Island, wurde 1904 mit Geldern der Carnegie Institution zur Erforschung der Evolution gegründet. Vgl. dazu Gossett, Race, S. 401f und Jacobson, Whiteness, S. 78.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
141
berufen und vertrat die These, dass die Ursache sozialer Unzulänglichkeiten vor allem in rassischer Degeneration zu suchen seien.42 Glichen sich auch die Sichtweisen der Eugeniker über die sogenannten "neuen Einwanderer" und die Mexikaner, so bestand in den Debatten um deren Einlass in die Vereinigten Staaten doch ein Unterschied: Während es keine starke Lobby für die "minderwertigen weißen Rassen" aus Europa gab, setzte sich die Agroindustrie des Südwestens für den ungehinderten Zuzug von Mexikanern ein. Hinter den Positionen der Gegner sowie der Befürworter mexikanischer Einwanderung standen ökonomische Interessen,43 allerdings spielte auch die Rassenfrage immer eine wichtige Rolle. 1928 brachten der Abgeordnete John C. Box aus Texas und einige Senatoren in den jeweiligen Kammern Gesetzesvorlagen ein, die vorsahen, Mexikaner in das 1924 etablierte Quotensystem für Einwanderer nach den Herkunftsländern einzubeziehen. Box wollte Texas als "white man's country" erhalten. Die Mexikaner beschrieb er als "mongrel race", Mischlinge: The Mexican peon is a mixture of Mediterranean-blooded Spanish peasant with low-grade Indians who did not fight to extinction but submitted and multiplied as serfs. Into that was fused much negro slave blood. This blend of low-grade Spaniard peonized Indian, and negro slave mixed with negroes, mulattoes, and other mongrels, and some sorry whites, already here. The prevention of such mongrelization and the degradation it causes [is] one of the purposes of our laws which the admission of these people will tend to defeat.44
Befürworter der Gesetzesinitiativen bezogen sich immer auf die Gefahren, die eine weitere ungehinderte Einwanderung von Angehörigen der mexikanischen Rasse nach sich ziehen würde. So kam z.B. Edward H. Dowell, Vertreter der California State Federation of Labor, in seiner Stellungnahme vor dem Senatsausschuss zur Immigration nicht umhin, das Bild eines vollkommen veränderten Amerikas zu malen, falls Mexikaner weiterhin die Grenze passieren dürften. Zunächst erläuterte er die Probleme für weiße Arbeiter und die Kommunen in Kalifornien. Mexikaner arbeiteten für so geringes Entgelt, dass sie den amerikanischen Lebensstandard senkten. Darüber hinaus wurden sie oft zu Sozialfallen und belasteten damit die öffentlichen und privaten Wohlfahrtsinstitutionen. Das schien Dowell jedoch als Argument für die Beschränkung der mexikanischen Einwanderung noch nicht auszureichen. Er beschrieb die Vereinigten Staaten als ein noch weitgehend unbevölkertes Land und fragte dann: 42
Ebd., S. 82.
43
Vgl.dazuKap.III.l.
44
United States. Congress. Congressional Record, 70th Congress, 1st session, Washington, D.C. 1928, S. 2965.
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Do you want the kind of people that sit in this Capitol, or that you have in the North or Middle West, or do you want a mongrel population consisting largely of Mexicans and orientals?...A country...is the people in it...Then again, when we take these people who make up a country, we must draw a line of distinction and demarcation.45
Dowell sah weiterhin den Bestand der Vereinigten Staaten selbst gefährdet: We must have working people here of our own kind and color, because all the lessons of history have taught us this inexorable fact, that a people or a nation that can not or will not do its own menial or manual work is doomed, it is gone...46
Dowells Worte zeigen gleichzeitig, wie gut einerseits die Konstruktion einer rassischen Identität in dieser Zeit griff und wie sie andererseits ständig erneuert wurde. Der Gewerkschafter sah keinen Unterschied zwischen den Senatoren und Abgeordneten der kalifornischen Legislative und einfachen Arbeitern, solange sie nur der gleichen Rasse angehörten. Um so stärker wogen hingegen die Unterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Rassen. Mexikaner und "Orientalen" mussten deshalb ausgegrenzt werden.47 Inwiefern Unterschiede zum Tragen kamen, war dabei ganz unerheblich. Es reichte aus, dass die Anderen anders oder fremd waren, um sie aus der Gemeinschaft auszuschließen.48 Die eigene Rasse behandelte Dowell wiederum als organische Einheit, wenn er vor dem drohenden Untergang warnte, der sich aus einem Verlust der Autarkie ergeben würde. Der vorherrschende Diskurs über die Rassen der Menschheit zeigte sich auch bei den Gegnern der Gesetzesvorlagen. Viele stimmten mit den Befürwortern darin überein, dass Mexikaner einer minderwertigen Rasse angehörten. Sie meinten jedoch, dass gerade deswegen kein Grund zur Unruhe bestünde, denn die weiße Rasse sei noch von keiner anderen verdrängt worden.49 Die Literatur greift fast ausschließlich auf diese Aussagen zurück und vermittelt damit das Bild eines einheitlichen Rassismus.50 Tatsächlich gab es allerdings Verteidiger einer ungehinderten Einwanderung, die die rassischen Qualitäten der Mexikaner 45
United States. Congress. Senate. 70th Congress, 1st session, Hearings Before the Committee on Immigration, Washington, D.C. 1928, S. 12. Reisler zitiert ebenfalls aus der Stellungnahme Dowells. Reisler, By the Sweat, S. 173.
46
Ebd.
47
Hier wird die soziale Grenzziehung als konstitutives Merkmal von ethnischen Gruppenbildungsprozessen deutlich. Barth, Ethnic Groups.
48
Zur Funktion von Fremdheit als Akt der Ausgrenzung vgl. Herfried, Ladwig, "Dimensionen der Fremdheit", S. 17f.
49
Vgl. Montejano, Anglos and Mexicans, S. 187.
50
Vgl. z.B. Gutiérrez, Walls and Minors, S. 51 -56.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
143
hervorhoben. Der texanische Abgeordnete John N. Garner traf z.B. noch die alte Unterscheidung zwischen "high type"-Mexikanem und dem minderwertigen Rest. In der Anhörung vor dem Senatsausschuss betonte er nicht nur, dass die mexikanischen Arbeitskräfte eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellten, sondern bestritt mit seinen Bemerkungen zu den alteingesessenen mexikanischstämmigen Familien, in die viele Angloamerikaner eingeheiratet hatten, und seiner Erwähnung von Zavala als texanischem Helden eine generelle Minderwertigkeit von Mexikanern gegenüber Weißen.51 Auf die Frage, ob er die Mexikaner ebenso einstufen würde wie "a clean sort of a negroe [sie!]", antwortete Garner, dass sie sich von den Schwarzen extrem unterscheiden würden.52 In dieser letzten Aussage kommt die Mittelposition, die Mexikanern in der Rassenhierarchie zugeschrieben wurde, deutlich zum Ausdruck. Sie zeigt außerdem, dass auch Garner trotz der Verteidigung der mexikanischen Rasse natürlich an ihre untergeordnete Stellung gegenüber den Weißen glaubte, dies aber nicht eigens erwähnenswert fand. Zwei weitere Aussagen vor der Kommission zeichneten ein eher positives Bild von Mexikanern. Der Farmer und Rancher Fred H. Bixby aus Kalifornien lobte die mexikanischen Arbeitskräfte, die er auf seinen Besitzungen beschäftigte, als loyale, gute Arbeiter, die oft besser waren als Weiße. Bixby's Darstellung zufolge verrichteten alle seine mexikanischstämmigen und weißen Arbeiter nicht nur die anfallenden Aufgaben zusammen, sie aßen auch am gleichen Tisch und verbrachten ihre Freizeit gemeinsam. Wenn dies wirklich zutraf, waren diese Verhältnisse allein schon höchst bemerkenswert. Bixby behauptete sogar, dass er jedem Weißen, der sich über die Zusammenarbeit mit Mexikanern beschwerte, kündigen würde.53 Auch der texanische Geschäftsmann Ed P. Lassiter, der in der Viehzucht, der Herstellung von Milchprodukten und im Handel sowie im Immobilienbereich tätig war, lobte die Mexikaner. Er legte dar, dass die Produkte, die z.B. in seinen Molkereien von Mexikanern hergestellt wurden, nicht so hochwertig hätten sein können, wenn die üblichen negativen Beschreibungen von Mexikanern zutreffend wären. Lassiters Meinung nach waren Mexikaner keineswegs minderwertig, weshalb sich auch ein Einwanderungsstopp nicht rechtfertigen ließe.54 51
United States. Congress. Senate. 70th Congress, 1st session, Hearings Before the Committee on Immigration, Washington, D.C. 1928, S. 23. Lorenzo de Zavala war einer der Unterzeichner der texanischen Unabhängigkeitserklärung von 1836.
52
Ebd., S. 23f.
53
Ebd., S. 27ff.
54
Ebd., S. 32ff.
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Diese Aussagen mögen durch das Bestreben der Zeugen, die Einwanderungsgesetze zu verhindern, motiviert gewesen sein. Die relativ positive Bewertung muss deshalb mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden, sie allerdings einfach als ausschließlich interessegeleitet zu beurteilen, wie dies in der Literatur häufig geschieht,55 scheint nicht gerechtfertigt. Es gab genügend Stellungnahmen vor dem Kongress, die zwar für eine ungehinderte Immigration der Mexikaner sprachen, aber trotzdem krasse rassistische Einstellungen vertraten. Beide Haltungen schlössen einander keineswegs aus. Bei genauerer Betrachtung ordnen sich selbst die relativ positiven Ansichten über die Merkmale der mexikanischen Rasse in den Diskurs ein, der auf klaren Vorstellungen zu deren untergeordneter Stellung basierte. Der Abgeordnete Garner griff auf alte Bilder zurück, wenn er die Angehörigen der mexikanischstämmigen Mittel- bzw. Oberschicht als den Weißen ebenbürtig bezeichnete. Garner stammte aus dem Süden Texas, wo sich diese Bilder angesichts des hohen Anteils mexikanischstämmiger Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung am längsten hielten. In den anderen beiden Stellungnahmen wird die tief sitzende, verinnerlichte Vorstellung der Rassenhierarchie gerade deswegen deutlich, weil die Unterlegenheit der Mexikaner zwar bestritten wurde, sie aber niemand mit Weißen auf eine Stufe stellte. Bixby verglich sie stattdessen mit den Schwarzen und behauptete, Mexikaner seien besser, da sie sich nicht an weißen Frauen vergreifen würden. Dies war ein gängiges Bild über beide darin angesprochenen Gruppen.56 Bixby beschrieb seine mexikanischen Arbeiter weiter als Männer, die ihnen übertragene Aufgaben immer ausführten und sich absolut loyal verhielten. Diese Beschreibung war nicht weit entfernt vom Stereotyp des peon, der willenlos und ohne eigene Initiative den Befehlen anderer gehorchte. Den in seiner Darstellung zunächst erweckten Anschein, dass Bixby Weiße und Mexikaner womöglich als gleich ansah, revidierte er mit diesen Einschätzungen eindeutig. Lassiter wiederum wandte sich gegen die Behauptung, Mexikaner gehörten einer gemischten Rasse an, und bezeichnete sie stattdessen als reine Indianer vom Stamme der Azteken. Nun stellten aber Indianer insgesamt - unabhängig von ihrer Herkunft und von ihrer Gesellschaftsform vor der europäischen Expansion - zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten nicht gerade eine Gruppe dar, die von der Einordnung in das Rassenschema und einer entsprechenden Geringschätzung verschont geblieben wären. Lassiter dürfte mit dieser Aussage keinen der Gegner der mexikanischen Immigration davon überzeugt haben, dass Mexi-
55
Vgl. z.B. Reisler, By the Sweat, S. 128f.
56
Siehe dazu weiter unten.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
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kaner nicht minderwertig waren. Es ist kaum anzunehmen, dass ihm dies nicht bewusst war. Die variierenden Aussagen der verschiedenen Zeugen spiegelten in gewisser Weise den diffusen Charakter des Rassenkonzeptes wider. Unter Wissenschaftlern und Laien gleichermaßen bestand keine Einigkeit darüber, was eine Rasse genau ausmachte, welche Eigenschaften zur Einteilung der Menschheit herangezogen werden konnten und wieviele Rassen es gab. Nichtsdestotrotz hegte kaum jemand Zweifel daran, dass Rassen eine große - wenn nicht gar die größte - Bedeutung in der Geschichte der Menschheit zukam. Weiterhin bezweifelte kaum jemand der sich selbst den Weißen oder Angelsachsen zugehörig Fühlenden, dass die eigene Rasse die beste und wertvollste darstellte.57 Die Gesetzesinitiative von John C. Box erhielt breite Zustimmung in der Bevölkerung. Viele schrieben ihm persönlich, andere richteten ihre Unterstützungsbekundungen an die Regierung. In den Briefen wird der geforderte Ausschluss von Mexikanern aus den USA immer mit ihrer Rassenzugehörigkeit begründet. Dabei zeigt sich z.T. der direkte Einfluss rassentheoretischer Schriften auf die Vorstellungen deijenigen, die sich gegen die mexikanische Immigration wandten. E.E. Davis, Direktor des North Texas Agricultural College in Arlington, empfahl Box, die Bücher von Theodore Lothrop Stoddard, da sie seiner Meinung nach die beste wissenschaftliche Begründung lieferten, um die "lower races of humanity" von der Einwanderung auszuschließen.58 Andere nahmen einen Artikel von Roy L. Garis, Wirtschaftsprofessor an der Vanderbilt University, in der Saturday Evening Post zum Anlass, ihre Abscheu gegenüber den Mexikanern zum Ausdruck zu bringen und rigorose Einwanderungsbeschränkungen zu fordern.59 In den meisten Fällen kommen in den Schreiben aber alltägliche Vorstellungen zum Ausdruck, in denen verschiedene Aspekte miteinander vermischt sind. Besonders während der Weltwirtschaftskrise sahen viele der Absender ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme als eine Folge der mexikanischen Einwanderung. Viele Arbeiter oder ihre Frauen wandten sich an den Präsidenten, um ihre Probleme bei der Arbeitssuche darzustellen und für die Einwanderungsbeschränkung zu plädieren. Keiner der Briefe versäumte es, die Bereitschaft der Mexikaner, für sehr niedrige Löhne zu arbeiten, anzuklagen. Obwohl der
57
Zu den Rassenvorstellungen vgl. Kap. II. 1.
58
E.E. Davis an John C. Box, 24.2.1928. Abschrift des Briefes in Oliver Douglas Weeks Collection, LULAC Archives, Benson Latin American Collection, University of Texas at Austin, box 2, folder 8.
59
NARA.RG 85, 55639/616.
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Schweipunkt dieser Briefe auf der wirtschaftlichen Situation lag, zeigen sich auch hier implizit Vorurteile gegenüber Mexikanern. Die weißen Arbeiter seien schlicht nicht in der Lage, von so geringen Löhnen zu leben wie die mexikanischen Konkurrenten. Nellie Alexander aus Oakland, Kalifornien, stellte dies folgendermaßen dar: "But they [the big companies and corporations, S.H.] are not willing to pay a living wage (that is a living wage for white people) or provide living quarters fit for human beings to live in."60 Obwohl ihr Vorwurf sich zunächst gegen die Unternehmer richtete, schloss sie doch eine wichtige Unterscheidung zwischen weißen und mexikanischen Arbeitern ein. Für sie war klar, dass Mexikaner von Löhnen leben konnten, die keines weißen Arbeiters würdig waren, und gar in Camps wohnten, in denen Bedingungen herrschten, die kein Mensch hätte ertragen können. Sie rückte Mexikaner deshalb in die Nähe von Tieren. Nellie Alexanders Ansicht stellte keineswegs einen Einzelfall dar, sie war vielmehr die Norm. Die gleichen Ansichten finden sich in fast allen Briefen von Arbeitern, die eine Konkurrenz der mexikanischen Einwanderer befürchteten.61 Daneben finden sich Anspielungen auf andere vermeintliche Eigenschaften der Mexikaner. So behauptete z.B. N.T. Elliot, Mexikaner seien schlicht nicht Manns genug, um von den Arbeitgebern höhere Löhne zu fordern.62 Der American Standard of Living bzw. "white man's wages" spielten in den gegen Mexikaner vorgebrachten Argumenten häufig eine zentrale Rolle. Der Lebensstandard war dabei nicht etwa abhängig von der Höhe der Löhne und ihrer Kaufkraft. Er erschien vielmehr als Eigenschaft, über die Angloamerikaner verfugten, während Angehörige minderwertiger Rassen, wie z.B. Mexikaner, sie nicht hatten. Das Konzept des American Standard of Living entstand im späten 19. Jahrhundert als man die wachsende lohnabhängige Arbeiterschaft in einer solchen Form des Arbeitsverhältnisses nicht mehr als Sklaverei ansah, sondern die Unterscheidung zwischen Freiheit und Sklaverei jetzt am Konsum festmachte. Eine quantitative Festlegung des American Standard of Living fand nie statt,63 was seine Verbindung mit rassistischen Ideen wesentlich erleichterte. Der American Standard of Living entsprach eben genau dem Konsumverhalten derjenigen, die sich als echte Amerikaner verstanden. Wer nicht in der Lage war, ebensoviel zu konsumieren, wurde nicht etwa bedauert, sondern beschuldigt, fur die weiße Arbeiterschaft eine Konkurrenz darzustellen, der sie nicht gewachsen 60
Nellie Alexander an Präsident Hoover, 1.10.1929, in NARA, RG 85, 55639/616.
61
Vgl. ebd., passim.
62
N.T. Elliot aus Glendale, Kalifornien, an Präsident Hoover, 4.3.1929, in ebd.
63
Glickman, "Inventing".
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war, da es Weißen eben nicht möglich war, von so wenig zu leben. Der American Standard of Living bezeichnete nicht nur eine Eigenschaft, sondern darüber hinaus eine Tugend. Die vage Vorstellung des Standards führte weiter dazu, dass nicht nur die Menge des Konsums, sondern auch die Frage, was konsumiert wurde, ganz entscheidend für die Definition weißer Arbeiter gegenüber den Angehörigen anderer Rassen wurde. So kritisierten viele z.B. bei Mexikanern, dass diese allein von Tortillas und Bohnen leben würden. Unter den Gegnern der Einwanderung aus Mexiko befanden sich keineswegs nur Arbeiter, auch kleinere und mittlere Geschäftsleute klagten über ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten. So meinte H.W. Jenkins, ein Holz- und Eisenwarenhändler aus Texas, dass seine eigenen Probleme ebenso wie die der Vereinigten Staaten der Immigration geschuldet seien: "Foreign immigration is breaking down American ideals. Everything is trying to go to massproduction or chain distribution into a few people's hands. ... Admit all the Mexicans and a great mistake will be made."64 Diese Einschätzung erscheint auf den ersten Blick ziemlich unlogisch, da eine Umstellung auf Massenproduktion nicht unbedingt einen erhöhten Bedarf an Arbeitskräften nach sich zieht. Eine Betrachtung der damaligen Wirtschaftsstruktur macht Jenkins Gedankengang allerdings nachvollziehbar.65 Der Konzentrationsprozess, der sich im Südwesten vor allem in der Landwirtschaft, aber auch in anderen Bereichen bemerkbar machte, führte dazu, dass große Unternehmen Lohnarbeiter benötigten. Sie konnten billiger produzieren und deshalb in der Landwirtschaft kleine Farmer und Pächter sowie in anderen Bereichen Handwerker und kleine und mittlere Händler verdrängen. Da die Lohnarbeiter häufig aus Immigrantenkreisen rekrutiert wurden, stellte Jenkins hier einen Zusammenhang her. Während die letztgenannten Aussagen über Mexikaner in einer Situation wirtschaftlichen Niedergangs entstanden und die eigene Notsituation bei vielen sicherlich die anti-mexikanische Einstellung verschärfte, zeigen die Interviewprotokolle von Paul S. Taylor aus den späten 1920er Jahren, wie tief das Rassendenken und die Stereotypen über Mexikaner im Südwesten auch bei denjenigen
64
H.W. Jenkins an die Immigration Commission, 8.2.1930, in NARA, RG 85, 55639/616.
65
Es gab bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts in den Gewerkschaften eine starke Tendenz, die negativen Folgen von Technisierung und Monopolisierung der Wirtschaft den Immigranten aus Europa anzulasten. Vgl. dazu Catherine Collomp, "Unions, Civics, and National Identity: Organized Labor's Reaction to Immigration, 1881-1897", in: Marianne Debouzy (Hg.), In the Shadow of the Statue of Liberty: Immigrants, Workers, and Citizens in the American Republic, 1880- 1920, Urbana/Chicago 1992, S. 229- 256, hier S. 235.
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verwurzelt waren, die ihren eigenen Wohlstand in Abhängigkeit von einer ungehinderten und ungeminderten mexikanischen Einwanderung sahen. Taylor war Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of California in Berkeley und führte intensive Studien zu mexikanischen Arbeitern in den USA durch. Für seine Forschungen legte er besonderen Wert auf Feldstudien und unternahm selbst umfangreiche Reisen durch die Region, auf denen er zahlreiche Interviews führte. Taylor befragte vor allem Angloamerikaner zu ihrer Meinung über Mexikaner und Mexican Americans. Er sprach mit Angestellten der lokalen landwirtschaftlichen Agenturen, Arbeitsvermittlern und Arbeitgebern aus der Landwirtschaft, Schuldirektoren, Lehrern und Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, aber auch mit Personen, die er zufallig auf der Straße oder in Geschäften traf. Obwohl es sich bei den Aufzeichnungen der Interviews um Taylors Zusammenfassung der Gespräche handelt,66 geben sie doch eine hervorragende und nur selten verfugbare Quellt für die allgemeinen Vorstellungen der Bevölkerung in Bezug auf Rassen, deren Charakteristika etc. ab. In den meisten Studien zum Rassenkonzept und den nativistischen Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen vor allem die zeitgenössischen Rassentheoretiker zu Wort und auch wenn dies nicht explizit gesagt wird, so suggeriert die Darstellung doch fast immer, dass zunächst Wissenschaftler und Intellektuelle die Ideen entwarfen, die dann über die Massenmedien Verbreitung fanden und sich gewissermaßen im "trickle down-Effekt" bis in die unteren Bevölkerungsschichten durchsetzten. Diese angenommene Richtung der Beeinflussung kann hier angesichts der Quellenlage ebenso wenig revidiert werden, wie die umgekehrte Einflussnahme der alltäglichen Vorstellungen auf die wissenschaftliche Formulierung von Thesen. Was aber mittlerweile als Allgemeingut gilt, nämlich die Zeitgebundenheit der Wissenschaften, sollte auch in diesem konkreten Bereich stärker zur Kenntnis genommen werden. Rassistische Vorstellungen können aus der theoretischen Perspektive nicht bestimmten sozialen Klassen zugeschrieben werden.67
66
Im Südwesten führte Taylor die meisten Interviews selbst. Aus dem Mittleren Westen gibt es hingegen eine ganze Reihe von Feldnotizen, die nicht von ihm, sondern von Gehilfen stammen. Diese Feldnotizen, unabhängig von ihrem Verfasser, wurden sauber abgetippt, ohne dabei inhaltlich verändert zu werden. Vgl. Paul S. Taylor Papers, Bancroft Library, University of California at Berkeley, carton 10,11 und 12.
67
Dies wurde lange in der Arbeitergeschichte getan. Der Rassismus von Arbeitern wurde dort als Folge der "Teile-und-herTsche-Politik" der Unternehmer verstanden, die Arbeiter erschienen gleichsam als Opfer einer perfiden Politik, aber nicht als mögliche Urheber und Nutznießer ihrer rassistischen Vorstellungen und Handlungen. Erst in der neueren Literatur findet diese Interpretation Widerspruch. Vgl. z.B. Roediger, Wages.
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Kaum einer der von Taylor Befragten unterschied zwischen Mexican Americans und mexikanischen Einwanderern. Die meisten sahen sie als Angehörige einer Rasse und damit als weitgehend homogene Gruppe, die innerhalb der im Südwesten existierenden Rassenhierarchie eine Mittelposition einnahmen. Sie standen für die Interviewten ohne Zweifel nicht auf einer Stufe mit den Weißen, waren aber besser als Schwarze. Mexikaner galten größtenteils als gute Arbeiter und Pächter, da sie anders als Weiße alles taten, was ihnen aufgetragen wurde.68 Mr. Wilkinson von der County Agricultural Agency in Kingsville, Kleberg County, Texas, vertrat diese weit verbreitete Ansicht, wenn er feststellte: "When Mexican come to your house they come to your backdoor just like the colored people. You can't handle a white tenant like you would a Mexican. The Mexicans you can just tell to do a thing a certain way."69 Es wurde immer wieder betont, dass Mexikaner "ihren Platz" kennen würden, mit anderen Worten, sie integrierten sich in die von den Weißen aufgestellte Rassenhierarchie und lehnten sich anders als Schwarze nicht dagegen auf. Mr. Callender aus Lockhart, Texas, formulierte dies folgendermaßen: "Mexicans don't feel like he is white and is perfectly harmless. But if you treat a nigger white he thinks he is white."70 Kaum jemand ging bei der Beurteilung der mexikanischen Rasse jedoch so weit wie F. E. Jackson, der Präsident des Farm Bureau in Ysleta, Texas: "The Chilis are creatures somewhere in between a burro and a human being. We would hate to lose this junk..."71 Jackson sah die Anwesenheit der Mexikaner als eine wirtschaftliche Notwendigkeit und hatte deshalb eine Resolution gegen die Gesetzesinitiative von
68
Diese Beurteilung der mexikanischen Arbeitskräfte findet sich auch in den Unterlagen des Survey of Race Relations, Hoover Institution Archives, Stanford University aus den 1920er Jahren.
69
Taylor Papers, carton 10, folder 4, S. 25.
70
Ebd., S. 35. Vgl. auch Interview mit Mr. Martin aus El Paso vom 15.11.1928, ebd., S. 86; Interview mit L. A. Ethridge aus Micolith, Texas vom 25.11.1928, ebd., S. 121; Interview mit Felix Widrick, Rancher nördlich von Eagle Pass, o.D., ebd., S. 133.
71
Interview mit F. E. Jackson vom 15.11.1928, ebd., S. 85. Mit der Bezeichnung Chilis nimmt Jackson Bezug auf das Gewürz Chili, das aus der mexikanischen Küche nicht wegzudenken ist. Burro ist Spanisch für Esel. Es finden sich noch viele ähnliche Äußerungen, die Mexikaner von der Menschheit trennen und sie in die Nähe von Tieren rücken. So erklärte der Farmer Buchanan aus Big Wells, Texas: "We need them for their labor, for the same reason you need a mule." Interview vom 1.12.1928, ebd., S. 153. Und Mr. Judy aus Palm, Texas meinte: "The better educated Mexicans are more genteel and look more like human beings." Interview vom 9.4.1929, Taylor Papers, ebd., folder 5, S. 153.
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Box organisiert. Mit seiner Einschätzung, dass die texanische Wirtschaft billige mexikanische Arbeitskräfte zwingend brauchte, gehörte er zur Mehrheit der Befragten. Die meisten sprachen sich daher gegen die Box Bill aus. Die schlechten Bedingungen, unter denen mexikanischstämmige Landarbeiter leben mussten, und die geringen Löhne, die ihnen gezahlt wurden, legitimierten Weiße mit dem unterstellten Charakter der Mexikaner. Sie konnten angeblich nicht mit Geld umgehen und gaben sowieso sofort alles aus, was sie erhielten. Außerdem würden sie immer nur so viel arbeiten, bis sie genug Geld verdient hätten, um davon ein paar Tage leben zu können.72 Für manche galt einfach, dass Mexikaner geschaffen wurden, um zu dienen. Für sie erübrigte sich jede weitere Notwendigkeit, Eigenschaften der Mexikaner zu (er)finden, die eine schlechte Bezahlung und Behandlung rechtfertigten.73 Die meisten Interviewten bezogen sich in ihren Aussagen nicht direkt auf die Wissenschaft. Der Farmer Idus Gillette erzählte Taylor allerdings, er habe an einem Kurs des Anthropologen Homer Milton Baker teilgenommen und könne nun seine Arbeitskräfte entsprechend der dort gewonnenen Erkenntnisse auswählen. In diesem Kurs hatte Gillette folgendes gelernt: "The blonds organize and are at the head in giving directions. The brünettes are thorough and lead in religion. ... I never understood before why the Mexican was unstable. The reason is that they are brünettes."74 Gillette meinte weiter, dass Mexikaner als Arbeitskräfte im Südwesten notwendig seien, da Weiße das heiße Klima und die kräftige Sonnenstrahlung nicht aushalten könnten. Die Differenzierung der Bevölkerung in verschiedene rassische Gruppen beschränkte sich jedoch nicht darauf, Klassenunterschiede zu legitimieren. Es ging hier um etwas viel Umfassenderes, nämlich die Konstitution von Wir-Gruppen und damit von Identität. Die Vorstellungen zu biologischen Rassen fassten auf der einen Seite alle Weißen zusammen und schlössen auf der anderen Seite alle Mexikanischstämmigen ebenso von der Gemeinschaft aus wie African Americans, Native Americans oder Nachkommen von asiatischen Einwanderern.75
72
Interview mit Mr. Ryan, Besitzer einer Baumwollplantage in Acala, Texas, vom 15.11.1928, ebd., folder 4, S. 87, vgl. Interview mit Mr. Wozencraft, Farmer aus Fabens, Texas, vom 13.11.1928, ebd., S. 62.
73
Interview mit L.C. Bright vom 25.11.1928, ebd., S. 81 f.
74
Interview mit Idus Gillette, Farmer in Texas, 1929, ebd., folder 5, S. 21.
75
Zur Vereinheitlichung der unterschiedlichen Einwanderergruppen aus Asien vgl. Henry Yu, "The 'Oriental Problem' in America, 1920-1960: Linking the Identities of Chinese American and Japanese American Intellectuals", in: K. Scott Wong, Sucheng Chan
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Diese Repräsentation der sozialen Welt, die materielle Unterschiede in den Hintergrund treten ließ, schuf soziale Wirklichkeit. US-Amerikaner mexikanischer Abstammung wurden aufgrund des biologischen Verständnisses von Rassen mit den gerade eingewanderten Mexikanern gleichgesetzt und als Fremde wahrgenommen. Ihnen wurde deshalb der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen verwehrt. So wurden mexikanischstämmige US-Bürger von Wahlen ausgeschlossen. In den Augen der von Taylor Interviewten schien dies völlig legitim, obwohl es gegen Gesetze verstieß.76 Soweit es sich aus den Protokollen Taylors erschließen lässt,77 kamen mehrere Befragte von selbst auf diesen Punkt und erzählten freimütig, dass Mexikaner (und hier ist es notwendig, daran zu erinnern, dass sie damit auch Mexican Americans meinten) nicht wählten, da ihnen klar gemacht worden sei, dass es nicht opportun sei.78 Angesichts der vielen lokalen Ämter, deren Inhaber durch Wahlen bestimmt wurden, hatte dieser Ausschluss nicht nur Auswirkungen auf die bundesstaatliche bzw. nationale Ebene. In den Gemeinden wurden neben Stadträten, um nur zwei weitere wichtige zu nennen, der Sheriff und die Mitglieder des School Board gewählt. Letzteres entschied über die Mittelvergabe an die einzelnen Schulen, bestimmte die Lehrpläne mit und fungierte als Aufsichtsbehörde. Die Besetzung der lokalen Organe mit ausschließlich weißen Mitgliedern zog im Verbund mit dem Rassendenken eine starke Benachteiligung der mexikanischstämmigen Bevölkerung nach sich. In Orten, in denen ihre Anzahl groß genug war, wurden für sie eigene Schulen eingerichtet, deren Ausstattung grundsätzlich schlechter war als diejenigen in den Schulen für Kinder von Weißen.79 Die Schulgebäude befanden sich oft in beklagenswertem Zustand. Ein Mitglied des School Board in Asherton, Texas, erklärte Taylor, dass die staatli(Hg.), Claiming America: Constructing Chinese American Identities During the Exclusion Era, Philadelphia 1998, S. 191-214. 76
Interview mit Mr. Bailey, Viehzüchter und Farmer in der Nähe von Carrizo Springs, Texas, vom 30.11.1928, Taylor Papers, carton 10, folder 4, S. 137. Bailey äußerte dazu: "We have white men's primaries here and the Negroes and Mexicans don't vote. No, it isn't legal and they could if they insisted but they know they are not supposed to..."
77
Taylor machte während der Interviews Notizen. Diese wurden später abgetippt. Die Protokolle geben die Stellungnahmen der Befragten meist zusammenfassend wieder. Taylors Fragen sind selten vermerkt. Lediglich einige Zwischenfragen sind eigens aufgezeichnet und dienten offenbar der Betonung des Gesagten.
78
Interview mit William Pullian, Immobilienhändler und Farmer aus Crystal City, Texas, o.D., ebd. S. 144f. Interview mit J.G. Sullivan, Präsident der Handelskammer von Asherton, Texas, vom 1.12.1928, ebd., S. 148f.
79
Zur Segregation in Schulen vgl. Gilbert G. González, Chicano Education in the Era of Segregation, Philadelphia 1990.
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chen Gelder für Schulen nicht gleichmäßig auf die "weißen" und "mexikanischen" Schulen verteilt würden, da Weiße mehr Steuern zahlen würden als Mexikaner.80 Von dem Lehrpersonal wurde weniger Erfahrung verlangt, und es erhielt geringere Löhne.81 Hinzu kam, dass viele der hier Tätigen ähnliche Ansichten über Mexikaner hegten wie der Rest der Bevölkerung. In den Interviews mit Schuldirektoren, Mitgliedern der School Boards sowie Lehrern und Lehrerinnen äußerte die überwiegende Mehrheit die Ansicht, dass Mexikaner einer anderen Rasse angehörten und deshalb über andere Fähigkeiten verfugten als Weiße. Mexikanische Kinder galten als langsamer, besser im Auswendiglernen als beim Argumentieren und Beurteilen; besser im Kopfrechnen als in der Problemanalyse.82 Außerdem wurden sie als folgsam und dementsprechend ungeeignet als Führungspersönlichkeiten angesehen.83 Zusätzlich haftete den Kindern ebenso wie den Erwachsenen das Stigma an, schmutzig zu sein und gefährliche Krankheiten zu übertragen.84 Auch dies war ein ausgezeichnetes Argument, um sie von den weißen Schulen fernzuhalten. Die Zuschreibung von Krankheiten stellt einen immer wiederkehrenden Vorwurf gegenüber Einwanderern dar, mit dem Ängste vor dem Fremden geschürt und gleichzeitig die Notwendigkeit, diese Fremden aus der Gesellschaft auszuschließen, als lebensentscheidend dargestellt werden.85
80
Interview mit Mr. Cook, o.D., Taylor Papers, carton 10, folder 6, S. 27. Siehe auch Max S. Handman, "The Mexican Immigrant in Texas", in: Proceedings of the National Conference of Social Work, Fifty-third Annual Session, Cleveland 1926, S. 332-339, hier S. 335.
81
Mr. Patterson, Superintendent of Schools in Carrizo Springs, Texas, berichtete Taylor, dass Lehrer in den "weißen" Schulen 115,- US-Dollar monatlich erhielten, während Lehrer an den mexikanischen Schulen 75,- US-Dollar bekamen. Von den Lehrern weißer Kinder wurde verlangt, dass sie bei ihrer Einstellung mindestens 3-4 Jahre Lehrerfahrung hatten. Von Lehrern in den mexikanischen Schulen wurde dagegen überhaupt keine Erfahrung verlangt. Interview mit Patterson, o.D., Taylor Papers, carton 10, fold e r ^ S. 141f.
82
Ebd., S. 142.
83
Interview mit B.H. Miller, Superintendent of Schools in Eagle Pass, Texas, Nov. 1928, ebd. S. 127.
84
Interview mit Mr. Glissen, Superintendent of Schools in Big Wells, Texas, vom 5.4.1929, ebd., S. 128. Interview mit Bob Milam aus Brundage, Texas, o.D., ebd., folder 7, S. 12.
85
Zur Verbindung von unerwünschten Einwanderern mit Krankheitserregern vgl. Kraut, Silent Travelers. Zu der unterschiedlichen Sichtweise von europäischen und asiatischen sowie lateinamerikanischen Einwanderern diesbezüglich vgl. Sánchez, "Race, Nation", S. 76. Sánchez stellt fest, dass Europäer immerhin als heilbar galten - sprich assimilierbar waren - , während Krankheiten bei Asiaten und Lateinamerikanern gewissermaßen als
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
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Für Mexikaner gab es allerdings nicht nur schlechtere Schulen, zusätzlich wurde für sie die Schulpflicht nicht durchgesetzt.86 Aus der Sicht der Weißen war dies konsequent, schließlich sollten Mexikaner die niedrigen Arbeiten verrichten, und viele befürchteten, ein besserer Bildungsstandard würde mexikanischstämmige Kinder davon abhalten, die gleichen Arbeiten zu übernehmen, die ihre Eltern auf den Feldern in Texas und Kalifornien verrichteten.87 Die gesellschaftliche Praxis, die Mexikaner und deren Nachkommen immer stärker ausgrenzte und als eigene, von den Weißen unterschiedene Gruppe konstruierte, sollte sich 1930 in der Formalisierung der "mexikanischen Rasse" im nationalen Zensus niederschlagen.88 Zuvor waren Personen mexikanischer Abstammung als Angehörige der weißen Rasse gezählt worden, 1930 bildeten sie die Rubrik "Mexican race" unter der Kategorie "other races". Die Quellenlage lässt keine genaue Bestimmung über diese Entscheidung zu. Das Gesetz, mit dem die Durchführung des 15. nationalen Zensus der USA festgelegt wurde, ordnete für die Ausführung der Volkszählung folgendes an: "The number, form, and subdivision of the inquiries in the schedules used to take the census shall be determined by the Director of the Census with the approval of the Secretary of Commerce."89 Die konkrete Ausgestaltung der Fragebögen und die Kategorisierung überließ das Gesetz dem Zensusbüro, das dem Handels- und Arbeitsministerium unterstand. Der Vorsitzende des einflussreichen House Committee ort Immigration and Naturalization, Albert Johnson, überzeugte Handelsminister Robert P. Lamont davon, dass Mexikaner nicht mehr unter der weißen Bevölkerung subsumiert werden sollten.90 Ob die neue Einordnung der mexikanischstämmigen Einwohner nur auf eine entsprechend erfolgte Anweisung von Lamont an den Direktor des Zensusbüros zurückgeht, ist unklar. Angesichts des in den 1920er Rassenmerkmale eingestuft wurden. Diese letzte Zuschreibung war gleichbedeutend mit der angenommenen Unmöglichkeit von Assimilation. 86
Interview mit Patterson, ebd., folder 4, S. 143. Vgl. auch National Conference Concerning Mexicans and Spanish-Americans in the U.S., Home Missions Council, A Study of Social and Economic Factors Relating to Spanish-Speaking People in the United States, El Paso 1926, S. 19.
87
Interview mit Mr. Cook, Mitglied des School Board von Asherton, Texas, o.D., Taylor Papers, carton 10, folder 6, S. 27f.
88
United States. Bureau of the Census, Fifteenth Census of the United States: 1930. Population, Bd. II, "General Reports by Subjects", Washington, D.C. 1933.
89
United States. Congress. House of Representatives. 70th Congress, 1st session, 1928, Hearings before the Committee on the Census, Washington 1928, S. 298.
90
Reisler, By the Sweat, S. 137.
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154
Jahren stark zugenommenen Einflusses von Eugenikern und Gegnern der mexikanischen Einwanderung erscheint es plausibel, hinter der neuen Kategorisierung mehrere Urheber zu suchen. Das Zensusbüro erhielt in seiner Arbeit Unterstützung durch ein 1918 gegründetes Beraterkomitee. Dessen Mitglieder gehörten der American Association of Statistics und der American Association of Economics an.91 Das Komitee verfügte über weitreichende Kompetenzen, für den 15. Zensus entschied es beispielsweise, dass nicht mehr zwischen Schwarzen und Mulatten unterschieden werden sollte.92 Das Rassendenken der Eugeniker, die zunehmende Ablehnung der mexikanischen Einwanderung und die Auseinandersetzungen darüber, wie viele Mexikaner im letzten Jahrzehnt tatsächlich eingewandert waren, dürften den Ausschlag gegeben haben für die Schaffung der neuen Kategorie.93 Nachdem 1924 das zweite Gesetz zur Einschränkung der europäischen Immigration erlassen worden war, gerieten die Mexikaner immer stärker ins Visier der Eugeniker und Nativisten. In der Kritik an der Einwanderung aus Mexiko stand die Rassenzugehörigkeit der abschätzig als peones Bezeichneten meistens an prominenter Stelle.94 Es wurde immer wieder ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Beschränkung der europäischen Einwanderung und der verstärkten Zuwanderung von mexikanischen Arbeitern.95 Diese Situation galt vielen als absurd, sahen sie doch die Mexikaner als einer Rasse angehörig, die noch unter den europäischen anzusiedeln war. Die Einwanderung von Mexikanern wurde zudem vielfach als ungesetzlich angegriffen, da Mexikaner nicht der weißen Rasse zugerechnet werden konnten, das Einwanderungsgesetz von 1924 aber vorsah, dass lediglich solche Personen das Recht bekommen sollten, sich in den USA 91
NARA, RG 29: Records of the Bureau of the Census. Census Advisory Committee, Minutes of Meetings, Correspondence and Reports, Resolutions and Meetings, box 71 and 72.
92
Ibid., folder "Advisory Committee", December 14 and 15, 1928.
93
Zu den Zahlen, die bereits unter Zeitgenossen umstritten waren, vgl. Kap. III. 1.
94
Vgl. z.B. C.M. Goethe, "Other Aspects of the Problem", in: Current History 28 (Aug. 1928), S. 766-768. Ders., "The Influx of Mexican Amerinds", in: Eugenics: A Journal of Race Betterment 2 (Jan. 1929), S. 6-9. Ders., "Peons Need not Apply", in: World's Work 59 (Nov. 1930), S. 47-48; Roy L. Garis, "The Mexican Invasion", in: Saturday Evening Post 200 (18.2.1928), S. 14-15, 142, 145-46, 149-50, 154. Madison Grant, "Editorial: Immigration", in: Eugenics: A Journal of Race Betterment 3 (Feb. 1930), S. 74. Francis H. Kinnicutt, "Editorial: Immigration", in: Eugenics: A Journal of Race Betterment 2 (Dec. 1929), S. 34-35.
95
Vgl. neben den in der vorangegangenen Fußnote genannten Zeitungsartikeln z.B. Reinsen Crawford, "The Menace of Mexican Immigration", in: Current History 31 (Feb. 1930), S. 902-907.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
155
niederzulassen, die auch das generelle Recht auf eine Einbürgerung hatten. Dieses Recht wiederum beschränkte sich aber auf freie Weiße und Afrikaner sowie deren Nachkommen. Da aber Mexikaner nicht als Angehörige der weißen Rasse galten, erhob die American Eugenics Society bereits 1928 die Forderung, vom Obersten Gerichtshof klären zu lassen, ob denn Mexikaner unter den geltenden Gesetzen überhaupt einwandern durften. Außerdem wollte sie in einem künftigen Einwanderungsgesetz die Erlaubnis dazu auf Weiße beschränken, die ausschließlich Vorfahren der kaukasischen Rasse hatten.96 Die Erfüllung dieser Forderung hätte Mexikanern endgültig die Möglichkeit zur Immigration genommen. Die fortgesetzte Propaganda gegen Angehörige der "mexikanischen Rasse", die nicht nur amerikanischen Arbeitern die Jobs wegnahmen und somit den American Standard of Living bedrohten, sondern zusätzlich amerikanische Institutionen wie die Schulen, Kirchen und überhaupt die Gemeinden gefährdeten, die letztlich die Wohlfahrt der amerikanischen Gesellschaft insgesamt bedrohten, diese massive Stimmungsmache gegen die Einwanderung aus dem Süden dürfte insgesamt dazu beigetragen haben, dass sich das Zensusbüro 1930 entschied, für Mexikaner eine neue Kategorie in der Rassenzugehörigkeit zu schaffen. Damit erhoffte man sich vermutlich auch, den Streit um die Anzahl der in den Vereinigten Staaten lebenden Mexikaner zu klären. In einer Anleitung für Zensusnehmer von 1930 hieß es, dass alle zur mexikanischen Rasse gezählt werden sollten, die selbst aus Mexiko stammten oder die zumindest einen in Mexiko geborenen Elternteil hatten und nicht eindeutig weiß, schwarz, japanisch oder chinesisch waren.97 Da die in der Regel weißen Zensusnehmer die allgemein vorherrschenden Vorstellungen zu Rassen wohl teilten, kann davon ausgegangen werden, dass nicht nur Mexikaner und deren Kinder in diese Kategorie aufgenommen wurden, sondern auch viele Mexican Americans. Tatsächlich stellte Thomas Boswell in seiner Analyse der Zensus fest, dass 1930 in die Rubrik "Mexican race" auch fast 300.000 Personen aufgenommen wurden, deren Eltern bereits in den USA geboren worden waren.98 Der Oberste Bevölkerungsstatistiker im Zensusbüro gab in einem Memorandum zur Vorbereitung des Zensus von 1940 Hinweise für die Beweggründe, 1930 die Kategorie "Mexican race" einzuführen:
96
Vgl. den Robert DeC. Ward, "Immigration", in: Eugenics: A Journal of Race Betterment, 1 (Nov. 1928), S. 30. Hier schrieb Ward über den vierten Bericht des Committee on Selective Immigration der American Eugenics Society, dem er selbst angehörte.
97
NARA, RG 29, Records of the Bureau of the Census. Records of the Office of the Director of the Census, William M. Steuart, 1922-1932, folder 15.
98
Boswell, "Growth", S. 64.
156
Silke Hensel Provision was made in the column indicating color or race for reporting separately as 'Mexican' those persons of mixed blood who were of Mexican birth or parentage (ancestry), such persons having been previously, for the most part, returned as white. This classification produced statistics of considerable value, since the Mexicans form a distinct social and economic class in those areas where they are numerous."
Das Zensusbüro folgte mit seiner Entscheidung der allgemeinen Vorstellung, dass die Mexikaner eine Rasse konstituierten, die sich von der weißen unterschied. Zwar sollten in der neuen Kategorie nur Einwanderer und deren direkte Nachkommen aufgenommen werden, dafür wäre die Schaffung einer eigenen Kategorie allerdings nicht notwendig gewesen. Für den Zensus wurde unabhängig von dieser Einteilung sowieso nach dem Geburtsort der Eltern gefragt. Die breite Ablehnung von Einwanderern, die besonders seit dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung gewann und in deren Zusammenhang viele Europäer als eigene Rassen eingestuft wurden, dürfte in der Entscheidung eine wichtige Rolle gespielt haben. Während die Gesetze von 1921 und 1924 diesen als Angehörige minderwertiger Rassen angesehenen Europäern die Einwanderung praktisch verwehrten, war dies bis 1930 für Mexikaner immer noch nicht der Fall. Die Angehörigen des Zensusbüro und des Beraterkomitees haben deshalb vermutlich die Notwendigkeit gesehen, das Ausmaß der mexikanischen Einwanderung genau zu bestimmen.100 Die Bestimmungen zur Zensusnahme enthielten in Bezug auf den Rassenbegriff ebenso Ungereimtheiten wie die vorher dargestellten akademischen und alltäglichen Vorstellungen. Im Zensus wurde als Angehöriger der mexikanischen Rasse definiert, wer selbst zwar schon US-Staatsbürger war, dessen Eltern aber noch in Mexiko geboren worden waren. Warum diese Personen in die Kategorie aufgenommen wurden, während US-Staatsbürger mexikanischer Abstammung der zweiten Generation nicht mehr dazugehören sollten, wird nicht klar. Die Zensusnehmer vor Ort bewiesen denn auch, dass sie eine andere Vorstellung der mexikanischen Rasse hatten, indem sie bei der Einordnung der Ge99
NARA, RG 29, Census Advisory Committee, Minutes of Meetings, Correspondence and Reports, Resolutions and Meetings, box 74, folder: Advisory Committee 19381939. In dieser nachträglich gelieferten Begründung versuchte der Verfasser allerdings auch, die Angelegenheit in Bezug auf die Rassenzugehörigkeit herunterzuspielen, indem er davon sprach, dass die Mexican Americans eine soziale und ökonomische Klasse bildeten, wodurch sie sich von anderen unterschieden. Zu dem Konflikt um die Rassenkategorisierung vgl. Kap. IV.l.b.
100 Die Weltwirtschaftskrise, die die Stimmung gegen mexikanischstämmige Arbeiter nochmals schürte, hatte auf diese Entscheidung vermutlich noch keinen Einfluss. Der Börsenkrach vom 24.10.1929 dürfte zu dicht an dem Termin der Volkszählung am 1.4.1930 gelegen haben.
IV. Rasse und Staatsbürgerscha ft
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zählten in die Rassenkategorien vermutlich eher nach dem Aussehen und den Lebensumständen gingen, als nach der US-Staatsbürgerschaft. Insgesamt zeigt sich an den akademischen Schriften ebenso wie in den Äußerungen der Menschen im Südwesten, dass der Rassenbegriff vielfaltige Verwendung fand. In ihm überlagerten sich häufig ältere und neuere Bedeutungsinhalte. Die angeblichen biologischen Unterschiede erklärte niemand genauer, nur die Hautfarbe fand manchmal als somatisches Merkmal Erwähnung. Warum diese eine natürliche Determinierung des individuellen und kollektiven Verhaltens bedeuten sollte, damit befassten sich die Wissenschaftler ebenso wenig wie alle anderen. Die Rassenzugehörigkeit wurde oft als einziges Argument für die Minderwertigkeit der Mexikaner angeführt. Auch wenn diejenigen, die es nutzten, meinten, damit bereits alles gesagt zu haben, eröffnen weitergehende Erklärungen einen Blick auf die Unterscheidungskriterien, die über die Hautfarbe hinausgingen. In den Augen vieler Weißer zeichneten Mexikaner sich durch eine gänzlich andere - als schlechter bewertete - Lebensführung aus. Der Superintendent of Schools aus Eagle Pass, Texas, B.H. Miller, fasste dies folgendermaßen zusammen: "The attitude, health habits, discipline, ability to fit into a scheme of things, to widerstand American ideals, ability in English without accent, are the proper bases of Separation."101 Wie stark Unterschiede in der Lebensführung zur symbolischen Unterscheidung wurden, zeigt sich auch in einer Untersuchung der Wirtschaftswissenschaftlerin Ruth Allen von der University of Texas über mexikanischstämmige Frauen in der Landwirtschaft. Allen analysierte eine Umfrage unter 294 Frauen. Die Mehrzahl von ihnen war mit Männern verheiratet, die als "sharecropper" oder "halver" arbeiteten.102 Allen beklagte die Lebensführung dieser Frauen aufs Schärfste. Sie stellte fest, dass die wenigsten von ihnen ihren Haushalt den USamerikanischen Standards gemäß führen würden. Die Haushalte seien nicht pro101 Interview mit B.H. Miller, Taylor Papers, carton 10, folder 4, S. 126. 102 Sharecropper schlössen mit Farmern einen Vertrag ab, der sie zu abhängig Beschäftigten machte. Sie bearbeiteten ein Stück Land unter der Anweisung und Aufsicht des Farmers, der ihnen u.a. die anzubauende Frucht vorschrieb. Über die Ernte hatten sie keine Verfügungsgewalt. Sie mussten sie dem Farmer zum Verkauf überlassen, der ihnen dann die Hälfte des Erlöses abzüglich der Schulden, z.B. für die Benutzung von landwirtschaftlichen Gerätschaften bei der Feldarbeit, übergab. "Halvers" oder half tenants waren hingegen Pächter, die über die Hälfte ihrer Ernte selbst bestimmen konnten. Die andere Hälfte mussten sie dem Farmbesitzer überlassen, da sie von ihm Geräte und Nutztiere gestellt bekamen. Es gab auch Pächter, denen ein größerer Anteil der Ernte gehörte, da sie eigene Geräte besaßen. Vgl. Foley, The White Scourge, S. 85-87.
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duktiv, da weder Lebensmittel konserviert, noch Gemüsegärten angelegt oder Nutztiere gehalten würden. Auch die technische Ausstattung der Haushalte sei denkbar schlecht, da die Frauen selten über Nähmaschinen oder Bügeleisen verfügten. Schließlich vermisste Allen in den meisten Häusern fließend Wasser. Es musste noch von der Pumpe geholt werden. Zu diesen Unzulänglichkeiten trat laut Allen ein weiteres Problem: Die befragten Frauen bekamen viele Kinder und gingen oft mit aufs Feld. Für ihre Arbeit erhielten sie keinen eigenen Lohn, nur die Männer wurden bezahlt. All dies zusammengenommen fand Allen "fear inspiring". Sie beklagte zwar kurz das von den Arbeitgebern eingeführte Lohnsystem, in dem an die Männer einer Familie Geld gezahlt wurde für Arbeit, die von der ganzen Familie ausgeübt wurde, das Hauptproblem sah sie jedoch in den Frauen selbst. Denn sie müssten sich ebenso gegen das Lohnsystem wehren, wie sie eine bessere Ausstattung ihrer Haushalte hätten fordern müssen. Dass die Verhältnisse, unter denen die mexikanischstämmigen Familien um ihr Überleben kämpften, die Anlage von Gemüsegärten beispielsweise nicht zuließ, da die Arbeitgeber ihnen dafür kein Gelände überließen, und dass Gerätschaften wie Nähmaschinen und Bügeleisen Ausgaben erforderten, die die Familien nicht aufbringen konnten, darüber verlor Allen in ihrer Untersuchung kein Wort. Den Mexikanerinnen fehlte in ihren Augen eine adäquate Anpassung an die Gesellschaft der Vereinigten Staaten. Allen beklagte nicht nur diese Zustände, sie sah in den Mexikanerinnen auch eine Gefahr, da sie von der Frauenbewegung nicht beeinflusst waren und für sich selbst keine wirtschaftliche Unabhängigkeit forderten.103 Hinter dem Wort "Rasse", mit dem Unterschiede angezeigt wurden, verbarg sich ein Bündel von Bedeutungen, die zur Abgrenzung verschiedener Bevölkerungsgruppen voneinander dienten. Diese Grenzen lassen sich bei einer genaueren Betrachtung in den Charakterzuschreibungen der einzelnen Rassen selbst nachweisen. Für Mexikaner als Rasse galt, dass sie keinen Ehrgeiz verspürten, nicht zielgerichtet handeln konnten, nicht in der Lage waren, selbstständig zu handeln,104 und sich schließlich auch nicht durch Intelligenz auszeichneten. Aus der Perspektive der Weißen stand auf der Positivseite der mexikanischen Eigenschaften, dass Mexikaner nicht gegen ihren Status als abhängig Beschäftigte in der Landwirtschaft rebellierten. Sie führten die ihnen gegebenen Anweisungen aus und wollten nicht wie Pächter über den Anbau von
103 Ruth A. Allen, "Mexican Peon Women in Texas", in: Sociology and Social Research 14 (1929/30), S. 131-142. 104 Die vermeintlich fehlende Selbstständigkeit bezog sich auf den wirtschaftlichen und den politischen Bereich.
IV. Rasse und Staatsbürgerschaft
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Produkten und deren Vermarktung bestimmen. Weiterhin akzeptierten sie die hierarchischen sozialen Beziehungen, indem sie keine Gleichbehandlung mit den Weißen forderten, und die Männer sich von weißen Frauen fern hielten. Das Gegenstück zum befehlsempfangenden mexikanischen Landarbeiter bildeten die weißen Pächter, die sich dagegen wehrten, auf den sich ausbreitenden agroindustriellen Betrieben zu Arbeitern degradiert zu werden. Sie verstanden sich als selbstständige Bauern - als yeomen - und orientieren sich an dem Idealbild des autonom Wirtschaftenden, der deshalb auch unabhängige Entscheidungen treffen konnte. Letzteres hatte den yeoman bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einem politischen Begriff gemacht.105 In Kalifornien standen dem vermeintlich in seiner Rolle verharrenden mexikanischen Landarbeiter außerdem noch die Japaner gegenüber, denen es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Teil gelungen war, Land zu erwerben, und die deshalb in den Augen der Weißen eine Bedrohung darstellten.106 Das Bild von Mexikanern, die die soziale Hierarchie in jeglicher Hinsicht akzeptierten, stand dagegen in Opposition zum Stereotyp über Schwarze. Seit dem Ende der Reconstruction versuchten Weiße, die gerade gewonnenen Rechte der Schwarzen wieder einzuschränken. Die Forderung nach sozialer Gleichheit wurde vehement zurückgewiesen, und Schritt für Schritt gelang es den Weißen im Süden auch, die ungleichen sozialen Stellungen zu formalisieren.107 Da Schwarze sich diesen Rückschlägen nicht kampflos ergaben, wurden sie als Problem gesehen, das man niemals mit den Mexikanern zu haben meinte. Diese Einschätzung basierte zum Teil auf konkreten Erfahrungen. Mexikanische Einwanderer verfugten als Neuankömmlinge in den USA über weniger Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren. Sie waren noch nicht in feste und weitreichende soziale Netzwerke eingebunden und schließlich gab es erhebliche
105 Allan Kulikoff, "The Transition to Capitalism in Rural America", in: William and Mary Quarterly 46 (1989), S. 120-144, hier S. 142. Ähnliche Entwicklungen ließen sich auch außerhalb der Landwirtschaft beobachten. Die Industrialisierung führte dazu, dass immer weniger Handwerker und gelernte Arbeiter weitgehend selbstständig arbeiten konnten, stattdessen wuchs das Industrieproletariat. Auch hier stand die ältere Struktur für republikanische und demokratische Werte. Glenn Porter, "Industrialization and the Rise of Big Business", in: Charles W. Calhoun (Hg.), The Gilded Age: Essays on the Origins of Modern America, Wilmington, Del., 1996, S. 1-18, hier S. 1. Zur Konstruktion des Gegensatzes zwischen Mexikanern, die mit peones gleichgesetzt wurden, und den yeomen vgl. auch Reisler, By the Sweat, S. 143. 106 Gutiérrez, Walls and Mirrors, S. 43f. 107 Vgl. John Hope Franklin, " The Great Confrontation: The South and the Problem of Change", in: ders., Race and History: Selected Essays, 1938-1988, Baton Rouge/London 1989, S. 351-366.
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Differenzen zwischen ihnen und den Mexican Americans. Letztere wandten sich oft genauso wie Weiße gegen die Einwanderung aus Mexiko und stellten damit keine Bündnispartner für die Immigranten dar. Die Vorstellung von der sexuellen Zurückhaltung mexikanischer Männer zeichnete ebenfalls ein Gegenbild zu Schwarzen. Das Stereotyp des schwarzen Mannes als Vergewaltiger hat in den USA eine lange Tradition und wurde 1915 mit dem Film "Birth of a Nation" erneut kraftvoll in Szene gesetzt.108 Zur gleichen Zeit erlebte der Ku Klux Klan einen Aufschwung, der Schwarze oft der Belästigung weißer Frauen beschuldigte.109 Die Behauptung, dass Afroamerikaner zu sexueller Enthaltsamkeit nicht fähig seien, platzierte sie zudem in der Hierarchie der "Great Chain of Being" eher im Reich der Tiere als der Menschen.110 Das Bild des mexikanischen Mannes, der sich in seinen sexuellen Beziehungen auf Frauen seiner eigenen Rasse beschränkte, entsprach demnach auch auf der vermeintlichen moralischen Ebene ihrer Mittelposition zwischen Schwarzen und Weißen. Zudem widersprach es implizit auch den Eugenikern, die im räumlichen Zusammenleben verschiedener Rassen bereits eine Bedrohung für die Reinheit der Rassen witterten. Wenn jedoch weder Weiße noch Mexikaner Verbindungen miteinander anstrebten, dann drohte hier keine Gefahr. Die stereotypen Bilder dienten dazu, eine Ordnung in das Zusammenleben von verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu bringen. Weiße verliehen ihrer gesellschaftlichen Position über die Unterscheidung von Rassen einen Sinn. Mit dem im Rassenbegriff enthaltenen Bedeutungsbündel wurden faktische Unterschiede in symbolische Unterscheidungen übersetzt und gleichzeitig Schranken errichtet gegen eine Nivellierung der Unterschiede. Die biologische Konzeption der Rassen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, führte zu einer Sichtweise der Differenz als permanent, nicht überwindbar. Deshalb, und nur deshalb, konnte die Segregation als legitim verstanden werden. Denn natürliche Unterschiede ließen sich auch durch Bildungsanstrengungen und andere soziale Maßnahmen nicht aus Weg räumen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Vorstellungen mit dieser Absicht bewusst geschaffen worden wären. Sie entstanden vielmehr im komplexen Zusammenspiel zwischen der sozialen Realität und dem Diskurs über Rassen. In der gesellschaftlichen Entwicklung der USA
108 Zu dem Film "Birth of a Nation" vgl. Robert Lang (Hg.), The Birth of a Nation, New Brunswick 1994. 109 Jacobson, Whiteness, S. 64. Gossett, Race, S. 340. 110 Gail Bederman, Manliness and Civilization: A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880-1917, Chicago/London 1996, S. 149.
IV. Rasse und
Staatsbürgerschaft
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spielten Unterscheidungen von Menschengruppen, die nicht an materiellen Unterschieden festgemacht wurden, vom Beginn der Kolonisation eine große Rolle. Nach der Unabhängigkeit geriet außerdem das Bild einer egalitären Gesellschaft in Konflikt mit den Klassenunterschieden, die deshalb heftig kritisiert wurden. Die Rassenhierarchie ersetzte in den Vorstellungen von einer legitimen gesellschaftlichen Ordnung die Klassenhierarchie.111 b. Von "la raza" zu "Kaukasiern" Das Bild der Mexikaner als einer rassischen Einheit bestand nicht nur aufseiten der Anglo-Amerikaner, es prägte bis in die 1920er Jahre auch die Selbstwahrnehmung der Mexican Americans. In ihren Vorstellungen zu Rassen im Allgemeinen und der mexikanischen Rasse im Besonderen lassen sich Elemente sowohl des US-amerikanischen als auch des mexikanischen Diskurses ausmachen. Die Aufteilung der Menschheit in immer mehr Rassen, die oft mit Nationalitäten gleichgesetzt wurden, lässt sich ebenso finden wie Anklänge an die Idee der "raza còsmica". Ein wesentlicher Unterschied der beiden Diskurse bestand in der Bewertung von Mischlingen. Während sie in den Vereinigten Staaten als degeneriert galten und besonders die Eugeniker vor einer Rassenvermischung warnten, hob der Schöpfer der "raza còsmica", der mexikanische Philosoph und Politiker José Vasconcelos, das Zukunftspotenzial gemischter Rassen hervor. Seines Erachtens wiesen die Mestizen Lateinamerikas den Weg zu einer neuen, der kosmischen Rasse, die alle positiven Eigenschaften der verschiedenen Rassen ihrer Vorfahren in sich vereinigen sollte.112 Der Bezug auf die "raza còsmica" unter den Mexican Americans blieb allerdings relativ schwach. Anders als in Mexiko selbst hatte die Idealisierung des Mischlings als Zukunft der Menschheit unter der mexikanischstämmigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten keinen großen Einfluss. Dies muss im Zusammenhang mit ihrer grundsätzlich anderen Situation gesehen werden. In Mexiko war mit der Revolution eine Kritik am gesellschaftlichen Diskurs während des Porfiriats (1876-1910) verbunden. Unter Diaz orientierte sich die Elite vornehmlich an europäischen, und in Bezug auf die RassenVorstellungen auch an USamerikanischen Vorbildern. 113 Deshalb forderte die mexikanische Regierung 111
Vgl. Nash, Forging Freedom.
112 José Vasconcelos, La raza cósmica. La misión de la raza iberoamericana, Mexiko 1983 (1. Aufl. 1925). 113 Zu den Verbindungen zwischen mexikanischen und US-amerikanischen Sozialwissenschaftlem gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Mauricio Tenorio Trillo, "Stereophonie Scientific Modemisms: Social Science between Mexico and
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Ende des 19. Jahrhunderts auch die europäische Einwanderung, um so - in ihren Augen - die rassische Zusammensetzung der Bevölkerung zu verbessern. Als in der Rassenhierarchie am höchsten angesiedelte Rasse galt zu dieser Zeit ebenso wie in den USA die weiße Rasse. Nach der Revolution fand in Mexiko eine Hinwendung zur indianischen Vergangenheit statt. Jetzt fand auch diese Quelle mexikanischer Kultur Beachtung; der Mestize als Erbe sowohl der spanischen als auch der indianischen Zivilisation wurde zum Inbegriff des mexikanischen Staatsbürgers.114 In den USA hingegen blieb die Stellung der weißen Rasse in der Hierarchie unangefochten. Im Kontext dieser kulturellen Machtstruktur,115 in der die Mexican Americans die schwächere Position innehatten, stand ihnen die Möglichkeit einer auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erfolgreichen Umdeutung der Rassenvorstellungen nicht offen, sie übernahmen jedoch auch nicht einfach die US-amerikanischen Vorstellungen, sondern gaben der eigenen Identität einen eigenen Sinn. Die mexikanischstämmige Bevölkerung bezeichnete sich als "la raza" und grenzte sich damit von anderen Gruppen in den USA ab. Die Unterscheidung zog sie jedoch vor allem auf der Ebene der kulturellen Merkmale. Unter "la raza" verstanden die Mexican Americans eine Untergruppe der weißen Rasse. In der Auseinandersetzung um ihre gesellschaftliche Position während der 1920er und 1930er Jahre zeichnete sich bei den Mexican Americans ein differenzierterer Umgang mit dem Zusammenhang von Rassen- und Nationszugehörigkeit ab. Während beides von Anglo-Amerikanern zu dieser Zeit im Allgemeinen gleichgesetzt wurde und deshalb oft von der irischen, deutschen, polnischen und mexikanischen Rasse die Rede war, achteten Mexican Americans seit den 1920er Jahren immer stärker auf eine Trennung der beiden Konzepte. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte jedoch auch unter den Mexican Americans eine weitgehende Gleichsetzung der mexikanischen Abstammung und der Rassenzugehörigkeit stattgefunden. Auf dem von Nicasio Idar116 organisierten Congreso Mexicanista, der 1911 in Laredo abgehalten wurde, versammelten the United States, 1880s-1930s", in: Journal of American History 86 (1999), S. 11561187. 114 Vgl. dazu Alan Knight, "Racism, Revolution, and Indigenismo: Mexico, 1910-1940", in: Graham (Hg.), The Idea of Race, S. 71-114. Alexander S. Dawson, "From Models for the Nation to Model Citizens: Indigenismo and the 'Revindication' of the Mexican Indian", in: Journal of Latin American Studies 30 (1998), S. 279-308. 115 Vgl. dazu Hall, "Die Frage", S. 205f. 116 Idar gab die Zeitung La Crónica in Laredo heraus und war ein prominenter Vertreter der mexikanischstämmigen Bevölkerung nicht nur in der Stadt, sondern aufgrund seiner verlegerischen Tätigkeit in Texas insgesamt.
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sich ca. 400 Vertreter sozialer und politischer Organisationen.117 Das Anliegen des Kongresses bestand in der Koordinierung der verschiedenen Vereine und Organisationen, um so besser gegen die Diskriminierung der mexikanischstämmigen Bevölkerung in Texas vorgehen zu können. Das Motto der Veranstaltung lautete: "por la raza y para la raza". Im Programm und den Reden des Kongresses wird die Orientierung an Mexiko sowohl als Nation als auch dem mexikanischen Volk als rassischer Einheit weiter deutlich. Das Programm sah eine Huldigung des mexikanischen Vaterlandes und der mexikanischen Flagge ebenso vor wie das Singen der mexikanischen Hymne als Einlage eines Kinderchors, während der symbolische Bezug auf die Vereinigten Staaten vollkommen fehlte.118 In verschiedenen Vorträgen trat die Gleichsetzung von "la raza" mit dem mexikanischen Volk hervor.119 Die Redner machten keinen Unterschied zwischen den mexikanischen Einwanderern in den USA und den US-Staatsbürgern mexikanischer Herkunft, die in ihren Augen alle über die Zugehörigkeit zu "la raza" verbunden und deshalb dem mexikanischen Vaterland verpflichtet waren. Meistens wurden die Teilnehmer des Kongresses als "mexicanos" bezeichnet, lediglich in Einzelfallen fand die Bezeichnung "mexico-texanos" Verwendung. Letzterer Begriff beinhaltete allerdings keinen Bezug auf eine andere Staatsoder Nationszugehörigkeit als die mexikanische. Das "texano" bezog sich lediglich auf den Wohnort der Bezeichneten. In den veröffentlichten Redebeiträgen sowie den Gedichten und Liedern, die das Programm des Kongresses ausschmückten, lag also der inhaltliche Schwerpunkt auf dem Zusammenhalt und der Einheit der mexikanischstämmigen Bewohner von Texas unter dem mexikanischen Banner. Dieser enge Bezug auf 117 Es handelte sich bei den Delegierten vornehmlich um Mitglieder der mutual aid societies von mexikanischstämmigen Arbeitern. Es nahmen allerdings auch einige Angehörige der Mittelschicht an dem Kongress teil. Die Rednerliste wurde von ihnen dominiert. Insofern ist davon auszugehen, dass die Mittelschicht einen größeren Einfluss hatte, als ihre geringe Anzahl von Teilnehmern und Teilnehmerinnen vermuten lässt. Die Reden sind abgedruckt in Primer Congreso Mexicanista verificado en Laredo, Texas, EE.UU. de A. los dias 14 al 22 de septiembre de 1911, Laredo 1912. Zu dem Kongress vgl. auch José Limón, "EI Primer Congreso Mexicanista 1911: A Precursor to Contemporary Chicanismo", in: Aztlán 5,1-2 (1974), S. 85-106. 118 "Programa de las reuniones del Congreso Mexicanista", in: Primer Congreso Mexicanista, S. 3f. 119 Vgl. z.B. "Conferencia dada en el Congreso Mexicanista por el Venerable Gran Canciller de la Orden 'Caballeros de Honor,' la noche del 14 del presente, en el Salón de los Altos del Mercado, de esta ciudad", in: ebd., S. 7. "Discurso pronunciado por el Sr. Gregorio E. González, delegado por Nuevo Laredo", in: ebd., S. 9f. "Discurso pronunciado por la Srita. Hortencia Moncayo en la Conferencia del Congreso Mexicanista", in: ebd., S. 15.
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Mexiko dürfte mehrere Ursachen haben. Der Veranstaltungsort Laredo weist auf die erste hin. In der Grenzregion, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch kaum militarisiert war,120 fand eine reger Austausch zwischen den Bewohnern beider Seiten des Rio Grande statt. Die trennende Funktion der Grenze war noch nicht sehr ausgeprägt.121 Deshalb ergab sich aus dem Leben auf der US-amerikanischen Seite nicht unbedingt ein Bruch mit der mexikanischen Identität. Viele der Mitglieder in den auf dem Kongress vertretenen Organisationen dürften außerdem selbst noch aus Mexiko eingewandert sein. In dem Ruf der mexikanischstämmigen Bevölkerung nach Einheit klang aber auch die Ideologie des "México de afuera" an, obwohl dieser Begriff selbst keine Erwähnung fand. Vertreter dieser Ideologie sahen in den mexikanischstämmigen Einwohnern im Südwesten der Vereinigten Staaten eine Fortsetzung mexikanischen Lebens außerhalb der Landesgrenzen. Sie orientierten sich vollständig an den Geschehnissen in Mexiko und waren an einer Eingliederung in die US-amerikanische Gesellschaft nicht interessiert.122 Richard Garcia zeigt in seiner Studie über San Antonio, dass die prominentesten Vertreter dieser Ideologie der mexikanischen Oberschicht angehörten, die aufgrund der Revolution nach Texas ins Exil gegangen waren.123 Diese wohlhabenden Exilanten nahmen auf die Arbeiterschaft häufig über ihre Funktion als Ehrenmitglieder der mutual aid societies Einfluss. Sie behielten ihre Orientierung auf Mexiko bei, bis sie nach dem Abklingen der revolutionären Kämpfe nach Mexiko zurückkehrten. In den 1920er Jahren stieg allerdings die Anzahl derer, die sich nicht als ein Teil Mexikos verstanden. Besonders innerhalb der aufsteigenden Mittelschicht von Mexican Americans entstand ein Selbstbild, das auf die US-amerikanische Staatsbürgerschaft rekurrierte und damit auf Integration in die Gesellschaft der 120 Erste Anstrengungen zur Militarisierung der Grenze vonseiten der USA fanden in den folgenden Jahren u.a. wegen der revolutionären Auseinandersetzungen in Mexiko statt. Diese Kämpfe griffen einerseits manchmal auf das Gebiet der Vereinigten Staaten über. Andererseits - und dies war wesentlich entscheidender - führte der Bürgerkrieg in Mexiko zu einer verstärkten Einwanderung in die USA in einer Zeit, als dort nativistische Strömungen an Einfluss gewannen. Zur Militarisierung vgl. Stern, "Buildings, Boundaries, and Blood", S. 54ff. 121 Zur Grenzregion generell und diesem Aspekt des ständigen Austauschs der Bewohner auf beiden Seiten vgl. Oscar J. Martinez, Border People: Life and Society in the U.S.Mexico Borderlands, Tucson, Ariz., 1994. 122 Vgl. González, Mexican Consuls, S. 1 Iff. 123 Richard A. García, "The Mexican American Mind: A Product of the 1930s", in: Mario T. Garcia, Francisco Lomeli, Mario Barrera, Edward Escobar, John Garcia (Hg.), History, Culture, and Society: Chicano Studies in the 1980s, Ypsilanti 1983, S. 67-93, hier S. 75ff. Ders., Rise, S. 22Iff.
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Vereinigten Staaten ausgerichtet war. Eine solche Integration hing allerdings eng mit der Rassenzugehörigkeit der Mexican Americans zusammen. Sie konnte nur erfolgreich sein, wenn Mexican Americans als weiß anerkannt wurden. Die Akzeptanz der US-Staatsbürgerschaft und eine Selbstzuordnung von Mexican Americans in die US-amerikanische Nation erforderte eine Trennung der Rassenzugehörigkeit von der nationalen Herkunft. Dem Bündel von Bedeutungen, die sich hinter dem Rassenbegriff verbargen, traten in den 1920er Jahren neue Elemente hinzu. Für Mexican Americans kam es zu einer teilweisen Loslösung der Rassenzugehörigkeit von der nationalen. Die Korrespondenz einiger politisch aktiver Mexican Americans in Texas aus den Jahren 1927 und 1928, in der es um die Vereinigung dreier Organisationen zur gemeinsamen Interessenvertretung ging, zeigt diese Tendenz.124 Alonso Perales, ein prominentes Mitglied der League of Latin-American Citizens, trat für den Zusammenschluss ein. In diesem Zusammenhang schrieb er Ben Garza, der ebenfalls der League angehörte, über die seiner Meinung nach bestehende Rückständigkeit der Mexican Americans. Die Ursachen für dieses Problem lagen in den Augen von Perales in der Gruppe der Mexican Americans selbst: Although I am an American citizen and the United States is the leading country in the world, I belong to the Mexican-American component element of our nation, and as a racial entity we have accomplished nothing that we can point to with pride. 125
Perales sah Mexican Americans also als eine eigene rassische Einheit, gleichzeitig ordnete er sie aber der US-amerikanischen Nation als einen integralen Bestandteil zu. Damit unterschied sich sein Bild fundamental von dem der Anglo-Amerikaner, die Angehörigen anderer Rassen als ihrer eigenen die Möglichkeit absprachen, "gute Amerikaner" zu sein, und damit einhergehend die soziale Staatsbürgerschaft nicht zuerkannten. El Paladin, eine spanischsprachige Zeitung, die in Corpus Christi, Texas, erschien, beteiligte sich an der Auseinandersetzung und unterstützte den Zusammenschluss der Organisationen. In einem Leitartikel setzte sich El Paladin fur die Gründung einer neuen Organisation ein, die ausschließlich "para los ciudadanos americanos de sangre mexicana" sein sollte. Auch die Zeitung sah in der Rasse der Mexican Americans keinen Ausschlussgrund von der US124 Bei den drei bereits bestehenden Organisationen handelte es sich um die League of Latin-American Citizens, den Order Knights of America und den Order Sons of America. 125 Brief von Alonso S. Perales an Ben Garza, 26.6.1928, Andrés de Luna Collection, LULAC Archives, Benson Latin American Collection, University of Texas at Austin, folder 3. Der Brief wird auch bei Gutiérrez, Walls and Mirrors, S. 83, und bei Márquez, LULAC, S. 25, zitiert.
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Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen Rechten. Sie nahm vielmehr an, dass die Lage der Mexican Americans, insbesondere die Nichtbeachtung ihrer Rechte, selbstverschuldet war: "... por falta de asimilación por proximitud de fronteras, por nuestras tradiciones o idioma, no obtenemos todas las garantías o prerrogativas que la constitución americana concede a todo ciudadano sin excepción de descendencia."126 Die Einschätzung, dass die Mexican Americans für ihre Situation im Wesentlichen selbst verantwortlich waren, zeigt ihre Verwurzelung im USamerikanischen Wertekanon. Die Aktivisten machten nicht etwa strukturelle Ursachen für die soziale Benachteiligung verantwortlich. Sie glaubten an die Möglichkeit sozialer Mobilität und hingen damit letztlich dem "amerikanischen Traum" an.127 In dem Aufruf der Zeitung zur Vereinigung der Organisationen finden sich neben der negativen Selbstbeurteilung aber auch Anklänge an die Hoffnung auf die "raza cósmica". Die Zeitung situierte Mexican Americans zwischen den beiden Ländern USA und Mexiko und sah in ihnen die Gründer einer künftigen, neuen Rasse: Vamos formando una raza nueva al margen de dos naciones poderosas y grandes (México y E.U.) y seguimos siendo americanos para cumplir religiosamente con todo lo que sea nuestro deber y mexicanos cuando se trata de repartir muy en particular en el sur de Texas.128
Die Verbindung von charakterlichen Eigenschaften und Rassen unternahmen Mexican Americans ebenso wie Anglo-Amerikaner. Mehrere von ihnen beklagten in ihrem Schriftverkehr zum Aufbau einer einzigen Organisation, dass die Mexican Americans, anders als etwa Griechen oder Chinesen, selten Einigkeit zeigten und sich stattdessen vor allem durch einen Hang zu Streitereien aus126 "... wegen der mangelnden Assimilation, der Nähe zur Grenze, aufgrund unserer Traditionen und Sprache erhalten wir nicht all die Garantien und Vorteile, die die amerikanische Verfassung allen Staatsbürgern ohne Unterscheidung der Herkunft zugesteht." Vgl. El Paladin, 31.4.1928, in Andrés de Luna Collection, LULAC Archives, folder 3. 127 Zu diesem Bekenntnis mexikanisch-amerikanischer Organisationen an die Aufstiegsmöglichkeiten für jedermann in den USA vgl. Márquez, LULAC, S. 24. Der Autor macht hier die Klassenlage der Aktivisten verantwortlich für diese Sichtweise und übersieht, dass es sich bei diesem Bild um eine die US-amerikanische Gesellschaft durchziehende Vorstellung handelt, die auch von Angehörigen der Unterschichten weitgehend geteilt werden. Vgl. dazu Lindholm, Hall, "Is the United States", S. 187. 128 "Wir werden am Rande der beiden großen und mächtigen Nationen (Mexiko und die USA) eine neue Rasse bilden und wir werden Amerikaner sein, um getreulich unsere Pflichten zu erfüllen, und Mexikaner, wenn es insbesondere im Süden von Texas um die Verteilung geht." El Paladin, 31.4.1928, in Andrés de Luna Collection, LULAC Archives, folder 3.
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zeichneten.129 Allerdings führten diese Zuschreibungen in der Selbstwahrnehmung erwartungsgemäß nicht zu einem ähnlich stereotypen Gesamtbild wie dies bei der Fremdwahrnehmung durch die Anglo-Amerikaner der Fall war. Dies hatte seine Ursache in der Lage der Mexican Americans. Sie waren von den rassistischen Stereotypen betroffen und mussten sich deshalb gegen die Stigmatisierung wehren. Aus einer solchen Position heraus argumentierten Mexican Americans meistens, dass negative Eigenschaften und mindere Fähigkeiten zwar vorkämen, es sich dabei aber um Einzelfalle handele, die als solche gesehen werden sollten. Ebenso wie es diese negativen Beispiele gab, sahen Mexican Americans in ihren eigenen Reihen auch Personen mit positiven moralischen und charakterlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Perales etwa forderte eine Organisation, in der intelligente, fortschrittliche, energische, ehrliche und selbstlose Mexican Americans die von ihm beklagte Rückständigkeit der eigenen Rasse in ihr Gegenteil wenden sollten.130 Diese mit positiven Eigenschaften belegten Anfuhrer, die Perales als diejenigen sah, die den Mexican Americans aus ihrer schlechten sozialen Situation heraushelfen konnten und sollten, ähnelte der gebildeten Elite, die in den Augen von W.E.B. DuBois die Zivilisation der African Americans anheben sollte.131 Im Februar 1929 mündeten die Anstrengungen zur Schaffung einer einheitlichen Organisation von Mexican Americans in die Gründung der League of United Latin American Citizens (LULAC).132 Ende des Jahres hatte der Verein bereits 19 Ortsgruppen im Süden von Texas, 1932 war die Zahl auf 37 gestiegen.133 LULAC erlangte schnell Einfluss über den regionalen Rahmen hinaus. 1933 bestanden außer in Texas Ortsgruppen in Arizona, New Mexico, Colorado, Kalifornien und sogar in Washington, D.C.134 1940 verfugte die Organisation über 150 Ortsgruppen im Südwesten. Die Anzahl der Einzelmitglieder ist 129 Vgl. z.B. Brief von James Tafolla an Eduardo N. Idar, 16.12.1927, in ebd., folder 3. Vgl. Márquez, LULAC, S. 25. 130 Perales an Garza, in ebd. 131 Vgl. Gutiérrez, Walls and Mirrors, S. 77. 132 Obwohl die spanischsprachige Bevölkerung in Texas in der überwiegenden Mehrheit mexikanischer Abstammung war, nahm die Organisation in ihrem Namen keinen Bezug auf diese Herkunft. Melville erklärt dies mit dem Stigma, das Mexiko aufgrund der Niederlage im Krieg von 1846-48 anhaftete. Melville, "Hispanics", S. 69. Wahrscheinlicher ist jedoch die Erklärung, die Márquez anfuhrt. Demnach wollte LULAC sich von dem Stigma, das Mexikanern anhaftete und das seinen Ausdruck in der Segregation fand, abheben. Márquez, LULAC, S. 29. 133 Márquez, LULAC; S. 27. 134 García, "The Mexican American Mind", S. 82.
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schwieriger zu bestimmen. Márquez geht von insgesamt 2.000 Personen aus. Das würde bedeuten, dass in den Ortsgruppen im Durchschnitt lediglich 15 Mitglieder organisiert waren. Garza schätzt die Zahl hingegen mit 15.000 bis 20.000 Mitgliedern sehr hoch ein.135 LULAC betonte in den Jahren nach der Gründung immer stärker die USStaatsbürgerschaft der Mexican Americans. Gegenüber Mexiko fand eine zunehmende Abkoppelung statt. Bei der Zeremonie zur Aufnahme neuer Mitglieder mussten diese zuerst ihre Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten und der Verfassung schwören, bevor sie auch ihre Treue gegenüber den Statuten des Vereins erklärten. In der feierlichen Zeremonie folgten das Lied "America" als Hymne des Vereins und eine Rede eines LULAC-Amtsinhabers über die Ideale von 1787. Schließlich war das offizielle Gebet von LULAC George Washington^! Prayer. All dies wurde in Englisch, der offiziellen Sprache von LULAC, durchgeführt.136 Symbolische Bezüge auf den mexikanischen Hintergrund der Mitglieder gab es hingegen in der Zeremonie keine.137 Mexiko tauchte nur noch in dem Emblem LULACs auf, es handelte sich dabei um das Bild der USamerikanischen und der mexikanischen Flagge, unter denen sich zwei Hände kreuzten.138 Gegenüber der symbolischen Zuordnung, die der Congreso Mexicanista 1911 in Laredo praktiziert hatte, fand bei LULAC also fast eine Umkehrung statt. Nicht Mexiko, sondern die Vereinigten Staaten stellten die Hauptorientierung dar. Auch die offizielle Zeitschrift von LULAC, die LULAC News, betonte immer wieder, dass Mexican Americans einen integralen Bestandteil der Gesellschaft der Vereinigten Staaten bildeten. Hier wurde ein positiver Bezug auf Mexiko sogar häufig offen angegriffen. In einem Beitrag zur Staatsbürgerschaft interpretierte z.B. Adolph A. Garza 1931 die Geschichte des Südwestens in gewisser Weise neu, um sie in Einklang mit der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung zu bringen. Für ihn erfolgte auch die Loslösung von Texas von Mexiko 1836 nach dem Prinzip "no taxation without representation".139 Der Au-
135 Márquez, LULAC, S. 36. Edward Garza, LULAC: League of United Latin American Citizens, Master's thesis, Southwest Texas State Teachers College 1951, S. 22. Angaben hier nach Márquez, Anm. 3, S. 121. 136 Vgl. auch Márquez, LULAC, S. 10. 137 Vgl. "LULAC, San Antonio 1929", Taylor Papers, carton 12, folder 39. 138 Ebd. 139 Bei der Ablösung des Gebietes von Mexiko ging es zwar um die Frage der Repräsentation, die Problematik war jedoch anders gelagert, als dies bei den Unabhängigkeitsbestrebungen der englischen Kolonien vom Mutterland der Fall war. Zur Unabhängigkeit
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tor betonte außerdem den Kampf von Texas auf der Seite der Konföderierten im Bürgerkrieg.140 Mit beidem versuchte Garza, die Geschichte der Mexican Americans mit der US-amerikanischen im Allgemeinen und der texanischen im Besonderen in Einklang zu bringen und darüber gewissermaßen eine Einheit zwischen ihnen und Anglo-Amerikanern herzustellen.141 Schließlich kritisierte Garza in dem Artikel diejenigen aufs Schärfste, die aufgrund ihrer mexikanischen Abstammung meinten, sie müssten sich Mexiko gegenüber loyal zei„ „ „ 142
gen. Da ihre Rassenzugehörigkeit umstritten war und dies die Anerkennung ihrer Staatsbürgerschaft gefährdete, beschäftigten sich die LULAC News immer wieder damit. 1932 fragte ein Beitrag "Are Texas-Mexicans Americans?", um dies sofort mit "ja" zu beantworten.143 Erneut fand ein Bezug auf die texanische Unabhängigkeitsbewegung statt. Texas-Mexicans hatten sich danach die USStaatsbürgerschaft schon deshalb verdient, da viele von ihnen aufseiten der Unabhängigkeitskämpfer gestanden hatten. Außerdem bezog sich der Beitrag auf den Vertrag von Guadalupe Hidalgo und das itts solis des US-amerikanischen Staatsbürgerschaftsrechts. Die Selbstbezeichnung "la raza" trat immer weiter in den Hintergrund und LULAC betonte seit den 1930er Jahren die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und die Zugehörigkeit zur Nation der Vereinigten Staaten immer stärker.144 Dies stand auch in Zusammenhang mit der Abgrenzung von der wachvon Texas vgl. León, Mexican Americans, S. 19fT, Vázquez, Meyer, México frente, S. 56ff. 140 Das ist u.a. auch bemerkenswert, da ein Konfliktpunkt zwischen den angloamerikanischen Einwanderern in Texas und der mexikanischen Regierung die Abschaffung der Sklaverei mit der Unabhängigkeit Mexikos 1829 war. 141 In Bezug auf den Bürgerkrieg und die Frage der Sklaverei, die damit indirekt angesprochen ist, ist diese Bemerkung in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen beseitigten die Mexikaner mit der Unabhängigkeit die Institution der Sklaverei, was ein Ärgernis fur die angloamerikanischen Einwanderer in Texas darstellte. Zum anderen ist der Hinweis auf die Beteiligung der Mexican Americans am Kampf der Konfoderierten auch ein verdecktes Zeichen der negativen Haltung vieler Mexican Americans gegenüber African Americans. 142 Adolph A. Garza, "Citizenship", in: LULAC News 1,2 (1931), S. 8-9. 143 LULAC News 1,9 (1932), S. 7-8. 144 Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Selbstverständnis, einer "mexikanischen", "hispanischen" oder "lateinischen" Rasse anzugehören, vollkommen verschwunden wäre. Vgl. z.B. El Paso Council 132: Aims and Purposes of the League of United Latin American Citizens. The aims and purposes of this Organization as amended at El Paso on June 24, 1944, Modesto Gómez Papers, LULAC Archives, Benson Latin American Collection, University of Texas at Austin, folder 3.
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senden Zahl mexikanischer Einwanderer, deren Anwesenheit in den Vereinigten Staaten als Bedrohung für den eigenen Status empfunden und deshalb bekämpft wurde.145 Dass die Selbstzuschreibung als eigene Rasse an Bedeutung verlor, hing ganz entscheidend mit Ereignissen des Jahres 1936 zusammen. In diesem Jahr brach ein Konflikt offen aus, der vorher bereits latent vorhanden gewesen war. In El Paso ergab sich für Mexican Americans gleichzeitig die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit, ihr "Weiß-Sein" einzuklagen, da ihnen dieser Status von staatlicher Seite öffentlich abgesprochen wurde. Von dort zog die Auseinandersetzung schnell weitere Kreise. Am 5. Oktober 1936 erklärten der Leiter des Standesamtes von El Paso, Alex K. Powell, und der Direktor des Gesundheitsamtes, Dr. T. J. McCamant, dass Mexikaner (und hier waren auch Mexican Americans gemeint) fortan nicht mehr als weiß, sondern als "colored" in den städtischen Geburten- und Sterberegistern gefuhrt werden sollten. Beide Beamte wiesen darauf hin, dass das Zensusbüro in Washington, D.C., diese Maßnahme veranlasst habe und sie bereits in mehreren texanischen Städten umgesetzt würde. Das Ziel einer solchen Reklassifizierung lag für Powell und McCamant in dem Vorteil, die Kindersterblichkeitsrate El Pasos erheblich zu senken.146 Offenbar zählte in ihren Augen nur die Kindersterblichkeitsrate der weißen Bevölkerung. Die anderen Rassen konnten demnach getrost vernachlässigt werden.147 Diese Ankündigung rief bei den Mexican Americans der Stadt sofort Protest hervor. Besonders aktiv wurde Cleofas Calleros, der zwar in Mexiko geboren worden, aber bereits als Kind in die USA gekommen war. Er diente von 19171919 in der US-Armee und war als Soldat in Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach El Paso zurück, wo er sich sowohl in der katholischen Kirche, der Sozialarbeit als auch in Bürgerrechtsorganisationen engagierte. Richard Garcia bezeichnet Calleros als einen bekannten Künstler und Intellektuellen in El Paso.148 1936 war Calleros Vertreter der National Catholic Weifare Conference (NCWC) in El Paso. Diese Position konnte er für seine Aktivitäten 145 Vgl. Gutiérrez, Walls and Mirrors, S. 84ff. 146 El Paso Herald Post, 6.10.1936, El Continental, 6.10.1936, beide in Cleofas Calleros Papers, Special Collections, University of Texas at El Paso, box 28, folder 1. Vgl. dazu Mario T. García, "Mexican Americans and the Politics of Citizenship: The Case of El Paso, 1936", in: New Mexico Historical Review 59(1984), S. 187-204. 147 El Paso bemühte sich um den Ruf einer besonders gesunden Stadt, die wegen des trockenen und bekömmlichen Klimas z.B. ideal für Tuberkulosepatienten war. Diesem Bestreben stand eine besonders hohe Kindersterblichkeitsrate natürlich im Wege. Vgl. Stern, "Buildings, Boundaries, and Blood", S. 43. 148 Garcia, Rise, S. 119.
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gegen die Rassenkategorisierung als "colored" nutzen, da sie direkte Kontakte nach Washington, D.C., zur Zentrale der NCWC mit sich brachte. Calleros und seine Mitstreiter wandten sich nicht nur öffentlich gegen die Maßnahme, sie mobilisierten in ganz Texas und darüber hinaus in Washington und Mexiko Proteste. Erste Stellungnahmen gegen die Ankündigung von Powell und McCamant fanden sich bereits am 6. Oktober 1936 in englisch- und spanischsprachigen Zeitungen in El Paso. Die El Paso Herald Post berichtete lediglich über den Protest verschiedener Personen und Organisationen und zitierte den Anwalt George Rodriguez, der offiziellen Einspruch beim State Department ankündigte und verlautbarte, dass Erkenntnisse der Anthropologie und Ethnologie zeigten, dass die neue Klassifizierung falsch sei, da Lateinamerikaner der weißen Rasse angehörten.149 El Continental ging hingegen mit der Maßnahme schärfer ins Gericht. Der Leitartikel beklagte die Gleichsetzung der Mexikaner mit den "Negros" und bezeichnete dies als genauso dumm wie die Klassifizierung von mexikanischen Einwanderern als "raza mexicana" durch die Einwanderungsbehörde. Mexikaner seien weder Farbige in dem negativen Sinne, in dem Weiße den Begriff "colored" benutzten, noch unterschieden sie sich kulturell oder in anderer Hinsicht von den Weißen. Bei der Bezeichnung "raza mexicana" würden Rasse und Nationalität verwechselt. Tatsächlich sei es aber so, dass Indios überhaupt nicht der "raza mexicana" zuzurechnen seien und alle Mexikaner, die nicht "puro indio" also reine Indios - wären, gehörten der kaukasischen Rasse an. Zwar hätten viele Mexikaner eine dunkle Hautfarbe, in ihren sonstigen rassischen Merkmalen seien sie jedoch weißer als diejenigen "patrioteros", die aufgrund eines dummen Überlegenheitskomplexes Rassenvorurteile schürten. Neben diesem Kommentar kündigte die Zeitung in einem weiteren Artikel an, dass Cleofas Calleros eine allgemeine Versammlung in der Angelegenheit einberufen würde.150 In dem Leitartikel von El Continental kommt die Widersprüchlichkeit der Rassenkategorie und wie sie zu dieser Zeit verstanden wurde exemplarisch zum Ausdruck. Einerseits bestreitet der Artikel die Existenz einer "mexikanischen Rasse", da die Mitglieder der mexikanischen Nation der kaukasischen Rasse angehörten. Andererseits stellt er fest, dass zu eben dieser "raza mexicana" keine Indios gehörten, und wendete damit doch wieder die Rassenkategorie in Zusammenhang mit der Nationalität an. Weiterhin kritisierte der Beitrag diejenigen, die einen Überlegenheitskomplex hätten und deshalb Rassenvorurteile schürten, gleichzeitig stritt er jedoch auch die Zugehörigkeit der Indios zur Gruppe der Mexikaner ab. Abwertende Aussagen über die Indios machte der Artikel zwar 149 El Paso Herald Post, 6.10.1936 in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1. 150 El Continental, 6.10.1936, in ebd.
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nicht, die Ablehnung dieser Gruppe aufgrund rassistischer Vorurteile stellte jedoch den Hintergrund dar. Indios galten nicht nur in den USA, sondern auch in Mexiko als Angehörige einer zurückgebliebenen Zivilisation. Schließlich wäre der Artikel selbst hinfallig gewesen, wenn die mexikanischstämmige Bevölkerung kein Problem in der Gleichsetzung mit Schwarzen - so die Überschrift des Leitartikels - gesehen hätte.151 Letzteres gilt allerdings nur insofern, als auch Mexican Americans Vorurteile gegenüber African Americans hegten. Ihr Protest gegen die Maßnahme der Stadt hatte vor allem politische Ursachen. Eine andere englischsprachige Zeitung kritisierte in einem Beitrag vom 7. Oktober 1936152 die neue Kategorisierung der Mexikaner, die allenfalls als "rote Rasse" geführt werden sollten, nicht aber als "colored". Angesichts der guten Beziehungen zum südlichen Nachbarn plädierte das Blatt allerdings dafür, dass in den Geburten- und Sterberegistern besser keine Veränderung vorgenommen werden sollte, da schlechte Schlagzeilen aufgrund einer hohen Kindersterblichkeitsrate für El Paso weniger zu furchten seien als ein schlechtes Auskommen der Rassen untereinander. Der Ruf El Pasos als einer Stadt mit besonders gesundem Klima erschien dem Blatt also weniger wichtig als ein ruhiges Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Angesichts der Zusammensetzung der städtischen Einwohnerschaft erscheint dies als ein durchaus verständliches Anliegen. In El Paso lebten in den 1920er Jahren etwa 100.000 Menschen, von denen ca. 40% mexikanischer Abstammung waren. 153 Außerdem trug die Lage der Stadt an der mexikanischen Grenze dazu bei, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zum südlichen Nachbarn eine wichtige Einkommensquelle darstellten. Schließlich kamen viele Mexikaner tagtäglich über die Grenze, um in El Paso zu arbeiten. Am darauffolgenden Tag berichtete die El Paso Herald Post, dass Calleros zusammen mit 25 weiteren Mexican Americans eine Klage gegen die Maßnahme zur Reklassifizierung mit der Begründung eingereicht hatte, dass Mexikaner entweder Indianer seien und dann der roten Rasse angehörten oder dass sie weiß seien.154 Der Direktor der Gesundheitsbehörde verteidigte hingegen die Ent-
151 M. Garcia zitiert diesen Zeitungsartikel zwar auch, er lässt interessanterweise aber die Widersprüchlichkeit unerwähnt. 152 Vgl. Zeitungsausschnitt in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1. 153 Stem, "Buildings, Boundaries, and Blood", S. 64. W. H. Timmons, El Paso: A Borderlands History, El Paso 1990, S. 231, gibt für die Gesamtbevölkerung der Stadt für 1921 80.000 Einwohner an. 154 El Paso Herald Post, 7.10.1936, in ebd. Auch die San Antonio Evening Post berichtete über die Klage. Hier hieß es, sie sei von Modesto Gomez und 26 weiteren Personen ein-
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Scheidung, da damit die Kindersterblichkeitsrate gesenkt und El Paso anderenfalls diskriminiert würde. McCamant bezog sich außerdem auf die Anweisung des Zensusbüros, die ihn selbst und Powell entlasten sollte. Die Zeitung fügte dem Bericht Informationen bei, wie der Begriff "colored" zu verstehen sei. Der Artikel 493 des texanischen Strafgesetzbuches definierte in Zusammenhang mit dem Straftatbestand der Rassenmischung: "a person of mixed blood descended from negro ancestry from the third generation inclusive, although one ancestor of each generation may have been a white person is a negro."155 Alle anderen galten hingegen als weiß. Auch hier findet sich also die Gleichsetzung der Begriffe "colored" und "Negro". Weiter führte die El Paso Herald Post aus, dass der nationale Zensus die spanischsprachige Bevölkerung nicht als "colored" einstufen würde. Vielmehr gäbe es dort drei Kategorien, nämlich "Anglo-Saxon", "Negro" und "other races". Die Spanischsprachigen würden in der letzten Kategorie geführt. Die Begründung der Klage gegen McCamant und Powell stellte ebenfalls fest, dass in den Vereinigten Staaten üblicherweise "colored" ein Synonym für "Negro" sei. Die Schrift bezog sich zunächst ebenfalls auf die texanischen Gesetze und nannte weitere Gerichtsfälle aus anderen Bundesstaaten, in denen es um die Bezeichnung ging. In Collins vs. State, 7.A.L.R., Oklahoma, wurde bestimmt, dass der Straftatbestand einer Beleidigung gegeben sei, wenn eine weiße Person als "colored" bezeichnet würde. In dem Fall Clark vs. Directors of the City of Muscatine, Iowa, sei eindeutig festgelegt worden, dass: "The word 'colored' and its abbreviation 'Col.' as applied to a person is synonymous with 'negro'."156 Weiter erhoben die Kläger den Vorwurf, dass die Reklassifizierung der: "Spanish, Spanish-American and Mexican citizens as 'Colored', ... will subject them to legal, social and sanitary injuries and damages for which they have no adequate legal remedy."157 Die Aufzählung der Gebiete, in denen Mexikaner zu leiden hätten, wenn sie als "colored" klassifiziert würden, entfaltet die Bandbreite der befürchteten legalen und sozialen Folgen einer solchen Maßnahme für die mexikanischstämmige Bevölkerung. Für African Americans galten eigene Gesetze, die im Allgemeinen
gereicht worden. Gömez war Mitglied von LULAC. San Antonio Evening 7.10.1936, in ebd.
Post,
155 El Paso Herald Post, 7.10.1936, in ebd. 156 M.A. Gömez, et al., plaintiffs, vs. T.J. McCamant, Alex K. Powell, et al., defendants, in ebd. 157 Ebd.
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unter dem Begriff Jim Crowism zusammengefasst werden.158 Die rechtlich festgelegte Segregation versagte African Americans - um nur einen Aspekt zu nennen - den Zugang zu guten Schulen und renommierten Universitäten und schränkte ihre soziale Mobilität schon deswegen stark ein. Erstaunlich an den genannten Feldern, in denen Mexikaner im Falle der Reklassifizierung geschädigt würden, ist der Bereich der Hygiene. Vergegenwärtigt man sich allerdings die seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmende Tendenz, rassische Charakteristika mit ansteckenden Krankheiten wie Typhus, Tuberkulose etc. in Beziehung zu setzen, dann wird die Bemerkung verständlich. Mediziner und Eugeniker definierten "weiß" als gesund, während sie alle anderen Rassen mit Krankheitsträgern gleichsetzten. Dies widerfuhr zu Beginn des Jahrhunderts auch Mexikanern. Diese Klage bezog sich deshalb weniger auf befürchtete Konsequenzen, die bisher nur African Americans erfahren hätten, sondern auf die unmittelbare Vergangenheit der Migration, die den meisten mexikanischstämmigen Einwohnern El Pasos entweder als persönliche Erfahrung oder zumindest aus Erzählungen von Angehörigen, Freunden oder Nachbarn präsent gewesen sein dürfte. Alexandra Minna Stem hat in ihrer Untersuchung deutlich gemacht, dass in der Grenzstadt seit der ersten Dekade des Jahrhunderts ein Prozess in Gang war, der nicht nur die Grenze im Sinne eines Hindernisses für die geographische Mobilität in der Region etablierte. Darüber hinaus ging das Geschehen an der Grenze einher mit der Konstruktion der Mexikaner als rassisch Anderen und als Trägern von tödlichen Krankheiten.159 Die Grenze wurde zu einer Station ausgebaut, in der Grenzgänger von Mexiko in die USA sich einer erniedrigenden Prozedur der Untersuchung und Desinfektion ihrer selbst sowie ihrer Kleidung unterziehen mussten. Dies machte für alle den Ausschluss von Mexikanern aus der weißen Rasse augenfällig und für diejenigen, die diese "Entseuchung" über sich ergehen lassen mussten, auch körperlich erfahrbar. Betroffen waren aber nicht nur Mexikaner, sondern auch Mexican Americans, die in abgetrennten Vierteln lebten. Sie wurden ebenso Ziel des medizinischen und eugenischen Diskurses und der daraus häufig folgenden sozialpolitischen Maßnahmen. Erst mit der Weltwirtschaftskrise, als erzwungene und freiwillige Rückwanderungen von Mexikanern die Migrationsbewegimg umkehrten, verlor diese "medizinische" Station am Grenzübergang an Bedeutung. 1936 erinnerten sich die 158 "Jim Crow" war der Titel eines Minstrel-Stücks von T.D. Rice (um 1828). Die Bezeichnung steht als Synonym für die Rassentrennung. Norbert Finzsch, Harnes O. Horton, Lois E. Horton, Von Benin nach Baltimore. Die Geschichte der African Americans, Hamburg 1999, S. 334. Vgl. auch C. Vann Woodward, The Strange Career of Jim Crow, 3. Überarb. Aufl., Oxford 1974. 159 Stern, "Buildings, Boundaries, and Blood."
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meisten mexikanischstämmigen Einwohner El Pasos aber vermutlich nur zu gut daran. Möglicherweise befürchteten die Kläger bei der Erwähnung der hygienischen Verhältnisse auch, dass gegen die hohe Kindersterblichkeit in den barrios noch weniger als sowieso schon unternommen würde, wenn die Einwohner offiziell der farbigen Bevölkerung zugerechnet würden. Angesichts der Begründung der Maßnahme durch die Beamten Powell und McCamant lagen sie damit wohl kaum falsch. Als McCamant am 7. Oktober 1936 vor Gericht erschien, um wegen der Klage Stellung zu beziehen, äußerte er sich bereits vorsichtiger als vorher in der Öffentlichkeit. Er behauptete nun, dass es sich bei der ganzen Sache um ein Missverständnis handele. Er habe die Daten von Mexikanern lediglich von denen über Weiße trennen wollen, um sich privat ein Bild von den Unterschieden machen zu können. Der Standesbeamte Powell habe ihn falsch verstanden und die Maßnahme deshalb als offiziell betrachtet. Immerhin gestand der Arzt ein, dass er eine solche Trennung befürworten würde. Von dieser Stellungnahme berichtete wiederum die El Paso Herald Post, die in dem Artikel außerdem beschrieb, dass verschiedene Organisationen von Lateinamerikanern sich für eine Änderung der Bestimmung des Zensusbüros einsetzen würden und zu diesem Zweck Resolutionen an Kongressabgeordnete und Senatoren in Washington gesandt hätten, die Sache also zu einer Angelegenheit des Kongresses werden würde.160 Die Tatsache, dass gegen die neue Kategorisierung in den städtischen Bevölkerungsstatistiken Klage erhoben wurde, zeigt ebenso wie die Heranziehung des penal code zur Definition von "colored" die enorme Bedeutung, die gerichtliche Entscheidungen in der Frage von Rassen und Rassenzugehörigkeit in den Vereinigten Staaten einnahmen. Angesichts der unklaren, widersprüchlichen und vor allem nicht beweisbaren Einteilung der Menschheit in Rassen konnte die Wissenschaft keine verlässliche Basis dafür sein, auch wenn dies immer wieder behauptet wurde. Der Rückgriff auf die gerichtliche Festlegung der Rassenzugehörigkeit gab den sozialen Konstruktionen gesellschaftliche Legitimität und Autorität. Diese Vorgehensweise führte außerdem dazu, dass die jeweiligen Entscheidungen den regionalen Bedingungen und Vorstellungen ebenso Rechnung trugen wie zeitlichen Veränderungen.161 Die Mexican Americans trauten dem schnellen Rückzug von McCamant nicht, sie versuchten vielmehr, weitere Informationen einzuholen und Lobbyar160 El Paso Herald Post, 8.10.1936, in ebd. 161 Zur Bedeutung der Rechtsprechung in der Konstruktion von Rassen vgl. Haney Lopez, White By Law.
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beit in der Angelegenheit zu betreiben. Calleros bat den Vorsitzenden des NCWC in Washington um Aufklärung in Bezug auf die Kategorisierung von Mexikanern im nationalen Zensus. Er wollte wissen, ob sie dort als "other white", "non-white" oder "colored" gefuhrt würden.162 Für ihn bestand also ein Unterschied zwischen den Bezeichnungen "non-white" und "colored", der sich wieder nur mit der Gleichsetzung von "colored" und "Negro" erklären lässt. Diese Gleichsetzung ist in Texas vermutlich auch der Bevölkerungszusammensetzung und der bis dahin geltenden Einteilung in Rassen geschuldet. Große Gruppen waren lediglich Weiße, African Americans und Mexican Americans bzw. Mexikaner. Da letztere zumindest offiziell als Weiße gegolten hatten, bedeutete dies eine Gleichsetzung der Kategorien "colored" und "Negro". In anderen Regionen, wie z.B. Kalifornien, wo Einwanderer aus verschiedenen asiatischen Ländern in größerer Anzahl präsent waren, hätte eine Gleichsetzung von "colored" und African American u.U. nicht ohne weiteres stattgefunden. Die Proteste gegen die Maßnahme beschränkten sich nicht auf El Paso. Cleofas Calleros reiste in den folgenden Wochen in andere texanische Städte, um hier die Mexican Americans auf den Sachverhalt aufmerksam zu machen und sie dazu aufzurufen, sich an dem Widerstand zu beteiligen. Mitte Oktober 1936 fuhr er nach San Antonio, wo er sich nicht nur mit den LULAC-Vertretern Alonso Perales, Florencio Flores und Carlos Alvides traf, sondern auch mit Maury Maverick, dem Repräsentanten San Antonios im Bundeskongress.163 Die vier Mexican Americans konnten Maverick dazu bewegen, sich sofort telegraphisch an das Zensusbüro in Washington zu wenden. Am selben Tag sandte Maverick zusätzlich einen Brief an den Direktor des Zensusbüros. Er fragte darin zunächst, ob es stimme, dass Mexican Americans als "colored" klassifiziert würden, um dann auszufuhren, dass dies zu Recht als eine Beleidigung empfunden würde, da "colored" in den Vereinigten Staaten "African descent" meine. Maverick verglich die Mexican Americans mit Einwanderern europäischer Abstammung und schrieb: In the State of Texas the Mexican people have been citizens for 100 years; they have gone to our Texas schools; they speak the English language like anyone else and are no different than, for instance, an Italian, a Roumanian, or a Hollander who settles in Oshkosh, Wisconsin, or in New York City. The Italians in New York City are not classified as 'colored', nor are the other races. It is, therefore, from a viewpoint of law, common-sense, ordinary justice, or racial classification, a discrimination against the people who live in the southwestern portion of the United States, who are American citizens and happen to be of Mexican or Spanish extraction. ... To classify these people here as 'colored' is to jumble them in as 162 Brief Calleros an Bruce Möhler vom 9.10.1936 in ebd. 163 La Prensa (San Antonio), 19.10.1936, in: Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1.
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Negroes, which they are not and which naturally causes the most violent feelings.' 64
Maverick bekam vom Zensusbüro eine ähnliche Antwort wie Bruce Möhler vom NCWC. Der Direktor William L. Austin behauptete, es handele sich bei der ganzen Angelegenheit um einen Fehler der untergeordneten Stellen. Das Zensusbüro habe Mexikaner nie als "colored" eingestuft. In Zukunft werde die Klassifizierung drei Kategorien haben: Weiße einschließlich der Mexikaner, Schwarze sowie als dritte Rubrik alle anderen Rassen.165 Diese Antwort des Direktors des Zensusbüros kam prompt am selben Tag, an dem Mavericks Telegramm Washington erreichte. Die Angelegenheit scheint dort bereits als wichtig genug erachtet worden zu sein, sodass man eine sofortige Reaktion für angemessen hielt. Die Behauptung Austins, eine Klassifizierung der Mexikaner als farbig durch das nationale Zensusbüro habe nie stattgefunden, war allerdings nur zutreffend, wenn man "colored" tatsächlich gleichsetzte mit African American. Die Rubrik "other races" im Zensus von 1930 war allerdings solchen Bevölkerungsgruppen vorbehalten, die aufgrund der Rassenzuschreibung von der weißen Bevölkerung unterschieden wurden und die deshalb auch nicht die vollen bürgerlichen Rechte genossen. Für Mexican Americans bedeutete die Zuordnung zu den "other races" im Zensus von 1930 gewissermaßen, eine Stufe in Richtung "colored" abgestiegen zu sein. Die Verteidigung der Stellen in El Paso, dass ihre Maßnahme letztlich auf eine Anweisung des nationalen Zensusbüros zurückging, wird auch durch die Stellungnahme des Standesbeamten von Houston, Joe T. Presswood, untermauert. Presswood antwortete auf eine Anfrage Calleros, wie die Mexikaner in Houston klassifiziert würden, dass sie bis Ende August 1936 als Weiße gezählt worden seien, dann hätte er vom Chief Statistician des nationalen Zensusbüros die Anweisung erhalten, Mexikaner als "colored" einzuordnen. Allerdings sei diese Bestimmung wieder zurückgenommen worden und dementsprechend würden Mexikaner in Houston nun wieder als Weiße eingeordnet.166 Das Zensusbü164 Brief von Maury Maverick an Wm.L. Austin, Director of Bureau of the Census, 15.10.1936. Kopie des Briefs in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1. Diesem Engagement verdankt Maverick es offenbar, dass er von seinem Biographen Henderson als deijenige bezeichnet wurde, der eine Änderung in der Kategorisierung der Mexican Americans erwirkte. Richard B. Henderson, Maury Maverick: A Political Biography, Austin 1970, S. 199. 165 Telegramm von Austin an Maverick vom 15.10.1936, in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1. 166 Brief von Presswood, Registrar, Bureau of Vital Statistics in Houston an Calleros, 26.10.1936, in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 2. Siehe auch die Kopie des Briefes von Austin an Presswood vom 20.10.1936, in der Austin darüber informiert,
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ro scheint 1936 also die Kategorien "other races" und "colored" durchaus ähnlich bewertet zu haben. Der Umstand, dass das nationale Zensusbüro den lokalen Stellen in Texas erst 1936 Anweisung über die Verfahrensweise bei der Datenerhebung machte, lag daran, dass der Bundesstaat erst kurz zuvor in die nationale Erhebung der Geburten- und Sterbefälle, deren Ergebnisse monatlich veröffentlicht wurden, aufgenommen worden war.167 Die Frage, warum das Zensusbüro so schnell einlenkte und die mexikanischstämmige Bevölkerung wieder der weißen Rasse zuordnete, ist nicht eindeutig zu beantworten. Es scheinen mehrere Elemente eine Rolle gespielt zu haben. Zunächst war da der Protest der Mexican Americans selbst, der sich nach wenigen Tagen nicht nur auf ganz Texas ausweitete, sondern auch in anderen Staaten des Südwestens erhoben wurde. Als z.B. der Senator von New Mexico, Dennis Chävez, davon erfuhr, wandte er sich sofort mit einer Protestnote an den Handelsminister Roper, dem das Zensusbüro unterstand.168 Der Einspruch der Betroffenen allein hätte aber vermutlich nicht ausgereicht. Sie konnten allerdings mit dem NCWC eine nationale Organisation einbinden, die nicht ohne Einfluss war. Dies geschah nicht nur auf höchster Ebene in Washington, sondern Calleros mobilisierte auch Mitglieder des NCWC, sich mit Anfragen in Bezug auf die Rassenzuordnung der mexikanischstämmigen Bevölkerung an die jeweiligen lokalen Behörden in Texas zu wenden.169 Die Anfragen einiger weißer Politiker spielten ebenfalls eine Rolle bei der Rücknahme der neuen Zuordnung. Unter ihnen tat sich vor allem Maury Maverick hervor. Er gehörte der Demokratischen Partei an, sein Wahlkreis war San Antonio. Für die Mexican Americans setzte er sich u.a. deswegen ein, da er bei Wahlen auf ihre Stimmen zählen konnte.170 Wären Mexican Americans offiziell als "colored" eingestuft worden, dann hätte ihnen auch in solchen Regionen, in denen sie nicht durch die Be-
dass das Zensusbüro zur Vereinheitlichung der Rasseneinteilung folgende drei Kategorien erlassen habe: Weiße (einschließlich Mexikanern), "Negro" und "other races". Ebd. 167 Vgl. Brief von Calleros an Möhler, 9.10.1936, in ebd., folder 1. 168 El Paso Times, 17.10.1936, in ebd. In diesem Artikel wird sogar behauptet, dass der Protest von Chävez zur Rücknahme der Einordnung von Mexikanern als "colored" geführt hätte. 169 Vgl. Brief von Calleros an Mrs Kendall und Miss Garthar, 23.10.1936, ebd. folder 3. 170 Zur politischen Karriere von Maverick und der Unterstützung durch Mexican Americans vgl. Julie Leininger Pycior, LBJ and Mexican Americans: The Paradox of Power, Austin 1997, S. 29ff. Leininger behauptet hier, dass Maverick das Zensusbüro davon überzeugt habe, die Mexican Americans wieder als Weiße zu klassifizieren, bleibt allerdings eine Quellenangabe hierzu schuldig. Ebd. S. 42.
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Stimmung von "white primaries" der Demokratischen Partei ausgeschlossen waren, sehr schnell die Berechtigung dazu entzogen werden können.171 Eine ausgesprochen wichtige Rolle bei der Rücknahme der Maßnahme durch das Zensusbüro spielten die außenpolitische Lage und die Einmischung der mexikanischen Regierung in die Angelegenheit. Mexiko wies seinen Botschafter an, eine offizielle Anfrage in der Sache an die Regierung in Washington zu richten.172 Bruce Möhler schrieb Calleros am 17. Oktober 1936, dass das Zensusbüro die Kategorisierung der Mexikaner als "colored" als ein Versehen der Abteilung "Vital Statistics" bezeichnet habe und versichere, dass ein solcher Fehler nicht noch einmal auftauchen werde. Möhler ordnete diese Mitteilung folgendermaßen ein: In fact, the State Department was up in arms when informed of this procedure by the various Vital Statistics offices in Texas. If permitted to go on, the action would practically have destroyed the President's 'good neighbor" program.173
Obwohl die Angelegenheit also internationale Dimensionen annahm, mussten die Mexican Americans bei verschiedenen Behörden erst nachhaken, bevor auch dort die alte Klassifizierung der Mexikaner als Weiße wieder eingeführt wurde. So erläuterten Formulare des Treasury Department zum Social Security Act noch nach der Entscheidung des Zensusbüros, dass zu der Rubrik "other races" u.a. Mexikaner gehörten.174 Der Immigration and Naturalization Service änderte 1937 auf Drängen des NCWC seine Kategorisierung mexikanischer Grenzgänger. Fortan sollte unter der Rubrik "Rasse" nicht mehr "Mexican", sondern "white" eingetragen werden. Eine Verfahrensweise, die den Grenzbeamten merkwürdig erschien, da sie bei Einwanderern aus europäischen Ländern ebenfalls die nationale Herkunft eintrugen.175 Schließlich protestierten die Mexican Americans auch gegen die Einstufung von mexikanischstämmigen Soldaten unter die Kategorie "other than white".176 In den Auseinandersetzungen 1936 und 1937 im Zusammenhang mit der offiziellen Klassifizierung richteten sich die Mexican Americans vor allem gegen 171 Zu den white primaries vgl. Darlene Clark Hine, Black Victory: The Rise and Fall of the White Primary in Texas, Millwood, N.Y. 1979. 172 El Noticiero Semanal, 13.11.1936, S. 3, in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1. 173 Mohler an Calleros, 17.10.1936, in ebd. folder 2. Vgl. auch Garcia, "Mexican Americans and the Politics of Citizenship", S. 200. 174 Vgl. Alonso Perales an Calleros, 23.11.1936, und Calleros an Mohler, 1.12.1936, beide in Cleofas Calleros Papers, box 28, folder 1. 175 Mohler an Calleros, 7.8.1937, in: ebd., folder 2. 176 Calleros an War Department, 1.12.1936, in: ebd., folder 1.
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ihren Ausschluss aus der weißen Rasse, Bezüge auf African Americans waren relativ selten. Immerhin empfanden sie die Gleichsetzung mit African Americans als Beleidigung. Sie hatten gelernt, dass "schwarz" zu sein dem schlimmsten sozialen Stigma in den USA gleichkam, und versuchten dementsprechend, sich davon abzusetzen.177 Der hier indirekt offenbar werdende Rassismus gegenüber African Americans zeigte sich noch deutlicher in Begebenheiten, in denen Mexican Americans sich um eine Abgrenzung von African Americans bemühten und sich selbst implizit als Angehörige einer höherwertigen Rasse ansahen. Ebenfalls 1936 nahm die LULAC-Ortsgruppe San Antonio mit der Ortsgruppe Corpus Christi Kontakt auf, um diese auf ein Problem aufmerksam zu machen und um ihre Mithilfe zu bitten. Die Gruppe in San Antonio entsandte dafür eigens einen Vertreter nach Corpus Christi. In einem Begleitschreiben stellte der Sekretär Gregory A. Salinas das Problem dar. Seiner Meinung nach hatte sich eine Gruppe von schwarzen Musikern in das Vertrauen der viel zu gutmütigen Mexican Americans eingeschlichen. Sie spielten nicht nur auf verschiedenen Veranstaltungen und Festen, sondern gingen dort auch unerlaubte Beziehungen mit den jungen mexikanischstämmigen Frauen ein. Die Ortsgruppe aus San Antonio sandte ihren Vertreter nach Corpus Christi, da ihr zu Ohren gekommen war, dass diese Musiker sich nun dort aufhielten und sicher auf mexikanischen Tanzveranstaltungen spielen würden. In seinem Brief forderte Salinas die Mitglieder der Ortsgruppe in Corpus Christi auf: "... let us tell these Negroes that we are not going to permit our manhood and womanhood to mingle with them on an equal social basis."178 Soziale Kontakte zwischen Mexican Americans und Afro-Amerikanern auf einer gleichberechtigten Ebene lehnte nicht nur die LULAC-Gruppe aus San Antonio ab, ihre Warnung führte in Corpus Christi zur Bildung einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Angelegenheit befassen sollte. Nur wenige Monate nach diesem Vorfall zeigte sich dann in El Paso, dass die Befürchtungen von Mexican Americans, mit Schwarzen in der gleichen Kategorie zu landen, alles andere als unbegründet waren. Mexican Americans, die ihre Zugehörigkeit zur weißen Rasse verteidigen und festigen wollten, waren womöglich noch stärker als Anglo-Amerikaner darauf bedacht, die "color line" gegenüber Schwarzen einzuhalten. Eine Nähe 177 Dies ist bei Einwanderergruppen, die zunächst nicht als weiß anerkannt wurden, eine oft anzutreffende Entwicklung. Vgl. zur Haltung von Italian Americans gegenüber African Americans Orsi, "The Religious Boundaries", S. 316ff. 178 Brief von Gregory R. Salinas, Sec. Council No. 16 in San Antonio an Louis Wilmot, Präsident LULAC Council No. 1 in Corpus Christi vom 13.8.1936. Andrés de Luna Collection, LULAC Archives, folder 6. Vgl. dazu auch Márquez, LULAC, S. 33f.
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musste vermieden werden, um einen Abstieg in der Rassenhierarchie zu vermeiden. Paul Taylor erfuhr in einem Interview in Texas von der Ablehnung, der ein Mexikaner wegen seiner Heirat mit einer Schwarzen ausgesetzt war.179 Und ein Baumwollpflücker äußerte ihm gegenüber: "It does not look right to see Mexicans and Negroes together. Their color is different. They are black and we are white."180 Mexican Americans teilten zwar mit African Americans die rassistisch motivierte Diskriminierung, sie wählten jedoch nicht den Weg der Solidarisierung.181 Wie viele andere Gruppen auch, grenzten sie sich stattdessen von den African Americans ab, da eine Nähe zu ihnen den eigenen Rassenstatus zusätzlich gefährdet hätte.182 Die Aussage des Baumwollpflückers verweist weiter darauf, dass die Vorstellungen über die Zugehörigkeit der Mexican Americans zur weißen Rasse keineswegs nur in Organisationen wie LULAC, die von der Mittelschicht dominiert war, zu finden waren. Angehörige der mexikanischstämmigen Arbeiterschaft wussten ebenfalls um die Bedeutung der Rassenhierarchie und versuchten, für sich die beste Position zu erreichen, auch wenn dies mit einer rassistischen Abgrenzung gegenüber anderen diskriminierten Gruppen einherging' 8 3 1939, zwei Jahre nach der öffentlichen Debatte um die Klassifizierung der Mexikaner in Texas, in der Mexican Americans vehement gegen ihre Kategorisierung als "colored" gekämpft hatten, reagierten sie sensibler auf ihre von den Weißen gesonderte Erwähnung. So wandte sich das LULAC-Mitglied Robert Meza an Jeff Bell, den Manager der Handelskammer von Corpus Christi, um diesen an die Vereinbarung zwischen ihm und dem Präsidenten der lokalen LULAC-Gruppe, J. A. Garcia, in Bezug auf die bevorstehende Veröffentlichung des City Directory zu erinnern. Garcia und Bell hatten sich geeinigt, dass darin
179 Paul Taylor, Art American-Mexican (reprint von 1934), S. 268.
Frontier: Nueces County, Texas, New York 1971
180 Ebd. Zitiert nach Foley, White Scourge, S. 209. 181 Dies kritisiert z.B. Márquez, LULAC, S. 33ff. 182 Zu europäischen Einwanderern und ihrem Verhalten in der Rassenfrage vgl. Barrett, Roediger, Inbetween Peoples, S. 3Iff. 183 Es gab allerdings auch Gegenbeispiele. 1903 gründeten mexikanisch- und japanischstämmige Landarbeiter eine gemeinsame Gewerkschaft. Vgl. Tomás Almaguer, '"Keeping the House of Labor' Divided: The Attitude of Organized Labor Toward the Japanese-Mexican Labor Association in 1903", in: Mario Barrera, Albert Camarillo, Francisco Hernández (Hg.), Work, Family, Sex Roles, Language. The National Association for Chicano Studies. Selected Papers 1979, Berkeley 1980, S. 9-32.
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die erläuternden Kürzel "m" für Mexican und "em" fur English speaking Mexican wegfallen sollten. Meza schrieb: We participate beforehand that the directory publishers are going to tell you that they have been making these classifications for informational purposes and we appreciate their inference; their fine deductive reasoning; their subtlety of such delicate and distinctive philosophy in arriving at whatever conclusion they may be able to express, but the fact of the matter is that the scheme is nothing more than an unparalleled singularity purporting to discriminate between the Mexicans themselves and other members of the white race when in truth and in fact we are not only a part and parcel but as well the sum and substance of the white race.184
Und führte weiter aus: The word 'classification' as we understand it, means the act of forming in groups, or dividing into sets or sorts, according to some standard, system or method. Therefore, if and when the publishers had made a general classification wherein all of the members of the various nationalities belonging to the white race, such as, for instance, Englishmen, Irishmen, Frenchmen, and others, were similarly classified, then and in that event the use of the word Mexican would have been proper; but to reduce the entire group of all peoples of separate and distinct nationalities who are members of the white race to the same classification and to the exclusion of the Mexicans themselves who are also members of the same race, is the object of our strenuous objection.185
LULAC kritisierte hier also nicht mehr nur die Zusammenfassung von Mexikanern bzw. Mexican Americans mit Schwarzen, sondern forderte vielmehr eine Auflösung aller Kategorien, die Mexican Americans ausgrenzten. Die Unterscheidungen sollten ebenso wie bei den europäischen Einwanderern zugunsten einer vollständigen Inklusion in die weiße Rasse - und damit in die Nation verschwinden. Dieses Anliegen LULACs, die mexikanischstämmige Bevölkerung ebenso wie vormals andere ausgesonderte Gruppen in der weißen Rasse aufgehen zu lassen, entspricht der allgemeinen Entwicklung im Rassendenken. Seit Mitte der 1920er Jahre waren Rassen zunehmend als Großgruppen der Menschheit konzipiert worden. Dazu trug einerseits die Sozialanthropologie bei, deren Gründervater Franz Boas bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gegen die biologische Einteilung der Menschheit eingetreten war.186 Gleichwohl verzichtete auch Boas, der ansonsten kulturelle Unterschiede zwischen den Angehörigen verschiedener menschlicher Gemeinschaften hervorhob, nicht auf die Einteilung der Menschheit in Kaukasier, Mongolen, Amerikaner und Malaien. Die fast 184 Robert Meza an Jeff Bell am 24.11.1939, in Andrés de Luna Collection, LULAC Archives, folder 6. Vgl. dazu auch Márquez, LULAC, S. 33. 185 Ebd. 186 Vgl. dazu Kap. II.2.
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vollständige Verhinderung der Einwanderung von Europäern seit dem National Quota Act von 1924 trug ebenfalls zu einer Entspannung in Bezug auf die rassistische Haltung gegenüber Gruppen wie z.B. Italienern oder Polen bei. Langfristig kam es zur Inklusion aller europäischstämmigen Einwanderer und ihren Nachkommen. Die verschiedenen europäischen Rassen gingen in der kaukasischen auf. Dieser Prozess war in den 1930er Jahren in vollem Gange und fand in den 1940em seinen Abschluss.187 Die Selbstwahrnehmung der Mexican Americans änderte sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre erheblich. Spielte anfangs noch die Zusammengehörigkeit mit Mexikanern auf der Grundlage der gemeinsamen Rasse eine große Rolle, so verlor dieses Bild in den folgenden Jahrzehnten an Bedeutung. Immer mehr Mexican Americans - treibende Kraft waren vor allem Angehörige der Mittelschicht - beriefen sich ausschließlich auf ihre "Weißheit". In der Auseinandersetzung um die offizielle Zuordnung der mexikanischstämmigen Bevölkerung zu einer Rassenkategorie in den 1930er Jahren verteidigten die Aktivisten den Status der Mexican Americans als Angehörige der weißen Rasse vor allem, indem sie sich auf die bis dahin gültige Praxis und das Gesetz beriefen. Anthropologische bzw. biologische Argumentationen zogen sie hingegen weitaus seltener heran. Neben der Bedeutung, die die Rechtsprechung in der Konstruktion von Rassen spielte, dürfte dies wohl daran gelegen haben, dass bei einer solchen Diskussion die Mischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Mexiko seit der frühen Kolonialzeit unweigerlich zum Thema geworden wäre. Bei der eugenisch begründeten Ablehnung einer ungehinderten Einwanderung aus Mexiko in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts stand der Charakter der mexikanischen Bevölkerung als "mongrel race" im Vordergrund, mangelnde "Reinrassigkeit" wurde als Hauptproblem der mexikanischen Immigranten gesehen.188 Dort, wo vonseiten der Mexican Americans auf anthropologische Argumente zurückgegriffen wurde, sahen sie Mexikaner entweder als indi-
187 Jacobson, Whiteness, S. 9Iff. McGreevy beschreibt den Prozess der Vereinheitlichung europäischstämmiger Einwanderer zur "weißen Rasse" fur das katholische Milieu. John T. McGreevy, Parish Boundaries: The Catholic Encounter with Race in the TwentiethCentury Urban North, Chicago/London 1996, S. 28-53 und S. 78. Denning sieht den Wandel, der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde, als Wendepunkt in den Rassenbeziehungen. Die Anforderungen der Kriegswirtschaft führten zur Migration vieler African Americans in den Norden und zu einer verstärkten Einwanderung aus Ländern Lateinamerikas und Asiens. Dies führte zu erheblichen Veränderungen, die sich auch auf die kollektiven Identitäten der verschiedenen Gruppen auswirkten. Michael Denning, The Cultural Front: The Laboring of American Culture in the Twentieth Century, London/New York 1997, S. 33ff. 188 Vgl. Kap. IV.l.a.
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wisch oder weiß, von einer Vermischung sprachen sie nicht, obwohl doch in Mexiko selbst die Mestizen, also die Nachkommen aus Verbindungen zwischen Spaniern und Indianerinnen zum Inbegriff des Mexikaners avancierten. Die Ablehnung von Mischlingen im US-amerikanischen Diskurs ließ diesen Weg nicht offen. Mexican Americans mussten als Weiße akzeptiert werden, wollten sie den sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligungen entgehen, die mit dem Ausschluss von der weißen oder kaukasischen Rasse einhergingen.189 Die Mexican Americans befanden sich in den 1930er Jahren noch in einem Prozess, den Einwandergruppen aus Ost- und Südeuropa aber auch Iren ebenfalls durchgemacht hatten oder sogar noch durchliefen: ihrer "Weiß-Werdung".190 Allerdings waren Italiener, Griechen, Juden, Polen etc. letztlich erfolgreicher auf diesem Weg. Obwohl sie lange als nicht weiß galten, ordnete der Staat sie immer als weiß ein. Schließlich konnten sie sich diesen Status auch innerhalb der Gesellschaft erkämpfen. In der allgemeinen Wahrnehmung war die Ausgangsposition von europäischen Einwanderern insgesamt ebenfalls besser, da sie zwar als "nonwhites" einen ungesicherten Status innehatten, offiziell zählten sie aber immer zu den Weißen.191 Mexican Americans hingegen wurde der Status "weiß" nicht nur inoffiziell, sondern ganz offiziell von staatlichen Behörden abgesprochen. Dies sollte jedoch nur ein erster Schritt sein. Wurden sie im Zensus von 1930 noch in die Kategorie "non-white" eingeordnet, so rutschten sie 1936 in der Rassenhierarchie noch weiter nach unten, befanden sich also nicht mehr in einem Zwischenstatus. Nur die sofortigen, anhaltenden Proteste mit der Unterstützung aus Mexiko und dem außenpolitischen Interesse der USA ermöglichten die Umkehrung dieser Entwicklung. Es gelang Mexican Americans zwar, ihren offiziellen Status als Weiße zu verteidigen, dies führte jedoch nicht dazu, dass sie als solche allgemein akzeptiert wurden. Um endgültig nicht mehr als eigene Rasse zu gelten, bedurfte es einiger Veränderungen im Rassendenken selbst. Die genetische Begründung von Unterschieden zwischen menschlichen Gemeinschaften geriet seit Beginn des Jahrhunderts zunehmend in die Kritik.192 Selbst Eugeniker änderten ihre Perspektive und hoben jetzt kulturelle Unterschiede gegenüber den genetisch bedingten hervor. An die Stelle der Rassenzugehörigkeit trat nun häufig die ethni-
189 Zu den Vorteilen, die sich aus der Zugehörigkeit zur weißen Rasse ergaben vgl. Roediger, Wages of Whiteness, Lipsitz, "The Possessive Investment. S. auch Kap. II. 1. 190 Vgl. Ignatiev, How the Irish. 191 Vgl. Barrett und Roediger, "Inbetween People." 192 Vgl. dazu ausführlich Kap. II.
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sehe Zuordnung.193 Diese neue, aufsteigende Kategorie nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Zwischenposition ein wie die als ethnische Gruppen Bezeichneten. Zunächst wurde sie häufig als Begriff verwendet, der letztlich den der Rasse ersetzte, ohne damit inhaltliche Abweichungen größeren Ausmaßes zu implizieren. Die kulturelle Perspektive ermöglichte allerdings, dass der Begriff nicht nur von außen auferlegt wurde, sondern auch Akzeptanz bei den Vertretern der bezeichneten Gruppe fand. Die offizielle Zuordnung der Mexican Americans zur weißen Rasse bei fortgesetzter Ausgrenzung machte den Weg frei für die Kategorisierung als ethnische Gruppe und in Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen schließlich auch für eine entsprechende Selbstwahrnehmung. 194 2. "Fremde Staatsbürger": Puertoricaner in New York Die Puertoricaner auf dem Festland der Vereinigten Staaten befanden sich in mehrfacher Hinsicht in einem Zwischenstatus. Trotz ihrer US-Staatsbürgerschaft galten sie als Fremde. Zusätzlich wurden sie in dem Rassenschema der Ostküste nicht als einheitliche Gruppe betrachtet, sondern häufig als Angehörige verschiedener Rassen kategorisiert. Ihre Sprache führte wiederum dazu, dass Außenstehende zwischen ihnen und anderen spanischsprachigen Immigranten keine Unterschiede machten. Insgesamt bildeten Puertoricaner, die in New York lebten, in der Fremdwahrnehmung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts keine deutlich fassbare Einheit. In der Selbstwahrnehmung stellte sich ihre kollektive Situation ebenso kompliziert dar: Sie waren zwar US-Staatsbürger, ohne jedoch die Landessprache zu beherrschen. Zusätzlich führte der ungeklärte Status der Insel zu Problemen bei der Frage, welcher Nation sie angehörten. Gegenüber anderen Einwanderergruppen verschuf ihre US-Staatsbürgerschaft ihnen eine privilegierte Stellung, auch wenn Puertoricaner selbst dies manchmal anders sahen, da sie eine diplomatische Vertretung ihrer Interessen auf dem Festland der USA vermissten. In manchen Situationen wussten sie ihren rechtlichen Status allerdings zu nutzen. Schließlich teilten sie mit einigen anderen Einwanderergruppen die Sprache und verfügten über ähnliche historische Erfahrungen. Diese zwiespältige Situation schlug sich auf das Selbstbild der Puertoricaner nieder und wirkte sich darauf aus, welcher Gruppe sie sich zuordneten. Alle drei 193 Vgl. Barry Mehler, A History of the American Eugenics Society, 1921-1940, Ph.D.diss., University of Illinois 1987, Kap. 3. 194 Vgl. Kap. V.
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genannten Aspekte, die Herkunft von der Insel, die Gemeinsamkeiten mit Einwanderern aus anderen spanischsprachigen Ländern und seltener die USStaatsbürgerschaft spielten hier mit unterschiedlichen Gewichtungen eine Rolle. Im Folgenden stehen die verschiedenen Ebenen der Fremd- und Selbstwahrnehmung der Puertoricaner bis zum Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt des Interesses. Zunächst soll das Bild von Puertoricanern als Fremden nachgezeichnet werden, das gewissermaßen die Parameter für ihre Eingliederung in die Gesellschaft New Yorks vorgab. a. Puertoricaner zwischen schwarz und weiß In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als die Wanderung von Puertoricanern auf das Festland noch relativ niedrig war, prägten vor allem Berichte über die Insel195 und ihre Bevölkerung sowie die Debatten um den Status Puerto Ricos und seiner Bewohner das Bild, das sich US-Amerikaner von der Insel und vor allem ihren Einwohnern machten. Diese Vorstellungen wurden auf die Migranten, die in New York lebten, in vielerlei Hinsicht übertragen, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes auf dem Festland. Der Begründungszusammenhang des spanisch-amerikanischen Krieges, der 1898 dazu führte, dass Kuba und Puerto Rico von den Vereinigten Staaten besetzt wurden, konzentrierte sich darauf, dass die USA den von der spanischen Kolonialmacht unterdrückten Völkern zu Hilfe kommen müssten. Spanien wurde als tyrannische Macht dargestellt, die beiden Inseln als gnadenlos ausgebeutete Kolonien. Drei Monate nach dem Beginn des Krieges auf Kuba besetzten US-Truppen Puerto Rico, ohne dabei auf größeren Widerstand zu treffen. Der Befehlshaber der Invasionstruppen, General Nelson A. Miles, erklärte den Puertoricanern, dass die Vereinigten Staaten nicht beabsichtigten, die Jahrhunderte währende Unterdrückung fortzusetzen, sondern vielmehr Schutz und Freiheit überbringen wollten.196 In den folgenden Jahren und Jahrzehnten stellte sich
195 Vgl. die Liste der veröffentlichten Artikel über Puerto Rico in den ersten Jahren nach der Eroberung in Antonio S. Pedreira, Bibliografía puertorriqueña (1493-1930), Madrid 1932, S. 10-17 und 449-468. 196 Diese Erklärung ist in fast jeder Darstellung zu den Ereignissen 1898 im Zitat zu lesen. Vgl. z.B. Gewecke, Puerto Rico, S. 27f. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist der Widerspruch zwischen der Erklärung und den folgenden Maßnahmen der USA gegenüber Puerto Rico zu groß, um nicht mit dem Finger darauf zu zeigen. Zum anderen fand die Erklärung in den folgenden Jahren immer wieder Eingang in die Debatten um den Status Puerto Ricos. Im nationalen Kongress bezogen sich immer wieder besonders diejenigen Politiker auf die Worte des Generals, die sich für eine Verbesserung in der rechtlichen Situation der Insel und ihrer Bewohner einsetzten. Die Begründung, die Mi-
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allerdings die Frage, wie eine solche Verbesserung der Lage Puerto Ricos in den Augen der USA auszusehen hätte. Bereits während des Krieges mit Spanien entbrannte in den Vereinigten Staaten eine Debatte zwischen den Befürwortern einer imperialen Ausdehnung und den Gegnern, die nach dem Abschluss des Vertrages von Paris 1898 intensiv weitergeführt wurde.197 Für die Befürworter einer ständigen Herrschaft der USA über die Inseln in der Karibik und im Pazifik spielte Puerto Rico eine besondere Rolle bei der Rechtfertigung ihrer Pläne. Sie konnten darauf verweisen, dass die Inselbevölkerung die Besetzung begrüßte und kooperierte. Hier konnte also ein Gegenbeispiel zum Widerstand auf Kuba und den Philippinen hervorgehoben werden,198 da nicht alle, die durch den Kriegsausgang in den USamerikanischen Herrschaftsbereich eingegliedert wurden, dagegen kämpften. Die Imperialisten hatten dafür auch eine passende Begründung parat. Die Kubaner, Filipinos und Puertoricaner bedurften der Unterweisung in zivilisatorischen Standards. Während die Bevölkerung der ersten beiden Länder die Notwendigkeit dafür nicht akzeptieren wollten, war letztere dazu bereit. Die Bereiche, in denen eine solche Vermittlung US-amerikanischer Werte notwendig war, bezogen sich hauptsächlich auf moralische Standards und die politischen Fähigkeiten. Puertoricaner galten als unfähig, sich selbst zu regieren und führten ferner einen Lebenswandel, der nicht vereinbar war mit der Moral. Die Begründung für die Unfähigkeit der Puertoricaner zur politischen Selbstbestimmung konzentriertes für die Eroberung der Insel gab, sollte nicht eilfertig als eine zynische Strategie abgetan werden, mit der die Puertoricaner lediglich beruhigt werden sollten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Miles und neben ihm viele andere, tatsächlich an das glaubten, was er sagte. Einen Hinweis daraufbieten die Äußerungen des Abgeordneten Rucker in einer Kongressdebatte 1909, in der es um die Regierungsform in Puerto Rico ging. Rucker bezog sich auf den Krieg und betonte die humanitären Beweggründe der Vereinigten Staaten. Sie hätten eingegriffen, um ein erneutes Massensterben zu verhindern. Während der Eroberung Puerto Ricos 1508 durch die Spanier habe sich deren grausamer Charakter bereits gezeigt. Innerhalb weniger Jahre sei die eingeborene Bevölkerung von 600.000 Menschen auf 60 reduziert worden. Laut Rucker stand ein ähnliches Schlachten auch 1898 zu befürchten und deshalb griffen die US-Trappen ein. United States. Congress, Congressional Record, 61st Congress, 1st session, Washington, D.C. 1909, S. 2922. 197 Vgl. Jacobson, Barbarian Virtues, S. 221 ff. 198 Vgl. zu Kuba Michael Zeuske, Max Zeuske, Kuba 1492-1902. Kolonialgeschichte, Unabhängigkeitskriege und erste Okkupation durch die USA, Leipzig 1998, S. 413ff. Louis Pérez Jr., Cuba: Between Reform and Revolution, New York 1995. Zu den Philippinen vgl. Stuart Creighton Miller, "Benevolent Assimilation": The American Conquest of the Philippines, 1899-1903, New Haven, C.T. 1982, Richard Welch, Response to Imperialism: The United States and the Philippine-American War, 1899-1902, Chapel Hill, N.C. 1979.
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te sich auf die ihnen zugeschriebene Geschlechteridentität ebenso wie auf die Rassenzugehörigkeit.199 Diese Grundmotive der US-amerikanischen Bilder von Puertoricanern sollten in den folgenden Jahrzehnten in Variationen immer wieder auftauchen. Zwei Jahre nach der Besetzung Puerto Ricos durch US-Truppen ersetzte eine zivile Regierung die bis dahin bestehende militärische. Mit dem Foraker Act erließ der Kongress ein entsprechendes Gesetz, das die Einzelheiten regelte. Dieses Gesetz bestimmte, dass die Freiheit, die den Puertoricanern von den Vereinigten Staaten zugedacht wurde, nicht in dem Recht auf Unabhängigkeit und einer eigenen Regierung bestand. Die höchsten Ämter in der Exekutive und der Legislative Puerto Ricos bestanden aus einem vom nationalen Kongress bestimmten Gouverneur und einem elfköpfigem Gremium, von dem sechs Mitglieder wiederum durch den Kongress eingesetzt werden sollten. Den Widerspruch zu der als Legitimation für den Krieg angeführten Begründung lösten die Befürworter des Foraker Act mit dem Verweis auf die politische Unreife der Puertoricaner. Diese Behauptung hatte bereits die Rhetorik um den Krieg gegen Spanien mitbestimmt. Nicht nur die Spanier wurden als Tyrannen dargestellt, die Kubaner und Puertoricaner, die über 400 Jahre unter spanischer Herrschaft gestanden hatten, fanden entweder als hilfsbedürftige Frauen oder als Kinder Eingang in die öffentliche Metaphorik.200 Im Vorfeld des Krieges wurde vor allem Kuba als schutzsuchende junge Frau dargestellt, die der Hilfe des US-amerikanischen Gentleman bedurfte.201 Diese Konzentration auf Kuba lag an dem Interesse, dass die USA bereits seit einigen Jahrzehnten an der Insel hegten. Angesichts der geringen Entfernung von der Küste Floridas hatten die Vereinigten Staaten Spanien bereits angeboten, die Insel zu kaufen, waren damit allerdings erfolglos geblieben.202 Nachdem sowohl Kuba als auch Puerto Rico 1898 unter US-amerikanische Herrschaft gerieten, verschwand das Bild der schutzbedürftigen aber attraktiven Frau schnell zugunsten eines anderen, weniger schmeichelhaften. Beide Inseln wurden jetzt vielfach als Kinder repräsentiert und zwar in den meisten Fällen als schwarze Kinder.203 Damit wurde die Vorstellung geschürt, dass die Inselbewohner ers199 Vgl. Findlay, "Love", S. 142ff. 200 Eine Überblicksdarstellung hierzu bietet Hunt, Ideology, S. 58-68. 201 Vgl. z.B. die abgebildeten Karikaturen in Johnson, Latin America, S. 81-95. 202 Die Administration unter Präsident Pierce (1853-57) hatte Spanien ein Kaufangebot unterbreitet, allerdings ohne Erfolg. Heideking, Geschichte, S. 155. 203 Vgl. wiederum die Karikaturen in Johnson, Latin America, S. 121-133, 143, 151, und 161-175.
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tens noch nicht in der Lage seien, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen und zweitens schien eine solche Möglichkeit angesichts ihrer Rassenzugehörigkeit auch in weiter Ferne zu liegen. Die folgende Karikatur von 1898 zeigt die Auffassung, dass Puertoricaner zunächst durch die US-Amerikaner angeleitet werden müssten, besonders deutlich, indem sie eine Schulsituation darstellt. Puerto Rico wurde hier durch ein hellhäutiges Mädchen (am rechten Bildrand) repräsentiert, die anders als die streitenden direkt vor dem Lehrer brav in ihr Buch schaut. Damit erhielt Puerto Rico hier ein "Lob", da es den Lehrer achtete und versuchte zu lernen.
Abb. 1: Uncle Sam's New Class in the Art of Self-Government, William Allan Rogers, Harpers Weekly, August 27,1898, in John J. Johnson, Latin America in Caricature, Austin/London 1980, S. 217.
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Eine weitere Karikatur aus dem selben Jahr vermittelte eine ähnliche Botschaft:
Abb. 2: John Bull: "It's really most extraordinary what training will do. Why, only the other day I thought that man unable to support himself." Fred Morgan, Philadelphia Inquirer, 1898, in Johnson, Latin America, S. 163.
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Uncle Sam bemühte sich als Dompteur, den Bevölkerungen von Puerto Rico, Kuba, Hawaii, den Philippinen und der Isias Ladrones204 - alle dargestellt als schwarze Gnome - Haltung beizubringen. Während die Karikatur allen Gebieten, die sich der US-amerikanischen Herrschaft nicht offen verweigerten, also Puerto Rico, Kuba und Hawaii, einen gewissen Fortschritt zugestand, hingen die Philippinen auf der einen Seite und die Isias Ladrones auf der anderen Seite noch völlig unbelehrt. Eine andere Darstellung ging noch weiter. Sie suggerierte, dass der Bevölkerung der von Spanien übernommenen Gebiete erst die einfachsten Regeln der Zivilisation, wie z.B. der Gebrauch von Seife, nahe gebracht werden müssten, da sie als Angehörige nicht-weißer Rassen damit nicht vertraut waren. Dieses Argument wurde häufig von den Gegnern einer imperialen Politik der USA vorgebracht. Sie befürchteten eine Gefährdung des nationalen Charakters der Vereinigten Staaten durch eine Aufnahme der Bevölkerungen Kubas, Puerto Ricos, der Philippinen und Hawaiis205 in die Union.
Abb. 3: The Cares of a Growing Family, J. Campbell Corey, New York Bee, May 25, 1898, in Johnson, Latin America, S. 161.
204
Die Isias Ladrones bzw. Marianeninseln liegen im Pazifik nördlich von Guam und gehören bis heute zu den USA.
205
Um diese vier handelt es sich in der Karikatur. Hawaii wurde nicht von den Spaniern übernommen, sondern im Juli 1898 von den USA okkupiert.
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Die Frage der Rassenzugehörigkeit der Puertoricaner spielte in den Jahren nach der Eroberung der Insel auch im US-Kongress immer wieder eine Rolle. Eine intensive Auseinandersetzung um den Status Puerto Ricos fand im Kongress 1900 im Vorfeld des Foraker Act statt und 1916, als der Jones Act zur Diskussion stand.206 In den dort geführten Debatten um die politische Zukunft Puerto Ricos waren sich die Abgeordneten und Senatoren jedoch keineswegs einig, wie die puertoricanische Bevölkerung einzuordnen sei. Die Unterschiede in der Einschätzung der Rassenzugehörigkeit der Mehrzahl der Puertoricaner ging dabei einher mit verschiedenen Vorstellungen im Hinblick auf den Status der Insel. Diejenigen, die Puertoricaner nicht als gleichberechtigte Staatsbürger sehen wollten, betrachteten sie auch nicht als potenziell gleichwertige Mitglieder der "kaukasischen" Nation. Diejenigen wiederum, die Puerto Rico zumindest auf längere Sicht in die Union integrieren wollten, glaubten, dass die Mehrheit der Inselbevölkerung der weißen Rasse angehöre. So waren die Senatoren Joseph B. Foraker (Republikaner), Chauncey M. Depew (Republikaner) und John C. Spooner (Republikaner) der Ansicht, dass Puertoricaner nicht der weißen Rasse angehörten. Sie traten ebenfalls dagegen ein, dass Puerto Rico als Territorium in die Union aufgenommen würde. Ein Status, der automatisch dazu geführt hätte, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten auch auf Puerto Rico gegolten hätte. Außerdem stellte dieser Status den Übergang zu einem gleichberechtigten Staat in Aussicht. Der Abgeordnete Thomas Spight (Demokrat) vertrat hingegen die Einschätzung, dass die überwiegende Mehrheit der Puertoricaner der kaukasischen Rasse angehörten und sprach sich gegen den Gesetzentwurf Forakers aus. Den dort vorgeschlagenen Status Puerto Ricos verglich Spight mit dem Verhältnis zwischen England und seinen Kolonien vor der Unabhängigkeit der USA.207 Die von den Kongressangehörigen unterschiedlich zugewiesene Rassenzugehörigkeit der Puertoricaner im Zusammenhang mit divergierenden Vorstellungen über den künftigen Status der Insel mag zwar so erscheinen, als ob hier je nach politischer Einstellung Aussagen über den Charakter der puertoricanischen Bevölkerung getroffen wurden. Angesichts der großen Bedeutung, die um die 206 Der Foraker Act regelte die zivile Verwaltung Puerto Ricos. Mit seinen Bestimmungen wurde die Militärverwaltung, die seit 1898 bestand, abgelöst Der Jones Act übertrug den Puertoricanern die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Vgl. zu beiden Gesetzen ausfuhrlicher vgl. Kap. III.2. Zu den Debatten im Kongress vgl. auch Benjamin Ringer, "We the People" and Others: Duality and America's Treatment of its Racial Minorities, New York/London 1983, S. 954ff. 207 United States. Congress, Congressional Record, 51th Congress, 1st session, Washington, D.C. 1900, S. 2195,3519f, 3619f.
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Jahrhundertwende das Rassendenken hatte, wäre ein rein taktisches Verhältnis zur Rassenzugehörigkeit jedoch erstaunlich. Die Eingliederung Puerto Ricos in die Union als Territorium war nur denkbar unter der Voraussetzung, dass die Bevölkerung nicht einer als minderwertig betrachteten Rasse angehörte. Die Zuschreibung der Weißheit der Puertoricaner und die Zustimmung zu ihrer Aufnahme in die Union gehörten in denselben Begründungszusammenhang, ohne dass von einer kausalen, unilinearen Verbindung beider Vorstellungen ausgegangen werden kann. Die Frage der Rassenzugehörigkeit der Puertoricaner spielte erneut in den Debatten um den Jones Act von 1912 bis zu seiner Annahme 1917 eine wichtige Rolle. Die Gesetzesvorlage sah die Übertragung der US-Staatsbürgerschaft auf die puertorianische Bevölkerung vor, ohne den politischen Status der Insel ändern zu wollen. Allerdings waren nicht alle Kongressabgeordneten überzeugt davon, dass die beiden Aspekte voneinander zu trennen seien. Sie fürchteten vielmehr, dass die US-Staatsbürgerschaft über kurz oder lang bedeuten würde, dass Puerto Rico als gleichberechtigter Bundesstaat akzeptiert werden müsste.208 Ihre Argumentation dagegen bezog sich wiederum auf den durch die Rasse bestimmten Charakter der puertoricanischen Bevölkerung. Ein Kongressabgeordneter wandte sich mit folgenden Einschätzungen gegen den Gesetzentwurf: I question the wisdom of the enactment of this bill into law. ... The people of Porto Rico - and I weigh my words when I speak of Potto Rico, because I have been there - do not understand, as we understand it, government of the people, by the people.... I am informed by people who are familiar, 75 or 80 percent of those people are mixed blood in part and are not equal to the full-blood Spaniard and not equal, in my judgement, to the unmixed African, and yet they are to be made citizens of the United States.209
Unterstützt wurde diese Ansicht von einem texanischen Abgeordneten, der in den Puertoricanern eine nicht-assimilierbare Bevölkerung sah und: "... we got a people who can make no contribution to our political institutions, no contribution to our civilization in any way, that we would regard as valuable."210 1913 scheiterte der Vorschlag, den Puertoricanern die US-Staatsbürgerschaft zu übertragen, im Senat. Als die Demokraten 1916 im Kongress die Mehrheit hielten, brachte der Abgeordnete William A. Jones, der zum Vorsitzenden des 208 Vgl. Ringer, "We the People", S. lOOOff. 209 United States. Congress, Congressional Record, 62nd Congress, 2nd session, Washington, D.C. 1912, S. 2796. Der erste US-amerikanische Gouverneur der Insel, Generalmajor John R. Brooke verfügte eine offzielle Namensänderung. Entsprechend der Aussprachegewohnheiten von US-Amerikanern hieß die Insel bis 1932 Porto Rico. Gewecke, Puerto Rico, S. 36, Anm. 20. 210
Ebd.
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Committee on Insular Affairs aufgestiegen war, erneut einen Gesetzesvorschlag in den Kongress ein. In der Debatte darum zeichnete sich der oben beschriebene Zusammenhang zwischen der Einordnung der Puertoricaner in die Rassenhierarchie und der Haltung zur Statusveränderung wieder ab. Befürworter der Übertragimg der Staatsbürgerschaft glaubten, dass die puertoricanische Bevölkerung zu drei Vierteln der weißen Rasse angehörte und sahen sie deshalb nicht nur grundsätzlich als assimilierbar an, sondern attestierten bereits entsprechende Fortschritte. Der Abgeordnete Towner äußerte folgendmaßen: "In nothing eise has Porto Rico so rapidly Americanized itself as in its politics."211 Diese Meinung teilten wiederum nicht alle Kongressabgeordneten. Viele vertraten weiterhin die Ansicht, dass die Puertoricaner, anders als Angehörige der kaukasischen Rasse nicht die Fähigkeiten besaßen sich selbst zu regieren. 212 Im Senat wurde der Jones Act 1917 diskutiert. Senator John F. Shafroth (Demokrat), der Vorsitzende des Senatsausschusses "Pacific Islands and Porto Rico", der die Gesetzesvorlage aus dem Repräsentantenhaus übernommen und geändert hatte, bevor sie im Senatsplenum zur Debatte gestellt wurde, äußerte sich dort folgendermaßen über die Puertoricaner: ... I really think it is a misfortune for the United States to take that class of people into the body politic. They will never, no, not in a thousand years understand the genius of our government or share our ideals of government. ... I really had rather they would not become citizens of the United States. I think we have enough of that element in the body politic already to menace the Nation with mongrelization.213
Obwohl Shafroth als Ausschussvorsitzender eine Gesetzesinitiative in den Senat einbrachte, die vorsah, den Puertoricanern die US-Staatsbürgerschaft zu übertragen, scheute er sich nicht, persönlich seine Abneigung gegen die Inselbevölkerung auf Grund rassischer Überlegungen zu äußern. Trotzdem verteidigte er die Maßnahme gegenüber Einwänden anderer Senatoren. Er stützte sich dabei auf die Annahme, dass die Vereinigten Staaten nicht bereit seien, die Insel in die Unabhängigkeit zu entlassen. Wenn die Puertoricaner weiter in dem abhängigen Status bleiben sollten, dann erachtete er die Übertragung der Staatsbürgerschaft als eine Notwendigkeit, um den ausgeübten Zwang so schmackhaft wie möglich zu machen. Shafroth führte weiter aus, dass die Puertoricaner die Unabhängig-
211 United States. Congress. Congressional Record, 64th Congress, 1st session, Washington 1916, S. 7469. 212 Ebd., appendix, S. 1036. 213 United States. Congress, Congressional Record, 64th Congress, 2nd session, Washington 1917, S. 2250. Zitiert nach Ringer, "We the People", S. 1015f.
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keit der US-Staatsbürgerschaft vorziehen würden, wenn sie die Gelegenheit bekämen zu wählen: If the question of independence were submitted to them, to choose between being a dependency of the United States or having their independence, I do not believe 1 percent of them would vote to become a part of the United States. If they should do otherwise they would prove themselves utterly unfit for citizenship in a free country, for a man who does not desire to be free and independent has not the elements of manhood in him essential to the making of a desirable citizen of this Republic.214
Obwohl Shafroth den Puertoricanern hier scheinbar die Attribute der Männlichkeit zuspricht, erhält diese Aussage im Kontext seiner anderen Äußerungen und dem Diskurs über Puerto Rico insgesamt eine zumindest ambivalente Bedeutung. Als ganz so männlich schätzten er und seine Kollegen die Puertoricaner offensichtlich nicht ein, denn niemand ging in den Debatten im Kongress davon aus, dass es auf der Insel trotz der negativen Stimmung gegenüber der Übertragung der Staatsbürgerschaft zu Unruhen kommen könnte, sofern sie nicht einherging mit der Option, irgendwann als Bundesstaat in die Union integriert zu werden. Im Kongress selbst hatte sich der puertoricanische Vertreter mehrmals in dieser Richtung geäußert. Erst vor dem Hintergrund des Diskurses um den Krieg gegen Spanien und die Frage, ob die USA eine imperiale Politik verfolgen sollten, tritt klar hervor, dass Shafroth mit der Männlichkeit einen in der Politik dieser Zeit häufig benutzten Begründungszusammenhang in seine Argumentation einwob. Kristin Hoganson hat in ihrer Studie überzeugend dargelegt, dass um die Jahrhundertwende eine Verunsicherung der US-amerikanischen Männer auf Grund von wirtschaftlichen Krisenzeiten und dem zunehmenden öffentlichen Engagement von Frauen Gegenreaktionen hervorrief. Die von vielen Männern verspürte Notwendigkeit, sich ihrer Männlichkeit zu versichern, beeinflusste auch die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Die Befürworter der Krieges gegen Spanien und der nachfolgenden Annektion der letzten spanischen Kolonien kamen aus allen gesellschaftlichen Schichten und waren keiner politischen Richtung zuzuordnen. Was sie vereinte war hingegen das Streben, den männlichen Charakter der US-amerikanischen Nation hervorzuheben und gegenüber anderen Tendenzen, die als verweichlichend und deshalb als weiblich angesehen wurden, durchzusetzen.215 Shaftoths rhetorischer Bezug auf die Männlichkeit der Puertoricaner ist vor diesem Hintergrund in vielfacher Hinsicht mehrdeutig. Erstens lassen sich hinter der Äußerung über die männlichen 214 United States. Congress, Congressional Record, 64th Congress, 2nd session, Washington 1917, S. 2251. Zitiert nach Ringer, "We the People", S. 1016. 215
Vgl. dazu Hoganson, Fighting for American Manhood, S. 15ff.
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Eigenschaften Zweifel erkennen, da ein Beweis für eben diesen Charakterzug in den Augen der angloamerikanischen Zeitgenossen nicht erbracht war. Zweitens befand sich die männliche Stärke der Puertoricaner gegenüber der USamerikanischen für die angloamerikanischen Betrachter ohne Zweifel im Hintertreffen. Das machte die Debatte um die Verleihung der Staatsbürgerschaft selbst deutlich. Puertoricaner verfügten bis zu diesem Zeitpunkt über keinen völkerrechtlich anerkannten Status, sie verfugten also anders als die Angehörigen der US-amerikanischen Nation über keine gesicherte Position, von der aus sie hätten auftreten können. Außerdem kümmerte es die meisten Kongressmitglieder in den Debatten kaum, dass die Puertoricaner eine Staatsbürgerschaft ablehnten, die nicht verbunden war mit der Aufnahme des Kollektivs als gleichberechtigten Teil der Vereinigten Staaten. Dieses Desinteresse an der Position der Puertoricaner zeigte sich auch in der Presse in den USA. Bereits 1911 bezog die Wochenzeitschrift Outlook Stellung zur Statusfrage Puerto Ricos. Sie zitierte eine puertoricanische Zeitung, in der die Würde der Puertoricaner als Männer verbunden wurde mit dem Status der Insel. Da sich abzeichnete, dass die USA der bundesstaatlichen Lösung nicht zustimmen würde, sah die Zeitung nur noch die Unabhängigkeit als den einzigen Weg, der die Würde als Männer bewahren konnte. Zwar stimmte der Artikel in Outlook der Einschätzung zu, dass Puerto Rico nicht Bundesstaat werden könne, es folgte jedoch eine Belehrung, warum dies für die Insel schlecht sei und der Beitrag endete in paternalistischem Ton mit der Forderung, man möge den Puertoricanern doch wenigstens die USStaatsbürgerschaft übertragen, da sie sonst gar keine hätten. 216 Drittens schließlich vermittelt die Äußerung Shafroths den Eindruck eines umständlichen Versuchs, die Übertragimg der US-Staatsbürgerschaft an die Puertoricaner damit zu begründen, dass sie freiheitsliebend genug seien, um als Individuen der Aufnahme in die freiheitliche Republik der Vereinigten Staaten würdig zu sein.217 Die Verbindung zwischen der Frage der Staatsbürgerschaft von Puertoricanern und der Zuweisung von Geschlechterrollen ebenso wie die Zuschreibung einer Rassenzugehörigkeit zeigte sich in den Kongressdebatten besonders deut216 Outlook, 18. November 1911, S. 643f. 217 Die Auffassung, dass es sich bei der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft um die erstrebenswerteste überhaupt handelte, äußerten im Verlauf der Debatte eine Reihe von Kongressabgeordneten und Senatoren. So glaubte z.B. der Abgeordnete Fess, dass die US-Staatsbürgerschaft für die Puertoricaner etwas sei, "... they would very keenly want, because it carries with it all the dignity and honor and power that go with an American citizen." United States. Congress. Congressional Record, 64th Congress, 1st session, Washington 1916, S. 7479. Die Verbindung, die Fess hier zwischen der Staatsbürgerschaft und Würde, Ehre sowie Macht herstellt, verweist emeut auf den männlichen Charakter, der ihr zugewiesen wurde. Vgl. für ein weiteres Beispiel ebd. S. 7475.
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lieh in der Diskussion um die Gestaltung des Wahlrechts auf der Insel. Der Foraker Act hatte das allgemeine Wahlrecht für erwachsene Männer bestimmt. Diese Regelung wollte das Repräsentantenhaus in seinem Entwurf zum Staatsbürgerschaftsgesetz nicht beibehalten und sah stattdessen eine weitere Beschränkung des Wahlrechts vor. Die Wahlberechtigung sollten nur Männer erhalten, die entweder nachweislich Lesen und Schreiben konnten oder über Besitz verfügten bzw. eine bestimmte Steuersumme im Jahr zahlten. Dieser Vorschlag fand allerdings im Senat keine Zustimmung und wurde schließlich ersatzlos gestrichen. Als die veränderte Gesetzesvorlage vom Senat in das Repräsentantenhaus zurückgehen sollte, waren einige der Abgeordneten allerdings nicht bereit, dies hinzunehmen. Sie kritisierten das allgemeine männliche Wahlrecht für Puertoricaner heftig. Ein Abgeordneter aus Minnesota stützte seine Ablehnung mit einer rhetorischen Gleichsetzung von Puertoricanem und Schwarzen. Er glaubte von ihnen: They are ignorant; they have no property; they have no ideals; they are a mob. They can be trained and made good and efficient Citizens; but when you put in their hands the instrumentality of voting without first giving them a chance to Iearn the duties of citizenship your are preparing for trouble, revolution, and bad govemment in the island of Porto Rico.218
Würde den Puertoricanem ohne Einschränkung das Wahlrecht zugestanden, so glaubte der Abgeordnete, dann käme dies einer Wiederholung des Fehlers nach dem Bürgerkrieg gleich, als der afroamerikanischen Bevölkerung das Wahlrecht zugestanden wurde.219 Da sich der Senat allerdings einstimmig gegen die Einschränkung des puertoricanischen Wahlrechts ausgesprochen hatte, setzte sich diese Regelung schließlich durch. Die Debatte um das Wahlrecht für Puertoricaner fand in einer Zeit statt, als die Bewegung für das Frauenwahlrecht in den USA im vollen Gang war und hier stellte sich der Zusammenhang zur Geschlechterfrage her. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatten Frauen, die Steuern zahlten, da sie über ein eigenes Einkommen oder Besitz verfügten, in einigen Bundesstaaten auf lokaler Ebene das Wahlrecht erhalten.220 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts engagierten sich viele Frauen in der Wahlrechtsbewegung auf der Grundlage ihrer Berufstätigkeit bzw. ihres Besitzes. Sie bezogen sich anders als ihre Vorgängerinnen des 19. Jahrhunderts nicht mehr auf die weiblichen Qualitäten der 218
United States. Congress, Congressional Record, 64th Congress, 2nd session, Washington 1917, S. 4168; zitiert nach Ringer, "We the People", S. 1020.
219
Ebd.
220
Linda K. Kerber, No Constitutional Right to Be Ladies: Women and the Obligations of Citizenship, New York 1998, S. 117.
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Mutterschaft, sondern auf die ökonomische und politische Bedeutung von berufstätigen Frauen für die Gesellschaft.221 Ihre Forderung nach der Emanzipation von Frauen und speziell nach dem Wahlrecht verknüpfte die politische Partizipation mit Werten und Eigenschaften, die ein Individuum erst nützlich für die Gemeinschaft machte. In der rhetorischen Konstruktion, die nicht von den Aktivistinnen erfunden wurde, sondern alte Argumentationsmuster fortführte, standen den Mitgliedern der Gesellschaft Rechte nur dann zu, wenn sie ihre Pflichten erfüllten. Die Fähigkeit dazu hing in der Vorstellung ab von bestimmten, sich im Laufe der Zeit ändernden Merkmalen. Bis ins späte 19. Jahrhundert war das Bild von einem politisch verantwortlich handelnden Staatsbürger eng verknüpft mit Grundbesitz. Dies änderte sich erst mit dem starken Anwachsen der Arbeiterschaft. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beeinflussten das Geschlecht und die Einordnung in das Rassenschema die entsprechende Beurteilung sehr stark. Beide Aspekte wurden von den Zeitgenossen in den politischen Auseinandersetzungen häufig zusammen gesehen. So versuchte der republikanische Abgeordnete James Mann, kurz vor der ersten Abstimmung des Jones Act im Repräsentantenhaus, mit einem Zusatz das Frauenwahlrecht in Puerto Rico einzuführen. Wäre dies gelungen, so hätte der Kongress indirekt über das Frauenwahlrecht insgesamt abgestimmt. Der von Mann eingebrachte Zusatz zum Gesetzesvorhaben scheiterte jedoch.222 Als ein Jahr später der Jones Act kurz vor der Verabschiedung stand, protestierte die Congressional Union for Woman Suffrage in New York gegen das Gesetz.223 Die New York Times zitierte Mrs. O.H. Belmont, die lokale Vorsitzende der Congressional Union, mit folgender Begründung für die Protestveranstaltung: The President has announced his desire for immediate action on the bill giving self-government to the Porto Ricans as a war measure. The imminence of war 221 Vgl. Ellen Carol DuBois, "Harriot Stanton Blatch and the Transformation of Class Relations among Women Suffragists", in: Noralee Frankel, Nancy S. Dye (Hg.), Gender, Class, Race, and Reform in the Progressive Era, Lexington, K.Y. 1991, S. 162-179. 222 New York Times (im Folgenden abgekürzt mit NYT), 23.5.1916, S. 3 und 24.5.1916, S. 5. 223 Die Congressional Union for Woman Suffrage entstand 1914 als eigenständige Organisation nach der Abspaltung von der National American Woman 's Suffrage Association. Die Organisation verfolgte eine militante Strategie im Kampf für das Frauenwahlrecht. Im Bundesstaat New York hatten ihre Bemühungen zusammen mit denen anderer Organisationen 1917 Erfolg, als in einem Referendum das Ergebnis von 1915 revidiert wurde und Frauen das Wahlrecht erhielten. Zwei Jahre später reichten 26 Bundesstaaten beim nationalen Kongress eine Petition zu Gunsten des Frauenwahlrechts ein, das 1920 mit dem 19. Verfassungszusatz schließlich eingeführt wurde. Vgl. William H. Chafe, The Paradox of Change: American Women in the 20th Century, New York/Oxford 1991, S. 18ff.
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makes it wise, the President thinks, to insure the loyalty of the Porto Ricans. Meanwhile the women who have been asking for self-government for many long years are told to stand aside in spite of the fact that the popular sentiment is much stronger in favor of giving it to them. 224
Belmont griff hier die gesellschaftlich geltende Rassenhierarchie der 1920er Jahre auf. Bevor puertoricanische Männer ihre politischen Repräsentanten wählten bzw. bevor sie in den Worten Belmonts, das Recht auf Selbstregierung erhielten, stand es den Frauen zu. Implizit enthielt diese Formulierung den Zusatz "weiß", denn Belmont meinte natürlich weiße Frauen. In ihrer Argumentation verschränkten sich die Kategorie des Geschlechts und die der Rasse. Als allerdings seit der Gültigkeit des 19. Verfassungszusatzes 1920 Frauen auf Puerto Rico die Wahlbeteiligung weiterhin verweigert wurde, unterstützten USFrauenrechtlerinnen den Kampf der Puertoricanerinnen, die jedoch erst 1952 das uneingeschränkte Wahlrecht erhielten.225 Im Rahmen der Beratungen zum Staatsbürgerschaftsrecht für Puertoricaner tauchte auch die Frage des New Yorker Abgeordneten Bennett auf, wie mit den in New York City lebenden Puertoricanern verfahren werden sollte. Dieses Problem stellte sich, da der Entwurf des Jones Act besagte, dass alle Puertoricaner, die auf der Insel lebten, die US-Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Unter diese Gruppe fielen nicht diejenigen New Yorker Einwohner puertoricanischer Herkunft, die bereits seit längerem in der Stadt lebten und auch keine Pläne fur eine Rückkehr hegten. Es gab aber bereits eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, dass diese Puertoricaner nicht das Verfahren zur Einbürgerung beantragen konnten, da sie ihre spanische Staatsangehörigkeit verloren hatten und somit keiner alten Zugehörigkeit abschwören konnten, bevor sie die USStaatsbürgerschaft zugesprochen bekamen.226 Jones, der das Gesetz ausgearbeitet hatte, gab auf die Frage von Bennett hin zu, dass an diese Gruppe nicht gedacht worden war. Er fügte allerdings hinzu, dass sie auch nicht unter das Gesetz fallen sollten, da sie sich selbst expatriiert hätten. Er meinte damit diejenigen Puertoricaner, die die Insel noch vor 1898 verlassen hatten. Jones vertrat also die Auffassung, dass diejenigen, die sich für die Unabhängigkeit der Insel von Spanien eingesetzt und sie deshalb verlassen hatten, die USStaatsbürgerschaft nicht verdienten.227 Für einen US-Amerikaner war dies eine
224 NYT, 22.2.1917, S. 20. 225
Kerber, No Constitutional Right, S. 118f.
226 United States. Congress. Congressional Record, 64th Congress, 1st session, Washington 1916, S. 7470, 7490. 227 Ebd., S. 7490.
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recht erstaunliche Argumentation, spielte doch in der eigenen kollektiven Identität der Kampf um die Freiheit eine zentrale Rolle.228 Nachdem einige Abgeordnete sich für eine Erweiterung des Textes ausgesprochen hatten, mit der die nicht auf der Insel, sondern auf dem US-Festland lebenden Puertoricaner einbezogen werden sollte, beschloss das Repräsentantenhaus, diese Passage zurück in den Ausschuss zu geben, damit dieser einen entsprechenden Zusatz für das Gesetz formulieren konnte.229 Nach dem Erlass des Jones Act trat Puerto Rico als Thema im US-Kongress für einige Zeit in den Hintergrund. Das nationale Interesse wandte sich erst in den 1940er Jahren wieder verstärkt der Insel zu. In New York schwand die Aufmerksamkeit zwar ebenfalls, angesichts der puertoricanischen Migranten in der Stadt wurden sie allerdings auf der lokalen Ebene besonders dann wahrgenommen, wenn es Probleme gab. In den 1920er Jahren kam es z.B. in Harlem mehrfach zwischen Puertoricanern, die relativ neu in dem Stadtviertel waren, und alt eingesessenen jüdischen Bewohnern zu Konflikten. 1926 entluden sich die Feindseligkeiten in gewalttätigen Unruhen.230 Die New York Times gab folgende Gründe für die Auseinandersetzungen an: The bad feeling is said to have been caused by the rapid influx of Latins and West Indian negroes who describe themselves as Porto Ricans. The newcomers have opened their own stores and patronize no others. The old residente of the district have resented the invasion.231
In dieser Erläuterung vermischten sich zwei unterschiedliche Aspekte. Einerseits betrachteten die alteingesessenen Bewohner Hadems den Zuzug einer neuen Gruppe offensichtlich als einen Verdrängungsprozess. Der allmähliche Wechsel in der überwiegenden Wohnbevölkerung einzelner Wohngebiete war häufig von Konflikten begleitet. Die alte Wohnbevölkerung sah einen solchen Prozess, in dem immer weniger Mitglieder der eigenen Gruppe in der Umgebung lebten und immer mehr Angehörige einer neuen Gruppe zuzogen, oft als ein von außen verursachtes Problem. Die im Viertel Zurückgebliebenen beklagten also die Verdrängung ihrer Gruppe, während die Entwicklung tatsächlich ausgelöst war durch den Wegzug der Alteingesessenen, die aufgrund eines sozi-
228 Vgl. David Brion Davis, Freiheit - Gleichheit - Befreiung. Die Vereinigten Staaten und die Idee der Revolution, Berlin 1993. 229 United States. Congress. Congressional Record, 64th Congress, 1st session, Washington 1916, S. 7493. 230 NYT, 27.7.1926, S. 7 und 30.7.1926, S. 29. 231 Ebd.
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alen Aufstiegs in andere Viertel abwanderten. Eine ähnliche Situation bestand in den 1930er Jahren zwischen Italienern und Puertoricanern in Harlem.232 Die New York Times bezog sich andererseits auf die Zuordnung der Puertoricaner in der Rassenhierarchie. Diese Frage stellte für diejenigen, die sich als Angloamerikaner oder Weiße verstanden, ein Problem dar. Puertoricanern war als Gruppe kein eindeutiger Status zuzuweisen. Diese Situation verstieß gegen die vorgestellte Ordnung, derzufolge nicht nur jedes Individuum, sondern auch jedes Kollektiv einer Rasse angehörte. Dies war für Puertoricaner nicht der Fall und führte zu wechselnden Einschätzungen, wie in den Kongressdebatten um den Status der Insel und ihrer Bewohner, und wie es sich ebenfalls in New York offenbarte. Es existierten folgende Varianten: entweder die Puertoricaner wurden als Angehörige der spanischen oder lateinischen Rasse bezeichnet oder als eine Bevölkerung, die unterschiedliche Rassen in sich vereinte. Für die letzte Version gab es wiederum zwei Möglichkeiten: entweder galten die Puertoricaner alle als Mischlinge oder sie wurden in Weiße, Mischlinge und Schwarze unterteilt. In New York bestand in der Öffentlichkeit ein weiteres Bild, dass die Puertoricaner in der Stadt in die Reihen der schwarzen Bevölkerung einordnete. Allerdings führte die Tatsache, dass Puertoricaner sich von African Americans kulturell unterschieden, was am schnellsten durch die Sprache deutlich wurde, zu einer gewissen Verwirrung. Offenbar genossen Personen, die zwar vom Phänotyp her zunächst als Schwarze eingestuft wurden, die aber nicht zur Gruppe der African Americans gehörten, ein besseres Ansehen als die Nachfahren der Sklaven in den Vereinigten Staaten. Zu dieser Unterscheidung zwischen dunkelhäutigen Puertoricanern und African Americans gibt es mehrere Anekdoten, die sich zwar nicht nachweisen lassen, die aber auch wenn sie sich nicht so zugetragen haben, einiges über den Status der beiden Gruppen aussagen.233 Eine dieser Anekdoten handelt von der Afroamerikanerin Henrietta McGee. Sie stammte aus Texas und war dort in den 1930er Jahren in der sharecropper-Bewegung aktiv. Bei einem Restaurantbesuch in Washington, D.C., wurde ihr vom Kellner aufgrund ihrer Hautfarbe zunächst die Bedienung verweigert. Zufallig befand sich Eleanor Roosevelt ebenfalls dort und griff ein, indem sie McGee an ihren Tisch einlud und ihr in Anwesenheit des Kellners laut vernehmlich sagte, dass sie lange gar
232 NYT, 5.11.1938, S. 14. Vgl. Orsi, "The Religious Boundaries". 233 Chenault berichtet in seiner Studie davon, dass Puertoricaner häufig ihre spanische Muttersprache hervorhoben, um sich so von African Americans abzusetzen. Chenault, The Puerto Rican Migrant in New York City, S. 150.
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nicht gewusst habe, dass McGee Puertoricanerin sei. Daraufhin sei McGee ebenso wie alle anderen bedient worden.234 Die Probleme, die sich bei der Einordnung der Puertoricaner in das Rassenschema der US-amerikanischen Gesellschaft mit ihrer spezifischen Ausformung an der Ostküste ergaben, führten dazu, dass praktisch alle Veröffentlichungen über Puerto Rico oder Puertoricaner in New York das Thema an prominenter Position behandelten.235 Manchmal stellt sich der Eindruck ein, dass die "Widerspenstigkeit" in Bezug auf die Zuweisung eines eindeutigen Status mit Unmut aufgenommen wurde. So beklagte z.B. die Soziologin Patria Aran Gosnell in ihrer Dissertation über Puertoricaner in New York, dass sich deren Rassenzugehörigkeit nicht bestimmen lasse, obwohl es Zensusdaten dazu gab. Die Schwierigkeit ergab sich, weil die Konstruktion von Rassen auf Puerto Rico eine andere Entwicklung genommen hatte als in den Vereinigten Staaten. Dort hatte über Generationen hinweg ein Prozess stattgefunden, in dem Personen in die Gruppe der Weißen aufgenommen worden waren, obwohl sich unter ihren Vorfahren auch Farbige waren. Gemäß der US-amerikanischen Definition hätten sie damit in die Gruppe der Nicht-Weißen bzw. Farbigen gehört. Genau dies stellte Gosnell fest und bewertete die puertoricanischen Bezeichnungen als falsch: "The absorption of mestizo group into the white group, which the islanders call the whitening process and which might, however, more properly be designated as a browning one, has been going on at a rapid pace."236
234 Vgl. Foley, White Scourge, S. 196. 235 Vgl. z.B. Knowlton Mixer, Porto Rico: History and Conditions. Social, Economic and Political, New York 1926. Der Autor äußert sich bereits im Vorwort zur Rassenzugehörigkeit der Inselbewohner und unterteilt sie in die als "jibaros" bezeichneten Landarbeiter, die aus der Vermischung der "native race" mit den spanischen Eroberern hervorgingen und die rassischen Charakteristika der ersten Gruppe hätten, und Spanier, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgrund der Unabhängigkeitsbewegungen vom lateinamerikanischen Festland auf die Insel flüchteten. Letztere seien für die politischen und sozialen Errungenschaften auf Puerto Rico verantwortlich. Ebd., S. xiii-xv. Auch zwanzig Jahre später beschäftigten sich selbst Autoren, die gegen die Vorstellung angingen, dass menschliche Rassen etwas über den Charakter einer Bevölkerungsgruppe aussagten, mit der Frage, welcher Rasse Puertoricaner angehörten. Der Anthropologe Vincenzo Petrullo erklärkte z.B., dass es keine puertoricanische Rasse gebe und dass Fähigkeiten und Eigenschaften von Menschen auch nicht auf ihre Rasse zurückgeführt werden könnten. Nichtsdestotrotz befasste er sich direkt im Anschluss daran mit der Frage, wieviele Puertoricaner weiß und wieviele schwarz seien. Vincenzo Petrullo, Puerto Rican Paradox, Philadelphia 1947, S. 13ff. 236 Patria Aran Gosnell, The Puerto Ricans in New York, New York 1949, S. 10. Bei der Veröffentlichung handelte es sich um eine gekürzte Version der Dissertation von 1945.
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Gosnell führte weiter aus, dass eine genaue Rassenbestimmung bei Puertoricanern zusätzlich erschwert würde durch die Bräunungseffekte der Sonne auf der Insel. Sie hing also der allgemeinen Vorstellung an, dass die Hautfarbe die Rassenzugehörigkeit anzeige. Insgesamt stellte der US-amerikanische Fall für die Autorin die Norm dar. Die Zuordnung der puertoricanischen Bevölkerung wich in der Selbsteinschätzung und der Fremdsicht stark voneinander ab. Während der Zensus von 1940 zeigte, dass die meisten Puertoricaner in Harlem (93%) sich als weiß bezeichneten, ordneten die Angloamerikaner bzw. Weißen die puertoricanischstämmige Bevölkerung den Nicht-Weißen oder Farbigen zu.237 Diese Einordnung transportierte implizit spezifische Bedeutungen in Bezug auf die gesellschaftliche Position der Bezeichneten, ohne dass sie hätte ausgesprochen werden müssen, sie gehörten gewissermaßen zum Alltagswissen. Eine solche Bedeutung, die 1934 an die Oberfläche kam und die öffentliche Aufmerksamkeit erregte, war der hergestellte Zusammenhang zwischen der Rassenzugehörigkeit und Krankheiten, in diesem Fall der Tuberkulose. Puertoricaner auf der Insel ebenso wie diejenigen, die in New York in den Armenvierteln lebten, litten häufiger an dieser Krankheit als Weiße. Obwohl Armut ein erhöhtes Risiko für die Ansteckung mit Tuberkulose darstellt und dieser Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und der Erkrankungsgefahr auch vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt war und teilweise hergestellt wurde, betrachteten viele Tuberkulosepatienten als die eigentliche Gefahr. Tuberkulose stellte Ende des 19. Jahrhunderts, als in den Vereinigten Staaten bereits Statistiken über Todesfalle geführt wurden, bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die wichtigste einzelne Todesursache dar. Die Krankheit galt lange als erblich. Erst als Robert Koch 1882 mit dem Tuberkel die Ursache entdeckte, setzte sich langsam die Theorie eines Erregers als Ursache der Krankheit durch. In den folgenden Jahrzehnten entstanden im Rahmen des Progressivism eine Reihe von Organisationen, die sich der Bekämpfung der Tuberkulose verschrieben. Eine groß angelegte Kampagne mit Vorträgen, Ausstellungen, Broschüren, Filmen und Plakaten sollte die Bevölkerung auf die Ansteckungsgefahr hinweisen. Diese Öffentlichkeitsarbeit übte aufgrund ihres Ausmaßes einen großen Einfluss auf die Vorstellungen zur Gesundheitserhaltung aus. Einige Mediziner und Sozialarbeiter wiesen auch auf den Zusammenhang mit den Lebensumständen hin und forderten allgemeine Sozialreformen wie etwa die Verbesserung der Wohnsituation von Armen. Die Kampagne sprach aber dem Einzelnen ein hohes Maß der Verantwortung sowohl für eine 237
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Infektion bzw. deren Verhinderung zu. Das Verhalten in Bezug auf die Hygiene wurde in "gut" und "schlecht" eingeteilt und damit stark moralisiert.238 Erst in den 1940er Jahren wurde ein effektives Mittel gegen die Tuberkulose gefunden, bis dahin blieb sie ein großes Problem und übte einen großen Einfluss auf die Vorstellungen zur öffentlichen Gesundheit aus. Deshalb reagierten einige Organisationen in New York sofort, als Eleanor Roosevelt 1934 nach einer Reise nach Puerto Rico über die Armut und die hohe Rate von Tuberkulosefällen auf der Insel klagte. Zwei Stiftungen in der Stadt, die Gould Foundation und die Federation of Protestant Welfare Agencies, die Ferienlager fur New Yorker Kinder veranstalteten, untersagten nach der Veröffentlichung des Interviews mit Eleanor Roosevelt sofort die Teilnahme von puertoricanischen Kindern. 239 Diese Reaktion verdeutlicht, dass die Hygienekampagne nicht nur dazu führte, dass die Verantwortung für Erkrankungen individualisiert wurde. Sie wurde vielmehr bestimmten Bevölkerungsgruppen kollektiv zugeschrieben. 240 In ihrer Untersuchung der Akten über 50 hilfsbedürftige Puertoricaner in New York äußerte die Sozialarbeiterin Ruth Downing eine ähnliche Vorstellung.241 In ihrer Darstellung über die gesundheitliche Situation der Puertoricaner schrieb sie: "It is difficult for the Porto Rican to grasp any idea of sanitation as it is so new to him. He will not take precautions and does not realize the seriousness of his illness."242 Downing folgte hier also dem Bild, das die Anti-Tuberkulose-Kampagne bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezeichnet hatte. Bestimmte Bevölkerungsgruppen waren auf Grund ihres unverantwortlichen Verhaltens verantwortlich für die gesundheitlichen Probleme, die bei ihnen stärker als bei anderen Gruppen auftraten.
238 Vgl. Nancy Tomes, "Moralizing the Microbe: The Germ Theory and the Moral Construction of Behavior in the Late-Nineteenth-Century Antituberculosis Movement", in: Allan M. Brandt, Paul Rozin (Hg.), Morality and Health, New York/London 1997, S. 271294. 239 Angelo Falcon, "A History of Puerto Rican Politics in New York City: 1860-1945", in: James Jennings, Monte Rivera (Hg.), Puerto Rican Politics in Urban America, Westport, Conn. 1984, S. 16-42, hier S. 33. 240 Tomes, "Moralizing the Microbe", S. 273. 241 Ruth S. Downing, Some Factors Bearing on Casework with the Porto Rican in New York City. A Study of Fifty Case Records of Porto Ricans in the Mt. Morris District of the Charity Organization Society, 24.3.1932, Vertical Files, Center for Puerto Rican Studies. 242 Ebd., S. 20.
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In den 1930er Jahren begann die Öffentlichkeit in New York, die puertoricanischstämmige Bevölkerung in der Stadt stärker wahrzunehmen, da ihre Anzahl stieg, während gleichzeitig die europäische Einwanderung auf Grund der Immigrationsgesetze von 1921 und 1924 stark zurückgegangen war. Vorurteile, wie sie vorher auch Einwanderern aus Ost- und Südeuropa entgegen gebracht wurden, fanden nun Anwendung auf die Puertoricaner. Ein 1940 in Scribner's Commentator veröffentlichter Artikel fasste all diese Stigmatisierungen zusammen.243 Darin wurden die Puertoricaner als arme, verlotterte Einwanderer bezeichnet, die viele Krankheiten in die Vereinigten Staaten schleppten. Die Krankheiten bezogen sich nicht nur auf den Körper, sondern auch auf soziale Aspekte. Puertoricaner litten dem Autor zufolge nicht nur zu etwa 30 % an Tuberkulose und wiesen auch bei Krankheiten wie Malaria und Syphilis einen hohen Erkrankungsgrad auf. Hewitt behauptete darüber hinaus, dass sie in sozial zerrütteten Verhältnissen und zu einem großen Teil von der Sozialhilfe lebten. Die jungen Männer neigten angeblich zur Kriminalität und besonders dazu, mit Drogen zu handeln. Frauen wiederum prostituierten sich angeblich, wenn sie jung genug waren. Insgesamt kam der Artikel zu dem Schluss, dass Puertoricaner nur "technically U.S. Citizens" seien und erkannte sie nicht als "Amerikaner" an. Ihre bedingungslose Aufnahme wurde deshalb kritisiert.244 Dieses Bild zeichnete bereits die Fremdsicht auf Puertoricaner in den Vereinigten Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg prägend werden sollte. Die steigende Migration von Puertoricanern auf das Festland führte nicht nur zu einer stärkeren öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe, gleichzeitig wandelten sich die Vorstellungen. Solange die Puertoricaner als Objekte der wohlwollenden Führung durch die USA gesehen wurden, galten sie zwar als minderwertig gegenüber den Angelsachsen, aber immerhin als lemfahig. Als sie jedoch als eine Bevölkerungsgruppe in den Vereinigten Staaten selbst regional an Gewicht gewannen, begann sich die Sichtweise zu ändern. Jetzt überwog das Bild eines aufgrund seiner Eigenschaften abzulehnenden Kollektivs. Damit konnten die sozialen Probleme, unter denen ein großer Teil der puertoricanischen Migranten in der Tat litt, ausgelagert werden. Nicht mehr die US-Gesellschaft trug dafür die Verantwortung, sondern die Migranten selbst.
243 Charles E. Hewitt Jr., "Welcome: Paupers and Crime", in: Scribner's Commentator, Vol. 7, No. 5, März 1940, S. 11-17. Die Zeitschrift war 1939 aus der Fusion der Blätter Scribner's und Commentator entstanden und hatte zu diesem Zeitpunkt eine Auflage von etwa 80.000 Exemplaren. Theodore Peterson, Magazines in the Twentieth Century, Urbana, 111. 1964, S. 147ff. 244
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b. Weder schwarz noch weiß, sondern hispano Für die puertoricanischstämmige Bevölkerung in New York prägte ihre Rassenzugehörigkeit angesichts der Bedeutung, die dieser Einordnung in der USamerikanischen Gesellschaft zukommt, einen wichtigen Bereich ihres Selbstverständnisses. Allerdings übernahmen sie nicht das von außen auferlegte Bild einer rassisch heterogenen Gruppe, sondern setzten ihm die Zugehörigkeit zur hispanischen Rasse entgegen. Im New York der Zwischenkriegszeit schlössen sie sich mit Einwanderern aus Spanien und Hispanoamerika zu "hispanos" zusammen. Diese Gruppe beschrieb sich selbst mit dem Begriff "la gran familia hispana", die große hispanische Familie, der nicht nur Homogenität, sondern gleichzeitig auch Harmonie suggerierte. Die Zugehörigkeit der spanischsprachigen Immigranten zu verschiedenen Nationen verlor hinter der Bezeichnung "hermanos de raza", Brüder einer Rasse, an Bedeutung. Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um die Zusammenfassung der spanischsprachigen US-Bevölkerung unter dem Begriff "Hispanics" durch die Regierung, gegen die viele Betroffene protestieren,245 ist dieser ehemalige Bezug auf eine solche kollektive Identität überraschend. In der Literatur fand er bisher kaum Beachtung. Dort werden die heutigen Unterscheidungen entlang der nationalen Herkunft auf die Vergangenheit projiziert und als gegeben dargestellt. Lediglich Virginia Sánchez Korrol beschäftigt sich in einem kurzen Beitrag mit der Materie. Sie sieht in der Solidarität zwischen Puertoricanern und anderen spanischsprachigen Einwanderern allerdings vor allem den Versuch, die jeweils eigene entsprechend der nationalen Herkunft definierte Gruppe mit ihrer spezifischen Kultur zu erhalten.246 Eine Gleichsetzung der vergangenen Identifi245
Die Kritik daran richtet sich einmal gegen die Zusammenfassung überhaupt. Verschiedene durch die nationale Herkunft bestimmte Gruppen betonen gegenüber der Vereinheitlichung die Unterschiedlichkeit der spanischsprachigen Einwanderer und ihrer Nachkommen. Vgl. Oboler, Ethnic Labels. Zusätzlich wird auch die Bezeichnung "Hispanic" als Ausdruck imperialistischen Denkens abgelehnt und stattdessen der Begriff "Latino" vorgezogen.
246 Virginia Sánchez Korrol, "Latinismo among Early Puerto Rican Migrants in New York City: A Sociohistoric Interpretation", in: Edna Acosta-Belén, Barbara R. Sjostrom (Hg.), The Hispanic Experience in the United States: Contemporary Issues and Perspectives, New York 1988, S. 151-161. Juan Flores weist in seiner Untersuchung über den aktuellen Diskurs von Hispanics und Latinos auf die Existenz der frohen Selbstidentifikationen in New York vor dem Zweiten Weltkrieg hin. Juan Flores, "Pan-Latino/TransLatino: Puerto Ricans in the 'New Nueva York'", in: Centro de Estudios Puertorriqueños 8,1-2 (1996), S. 170-186, hier 175. Die Situation in Chicago in den 1970er Jahren und dort aufkommende solidarische Beziehungen zwischen Mexican Americans und Puertoricanern untersucht Felix M. Padilla, Latino Ethnic Consciousness: The Case of Mexican Americans and Puerto Ricans in Chicago, Notre Dame 1985.
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kation spanischsprachiger Einwohner New Yorks als "hispano" mit dem heute üblichen "Hispanic" ist allerdings nicht angebracht, da die damit verbundenen Bedeutungen tatsächlich unterschiedlich sein dürften. Im Folgenden wird das Selbstbild der Puertoricaner in New York während der Zwischenkriegszeit in den Blick genommen. Dabei zeichnet sich ab, dass die Literatur bisher ein Bild entworfen hat, das dem komplexen Geflecht von Beziehungen und Orientierungen, die bei der Ausbildung der kollektiven Identität der Puertoricaner eine Rolle spielten, nicht gerecht wird. Die auf dem Festland lebenden Puertoricaner orientierten sich einerseits nicht ausschließlich an ihrer Herkunft, sondern bezogen sich in vielerlei Hinsicht auf ihren spanischen Hintergrund und identifizierten sich mit der umfassenderen Gruppe von spanischen und lateinamerikanischen Immigranten in New York. Es handelte sich hier also nicht um einen nachgeordneten Akt der Solidarität, sondern um ein Selbstverständnis, das ebenso wichtig war wie die Identifizierung, die sich auf die Herkunft von der Insel bezog. Allerdings verlor die hispanische Identität in Krisenzeiten häufig an Bedeutung gegenüber einem dezidierten Bezug auf die USamerikanische Staatsbürgerschaft der Puertoricaner, mit der sie sich gegenüber anderen Einwanderergruppen abgrenzen konnten. Ebenso, wie die Puertoricaner von außen nicht immer eindeutig einer Kategorie zugeordnet wurden, bezogen sie sich also auch selbst auf unterschiedliche Gruppen. Die Orientierung der Puertoricaner auf die von ihnen mit getragene Konstruktion der hispanischen Rasse, zeigt darüber hinaus, wie stark die Ausbildung einer kollektiven Identität von der gesamtgesellschaftlichen Situation und dem dominierenden Diskurs abhängig ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg bildeten Rassen ein zentrales Element gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen in den USA.247 Dies traf für Puertoricaner und hispanos ebenso zu wie für andere Bevölkerungsgruppen. Bei der Kategorisierung von anderen Gruppen unterschieden sich deren Vorstellungen zunächst auch nicht von den gesellschaftlich vorherrschenden. Puertoricaner übernahmen z.B. die Gleichsetzung von Nation und Rasse in Bezug auf die ost- und südeuropäischen Einwanderer, die in der fremdenfeindlichen Atmosphäre der 1920er als Rassen bezeichnet und ausgegrenzt wurden. Ebenso verhielt es sich mit Juden, die aufgrund ihrer Religion als Fremde wahrgenommen und als Rasse stigmatisiert wurden. Spanischsprachige Zeitungen und Zeitschriften benannten in den 1920er und 1930er Jahren Juden, Afroamerikaner, Italiener, Polen etc. häufig als
247 Das Bild einer in verschiedene Rassen aufgeteilten Gesellschaft besteht zwar auch heute noch, allerdings besteht daneben das Konzept ethnischer Gruppen, das besonders seit den 1960er Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat.
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Rassen und stimmten darin mit den üblichen Kategorisierungen überein. Ob diese Bezeichnungen und deren Gehalt einfach übernommen wurden, oder ob sich hinter diesen identischen Benennungen andere Inhalte verbargen, bliebe zu untersuchen. Eine in Hispanoamerika insgesamt weniger auf biologische Merkmale gerichtete Vorstellung mag auch hier Unterschiede gegenüber der bis zum Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten vorherrschenden Rassenideologie aufgewiesen haben. Denn Puertoricaner sprachen zwar einerseits von europäischen Immigranten als Angehörigen von Rassen, sie stellten in anderen Zusammenhängen jedoch fest, dass diese verschiedenen Gruppen zu Amerikanern geworden seien, da sie bereits lange genug in den USA lebten.248 Entgegen der dominierenden Vorstellung von Rassenmerkmalen als angeborenen, feststehenden Eigenschaften griffen sie hier also eher die melting pot-Idee auf und gingen vom möglichen Wandel rassischer Merkmale aus. Die Berichterstattung und die Kommentare in der spanischsprachigen Presse über Auseinandersetzungen in Harlem machen dies weiter deutlich. 1926 und 1927 kam es zwischen jüdischen Händlern, die bereits vor dem verstärkten Zuzug von Puertoricanern in Harlem lebten und ihre Geschäfte führten, und puertoricanischen Neuankömmlingen zu Konflikten. Die Kaufleute kritisierten einerseits die Konkurrenz neuer spanischsprachiger Geschäfte und das Einkaufsverhalten der Puertoricaner, während diese sich andererseits mit der Begründung zu rechtfertigen suchten, dass sie in den jüdischen Geschäften häufig übervorteilt würden.249 Sich auf diesen Streit beziehend, erinnerte die Wochenzeitung El Gräfico daran, dass die jüdischen Händler sich nur deshalb als Amerikaner bezeichnen könnten, da sie bereits seit längerer Zeit in den USA lebten. Dies gebe ihnen jedoch nicht das Recht, auf hispanos herabzusehen.250 Noch deutlicher tritt die Vorstellung vom möglichen Wandel rassischer Merkmale in einem Appell in El Gräfico hervor. 1927 rief die Zeitimg in einem Editorial alle hispanos dazu auf, sich bewusst in Universalisten zu verwandeln, da Veränderungen ihrer Charakteristika ohnehin nicht zu vermeiden seien: "Viviendo lejos de nuestra tierra de origen, todas nuestras costumbres y caracteristi-
248 Vgl. z.B. El Gräfico, 15.1.1928, S. 1. 249 Inwieweit diese Vorwürfe bereits auf Vorurteilen beruhten, lässt sich nicht klären, ist für den hier behandelten Kontext allerdings auch nicht von Bedeutung. Zu den Auseinandersetzungen vgl. auch Falcon, "A History", S. 26f. Interessanterweise erwähnt Falcon nur die Vorwürfe der jüdischen Kaufleute gegenüber den Puertoricanern. 250 Vgl. z.B. El Gräfico, 21.8.1927, S. 2.
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cas raciales por mucho que nos empeñemos en mantenerlas y conservarlas, han de desaparecer."251 Dasselbe Bild taucht in verschiedenen Artikeln auf, in denen die hispanische Bevölkerung aufgefordert wird, sich in die US-amerikanische Gesellschaft zu integrieren.252 Eine solche Assimilation bedeutete in den Augen der hispanos ebenso wie in denen der US-Gesellschaft insgesamt, dass eine Veränderung der rassischen Merkmale erfolgen musste. Während hispanos die Möglichkeit zur Assimilation sahen, glaubte zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb der angloamerikanischen Bevölkerung eine große Fraktion nicht daran. In den Augen vieler Rassentheoretiker und ihrer Anhänger waren rassische Merkmale genetisch bestimmt und deshalb feststehende Eigenschaften. Gerade diese angenommene Nicht-Assimilierbarkeit bestimmter Rassen hatte zum Erlass der strikten Einwanderungsgesetze von 1921 und 1924 gefuhrt, die die europäische Immigration praktisch zum Erliegen brachten.253 Die Vorstellung, dass rassische Merkmale nicht nur über Generationen hinweg, sondern im Leben eines einzelnen Menschen veränderbare Eigenschaften seien, dürfte neben dem Wunsch, sich in die Gesellschaft der Vereinigten Staaten zu integrieren, auch in dem in Hispanoamerika insgesamt anders gelagerten Verständnis von Rassen gelegen haben. Zu deren Unterscheidung wurden mehrere Faktoren herangezogen. Trotz des Einflusses biologischer Definitionen im 19. Jahrhundert wirkten Vorstellungen aus der Kolonialzeit nach. Die Spanier teilten die Bevölkerung der neu eroberten Gebiete Amerikas zunächst in christliche Eroberer (nämlich sie selbst) und heidnische Eroberte ein: die so genannten Indios. Allerdings unterschieden sie bei der autochthonen Bevölkerung anhand sozialer Kriterien zwischen einer als Adel bezeichneten Elite und den Unterschichten. Im Gegensatz zu der sich in den Vereinigten Staaten herausbildenden binären Vorstellung von Weißen auf der einen und Schwarzen auf der anderen Seite kam es in Hispanoamerika zur Anerkennung von Mischlingsgruppen, die bald eigene Kategorien in der sozialen Hierarchie darstellten. Die Kinder von Spaniern und Indianerinnen wurden nicht einer der beiden Elterngruppen zugeordnet, sondern der Gruppe der Mestizen. Ähnliches geschah mit den Nachkommen von Spaniern und Schwarzen, den Mulatten.254 Beide Gruppen, also 251
"Da wir so weit von unserer Heimat entfernt leben, werden alle unsere Bräuche und rassischen Charakteristika verschwinden, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, sie zu erhalten und zu konservieren." El Gräfico, 23.10.1927, S. 10.
252 El Gräfico, 4.9.1927, S. 6. 253 Vgl. dazu Kapitel II. 1. 254
Es kam dann noch zu weiteren, regional verschiedenen Ausdifferenziemngen. In Puerto Rico wurden Unterscheidungen getroffen zwischen hell- und dunkelhäutigen Mulatten,
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Mestizen und Mulatten, bildeten bald einen relativ großen Anteil der Gesamtbevölkerung. In Puerto Rico galt dies vor allem für Mulatten, da die indigene Bevölkerung entweder von den Eroberern umgebracht wurde oder den eingeschleppten Krankheiten erlag. Die Vermischung und die damit verbundene Ausdifferenzierung der Kategorien verhinderte, dass die Einteilung in verschiedene Bevölkerungsgruppen, die erst im 19. Jahrhundert die Bezeichnung "Rasse" erhielten, allein auf der Grundlage des Phänotyps und der Herkunft vorgenommen werden konnten. Elemente wie die Sprache, die Kleidung, die Art des Lebensunterhaltes, der Wohnort, die religiöse Orientierung etc. traten als weitere Kriterien der Einteilung hinzu. Eine Änderung dieser Merkmale, die Erlangung von wirtschaftlichem Reichtum oder der Wechsel des sozialen Umfeldes machten den Auf- oder Abstieg innerhalb der hierarchischen Ordnung möglich.255 In den USA hingegen entstanden keine dauerhaft akzeptierten Gruppen von Mischlingen, obwohl es hier ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, zur Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen kam.256 Da die Nachkommen von Eltern unterschiedlicher Zuordnungen einer der beiden Gruppen zugeschlagen wurden, blieben die vermeintlich eindeutige genealogische Herkunft und der Phänotyp die entscheidenden Kriterien bei der Kategorisierung von Rassen. Zwar gab es in einigen Zensus Rubriken für Mischlinge von Weißen und Schwarzen, das letzte Mal tauchte die Bezeichnung "mulatto" allerdings im Zensus von 1920 auf. Danach unterschied auch die Regierung lediglich zwischen Schwarzen und Weißen.257 Das Kind eines gemischten Elternpaares, sofern es sich um Weiße und Schwarze handelte, gehörte nun nicht mehr einer dritten rassischen Kategorie an, sondern galt per Gesetz als schwarz. Ein Umgehen dieser Kategorisierung war nur denjenigen möglich, deren Phänotyp dies weiterhin spielten die Haarfarbe und -form eine Rolle. Die Bezeichnungen lauteten: pardo, moreno, trigueño, grifo, jabao, prieto. Vgl. Eric Williams, "Race Relations in Puerto Rico and the Virgin Islands", in: Foreign Affairs, 1944/45, S. 308-317, hier S. 309, und Maxine Gordon, "Race Pattems and Prejudice in Puerto Rico", in: American Sociological Review 14 (1949), S. 294-301, hier S. 298. Fitzpatrick, Puerto Rican Americans, S. lOlf. 255 Das Ausmaß dieses Wandels ist bisher nicht quantitativ fassbar. Dazu bedürfte es noch wesentlich mehr Untersuchungen des Phänomens. Die Quellenlage könnte hier jedoch begrenzend wirken. Immerhin sollte es nicht überbewertet werden, dass es generell in Lateinamerika einfacher als in den USA war, die Rassenzugehörigkeit zu wechseln. Vgl. dazu auch Hensel, "Race versus Class". 256 Vgl. dazu Gary B. Nash, "The Hidden History of Mestizo America", in: Journal of American History 82 (1995), S. 941-962. 257
Sharon M. Lee, "Racial Classifications in the US Census: 1890-1990", in: Ethnic and Racial Studies 16 (1993), S. 75-94.
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zuließ und die sich außerdem von ihrer sozialen Umgebung vollkommen lösten, damit niemand ihre Herkunft aufgrund der familiären Verbindungen in Erfahrung bringen konnte. In Hispanoamerika war die Einteilung der Bevölkerung in Rassen also gegenüber den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten durch fließendere Übergänge gekennzeichnet. Die relative Durchlässigkeit der Kategorie Rasse zeigte sich auch darin, dass es im spanischsprachigen Amerika nach der Aufhebung der Sklaverei keine Segregation wie in den USA gab. Gerade im Vergleich der beiden unterschiedlichen Ausformungen von Rassenvorstellungen und der sozial wirksamen Unterscheidungen zeigt sich, wie eng verknüpft beide miteinander sind. Erst die Repräsentation, also der Zusammenhang von sozialen Verhältnissen, Konzepten zu ihrer Erklärung und ihre Formulierung, führt zur Ausbildung von historisch spezifischen Situationen.258 Die Unterschiede zwischen dem Diskurs über Rassen in den USA und in Hispanoamerika führten dazu, dass Lateinamerikaner einerseits in Ablehnung der Verhältnisse in den Vereinigten Staaten behaupten konnten, es gebe keine Rassen, während sie andererseits sich selbst als Angehörige der "raza hispana" konstruierten.259 Dieser Widerspruch kam bei den spanischsprachigen Einwanderern New Yorks in ihrer Selbstdefinition als Angehörige der hispanischen Rasse zum Ausdruck. Im Gegensatz zur angloamerikanischen Definition von Rassen als biologischen Einheiten, sahen sich die hispanos in New York als sprachlich-kulturelle Gruppe.260 In ihrem Selbstbild traten nicht nur die Unterschiede in der nationalen oder regionalen Herkunft hinter dieser Gemeinsamkeit als unwichtig zurück, sondern auch solche biologischer Art. Die hispanos konstruierten eine Gemeinschaft, für deren Mitglieder sie ebenso Homogenität behaupteten, wie dies die Angloamerikaner in Bezug auf die US-amerikanische
258 Hall, "The Work", S. 19. 259 José Martí stellte beispielsweise während seines Exils in New York in einem Artikel in Patria, einer spanischsprachigen New Yorker Zeitung, fest, dass es keine Rassen gebe. Vgl. Maria Teresa Martínez Blanco, Identidad cultural de Hispanoamérica. Europeismo y originalidad americana, Madrid 1988, S. 55. Diese Abgrenzung gegenüber den USA und auch gegenüber weiten Teilen Europas, wo ähnliche Vorstellungen zu Rassen bestanden, resultierte auch aus der eigenen untergeordneten Position innerhalb der vorgenommenen Hierarchisierung, derzufolge weiße Nordeuropäer und ihre Nachkommen über allen anderen standen. Die Hispanoamerikaner, wegen ihres vermischten Blutes als degeneriert verunglimpft, wehrten sich gegen solche weit verbreiteten Vorstellungen entweder, indem sie die Existenz von Rassen überhaupt in Frage stellten, oder indem sie eine Neubewertung von Mischlingen vornahmen. Zur europäischen Geringschätzung von Hispanoamerikanem aufgrund ihrer Rasse vgl. ebd., S. 51 ff. 260 Vgl. dazu weiter unten.
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Nation taten. Die Grundlage der Identität bildete dabei das Erbe der spanischen Kultur.261 Die hispanos konzipierten die gesellschaftliche Ordnung in den hispanischen Ländern und damit auch ihre Gruppe sogar als eine Antithese zur Rassentrennung in den USA. Danach existierten weder in Spanien noch in Hispanoamerika Rassenvorurteile, wie sie in den Vereinigten Staaten gegenüber den Schwarzen bestanden. Das Fehlen solcher Vorurteile zeige sich bei den Spaniern an der Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Kolonien. Nur die Spanier seien aufgrund ihres hohen Charakters in der Lage gewesen, mit allen Rassen zusammen zu leben und sich mit ihnen zu mischen.262 Diese Umdeutung der zeitgenössischen Theorien zur Rassenmischung widersprach der Behauptung von Eugenikern, dass eine Vermischung immer von Übel sei und die Mischlinge nur die schlechten Eigenschaften erbten. Vielmehr wurde die Vermischung hier als moralische Tugend herausgestrichen und damit eine Behauptung aufgestellt, die zwar die Argumentation der Eugeniker umkehrt, deren Kategorien jedoch fortfuhrt. Puertoricaner bewerteten nicht nur die Vermischung von Rassen als positiv, sie glaubten auch, dass die Beziehungen zwischen den Rassen auf Puerto Rico wesentlich besser seien, als in den Vereinigten Staaten. Sie verwiesen auf die unterschiedlichen Entwicklungen während der Abolition und danach. Während Abraham Lincoln als gescheiterter Befreier der Sklaven dargestellt wurde, da die Schwarzen auch nach dem Bürgerkrieg wie Sklaven behandelt worden seien, feierte El Gräfico Ramon Emeterio Betances als erfolgreichen Abolitionisten. Er befreite die Sklaven auf Puerto Rico, die seitdem ihre Freiheit genossen.263 Dieses Bild einer vom Rassismus unbelasteten Gesellschaft zeichneten in den 1930er Jahren auf Puerto Rico selbst einige Intellektuelle, die die Inselgesell-
261 Die raza hispana oder raza española war keine Erfindung der spanischsprachigen Einwanderer in den USA. In Spanien stieg das Konzept Ende des 19. Jahrhunderts auf. Damit sollte die Größe Spaniens zum Ausdruck gebracht werden und außerdem der Einfluss weltweit trotz des Verlustes der Souveränität über die Gebiete Amerikas verdeutlicht werden. Zu Spanien vgl. Fredrick B. Pike, Hispanismo, 1898-1936. Spanish Conservatives and Liberais and Their Relation with Spanish America, Notre Dame/London 1971, S. 128ff. Auf Puerto Rico wurde das Konzept ebenso aufgegriffen wie in anderen Ländern Lateinamerikas, wenn es dort zum Teil auch wichtige Umdeutungen erfuhr. Zu Puerto Rico vgl. Wolfgang Binder, "Miles and More. 1898 and 'caballeros líricos': Luis Muñoz Rivera and José de Diego", in: Walther L. Bernecker (Hg.), 1898: su significado para Centroamérica y el Caribe. ¿Cesura, Cambio, Continuidad?, Frankfurt a.M. 1999, S. 193-211, hier S. 199ff. 262 "El español es el único pueblo donde el problema racial no se ha conocido", in: La Prensa, 25.2.1929, S. 2. 263 "Charlas femeninas: Lincoln y Betances", in: El Gráfico, 24.2.1929, S . l l .
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schaft als Antithese zum rassistischen Süden der USA sahen.264 Es ist gewissermaßen zu einem identitätsstiftenden Mythos in Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten geworden, mit dem moralische Überlegenheit gegenüber den Angloamerikanern postuliert werden soll.265 Die Behauptung, in Puerto Rico gebe es höchstens aus den USA importierte Rassenvorurteile, findet sich bereits seit den 1920er Jahren bei Einwanderern in New York. Vereine betonten in ihren Statuten, dass sie alle Mitglieder ungeachtet ihrer Hautfarbe oder Rasse aufnahmen,266 und einzelne Personen, die innerhalb der puertoricanischen Gruppe in New York eine wichtige Rolle spielten, vertraten diese Ansicht ebenfalls.267
264 Vgl. z.B. Tomás Blanco, El prejuicio racial en Puerto Rico, Río Piedras, 3. Aufl. 1985. Der Text entstand 1937 und wurde 1942 zum ersten Mal in Puerto Rico veröffentlicht. Darin behauptet Blanco, dass es so gut wie keine Rassenvorurteile in Puerto Rico geben würde und die wenigen, die es gab, waren zum großen Teil von den US-Amerikanem importiert. Blanco konzipierte die spanische Geschichte Puerto Ricos und der Sklaverei auf der Insel ebenfalls als Antithese zum Süden der USA. Er hob das spanische Erbe hervor und sah es als einigenden Charakter der puertoricanischen Bevölkerung. Arcadio Díaz Quiñones sieht diesen Versuch, die Gesellschaft unter dem Slogan der hispanidad zu homogenisieren und von den Vereinigten Staaten abzusetzen, als ein Produkt der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Damit wäre die Entwicklung innerhalb der spanischsprachigen Bevölkerung in New York deijenigen auf der Insel voraus gewesen. Es stellt sich also die Frage, inwiefern diese Vorstellung einer von Rassismus freien Gesellschaft Puerto Ricos ein Import aus den USA war. Arcadio Díaz Quiñones, "Estudio preliminar", in: Tomás Blanco, El prejuicio racial en Puerto Rico. 265
Eine solche moralische Überlegenheit konstruierte die so genannte "Generación del 30" Puerto Ricos insgesamt für die spanisch geprägte Kultur gegenüber der materialistisch ausgerichteten US-amerikanischen. Gewecke, Puerto Rico, S. 55f.
266 Boletín Oficial de la Liga Puertorriqueña e Hispana, 3,3 (Aug. 1933), S. 3. 267 Bernardo Vega schreibt in seinen Erinnerungen ebenfalls, dass es bei den Puertoricanern keine Rassenvorurteile gegeben habe. Vega, Memorias, S. 30f. Vega kam in den frühen 1920er Jahren nach New York. Er war Zigarrendreher und engagierte sich in New York schnell in der Gewerkschaftsbewegung, später dann auch bei den Sozialisten und Kommunisten. Von 1927-1928 war er der Besitzer und Herausgeber von El Gràfico. Seine Erinnerungen schrieb er in den 1950er Jahren. Das Bild einer nichtrassistischen puertoricanischen Gesellschaft wurde auch in der wissenschaftlichen, angloamerikanischen Literatur übernommen, z.B. von E.S. Garver, E.B. Fincher, Puerto Rico: Unsolved Problem, New York 1945, S. 21. Dem widersprach Gordon, "Race Patterns". Auch neuere Studien vertreten z.T. noch die Auffassung einer von rassistischen Vorurteilen freien Gesellschaft in Puerto Rico. Vgl. z.B. Clara E. Rodríguez, "Between Black and White". Eine kritische Untersuchung der puertoricanischen Situation leistet Miriam Jiménez Román, "Un hombre (negro) del pueblo: José Celso Barbosa and the Puerto Rican "Race" Toward Whiteness", in: Centro 8,1-2 (1996), S. 9-29.
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Ganz so frei vom Rassismus waren allerdings weder Spanien und die hispanoamerikanischen Länder noch die hispanos in New York.268 In ihrem Diskurs um Rassen und Rassenvorurteile tauchten zwar die Begriffe "raza negra" und "gente de color" auf, von "blancos", dem der Terminologie entsprechenden Gegenbegriff, war jedoch nie die Rede. Stattdessen titulierten die hispanos ihr Gegenüber, die dominierenden gesellschaftlichen Gruppen, die sich selber als "white" oder "Caucasian" bezeichneten, als "americanos".269 Obwohl die hispanos nie direkt den Anspruch erhoben, der weißen Rasse anzugehören, bringt die Begriffswahl doch genau dies zum Ausdruck. Die Gegenüberstellung von "la raza hispana" und "la raza negra" traf eine deutliche Unterscheidung. Einen ebensolchen klaren Gegensatz gab es nicht zur weißen Bevölkerung. Weiterhin sahen sich die hispanos, wenn schon nicht in Bezug auf ihr biologisches Erbe, so doch ganz eindeutig im Hinblick auf ihre kulturelle Prägung als Europäer.270 So schrieb der Puertoricaner Jorge Manrique in El Gráfico von der Vermischung der verschiedenen Rassen auf Puerto Rico. Dies lag jedoch am Verhalten der spanischen Männer, die ihre Frauen nicht mitgebracht hatten und sich deshalb indianische und schwarze Frauen nahmen. Abgesehen davon, dass diese Frauen von den spanischen Männern Kinder bekamen, leisteten sie allerdings nach Ansicht des Autors keinen weiteren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft, denn: "La cultura hispana de cuatrocientos años que tenemos, con todas sus bondades y defectos, nuestra idiosincracía, nuestras virtudes y nuestros defectos, todo, absolutamente todo se los debemos, lo heredamos de España."271 Gemäß ihrer eigenen Vorstellung von Rassen, in der die kulturellen Merkmale betont wurden, stellten sich die hispanos bzw. in diesem Fall ganz konkret die Puertoricaner in die Nähe der Weißen, auch wenn sie den Begriff nicht benutzten.272 Ganz nebenbei konstruierte Manrique hier die puertoricanische
268 Zu den Vorstellungen sowohl der spanischen Kolonialverwaltung als auch der puertoricanischen Oberschicht am Ende des 19. Jahrhunderts über Schwarze, die als Wesen konstruiert wurden, die dem Tierreich näher standen als den Menschen und außerdem als Krankheitsträger den Tod für die weißen Unterschichten bedeuteten, vgl. Benigno Trigo, "Anemia and Vampires: Figures to Govem the Colony, Puerto Rico, 1880-1904", in: Comparative Studies in Society and History 41,1 (1999), S. 104-123. 269 Vgl. El Gráfico, 29.4.1928, S. 1; El Gráfico, 24.2.1929, S. 11. 270 El Gráfico, 10.3.1930, S. 8. 271 "Wir haben die spanische Kultur seit vierhundert Jahren mit allen ihren Vorzügen und Defekten, unsere Eigenart, unsere Tugenden und unsere Fehler, alles, absolut alles haben wir von Spanien geerbt." Ebd. 272 Vgl. dazu auch Boletín Oficial de la Liga Puertorriqueña e Hispana Vol. 3, Nr. 3, 20.11.1931, S. 5. Hier wird Spanien als "nuestra madre", unsere Mutter, bezeichnet.
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Gesellschaft als männlich, indem er eine eindeutige Zuordnung von Eigenschaften und Geschlecht vornahm und den Einfluss der Frauen auf die gesellschaftliche Entwicklung negierte. Die Bilder der hispanos in Bezug auf ihre künftige Rolle in den Vereinigten Staaten orientierten sich ebenfalls an den Weißen. Die Aufrufe sich zu assimilieren machen dies ebenso deutlich, wie die immer wieder auftauchenden Hinweise, dass die verschiedenen europäischen Einwanderergruppen nur deshalb schon für sich beanspruchen konnten, als Amerikaner zu gelten, da ihre Immigration weiter zurücklag als die der hispanos,273 Die Orientierung der hispanos richtete sich also trotz der Ablehnung von Rassenvorurteilen auf die sich selbst als Weiße bezeichnende Bevölkerung.274 Angesichts der benachteiligten Position der African Americans wäre alles andere allerdings auch erstaunlich gewesen. Zwar protestierten die hispanos in den 1920er und 1930er Jahren gegen den Rassismus in den USA und prangerten die Benachteiligung der Schwarzen an, eine Identifizierung hatte dies jedoch keineswegs zur Folge. Bereits 1917 beklagte sich z.B. der Puertoricaner R.M. Delgado in einem Leserbrief an die New York Times, dass das Kriegsministerium plane, Puertoricaner in North Carolina mit Schwarzen zusammenzulegen. Seiner Meinung nach zeige dies, dass sich die Puertoricaner auf lange Sicht besser von den USA trennten, um eine "distinct entity" zu bilden.275 Als eine afroamerikanische Zeitung Puertoricaner "morenos" nannte, verwahrten sie sich ausdrücklich gegen den Begriff, mit dem sie selbst African Americans bezeichneten.276 Offenbar nahm das Wort für sie eine negative Konnotation an, da "farbig" oder "schwarz" zu sein, gleichbedeutend war mit einer niedrigeren Stellung in der sozialen Hierarchie. Besonders in Hartem, zu dessen größten Einwohnergruppen African Americans und Puertoricaner
273 El Gráfico, 21.8.1927, S. 2; El. Gráfico, 20.12.1930, S. 9 und 14. 274 Die Unvereinbarkeit der Identitäten von Puertoricanem und Afroamerikanern zeigt sich am Fall von Arturo Schomburg besonders deutlich. Schomburg war Puertoricaner und Schwarzer. Er gehörte zu den wenigen Puertoricanem, die sich in New York als African American identifizierten. Er integrierte sich dort vollkommen und verfügte nur über wenige Kontakte zu den Puertoricanem, die ihm einiges Unverständnis entgegenbrachten. Eine gleichzeitige Zuordnung zur Gruppe der Puertoricaner als auch der Afroamerikaner scheint in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht möglich gewesen zu sein. Winston James, "Afro-Puerto Rican Radicalism in the United States: Reflections on the Political Trajectories of Arturo Schomburg and Jesús Colón", in: Centro de Estudios Puertorriqueños 8, 1-2 (1996), S. 92-127. Mitte der 1940er Jahre ordneten sich über 600 befragte Puertoricaner in New York selbst zu 93% den Weißen zu. Gosnell, Puerto Ricans, S. 10. 275 New York Times, 27.8.1917, S. 8. 276 El Gráfico, 29.4.1928, S. 1.
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zählten, kam es häufiger zu Konflikten zwischen beiden, weil Puertoricaner nicht als African Americans gelten wollten und letztere dies kritisierten.277 Die Puertoricaner, die auf dem Festland lebten, wurden im Allgemeinen nicht als Weiße oder in ihren Worten als "americanos" akzeptiert und sie wollten aufgrund der Diskriminierung nicht mit den African Americans zusammengefasst werden. Stattdessen schlössen sie sich mit anderen spanischsprachigen Immigranten zusammen. Die Grundlage dieses Zusammenschlusses bildete die Vorstellung, der gleichen Rasse anzugehören, was sich zuallererst in der Sprache äußerte, gefolgt von anderen kulturellen Aspekten, die allerdings selten näher benannt wurden. Die Bedeutung des Spanischen als einigendem Merkmal zeigt sich deutlich in der gleichsprachigen Presse. Im Editorial der ersten Ausgabe erläuterte El Gráfico seine Ziele und rief alle Angehörigen der "familia hispana" auf, sich in der Fremde zusammenzuschließen. Die Zeitung wollte über die Ereignisse in den "naciones de habla española" ebenso berichten, wie Beiträge von Lesern aufnehmen, sofern sie sich nicht negativ über die Souveränität oder Würde "de los países de nuestra lengua" ausließen.278 Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Nationen spielte also eine geringere Rolle als die gemeinsame Sprache. Die Übersetzung der Eigenbezeichnung hispano mit "Spanish-speaking" unterstrich die Bedeutung der Sprache noch. Ebenfalls in einem Editorial von El Gráfico beklagte der Autor, dass sich viele der hispanos in New York nicht trauen würden, ihre Sprache auch in der Öffentlichkeit zu sprechen. Anders als Italiener, Deutsche oder Franzosen, die ihre eigene Sprache jeweils ohne Probleme auch in den Nahverkehrsmitteln benutzten, schämten sich die hispanos, Spanisch zu sprechen. El Gráfico vermutete dahinter den Glauben vieler, die Unkenntnis des Englischen würde auf eine Minderwertigkeit der Person hinweisen. Nichts sei allerdings absurder als diese Annahme. El Gráfico plädierte dafür, dass die hispanos ihre Muttersprache ebenso wie alle anderen in der Öffentlichkeit einsetzen sollten. Mehr noch, sie sollten das Spanische nicht hinter dem Englischen zurücktreten lassen.279 277 Vgl. James, "Afro-Puerto Rican Radicalism". Konflikte entstanden u.U. nicht nur wegen der Frage der Rassenzugehörigkeit, sondern auch aufgrund von unterschiedlichen politischen Einstellungen. Die Puertoricaner in New York standen der Demokratischen Partei nahe, während die Afroamerikaner vor allem Republikanisch wählten. Falcon, "A History", S. 22. 278 "En la Brega", in: El Gráfico, 27.2.1927, S. 2. 279 "Contra un mal hábito", in: El Gráfico, 6.3.1927, S. 2. Die Behauptung, dass Deutsch eine oft vernommene Sprache in der Öffentlichkeit sei, scheint angesichts des starken Anpassungsdrucks auf deutsche Einwanderer und ihre Nachkommen, der durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, zumindest fragwürdig. Zur Situation deutscher Immigranten in den USA nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Marion Lois Huflines, "Bemü-
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Auch die größte spanischsprachige Tageszeitung La Prensa sah Spanier und Hispanoamerikaner "unidos por los lazos indisolubles de idioma y de hermandad."280 In einem Bericht über Festlichkeiten im Instituto de las Españas wurde die Sprache als zentraler Aspekt der Gemeinsamkeit bezeichnet, der zudem die Seele der "raza" ausmachen würde: "Para llegar a las complejidades del alma de la raza basta acercarse al alma del idioma en que aquella materializa la expresión de su pensamiento y de su vida interior."281 Die Tatsache, dass Spanisch für Einwanderer aus Spanien und Hispanoamerika in der anderssprachigen Umgebung wichtig war, leuchtet unmittelbar ein. Wer sich in einer ganz und gar fremden Stadt mit meist ungekannten Ausmaßen zurechtfinden muss, wird sich über jede komplikationslose Kommunikation freuen und sie suchen. Die Ausbildung von Vierteln, in denen Einwanderer einer Immigrationswelle vornehmlich Wohnungen fanden, ist in New York ebenfalls sehr ausgeprägt gewesen. Schon allein deshalb lebten die Migranten einer bestimmten nationalen Herkunft häufig in denselben Stadtvierteln, die dann wiederum durch ihre Bewohner geprägt wurden. Läden mit entsprechender Importware und mit den Schildern in der jeweiligen Sprache öffneten ebenso wie Kneipen, Theater und Kinos, in denen sich die Einwanderer zu Hause fühlen konnten. Die Aussprache und einige Vokabeln des Spanischen der verschiedenen Herkunftsländer unterscheiden sich zwar, dies führt jedoch zu keinen gravierenden Verständigungsschwierigkeiten. Da Kubaner, Spanier und Puertoricaner als die größten Gruppen vor dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Angehörige fast aller anderen hispanoamerikanischen Länder in New York lebten, ist ihr Kontakt untereinander kaum verwunderlich, zumal keine der Gruppen so groß war, dass sie die verschiedenen Einrichtungen alleine hätte tragen können. Diese rein pragmatische Sichtweise trifft jedoch nicht den Kern der Bedeutung, die die Sprache für die Einwanderer aus Spanien und Hispanoamerika annahm. Sie stieg zu einem identitätsstiftenden Faktor auf und erlangte damit eine wichtigere Rolle als nationale Grenzen.282 Die Sprache wurde zum Kriterium der hungen um die Spracherhaltung bei deutschen Einwanderern und ihren Nachkommen in den USA", in: Trommler (Hg.), Amerika und die Deutschen, S. 253-262, hier S. 259f. 280
"geeint durch die unauflöslichen Bande der Sprache und Brüderlichkeit.", La Prensa, 31.7.1919, S.3.
281
"Um die Komplexität der Seele der Rasse zu verstehen, reicht es, sich der Seele der Sprache anzunähern, in der jene ihr Denken und inneres Leben zum Ausdruck bringt." "El alma de la raza", in: La Prensa, 22.4.1929, S. 4.
282 Vgl. Sánchez Korrol, "Latinismo". Glazer und Moynihan glaubten in ihrer Studie, dass die Selbstidentifikation "hispano" nur innerhalb der Oberschicht benutzt worden sei. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, war dies jedoch keineswegs der Fall. Glazer, Moynihan, Beyond the Meiling Pot, S. 102.
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gemeinsamen Rasse überhöht. Obwohl die biologische Vermischung der indigenen, spanischen und afrikanischen Bevölkerungsgruppen in den ehemaligen spanischen Kolonien zugegeben wurde, hatte dies keine Auswirkung auf das Selbstbild und die Orientierung. Denn im nächsten Schritt, in der Charakterisierung der Kultur, wurde jeglicher nicht-spanischer Einfluss negiert. In der Selbstwahrnehmung zeichnete sich die hispanische Rasse durch das kulturelle Erbe Spaniens aus. Den indigenen Völkern Amerikas wurde jegliche Zivilisationsfähigkeit abgesprochen. Die Spanier waren es erst, die Kultur nach Amerika gebracht hatten. Noch 1944 schrieb La Prensa: "No hay un caso como el de España que dio su alma y su vision espiritual de la vida, y sólo por donde pasó ella se elevó a los indios a la condición de personas con sentido de la dignidad individual."283 Der Bezug auf die spanische Sprache und Kultur diente der Harmonisierung einer in vielerlei Hinsicht heterogenen Gruppe von Einwanderern.284 Überraschend mutet zunächst vor allem der Zusammenschluss von Puertoricanern und Kubanern mit Angehörigen der ehemaligen Kolonialmacht Spanien an. Die Ablösung lag gerade drei Jahrzehnte zurück, ein Zeitraum, der vermuten ließe, dass die Erinnerung an die Konflikte der Kolonialzeit noch frisch waren. Die Art und Weise, wie beide Inseln die Unabhängigkeit von Spanien erlangten, und die Rolle der USA darin, überlagerte jedoch mögliche Ressentiments gegenüber der alten Kolonialmacht. Besonders die Puertoricaner empfanden die Herrschaft der Vereinigten Staaten über ihre Insel und die ungeklärte Statusfrage als ein immer bedrückenderes Zeichen einer kolonialen Situation. Für sie trat die Geschichte als spanische Kolonie demgegenüber in den Hintergrund, zumal sie noch kurz vor dem Ende der spanischen Herrschaft einen relativ weitreichenden Autonomiestatus zugestanden bekamen. Für die Immigranten insgesamt wog außerdem der Gegensatz zur angloamerikanischen Bevölkerung vor Ort stärker als vergangene Auseinandersetzungen mit Spanien um die politische Souveränität.285
283 "Es gibt keinen Fall wie den Spaniens, das seine Seele und seine spirituellen Lebensvorstellungen gab. Und nur dort wo sie erschienen, wurden die Indios zu Personen mit einem Sinn für die individuelle Würde." "Resultó brillante la 'Fiesta de la Raza' celebrada por el Centro Español aquí", La Prensa, 17.10.1944, S. 8. 284 Selbst die unterschiedlichen Ausprägungen der spanischen Sprache mit regionalen Färbungen gelten einigen heute in der Debatte um die Zusammenfassung der lateinamerikanischen Einwanderer und ihrer Nachkommen unter dem label "Hispanics" eher als trennendes denn einendes Element. Vgl. Oboler, Ethnic Labels, S. 33. 285 Einen guten Überblick über die Geschichte Puerto Ricos und die alles überschattende Statusfrage gibt Gewecke, Puerto Rico, vgl. auch Kapitel III.2.
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Die spanischsprachige Presse richtete sich zwar auch aufgrund von Geschäftsinteressen an alle spanischsprachigen Einwohner New Yorks, dessen ungeachtet spielte sie eine wichtige Rolle bei der Ausbildung einer hispanischen Identität. Viele der Zeitungen verstanden sich dezidiert als Vertreterinnen der hispanos. So sah sich El Gráfico z.B. als "defensor de la raza hispana"286 In den Blättern wurde über Ungerechtigkeiten gegenüber hispanos geschrieben und die Kolumnen klagten die Diskriminierung in den verschiedensten Lebensbereichen immer wieder an. An die hispanos gerichtete Appelle riefen zur Einheit auf und forderten die Schaffung von Organisationen zur Vertretung und Wahrung der Interessen der hispanos. Die Zeitungen organisierten außerdem häufig kulturelle Ereignisse oder Benefizveranstaltungen und übernahmen so neben der Berichterstattung soziale und kulturelle Funktionen, die zur Einheit der verschiedenen spanischsprachigen Gruppen beitrugen.287 Neben den Printmedien existierten Vereine, die sich schon in ihrem Namen auf hispanos allgemein bezogen. Sánchez Korrol zählte für Brooklyn und Manhattan in den 1920er Jahren 43 solcher Clubs, die sich nicht auf eine nationale Herkunft bezogen, sondern im Namen bereits deutlich machten, dass sie Organisationen für alle hispanos waren. Diese Vereine stellten die mit Abstand größte Gruppe dar. Solche, deren Name sich ausschließlich auf Puertoricaner oder Kubaner bezog, machten hingegen weniger als die Hälfte aus.288 Andere Vereine signalisierten mit ihrem Namen sowohl den Bezug auf hispanos als auch auf eine bestimmte nationale Gruppe. Dies tat z.B. die Liga Puertorriqueña e Hispana, die 1926 als Reaktion auf die bereits erwähnten gewaltsamen Auseinandersetzungen in Harlem entstand. Sie setzte sich zum Ziel, alle hispanos unabhängig von ihrer nationalen Herkunft in dem Verein zusammenzubringen. In der Präambel der Vereinsstatuten hieß es: La Liga Portorriqueña e Hispana, Inc., fué la llamada a dar concreción al pensamiento unánime de la Colonia, abrazando, en su seno a todos los compatriotas y amigos sin diferencias de raza, color, credos, etc. inspirada en fines generales y altruistas, cívicos, benéficos y culturales.289 286
"Verteidiger der hispanischen Rasse", vgl. das Motto der Zeitschrift von 1927.
287 La Prensa veranstaltete beispielsweise jedes Jahr einen großen Ball, dessen Einnahmen für soziale Angelegehnheiten der hispanos eingesetzt wurden. Zur spanischsprachigen Presse in New York vgl. Joseph P. Fitzpatrick, "The Puerto Rican Press", in: Miller (Hg.), Ethnic Press, S. 303-314. Obwohl der Titel sich allein auf die puertoricanische Presse bezieht, behandelt der Beitrag besonders für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die spanischsprachige Presse in New York allgemein. 288
Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 142f.
289
"Die Liga Portorriqueña e Hispana, Inc., wurde dazu aufgerufen, der einheitlichen Meinung der Colonia Ausdruck zu verleihen, sie umarmt in ihren Reihen alle Landsmänner
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Als oberstes Ziel sah die Organisation die Verteidigung der Rechte aller Spanischsprachigen, hinzu kamen die soziale Absicherung der Mitglieder im Krankheits- oder Todesfall und die Ausrichtung von Kultur- und Bildungsveranstaltungen.290 Spanischsprachige Geschäftsleute organisierten als Reaktion auf die Unruhen in Harlem eine Cámara de Comercio Hispana,291 Der ebenfalls 1926 gegründete Verein Ateneo Hispano schrieb sich vor allem Bildungsanliegen auf die Fahnen. Seine wichtigsten Veranstaltungen stellten die Sprachkurse für Spanisch aber auch für Englisch dar.292 Der 1929 neu gewählte Präsident der Unión Benéfica Española, José Liado de Cosso, erläuterte in einem Interview, ein wichtiges Ziel seiner Amtszeit liege darin, die Organisation zur alleinigen Vertreterin der hispanos in New York zu machen.293 Tatsächlich kam es unter seinem Vorsitz im März 1930 zum Zusammenschluss der Unión Benéfica Española mit dem Centro Hispano Americano?9* Neben diesen organisatorischen Zusammenschlüssen manifestierte sich das Selbstverständnis der hispanos als Rasse auch in symbolischen Akten. Bereits Ende der 1920er Jahre begingen sie am 12. Oktober den día de la raza. Am 12. Oktober wurde in den Vereinigten Staaten insgesamt der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus mit dem so genannten Columbus Day gedacht. Die italienischstämmige Bevölkerung betonte mit eigenen Feierlichkeiten ihren Beitrag zur US-amerikanischen Kultur, indem sie auf die italienische Abstammung von Kolumbus verwies.295 Die spanischsprachigen Einwohner New Yorks hoben dagegen den Beginn der Ausbreitung der spanischen Kultur in Amerika als zu feiund Freunde ohne nach Rasse, Hautfarbe, Glauben usw. zu unterscheiden, und ist von allgemeinen, altruistischen, zivilen, wohltätigen und kulturellen Zielen inspiriert." Jesús Colón Papers, Center for Puerto Rican Studies, Hunter College, City University of New York, Series V: Organizational Activities, box 2, folder 11. Die Unterscheidung, die hier zwischen der Rasse und der Hautfarbe getroffen wird, verweist darauf, dass die hispanos die Rassenzugehörigkeit anders definierten, als dies in New York sonst der Fall war. 290 Falcon, "Puerto Rican Politics", S. 27, Sánchez Korrol, From Colonia to Community, S. 245. 291 Falcon, "Puerto Rican Politics", S. 27. 292 Colón Papers, Series V: Organizational Activities, box 1, folder "Ateneo Hispano". 293 "La U.B.E. será el portaestandarte de los intereses de nuestra raza", El Gráfico, 5.10.1929, S. 8. 294 "Los delegados de la Benéfica y del Hispano, acuerdan las bases de unión", El Gráfico, 29.3.1930, S. 10 u. 14. 295 Vgl. Rudolph J. Vecoli, "In Search of an Italian American Identity: Continuity and Change", in: Lydio F. Tomasi (Hg.), Italian Americans: New Perspectives in Italian Immigration and Ethnicity, New York 1985, S. 88-112.
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ernden Anlass hervor. Der Schwerpunkt des dia de la raza lag, wie der Name bereits verdeutlicht, nicht auf der Entdeckung an sich, sondern auf der Ausbreitung der spanischen Kultur auf den amerikanischen Kontinent. Kolumbus spielte hier mehr als Überbringer von Zivilisation und Kultur denn als Sinnbild des eigenen Wertes eine Rolle. Diese unterschiedlichen Repräsentationen der Erinnerung an den 12. Oktober 1492 machen verständlich, warum die beiden Gruppen keine gemeinsamen Veranstaltungen durchführten. Die Abgrenzung manifestierte sich auch in dem Ort der Erinnerung. Für die hispanos symbolisierte das Kolumbusdenkmal auf dem Columbus Circle nicht "ihren" Kolumbus, sie errichteten deshalb im Central Park eine andere Statue des Entdeckers, an der sie ihre Erinnerung und Selbstvergewisserung zelebrierten.296 Der dia de la raza trug zur Identifikation der unterschiedlichen lateinamerikanisch- und spanischstämmigen Einwohner New Yorks bei und er brachte ihre Solidarität untereinander zum Ausdruck. 1932 richtete der Club Azteca, ein Verein von Mexican Americans, zur "fiesta de la raza" einen Tanz aus. Der Erlös der Veranstaltung sollte den Opfern einer Hurrikan-Katastrophe auf Puerto Rico zugute kommen. Eingeladen waren allerdings nicht alle Spanischsprachigen. Auf einem Plakat hieß es: "para raza blanca", die Veranstaltung war also nur weißen hispanos offen. Diese Einschränkung zeigt deutlich, dass hispanos auch von dem Rassismus US-amerikanischer Prägimg, der klare Grenzen zwischen Weißen und Schwarzen zog, beeinflusst waren. Die Rassenvorurteile, die sie aus ihren Herkunftsländern mitgebracht hatten, blieben in der neuen Umgebung nicht unverändert, dies um so mehr als die Kategorie Rasse in beiden Kulturen ein Zeichen für Differenz darstellte. Bereits der Veranstaltungsort, den der Club Azteca für den Tanz gewählt hatte, schloss eine Teilnahme von Personen aus, die der allgemeinen Nomenklatur entsprechend als Schwarze galten.297
296 Zur identitätsstiftenden Rolle von Denkmälern allgemein vgl. Reinhart Koselleck, "Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden", in: Marquard, Stierle (Hg.), Identität, S. 255-276. 297 Glasser, My Music, S. 104.
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GRAN BAILE ORGANIZADO POR E L
CLUB AZTECA PARA CELEBRAR LA
FIESTA a.
DEL A RAZA
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