Kulturgeschichte der Antike, Teil 1: Griechenland [Reprint 2021 ed.] 9783112582886, 9783112582879


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German Pages 648 [650] Year 1977

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Kulturgeschichte der Antike, Teil 1: Griechenland [Reprint 2021 ed.]
 9783112582886, 9783112582879

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Kulturgeschichte der Antike 1

Griechenland

BAND

6,1

VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR Herausgegeben von JOACHIM HERRMANN

Kulturgeschichte der Antike 1 Griechenland Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Reimar Müller

Mit 82 Textillustrationen und 169 Abbildungen, davon 25 mehrfarbigen, auf 112 Kunstdrucktafeln

AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1976

Autorenkollektiv

Gesamtleitung: Reimar Müller

Beirat Ilse Becher, Burchard Brentjes, Horst Gericke, Rigobert Günther, Joachim Herrmann, Johannes Irmscher, Heinz Kreißig, Friedmar Kühnert, Wolfgang Müller, Ernst Günther Schmidt, Marie Simon, Jürgen Werner, Helmut Wilsdorf, Gerhard Zinserling

Einleitung: Reimar Müller Periode Frühes Griechenland Fritz Jürß (Leitung), Gabriele Bockisch, Joachim Ebert, Heinz Geiß, Ernst Kluwe, Eberhard Paul, Lukas Richter, Werner Rudolph, Helmut Wilsdorf, Gerhard Zinserling

Periode Blüte und Krise der Polis Heinrich Kuch (Leitung), Ilse Becher, Gabriele Bockisch, Hannelore Edelmann, Renate Johne, Ernst Kluwe, Reimar Müller, Wolfgang Müller, Lukas Richter, Werner Rudolph, Ernst Günther Schmidt, Gotthard Strohmaier, Jürgen Werner, Helmut Wilsdorf, Gerhard Zinserling

Periode Hellenismus Kurt Treu (Leitung), Ilse Becher, ErnBt Kluwe, Heinz Kreißig, Hansulrich Labuske, Reimar Müller, Lukas Richter, Werner Rudolph, Marie Simon, Gotthard Strohmaier, Jürgen Werner, Helmut Wilsdorf, Gerhard Zinserling Redaktionssekretär: Franz Paschke Textillustrationen: Lieselotte Finke-Poser (Zeichnungen), Wilsdorf (Erläuterungen und Rekonstruktionen)

Helmut

5

Vorwort

Das vorliegende Werk ist das Ergebnis der Gemeinschaftsarbeit eines Kollektivs, das sieh aus Wissenschaftlern der Akademie der Wissenschaften der DDR und der Universitäten, Hochschulen und Museen der DDR zusammensetzt. Ziel der Darstellung ist es, auf der Grundlage des historischen Materialismus eine wichtige Epoche der kulturellen Entwicklung der Menschheit dem historischen Verständnis zu erschließen und damit einen Beitrag zur Formung des Geschichtsbewußtseins unserer sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Darüber hinaus soll das Werk der lebendigen Vermittlung des reichen kulturellen Erbes der Antike dienen, dessen progressive Traditionen für unsere Gesellschaft große Bedeutung besitzen. Die Darstellung basiert auf den Forschungsergebnissen der Altertumswissenschaft mit ihren verschiedenen Teildisziplinen. An der Erarbeitung des Kapitels „Nachwirkung der antiken Kultur", das den zweiten Band beschließt, beteiligten sich auch Fachvertreter der Germanistik, Romanistik und Slawistik, denen dafür auch an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Zur Bewältigung der mit der Abfassung einer Kulturgeschichte verbundenen methodologischen Probleme waren vielfältige Kontakte mit Vertretern der Geschichtsmethodologie, Kulturtheorie, Ästhetik, Literatur- und Kunstwissenschaft erforderlich. Für methodologische Beratung und Diskussion ist das Verfasserkollektiv besonders Prof. Dr. W. Girnus, Prof. Dr. W. Heise, Prof. Dr. E. John und Prof. Dr. W. Rüben zu Dank verpflichtet. Zu danken ist auch dem Kollegium des Forschungsbereichs Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR und dem Problemrat für Alte Geschichte und Archäologie für ergebnisreiche und fördernde Diskussionen. Unser besonderer Dank gebührt den Fachkollegen, die zum Manuskript dieses Werkes Gutachten mit zahlreichen kritischen Hinweisen erstattet haben: Frau Prof. Dr. E. Staerman/ Moskau, Prof. Dr. B. Borecky/Prag, Dr. H. Crüger/Berlin, Prof. Dr. I. Hahn/Budapest, Prof. Dr. W. Hartke/Berlin, Prof. Dr. G. Redlow/ Berlin, Dr. Zs. Ritoök/Budapest, Prof. Dr. R. Schottlaender/Berlin. Für die redaktionelle Betreuung danken wir Dr. D. Rahnenführer sowie dem Verlagslektor W.-D. Erfurt, für die Beschaffung des Bildmaterials Dr. S. Fischer. Berlin, im August 1975

Reimar Müller

Inhalt

Einleitung

13

FRÜHES GRIECHENLAND

33

I. Die vorantike Zeit in der Ägäis und in Griechenland im 2. Jahrtausend v. u. Z. Die Welt des östlichen Mittelmeeres — geographische und historische Verhältnisse Die mykenische Kultur Die Wanderungsbewegungen am Ausgang des 2. Jahrtausends v. u. Z.

33 33 38 45

H. Die Herausbildung der antiken Gesellschaftsformation in Griechenland (Beginn des 1. Jahrtausends bis 500 v. u. Z.)

49

1. Die Entstehung der antiken Produktionsweise und der Polis (Beginn des 1. Jahrtausends bis 700 v. u. Z.)

49

Allgemeine Charakteristik Die Festigung des Privateigentums und die Entstehung der Adelsherrschaft Die Entwicklung der Produktivkräfte Die Lebensweise Die dichterische Abbildung der Wirklichkeit im Epos — Homer und Hesiod Religion und Mythos als ursprüngliche Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins Die Anfänge der griechischen Kunst und Architektur Formen des Menschenbildes in der Homerischen Zeit

78 93 96

2. Die Entfaltung der antiken Produktionsweise und der Polis (700-500 v. u. Z.)

100

Allgemeine Charakteristik Die Anfänge der antiken Warenproduktion und die revolutionären K ä m p f e der Klassen

49 51 53 56 62

100 101

Die Entwicklung der Produktivkräfte Die Lebensweise Die Entfaltung des Individuums in der lyrischen Dichtung Orientalischer Einfluß und eigenständige Entwicklung in Kunst und Architektur Rationale Wirklichkeitserfassung in Philosophie und Wissenschaft Wandel und Tradition im religiösen Weltbild Formen des Menschenbildes in der archaischen Zeit

113 116 120 135 143 162 167

BLÜTE UND KRISE DER POLIS

171

III. Die Blüte der Polis in Griechenland (500-404 v. u. Z.)

171

Allgemeine Charakteristik Die volle Entfaltung der antiken Produktionsweise in der Blütezeit der Polis Die Entwicklung der Produktivkräfte Die Lebensweise Die Perserkriege und ihre historischen Folgen für die weitere Entwicklung in Griechenland Der Kampf zwischen Demokraten und Oligarchen und die Entwicklung der Kultur in der ersten Hälfte des 5. Jh. v.u.Z. Gesellschaft und Kultur auf der Peloponnes Gesellschaft und Kultur in Großgriechenland Die Politik des Perikleischen Athens und ihre ökonomischen sowie gesellschaftlichen Grundlagen Die Kulturpolitik des Perikles Drama und Geschichtsschreibung in der Blütezeit der Polisdemokratie Die Blüte der Polisdemokratie und ihr Ausdruck in Kunst und Architektur Der Peloponnesische Krieg als Phase der beginnenden Poliskrise Götter und Kulte im Spannungsfeld von Polisideologie, Aufklärungsbewegung und Volksfrömmigkeit Der Fortschritt der Aufklärungsbewegung und des kritischen Bewußtseins Die Spiegelung der beginnenden Poliskrise in der Literatur Kunst und Architektur in der Zeit der beginnenden Poliskrise Formen des Menschenbildes im 5. Jh. v. u. Z.

171 173 178 188 200

204 226 230 235 239 243 252 257 260 266 281 296 298

IY. Die Krise der Polis in Griechenland (404-338 v. u. Z.) Allgemeine Charakteristik Die antike Produktionsweise in der Phase der Poliskrise Die politische Entwicklung Die Entwicklung der Produktivkräfte Die Lebensweise Ideologische Einwirkungen auf die Krisenverhältnisse Die Widerspiegelung der Krisensituation in Religion und Kult Die Dichtung im Zeichen der Poliskrise Der Wandel in der Geschichtsschreibung Das Aufblühen der Redekunst Der gesellschaftliche Differenzierungsprozeß im Spiegel von Kunst und Architektur Das Echo der gesellschaftlichen Differenzierung in der Philosophie Die Wende zum Idealismus (Piaton) Möglichkeiten epochalen Fortschritts in der Philosophie (Aristoteles und seine Schule) Die Verselbständigung der Wissenschaften Die Entwicklung der Sprache Formen des Menschenbildes im Zeichen von Verfall, Stagnation und Neuformierung

INHALT

305 305 307 311 315 321 328 330 332 335 337 339 350 354 359 363 365 366

HELLENISMUS

373

Y. Die hellenistische Zeit (338-30 v. u. Z.)

373

Allgemeine Charakteristik 373 Die makedonische Hegemonie in Griechenland und ihr Einfluß auf Wirtschaft und Politik 377 Das Eindringen der antiken Produktionsweise im Vorderen Orient 382 Die Entwicklung der Produktivkräfte 387 Die Lebensweise 403 Polisreligion, Herrscherkult und persönliche Religiosität 425 Neue Denkansätze in der Philosophie 432 Der Aufschwung der Wissenschaften 446 Realismus und Exklusivität in der Literatur 455

11

Sachlichkeit und Pathos in der Geschichtsschreibung Kunst und Architektur im Dienste der Herrscher und des einzelnen Formen des Menschenbildes in hellenistischer Zeit

12

467 472 484

Zeittafel

491

Literaturverzeichnis

499

Abbildungsverzeichnis

511

Bildnachweis

517

Register

519

Einleitung

Die Kultur der Antike, die als Grundlage der europäischen Kulturentwicklung ihre weiterwirkende K r a f t immer wieder gezeigt hat, ist auch und gerade für unsere sozialistische Gesellschaft ein lebendiger Bestandteil des kulturellen Erbes. Bemerkenswerte Tatsachen bezeugen es: die zahlreichen Besucher unserer Museen, die bewundernd vor unvergänglichen Meisterwerken antiker Kunst stehen; eindrucksvolle Theaterabende, in denen die Gestalten antiker Dichtung, mit neuem Leben erfüllt, von großen Kämpfen und humanistischen Idealen der Vergangenheit zu uns sprechen; die inspirierende K r a f t , die von den Gestalten des antiken Mythos ausgeht und Schriftsteller unserer Tage veranlaßt, Grundprobleme der Zeit in modellhafter Verallgemeinerung und großen geschichtlichen Gleichnissen zu erfassen; das zunehmende Interesse für die antike Philosophie, deren Bedeutung für die weltanschauliche Bildung immer deutlicher hervortritt. Unsere Gesellschaft macht sich die antike Kultur auf eine neue Weise zu eigen, indem sie sie von jenen Verkrustungen befreit, die eine bildungsbürgerliche Traditionspflege hervorgerufen hatte. Längst waren die progressiven Impulse der Aufstiegszeit des Bürgertums, die einen Winckelmann als Schüler der Aufklärung und Anhänger griechischer Demokratie und Freiheit begeistert hatten, verloren und verdrängt. Zunehmend war das Erbe der Antike zur bloßen Fassade für eine Wirklichkeit herabgesunken, die von ganz anderen Interessen bestimmt wurde. Hier einen Neubeginn zu setzen, die starken Quellen humanistischen Denkens und Handelns freizulegen, die im antiken Erbe enthalten sind, war und ist eine wesentliche Aufgabe der Bildungsrevolution, die unsere Gesellschaft in ein neues, fruchtbares Verhältnis zu allen wertvollen Traditionen der Weltkultur bringt.

Antikes Kulturerbe

1. I m Ringen um das Erbe der Antike spiegeln sich die politischen und Spätbürgerliche weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart. I n der spätAntikerezeption bürgerlichen Antikerezeption traten seit dem Ende des 19. J h . zunehmend Tendenzen einer elitären Flucht aus der Wirklichkeit hervor. Wie auf anderen Gebieten des geistigen Lebens pflegte man auch hier — um mit Worten Thomas Manns zu sprechen — eine „machtgeschützte Innerlichkeit". I n unverbindlichem Ästhetizismus wandte m a n sich der Antike zu, und Hellas wurde zum magischen Zeichen für den Rückzug in den Elfenbeinturm: „Eine kleine Schar zieht stille Bahnen, stolz entfernt vom wirkenden Getriebe, und als Losung steht auf ihren 13

Fahnen: Hellas ewig unsre Liebe" (Stefan George). Auch die starken irrationalen Strömungen der Zeit bemächtigten sich des antiken Erbes und hoben das „Rauschhafte und Elementare" bestimmter Bereiche der mythischen Tradition gegenüber den rationalen und humanen Errungenschaften der antiken Kultur hervor. Den Vertretern eines militanten Konservatismus erschien die strenge Zucht des spartanischen Militärstaates als geeignetes Vorbild für die Erziehung der Jugend im Sinne nationalistischen und militaristischen Ungeistes, und hier knüpfte auch die faschistische Ideologie mit ihrem Antikebild an. In den letzten Jahrzehnten zeigten sich zunehmend Tendenzen, das Ringen um die Autonomie des Menschen und die rationale Bewältigung der Wirklichkeit, das die Blütezeiten der antiken Kultur entscheidend geprägt hat, in den Hintergrund treten zu lassen. Es machte sich eine wachsende Neigung zur Remythologisierung, zur Aufgabe bereits in der Antike gewonnener humanistischer und progressiver Positionen zugunsten eines irrational-mythischen Weltbildes bemerkbar. Sozialistische Antikerezeption

Antikebild der deutschen Klassik

14

Die Antikerezeption der sozialistischen Gesellschaft knüpft an die progressiven Traditionen der antiken Kultur an, die im Laufe der geschichtlichen Entwicklung in vielfältiger Weise zum Katalysator des Fortschritts geworden sind. Bei den Klassikern des Marxismus-Leninismus findet sich nicht nur eine tiefgründige Konzeption für die Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe, sondern auch eine Fülle von Hinweisen auf Züge der Tradition, die für unsere Gesellschaft in besonderem Maße fruchtbar werden können. Es überrascht nicht, wenn wir hier eine enge Beziehung zur Antikerezeption wichtiger Phasen in der geistigen Emanzipationsbewegung des aufsteigenden Bürgertums finden: der Renaissance, der Aufklärung und der deutschen Klassik. Ein besonders enges Verhältnis verband Marx und Engels mit der Antikerezeption der klassischen deutschen Literatur und Philosophie. Freilich handelt es sich hier nicht um eine bloße Übernahme, sondern um eine kritische, schöpferische Auseinandersetzung, durch die die Aneignung der antiken Kultur auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Das Erlebnis der Antike hatte für das deutsche Bürgertum, das sich spät aus den Fesseln feudaler Vergangenheit zu lösen begann und im geistigen Bereich die Revolution vorwegnahm, die ihm in der politischen Praxis noch nicht gelang, große Bedeutung. Boten sich doch in bestimmten Perioden der antiken Geschichte Leitbilder einer sinnvollen Bezogenheit von Individuum und Gesellschaft, einer vergleichsweise vielseitigen und harmonischen Entfaltung der Persönlichkeit an, denen nachzustreben lohnenswert schien. Die demokratischen Traditionen der griechischen Polis inspirierten den jungen Hölderlin und den jungen Hegel zu ihren freiheitlichen Gegenbildern gegen die höfisch-feudale Welt. Die „Totalität" der Ausbildung menschlicher Fähigkeiten unter Bedingungen, die von den nachteiligen Folgen der Arbeitsteilung und Entfremdung noch relativ wenig geprägt waren, erschien Schiller als ein Idealzustand, den es nach einer langen Periode der Vereinseitigung und Spezialisierung auf höherer Stufe wiederherzustellen galt. Herder sah in der Antike eine wesentliche Phase auf dem unendlichen Weg der Menschheit zur Humanität und feierte das griechische Ideal der Kaioka-

gathie, der harmonischen Entfaltung körperlicher und seelisch-geistiger EINLEITUNG Kräfte. Goethe würdigte die Lebensbejahung und Diesseitigkeit des griechischen Menschenbildes. Die Antike war für ihn ein unerschöpflicher Quell belebender Kräfte für die Prägung eines höheren Menschentums. In griechischer Kunst und Dichtung erblickte er die Vorbilder, mit denen sich alles künstlerische Streben auseinanderzusetzen habe, wenn es zu großen Leistungen gelangen wollte. Das fortschrittliche Bürgertum, das sich in „heroischen Illusionen" — „Heroische wie es Marx formuliert — über die klassenmäßig enge Begrenzung seiner Illusionen" Emanzipationsbestrebungen hinwegtäuschte, betrachtete freilich auch die als vorbildlich empfundene antike Welt in einer die Widersprüche überdeckenden Sichtweise. So hat es zwar wesentliche Züge des gesellschaftlichen Lebens, der Kunst und Wissenschaft, des Welt- und Menschenbildes der Antike hervorgehoben und damit dem Verständnis der zukunftweisenden Elemente im antiken Erbe den Weg bereitet. Andererseits entstand aber durch die Überbetonung bestimmter Leitbilder auf Kosten der elementaren Lebenswirklichkeit und die glättende Harmonisierung tiefreichender Widersprüche im ganzen ein einseitiges Bild von der Antike. Die progressiven Grundzüge der Antikerezeption des aufsteigenden Bürgertums verlieren deshalb aber nichts von ihrer Bedeutung. Gerade auch jene „heroischen Illusionen" sind ja keineswegs nur unter negativem Aspekt zu sehen. Ermöglichten sie doch die großen, die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft überschreitenden menschheitlichen Utopien der bedeutendsten Vertreter des Bürgertums, die im realen, sozialistischen Humanismus aufgehoben sind. Die Philosophie der Aufklärung war ohne den immer neuen, schöpferische Kräfte freisetzenden Rückgriff auf den antiken Materialismus nicht zu denken. Von ihr aber führt eine unmittelbare Entwicklungslinie zum dialektischen Materialismus. Das Ideal des vielseitig und harmonisch ausgebildeten Menschen, das von der Renaissance bis zu Schiller und Hegel wesentliche Anstöße aus der Antike empfing, erhält zwar unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft einen neuen Inhalt, aber in ihm sind alle humanistischen Persönlichkeitsideale der Vergangenheit bewahrt. Das prometheische Menschenbild, geprägt vom Bewußtsein menschlicher Autonomie und Schöpferkraft, das für die besten Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft zum Signum ihres Ringens um die Befreiung des Menschen wurde, erscheint in hohem Grade bedeutsam in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Bedingungen herangereift sind, die den Menschen erst wahrhaft zum Gestalter und Beherrscher seiner Lebensverhältnisse werden lassen.

Lebenskraft des antiken Erbes

2. Um die Erschließung des antiken Erbes für unsere Gesellschaft bemühen sich eine Reihe von altertumswissenschaftlichen Disziplinen wie Alte Geschichte, Klassische Philologie, Klassische Archäologie und SpezialWissenschaften wie Epigraphik, Papyrologie, Numismatik u. a.

Altertumswissenschaftliche Forschung 15

Diese Disziplinen stützen sich in ihrer Forschungsarbeit auf die großen Leistungen, die die Altertumswissenschaft (besonders seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.) bei der Sammlung und Aufbereitung des historischen Quellenmaterials vollbracht hat und deren Ergebnisse in Textausgaben, Inschriften-Corpora und Fragmentsammlungen vorliegen. Auf neuer Grundlage, geleitet von den Prinzipien des historischen Materialismus, hat die altertumswissenschaftliche Forschung besonders bei der Aufdeckung der sozialökonomischen Grundlagen der historischen und kulturellen Entwicklung beachtliche Erfolge erzielt. Es machte sich jedoch zunehmend ein Mangel an zusammenfassenden Darstellungen dieser Erkenntnisse bemerkbar, die einem breiteren Leserkreis einen Überblick über die Entwicklungsphasen der antiken Geschichte, über die technischen Leistungen der Antike, über die Schöpfungen der bildenden Kunst, über literarische Werke und ihre Verfasser, über die Systeme der Philosophie zu geben vermögen. Wenn nun, um solchen Anforderungen zu genügen, der Weg einer kulturgeschichtlichen Darstellung beschritten wird, so bietet dieser Weg zwar beachtliche Möglichkeiten, wirft aber auch nicht minder große methodologische Probleme auf. Kulturgeschichte-

16

Die intensive Rezeption der antiken Kultur auf den verschiedensten Gebieten unseres geistigen Lebens ließ eine umfassende Darstellung erwünscht erscheinen, die die einzelnen Traditionselemente in den Kontext ihrer historischen Entstehungsbedingungen stellt und damit erst voll dem Verständnis des Betrachters erschließt. Ein solches umfassendes Bild zu zeichnen, scheint die Kulturgeschichte in besonderem Maße geeignet. Andererseits stellt diese Form hohe theoretische und methodologische Anforderungen. So besteht bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung die Schwierigkeit, eine Gesamtdarstellung auch für Gebiete zu liefern, die durch die marxistische Einzelforschung noch nicht in genügendem Maße bearbeitet sind. Dazu kommen die grundsätzlichen methodologischen Probleme, die die Kulturgeschichte als Gattung der Geschichtsschreibung stellt. Die Kulturgeschichte wird neben der politischen und der Wirtschaftsgeschichte als wichtige Teildisziplin der marxistischen Geschichtsforschung prinzipiell anerkannt, aber es gibt auf diesem Gebiet bisher nur geringe praktische Erfahrung. Die theoretische Durchdringung von Seiten der Geschichtsmethodologie und Kulturtheorie steht erst in den Anfängen. Die Kulturgeschichte, die sich historisch im Gegensatz zur politischen Geschichtsschreibung dynastisch-höfischer Prägung mit ihrer Orientierung auf „Haupt- und Staatsaktionen", auf Monarchen und Feldherren entwickelte, führte von Anfang an zur Erweiterung und Vertiefung des Geschichtsbildes, wie die Leistungen eines Voltaire, Montesquieu oder Herder eindringlich bezeugen. Dennoch wurden die in dieser Gattung der Geschichtsschreibung liegenden Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, solange die Kulturgeschichte eine spezielle Provinz der Geschichtsforschung blieb, in der einzelne Bereiche der gesellschaftlichen Entwicklung wie Technik und Lebensweise, Staat und Recht, Religion und Philosophie unverbunden nebeneinander standen und nicht genetisch aus einer Wurzel erklärt wurden. Es liegt auf der Hand, daß die Grundkonzeption des historischen Materialismus von der bestimmenden

Wirkung der Produktionsverhältnisse auf alle Bereiche des gesellschaftEINLEITUNG liehen Lebens auch für die Methodologie der Kulturgeschichte eine umwälzende Bedeutung hatte. Der historische Materialismus begreift die Geschichte der Kultur als Begriff der Kultur das Ringen des Menschen um wachsende Beherrschung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse. I n der Auseinandersetzung des Menschen mit der äußeren Natur, die zu deren Umgestaltung führt, entfalten sich seine produktiven Kräfte. Der materiellen Produktion, dem Stoffwechsel mit der Natur kommt für die Entstehung und Entwicklung des Menschen entscheidende Bedeutung zu. Schon in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 schreibt Karl Marx: „Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußern Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde, weil m a n — innerhalb der Entfremdung sich bewegend — nur das allgemeine Dasein des Menschen, die Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Literatur etc., als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte" (MEW, Erg.-Bd. 1, 542). Doch ist das Wachsen der Produktivkräfte als Entfaltung menschlicher Wesenskräfte in seiner Bedeutung für die kulturgeschichtliche Entwicklung nur zu verstehen, wenn der Zusammenhang mit der Wandlung der Beziehungen der Menschen untereinander und damit gleichfalls ihres „Wesens" gesehen wird, das sich als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse enthüllt. I m Lichte des marxistischen Kulturbegriffs erscheint die Kultur Aufgaben der nicht als ein vom übrigen gesellschaftlichen Leben eng abgegrenztes Kulturgeschichte Gebiet. Die kulturelle Entwicklung vollzieht sich in allen Bereichen der menschlichen Lebenstätigkeit, in der Sphäre der Auseinandersetzung mit der Natur ebenso wie im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen, in Staat und Rechtswesen ebenso wie in den sozialen Verhaltensweisen, auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Psychologie ebenso wie in Kunst und Wissenschaft. Gleichwohl ist der Gegenstandsbereich der Kulturgeschichte nicht der geschichtliche Prozeß im umfassenden Sinn. Die Kulturentwicklung stellt vielmehr einen besonderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens dar, die Kulturgeschichte untersucht den gesamtgesellschaftlichen Prozeß unter einem spezifischen Blickwinkel. Es geht u m die Entfaltung der körperlichen und geistigen Potenzen des Menschen, die Vergegenständlichung seiner Gattungskräfte in der materiellen und geistigen Kultur, die Akkumulation und Weitergabe der dabei gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse, die Höherentwicklung und Selbstvervollkommnung der menschlichen Gattung. So zeigt die Kulturgeschichte die Entstehung und Entwicklung der schöpferischen K r ä f t e des Menschen, seiner Produktivkräfte im vollen Sinn dieses Wortes. Die einzelnen Stufen in diesem Prozeß sind in ihrem Wesen geprägt von den jeweiligen sozialen Verhältnissen, die die Möglichkeiten individueller Entfaltung für die Angehörigen der einzelnen Klassen und Schichten 17 2

Bürgerliche Kulturtheorien

MethodenPluralismus

18

gleichermaßen bestimmen wie die politischen Strukturen und den spezifischen Charakter der wissenschaftlichen und künstlerischen Aneignung der Welt. Die Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Menschen ist also stets in ihrer Determination durch die sozialen Beziehungen zu sehen. Dieser unlösbare innere Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung wird von der bürgerlichen Kulturtheorie negiert. Als besonders verhängnisvoll erwiesen sich die Trennung und Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation, wie sie von 0 . Spengler und A. Weber vorgenommen wurden. Von den kulturtheoretischen Auffassungen A. Webers (Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München 1951), der einer verbreiteten Tendenz zur „pluralistischen" Interpretation der Kulturgeschichte den Weg bereiten half, ist eine nachhaltige Wirkung ausgegangen. Weber, der seine Anschauungen in ausdrücklichem Gegensatz zum historischen Materialismus entwickelt, trennt die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur (in Webers Terminologie „Zivilisationsprozeß") von der Entwicklung der sozialen Beziehungen („Gesellschaftsprozeß"). Von diesen wird wiederum die Entfaltung des geistigen Lebens („Kulturbewegung") als völlig eigenständiger Bereich abgehoben. I n letzterem sieht Weber irrationale Kräfte wirksam, die die kulturelle Entwicklung im Sinne einer „seelisch-geistigen Entelechie" bestimmen. Ein kausales Verhältnis zwischen den verschiedenen Bereichen wird ausdrücklich geleugnet. Der Pluralismus der Erklärungsprinzipien dominiert, wie überhaupt j n ¿ e r derzeitigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, auch in der Kulturgeschichte. Diese Tendenz zeigt sich auch in neueren theoretischen Äußerungen zur antiken Geschichte. Hatte schon W. Otto (Kulturgeschichte des Altertums, München 1925, 8) sich nachdrücklich für eine Vielheit von Erklärungsprinzipien eingesetzt, mit der man der Komplexität des Geschichtsprozesses allein gerecht werden könne (wobei dann im Widerspruch zu diesem Ausgangspunkt in Gestalt des Staates ein Faktor herausgehoben wird, um den sich alle anderen gesellschaftlichen Erscheinungen gruppieren), so betonte neuerdings A. Heuß, die menschliche Existenz lasse sich nicht aus einer Wurzel ableiten. Wie bei W . Otto verbirgt sich aber auch hier hinter dem vermeintlichen Pluralismus der Prinzipien ein Bedürfnis, zentrale Wirkungskräfte aufzudecken. Dabei tritt in dem Vorschlag, die politische Geschichte der Antike „vom Geist her", d. h. aus der ideengeschichtlichen Entwicklung zu deuten, ein dezidierter Idealismus hervor, lediglich eingeschränkt durch die "Überlegung, auch die Kontinuität der gesellschaftlichen Struktur müsse Beachtung finden (Propyläen Weltgeschichte, 3, Berlin[West]-Erankfurt-Wien 1962, 17ff.). 0 . Gigon übt Kritik an „Versuchen, die griechische Geschichte eben doch vom Primat der Wirtschaft her zu interpretieren" und erblickt im „Verlangen nach Macht und Ehre" eine unvergleichlich stärkere Triebkraft geschichtlichen Handelns (Die Kultur des klassischen Altertums, Frankfurt a. M. 1969, 21). Ähnlich wie bei W. Otto, der dem historischen Materialismus unterstellte, die psychisch-ethischen Elemente und geistig-sittlichen Triebkräfte aus der Deutung des Geschichtsprozesses zu eliminieren, verfehlt

auch diese Kritik ihr Ziel. Der historische Materialismus leugnet die Wirksamkeit der genannten Faktoren keineswegs, beweist jedoch ihren abgeleiteten Charakter im Geflecht der vielfältigen Beziehungen zwischen sozialökonomischer Basis, politischen Kämpfen und ideologischen Motivierungen. Daß neben diesen pluralistischen Tendenzen auch in der Kulturgeschichte ein jede theoretische Fundierung (scheinbar) negierender Neopositivismus hervortritt, kann bei der allgemeinen Lage der bürgerlichen Geschichtsmethodologie nicht wundernehmen. So proklamiert M. Crouzet, der Herausgeber der repräsentativen „Histoire générale des civilisations", in der Einleitung zu dem vielbändigen Werk, daß in dieser Darstellung jeder Rückgriff auf eine Geschichtsphilosophie vermieden werde, und begründet diese Feststellung mit der Behauptung, Begriffe wie Fortschritt und Niedergang setzten eine metaphysische Vorstellung von der Entwicklung des Menschen voraus (1, Paris 1963, IX).

EINLEITUNG

Wenn die Kulturgeschichte, ausgehend von der letztlich bestimmenden Rolle der sozialökonomischen Bedingungen, die Wechselbeziehungen zwischen Basis und Überbau und zwischen den verschiedenen Bereichen des Überbaus aufzeigen will, muß sie sich einer differenzierten Betrachtungsweise bedienen. Die von F. Engels in den Altersbriefen ausgesprochenen Warnungen vor vulgärökonomischen Vereinfachungen und Entstellungen sind gerade auch für die Kulturgeschichte von großer Bedeutung. Das betrifft besonders die Erfassung der aktiven, gesellschaftsbildenden Rolle des Überbaus und der relativen Selbständigkeit in der Entwicklung seiner einzelnen Teilbereiche. Hier stehen vor der marxistischen Erforschung und Darstellung der antiken Kulturgeschichte große Aufgaben, zu deren Lösung auch das vorliegende Werk einen Beitrag leisten soll. Die aktivierende, je nach den historischen Bedingungen gesellschaftliche Kräfte freisetzende, fördernde oder auch hemmende Rolle der politischen und ideologischen Faktoren auf der „Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit" läßt sich an Erscheinungen wie der langen Entwicklungsgeschichte der griechischen Polis, des Stadtstaates Rom und des Imperium Romanum mit den auf ihrer Grundlage erwachsenen ideologischen Konzeptionen überzeugend nachweisen.

Basis und Überbau

Zusammenfassend seien die wichtigsten methodologischen Prinzipien hervorgehoben, die die konzeptionelle Grundlage des vorliegenden Werkes bilden: Ausgangspunkt ist der umfassende marxistischleninistische Kulturbegriff. I m Gegensatz zu der von spätbürgerlichen Theorien vertretenen wertenden Unterscheidung von Kultur und Zivilisation geht die Darstellung von einem einheitlichen Prozeß der kulturellen Entwicklung aus. E r umfaßt die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die staatlichen und rechtlichen Institutionen, die Lebensweise der verschiedenen Klassen und Schichten, die Formen des gesellschaftlichen Lebens und sozialen Verhaltens, die künstlerischen und theoretisch-wissenschaftlichen Bereiche des gesellschaftlichen Bewußtseins (Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft usw.). Die kulturelle Entwicklung der Antike wird in einer integrierten Darstellung nachgezeichnet, die die Beziehungen zwischen Basis und Überbau und die

Methodologische Prinzipien

2*

19

Wechselwirkungen zwischen politischer und geistig-kultureller Entwicklung verdeutlicht. Die Formen des Überbaus werden dabei sowohl in ihrer Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Basis wie auch in ihrer relativen Selbständigkeit und vor allem in ihrer aktiven, gesellschaftsbildenden Funktion gewürdigt. Besonderer Nachdruck wird auf den Klassenkampf als Triebkraft der kulturellen Entwicklung und die schöpferische Rolle der Volksmassen gelegt.

3. Antike in der Weltkultur

20

Eine Geschichte der antiken Kultur hat die gesellschaftlichen Grundlagen für die epochalen Fortschritte aufzuzeigen, die die hervorragende Stellung der Antike in der Entwicklung der Weltkultur bestimmen: Fortschritte bei der Entfaltung der produktiven Kräfte der Gesellschaft, bei der Ausbildung politischer Organisationsformen wie der demokratischen Polis, bei der rationalen und wissenschaftlichen Welterklärung, bei der Ausbildung realistischer Formen der Widerspiegelung in Kunst und Literatur. Diese Leistungen können in ihrer Bedeutung nur von einem Standpunkt hoher universalgeschichtlicher Verallgemeinerung erfaßt werden. Durch entwickeltere Formen der Arbeitsteilung, durch die relativ starke Entfaltung der Warenwirtschaft und durch die demokratischen Institutionen des antiken Gemeinwesens wurde eine Dynamik erzielt, für die in den altorientalischen Klassengesellschaften die Voraussetzungen fehlten. Aus der Reihe der genannten Faktoren hat F. Engels einen als grundlegend herausgehoben — die höhere Form der Arbeitsteilung, die durch die antike Sklaverei erreicht worden ist: „Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomische, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Sklaverei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus" (MEW 20, 168).

Bedeutung der Die Bedingungen der voll entfalteten Sklaverei, wie sie in den fortSklaverei geschrittenen Zentren Griechenlands seit der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. u. Z. und in Rom seit dem Ende des 3. Jh. v. u. Z. bestanden, können allerdings nicht für alle Gebiete der antiken Welt und für alle Epochen ihrer Geschichte verallgemeinert werden. In ausgedehnten räumlichen Bereichen und in einigen Perioden der antiken Geschichte herrschte nicht die Sklaverei vor, sondern es dominierten andere Abhängigkeitsverhältnisse oder die Arbeit der freien Kleinproduzenten. Die letztere, in der frühen Zeit der Polis überwiegend, spielte auch in deren Blüteperiode noch eine wesentliche Rolle im Rahmen einer Arbeitsteilung, die es einer Minderheit gestattete, sich wissenschaftlicher oder lite-

rarisch-musischer Tätigkeit zu widmen. Dennoch ist die Sklaverei für EINLEITUNG die -antike Gesellschaftsformation in ihrer Gesamtheit und für die Fortschritte, die in ihr erzielt wurden, von bestimmender Wirkung gewesen. Die auf Sklaverei beruhende antike Gesellschaft hat die materiellen und geistigen Grundlagen geschaffen, auf denen sich im weiteren Verlauf der historischen Entwicklung jene dynamische Entfaltung aller produktiven materiellen und geistigen K r ä f t e vollziehen konnte, die im Feudalismus wirksam zu werden begann und sich im Kapitalismus durchsetzte. Dieser weltgeschichtliche „Vorlauf" war nur dank einer höheren Form der Arbeitsteilung möglich, die zur Steigerung der Produktivkräfte, zur Höherentwicklung von Staat und Recht, von Kunst und Wissenschaft führte. Die Ausführungen von Engels zeigen, daß der historische Materialis- Sklaverei und mus die Geschichte nicht von einem moralisierenden Standpunkt aus be- Fortachritt trachtet. Die Sklaverei war eine inhumane und den Menschen entwürdigende gesellschaftliche Einrichtung, doch war sie historisch notwendig und in einer bestimmten Epoche der weltgeschichtlichen Entwicklung Grundvoraussetzung des Fortschritts. Der Zusammenhang, in dem Engels diesen Gedanken entwickelt, macht deutlich, wie der in der Antike erreichte gesellschaftliche Fortschritt universalgeschichtlich einzuordnen ist: „Die alten Gemeinwesen, wo sie fortbestanden, bilden seit Jahrtausenden die Grundlage der rohesten Staatsform, der orientalischen Despotie, von Indien bis Rußland. Nur wo sie sich auflösten, sind die Völker aus sich selbst weiter vorangeschritten, und ihr nächster ökonomischer Fortschritt bestand in der Steigerung und Fortbildung der Produktion vermittelst der Sklavenarbeit" (MEW 20, 168). Engels h a t also auch zur Zeit der Abfassung des „Anti-Dühring" an der Unterscheidung verschiedener frühgeschichtlicher Gesellschaftsformationen betont festgehalten und — wie der Kontext zeigt — die hervorragende Bedeutung dieser Unterscheidung der Formationen auch für die Erklärung der kulturgeschichtlichen Entwicklung hervorgehoben.

4. Eine wesentliche Voraussetzung für die epochalen Fortschritte, die die kulturelle Entwicklung in der Antike erreicht hat, bildete ferner das antike Gemeinwesen als ein Verband freier Eigentümer an den Produktionsmitteln, vor allem an Grund und Boden. Es war der Ausgangspunkt für die Entwicklung der antiken Gesellschaft und bot damit zugleich auch den Rahmen, in dem sich die Sklaverei entfaltete. Das antike Gemeinwesen gewährte den Produzenten der materiellen Güter mit dem Eigentum zugleich persönliche Freiheit, eine Freiheit, die freilich auf der Bindung an das Gemeinwesen beruhte, denn nur dessen Mitglieder konnten Eigentümer des Bodens, des in dieser Zeit wichtigsten Produktionsmittels, sein. I n der Folgezeit entstanden durch die Ausbildung des großen Grundeigentums und die damit verbundene Unterdrückung der kleinen

Antikes Gemeinwesen

Polisdemokratie 21

bäuerlichen Produzenten, durch die Entwicklung der Sklaverei zum bestimmenden F a k t o r in den Produktionsverhältnissen und die Ausbreitung der Warenwirtschaft tiefe soziale Gegensätze, die grundlegende Veränderungen im Gemeinwesen nach sich zogen. Aber h a t t e die Errichtung der Adelsherrschaft die freien Kleinproduzenten von der Teiln a h m e am politischen Leben fast völlig verdrängt, so eröffnete die in harten Klassenkämpfen errungene Demokratie im 5. J h . v. u. Z. neue Möglichkeiten. Die demokratische Staatsform, die u m die Mitte des 5. J h . in den fortgeschrittenen Poleis Griechenlands ihren Höhepunkt erreichte, vergrößerte die Basis f ü r die Ausübung der politischen Macht, in die n u n auch die mittleren und kleinen Eigentümer u n d sogar die eigentumslosen Freien einbezogen wurden. Der im Vergleich zu allen früheren politischen Ordnungen der Klassengesellschaft breitere Kreis der am Staatsleben Beteiligten übte seine Rechte in Formen unmittelbarer Meinungsbildung und Entscheidung durch Mehrheitsbeschlüsse aus, die relativ große Möglichkeiten f ü r die freie Austragung politischer und ideologischer Gegensätze boten. I m Unterschied zu den despotisch regierten Staaten des Orients war in der demokratisch organisierten Polis die Gesamtheit der freien Bürger Träger der politischen Souveränität, u n d es entstand ein im wesentlichen politisches und auf die Gemeinschaft bezogenes Lebensideal. Unter den Bedingungen dieser politischen Organisationsformen bildete sich bei einem großen Teil der Bürgerschaft ein ge isses Maß an Aufgeschlossenheit f ü r die Probleme von Gesellschaft und Staat heraus. Durch die Teilnahme am öffentlichen Leben entfalteten sich die individuellen Fähigkeiten auch von Bürgern aus den unteren Klassen. Geweckt wurde auch das Verständnis f ü r die K u n s t , die sich im wahrsten Sinne des Wortes zu einer öffentlichen Angelegenheit entwickelte. War doch die Bürgergemeinde sowohl wichtigster Auftraggeber f ü r Werke der Architektur und bildenden K u n s t als auch zugleich Veranstalter und Publikum der dramatischen Aufführungen, die im R a h m e n des Staatskultes regelmäßig zu den großen Festen der Polis veranstaltet wurden. Das im politischen Alltag geweckte Verständnis für die Vorgänge im Leben der Gesellschaft bot günstige Voraussetzungen für die Begegnung mit einer K u n s t , in der die sozialen, politischen u n d ideologischen Grundfragen der Zeit zur D e b a t t e standen. Politische Struktur Roms

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Die aristokratisch-oligarchische Herrschaftsform in R o m ließ trotz der großen Bedeutung der Volksversammlung bei der Gesetzgebung und bei Wahlen eine Demokratie wie in Athen und in anderen griechischen Poleis des 5. und 4. J h . nicht entstehen. Das h a t t e Folgen auch für das kulturelle Leben. Wenngleich die Institutionen der römischen Republik in mancherlei Hinsicht denen der griechischen Poleis vergleichbar sind und parallele Entwicklungen auch im kulturellen Überbau zutage treten, so konnte doch infolge der beherrschenden Stellung der Nobilität eine freie geistige Auseinandersetzung, wie sie in der Blütezeit der griechischen Demokratie f ü r eine gewisse Zeit möglich war, nicht zur E n t f a l t u n g kommen. I m R a h m e n der antiken Gesellschaftsformation war allerdings die Polisdemokratie nur eine, wenn auch höchst bedeutsame, Entwicklungsphase. I h r e stimulierende Wirkung

für die Entfaltung des geistigen Lebens setzte sich in Griechenland und Rom auch unter anderen politischen Bedingungen dank der Rezeption progressiver Traditionselemente der demokratischen Polis fort.

EINLEITUNG

5. Von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der antiken Kultur war auch das Verhältnis von Gebrauchswert- und Warenproduktion, das sich im Verlauf einer nach Ort und Zeit sehr differenzierten Entwicklung herausgebildet hat. Zwischen der unmittelbar auf den Gebrauchswert gerichteten Produktion einerseits und der sich in bestimmten Perioden und progressiven Zentren in relativ starkem Maße entwickelnden Warenproduktion andererseits bestand ein Spannungsverhältnis, das in der antiken Gesellschaft tiefgreifende Widersprüche hervorrief und nicht selten zu Krisen- und Zersetzungserscheinungen führte. Aus diesem Verhältnis entsprang zugleich aber auch eine Dynamik, die zur Freisetzung kultureller Potenzen in erheblichem Maße beitrug.

Formen der Produktion

Der Charakter der Handwerksarbeit in der frühen Polis bot günstige Gebrauchswert Voraussetzungen für die Entfaltung künstlerischer Fähigkeiten. Da der Kunst Warenhandel zunächst noch wenig entwickelt war, h a t t e der Zeitfaktor in der Produktion noch keine ausschlaggebende Bedeutung. I m Mittelpunkt stand der Gebrauchswert der Produkte. Als „freier Privateigentümer seiner von ihm selbst gehandhabten Arbeitsbedingungen" spielte der Handwerker auf seinem Arbeitsinstrument als ein „Virtuose", wie es Marx einmal ausdrückt (MEW 23, 789). Der Hersteller, der noch vorrangig für den unmittelbaren Tausch produzierte oder die Waren selbst zum Verkauf brachte, h a t t e unmittelbaren Kontakt zum Abnehmer und konnte dessen Wünsche berücksichtigen. Da die Absatzmöglichkeiten auch späterhin beschränkt blieben, brauchte der Herstellungsprozeß nicht wesentlich beschleunigt zu werden. Verschiedene Formen der Spezialisierung (weniger bestimmt von dem Gesichtspunkt rationellerer Arbeitsorganisation als dem der Qualität) setzten sich durch, was wiederum auf die Vervollkommnung der individuellen Fähigkeiten zurückwirkte. Daß Kunstleistungen von höchstem Rang aus der handwerklichen Produktion hervorgingen, zeigen die Erzeugnisse der frühen und klassischen griechischen Vasenmalerei in einzigartiger Weise. I m übrigen haben die Griechen das Bewußtsein von der ursprüngliehen Einheit von Handwerk und Kunst auch in einer Zeit nicht verloren, als die Kunst sich mit ihren Ausdrucksanliegen längst verselbständigt h a t t e und zu einem relativ autonomen Bereich geworden war. Der Künstler galt als bdnausos, Handwerker, was bei der später hervortretenden Geringschätzung der Handarbeit durch die herrschende Oberschicht freilich eine soziale Deklassierung bedeutete, von der lediglich überragende Meister der Kunst ausgenommen waren. Die Betonung des Gebrauchswertes der Produkte lebte als ein Überbauelement von großem Beharrungsvermögen weiter, als der Warenhandel in den progressiven Zentren der Antike bereits eine relativ große Rolle spielte. Damit blieb

Handwerk und Kunst

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Züge der ,Totalität"

Menschenbild der Kunst

Warenproduktion und Entwicklung der Kultur

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ein kunstfördernder Faktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung erhalten. Die Orientierung auf den Gebrauchswert beeinflußte jedoch auch unter einem anderen Aspekt die Entwicklung der Kultur. Bei dem — verglichen mit der kapitalistischen Produktionsweise — relativ unentwickelten Stand der Warenwirtschaft wurde der Mensch der Produktion nicht völlig untergeordnet, erwiesen sich die gesellschaftlichen Beziehungen nur in geringem Maß durch Sachen vermittelt, konnte die Entfremdung noch nicht zu einem die ganze Gesellschaft beherrschenden Faktor werden. Diese Verhältnisse hatten nicht nur Folgen für die Beziehungen der Menschen untereinander, sondern auch für das Individuum, das in höherem Maße zur Integration seiner Fähigkeiten und persönlichen Kräfte gelangen konnte, als das später unter den Bedingungen hochgradiger Arbeitsteilung und Entfremdung möglich war. Marx, der den von den Denkern der klassischen deutschen Philosophie in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Begriff der „Totalität" benutzt, hat hervorgehoben, daß es sich um eine „bornierte", d. h. begrenzte Totalität handelte. Die Ursache war die Unentwickeltheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, da das Individuum „die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat" (Grundrisse 80). Dennoch hatte diese „Totalität" für die Entfaltung der Kunst äußerst fruchtbare Folgen. Verglichen mit der völligen Entleerung und Entfremdung des Individuums unter den Verhältnissen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft „erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alledem, wo geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird" (Grundrisse 387 f.). Marx denkt hier an bestimmte Aspekte der Kunst, vor allem an das künstlerisch gestaltete Menschenbild im Epos und in der bildenden Kunst des frühen Griechenlands. Totalität und innere Geschlossenheit kennzeichnen das Menschenbild der homerischen Epen ebenso wie das der großen Werke der bildenden Kunst der archaischen Periode. Wenn auf diese Weise günstige Bedingungen für das Gedeihen der Kunst entstanden, so schufen andererseits die für antike Verhältnisse sehr raschen Fortschritte in der Entwicklung der Warenwirtschaft in bestimmten Zentren und Perioden der griechischen und römischen Antike zugleich die materiellen Grundlagen für die Entwicklung einer hohen Kultur insgesamt, die eine günstige Rückwirkung auch auf die Entfaltung der Kunst hatten. Da aber die Entwicklungsmöglichkeiten der Warenwirtschaft — gemessen an denen des Kapitalismus — immer begrenzt blieben, wurde das Mehrprodukt nur in einem beschränkten Maß für die erweiterte Reproduktion genutzt. Ein großer Teil des gesellschaftlichen Mehrprodukts wurde „unproduktiv" verwendet, d. h. er diente der Schatzbildung, die aber in einem anderen Sinn außerordentlich produktiv werden konnte: Wenn reiche Mittel für das bildkünstlerische Schaffen oder eine aufwendige architektonische Gestaltung der Städte eingesetzt wurden, so eröffneten sich für die antike Gesellschaft große Möglichkeiten der Kunstpflege, mochte diese nun

wie im 5. Jh. Ausdruck der Ideale der Polisdemokratie sein oder im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit dem Repräsentationsstreben der Herrscher dienen.

EINLEITUNG

6.

Ein wesentliches Anliegen der marxistischen Kulturgeschichtsschreibung ist es, die Rolle der Volksmassen in der kulturellen Entwicklung zu würdigen. Wenn „die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" (MEW, Erg.-Bd. 1,546), dann folgt daraus die grundlegende Bedeutung, die das Wirken der Volksmassen, d. h. der werktätigen Klassen und Schichten, für den kulturellen Fortschritt in allen Perioden der Geschichte gehabt hat. In erster Linie ist die Entfaltung der produktiven Kräfte der Gesellschaft zu nennen, die Entwicklung der Produktionsmittel, die Sammlung und Weitergabe von Arbeitserfahrungen, das ständige Wechselverhältnis von Bewahrung überkommener und Entwicklung neuer Produktionsverfahren. Nicht minder bedeutsam erscheint die fortschreitende Entfaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, d. h. alle jene Veränderungen in der gesellschaftlichen und politischen Struktur, die durch den Klassenkampf als ein Hauptfeld der historischen Wirksamkeit der Volksmassen hervorgerufen werden.

Bolle der Vollcsmassen

Doch die schöpferischen Leistungen des Volkes prägten neben der materiellen Kultur und den gesellschaftlichen Organisationsformen auch wesentlich die geistige Kultur. Selbstverständlich kann es ohne die Produktion materieller Güter keine Entwicklung der geistigen Kultur geben. Aber in dieser grundlegenden Funktion erschöpft sich die Rolle der Volksmassen im Kulturprozeß keineswegs. Bereits die Entwicklung von Sprache und Denken ist an die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt gebunden. Wie Sprache und Denken Bind die vielfältigen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins ein Produkt kollektiven Wirkens, in dem sich die schöpferischen Kräfte der Volksmassen entfalteten. Das wird bei der Entstehung des Mythos ebenso deutlich wie bei der Herausbildung der bildenden Kunst und der frühen Formen der Dichtung, des Arbeitsliedes, Heldenliedes und der Sakralpoesie. Diese Schöpfungen stellen das breite Fundament dar, auf dem die individuellen Leistungen eines hochentwickelten künstlerischen Schaffens erst erzielt werden konnten.

Breite Basis der Kulturentwicklung

Nachdem sich höhere Formen der Arbeitsteilung herausgebildet hatten und eine Trennung in Volkskunst und professionelle Kunst erfolgt war, als sich Philosophie und Wissenschaft zu selbständigen Bereichen des gesellschaftlichen Bewußtseins entwickelt hatten, konnten sich die produktiven geistigen Kräfte des Volkes vorwiegend nur noch in bestimmten Bereichen wie Lied, Spruchdichtung, Fabel, Volksposse und Sprichwort äußern. Dazu kommen die für uns schwer greifbaren Zeugnisse der Lebensweise, der Sitten und Gebräuche, der moralischen Wertvorstellungen sowie der Formen der Welt- und Lebensanschauung der arbeitenden Klassen. Diese konnten infolge ihrer ungünstigen

Kultur der unterdrückten Klassen und Schichten

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Lebensbedingungen ihren Gedanken und Empfindungen n u r in beschränktem Maße in den Formen der hochentwickelten professionellen K u n s t , Literatur und Wissenschaft Ausdruck verleihen. Die Erschöpfung durch h a r t e körperliche Arbeit wirkte sich hier ebenso nachteilig aus wie die Tatsache, daß die breiten Massen des Volkes von der höheren Bildung ausgeschlossen waren. Dennoch entwickelten sich immer wieder Elemente einer K u l t u r der unterdrückten Klassen und Schichten im Gegensatz zur jeweils herrschenden K u l t u r . I n der griechischen Literatur und Philosophie lassen sich solche Elemente vor allem im frühen Griechenland einerseits und im 4. J h . sowie im Hellenismus andererseits feststellen. I m 5. J h . , in der Blütezeit der Polis, bildete sich dagegen auf der Grundlage eines zeitweiligen relativen Gleichgewichts der Klassenkräfte eine wesentlich einheitliche K u l t u r der freien Bürgerschaft aus, die für die schöpferische Rolle der Volksmassen gleichfalls in hervorragendem Maße Zeugnis ablegt. Hervorzuheben ist dabei nicht n u r die Breite der kunstrezipierenden Schicht, sondern auch die Tatsache, d a ß das Schaffen so überragender Künstler wie der Tragödienu n d Komödiendichter des 5. J h . aus einer im Volke verwurzelten, vom Volke selbst getragenen K u n s t hervorging — ein klassisches Beispiel, das Elitetheorien wie die von schöpferischen Minderheiten u n d trägen Mehrheiten oder von einem ausschließenden Gegensatz von Höhe und Breitenwirkung der kulturellen Entwicklung (Toynbee, Rostovtzeff) widerlegt. „Zwei Kulturen"

Das Verhältnis zwischen der herrschenden K u l t u r und Elementen einer K u l t u r der u n t e r d r ü c k t e n Klassen und Schichten in der Antike k a n n in gewissem Sinn mit den kulturellen Erscheinungen verglichen werden, die Lenin im Hinblick auf die bürgerliche Nation unter den Begriff der „zwei K u l t u r e n " gefaßt h a t . Gegenüber der Situation in der bürgerlichen Gesellschaft sind jedoch prinzipielle Unterschiede zu beachten. I m Gegensatz zu der Entwicklung der sozialistischen (wie ähnlich vorher der bürgerlichen) K u l t u r , deren Elemente sich bereits in der vorhergehenden Gesellschaftsformation herausbildeten, k o n n t e n in der Antike die kulturellen Errungenschaften der U n t e r d r ü c k t e n nicht in gleichem Maße (niemals bei d e n Sklaven) zur herrschenden K u l t u r werden. Bedingt durch die starke Klassendifferenzierung (herrschende und unterdrückte Klassen innerhalb der freien Bürgerschaft, minderberechtigte Freie, Halbfreie, Sklaven) war auch die K u l t u r der unterdrückten Klassen und Schichten in sich stärker differenziert. D a ß die Sklaven besonders benachteiligt waren, h a t verschiedene Ursachen: neben den ungünstigen materiellen Bedingungen ist vor allem darauf zu verweisen, daß sich bei ihnen ein Klassenbewußtsein nur in Ansätzen herausgebildet h a t .

Wechselwirkungen

Die Elemente einer K u l t u r der Unterdrückten entwickelten sich zwar im Gegensatz zur herrschenden Kultur, aber nicht losgelöst von dieser in einem hermetisch abgeschlossenen Bereich. Solange die herrschenden Ellassen noch zum historischen Fortschritt beitrugen, übten sie häufig auch eine starke ideologische Wirkung auf die unteren Klassen aus. Umgekehrt ging von der Ideologie der U n t e r d r ü c k t e n eine gewisse Anziehungskraft auf einzelne Vertreter der Oberschicht aus. So wurden

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nicht selten auch Angehörige der Oberschicht zu Schrittmachern der Kultur der Unterdrückten. Daß es sich stets nur um „Elemente", niemals um eine voll ausgebildete „Gegenkultur" gehandelt hat, sei noch einmal besonders betont. Freilich entwickelten sich dann in der römischen Kaiserzeit in den Provinzen zunehmend eigenständige Kulturen, in denen sich die schöpferischen Kräfte der unterworfenen Völkerschaften, z. T. bereits in stärkerem Gegensatz zur alles umspannenden „Reichskultur", entfalten konnten. Schon in der Zeit der römischen Republik, und mit der Ausbreitung des römischen Imperiums in wachsendem Maße, finden wir bei den unterdrückten Völkern Äußerungen einer scharfen Kritik an der römischen Gewaltherrschaft. Diese Formen des „geistigen Widerstandes" trugen bisweilen (wie im Falle der Judäer) erheblich zur Mobilisierung der Volksmassen im Kampf gegen die römische Herrschaft bei.

EINLEITUNG

7. Die Befreiung der herrschenden Klassen von der unmittelbar produktiven Arbeit bildete die objektive Grundlage für die großen Leistungen, die im Zuge der Arbeitsteilung auf dem Gebiet der professionellen Kunst und Wissenschaft erzielt wurden. Die wohlhabenden Angehörigen der Oberschicht, die von den Erträgen ihrer Güter, Manufakturen, Handelsgeschäfte und Banken lebten, genossen in vollem Maße das, was die Griechen schole, die Römer otium nannten und wir mit dem in der Umgangssprache seltener gewordenen Wort „Muße" bezeichnen. Nichts wäre abwegiger, als schole mit „Müßiggang" zu übersetzen. Es handelt sich vielmehr um die frei verfügbare Zeit, die Marx als das Maß des Reichtums der Gesellschaft bezeichnet hat (Grundrisse 596). Unter den Bedingungen der antiken Klassengesellschaft konnte von ihr ein sehr unterschiedlicher Gebrauch gemacht werden. Er reicht von der nach den durchschnittlichen gesellschaftlichen Normen als angesehenste Lebensform geltenden politischen Tätigkeit über wissenschaftliche und literarische Betätigung bis zu reiner Untätigkeit und oberflächlichem Lebensgenuß. Die besten Vertreter der Oberschicht haben in ihrem literarischen, wissenschaftlichen und philosophischen Schaffen unvergängliche Leistungen vollbracht und damit wesentlich zu den großen Fortschritten beigetragen, die wir der antiken Kultur verdanken. I n einer Zeit, in der geistige Tätigkeit in vielen Lebensbereichen nicht bezahlt wurde, war der Besitz eines hinreichenden Vermögens die Voraussetzung für eine wissenschaftliche oder literarische Tätigkeit. Der Philosoph Demokrit soll sein ganzes ererbtes Vermögen für Forschungsreisen verwendet haben. Der Historiker Thukydides stammte aus einer adligen Familie, die in Thrakien große Bergwerksanteile besaß; der Dichter Sophokles war Sohn eines wohlhabenden Manufakturbesitzers.

Bedeutung der Muße

I n der Oberschicht wurde das auch für die Folgezeit so bedeutsame Ideal der vielseitigen und harmonischen Entwicklung der Persönlichkeit ausgebildet. Unter den Bedingungen der wachsenden Arbeitsteilung und der zunehmenden Entfremdung von körperlicher und geisti-

Ideal der Persönlichkeits entwicklung 27

ger Tätigkeit entwickelte sich dieses Ideal freilich in einer Richtung, die mit einer wesentlichen Einbuße an humaner Substanz verbunden war. Die unmittelbar produktive Arbeit wurde aus der Reihe der persönlichkeitsbildenden Faktoren ausgeschlossen und fiel in wachsendem Maße der Geringschätzung und Verachtung anheim. Darin zeigen sich die inneren Widersprüche und zugleich eine wesentliche Grenze bei der Ausbildung humanistischer Denkansätze in der antiken Gesellschaft. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß in einzelnen Perioden der Antike die Angehörigen der mittleren und unteren Schichten, wenn auch nur rezeptiv, am geistigen Leben teilnehmen und damit in bestimmten Grenzen ihre Persönlichkeit ausbilden konnten.

8. À quiva

lenztheorien

Universalgeschichtliche Stellung

28

Die wertende Einordnung der Antike in den weltgeschichtlichen Prozeß unter dem Gesichtspunkt des historischen Fortschritts steht in diametralem Gegensatz zu positivistischen Auffassungen, die auf jede theoretische Verallgemeinerung bei der Analyse des Geschichtsprozesses verzichten. Sie steht aber auch im Gegensatz zu geschichtsund kulturphilosophischen Konzeptionen, die von einer „Äquivalenz" der sog. lokalen Kulturen ausgehen, d. h. kulturelle Entwicklungsstufen unterschiedlichster Art und Höhe als gleichwertig nebeneinanderstellen. Solche geschichtsphilosophischen Konzeptionen wurden im 20. J h . von 0 . Spengler und A. Toynbee entwickelt. Für sie zerfällt die Universalgeschichte im Prinzip in eine K e t t e in sich geschlossener Kulturen, die nach organisch-biologischem Muster dem Gesetz des Werdens und Vergehens unterliegen. Wie Spengler betonte Toynbee zunächst die innere Abgeschlossenheit der nur aus sich heraus verständlichen Kulturen — eine Auffassung, die er durch die stärkere Hervorhebung der gegenseitigen Einflüsse später korrigierte. Aber Spengler wie Toynbee halten letztlich am Prinzip der „Äquivalenz" fest, wobei Toynbee lediglich für das Gebiet der Religion eine Höherentwicklung annimmt und hier das Prinzip wertender Unterscheidung einführt. Von einer „Äquivalenz" gehen auch neuere ethnologische und kulturanthropologische Theorien aus (R. Benedict, M. Herskovits, C. Lévi-Strauss u. a.). Sie leugnen den einheitlichen weltgeschichtlichen Prozeß und negieren (bei Toynbee mit der genannten Einschränkung) den historischen Fortschritt. Sie sind gegen die Lehre von den ökonomischen Gesellschaftsformationen gerichtet und führen zu einem schrankenlosen Relativismus der Erkenntnis, der Weltanschauungen, der rechtlichen und ethischen Normen usw. Diese und ähnliche Theorien haben für unseren Zusammenhang deshalb Bedeutung, weil sie nicht zuletzt unter dem Signum des Kampfes gegen den Europazentrismus vorgetragen werden. Nun ist es legitim, gegen das in der Vergangenheit von vielen Vertretern der klassischen Altertumswissenschaft strapazierte hellenozentrische Geschichtsbild aufzutreten, das — wie bei W. Jaeger — allein in der griechischen Kultursphäre den Ursprung aller humanistischen Ideen und Bestre-

bungen der Menschheitsgeschichte suchte und sich sogar dazu verstieg, den Begriff der Kultur in einem normativen Sinn auf das griechisch-römische Einflußgebiet einzuschränken. Aber dieses legitime Anliegen wird von der Äquivalenztheorie in unzulässiger Weise gegen eine universalgeschichtliche und wertende Betrachtung der Kulturentwicklung gewendet. Das Prinzip einer historisch gerechten Bewertung der grundsätzlich gleichberechtigten Stufen in der kulturellen Entwicklung der Menschheit wird in das Prinzip der Gleichwertigkeit verkehrt, nicht selten mit der Tendenz, die rationalen und humanistischen Errungenschaften der im wesentlichen in der Antike wurzelnden europäischen Kulturentwicklung zugunsten eines sich auf archaische Weltbilder gründenden Irrationalismus und Mystizismus aufzugeben. Eine zutreffende historische Bewertung der antiken Kultur kann nur von einer Position aus erfolgen, die die Antike in den universalgeschichtlichen Prozeß einordnet, frei von europazentristischer Abwertung der Leistungen anderer Kulturen wie auch von dem Relativismus einer vermeintlichen Äquivalenz.

EINLEITUNG

Für die universalgeschichtlichen Aspekte ist auch die Frage nach der Einheit der grieEinheit der griechisch-römischen Kultur von Bedeutung. Diese ist zu- chisch-römischen nächst durch die gemeinsame sozialökonomische Grundlage der antiken Kultur Produktionsweise gegeben. Die Entwicklung der antiken Gesellschaftsformation vollzog sich in der Auseinandersetzung mit Formen der „altorientalischen" Klassengesellschaft, die in bestimmten Gebieten und Epochen des griechisch-römischen Altertums eine Rolle spielten. Bestimmend war die antike Klassengesellschaft, die im welthistorischen Prozeß eine selbständige Formation bildet. So sind zwischen der griechischen und der römischen Kultur formationsbedingte Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der Produktivkräfte, der Lebensweise, im Aufbau der politischen und rechtlichen Institutionen wie auch im kulturellen Überbau festzustellen. Die strukturellen Gemeinsamkeiten erleichterten Übernahme, Adaption und Rezeption auf den verschiedenen kulturellen Gebieten. Neben den Gemeinsamkeiten sind aber auch tiefgreifende Unterschiede nicht zu übersehen, die im wesentlichen auf unterschiedlichen Entwicklungen im Bereich des politischen Überbaus beruhen. Der Prozeß der Verschmelzung zu einer einheitlichen griechisch-römischen Kultur begann in Rom im 3. Jh. v. u. Z. Entscheidend waren dabei der Stand der gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Entwicklung in Rom selbst als innere Voraussetzung für die Rezeption der griechischen Kultur und die schöpferische Leistung der Römer bei der Umsetzung griechischer Traditionselemente in die eigene Kultur. Die wichtige Rolle, die die Rezeption des griechischen Erbes bei der Entwicklung der römischen Kultur gespielt hat, ist lange Zeit sehr einseitig interpretiert worden. So deutete man die eigenständig gewachsene römische Kultur als bloßen Ableger der griechischen und sah z. B. Plautus und Terenz nur als Plagiatoren am Werk griechischer Komödiendichter, Cicero als bloßen Eklektiker und Kompilator, Vergil als Nachahmer Homers an. Die Wissenschaft hat seit einigen Jahrzehnten große Anstrengungen unternommen, um diese unangemessene Sicht zu überwinden. 29

WechselFür die Geschichte der antiken Kultur hatten die vielfältigen Wechselbeziehungen beziehungen mit den Kulturen des Mittelmeerraums und Vorderasiens eine hervorragende Bedeutung. Zahlreiche Errungenschaften der altorientalischen Kulturen, etwa auf dein Gebiet der bildenden Kunst und der empirischen Wissenschaft, bildeten den Ausgangspunkt für die Leistungen der Griechen und Römer. Bedeutsam sind auch die aus der Sicht der antiken Zentren häufig als „Randkulturen" bezeichneten eigenständigen Schöpfungen, die in einem Prozeß wechselseitiger Durchdringung von griechischer bzw. römischer Kultur und einheimischen Kulturen am „Rand" der antiken Welt und in den Provinzen des Römischen Reiches entstanden. Die auf der Grundlage der antiken Produktionsweise höher entwickelte Kultur der Griechen und Römer trug wesentlich zur Freisetzung der schöpferischen Kräfte dieser Völker bei. Nicht selten aber wurde freilich auch deren eigenständige Entwicklung gehemmt oder unterdrückt. Der begrenzte Rahmen des vorliegenden Werkes gestattet nur vereinzelte Hinweise auf diese Kulturen.

Traditionen

Aktualität und Historizität

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Wie eingangs ausgeführt wurde, soll diese Darstellung besonders diejenigen Elemente der antiken Kulturentwicklung deutlich werden lassen, die für die Erschließung von Traditionsbeziehungen wichtig sind. Doch nur im Rahmen der Gesamtdarstellung der kulturellen Entwicklung kann man die komplexe Vielfalt und innere Widersprüchlichkeit der Erscheinungen erfassen, auf deren Hintergrund sich die progressiven Traditionen abheben. Nur so kann man auch zu einer differenzierten Darstellung der Erscheinungen gelangen, die deutlich werden läßt, daß die Grenze zwischen Beharren und Fortschreiten, Tradition und Neuerung, Zeitgebundenem und über die Zeit Hinausweisendem oft genug durch eine künstlerische Richtung, die Lehren einer philosophischen Schule, das Lebenswerk einer Persönlichkeit mitten hindurchgeht. Die Erberezeption wird durch die dialektische Spannung von Aktualität und Historizität bestimmt. Orientierung auf Aktualität kann nicht ein oberflächliches Aktualisieren im Sinne einer Rückprojektion von Problemen der Gegenwart in eine weit zurückliegende Vergangenheit bedeuten; Historizität hat nichts mit einer Voraussetzungslosigkeit gemein, die das Vergangene glaubt „wertfrei" rekonstruieren zu können. Die Geschichte aus der Sicht unseres Jahrhunderts, unserer Kämpfe und Erfahrungen deuten, heißt die Entstehungsbedingungen historischer Prozesse im Lichte ihrer Folgeerscheinungen zu verstehen, vom historischen Standpunkt der Gegenwart die Linien zurückzuverfolgen zu den Wurzeln, aus denen sie hervorgegangen sind. Freilich wäre es falsch, hier das Trugbild einer linearen Kontinuität zu entwerfen, das die Widersprüche und radikalen Brüche außer acht läßt, die in der Entwicklung von der frühen Klassengesellschaft bis zur sozialistischen Gesellschaft eingetreten sind.

Die Rezeption humanistischer Gedanken und Ideale, die uns aus der Antike überliefert sind, ist besonders geeignet, das dialektische Verhältnis von Historizität und Aktualität zu verdeutlichen. Wir verstehen heute Humanismus als eine umfassende weltanschauliche und philosophische Kategorie, nicht mehr nur in dem eingeschränkten Sinn der Verbundenheit mit der antiken Bildungstradition. So gefaßt, erscheint der Humanismus als die Gesamtheit aller Ideen und Bestrebungen, die die wachsende Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft zum Ziel haben, Würde und Wert des Menschen in den Mittelpunkt stellen und auf die Entfaltung und zunehmende Vervollkommnung seiner K r ä f t e gerichtet sind. Durch einen solchen historisch umfassenden, inhaltlich präzisierten Humanismusbegriff ist die einseitige Orientierung auf die griechisch-römische Kultur überwunden, und die kulturellen Errungenschaften aller Völker werden in ihrer Bedeutung für die Geschichte des Humanismus gewürdigt. Aber auch und gerade im Lichte eines solchen umfassenden Humanismusbegriffs erscheinen die Leistungen der Antike bei der Ausbildung eines humanistischen Menschenbildes als außerordentlich bedeutsam. I n bestimmten Perioden der antiken Kulturentwicklung, besonders in der Phase der demokratischen Polis, vollzogen sich hier Entwicklungen von epochaler Bedeutung.

EISXEITUNG

Humanismus

Erstmals rückte in den Mittelpunkt des Nachdenkens über den Men- Selbstverwirkschen der Gedanke der wachsenden Selbstverwirklichung und Selbst- lichung und, vervollkommnung der menschlichen Gattung, der als ein Hauptcharak- Selbstvervollteristikum humanistischen Denkens gelten kann (die Vervollkomm- kommnung nung des Individuums wurde auch in anderen Kulturen, etwa der altchinesischen, zum Ziel erhoben). Philosophen und Dichter begannen den Menschen als ein Wesen zu verstehen, das im unermüdlichen Ringen mit der Natur seine Lebensgrundlage, die Kultur, als gewissermaßen „zweite Natur" schafft — und dabei durch die Ausbildung seiner Fähigkeiten gleichsam zum Schöpfer seiner selbst wird. Von der keimhaften Ausprägung dieses Gedankens in der Antike bis zur ausgereiften Erkenntnis des historischen Materialismus von der Menschwerdung des Menschen war freilich noch ein sehr weiter Weg zurückzulegen. Die starren Grenzen zwischen Hellenen und „Barbaren", Freien und OleichheitsSklaven, von der damals herrschenden Ideologie als Folge ewiger und gedanken „naturbedingter" Gegebenheiten gerechtfertigt, wurden bereits in der Antike von progressiven Theoretikern im Namen naturrechtlicher Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen und der Einheit des Menschengeschlechts kritisiert, ohne daß man freilich daraus praktische Schlußfolgerungen etwa für die Abschaffung der Sklaverei gezogen hätte. Gesellschaftstheoretiker des um gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung ringenden Bürgertums haben an die naturrechtlichen Gedanken der Antike angeknüpft. Doch „eine wirkliche, tatsächliche Gleichheit kann es nicht geben, solange nicht jede Möglichkeit der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere völlig beseitigt ist" (Lenin, Werke 28, 251). Die in der Antike entstandenen Leitbilder, die auf eine möglichst vielseitige Ausbildung der Persönlichkeit abzielten, wurden vom aufstei-

Persönlichkeits ideal 31

Antike und Gegenwart

32

genden Bürgertum rezipiert. Aber wie in der Antike war in der bürgerlichen Gesellschaft das Ideal vielseitiger Ausbildung des Menschen nur für wenige erreichbar. In der sozialistischen Gesellschaft ist die vielseitige Entfaltung der schöpferischen Potenzen für alle Menschen möglich und als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Fortschritt in wachsendem Maße notwendig. Aber auch hier wäre es falsch, das einseitige Bild einer Kontinuität zu entwerfen, etwa in dem Sinne, daß die sozialistische Gesellschaft lediglich als „Vollstrecker" früherer Menschheitsideale und utopischer oder antizipatorischer Ideen zu sehen sei. Ideale wie das des vielseitig ausgebildeten Menschen gewinnen in der sozialistischen Gesellschaft, in der nach Marx „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (MEW 4, 482), unter vollständig veränderten Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft eine neue Qualität. Auch hier bilden Tradition und Neuansatz, Kontinuität und Diskontinuität eine dialektische Einheit. Das Wissen um die Kämpfe und Leistungen der Vergangenheit hat für die Freisetzung der schöpferischen Kräfte der sozialistischen Gesellschaft hervorragende Bedeutung. Die Kulturgeschichte zeichnet die Entfaltung der menschlichen Wesenskräffce, das Werden der menschlichen Gattung nach und führt den langen und schweren Weg des Menschen zu sich selbst vor Augen. Zu zeigen, daß die Antike auf diesem Wege einen großen Schritt nach vorn getan hat, ist die Aufgabe des vorliegenden Werkes.

FRÜHES GRIECHENLAND

I.

Die yorantike Zeit in der Ägäis und in Griechenland im 2. Jahrtausend v. u. Z. Die Welt des östlichen Mittelmeeres geographische und historische Verhältnisse Als die indoeuropäischen Vorfahren der Griechen um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend in die Balkanhalbinsel eindrangen, kamen sie in eine von kulturellen Einflüssen vorgeprägte Landschaft. Vielfältig waren die Traditionen, die sich im östlichen Mittelmeerbereich kreuzten. Sie weisen nach Ägypten, nach Kreta und vor allem nach Mesopotamien. In Ägypten und Mesopotamien hatte die Notwendigkeit der Flußregulierung und Bewässerung zur straffen Organisation und zur größeren Vergesellschaftung des Lebens herausgefordert. Es entstanden frühe Klassengesellschaften, in denen sich, ausgehend von der Organisation und Leitung der gemeinsamen Arbeiten, eine gegenüber der Gesellschaft scheinbar verselbständigte staatliche Gewalt herausbildete. Stärker als von Ägypten, das durch seine abgegrenzte Lage eine mehr in sich geschlossene Kultur entwickelte, sind wohl von den städtischen Gemeinwesen des Zweistromlandes Impulse ausgegangen, die, teils durch Kleinasien und Kreta vermittelt, auch das Werden des Griechentums geprägt haben. Gerade in jüngster Zeit hat die Wissenschaft manche religiösen Vorstellungen und kosmogonischen Mythen der Griechen über Phönizier, Hethiter und Churriter als Zwischenträger auf babylonische oder gar sumerische Quellen zurückführen können. Es scheint, daß die stadtstaatlich organisierten Tempel wirtschaften der Sumerer, die schon im 4. Jahrtausend an den Unterläufen von Euphrat und Tigris blühten, eine starke kulturelle Ausstrahlungskraft besaßen, die sich im Laufe der Zeit immer weiter nach Westen durchsetzte. Sumer war eine Art „Licht aus dem Osten", das erst von griechischer Philosophie und Kunst überstrahlt wurde.

öatlicher Mittelmeerraum

Die große Leistung der Sumerer war die Entwicklung der Schrift am Ausgang des 4. Jahrtausends. Wirtschaft und Verwaltung waren gewachsen und konnten mit der flüchtigen und variablen akustischen Gedankenübermittlung durch die Sprache nicht mehr auskommen. Eine dauerhafte Fixierung von Informationen wurde notwendig. Aus der anfänglichen Bilderschrift entwickelte sich durch Abstraktion schon bald die Keilschrift, die der Schreiber mit einem Griffel in feuchte Tontäfelehen ritzte. Da sich nach den Sumerern auch die Akkader und Babylonier, dann die Churriter, Hethiter und die syrischen Stadt-

Sumer und Babylonien

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Staaten der Keilschrift bedienten, wurde sie zum internationalen Schrifttyp der damaligen Welt. Noch vieles andere an technischen und empirisch-wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen ist im Laufe der Jahrtausende aus dem mesopotamischen Baum gekommen. Dazu gehören die schon früh vorgenommene Vierteilung des Jahres und dessen Gliederung in 12 Monate, die Teilung von Tag und Nacht in je 12 Stunden zu je 60 Minuten und des Kreises in 360°. Recht weit haben sich auch babylonische Mathematik und Astronomie entwickelt, auf deren Grundlage die Griechen dann weiterbauten. Manche arithmetischen und geometrischen Lehrsätze, die spätere griechische Tradition den ersten Philosophen zuschrieb — wie den Satz des Pythagoras —, gehörten längst vorher zum Bestand der babylonischen Mathematik, die sich primär aus den Anforderungen der Landvermessung entwickelte. Die babylonische Astronomie verdankte ihre rasche Entwicklung der Sternreligion, als deren Hilfsdisziplin sie fungierte, und diente zugleich den Bedürfnissen der Kalenderberechnung. Man entdeckte schon früh die Planeten, erkannte im Laufe der Zeit ihre Periodizität, die dann im 1. Jahrtausend in arithmetischen Reihen fixiert wurde. Auch das babylonische Maß- und Gewichtssystem hat eine weite Verbreitung gefunden. Es war ein großes Erbe, das die Griechen antraten, auch wenn sein Ausmaß im einzelnen umstritten bleibt. Ägypten

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Auch die Ägypter begannen wohl schon kurz vor 3000 zu schreiben. Dafür hatten sie die bildhafte Hieroglyphenschrift geschaffen, in der Wort-, Silben- und Konsonantenzeichen nebeneinander stehen. Aus ihr hat sich offenbar über die Zwischenstufen der Sinai- und Byblosschrift das altsemitische Buchstabensystem der Phönizier entwickelt, das dann zum Vorläufer des griechischen Alphabets und damit aller heutigen Buchstabenschriften wurde. Ägypten war in der Tat ein „Geschenk des Nils". Denn, eingebettet in das nordafrikanische Wüstenplateau, war der 1000 km lange, aber teilweise nur 10—20 km breite, äußerst regenarme Landstreifen vom Hochwasser des Flusses abhängig. Anders als die nur partiell kontrollierbaren Flußsysteme Mesopotamiens verlangte das eine schmale Niltal zunächst eine zentrale Verwaltung. Das Erstarken der Aristokratie löste dann partikulare Tendenzen aus. So folgte dem geeinten Alten Reich gegen 2200 die Auflösung des Reiches in Kleinstaaten. Erst mit Beginn des 2. Jahrtausends erlangte das Land im Mittleren Reich seine Stabilität wieder. Unter den Pharaonen der 12. Dynastie kam es zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Ägyptens Einflußsphäre wurde weiter nach Nordosten auf syrisches Gebiet ausgedehnt, über dessen Häfen — vor allem Byblos — auch ein lebhafter Handel mit Kreta lief. Ägypten hat im Laufe seiner Entwicklung einen Reichtum kultureller Formen hervorgebracht. Der größte Einfluß ist wohl von seiner Bau- und Bildkunst ausgegangen, deren oft kolossale Ausmaße nicht wenig dazu beigetragen haben, Ägypten zu jenem auch von den Griechen immer wieder bestaunten Wunderland zu machen. Wunderbar waren meist auch die Geschichten, Märchen und Romane der ägyp-

tischen Literatur, die nicht selten bis in die Gegenwart nachgewirkt haben. Geringer aber als in Babylon waren die exakten Wissenschaften ausgebildet. Von ägyptischer Mathematik und Astronomie konnten die Griechen offenbar nur wenig profitieren. Eine der hervorragenden Leistungen war die Einführung des Sonnenjahres; sie aber hat in der Alten Welt bis zu den Zeiten Caesars keine Nachahmung gefunden. Um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend, als sich in Ägypten das Mittlere Reich stabilisierte, drangen indoeuropäische Völkerschaften in den ägäischen und kleinasiatischen Raum vor. In das im östlichen Kleinasien gelegene Kappadokien gelangten die aus Europa kommenden Hethiter und gründeten dort ein mächtiges Reich, das dann zur Zeit der Dorischen Wanderung um 1200 so sang- und klanglos von der weltgeschichtlichen Bühne verschwand, daß kein griechischer Historiker mehr von ihm zu berichten wußte. Die Entdeckung seines Staatsarchivs bei Boghazköy und die Entzifferung der Keilschrifttafeln hat uns vieles über die politische Struktur dieses Staates gelehrt. Die erhaltenen Reste der Architektur und bildenden Kunst vermitteln einen Eindruck von seinen kulturellen Leistungen. Wohl schon früher als die Hethiter waren die Churriter aus den armenischen Bergen nach Mesopotamien gekommen. Ihre Eroberungszüge erstreckten sich nach Syrien, Palästina und wohl auch nach dem östlichen Kleinasien. Mit der Übernahme der babylonischen Keilschrift haben sie auch viel geistiges Gut von dort rezipiert und über die Hethiter an die anderen Völker weitervermittelt. Wir wissen nicht, ob und wie weit solche Dichtung wie das in seiner ursprünglichen Fassung wohl sumerische Gilgamesch-Epos die Anfänge des griechischen Epos beeinflußt hat. Nach Syrien drangen mit Beginn des 2. Jahrtausends semitischsprachige Stämme vor. Es kam zur Bildung zahlreicher kleiner Staaten, die in der Folgezeit zu blühenden Handels- und Kulturzentren wurden, wie Alalah, Ugarit und Byblos. Diese phönizischen Stadtstaaten unterhielten enge Kontakte zu Kreta und waren offenbar die wichtigsten Übermittler orientalischer Kultur an die Griechen seit den Zeiten Mykenes. Der Einbruch indoeuropäischer Völkerschaften in den östlichen Mittelmeerraum war nicht nur in Kleinasien, sondern auch auf der südlichen Balkanhalbinsel zum Stehen gekommen, ohne auf Kreta überzugreifen. Dadurch wurde dort eine ungestörte Entwicklung ermöglicht, die diese Insel in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends zum zivilisatorischen Mittelpunkt der Ägäis machte. Der großartige ökonomische Aufschwung wurde nicht zuletzt durch die damalige weltpolitische Lage ermöglicht; denn die meisten Territorien an den Küsten des östlichen Mittelmeeres waren für geraume Zeit ausschließlich mit ihren durch die Einbrüche der Indoeuropäer hervorgerufenen Problemen beschäftigt. Andere Staaten wiederum, wie Ägypten, waren vorwiegend Landmächte. Kreta hatte also zu Beginn des 2. Jahrtausends keinen ernst zu nehmenden Rivalen auf den Seerouten des Mittelmeeres. Damals gab es allen Anzeichen nach bereits eine soziale Oberschicht, 3*

FBÜHES GRIECHENLAND (2. Jt. v. u. Z.)

Hethiter

Churriter

Phönizier

Kreta

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die über genügende materielle Mittel und auch Arbeitskräfte verfügte, um sich größere Wohnsitze bauen zu lassen. Dazu rechnen die sog. „Herrenhäuser", die wohl die Vorläufer der späteren Paläste waren, auch wenn sie noch nicht die Funktion von Stapelplätzen oder Handelszentren besaßen. Dieser privilegierten Schicht war es gelungen, einen beträchtlichen Teil des Reichtums in ihren Händen zu konzentrieren und innerhalb kurzer Zeit einen Außenhandel in großem Rahmen aufzubauen. Als dann die allgemeinen politischen Verhältnisse sich wieder konsolidiert hatten, zeigte sich die kretische Handelsposition in der Ägäis bereits fest etabliert. Diese ökonomische Entwicklung setzte voraus, daß Fürsten oder Könige die absolute Führung übernahmen, um nicht nur die Produktion, sondern auch den Handel wirklich kontrollieren zu können. Die neue Machtkonzentration der nach dem sagenhaften König Minos benannten „minoischen" Zeit zeigt sich architektonisch an den großen Palästen, die nun in den Zentren der Insel entstanden: Phaistos, Hagia Triada, Mallia, Knossos und wohl Kydonia. Diese sog. „älteren Paläste" dienten aber nicht allein der Repräsentation, sondern waren zugleich Handelszentren und Depots (Abb. 2—3). Eine derartig zentralisierte Wirtschaftsführung altorientalischen Typs — nach ihrem Sitz als „PalastWirtschaft" bezeichnet — bedurfte einer Schrift. Diese war in der Form der sog. Linearschrift A aus älteren Hieroglyphen entwickelt worden. Wir besitzen rund 180 kleine Tontafeln, die mit dieser Schrift beschrieben sind und — soweit wir den Texten bisher entnehmen können — größtenteils wirtschaftliche Buchungen enthalten. Über den sozialen und staatlichen Aufbau im einzelnen ist freilich wenig bekannt. Der Palast war wohl eine „Stadt im kleinen", an deren Spitze der König stand. Minos scheint eher ein dynastischer Titel als der Name eines einzelnen großen Herrschers gewesen zu sein, wie die Sage will. Seine Beziehung zur religiösen Sphäre — vielleicht als „Priesterkönig" — steht außer Zweifel. I n der ihn umgebenden Oberschicht hat, wie die zahlreichen Bilddarstellungen vermuten lassen, die Frau eine ungewöhnlich einflußreiche Stellung eingenommen. Dieser Stellung entspricht das Überwiegen des weiblichen Elements in der Religion. I m Vordergrund steht die „Große Mutter", die als Vegetations- und Fruchtbarkeitsgöttin im gesamten östlichen Mittelmeerbecken verbreitet war. Sie trat in vielerlei Formen auf, zu denen auch die in Kreta geläufige „Herrin der Tiere" und die „Schlangengöttin" (Abb. 6) gehören. Verbunden mit ihr war das die aufblühende und sterbende Vegetation symbolisierende „Göttliche Kind". Die Entwicklung der Produktivkräfte hat in Kreta einen großartigen zivilisatorischen Fortschritt bewirkt. Bedeutsame Leistungen im Schiff-, Straßen- und Brückenbau, im Bereich der Kanalisation und der Wasserleitungsanlagen mit Badewannen u. a. sind die Grundlage eines für damalige Verhältnisse hohen Urbanen, materiellen u n d geistigen, Lebensstandards. Davon zeugen auch die meisterhaften Leistungen in der Keramik und der Malerei, die kunstvollen Einlegearbeiten und vieles andere, das oft auf ägyptische Anregung zurückgeht. Dieser vielseitige Reichtum und das milde mediterrane Klima haben Kreta im Bewußtsein der Griechen zu einer „Insel der Seligen"

Fig. 1 Kretische Tonfässer (Pithoi), 1,20—2,00 m hoch, Vorratsgefäße mit Korbgeflechtmustern Um 1800-1600

v. u. Z.

Knossos

werden lassen, die f ü r lange Zeit ein kultureller K n o t e n p u n k t war, wo mannigfaltige Einflüsse verarbeitet und wöitergereicht wurden. Die Einwohner K r e t a s gehörten zu jener altmediterranen, ägäischen Bevölkerung, die auch im vormykenischen Griechenland zu Hause war u n d sprachliche Spuren vor allem in den S t ä d t e n a m e n hinterlassen h a t . Sonst aber war die Erinnerung a n die von den hellenischen Schriftstellern auch Pelasger, Leleger oder Minyer genannten Ureinwohner später so verblaßt, daß sich u n t e r den Griechen auch die Vorstellung verbreiten konnte, sie selbst seien autochthon. Die Griechen n a n n t e n nach einer Landschaft u n d einem kleinen S t a m m im Süden Thessaliens ihr Land Hellas und sich selbst Hellenen. Diese allgemeine u n d zugleich zusammenfassende Benennung d ü r f t e aber k a u m vor dem 7. J h . v. u. Z. verwendet worden sein; denn Homer k e n n t n u r die Namen „Achäer", „Argiver" oder „Danaer". Die bei uns heute gebäuchliche Bezeichnung „Griechen" ist von dem westgriechischen S t a m m der Graikoi abgeleitet, die d a n n lateinisch zu Graeci bzw. Graecia (für das Land) wurde. Das griechische Festland und seine Inselwelt sind Bestandteil einer größeren geographischen Einheit im Osten des Mittelmeeres, die aus dem Ägäischen Meer, der West- und Südküste Kleinasiens, den K ü s t e n Syriens, Palästinas, Ägyptens u n d Nordafrikas bis zur Kyrenaika besteht, eingeschlossen die beiden großen Inseln K r e t a und Zypern. Dieser R a u m öffnet sich nur a n einigen wenigen Stellen, so in den westlichen Teil des Mittelmeeres u n d nach Norden, wo der Ägäisbereich durch Elußtäler Verbindungen mit der nördlichen Balkanhalbinsel wie auch dem Donaugebiet erhält. Während m a n durch die Dardanellen nach dem Schwarzen Meer u n d durch die Täler des Hermos bzw. Mäander in das Innere Kleinasiens gelangen konnte, ist dessen Südküste gegenüber dem I n -

AUmediterrane Schicht

Griechenland

Geographische Bedingungen

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neren durch Gebirge weitestgehend abgeriegelt. In Kilikien und in Nordsyrien, im Mündungsgebiet des Orontes, ergeben sich Verbindungswege nach Mesopotamien, jedoch versperrt dann weiter südlich der Libanon den Weg ins Innere. Wenn Nordafrika nach dem Inland zu auch durch die Wüste abgeriegelt wird, so bieten doch der Nil und Karawanenstraßen Verkehrsmöglichkeiten nach dem Süden. Alle diese Gebiete waren dem Meer zugewandt. So ist es nur natürlich, daß die Seefahrt schon sehr früh großen Aufschwung nahm und an vielen Stellen Häfen entstanden — so an der Ostküste des griechischen Festlandes, im Ostteil von Kreta, an der phönizischen Küste und in Ägypten an der Mündung des Nils. Dabei verloren die Schiffsbesatzungen, wenn sie vom griechischen Festland nach der kleinasiatischen Küste fuhren, im Ägäischen Meer nur selten Land aus den Augen; denn die Inseln sind in der Regel nicht weiter als ca. 50 km voneinander entfernt. Das gebirgereiche griechische Festland, das vom übrigen Teil der Halbinsel durch Ausläufer des Balkans getrennt wird, hat zum größten Teil wenig ergiebigen Boden, der seine Früchte nicht ohne große Anstrengung preisgibt. Denn, wie Herodot sagt, „die Dürftigkeit ist eine stetige Begleiterin Griechenlands gewesen" (7, 102); sie war eine ergebnisreiche Herausforderung, alle Kräfte und Fähigkeiten zu ihrer Überwindung zu entfalten. In Nordgriechenland gibt es die fruchtbare Ebene von Thessalien, während im mittleren Griechenland außer einer Reihe mehr oder weniger großer, von Bergen umgebener Täler vor allem die Halbinsel Attika und Böotien bedeutsam sind. Die Peloponnes besteht ebenfalls aus zahlreichen, zumeist wiederum durch Berge voneinander isolierten Gebieten, zu denen die fruchtbare Landschaft der Argolis mit Mykene und Tiryns und das Eurotastal im Süden gehören. Die Westküste des gesamten Festlandes ist zwar steil und bergig, aber verhältnismäßig wenig zerklüftet, während die der Ägäis zugewandte Küstenlinie sehr stark zerrissen ist. Die zahllosen Gebirge, die selten höher als 2000 m sind, begünstigten die Herausbildung kleinster ökonomisch-politischer Einheiten, die bereits in mykenischer Zeit begann und dann in der Polis ihren Höhepunkt fand. Ihnen allen aber war ein Bindeglied gemeinsam: das Meer. Die Schiffahrt machte die Verbindungen untereinander und zu den Regionen am östlichen Ufer des Mittelmeeres möglich, so daß eine Auseinandersetzung mit der entwikkelteren gesellschaftlichen Praxis des Orients schon zu mykenischer Zeit begann. Die in der starken geographischen Aufgliederung begründeten unterschiedlichen natürlichen Bedingungen blieben nicht ohne Einfluß auf die Vielfalt der ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung in Griechenland.

Die mykenische Kultur Indoeuropäische Einwanderung 38

Im Rahmen einer sich bis nach Innerasien erstreckenden Wander bewegung sind vom Ausgang des 3. Jahrtausends an indoeuropäische Stämme auch in die Balkanhalbinsel eingedrungen. Das Ereignis selbst liegt im Dunkel der Frühgeschichte und ist durch archäologische Zeug-

nisse nicht eindeutig nachzuweisen; doch lassen sich die Zerstörung vieler festländischer Siedlungen nach 2000 und das Auftauchen der „minyischen" Keramik (Abb. 7—8) durchaus als Folgeerscheinungen verstehen. Es scheint, daß in den nächsten 400 Jahren ein langer Verschmelzungsprozeß zwischen Einwanderern und mediterranen Ureinwohnern stattfand, aus dem eine Bevölkerung hervorgegangen ist, die vielleicht schon als „griechisch" bezeichnet werden darf. Für diese Bevölkerung, welche die mykenische Kultur geschaffen hat, soll im folgenden die aus Homer bekannte Bezeichnung „Achäer" gebraucht werden. Bei der wechselseitigen Assimilation haben die Einwanderer offenbar viel materielles und geistiges Gut von den Einheimischen übernommen. Über die Entwicklung nach der Landnahme können wir kaum mehr als Vermutungen äußern. Die Gentilordnung zerfiel allmählich. Die Stammesaristokratie, deren Einfluß womöglich schon aus der Wanderungszeit herrührte, hat wohl bei der Bodenverteilung größeres Grundeigentum erhalten und so ihre Macht gefestigt. Damit machte die gesellschaftliche Differenzierung Fortschritte. Allmählich begann auch das Handwerk aufzublühen. Während dieser Periode nahm der Einfluß Kretas, dessen Palastzentren sich dem Zenit ihrer Entwicklung näherten, immer mehr zu, wie die Imitationen von Dekor und Formen der minoischen Keramik durch festländische Töpfer beweisen. Es ist durchaus möglich, daß kretische Töpfer sich sogar in einigen Küstengebieten des Festlandes niedergelassen haben. I m einzelnen ist der Charakter der kretischen Einflußnahme auf das griechische Festland noch ungeklärt. Diese Entwicklung gehört zu den Voraussetzungen für die erste Blüte der mykenischen Kultur, die uns dann in der sog. Schachtgräberzeit um die Wende vom 17. zum 16. J h . so plötzlich entgegentritt. Welche Ereignisse es waren, die diesen sprunghaften Aufschwung bewirkt haben, vermögen wir nicht zu sagen. Dabei hat der wachsende Einfluß minoischer Elemente während der vorangegangenen Jahrhunderte offenbar eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Die Schachtgräber, die der ersten Periode der mykenischen Kultur ihren Namen gaben, wurden auf der Burg von Mykene im J a h r e 1876 von Heinrich Schliemann gefunden. Dem waren Ausgrabungen im böotischen Orchomenos, der Hauptstadt der in Homers „Ilias" erwähnten sagenhaften Minyer, vorausgegangen, wo die schon genannte „minyische" Keramik zutage kam. I m J a h r e 1871 h a t t e Schliemann auf dem Hügel Hissarlik in der Nordwestecke von Kleinasien nach dem homerischen Troja zu suchen begonnen und eine Anzahl aufeinanderfolgender Schichten freigelegt; den Abschluß der Grabungen erlebte Schliemann nicht mehr. I m Westen der Burg von Mykene fand Schliemann damals in einem kreisrunden Bezirk sechs Gräber (Abb. 5), die als rechteckige Gruben in das weiche Gestein gehauen und nach erfolgter Bestattung mit Balken verschlossen sowie mit Erde bedeckt worden waren. Auch Grabstelen sind erhalten, die oben aufgesetzt und entweder mit Spiralmustern verziert waren oder, wie in einem Falle, die Darstellung eines Mannes (offenbar des Toten) auf einem Streitwagen zeigten.

FRÜHES GRIECHENLAND (2. J t . V. u. Z.)

Zerfall der Gentilordnung

Schachtgräber

zeit

Mykene

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Palastwirtschaft

Verhältnis zu Kreta

Kuppelgräber

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In den Jahren 1951—1954 wurde dann in der Unterstadt von Mykene ein zweites Gräberrund mit mehr als 25 kleineren Schachtgräbern gefunden, die zeitlich vor die von Schliemann entdeckte Anlage gesetzt werden. Die Bestattungen in beiden müssen sich vom Ausgang des 17. bis zum Ende des 16. Jh., vielleicht sogar noch etwas später, erstreckt haben. Die in den unberührten Gräbern gefundenen überreichen Beigaben, vor allem die Menge an Goldarbeiten mit den berühmten goldenen Totenmasken (Abb. 9), weisen die Bestatteten als Fürsten und deren Angehörige aus. Der größte Teil dieser Grabbeigaben ist kretischen Ursprungs. Die Ausstattung dieser Schachtgräber und die Tatsache, daß zur gleichen Zeit prächtige Fürstensitze entstanden, deuten auf eine beträchtliche Konzentration ökonomischer und politischer Macht hin, deren Nutznießer in den beiden Gräberrunden beigesetzt sind. Es sieht so aus, als ob man bereits damals — das minoische Handelsimperium befand sich zu dieser Zeit auf der Höhe seiner Macht — begonnen hatte, Elemente der kretischen Palastwirtschaft zu übernehmen, wie z. B. die zentrale Leitung und Registrierung der Produkte und Handelsgüter. Als Schrift wurde dafür vermutlich die auch in Kreta gebräuchliche Linearschrift A verwendet. Der Übergang zur frühen Klassengesellschaft hatte sich vollzogen. Die Struktur der mykenischen Gesellschaft war in den wesentlichen Zügen der altorientalischen vergleichbar. In die sich in der Folgezeit stärker herausbildende Palastwirtschaft wurden die Bauern der Dorfgemeinden zunehmend einbezogen. Die Palastwirtschaft auf dem griechischen Festland weist gegenüber der kretischen Unterschiede auf: So gab es keine zentrale Lagerung der erfaßten Güter, denn in den mykenischen Burgen und Palästen fehlen die für Kreta typischen großen Magazine. Besonders augenfällig aber ist, daß die mykenischen Fürstensitze im Gegensatz zu den kretischen Palästen starke Befestigungen erhielten (Abb. 10), die gegen Ende der gesamten mykenischen Periode noch verstärkt wurden. Offensichtlich war die Herrschaft in den jeweiligen Gebieten durch kriegerische Auseinandersetzungen ständig bedroht. Es bildete sich eine Reihe von Zentren, wie Mykene, Pylos, Theben und Tiryns, heraus, unter denen Mykene vielleicht zeitweilig eine führende Stellung einnahm. Eine solche Stellung ist auf alle Fälle in der „Ilias" vorausgesetzt, wo Agamemnon als König dieser Stadt ganz selbstverständlich die oberste Führung über das achäische Expeditionsheer gegen Troja innehat. Die Mykener übernahmen nun in noch stärkerem Maße Elemente der kretischen Kultur, vor allem auf dem Gebiete des Kunsthandwerks und der Wandmalerei, die sie mit Eigenständigem zu verschmelzen wußten. Um 1500 trat die mykenische Kultur in eine neue Phase ihrer Entwicklung ein, die äußerlich durch die nun aufkommende, sehr repräsentative Bestattungsform der Kuppelgräber gekennzeichnet ist. Das größte und besterhaltene Kuppelgrab ist das sog. „Schatzhaus des Atreus", das außerhalb der Burg von Mykene liegt und aus dem letzten Viertel des 14. Jh. stammt. Ein langer, in abfallendes Gelände geschnittener Gang führt zu einer hohen Fassade, deren Tür von

Halbsäulen flankiert wird, die sich nach oben verbreitem. Der sich anschließende Kuppelraum ist der größte uns bekannte stützenlose Innenraum anderthalb Jahrtausend vor der Errichtung des Pantheons und hat eine Höhe von 13 und einen Durchmesser von 14,4 m. Der neue Zug zum Monumentalen und Gewaltigen zeigt sich auch an den bei diesem Grab verwendeten Riesenblöcken, von denen allein der Türsturz bei einer Länge von 8 und einer Breite von 5 m etwa 100 Tonnen wiegt. Rätselhaft ist, mit welchen technischen Hilfsmitteln die mykenischen Bauleute eine derartige Last in ihre vorgesehene Lage gebracht haben. Der monumentale Kuppelraum diente offensichtlich dem Totenkult, während die Toten selbst in einer kleinen Seitenkammer beigesetzt wurden. Die wirtschaftliche und politische Einflußsphäre der mykenischen Fürsten begann sich auszudehnen. Günstig dafür war die Schwächung der minoischen Macht durch den gewaltigen Vulkanausbruch auf der Insel Thera (heute Santorin) im 15. Jh., der mit starken See- und Erdbeben verbunden war. Er scheint zu schweren Verwüstungen auf ganz Kreta geführt zu haben, von denen nur Knossos verschont blieb. Die mykenischen Fürsten verdrängten die kretische Handelsmacht — nach einer erneuten Katastrophe auf der Insel, deren Ursachen noch nicht geklärt sind — nicht nur ganz aus der Ägäis, sondern übernahmen auch eine Reihe ehemals kretischer Faktoreien oder Kolonien, wie Milet in Kleinasien. Auf den Höhepunkt ihrer Macht gelangten die mykenischen Fürsten nach der endgültigen Zerstörung von Knossos in der ersten Hälfte des 14. Jh. Damit war jegliche kretische Konkurrenz im ägäischen Handel ausgeschaltet. Noch im gleichen Zeitraum unterlag Theben einem gemeinsamen Angriff mykenischer Fürsten. In den Burgen und Palästen setzte nun eine rege Bautätigkeit ein. Anstelle der eine ungefährdete Seeherrschaft voraussetzenden unbefestigten Palastarchitektur der Minoer war die Burg getreten, deren Befestigung bereits in der älteren Zeit sehr aufwendig war. Die am besten erhaltenen Befestigungsanlagen finden sich in Mykene und Tiryns. Das aus riesigen Steinquadern aufgetürmte Mauerwerk wurde von den späteren Griechen den Kyklopen, den Riesen der Urzeit, zugeschrieben. In einer Höhe von 6 bis 10 m muß man sich einen Aufbau aus Lehmziegeln mit einem Wehrgang aus Holz denken. Das Zentrum eines auf solcher Burg liegenden mykenischen Wohnpalastes ist das Megaron. Es besteht aus einer doppelten Vorhalle und einem Hauptraum mit dem Herd sowie einer von Säulen getragenen Laterne zum Abzug des Rauches. Anstelle der auf Kreta üblichen „labyrinthischen" Gruppierung der Räume um einen Innenhof beruht die mykenische Palastanlage auf dem Prinzip der Steigerung und Staffelung. So erhält auch der Hof des Palastes eine andere Funktion: Er ist nicht mehr Mittelpunkt der Anlage — wie z. B. in Knossos als Kultort —, sondern lediglich Durchgang zu einer Abfolge von Räumen, in die sich nun auch die aus den minoischen Palastbauten bekannten Treppenanlagen neuartig eingliedern. End- und Höhepunkt dieses Weges ist das repräsentativ gestaltete Megaron. Diesem schließen sich dann die

FRÜHES GRIECHENLAND (2. J t . v. u. Z.)

Expansion

Burganlagen

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Siedlungen

Straßennetz

Plastik

Totenmasken

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Wohnräume an, die z. B. in Tiryns zwei unterschiedlich große, unverbundene Anlagen bilden. Das mykenische P r i v a t h a u s — z. B. das sog. „Haus des ölhändlers", „Haus der Sphingen", „Haus der Schilde" (so bezeichnet nach den f ü r jedes typischen Funden) — ist im Schutze der Burgmauern erbaut u n d wiederholt, wenn auch in bescheidenerer Form, die Palastanlage m i t Hof u n d Megaron. Den Grundriß dieser Häuser h a t m a n dem abfallenden Gelände angepaßt, so daß über Treppen eine Verbindung vom Keller, in dem sich auch die Lagerräume befanden, zum Obergeschoß hergestellt wurde. Die mykenischen S t ä d t e selbst, in denen sich u . a. auch die verschiedensten, wohl hauptsächlich f ü r den Burgherrn arbeitenden Handwerksbetriebe angesiedelt hatten, waren in der Regel unbefestigt. Zur Verbindung der einzelnen Siedlungen wurde ein Straßennetz gebaut, dessen gesamte Ausdehnung uns allerdings nicht b e k a n n t ist. I n Homers „Odyssee" f ä h r t jedoch Telemachos, von nur einem Wagenlenker begleitet, auf einem leichten zweirädrigen Wagen in zwei Tagen von Pylos über Pherai a m Messenischen Golf nach Sparta, was einer E n t f e r n u n g von ca. 55 k m Luftlinie entspricht. Die uns aus dieser Zeit bekannten Straßen in der Argolis verbinden Mykene sowohl mit dem Korinthischen als auch mit dem Argolischen Golf — vielleicht ein Hinweis auf die Führungsposition der Herren von Mykene. Gegenüber der monumentalen Architektur t r i t t die Plastik zurück. Eine Ausnahme allerdings macht das b e r ü h m t e Löwentor von Mykene mit dem ersten, aber bisher auch einzigen Beispiel eines monumentalen figürlichen Reliefs in der mykenischen K u n s t (Abb. 11). E s schmückt das Entlastungsdreieck über dem Türsturz, dessen Gewicht auf 20 Tonnen geschätzt wird. Zwei Löwen haben in heraldischer Anordnung ihre Vordertatzen auf eine Basis gestellt, die eine sich nach u n t e n verjüngende Säule mit Gebälk t r ä g t . Die K ö p f e der Tiere sind verloren; wie sich aus den Stiftlöchern ergibt, waren sie nicht aus dem gleichen Kalkstein wie das Relief selbst hergestellt u n d blickten den Besucher a n . Diese Tiergruppe sollte Burg und Palast beschützen u n d jegliches Übel abwehren. Das Motiv ist aus der kretischen Kleinkunst übernommen — dort finden wir es in vielfältigen Variationen auf Siegelringen u n d Gemmen — u n d ins Monumentale gesteigert worden. Die übrige Reliefplastik beschränkt sich, wenn wir von den Grabsteinreliefs der Schachtgräber von Mykene absehen, auf dekorative Verkleidung der Innenarchitektur, die wir uns weitgehend aus verschiedenfarbigen Materialien zusammengesetzt vorzustellen haben. Hierbei dominieren Streifen, Zacken und Spiralmuster, die vor allem als Säulenschmuck den besonderen Charakter der mykenischen K u n s t erkennen lassen. D a die meisten Kuppelgräber ausgeraubt sind, läßt sich die bei allem kretischen Einfluß dennoch hohe eigenständige Leistung der mykenischen Künstler a m besten a n den kunstgewerblichen Erzeugnissen der frühen Periode der Schachtgräber erkennen, die Schliemann unber ü h r t entdeckt h a t t e . Eine Sonderform bilden die goldenen Gesichtsmasken der Männer- und Kinderleichen. Erstere haben durch Bart-

tracht und über der Nasenwurzel zusammengewachsene Brauen ausgesprochen unkretische Züge und verraten eine gewisse „Naturtreue", ohne jedoch bereits als Porträts angesehen werden zu können. Nicht die gleiche Höhe wie das übrige Kunstgewerbe hat die Masse der keramischen Erzeugnisse. Der für die minoische Gefäßmalerei typische Beichtum an Formen aus der Pflanzenwelt nimmt in der späteren mykenischen Keramik immer mehr ab. Diesem „Verlust" steht jedoch eine Zunahme an tektonischer Gliederung sowohl der Dekoration als auch des Gefäßkörpers gegenüber. Eine Endstufe dieser E n t wicklung stellt die berühmte „Kriegervase" aus Mykene dar (Abb. 13), die bereits in die Zeit der Zerstörung der ersten mykenischen Burgen und Paläste fällt. An dieser Vase erkennen wir die Formenauflösung der Spätzeit, zum anderen aber die neue Qualität einer bewußt vereinfachenden Stilisierung des Naturvorbildes in dem stereotypen Hintereinanderreihen der ausziehenden Krieger. Den gleichen Prozeß der Ablösung von den überkommenen kretischen Vorbildern zeigen auch die Fresken aus den Burgen von Mykene und Tiryns, hier besonders der Frauenfries. Die festländische Variante der minoischen Palastwirtschaft war mit Beginn des 13. J h . voll ausgebildet: Der frühere Stammesadel war seit langem zum Hofadel geworden, das Handwerk weitgehend spezialisiert und wohl in der Lage, den durch die Übernahme des kretischen Handelsimperiums angestiegenen Exportanforderungen gerecht zu werden. Freilich sind wir bei unserer Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse Mykenes immer noch weitgehend auf Vermutungen angewiesen; denn unser Wissen gründet sich in erster Linie auf Homer. Aber alle Bemühungen, aus den klassischen Epen mehr als ein ganz grobes Bild der mykenischen Kultur gewinnen zu wollen, sind zweifelhaft; denn einerseits spiegeln diese in vielen Zügen die gesellschaftliche Situation in der Zeit ihrer Entstehung wider (8. und 7. Jh.), andererseits hat Homer diese „heroische Vergangenheit" auch mit Idealen und Traumbildern ausgeschmückt, durch die sich sein aristokratisches Publikum über die Sorgen und Nöte nach der Zeit der Dorischen Wanderung hinwegzutrösten wünschte. Unter diesen Umständen ruhte alle Hoffnung auf der Entzifferung der über 10000 Tontäfelchen in Linear-BSchrift (Abb. 12). Der englische Archäologe Evans fand eine größere Menge davon im Palast von Knossos auf Kreta, wo er 1900 mit den Ausgrabungen begonnen hatte. Später wurden dann vor allem im Palast von Pylos, aber auch in anderen Zentren der mykenischen Epoche Täfelchen mit derselben Schrift entdeckt. Da m a n sie aber nicht zu lesen wußte, blieb nicht nur die kretische, sondern weithin auch die mykenische Kultur für uns ein „Bilderbuch ohne Text". Es ist begreiflich, daß unter diesen Umständen im Jahre 1953 die Nachricht der geglückten Entzifferung von Linear-B durch den Engländer Ventris wie eine Sensation wirkte. Sie wurde zunächst als säkulares Ereignis gefeiert und über die Entzifferung der Keilschrift und der Hieroglyphen gestellt. Ventris glaubte, ein frühgriechisches Idiom als die der Schrift zugrunde liegende Sprache entdeckt zu haben. Damit schien auch die mykenische Herrschaft im Knossos des 14. J h . bewiesen.

FRÜHES GRIECHENLAND (2. Jt. v . u . Z.)

Keramik Fresken

Mykene Homer

und

und

Linear-B-Schrift

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Organisation der Wirtschaft

Inzwischen ist die anfängliche Begeisterung geschwunden. Da die Schrift, die aus Vokal-, Silben- und Sachzeichen (Ideogrammen) besteht, die griechische Orthographie und Grammatik kaum wiedergibt, sind die meisten Sätze von einer erstaunlichen Vieldeutigkeit, die die Entzifferung in Frage stellt. Hier hat erst künftige Forschung das letzte Wort zu sprechen. Doch reichen die Sach- bzw. Bildzeichen und das sicher gedeutete System der Zahlzeichen aus, um den Tafeln mit einigem Vorbehalt dennoch manche Angaben entnehmen zu können. Für eine Reihe von Produkten — um welche es sich handelte, lassen die aufgezeichneten Ideogramme leider nicht immer erkennen — war offensichtlich die jährlich abzuliefernde Menge genau festgelegt. Über die Erfüllung dieser Auflagen bzw. über die noch verbliebenen Lieferungsschulden wurde genauestens Buch geführt. Die Handwerksbetriebe, insbesondere die der Metallverarbeitung, scheinen über das jeweilige Territorium verstreut gewesen zu sein. Zur Weiterverarbeitung wurden die notwendigen Metallmengen von dem betreffenden Palast an die Handwerker verteilt, wobei die Verbuchung solcher Zuteilungen immer geschlossen für jeweils eine Ortschaft erfolgte. Die Schmiede gehören übrigens zu den wenigen Handwerkern, die auch Homer in „Ilias" und „Odyssee" erwähnt; es sind Waffenschmiede, Hersteller von Handwerkszeug und Goldschmiede. Es ist wohl nur Zufall, daß auf den erhaltenen Tontafeln des Festlandes kaum etwas von dem militärischen Potential der mykenischen Territorien erwähnt wird. Doch gibt es Aufzeichnungen von Räderpaaren, die für den leichten zweirädrigen Wagen benötigt wurden, während Inventarlisten von den Wagen selbst — im Gegensatz zu den Tontafeln aus Kreta — nicht erhalten sind. Einen kleinen Hinweis auf militärische Ausrüstung gibt uns ein rundes Dutzend von Buchungstafeln, auf denen Brustpanzer mit den dazugehörigen Helmen verzeichnet sind.

Eigentumsformen

In den mykenischen Territorien scheint es verschiedene Eigentumsformen gegeben zu haben. Zunächst hatte der Palastherr seinen Grundbesitz, der offenbar dem aus Homer bekannten temenos (später Bezeichnung für ein den Göttern geweihtes Landstück) vergleichbar ist, dessen Ertrag dem jeweiligen Fürsten zur Verfügung stand. Des weiteren gab es das Gemeindeland der vom Palastherrn als Obereigentümer abhängigen dörflichen Siedlungen und drittens noch Grundstücke, die offensichtlich in privater Hand (vielleicht des Hofadels) waren und weiterverpachtet wurden. Gerade solche Transaktionen scheinen registriert worden zu sein, ja es existieren Zusammenstellungen solcher Vorgänge in Kurzfassungen, so daß man fast von einem Katasterbuch sprechen kann.

Religion und Kult

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Im Gegensatz zu den späteren Griechen kannten die Mykener — wie schon die Kreter vor ihnen — kaum Tempelanlagen im eigentlichen Sinne. Es gab hauptsächlich Kulträume innerhalb menschlicher Behausungen und Altäre bzw. Kultsymbole im Freien, wie sie bereits aus Kreta bekannt sind. Aus diesem Bereich wurde offensichtlich der K u l t der Magna Mater ( = Große Mutter), einer im gesamten östlichen Mittelmeerraum unter den verschiedensten Gestalten verehrten Muttergottheit, übernommen. Sie erscheint vor allem als Herrin der Tiere auf

zahlreichen Siegeln, aber auch als Schildgöttin, wobei der Schild ursprünglich selbst göttliche Verehrung genoß, wie aus den Schildfresken im Palast von Knossos hervorgeht. Vermutlich ist diese Schildgöttin später zur griechischen Pallas Athene geworden. Daneben wurde noch eine weitere chthonische Gottheit auf den mykenischen Territorien verehrt : es war Poseidon, der nach Homer in Pylos einen Stammeskult besaß. D a ß der Herrscher zu seiner Palastgöttin in naher Beziehung stand, ist sicher, ob er die F u n k t i o n eines Priesterkönigs h a t t e und nach seinem Tode kultische Verehrung erhielt, bleibt dagegen ungewiß. Über einen Jenseitsglauben der Mykener wissen wir so gut wie nichts. F ü r seine Existenz zeugen die Grabbeigaben. Bei diesen Begräbnissen handelt es sich u m E r d b e s t a t t u n g e n . Dies s t e h t im Gegensatz zu den Schilderungen Homers, bei dem die vor Troja Gefallenen auf einem Scheiterhaufen v e r b r a n n t werden. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der Leichenverbrennung des Patroklos, des Freundes Achills. D a m i t projiziert Homer eine Bestattungsart in die mykenische Zeit zurück, die erst in späteren J a h r h u n d e r t e n üblich war.

FRÜHES GBEECHENLAND (2 ' t-v,u,z,>

Die Wanderungsbewegungen am Ausgang des 2. Jahrtausends v. u. Z. U m die Mitte des 13. J h . sind überall in der mykenischen Welt umfangreiche Verteidigungsanstrengungen erkennbar. Die Burgen wurden erheblich v e r s t ä r k t ; ein großer Wall wurde quer durch den Isthmos von Korinth g e b a u t ; offenbar rechnete m a n mit einer Invasion aus nördlicher Richtung. Großen Nutzen scheinen all diese Vorkehrungen jedoch nicht gebracht zu haben, denn noch in der zweiten H ä l f t e des 13. J h . sind der Palast von Pylos und die außerhalb der mykenischen Burg liegenden Privathäuser zerstört worden. E s scheint freilich auch, d a ß die Form der gesellschaftlichen Organisation in der Palastwirtschaft überlebt war. Vielleicht haben innere Zwistigkeiten der Burgherren den Niedergang beschleunigt, u n d die homerische Erzählung vom Streit der in Mykene herrschenden Atriden wäre ein sagenhafter Reflex historischer Vorgänge.

Erate Wanderungawelle

Die erste Wanderungswelle blieb nicht die einzige; ihr folgten im Verlauf der nächsten 150 J a h r e noch weitere, die ebenfalls nicht nur das griechische Festland erreichten, sondern wie r u n d tausend J a h r e vorher auch Kleinasien erfaßten. I h r e letzten Ausläufer gelangten auf den östlichen Ufern des Mittelmeeres bis nach Ägypten, wo sie uns unter dem N a m e n der „Seevölker" überliefert sind, die von Ramses I I I . mit Erfolg zurückgeschlagen wurden. Auf dem griechischen Festland f ü h r t e n diese Eroberungszüge nicht nur zur Zerstörung der Burg von Mykene u n d der übrigen noch verbliebenen festen Plätze, sondern schließlich auch zum Untergang der mykenischen Gesellschaft u n d ihrer K u l t u r . Nachfolger im Mittelmeerhandel wurden die Phönizier.

Ende Mykenes

Über die Anzahl der Invasionswellen sowie die H e r k u n f t der ihnen angehörenden Völker sind wir mangels entsprechender Überlieferungen auf Vermutungen angewiesen. Unter den ersten eindringenden Scharen befanden sich möglicherweise die Ionier, die d a n n in Attika siedelten

Griechische Stämme 45

Mykenische

Reste

Verfall der Gentilordnung

Kontinuität

Wanderung und Kolonisation

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und mit den dortigen Achäern verschmolzen. Mit den nächsten Wellen müßten weitere griechische Stämme gekommen sein, z. B. die Vorfahren der Arbado-Äoler. Als letzte kamen im 11. J h . die Dorer, die alles bis dahin in der zerbröckelnden mykenischen Welt noch Bestehende zerstörten, wobei sie auch Kreta eroberten. Die Vorgänge, die sich in den nun folgenden ca. 200 Jahren auf dem griechischen Festland abspielten, sind denen nach dem Eindringen der achäischen Stämme rund 1000 Jahre zuvor ähnlich. Auch jetzt wurde die einheimische Bevölkerung nicht ausgerottet, doch wichen größere Bevölkerungsteile vor dem Druck der eindringenden Stämme nach der ägäischen Inselwelt und der kleinasiatischen Küste aus. Den Zurückbleibenden scheint es jedoch nicht nur möglich gewesen zu sein, Reste der mykenischen Kultur zu bewahren und zu tradieren, sondern auch einige mykenische Fürstensitze und andere Siedlungen in ihrer bisherigen gesellschaftlichen Struktur zu erhalten. Davon zeugt die Burg Amyklai, die — nur wenige Kilometer von Sparta entfernt und bei Homer bereits zum Besitz des Menelaos zählend — lange Zeit den sie umgebenden Dorern widerstanden hat und erst im Verlaufe des 9. J h . fiel. Somit dürfen wir also durchaus noch für einen längeren Zeitraum mit einem Nebeneinander von Staaten mykenischer Herkunft und von Stämmen der Eroberer mit gemeinwirtschaftlichen Formen rechnen, die jedoch mit dem allmählichen Verfall der Gentilordnung — beschleunigt durch die unterschiedliche Verteilung des Bodens bei der Landnahme — und der Herausbildung staatlicher Strukturen aufgegeben wurden. Hier nun könnten auch die ersten Ansätze zur Herausbildung einer neuen Gattung von Fußtruppen liegen. So läßt sich die auf der „Kriegervase" (Abb. 13) abgebildete, gleichmäßig ausgerüstete Kriegerschar in diesem Sinne deuten. Trotz aller während der „dunklen Jahrhunderte" sich vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen gab es eine Kontinuität mykenischer Traditionen, begünstigt durch das Weiterbestehen intakt gebliebener mykenischer politischer Einheiten. Diese Kontinuität wird vor allem in der Keramik deutlich, deren Formen in der submykenischen Periode zunächst noch an ältere Traditionen anknüpften und erst allmählich — nach einem Degenerationsprozeß — zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten fanden, die sich dann gegen Ende des 11. J h . im protogeometrischen Stil manifestieren (Abb. 14—16). In den Jahrhunderten nach den ersten Invasionswellen vollzog sich die Verteilung der großen griechischen Stämme — und damit der von ihnen gesprochenen Dialekte — auf das griechische Festland, die ägäischen Inseln sowie die Küstengebiete Kleinasiens, die dann mit der Großen Kolonisation zunächst ihren Abschluß fand. Die zeitliche Abfolge der Einwanderungen der griechischen Stämme genauer festzulegen, ist kaum möglich. Als gesichert kann lediglich die Tatsache angesehen werden, daß die Träger der dorisch-nordwestgriechischen Dialekte als letzte den Boden Griechenlands erreicht haben. Über die Verteilung der großen Dialektgruppen vor der Ankunft der Dorer sind jedoch Aussagen kaum möglich. So wurde Ionisch in Attika und Euböa gesprochen,

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Fig. 2 ursprünglich aber auch in der Argolis und anderen Teilen der Peloponnes sowie in Böotien, während das Arkadisch-Äolische in Thessalien und dann auf der gesamten Peloponnes anzutreffen ist. Daß es sich hier wie später auch in Böotien mehr oder weniger durchgesetzt hat, mag mit der Überlagerung der Ionisch-Sprechenden durch die Träger der arkadisch-äolischen Dialekte zusammenhängen. Die als letzte einfallenden dorisch-nordwestgriechischen Stämme verdrängten dann Teile der bereits seßhaft gewordenen ionischen und arkadisch-äolischen Bevölkerungsgruppen. Zunächst stießen die Dorer von den Randgebirgen Thessaliens und Mittelgriechenlands nach Süden vor, eroberten den Isthmos, die Argolis, Lakonien und Messenien und besetzten Kreta, Kos und Rhodos. Von den Nordwestgriechen, die den Dorern nachfolgten, drangen schwächere Verbände in Böotien und Thessalien ein, während stärkere K r ä f t e zunächst nach Ätolien und Phokis vorstießen und dann nach der Peloponnes übersetzten, u m Achaia und Teile von Elis zu besiedeln. Von den durch den Einbruch der Dorer und Nordwestgriechen bedrohten Angehörigen der ionischen u n d arkadisch-äolischen Stämme entschloß sich eine große Anzahl zur Auswanderung. So flüchteten aus Thessalien und Böotien größere

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Stämme und Dialekte

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Gruppen nach Lesbos u n d in die benachbarten Abschnitte der kleinasiatischen Küste, während zur gleichen Dialektgruppe gehörende Bewohner v o n Argos u n d Lakonien in Zypern eine neue H e i m a t suchten. Von den Ioniern wiederum, die sich nach der Eroberung der Argolis durch die Dorer vor allem in Attika versammelt hatten, wanderte ein Teil nach den Kykladen, nach Samos, Ephesos oder Milet aus. Als Ergebnis aller dieser Bevölkerungsbewegungen bietet sich für die Verteilung der griechischen Dialekte u n d S t ä m m e schließlich folgendes Bild - . I o n i s c h - A t t i s c h in Attika, E u b ö a , auf den Kykladen, a n der Mittelküste Kleinasiens, auf Chios, Samos, in Unteritalien u n d den Kolonien, in Thrakien, der Propontis u n d a n d e n K ü s t e n des Schwarzen Meeres, A r k a d i s c h - Ä o l i s c h in Thessalien (hier vermischt mit Nordwestgriechisch) u n d Böotien (mit n u r geringem nordwestgriechischen Einschlag), auf Lesbos, a n der nördlichen K ü s t e Kleinasiens, in Arkadien, Zypern u n d Pamphylien (an der Südküste Kleinasiens), D o r i s c h - N o r d w e s t g r i e c h i s c h in Süd-Epirus, Ätolien, Akarnanien, Lokris, Phokis, Doris, I t h a k a , Kephallenia u n d Zakynthos, Elis, Achaia, Argolis, Lakonien, Messenien (umstritten), Ägina, auf K r e t a u n d den Inseln der Süd-Ägäis, in den dorischen Kolonien sowie auf Sizilien (Fig. 2).

1 Marseüler

Kanne

4 Priesterkönig

aus dem Palast von Knossos

5 Schachtgräberrund

A von Mykene

9 Goldene Totenmaske

eines mukenischen

Herrschers

FBÜHES GRIECHENLAND (1000-700 v. u. Z.)

II. Die Herausbildung der antiken Gesellschaftsformation in Griechenland (Beginn des 1. Jahrtausends bis 500 v. u. Z.) 1. Die Entstehung der antiken Produktionsweise und der Polis (Beginn des 1. Jahrtausends bis 700 v. u. Z.) Allgemeine Charakteristik Mit dem Ende der Wanderungszeit begann eine Entwicklung, deren Privateigentum fortschrittliche Tendenzen zum Stadtstaat, zur Polis, führten. I n der und Staat ersten, bis zum Ende des 8. Jh. reichenden Periode wiederholten sich Prozesse, wie sie im Gefolge der ersten Wanderung nach 2000 aufgetreten waren: Verfall der Gentilordnung und Ausbildung von staatlichen Organisationen. Zunächst spielten die gesellschaftlichen Strukturen der zerfallenden Gesellschaftliche Gentilordnung noch eine bestimmende Rolle. Doch der Adel drängte Struktur zur Macht, und bald verlor das Königtum jede politische Bedeutung. Den Adligen gehörte meist ein Großgrundbesitz, der mit seinen Sklaven und freien Lohnarbeitern eine weitgehend autarke Einheit von Produktion und Konsumtion bildete. Daneben gab es die kleinen Bauernwirtschaften in dörflichen Ansiedlungen, in denen sich auch Handwerker niederließen. Mit der wachsenden Produktion entstand ein Austausch, wobei sich womöglich der Marktplatz eines günstig gelegenen Dorfes oder eine alte mykenische Siedlung zum städtischen Zentrum einer n u n größeren Wirtschaftseinheit entwickelten. Es entstand die Polis als landwirtschaftlicher Gemeindestaat unter der Herrschaft des grundbesitzenden Adels. Mit dem Wachstum der Produktivität gewann allmählich die Schicht der Handwerker und Händler an Bedeutung. Das geschah zuerst in den Zentren an der Westküste Kleinasiens, wo die Griechen am ehesten Gelegenheit fanden — vor allem durch Vermittlung der Phönizier —, das vielfältige Erbe der großen orientalischen Kulturen für die eigene Entwicklung zu verarbeiten. Die Periode bis zum Ende des 8. Jh. bezeichnen wir als „Homerische Zeit". Das Epos, aus mykenischen Traditionen von zahlreichen Sänge r n vorgeformt und schließlich in der homerischen Dichtung zu höchster Vollendung geführt, ist die überragende kulturelle Leistung dieser Zeit. Zwar geben sich „Ilias" und „Odyssee" als Darstellung mykenischer Vergangenheit, aber es ist eine verklärte Vergangenheit, die der Die hter

Epos

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FBÜHES GRIECHENLAND (1000-700 v. u. Z.)

II. Die Herausbildung der antiken Gesellschaftsformation in Griechenland (Beginn des 1. Jahrtausends bis 500 v. u. Z.) 1. Die Entstehung der antiken Produktionsweise und der Polis (Beginn des 1. Jahrtausends bis 700 v. u. Z.) Allgemeine Charakteristik Mit dem Ende der Wanderungszeit begann eine Entwicklung, deren Privateigentum fortschrittliche Tendenzen zum Stadtstaat, zur Polis, führten. I n der und Staat ersten, bis zum Ende des 8. Jh. reichenden Periode wiederholten sich Prozesse, wie sie im Gefolge der ersten Wanderung nach 2000 aufgetreten waren: Verfall der Gentilordnung und Ausbildung von staatlichen Organisationen. Zunächst spielten die gesellschaftlichen Strukturen der zerfallenden Gesellschaftliche Gentilordnung noch eine bestimmende Rolle. Doch der Adel drängte Struktur zur Macht, und bald verlor das Königtum jede politische Bedeutung. Den Adligen gehörte meist ein Großgrundbesitz, der mit seinen Sklaven und freien Lohnarbeitern eine weitgehend autarke Einheit von Produktion und Konsumtion bildete. Daneben gab es die kleinen Bauernwirtschaften in dörflichen Ansiedlungen, in denen sich auch Handwerker niederließen. Mit der wachsenden Produktion entstand ein Austausch, wobei sich womöglich der Marktplatz eines günstig gelegenen Dorfes oder eine alte mykenische Siedlung zum städtischen Zentrum einer n u n größeren Wirtschaftseinheit entwickelten. Es entstand die Polis als landwirtschaftlicher Gemeindestaat unter der Herrschaft des grundbesitzenden Adels. Mit dem Wachstum der Produktivität gewann allmählich die Schicht der Handwerker und Händler an Bedeutung. Das geschah zuerst in den Zentren an der Westküste Kleinasiens, wo die Griechen am ehesten Gelegenheit fanden — vor allem durch Vermittlung der Phönizier —, das vielfältige Erbe der großen orientalischen Kulturen für die eigene Entwicklung zu verarbeiten. Die Periode bis zum Ende des 8. Jh. bezeichnen wir als „Homerische Zeit". Das Epos, aus mykenischen Traditionen von zahlreichen Sänge r n vorgeformt und schließlich in der homerischen Dichtung zu höchster Vollendung geführt, ist die überragende kulturelle Leistung dieser Zeit. Zwar geben sich „Ilias" und „Odyssee" als Darstellung mykenischer Vergangenheit, aber es ist eine verklärte Vergangenheit, die der Die hter

Epos

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Religion und Mythos

Bildende

Kunst

nach den Idealen seines aristokratischen Publikums formte. Mykenisches und Zeitgenössisches hat er dabei miteinander verwoben. I s t die „Ilias" erfüllt von den kriegerischen Taten einer aristokratischen Gesellschaft, so treten in der „Odyssee" auch andere Lebensbereiche, wie das Alltagsleben des Adels und der unteren Schichten, plastisch in Erscheinung. So zeigen die Epen Homers in der scharf umrissenen Darstellung der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und im Streben, das Leben in seiner Fülle und Vielfalt widerzuspiegeln, wesentliche Züge einer realistischen Gestaltung. Das gesellschaftliche Bewußtsein der Homerischen Zeit war von Religion und Mythos geprägt. Doch gab es eine breite Vielfalt innerhalb der religiösen Formen. Das Selbstbewußtsein der ionischen Aristokratie spiegelt sich in Homers Götterhimmel wider. Da ist das Göttliche schon zum Gegenstand vieler ergötzlicher Geschichten geworden. Der Mythos selbst, ursprünglich echt religiös, wurde zur unerschöpflichen Quelle für Dichter und Künstler, denn in ihm sind nach Marx „die Nat u r und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie" (MEW 13, 641). Aber es gab auch viele Spuren einer älteren Religiosität, die besonders in den unteren Schichten verbreitet war. Davon hat Hesiod manches bewahrt. Ihm, der sich mit der Illusion eines gerechten Zeus über sein Los eines von den adligen Herren ausgebeuteten Kleinbauern hinwegtröstet, war es mehr Ernst mit der Religion. Nicht mehr anonym wie Homer steht Hesiod hinter seiner Dichtung; recht plastisch schildert er seine eigenen Sorgen. Damit leitet er schon zur Lyrik über, wie er als Systematiker und Kosmologe die kommende Philosophie vorbereitet. Am weitesten hinauf verfolgen läßt sich die bildende Kunst, an der sich das Wechselverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität der

Entwicklung gut erhellen läßt. Sie schafft mit dem geometrischen Formprinzip Neues und greift dabei doch zugleich Tendenzen spätmykenischer Tradition auf. In der Homerischen Zeit bildeten sich nach dem sozialen Standort differenzierte Formen des Menschenbildes heraus. Das Leitbild der herrschenden Aristokratie ist von kriegerischen „Tugenden" wie Tapferkeit, physischer Stärke, Klugheit im Rat und List bestimmt. Diese Tugenden werden als Privileg des Adels betrachtet, während die unteren Schichten „weder im Krieg noch im Rate zählen". In der „Odyssee" sind Ansätze vorhanden, auch die Angehörigen der unteren Schichten in ihrer Menschlichkeit zu würdigen. Im ganzen zeigt die homerische Dichtung mit der Diesseitigkeit des Denkens und der stark reduzierten Religiosität einen erheblichen Gewinn an menschlichem Selbstgefühl, das einen wesentlichen Zug des humanistischen Gedankens ausmacht. Die Möglichkeit freilich, die noch relativ undifferenzierten Anlagen und Fähigkeiten zu einer gerade in ihrer Begrenzung total erscheinenden Persönlichkeit zu entfalten, blieb auf die herrschende Aristokratie beschränkt. Ganz andere und nicht minder positive Ansätze eines humanistischen Menschenbildes wurden in den unterdrückten Klassen entwickelt. Wir fassen sie bei Hesiod, der die progressiven Vorstellungen des um seine Rechte ringenden Volkes zu Wort kommen läßt. Er bekennt sich zur friedlichen menschlichen Arbeit, deren Wert er mit Nachdruck hervorhebt.

FRÜHES GRIECHENLAND (1000-700 v. u. Z.)

Menschenbild

Die Festigung des Privateigentums und die Entstehung der Adelsherrschaft Im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung während der „dunklen Jahrhunderte" und der Homerischen Zeit haben sich sehr unterschiedliehe Eigentums- und Machtverhältnisse herausgebildet. Die Stammesaristokratie hatte bei der Landnahme in der Wanderungszeit größere Anteile an Grund und Boden mitsamt der ansässigen Bevölkerung erhalten und eignete sich zunehmend auch das der allgemeinen Nutzung zur Verfügung stehende Gemeindeland an. Die wehrfähigen Bauern, die ihre eigenen Anteile bearbeiteten, wurden deren Eigentümer und konnten über die Produkte ihrer Arbeit frei verfügen. Aus dem Zusammenschluß zerstreuter Siedlungen und der kriegerischen Organisation ihrer Bewohner entstanden in der Regel Poleis, autonome geschlossene Siedlungen, deren anbaufähiges Territorium unter die freien Bewohner aufgeteilt war. Der Besitz an Boden bildete die Voraussetzung für die vollberechtigte Zugehörigkeit zu einer Polis. Die Herausbildung des privaten Eigentums und die Entstehung der Polis bedingten sich wechselseitig.

Entstehung der Polis

In der „Ilias" Homers begegnen uns an der Spitze der jeweiligen Völker Heerkönige, die die oberste richterliche, politische und militärische Macht innehaben, aber zugleich auch religiöse Funktionen ausüben. Ihnen zur Seite steht die Stammesaristokratie, und beide betätigen sich im Kriege als Wagenkämpfer. Das gemeine Volk hingegen,

König und Adel

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Handel. Phönizischer Einfluß

Großes und kleines Grundeigentum

Kolonisation

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das als Fußtruppe eingesetzt wird, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Es darf an den Versammlungen teilnehmen, hat aber auf politische Entscheidungen keinerlei Einfluß. Auch in der „Odyssee" begegnen uns als Wagenkämpfer die adligen Grundbesitzer und als zu Fuß kämpfende Krieger die Angehörigen der unteren Schichten der Freien, vor allem die wehrfähigen Bauern. Der wachsende ökonomische und politische Einfluß der Aristokratie führte zur Schwächung des Königtums und zur immer größeren Beschneidung seiner Macht, so daß dessen Befugnisse schließlich auf die religiösen Funktionen beschränkt wurden. Die Macht übte in den Poleis zumeist ein Adelsrat aus, der aus seinen Reihen die höchsten Beamten nach einem jährlichen Turnus bestimmte. Allmählich bildete sich mit dem Wiederaufleben des Handels auch eine Schicht von Kaufleuten heraus; hierbei ist zunächst der Einfluß Phöniziens als Handelspartner und Transporteur nicht unbedeutend gewesen. Dieser Einfluß zeigt sich auch in der für die weitere Entwicklung Griechenlands wichtigen Übernahme der phönizischen Buchstabenschrift. Die Phönizier besaßen seit dem Ende der mykenischen Ära das Handelsmonopol im Mittelmeerraum. Ihre Städte ähnelten in der sozialökonomischen Struktur den sich herausbildenden griechischen Poleis, waren jedoch schon weiter entwickelt. Darauf deuten u. a. die beginnende mobile Sklaverei, Anfänge des Sklavenhandels und vor allem die phönizische Kolonisation in den Küstengebieten Nordafrikas und Spaniens. Ungeachtet der wachsenden Bedeutung des Handels blieb die Polis ein auf Agrarwirtschaft basierendes Gemeinwesen, in dem der Adel als größter Grundbesitzer die Vormachtstellung innehatte. Im Laufe der Zeit gerieten die kleinen Bauern in eine zunehmende Abhängigkeit von den adligen Grundherren, die Abgaben und andere Leistungen forderten. Die Verschuldung wuchs, führte teilweise sogar zur Schuldknechtschaft und verschärfte die Spannungen zwischen den großen Bodeneigentümern und den kleinen Bauern. An die Seite der Bauern traten die Handwerker, besitzlosen Lohnarbeiter und Händler, aber auch die verarmten Angehörigen der herrschenden Adelsschicht, während die Sklaven nur eine untergeordnete Rolle spielten. Ein zeitweiliger Ausweg aus der sozialen Krise war die Kolonisation, deren Anfänge noch in die dunklen Jahrhunderte fallen, die aber seit der Mitte des 8. Jh. im verstärkten Maße betrieben wurde. Die Gründung von Kolonien (Fig. 14) — sie erfolgte hauptsächlich an den Küsten des Mittelmeeres sowie des Schwarzen Meeres — bot für alle in der Heimat von der herrschenden Adelsschicht Unterdrückten nicht unerhebliche Vorteile: Der verarmte und in seiner Freiheit bedrohte kleine Grundeigentümer hatte die Chance, in ausreichendem Maße Ackerland zu erwerben und damit gleichzeitig auch jedem außer ökonomischen Zwang zu entgehen. Die freien Handwerker und Händler erwarteten von einer neugegründeten Kolonie nicht zu Unrecht eine erhebliche Steigerung des Produktenaustausches und damit der handwerklichen Produktion; nicht zuletzt erhofften sie, die bisher nur das Wohnrecht, aber kein Bürgerrecht besessen hatten, durch Erwerb von Boden den Status eines

Vollbürgers der neuen Polis zu erlangen. Abgesehen davon bot sich auch für die verarmten Angehörigen der Aristokratie eine Möglichkeit, nicht nur dem Druck der Großgrundbesitzer zu entgehen, sondern nun ihrerseits wieder zu Landbesitz und damit zu entsprechendem Ansehen zu gelangen. Dennoch verließen viele nur ungern ihre Heimat; war doch ein solches Unternehmen ein nicht geringes Wagnis. Einer Entscheidung darüber waren sie allerdings oftmals enthoben, da der Rat der jeweiligen Polis, in dem die reichen Grundbesitzer saßen, eine Koloniegründung beschließen und die Teilnehmer zur Ausfahrt zwingen konnte. Dadurch entledigte man sich zugleich eines Teils der verarmten und entrechteten Bevölkerung und konsolidierte auf diese Weise die eigene Stellung innerhalb des Gemeinwesens. In der neuen Heimat traf man vor allem Vorkehrungen gegen mögliche feindliche Überfälle, verteilte dann das Land nach gleichen Anteilen und konstituierte eine Volksversammlung, der alle Kolonisten als Polisbürger mit gleichen Pflichten und Rechten angehörten. Diese weitgehende Gleichstellung aller an einer Koloniegründung Beteiligten sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht bot den neugegründeten Poleis einen günstigen Ausgangspunkt für ihre weitere Entwicklung. Ganz anders dagegen verlief die sozialökonomische Entwicklung bei der Entstehung Spartas. Die Dorer waren um 950 bei ihrem südlichen Vorstoß im Eurotastal auf Reste der mykenischen Bevölkerung gestoßen, die sich während der Wirren der Wanderungsbewegungen hierher zurückgezogen hatten und ein weiteres Vordringen der Eroberer behinderten. Die Hauptfestung Amyklai leistete fast 150 Jahre Widerstand ; während dieses permanenten Kriegszustandes haben sich offensichtlich gentile Einrichtungen der Wanderungszeit, wie Heerkönige, Stammesälteste und Heeresversammlung, erhalten. Die ursprünglich in Lakonien ansässige Bevölkerung wurde unterworfen und zur Abgabenleistung gezwungen. Auch hier bildeten sich Schichten von Großgrundbesitzern und Eigentümern kleiner Landparzellen heraus, die sich auf die Ausbeutung der unterworfenen Bevölkerung stützten. Entscheidend waren die Zugehörigkeit zur herrschenden Schicht der Spartiaten und die damit verknüpften politischen Rechte. Durch die Eroberungszüge in das benachbarte Messenien um 720 konnten die Forderungen der kleinen Grundbesitzer nach größeren Landzuteilungen befriedigt werden. Sie sind schließlich mit den alten Großgrundbesitzern gleichgestellt worden und bildeten mit diesen die Oberschicht der Spartiaten.

FRÜHES GRIECHENLAND (1000-700 y. u. Z.)

Sparta

Die Entwicklung der Produktivkräfte Die ökonomische Grundlage der städtischen und dörflichen Siedlungen war in Homerischer Zeit die Landwirtschaft. Ackerbau und Viehzucht wurden gleichermaßen gepflegt. Die allmähliche Weiterentwicklung der Agrartechnik und die damit verbundene Steigerung der Produktion hingen mit der Verwendung des Eisens zusammen, das sich mit der

Gebrauch des Eisens

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Fig. 4 Der Bauer mit dem Ochsengespann zieht mit dem Hakenpflug Saatfurchen, der Sämann mit dem Kornkorb folgt unmittelbar, den Schluß bildet wieder ein Pflüger, der die Saat bedeckt. Nikosthenes-Schale Um 530 v. u. Z.

Landwirtschaft lind Handwerk

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Berlin (West), Staatliche

Museen

Wanderungsbewegung seit dem 12. J h . allmählich, verbreitete. Während die Rohstoffe für die Bronzemetallurgie selten waren, gab es im Gebiet der Ägäis in Böotien, auf Euböa, auf der südlichen Peloponnes und mehreren Inseln größere Eisenvorkommen, deren Abbau seit der Jahrtausendwende erwiesen ist. Das Eisen, das seit dem 9. J h . , als die Technik der Verstahlung aufkam, die Bronze durch seine H ä r t e und sein schnelleres Herstellungsverfahren verdrängte, wurde zunächst für Luxusgegenstände, wie z. B. Schmuckstücke, verwendet. I m 11. und 10. J h . erscheinen eiserne Schwerter als Grabbeigaben. Der zunehmende Gebrauch des Eisens in der Waffentechnik hat zugleich die Stellung des kleinen privaten Eigentümers gestärkt, weil eiserne Waffen nicht nur der Gentilaristokratie, sondern auch der Masse der Stammesmitglieder zugänglich waren. So wurde seit dem Ende des 8. J h . das Waffenprivileg des herrschenden Adels gebrochen. Auch in der Landwirtschaft fand Eisen allmählich Verwendung, doch kennt noch Hesiod kein eisernes Pflugschar. Den ochsenbespannten Pflug führte in der Regel der Bauer selbst, was später in den Bildern der Vasenmalerei zum Ausdruck kommt (Fig. 4). Der verwendete Pflugtyp, der sog. Haken, ritzte den Boden nur, wendete die Scholle aber nicht, so daß der Acker viermal gepflügt werden mußte. Die Felder der Gutswirtschaft und der Bauernacker erfuhren technisch die gleiche Behandlung. Die bäuerliche Einzelwirtschaft war nur beschränkt autark und auf Wechselbeziehungen zum Adelshof und vor allem zur sich konsolidierenden Polis angewiesen. Das spezialisierte Handwerk h a t t e seine Werkstätten in der Nähe einer Burganlage oder eines Stammesheiligtums. Hier fanden die Beratungen der Volksversammlung statt, die meist mit Markt- und Gerichtstagen verbunden waren. Die Bauern, die in dieser Zeit die Mitglieder der Volksversammlung stellten, konnten die Überschüsse ihrer Produktion selbst gegen handwerkliche Produkte, wie landwirtschaftliche Geräte, Waffen und Töpfereiwaren, handeln. Die Möglichkeit der unmittelbaren Produzenten, über die Verteilung der erarbeiteten Produkte und über die eigene Arbeitskraft zu verfügen, wurde für die allmähliche Entstehung der antiken Produktionsweise ausschlaggebend.

Das Verhältnis von Ackerflur und Weidefläche wechselte landschaftlich stark; die fetten Fluren der Eurotas-Ebene um Sparta sicherten weit höhere Ernteerträge als nahezu alle anderen Gebiete mit meist sehr geringen Bodenqualitäten. Dagegen stand im vorherrschenden Bergland die Zucht von Schafen und Ziegen, die Fleisch, Milch, Käse, Wolle und Felle lieferten, an erster Stelle. Pferde, Esel, Maulesel, aber auch Rinder wurden hauptsächlich auf der Peloponnes, in Mittelgriechenland und Thessalien gehalten. Für kleinbäuerliche Betriebe war die Zucht von Hengsten und Stieren unrentabel, so daß der Adel darin ein Privileg besaß. Bedeutung hatten ferner der Fischfang und vor allem die Bienenzucht, da die Antike noch keinen Zucker kannte. Eine untergeordnete Rolle spielte dagegen wohl die Geflügelzucht. Die Feldwirtschaft lieferte vor allem Gerste und Weizen. Daneben wurden Hirse und Flachs angebaut. Besondere Bedeutung hatte der Weinbau, da Wein, gemischt mit Wasser, das Hauptgetränk war. Dazu traten einige Obstsorten, von denen in den Epen Feige, Apfel, Granatapfel und Birne, später auch Pflaume und Quitte eine Rolle spielen. Von den Gartenkulturen werden Kichererbse, Bohne, Zwiebel und Mohn erwähnt, doch ist die Zahl der Anbauprodukte zweifellos größer gewesen. Bekannt war auch der Ölbaum, doch hatte die Olivenkultur bis zu ihrer Ausweitung seit dem 6. J h . mehr Bedeutung für die Körperpflege als für die Ernährung.

FRÜHES GBIECHEXLAND (1000-700 v. u. Z.)

Viehzucht

Acker- und Gartenbau

Fig. 5 Griechischer Hakenpflug 1

Handgriff

2

Sterz

3 4 5 6

Pflugsohle Pflugeisen Krümel Grindelbaum Umzeichnung nach Vasenbildern vor 500 v. u. Z.

Bei Hesiod ist von Gegenständen der materiellen Kultur nur wenig zu fassen. Wichtig war der Holzeinschlag, um Material für Mörser und Keule, Rad, Deichsel und Pflugscharbaum zu schaffen. Als einzigen spezialisierten Handwerker nennt Hesiod den dörflichen Schmied. Doch der Bauer ist gegen 700 auch selbst zur See gefahren; denn Hesiod gibt Anleitung zur Pflege des Bootes, auf dem die landwirtschaftlichen Produkte zwischen Getreideernte und Weinlese übers Meer zu den Handelsplätzen gefahren werden. Hesiod mißbilligt aber solche Fahrten im Frühjahr, wie er auch in dieser Zeit von sonstigen Handelsreisen abrät, da eine leicht mögliche verspätete Rückkehr zu schädlichen Versäumnissen bei der Landarbeit führen könnte. Schwierig ist es, für diese Periode über die von der Agrarproduktion Randwerk getrennten Schichten detaillierte Angaben zu machen. Die soziale Situation zwang den Landlosen oder den — etwa durch Erbfolge — landlos gewordenen Bauernsohn, sich an den Kolonisationsunternehmungen zu

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Fig. 6 Schmiedeofen mit Blasebalgzieher rechts; der vor dem Feuerloch sitzende Meister hält mit einer Zange das Eisen in die Glut. Schwarzfigurige attische Vase Um 550 v. u. Z.

Schiffbau

London, Britisches Museum

beteiligen, als Landarbeiter für Lohn zu arbeiten oder sich handwerklichen Tätigkeiten zuzuwenden. Der Berufswechsel nötigte zu einer Gewöhnung an nichtagrarisches Handwerkszeug. Das war aber noch wenig entwickelt, so daß in der Regel kein entscheidendes Hindernis vorlag, sich im Gebrauch des „neuen" Werkzeugs zu üben und nach und nach zu vervollkommnen. Schon in der frühen Polis wurden außer Metall- und Schmuckwaren, Textilien und Keramik noch vielerlei Produkte aus Holz, Elfenbein usw. hergestellt. Die archäologischen und literarischen Zeugnisse, etwa für die Töpfer und Kunsthandwerker, zeigen bereits eine gewisse Spezialisierung. Das Schmiedehandwerk erfreute sich größter Wertschätzung (Fig. 6). Der für Seehandel und Kolonisationsunternehmungen notwendige Schiffbau stand in der uralten Tradition des mediterranen Seewesens. Neben dem althergebrachten Fischerkahn und dem gleichartigen Verkehrsboot gab es größere Handelsfahrzeuge und solche Bootstypen, die zum Zwecke des Seeraubs gebaut und ausgerüstet waren. Die Erfindung der Diere am Ende des 8. Jh., eines Schiffs mit zwei Reihen von Ruderern übereinander, brachte bei gleichbleibender Bootslänge eine wesentliche Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit. Um diese Zeit begannen die Städte, die umfangreicheren Seehandel trieben, Wert auf die Ausrüstung von Kriegsschiffen zu legen. Der Rammsporn ermöglichte den Kampf von Schiffen gegeneinander. Griechische Schiffsdarstellungen vom Ausgang des 8. J h . zeigen das neue, unter der Wasserlinie des feindlichen Schiffs ansetzende Kampfmittel mit aller Deutlichkeit.

Die Lebensweise Ernährung 56

Eine wichtige Rolle für die Ernährung haben in der gesamten griechisehen Antike Gerste und Weizen gespielt; sie wurden mit einer Mühle

für Breispeisen oder Brot aufbereitet. Den Speisezettel bereicherten Hülsenfrüchte, Zwiebeln, Lauch, mancherlei Salate und Fischgerichte sowie diverse Käsearten. Die drei Mahlzeiten — morgens, mittags und am späten Nachmittag — wurden bis ins 6. J h . hinein sitzend eingenommen. Man aß mit den Fingern, die man sich sowohl vor wie nach der Mahlzeit wusch. Soßen t u n k t e man mit Brot auf. Noch in der Blütezeit der Polis bediente man sich beim Essen von Suppen und Brei eines ausgehöhlten Brotes. Menge und Qualität der Speisen und Getränke hingen vom sozialen Status ab. Bei Hesiod wird den Arbeitskräften, entsprechend den jahreszeitlich unterschiedlichen Arbeitsanforderungen, ausreichende oder gekürzte Kost gewährt. I m Hochsommer, zur Zeit der größten Arbeitsleistungen, gab es reichere Kost (590ff.):

FRÜHES GRIECHENLAND (1000-700 V. u. Z.)

„Grobes Gerstenbrot und Milch nichtsäugender Ziegen, Waldlaubgenährter K ü h e Fleisch, die noch nicht geboren, Auch von Erstlingsböcken, dann schlürfe des Weines Gefunkel, Sitzend im Schatten, das Herz mit reichlicher Speise gesättigt." I m Winter war der Tisch karger gedeckt (588f.): ': „Winterszeit, beschwerlich für Herden, beschwerlich für Menschen. Dann sei dem Stier die Hälfte, dem Mann noch ein wenig darüber Nahrung bestimmt, es hilft ja schon die Länge der Nächte." (Übersetzung Th. v. Scheffer)

I n der „Odyssee" werden Fleisch und Milch der Herden, Brot und Wein als Nahrung der Hirten genannt. K a u m reicher kann der Tisch der freien Lohnarbeiter gedeckt gewesen sein, deren Lohn wohl in dieser Zeit aus Lebensmitteln und der notwendigsten Kleidung bestand. Karg ist das Leben der in Armut oder am Rande der Armut Lebenden — und dazu gehörten nicht wenige freie Bürger — stets geblieben. Kleidung, Schuhe und alles, was für das tägliche Leben notwendig war, wurde weitgehend im eigenen Hause hergestellt. Die Fertigung der Gewänder — Aufbereitung der Rohmaterialien, Spinnen und Weben (Fig. 7) — oblag den Frauen. Die wesentlichen Grundstoffe waren Schafwolle, Leinen (aus Flachs) und, für größere Gebrauchsstücke, Ziegenhaar. I m Gegensatz zur modernen, geschneiderten Kleidung, die von vornherein feste Konturen hat, herrschte in der Antike das drapierte Gewand vor, ein rechteckiges Stück Stoff, das erst am Körper seines Trägers seine besondere Form erhielt. Das Hauptgewand der Männer war der kurze linnene, gegürtet getragene Chiton. Die Grundform dieses Kleidungsstückes ist die einer ringsum geschlossenen, oben und unten offenen, engen oder weiten Röhre, deren korrespondierende Stellen des oberen Randes von vorn und hinten auf die Schulter gezogen und mit Knöpfen oder durch Nähte verbunden wurden. Über dem Chiton trug m a n gewöhnlich einen wollenen warmen Mantel. Über beide Schultern

Kleidung

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geworfen, blieb er meist ohne Befestigung, konnte aber auch mit Nadeln oder Spangen festgehalten werden. Das Hauptkleid der Frauen war der lange Peplos, ein großes rechteckiges Wollstoffstück, das mit Fibeln auf den Schultern nach der Brust zusammengesteckt und mit einem Gürtel zusammengehalten wurde. Als Obergewand verwendeten die Frauen ein Schleiertuch, das die Schultern und den Rücken sowie den Kopf bedeckte. Reifen, Dia-

Fig. 7 Frauenarbeit bei der häuslichen

Textilproduktion

oben links

Sitzend die Hausfrau, die Wolle im Garnkorb prüft, davor eine Dienerin, die wohl Oarn zum Waschen erhält. oben Mitte Prüfung und Zusammenfalten fertiger Oewebe. oben rechts Eine Dienerin nimmt Vorgarn aus dem Korb, die Spinnerin dreht die Spindel mit der Rechten, ihre Linke hält die Docke mit der Wolle. unten links Die Weberin links festigt mit einem Webkamm das fertige Stück, die Weberin rechts führt mit ihrem (übergroßen) Schiffchen den andersfarbigen Schußfaden durch die mit Tonwirteln straff gehaltenen Kettfäden. unten rechts Die Aufseherin überwacht das Abwiegen vom täglichen Pensum (lat. — „Gewogenes", nämlich Vorgarn zum Spinnen) für die Sklavinnen. Schwarzfiguriges Gefäß Um 550 v. u. Z.

New York, Metropolitan

Museum

deme, Bänder und H a u b e n dienten als Kopfschmuck, wie mancherlei kostbarer Schmuck — Halsketten, Armbänder, Anhänger u n d Ohrringe — die Kleidung der vornehmen F r a u ergänzte. An den Füßen t r u g e n Männer u n d F r a u e n ausschließlich Sandalen. Wie bei der E r n ä h r u n g u n d Wohnkultur war auch bei der Kleidung der soziale Status von wesentlicher Bedeutung. Nur einfachste Kleidung t r ä g t in der „Odyssee" der H i r t : einen Rock, der gleichzeitig als Schlafdecke diente, u n d einen Fellumhang. Bescheiden war, verglichen mit der mykenischen Periode, der Wohnb a u in Homerischer Zeit: Auf einem F u n d a m e n t aus faust- bis kopfgroßen Steinen erhob sich eine Lehmziegelwand mit versteifendem Fachwerk, auf der ein Flachdach oder bisweilen ein steiles Firstdach r u h t e . Neben dem Rechteckbau stand von Anfang a n der K u r v e n b a u . D a s einräumige Ovalhaus mit gewalmtem Schilfdach t r a t mit Beginn der nachmykenischen Bautätigkeit auf. I m 7. J h . verschwand es aber ebenso aus der Typenreihe der W o h n b a u t e n wie das Apsishaus, das einen oder mehrere hintereinander gestaffelte R ä u m e enthalten konnte. Die weitere Entwicklung ging von den Viereckbauten aus. Als Wohnu n d K u l t b a u verwendet, finden wir diesen T y p ausgeprägt im sog. Herdhaus, das nach neuerer Forschung auch den Schilderungen in den homerischen E p e n zugrunde lag.

FEÜHES GRIECHENLAND (1000-700 V. u. Z.)

Wohnung

Wichtigster Bestandteil des Innenraumes war die ebenerdige Herdstelle. Darüber standen eiserne Feuerböcke. Steinbänke a n d e n W ä n d e n dienten zum Sitzen oder Schlafen. Der F u ß b o d e n bestand aus gestampft e m L e h m . I h r Licht erhielten die Häuser durch die Tür u n d die Rauchabzugsluke, bisweilen auch durch dreieckige Fensteröffnungen u n t e r dem Dachansatz. Der Dachstuhl konnte offen sein, oder m a n schob zwischen H a u s u n d Dach eine Zwischendecke ein u n d erhielt so einen B o d e n r a u m . Der Lebensrhythmus war den natürlichen Lichtverhältnissen angepaßt. Als künstliche Lichtquellen werden Feuerbecken mit Kienholz und Brennscheiten sowie Fackeln im Epos genannt, Tonlampen sind seit dem 10. J h . archäologisch nachgewiesen. Das Hausgerät blieb auf das Notwendigste beschränkt. Der Bestand an Möbeln unterschied sich im Typenschatz k a u m von dem späterer Zeit. E s gab kleine Tische, verschiedene Sitzgelegenheiten (Schemel, F u ß b a n k , Lehnstuhl und Armsessel), Liegemöglichkeiten u n d die T r u h e als Vorrats- und Kleiderschrank. Der freistehende Einzelbau dominierte in dieser Periode. E r h ö h t e Stellen wurden bevorzugt, abfallende Felshänge gern als W a n d b e n u t z t . Gleichzeitig mit der Einzelsiedlung, die für Sparta typisch blieb, entwickelte sich die städtische Siedlung und wurde mit d e m 7. J h . vorherrschend. Zwei Typen zeichnen sich a b : einmal die planlos wachsende S t a d t , die, dem Gelände angepaßt, den vorhandenen Straßen folgte u n d nur das Zentrum des öffentlichen Lebens, die Agora, aussparte; zum anderen die planmäßig angelegte u n d wachsende Stadt, f ü r die wir auf Rhodos ein Beispiel aus dem f r ü h e n 7. J h . haben. Zwei Häuserzüge von eng aneinandergereihten Gebäuden, die jeweils aus einem quadratischen H a u p t r a u m und einem gedrungenen Vorraum bestehen u n d meist einen vorgelagerten Hof haben, werden parallel geführt. E s handelt sich hier-

Haus und Siedlung

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bei um die charakteristische Form des griechischen Hausverbandes — die Reihung. Gesellschaft Züge und Formen des gesellschaftlichen Lebens in der frühen Polis treten uns in den homerischen Epen entgegen. Von Interesse für unsere Kenntnis der alltäglichen Lebenspraxis ist die Darstellung auf dem in der „Ilias" beschriebenen „Schild des Achill". Dort wird das Treiben in einer friedlich-festlichen und in einer von Krieg und Zwietracht bedrohten Stadt vorgeführt. Das „Arbeitsbild" der friedlichen Bürger ist ein ländliches: Hirten, Weingärtner, Ackerbürger — kaum Handwerker werden dargestellt. Andere Aussagen der homerischen Epen zeigen, daß die Seeräuberei ebenso eine Einnahmequelle für den Adel ist wie der friedliche Seehandel. Der fleißige Diener ist Sklave; mißachtet wird der Bettler, der „Heruntergekommene", der bisweilen Gelegenheitsaufträge übernimmt, aber auch der arbeitsunfähige, unversorgte Alte. Daß die Epen die Lebenswirklichkeit der niederen Schichten in die Darstellung einbeziehen, verstärkt ihre Glaubwürdigkeit. Noch erfreut sich die Arbeit allgemeiner Wertschätzung auch beim Adel, und mancher Aristokrat versteht die einschlägigen Tätigkeiten selbst auszuführen, wie Odysseus, der sich ein Bett selbst zu zimmern weiß. Auf den Großgrundbesitzungen sind hauptsächlich Sklaven tätig, doch auch der Gutsherr arbeitet noch mit, wie der Vater des Odysseus, Laertes, der Gartenarbeit und Bäumepflanzen als „freudebereitende" Tätigkeit empfindet. Auch die adligen Frauen beteiligen sich am Weben und Sticken. Die produktive „Mitarbeit" der Herren tritt jedoch mehr und mehr zurück, und bald werden körperliche Arbeit und aristokratische Abkunft unvereinbar. Frau

Was wir aus den Epen über die Stellung der Frau erfahren, gilt wohl nur für die Aristokratin. Sie genoß große Achtung. Sie leitete die Hauswirtschaft und übte nicht geringenEinflußaufihreFamilieaus. Dennoch war auch sie dem Manne Untertan, dessen Wille letztlich allein entschied, auch in der Ehe, deren Harmonie als ein wertvolles Gut in der „Odyssee" besungen wird (6, 182 ff.): „Gibt es doch nichts, das besser und vortrefflicher wäre, als wenn Mann und Frau einträchtigen Sinnes den Hausstand führen, zu neidvollem Kummer den Feinden, zu ehrlicher Freude aber den Lieben; den höchsten Genuß empfinden sie selber." (Übersetzung Th. v. Scheffer)

Unlere

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Schichten

Das „gemeine Volk" spielt nur eine geringe Rolle. Wohl nimmt es an Versammlungen teil, auf Entscheidungen aber hat es keinen Einfluß. Auf seine Ausbeutung durch die Herrschenden wird mehrfach direkt hingewiesen. So heißt es von Agamemnon, er „verschlinge die Habe des Volkes" (II. 1, 231), und von den anderen Heerführern u m ihn, sie „tränken auf Kosten des Volkes" (II. 17, 248ff.). Hier mag Kritik des Dichters am Verhalten des Adels ebenso dahinterstehen, wie wenn er Zeus den Menschen für „krumme Rechtssprüche" Strafe androhen läßt (II. 16, 388). Eine andere Szene scheint damit freilich wenig vereinbar: Als Agamemnon, um die Kampfbereitschaft des Heeres auf die Probe

Fig. 8 Klage der Männer, Frauen und Kinder um einen auf dem Totenbett aufgebahrten Verstorbenen Amphora im Dipylonstil Um 770 v. u. Z. Athen, Nationalmuseum zu stellen, auf die elende und erfolglose Lage der Griechen vor Troja hinweist und (täuschend) zur Heimfahrt rät, da stürzt die versammelte Masse der einfachen Krieger zu den Schiffen, um nach Hause zu fahren. Sie werden aber sogleich mit Schlägen zurückgetrieben. Als daraufhin Thersites, obwohl ein Mann des Adels, Agamemnons Habsucht anprangert, erneut zur Heimfahrt aufruft und das ausspricht, was auch das Volk empfindet und wünscht, da wird er, der ohnehin als häßlich und verächtlich, d. h. so unadlig wie möglich, gezeichnet ist, geprügelt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Die auf die Stimmung der Masse gestützte Rebellion des Thersites ist der erstmalige Ausdruck der sich stetig entwickelnden Klassengegensätze unter den Freien. I n dem Auftreten eines Adligen gegen seine eigene Klasse spiegelt sich wohl Wirklichkeit aus der Zeit des Dichters wider. Eines aber wird aus der Animosität, mit der die innere und äußere Häßlichkeit des Thersites geschildert ist, ganz deutlich: Der Dichter steht hier entschieden auf der Seite der herrschenden Gesellschaftsschicht, die ihm die materielle Existenz gewährt. Auf der tiefsten Stufe stehen die Sklaven. Noch ist es freilich ein weiter Weg bis zur Herausbildung der antiken Massensklaverei. Die Beziehungen der Herrenschicht zu den Sklaven tragen einen patriarchalischen Charakter. Die Zahl der Sklaven ist noch relativ gering, die Hauswirtschaft ihr wesentliches Arbeitsfeld. I n enger Verbindung zum Hausherrn stehend, führen sie noch ein gemeinschaftliches Leben mit ihm und seiner Familie. Der „göttliche" Sauhirt Eumaios ist sogar der engste Vertraute seines Herrn Odysseus und nennt Odysseus' Vater Laertes, mit dem er aufgewachsen ist, seinen „verehrten Bruder"; Nau-

Sklaven

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sikaa, die Tochter des Phäakenkönigs, wäscht noch selbst die Wäsche gemeinsam mit ihren Sklavinnen am Meer; ihre Mutter, die Königin, spinnt mit den Mägden und dergleichen mehr. Die Verhältnisse der Abhängigkeit sind freilich nicht ganz einheitlich, ja z. T. unklar, denn der Sauhirt Eumaios z. B. besitzt seinerseits einen Sklaven. Auch die verschiedenen, teils Sklaven, teils andere Abhängige bezeichnenden Ausdrücke sind nach ihrem Sinngehalt nicht genau zu bestimmen. Ein Merkmal dieser auch als „Haussklaverei" oder „patriarchalische Form der Sklaverei" bezeichneten, Keimform der späteren Sklaverei ist auch der relativ hohe Wert, den damals ein Sklave besaß (etwa = 4 Ochsen: II. 23, 702ff.). Raubkriege oder Belagerungen, wie die „Ilias" eine zeigt, galten denn auch — wenn nicht der Besitznahme des Landes überhaupt — neben dem Vieh vornehmlich dem Erwerb von Sklaven, insbesondere von Sklavinnen. Damit verschoben sich die Eigentums- und Machtverhältnisse immer mehr zugunsten der Aristokratie, die ja stets den Hauptanteil der Beute sowie größere und bessere Landteile erhielt. Panhellenische Spiele

Gesellschaftliche Ereignisse ersten Ranges waren die panhellenischen Spiele, eine der seltenen, das gesamte Griechentum umgreifenden Institutionen, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl weckten und der so häufigen Zerstrittenheit der Stadtstaaten und Landschaften entgegenwirkten. Als Bestandteile von Kultfesten wurden die Olympischen Spiele dem Zeus, die Pythischen dem Apollon, die Isthmischen dem Poseidon und die Nemeischen wiederum dem Zeus zu Ehren gefeiert. Während aber die drei letztgenannten Feste dieses Zyklus erst zu Beginn des 6. J h . aufkamen, sind die Olympischen Spiele wesentlich älter und haben die anderen an Bedeutung stets übertroffen. Die antike Festsetzung ihres Beginns auf 776 ist allerdings willkürlich.

Die dichterische Abbildung der Wirklichkeit im Epos Homer und Hesiod Entwicklung

des Epos

„Ilias"

62

Scheinbar wie eine Schöpfung aus dem Nichts treten uns am Ende dieser Periode die vollkommenen Meisterwerke der homerischen Epen entgegen. I n Wirklichkeit aber sehen wir uns in „Ilias" und „Odyssee" nur einem Bruchteil des umfänglichen epischen Schaffens und dem Gipfelpunkt einer langen Entwicklung gegenüber. Der größere Teil des „epischen Zyklus", der u. a. mehrere Troja-Epen (darunter die „Ilias"), verschiedene „Heimkehrerepen" (darunter die „Odyssee"), schließlich weitere Fahrten des Odysseus u n d seinen Tod enthielt, ist verloren. I m Falle der „Ilias" und der „Odyssee" bewahrten die Griechen von allem epischen Schaffen das Wertvollste, und sie t a t e n dies mit dem sicheren Gefühl dafür, daß in „Ilias" und „Odyssee" die epische Dichtung ihre Reife und ihren Abschluß erlangt h a t t e ; denn zu dem, was nachfolgt (Hesiod, Lyrik), führt keine gerade Entwicklungslinie, vielmehr suchen viele Dichter der archaischen Epoche in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt völlig neue Wege. Die „Ilias" mit rund 15000 Versen berichtet vom Kampfe zwischen den Griechen und den Trojanern um die befestigte Stadt Ilion (Troja).

Doch die Dichtung erzählt nicht das gesamte Geschehen, das mit dem „Parisurteil" und dem „Raub der Helena" seinen Anfang nahm und nach zehnjährigem, Wechsel vollem Ringen mit der Eroberung Trojas endete, sondern greift nur einen Abschnitt von 51 Tagen des letzten Kriegsjahres heraus, der durch das Motiv des „Achilleuszornes" bestimmt und begrenzt wird. Als Agamemnon, der oberste Heerkönig der Griechen, die dem Achill als Kriegsbeute zugesprochene Fürstentochter Briseis für sich beansprucht, fühlt sich dieser gekränkt und zieht sich grollend mit seinen Kriegern, den Myrmidonen, vom K a m p f e zurück. Erst ein gleichfalls persönliches Motiv veranlaßt ihn, sich wieder am Kampfe zu beteiligen: Patroklos, sein engster Freund, der mit Achills Waffen den in höchste Bedrängnis geratenen Griechen zu Hilfe eilt, fällt durch die Hand Hektors, des Führers der Trojaner. Der folgende Tod Hektors im Zweikampf mit Achill deutet den bevorstehenden Fall Trojas an. Doch dieser gehört — wie auch der Tod Achills — nicht mehr zur Ilias-Handlung. Mit dem Begräbnis des Patroklos auf griechischer und der Trauer um Hektor auf trojanischer Seite findet die Dichtung ihren Abschluß, der durch den Bittgang des greisen Priamos zu Achill und mit der Auslösung des Leichnams seines Sohnes Hektor einen versöhnlichen, menschlich ergreifenden Akzent erhält. Als Zeichen einer beginnenden humaneren Haltung, die durch das allenthalben sich offenbarende harte Heroentum durchscheint, verdient diese Szene besondere Beachtung. Zwar stehen Achill, Hektor und die anderen herausragenden Helden im Vordergrund des Geschehens, doch gilt Homers Anteilnahme auch den in der Stadt lebenden Menschen, insbesondere den Frauen und Kindern, die das bittere Los der Sklaverei fürchten. Die „Odyssee" mit rund 12000 Versen ist in ihrem Aufbau nicht minder kunstvoll, aber verschlungener. Ihre Handlung verläuft zunächst in zwei Strängen: Die Telemachie (Buch 1—4) zeigt das Treiben der um Penelope, die Frau des Odysseus, werbenden Freier an dessen Hof in I t h a k a und berichtet von der Fahrt des Odysseussohnes Telemachos nach Pylos und Lakedaimon, wo er von Nestor bzw. Menelaos Kunde über seinen auf der Heimfahrt von Troja verschollenen Vater einholen will. Es folgen die Irrfahrten des Odysseus (Buch 5—12). Eine Reihe wunderreicher Abenteuer hören wir dabei in einer rückblickenden IchErzählung aus Odysseus' Munde selbst; sein Aufenthalt am Hofe des Alkinoos auf der Insel der Phäaken liefert den Rahmen dazu. I m 13. Buch werden diese beiden Handlungsstränge vereinigt: Vater und Sohn begegnen sich bei ihrem treuen Sauhirten Eumaios. Die folgenden Bücher erzählen dann vom Racheplan des Odysseus bis zur Ermordung der Freier. Jedoch auch in der „Odyssee" klingt das Epos nicht mit blutiger Vergeltung aus, was freilich in einer älteren Fassung so gewesen sein mag, sondern hier steht am Ende ebenfalls ein versöhnlicher Zug, der nach vollzogener Rache den Ausblick in ein friedvolleres, von Arbeit erfülltes Dasein eröffnet: Odysseus r u f t zur Ordnung der Verhältnisse in I t h a k a auf. K a u m eine andere Dichtung h a t auf die Nachwelt bis in unsere Zeit einen so nachhaltigen Eindruck gemacht wie die homerischen Epen. Freilich h a t wohl auch keine andere Dichtung der Forschung so viele Probleme gestellt wie diese.

ERÜHE3 GRIECHENLAND (1000-700 y. u. Z.)

^»i«»«

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Homer

Schon die Person Homers selbst ist seit alters umstritten. Auch, die moderne Philologie sah in dem Namen „Homer" (hömeros = Bürge, Geisel) vielfach eine bloße Fiktion oder einen Sammelnamen für viele Rhapsoden. Doch in den antiken Nachrichten über das Leben Homers dürfte ein historischer Kern enthalten sein. Die uns vorliegende Homerlegende stammt aus späterer Zeit; die 7 Biographien und der „Wettstreit zwischen Homer und Hesiod" sind nicht vor der römischen Kaiserzeit entstanden, doch schimmert in ihnen noch älteres Quellengut durch. Die antiken Zeugnisse lassen nun vermuten, daß die Lebenszeit Homers ins 8. J h . fiel und daß er aus dem Raum von Smyrna stammte. I n den zahlreichen Städten, die sich um die Ehre stritten, Homers Geburtsort zu sein, mag er zeitweilig gelebt haben, insbesondere in Chios, wo sein eigentliches Wirkungsfeld gewesen zu sein scheint und wo noch zu Lebzeiten Piatons, um 400, die Rhapsodengilde der „Homeriden", Pfleger und Hüter der homerischen Epik, ihren Sitz hatte. Die Nachricht von der Blindheit Homers gehört wohl ins Reich der Legende, vielleicht aus dem Bericht von der Blindheit des phäakischen Sängers Demodokos in der Odyssee (8, 64) oder des „blinden Sängers aus Chios" im „homerischen" Hymnos auf den delischen Apollon (V. 172) herausgespoimen. Nicht nur fast alle frühe epische Dichtung wurde im Altertum mit dem Namen Homers verbunden, sondern auch die sog. homerische Hymnendichtung — Lieder auf Götter, die zum größten Teil in späterer Zeit als Proömien zu epischem Vortrag verfaßt worden sind. Vor allem aber galten die „Ilias" und die „Odyssee" als Werke Homers. Doch schon in der Antike selbst wurde die Auffassung vertreten, daß nicht beide Werke von ein und demselben Dichter stammen könnten. Wenn nun heute die Ansicht überwiegt, daß allein die „Ilias" das Werk Homers sei, so ist dennoch hier „Homer" bzw. „homerisch" gewissermaßen exemplarisch für beide Epen gebraucht. Man muß sich dabei freilich der Unsicherheit nicht nur des Namens und der Person, sondern auch der Anteile des großen Dichters an den uns vorliegenden Epen bewußt sein. ,Homerische Widersprüche innerhalb der einzelnen Epen haben in der modernen Frage" Philologie zu heftigen Diskussionen geführt. Die „homerische Frage", namentlich seit Friedrich August Wolf 1795 in den Vordergrund gerückt, hat im wesentlichen drei Interpretationsrichtungen hervorgebracht: die analytische, die den Anteil mehrerer Verfasser annimmt; die unitarische, die in den Epen, wenigstens in ihrer letzten Gestalt, das Werk eines einzelnen Dichters sieht; und schließlich die neoanalytische, die, ohne die einheitliche letzte Gestaltung von „Ilias" und „Odyssee" in Abrede zu stellen, Vorbilder für einzelne Szenen und Episoden der homerischen Epen in einer vorhomerischen Fassung des gesamten epischen Zyklus nachzuweisen sucht. Jede dieser Richtungen hat — trotz der Unterschiedlichkeit der Standpunkte — viel zum besseren Verständnis der Dichtung und der ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse beigetragen. So nähern sich denn auch heute die Gegenpositionen einander an, zumal der Nachweis von Schichten, 64

10 Kasematten von Tiryns

M-

11 Löwentor von Mylcene

12

Linear-B-Tafel

IS Kriegervase aus Mykene

14/15 Attische Vasen zwischen Submykenisch

16 Attisch 1 ;

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