Körper mit Geschichte: Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung 3515077979, 9783515077972

Der menschliche Körper war lange Zeit nur von Interesse, weil er eine beobachtbare abhängige Größe abgab, nicht weil ihm

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German Pages 345 [349] Year 2000

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
GESCHICHTE DES KÖRPERS ODER KÖRPER MIT GESCHICHTE?
KATEGORIEN UND KONZEPTE
INSTITUTIONALISIERUNGEN
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE
ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
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Körper mit Geschichte: Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung
 3515077979, 9783515077972

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Clemens Wischennann I Stefan Haas (Hrsg.) Körper mit Geschichte

Studien zur Geschichte des Alltags

Herausgegeben von Hans Jo Teuteberg Peter Borscheid Clemens Wischermann

Band 17

Clemens Wischermann I Stefan Haas (Hrsg.)





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Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2000

Umschlagabbildung: "Archaische Gegebenheiten" von Paul Bemo Zwosta (1995, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Körper mit Geschichte: der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung / Clemens WischermannnlStefan Haas (Hrsg.). - S,tuttgart : Steiner, 2000 (Studien zur Geschichte des Alltags; Bd. 17) ISBN 3-5 15-07797-9

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ISO 9706 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzuläs­ sig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2000 by Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Druck: Druckerei Proff, Eurasburg. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Clemens Wischermann Geschichte des Körpers oder Körper mit Geschichte?

9

Kategorien und Konzepte

Franz Breuer Wissenschaftliche Erfahrung und der Körper/Leib des Wissenschaftlers. Sozialwissenschaftliche Überlegungen

33

Petra Muckel Sprache, Körper, Erinnerung. Wechselwirkungen zwischen Sprache und Körper

51

Katja Patzel-Mattern Schöne neue Körperwelt? Der menschliche Körper als Erlebnisraum des Ich

65

Stefan Haas Vom Ende des Körpers in den Datennetzen. Dekonstruktion eines postmodernen Mythos

85

Institutionalisierungen

Marcus Beting Der Körper als Pergament der Seele. Gedächtnis, Schrift und Körperlichkeit bei Mechthild von Magdeburg und Heinrich Seuse

109

Thomas Scharf! Die Körper der Ketzer im hochmittelalterlichen Häresiediskurs

1 33

6

Inhaltsverzeichnis

Kerstin Rehwinkel Kopflos, aber lebendig? Konkurrierende Körperkonzepte in der Debatte um den Tod durch Enthauptung im ausgehenden 18. Jahrhundert

151

Gesa Kessemeier "Die Königin von England hat keine Beine". Geschlechtsspezifische Körper- und Modeideale im 19. und 20. Jahrhundert

173

Katja Patzet-Mattem "Volkskörper" und "Leibesfrucht". Eine diskursanalytische Untersuchung der Abtreibungsdiskussion in der Weimarer Republik

191

Frank Becker Der Sportler als "moderner Menschentyp". Entwürfe für eine neue Körperlichkeit in der Weimarer Republik

223

Ste/an Zahlmann Vom Bonvivant zum Ironman. 100 Jahre Männerkörper in der deutschen Konsumwerbung

245

Ulrike Thoms Körperstereotype. Veränderungen in der Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit in den letzten 200 Jahren

281

Ste/an Zahlmann Vom Wir zum Ich. Körper und Konfliktkultur im Spielfilm der DDR seit den 1960er Jahren

309

Auswahlbibliographie

337

Über die Autorinnen und Autoren

343

Vorwort "Um Grieche zu sein, sollte man keine Kleider haben. Um mittelalterlich zu sein, sollte man keinen Körper haben. Um modem zu sein, sollte man keine Seele haben." Oscar Wilde

Natürlich gibt es viele historische Bücher, in denen der Körper des Menschen in irgend­ einer Fonn eine Rolle spielt: Die historische Demographie hat ihn in allen erfassbaren Varianten gezählt und klassifiziert; die Anthropometrie hat ihn vennessen; die Medi­ zingeschichte hat ihn untersucht und geöffnet; die Ernährungsgeschichte und die Ge­ schichte des Wohnens haben den Wandel seiner existentiellen Bedürfnisbefriedigung untersucht; die Geschichte der Sozialdisziplinierung hat seine Überwachung und An­ passung studiert usw. Dennoch war der Körper lange Zeit nur von Interesse, weil er eine beobachtbare abhängige Größe abgab, nicht weil ihm eine Eigenmächtigkeit zugespro­ chen wurde. Die Unhintergehbarkeit des menschlichen Körpers als Ort der Selbst- und Weltdeutung postuliert hingegen mehr: nämlich dass der menschlichen Körper eine zentrale Kategorie menschlicher Sinndeutung und Handlungsorientierung ist. Die Chiff­ re Körper steht also auch für mehr als Geschlechtlichkeit - wie sie zu füllen wäre, soll in diesem Sammelband unter Einbeziehung von Anstößen aus der Geschlechtergeschichte, der Historischen Verhaltensforschung, der Historischen Anthropologie und der Psycho­ logie diskutiert werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung des geschichtlichen Wan­ dels der Körperkonzepte, in denen sich das zeitgebundene "Wissen" (verstanden als in der Gesellschaft umlaufender Legitimationsvorrat des Umgangs mit dem Körper) ver­ dichtet. Institutionalisierung, Weitergabe und Wandel von Körpervorstellungen treten dann in eine Zentralstellung menschlicher Geschichte. "Man könnte die ganze Geschichte der Ethik unter dem Aspekt der Rechte des Kör­ pers und der Beziehung unserer Körper zur Welt neu lesen," meint Umberto Eco.1 Dass dies nicht nur für die Geschichte der Ethik, sondern für die Geschichte der Menschen im allgemeinen gilt, war die leitende Ausgangshypothese zu unserem Projekt. Hierzu fand sich ein Kreis vor allem jüngerer Historiker/Innen und Psychologen/Innen zusam­ men, die sich an der Universität Münster in mehreren Workshops, zum Teil im schönen Landhaus der Universität in Rothenberge, zusammenfanden, Konzepte und erste Texte diskutierten, die schließlich in dieses Buch mündeten. Unser Dank gilt Frau Monica Schuster und Herrn Norbert Liebscher für vielfaltige Unterstützung bei der Erstellung der technischen Textvorlage sowie der Manuskriptkorrektur und schließlich dem Stei­ ner Verlag und Herrn Vincent Sieveking für die engagierte Betreuung. Münster / Konstanz im Januar 2000

DIE ZEIT, Nr. 45 vom 5.1 l . 1 993, S. 6 1 .

Stefan Haas Clemens Wischennann

Geschichte des Körpers oder Körper mit Geschichte? Clemens Wischermann

1. Die Problemstellung: Der Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung Der Untertitel unseres Buches weist der Orientierungsfunktion des Körper eine zentrale Stellung zu. Zur Debatte steht also nicht die physische Existenz des Körpers, sondern Geschichte und gegenwärtige Wirksamkeit "imaginierter Körperlichkeit". Körper ist in unserem Zusammenhang also keine Seinskategorie in dem Sinne von etwas, das dem Objekt selbst anhaftet, sondern Kategorie von etwas, das nicht in einer bestimmten Ordnung usw. selbst gegeben, also abhängig von der Fragestellung ist. Auf wie viele "Körper" wir dabei treffen werden, ist eine höchst umstrittene Frage, auf die unter­ schiedliche wissenschaftliche Ausrichtungen und Theorien die unterschiedlichsten Antworten geben. Doch sie kreisen fast alle um Zugangsweisen wie Körperwahmeh­ mung, Körpererlebnis, Körperbild. Was damit gemeint ist, können einführend drei bei­ spielhafte Antworten aus der Ethnologie, der Wissenssoziologie und der Philosophie umreißen. Mary Douglas hat als Ergebnis ihrer ethnologischen Studien postuliert, es gebe zwar kein allgemein menschliches, kulturunabhängiges Symbolsystem, aber es komme "für uns darauf an, die Tendenzen innerhalb des Symbolsystems und innerhalb des sozialen Sys­ tems bestimmter Gesellschaften zu charakterisieren und miteinander in Bezug zu setzen. Am leich­ testen erkennbar unter diesen Tendenzen ist diejenige, die man als die ,Regel der Distanzierung vom physiologisch Ursprünglichen' bezeichnen könnte. Ich habe in Purity and Danger gezeigt, dass der Organismus als System ein Analogon des sozialen Systems bildet, das (sofern keine be­ sonderen Umstände dagegen sprechen) auf der ganzen Weit einheitlich verwendet und verstanden wird. Unser Körper ist also die geeignete Grundlage eines natürlichen Syrnbolsystems." 1 Etwas weiter an gleicher Stelle präzisiert sie diesen Gedanken:

"Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physi­ schen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest. Zwischen dem sozialen und dem physischen Körpererlebnis findet ein ständiger Austausch von Bedeutungs­ gehalten statt. ,,2

Im ,Körper als soziales Gebilde' schlägt Douglas eine Perspektive vor, die der von der philosophischen Anthropologie herkommenden Perspektive des Körperlichen in der Wissenssoziologie Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns recht nahe kommt: "Die anthropologischen Konstanten machen die soziokulturellen Schöpfungen des Menschen mög­ lich und beschränken sie zugleich. Die jeweilige Eigenart, in der Menschhaftigkeit sich ausprägt, wird umgekehrt aber bestimmt durch eben diese soziokulturellen Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre je­ doch: der Mensch macht seine Natur - oder, noch einfacher: der Mensch produziert sich selbst. [ ... ] Einerseits ist der Mensch sein Körper, ganz wie andere animalische Organismen. Andererseits hat er einen Körper. Das heißt, dass der Mensch sich selbst als Wesen erfahrt, das mit seinem Körper nicht identisch ist, sondern dem vielmehr dieser sein Körper zur Verfügung steht. Die menschliche I

2

Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, FrankfurtlM. 1 98 1 , S. 2. Douglas ( 1 98 1 ), S. 99.

10

Clemens Wischennann Selbsterfahrung schwebt also immer in der Balance zwischen Körper-Sein und Körper-Haben, ei­ ner Balance, die stets von neuem wiederhergestellt werden muss." 3

Körpersymbolik und Körpererfahrung reduziert in philosophischer Sicht Ferdinand Fellmann auf die Realität des Körperbildes als grundlegende Orientierungsfunktion des Menschen: "In der Erfahrung des eigenen Körpers ist der Mensch auf ein Bild angewiesen, da er nur Teile sei­ nes Körpers direkt wahrnimmt. Wir sehen lediglich die Ausläufer unserer Extremitäten, das Zent­ rum bleibt unsichtbar und ist doch ständig präsent. [ ... ] Die Präsenz des eigenen Körpers in der Unvollständigkeit seiner Gegebenheitsweise bewirkt, dass wir das Körperbild nicht als Abbild von etwas erfahren. Die Realität des Körperbildes liegt vielmehr in seiner Funktion. Mit seiner Hilfe orientieren wir uns in der raum-zeitlichen Welt. Nur aufgrund des Körperbildes sind wir in der La­ ge, zwischen rechts und links, oben und unten zu unterscheiden. [ ... ] fiir den Menschen [ ... ] ist das Körperbild unerlässlich, es bietet die elementaren Maße seiner Selbst- und Welterfahrung. Seine orientierungspraktische Funktion kann das Körperbild aber nur deshalb ausüben, weil es nicht ge­ genständlich ist. Weit davon entfernt, ein Bild von uns selbst zu sein, ist es die Verkörperung unse­ rer selbst. Es ist damit durch und durch Perspektive, Koordinatensystem, das mit verschiedensten Gegenständen ausgefiillt werden kann, die dann in Beziehung zu uns treten, die wir erfahren. Inso­ fern fungiert das Körperbild als Medium zwischen Geist und Welt, zwischen innen und außen.'"

Körpersymbolik, Körpererfahrung, Körperbilder, das sind die Schlüsselworte zum Ver­ ständnis der sich seit einigen Jahren abzeichnenden kulturwissenschaftlichen Debatte um den Körper, an der sich zunehmend auch die Historiker/innen beteiligen. Einige von ihnen betrachten Körpergeschichte als Weiterführung und Erweiterung der mittlerweile weithin etablierten Geschlechtergeschichte, andere warnen vor der Gefahr ihrer Entpoli­ tisierung im Zeichen einer vermeintlich ,ganzheitlichen' Körpergeschichte. In den hier­ bei bezogenen Positionen schlagen sich nicht zuletzt auch Generationenverschiebungen nieder, die die Problemwahmehmung vor allem der jüngeren Generation an der Jahrtau­ sendwende weit von der 68er Generation entfernt hat. Nicht zuletzt eröffnet die Debatte um die Körpergeschichte einen neuen Schauplatz für die Individualisierungsdebatte5, denn Körper ist zunächst immer nur der eigene. Aber damit befinden wir uns schon in den Strittigkeiten.

2. Lesemöglichkeiten des Körpers Körpergeschichte mag zwar noch längst kein Standardthema der Geschichtswissen­ schaft sein, doch gerade unter jüngeren Historikerinnen und Historikern trifft dieser Forschungszugang auf ein vitales Interesse. Dabei ist weiterhin unklar, was denn eine Geschichte des Körpers untersuchen und erklären will oder kann. Ein Rundblick über die jüngste Literatur zeigt mehrere Facetten: Einmal stammen viele Anstöße zur Be­ schäftigung mit der Geschichte des menschlichen Körpers aus anderen Disziplinen als der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne. Zum anderen bildet der Körper oft einen mehr oder minder explizit herausgestellten Aspekt der Historisierung der Erkenntnisin3 4 5

Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissens soziologie, FrankfurtlM. 1 969, S. 5 1-53. Ferdinand Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. Henneneutik nach Dilthey, Reinbek bei Ham­ burg 1991, S. 63. Vgl. Clemens Wischennann: Kollektive versus eigene Vergangenheit, in: ders. (Hrsg.): Die Legi­ timität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1 996, S. 9-17.

Geschichte des Körpers oder Körper mit Geschichte?

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teressen, wie sich das in der häufigen Beirugung "historische" zur Disziplinbezeichnung ausdrückt (man denke an die Historische Anthropologie, die Historische Demographie, die Historische Psychologie, die Historische Anthropometrie, die Historisierung der Ernährungswissenschaft, die Ansätze einer Renaissance der Physiognomik u.a.). Zum anderen waren die Anfange einer Körpergeschichte im engeren Sinne oft eine Ge­ schichte von Körpern, d.h. Körper wurden als Untersuchungsobjekte ,entdeckt', und meist erst einmal mit dem "bewährten" historiographischen Instrumentarium unter­ sucht, waren somit "Gegenstand" der Forschung wie vieles anderes auch. Noch konnte man nicht von einer körpergeschichtlichen Perspektive im engeren theoretischen Sinne sprechen, auch wenn die Alltags- und Kulturgeschichte seit den 80er Jahren viele Ver­ bindungslinien eröffnete.6 Die entscheidende Zuspitzung brachte rur die Historiker die Auseinandersetzung mit der sich entfaltenden Frauen- und Geschlechtergeschichte. 7 Hier flossen wissenschaftliche, politische und institutionelle Motive ineinander. Hier wurde allmählich ein Weg von Frauen und Männern zu einem integrativ verstandenen Körperbegriff sichtbar. Die Geschichtswissenschaft gewann, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen im Rahmen der Gender Studies, Anschluss an den Stand der theoretischen Diskussion in den Nachbarfächern.8 Sie begann nach ihrem eigenen Beitrag zur Geschichte des Körpers zu fragen und eigene Untersuchungsent­ würfe vorzulegen. Wie die jüngsten Publikationen zeigen, stammen die theoretischen Grundlagen noch immer zumeist aus anderen Disziplinen, doch die Eigenständigkeit in Konzeption und Operationalisierung nimmt rasch zu. Ein gemeinsames Ziel all dieser jüngsten Bemühungen ist, von einem Körperbe­ griff, der (wie zuweilen Erinnerung und Gedächtnis) zu einem uferlos dehnbaren Be­ griff rur fast alles in der Welt aller Zeiten und Kulturen9 avanciert ist, wegzukommen. Deshalb wird im folgenden kein inhaltlicher Überblick der Forschungsvielfalt gegeben: Vielmehr werden nur einige wenige ausgewählte "Lesemöglichkeiten" des Körpers vorgestellt. Ihre Auswahl geht davon aus, dass die aktuelle Debatte von der Auseinan­ dersetzung um den Primat von Diskurs oder Erfahrung geprägt ist.lO Diese wiederum kreist um den alles beherrschenden Fluchtpunkt der Geschlechterdifferenz, während 6

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Vgl. Peter Borscheid: Plädoyer filr eine Geschichte des Alltäglichen, in: ders.lHans J. Teuteberg (Hrsg.): Ehe. Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1 983, S. 1 -14; Hans J. Teuteberg: "Alles das - was dem Dasein Farbe ge­ geben hat": Zur Ortsbestimmung der Alltagsgeschichte, in: Othmar PickllHelmut Feigl (Hrsg.): Methoden und Probleme der Alltagsforschung im Zeitalter des Barock, Wien 1 992, S. 1 1 -41 . Ausfilhrlicher zur Rolle des Körpers in der Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte vgl. den Beitrag von Katja Patzel-Mattem: Schöne neue Körperwelt? Der menschliche Körper als Erlebnisraum des Ich, in diesem Band. Vgl. zuletzt Julika Funk/Comelia Brück (Hrsg.): Körper-Konzepte, Tübingen 1999 (entstanden aus der Zusammenarbeit des Frauenrates der Universität Konstanz und des dortigen SFB 5 1 1 "Litera­ tur und Anthropologie"); Körper macht Geschichte. Geschichte macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, hrsg. vom Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte, Bielefeld 1999; Claudia ÖhlschlägerlBirgit Wiens (Hrsg.): Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin 1997 (Arbeiten aus einem Münchener Graduiertenkolleg); Philipp SarasiniJakob Tanner (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissen­ schaftlichung des Körpers im 1 9. und 20. Jahrhundert, FrankfurtJM. 1 998. Fragments for a History of the Human Body, edited by Michel Feher with Ramona Naddaff and Nadia Tazi, 3 Vol., New York 1989; darin Vol. 3: Barbara Duden: A Repertory of Body History, p. 470-554. Vgl. dazu zuletzt Heiko Stoff: Diskurse und Erfahrungen. Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der neunziger Jahre, in: 1999. Zeitschrift filr Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1 4 ( 1999), S. 142-160.

C1emens Wischennann

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alternative Kategorien wie Alter/Generationen oder Ethnien rur körpergeschichtliche Konzepte noch kaum entwickelt sind.

a. Kollektivkörper Anders als die meisten Ansätze der Körpergeschichte ist diese Lesart des Körpers mit Bezug auf die politische Gesellschaftsgeschichte entwickelt worden. Nach Rogozinski folgt sie diesem Hauptgedankengang: "Seit den Griechen haben menschliche Gemein­ schaften, Bürgerschaft oder Königtum, Kirche oder Republik, sich stets in der Gestalt eines Kollektivkörpers dargestellt, in den die einzelnen Individuen als bloße Glieder eingeordnet sind."ll Noch in der Frühen Neuzeit habe - Lumme folgend"die körperzentrierte Wahrnehmung wesentlich auf tradiertem Analogiedenken [beruht], wonach die Grammatik des Leibes mit der Grammatik des Kosmos korrespondierte. Dem menschlichen Organismus kam in diesem WeItbild die Bedeutung eines erstrangigen Kommunikationsträgers zu: Seine Zeichen verwiesen auf die Identität des Subjekts und die Identität der Gesellschaft. Erlaubte die Interpretation der äußeren Symbole eine soziale Fremd- und Selbsteinordnung, so detenninierte nach humoralpathologischer Naturkunde die Konsistenz der Phlegmen im Körperinnem eben die­ ses äußere Erscheinen, aber auch Talente, Charaktereigenschaften und den Gesundheitszustand des Individuums. Der Leib als Mikrokosmos stand also in direktem Verhältnis zum universalen, göttli­ chen Makrokosmos."12

Dieses Körpermodell habe dann das moderne Naturrecht durch den Gesellschaftsvertrag als freiwilligem Zusammenschluss cer Individuen ersetzt. Doch dabei habe es sich nur um eine vordergründige Desinkorporierung, symbolisiert durch das Köpfen des engli­ schen und französischen Königs, gehandelt, der dann wieder eine Reinkorporierung durch die Übertragung des Kollektivkörpers etwa auf gesetzgebende Versammlungen gefolgt sei. Von Aristoteles bis Kant und Hegel habe die Logik behauptet: "Die Synthese des Gesamtkörpers fuhrt also zur Hypostase der Totalität, bei der die ideelle 'Ver­ bindungsweise der , Teile' als ein reelles Prinzip erscheint und die immanente synthetische Einheit des Körpers als transzendente Entität dargestellt wird, die ihm seine Fonn von außen aufprägt. Das Ganze setzt sich nunmehr als gegenüber seinen Teilen früher und vorrangig, als das herrschende Prinzip, das die Teile hervorbringt, sie vereinigt und in ihrer Koexistenz erhäIt."13

Auf diesem Fundament der Leibgemeinschaft bauen nach Rogozinski die diversen Ge­ stalten des politischen Körpers auf. In der Form eines städtischen Gemeinwesens oder einer Nation wiederhole sich die Hypostasierung des totalen Körpers, seine ungeteilte Einheit, seine autarke Geschlossenheit und die Hierarchie seiner Organe.14 Doch der Staatskörper der Moderne baue niemals direkt auf dem Leib, sondern immer schon auf dem Körper als "von ihrem leiblichen Substrat losgelösten und vergegenständlichten körperlichen Konstellationen"15 auf und vergesse den Leib. 11

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Jacob Rogozinski: "Wie die Worte eines berauschten Menschen..." Geschichtsleib und politischer Körper, in: Herta Nagl-Docekal (Hrsg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische De­ batten, Frankfurt/M. 1996, S. 333-372, hier S. 335. Christoph Lumme: Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 1996, S. 125. Rogozinski (1996), S. 349. Ebd., S. 353. Ebd., S. 355.

Geschichte des Körpers oder Körper mit Geschichte?

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Die Hypostasierung einer sozialen Gruppe zu einem unteilbaren und Kontinuität versprechenden Körper kann als Leitschiene einer solchen Orientierung von Körperge­ schichte bezeichnet werden. Ihre Umsetzung findet sich am ehesten in Studien zur mit­ telalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte im Zeichen von Herrschaft und Religi­ on.16 Thomas Scharff bindet so den hochmittelalterlichen Häresiediskurs in eine Kör­ pergeschichte als Geschichte der Körpermetaphorik ein: "Die Art, in welcher sie den Körper metaphorisch besetzt, charakterisiert - so steht zu erwarten die Gesellschaft, die diese Besetzung vornimmt. Eine solche Zuordnung geschieht in Diskursen, in denen die Metaphern eine Rolle spielen. Gerade die Körpermetaphorik ist in mittelalterlichen Dis­ kursen stark präsent und wird [...] in verschiedenen Bereichen wie Herrschaft, Königtum und Reli­ gion auch bereits untersucht, ohne dass diese Arbeiten in den meisten Fällen den Anspruch erhe­ ben, Körpergeschichte zu treiben."I7

Wenige Arbeiten verwenden aber bislang einen vergleichbaren Ansatz rur die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im Zeichen der Nation. Kaschuba etwa beschreibt die "Verkörperung der Nation" als einen Prozess, in dem die Nation eine "fast anthropologisch zu nennende Statur" erlangte. 18 Baxmann spitzt solche Überlegungen zur Imagination der Nation an gleicher Stelle auf die These zu: "Die nationale Akkulturation der Massen zielte darauf ab, das Nationale im Tiefenraum der Ge­ sellschaft zu verankern. Sie rekurrierte vor allem auf das Bild des Körpers und auf Körperprakti­ ken, wobei Material aus ganz heterogenen Traditionen zur Inszenierung des ,fait national' (,Natio­ nalen') zusammengebunden wurde. Die Körpererfahrung bildet traditionell ein grundlegendes Deutungsschema für die Selbst- und Fremdwahmehmung von Gesellschaften. Sie ist symbolischer Ausdruck der Vorstellungen einer Gesellschaft von ihren Ursprüngen, Bindungen, Gefahrdungen und kollektiven Sehnsüchten, aber auch ihrer Freund- und Feindbilder."19

Damit wird zugleich eine Interpretationslinie rur die Katastrophen des 20. Jahrhunderts angeboten, die in Deutschland über den "Volkskörper" zur "Reinheit der Rasse" ruhrte und die sich im Lichte solcher und verwandter Überlegungen als Wiederherstellungs­ versuche eines scheinbar verlorenen "einen Körpers" zeigen: "Alle Versuche, ,den Körper wiederherzustellen', die Gemeinschaften, die von der unaufhaltsamen Bewegung der Desinkorporierung mitgerissen werden, wieder zu inkorporieren, münden immer nur in instabilen Konfigurationen. Sie fiihren zu phantasmatischen Quasi-Körpern, denen ständig die Auflösung droht und die wieder von der alten Furcht vor der Zerstückelung, dem alten Hass gegen den Fremden übermannt werden. Das ist der Nährboden fiir den Totalitarismus als Versuch, durch ein Band des Todes die prekäre Einheit eines in Auflösung begriffenen Körpers wiederher­ zustellen.,,20

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19 20

Hinzuweisen ist hier vor allem auf Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, München 1994. Thomas Scharff: Der Körper der Ketzer im hochmittelalterlichen Häresiediskurs, in diesem Band. Vgl. Wolfgang Kaschuba: Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion ,,nationaler" Alltagswelt, in: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Etienne Franc;ois, Hannes Sigrist, Jakob Vogel, Göttingen 1995, S. 291-299, hier S. 292. lnge Baxmann: Der Körper der Nation, in: Nation und Emotion (1995), S. 353-365, hier S. 354 Rogozinski (1996), S. 366.

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Clemens Wischennann

b. Der Körper als Leerstelle In Franz Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie" heißt es: "Wie lautet denn das Urteil?" fragte der Reisende. "Sie wissen auch das nicht?" sagte der Offizier erstaunt und biss sich auf die Lippen... Dann zog er eine kleine Ledennappe hervor und sagte: "Unser Urteil klingt nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben. Diesem Verurteilten zum Beispiel" - der Offizier zeigte auf den Mann - "wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!" ... Der Reisende hatte Verschiedenes fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes nur: "Kennt er sein Urteil?" "Nein," sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: "Er kennt sein eigenes Urteil nicht?" "Nein", sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlangte er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann: "Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib".21

Diese Stelle verdeutlicht zentrale Antriebe, die den Körper als Leerstelle eines ihm ge­ waltsam eingeschriebenen kulturellen Wissens in den Blick nehmen und die sich in der Regel auf die Rezeption der frühen Arbeiten Michel Foucaults22 berufen: "Disziplinie­ rende Zugriffe wirkten dabei im direkten Zusammenhang mit diskursiven Elementen wie , Schönheit', ,Gesundheit' und ,Natürlichkeit'. Körperkulturelle Praktiken, medizi­ nische Visualisierungsverfahren und die Taylorisierung des arbeitenden Körpers bilde­ ten eine nicht immer homogene, wohl aber dynamische Allianz mit eugenischen Uto­ pien, biomedizinischen Interventionen und staatlicher Bevölkerungspolitik.'