Kristalle, Elektronen, Transistoren : Von der Gelehrtenstube zur Industrieforschung 3499177250


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German Pages [252] Year 1986

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Kristalle, Elektronen, Transistoren : Von der Gelehrtenstube zur Industrieforschung
 3499177250

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Michael Eckert/Helmut Schubert

Kristalle, Elektro­ nen Transistoren Von der Gclehrtenstube zur Industrieforschung

Zu der Buchreihe «Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik» Naturwissenschaftliche und technische Gegenstände sind nicht eindeutig, sondern vieldeutig. Ihre humanen, sozial- und geistesgeschichtlichen Beziehungen zeigen sich nicht in Funktionsbeschreibungen. Ebenso sagt die rein fachliche Darstellung der Geschichte von Naturwissenschaft und Technik nichts aus über deren gesell­ schaftliche, wirtschaftliche und allgemein geistesgeschichtliche Voraussetzungen und über die sich ergebenden Konsequenzen. Demgegenüber versucht die gemein­ sam vom Deutschen Museum und dem Rowohlt Taschenbuch Verlag heraus­ gegebene neue Buchreihe Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik) auch jene Bezüge, welche die Fachgebiete übergreifen, zu beschreiben und durch Bilder zu veranschaulichen. Die Bände richten sich an Lehrer und Ausbilder; doch sind sie so gestaltet, daß jeder interessierte Laie sie verstehen kann. Es zeigt sich, daß der Weg durch die Geschichte nicht eine zusätzliche Erschwerung des Lehr- und Lernstoffes bedeutet, sondern das Verständnis der modernen Naturwissenschaften und der Technik erleichtert. Die Autoren: Michael Eckert, geb. 1949, promovierte mit einem Thema aus der theoretischen Biophysik, Helmut Schubert, geb. 1950, mit einem Thema aus der experimentellen Festkörperphysik. Beide erwarben ihre wissenschaftshistorischen Kenntnisse am Deutschen Museum im Rahmen eines internationalen Forschungsvorhabens zur Geschichte der Festkörperphysik. Gegenwärtig arbeiten sie an einem neuen Projekt über den Wissenschaftstransfer in Kernphysik und Elektronik, ebenfalls am Deutschen Museum.

Michael Eckert/Helmut Schubert

Kristalle, Elektronen, Transistoren Von der Gelehrtenstube zur Industrieforschung

Deutsches Museum

Rowohlt

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Die Buchreihe zur Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik entstand im Rahmen zweier Projekte am Deutschen Museum, die vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft und der Stiftung Volkswagenwerk finanziell unterstützt wurden. Verantwortlich für die Konzeption der Reihe: Bert Heinrich, Friedrich Klemmt, Michael Matthes, Jürgen Teichmann. Die Interpretation der Fakten gibt die Meinung des Autors, nicht die des Deutschen Museums wieder. Redaktion im Deutschen Museum: Bert Heinrich, Helmuth Poll Bildredaktion: Ludvik Vesely Bildrechte: Ludvik Vesely Redaktionsassistentin: Edeltraut Hörndl

Diese Veröffentlichung wurde mit Mitteln des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft gefördert.

Originalausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, April 1986 Umschlagentwurf: Werner Rebhuhn (Gr. Bild: Frauenhofers Versuch, mit einer Vogelfeder Beugungsspektren zu erzeugen - Ölgemälde von R. Wimmer, 1895. Kl. Bild: Foto Bell-Laboratories, USA) Redaktion: Jürgen Volbeding Layout: Edith Lackmann Copyright © 1986 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Satz Times (Linotron 202) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1480-ISBN 3 499 17725 0

Inhalt Einleitung

9

Zeittafel

13

1. Physik wird zum Beruf Die Emanzipation der Naturwissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert Akademien für praktische Wissenschaften Die Ecole Polytechnique «Bildung und Ausbildung) in Deutschland Lobbies für die Wissenschaft Industrialisierung und Wissenschaft Eisen und Stahl Elektrizität Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt Die «Göttinger Vereinigung) Erste Forschungslaboratorien in der Industrie Materialforschung Forschungsförderung und Großmachtpolitik Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Einfluß des Ersten Weltkrieges Wissenschaft als Machtersatz

19 19 19 22 25 26 29 31 33 36 37 39 44 49 51 53 55

2. Die Physik des Mikrokosmos - eine wissenschaftliche Revolution Neue Einblicke in die Struktur der Materie X-Strahlen, Elektronen, Radioaktivität Wärmestrahlung Spezifische Wärme Tiefe Temperaturen: Die akademische Forschung wird groß Supraleitung Der erste Solvay-Kongreß Das Laue-Experiment Der «Quantenzauber in den Spektren) Quantenmechanik Matritzenalgebra Wellenmechanik Sommerfeld und die Metallelektronen Die Sommerfeld-Schule

61 62 63 67 70 71 75 77 79 81 84 85 87 89 90

Sommerfelds Theorie vom «freien Elektronengas» Die quantenmechanische Elektronentheorie Ausbreitung einer Theorie

93 95 97

3. Die Anfänge der Festkörperphysik 1933 Wissenschaftsemigration Festkörperphysik im Schatten der Kernphysik Bristol Festkörperphysik an einer Provinzuniversität Theorien für Metalle und Isolatorkristalle Die Pohl-Schule Pohls Weg nach Göttingen Der «Theorien kommen und gehen, Tatsachen bleiben» Modellsubstanzen für die Physik fester Körper Pohl und die Technik Verwissenschaftlichung der Industrieforschung Aufschwung in den 20er Jahren Folgen der Weltwirtschaftskrise «Grundlagenforschung» bei Bell

101 102 102 106 108 109 111 115 115 117 122 123 125 128 129 133 134

4. Krieg der Physiker Wissenschaft und Militär: ein Verhältnis mit Tradition Die Organisation der Kriegsforschung im Zweiten Weltkrieg Wissenschaftliche Kriegsvorbereitung im NS-Staat Churchills Wissenschaftsberater USA: «Big Science» als Waffe Radar Eine neue Röhre für Mikrowellen «RadLab» - Zentrum alliierter Radarforschung Ein Forschungsauftrag für Purdue: Kristalldetektoren Germanium, ein neues Detektormaterial Rüstungsforschung bei Bell Die Organisation der Radarforschung in Deutschland Detektoren für Zentimeterwellen

139 139 149 149 152 153 156 157 158 160 163 165 168 171

5. Festkörperelektronik - eine neue Industrie Bell plant eine Erfindung «Gegenstand: Festkörperphysik» Die Halbleitergruppe Der Punktkontakttransistor Vom Transistor zum Mikroprozessor

173 173 173 175 177 182

Der Transistor wird Industrieprodukt Das Bell-Symposium 1952 Neue Firmen schießen aus dem Boden Silicon Valley Die integrierte Schaltung Die MOS-Technik Mikroprozessoren

182 187 189 191 196 200 201

6. Das «Unternehmen Wissenschaft um 1900 und heute

215

Anhang Elektronen im Kristallgitter Transistorprinzip

225 225 228

Literaturverzeichnis

232

Personen- und Sachregister

239

Bildquellen

243

Einleitung Kristalle galten jahrhundertelang als der geheimnisvolle Urstoff der Welt. In den Schriften des Aristoteles wird das Universum als eine gigantische Kugel beschrieben, aufgebaut aus konzentrischen Kristallschalen. Rein­ heit und Vollkommenheit waren die Merkmale, die den Kristall vor ande­ ren festen Körpern auszeichneten. Bis heute genießen Kristalle aufgrund ihrer Transparenz und ihres Färb- und Formenreichtums eine beinahe magische Anziehungskraft für Naturliebhaber und Sammler (Abb. 1). Mit der erst im 20. Jahrhundert gelungenen Einsicht in den Aufbau der Materie, mit dem Wissen um Atome und Elektronen und mit der Ent­ rätselung kristalliner Strukturen mittels Röntgen-, Elektronen- und Neu­ tronenstrahlen verlor der Kristall seine Vorrangstellung als bloßes Ideal einer unbefleckten, reinen Materie. Heute werden in den Labors von Festkörperphysikern künstliche Kristalle - nicht aus Faszina­ tion an Farben und Formen, sondern für den technischen Einsatz in den mannigfaltigen Bauelementen der Elektronik: Transistoren, integrierte

Abb. 1: Das Bild dieses in weißen Bergkristall eingebetteten rötlichen Turmalins zierte 1984 als farbiges Großfoto einen Kalender der an­ throposophischen WELEDA-Heilmittelbetriebe. Turmalin ist das färben- und stoffreich­ ste Mineral der Erde. In der Anthroposophie wird den aus Mineralien gewonnenen Arznei­ mitteln eine besondere Heilkraft beigemessen.

Schaltkreise, Chips, Leuchtdioden und viele andere Produkte der moder­ nen Technik entstammen dieser rasant gewachsenen und weiter wachsen­ den Industriebranche. Sie verdankt ihre stürmische Entwicklung zu einem großen Teil jener Wissenschaft namens Festkörperphysik, die sich das Studium von Kristallen und Elektronen seit etwa einem halben Jahr­ hundert zu ihrem Thema gemacht hat. Der enge Praxisbezug dieser physikalischen Fachrichtung macht sie zu einem Paradebeispiel für das Studium von Wissenschaftsentwicklung un­ ter dem Einfluß technologischer Verwertung. Obwohl das intellektuelle Erbe der Physik bis zur Antike zurückreicht, ist ihre breite gesellschaft­ liche Verankerung als eigenständiger Berufszweig mit institutionell abge­ sicherten Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten eine sehr junge Ein­ richtung. Industriephysiker gibt es - abgesehen von einzelnen frühen Ausnahmen - erst seit den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als mit dem immer tiefer in die Geheimnisse der Materie eindringenden Wissen die technischen Möglichkeiten für neue Produkte und Produktionsverfahren rapide wuchsen. Die Verwendung neuer Materialien, wie zum Beispiel von Leichtmetall-Legierungen im Flugzeugbau oder besonderer Leiter­ und Isolatorsubstanzen in der Elektroindustrie, folgte der systematischen Erforschung der verschiedensten physikalischen Materialeigenschaften; das magnetische Verhalten von Transformatorenblechen gehörte ebenso zum Aufgabenbereich von Industriephysikern wie die Suche nach langle­ bigen Glühlampenwendeln. Das Grundwissen vieler moderner Industrie­ zweige, das heute in Berufsschulen und betrieblichen Ausbildungsveran­ staltungen in anwendungsbezogener Form zum Alltag beruflicher Praxis gehört, ist selbst Produkt einer Wissenschaftsentwicklung, in deren Ver­ lauf Forschung von einer elitären Liebhaberbeschäftigung zu berufsmäßi­ ger Alltagstätigkeit geworden ist. Noch bis vor rund 150Jahren hing der Fortschritt der Naturerkenntnis etwa in der Gelehrtenstube des Glas­ schleifers, Optikers, Instrumentenbauers und Mitglieds der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Josef Fraunhofer (Titelbild) von feudalem Gönnertum ab; heute sorgen staatliche Wissenschaftsministerien und In­ dustrie für die Förderung einer professionell betriebenen Naturwissen­ schaft, die mit dem Wissen um die Beherrschung der Materie den Inter­ essen von Staat und Wirtschaft als ebenso nützliche wie eifrige Dienerin nachkommt. Dieses Buch beschreibt nicht die spektakulären Episoden der Physik­ geschichte: Weder Einsteins Relativitätstheorie noch die Entdeckung der Spaltung des Atomkerns durch Otto Hahn werden be­ handelt. Vielmehr geht es in der folgenden Darstellung um Episoden, in denen die Professionalisierung und zunehmende industrielle Bedeutung der Physik sichtbar wird - insbesondere auf dem Gebiet der Festkörper­ forschung. Der neuartige Charakter der zur und (Hoch­ energiephysik). Die zahlreichen Einsatzarten von Festkörperphysikem und die vielfältigen Produkte ihrer Tätigkeit wie Transistoren und die im­ mer weiter miniaturisierten Halbleiterelemente (integrierte Schaltkreise, Chips) ermöglichen immer weitergehende Rationalisierung, Automation und Computerisierung. Der Begriff «Festkörperphysik) blieb in der Öf­ fentlichkeit jedoch nahezu unbekannt, obwohl die Resultate dieser Wis­ senschaft Auswirkungen auf das Leben jedes einzelnen haben. Hierin kommt zweifellos ein mangelndes Bewußtsein über die historischen Wur­ zeln moderner Technologien zum Ausdruck. Vor allem dort, wo der Um­ gang mit Mikroelektronik für den täglichen Berufsalltag eingeübt wird, in Schulen und betrieblichen Ausbildungsstätten, fehlt solches Wissen. Die­ ses Buch soll dem Abhilfe schaffen. Eine ausführliche Geschichte der Festkörperphysik wird gegenwärtig vorbereitet (Hoddeson u. a., 1986). Das hier vorliegende Buch stützt sich auf Arbeiten, die im Rahmen eines internationalen Projekts zur Ge­ schichte der Festkörperphysik entstanden. Die Förderung durch die Stif­ tung Volkswagenwerk und die Einsicht in unveröffentlichtes Quellenma­ terial (SSP) und Manuskripte, die von anderen Projektmitarbeitern ver­ faßt und demnächst veröffentlicht werden (Henriksen, Hoch, Keith, Teichmann), kamen dieser Darstellung zugute. Weiterer Dank sei gerich­ tet an David Cassidy, Günther Küppers und Paul Forman, die außerhalb des Projekts das Manuskript gelesen und mit fachkundiger Kritik verse­ hen haben.

Zeittafel

Zeit

Entwicklung im Bereich der Physik der festen Materie/Elektronik/lndustrieforschung

n. Chr.

Zeit

n.Chr.

1657

1662 1666 1729

1745

1780

1824

1826

Academia del Cimento (Florenz); Beginn der Gründung Wissenschaft* lieber Akademien mit praxisorien­ tierter Zielsetzung. Royal Society (London). Académie des Sciences (Paris).

«Elementa physicae» (Musschenbroek); Blüte der Instrumenten* künde und Experimentalphysik in Holland.

1735

Bergakademie Schemnitz; Beginn der Gründung von naturwissen­ schaftlich-technischen Spezial­ schulen.

1747 1750

Ecole des Ponts et Chaussées. Akademie der Wissenschaften in Berlin.

1782

Entwicklung der doppeltwirkenden Dampfmaschine (Watt). Ecole des Mines. Ecole Polytechnique; Vorbild der im 19. Jahrhundert gegründeten tech­ nischen Hochschulen.

Experimente mit der «Leidener Flasche» (Musschenbroek).

Versuche mit Froschschenkeln über «tierische Elektrizität» (Galvani).

1783 1794 1795 1819

AUgemeinhistorische, gesellschaft* liehe und technische Daten

Erste elektrische Batterie (Volta). Vorlesungen an der Ecole des Ponts et Chaussées über Festigkeit von Brücken und Elastizitätstheorie (Navier).

1822

Gründung der Gesellschaft Deut­ scher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ), der ersten wissenschaft­ lichen Lobby-Organisation.

1825

Gründung der ersten deutschen technischen Hochschule in Karls­ ruhe.

Theorie über die Umwandlung von Wärme in mechanische Energie (Carnot).

Entdeckung des «Ohmschen Geset­ zes».

13

Zeit

Entwicklung im Bereich der Physik der festen Materie/Elektronik/Industrieforschung

Zelt

Allgemeinhistorische, gesellschaft* liehe und technische Daten

1831

Gründung der British Association for the Advancement of Science (BAAS) nach dem Vorbild der GDNÄ. Zeigertelegraph ( W. Siemens). Erste Weltausstellung in London. Erste Verwendung von Bogenlam­ pen für nächtliche Bauarbeiten in Paris.

1847 1851 1854

1859

Erfindung der Spektralanalyse (Bunsen, Kirchhoff).

1861

1866 1869

1895 1897

Bessemer-Verfahren zur Optimie­ rung der Stahlherstellung. Erste funktionierende telegraphi­ sche Verbindung der Kontinente Europa und Amerika.

Entdeckung der Kathodenstrahlen (Hittorf).

1887

Gründung der Physikalisch-Techni­ schen Reichsanstalt (PIR), Beginn staatlicher Forschungsförderung für die Industrie. Vorbild für das Natio­ nal Bureau of Standards (USA), National Physical Laboratory (Großbritannien), R1KEN (Japan).

1898

Gründung der Göttinger Vereini­ gung, erstes Beispiel industrieller Forschungsförderung an Universitä­ ten.

1900

Zehnte Weltausstellung und erste internationale Physikertagung in Paris.

1909

Gründung der «Zeppelin GmbH> für den Luftschiffbau.

Entdeckung der Röntgenstrahlen. Entdeckung der Radioaktivität (Becquerel). Entdeckung des Elektrons als Teil­ chen der Kathodenstrahlen (J. J. Thomson).

um 1900 Forschungen über Wärmestrahlen ander PTR(Pringsheim, Lummer). Entdeckung des Planckschen Strah­ lungsgesetzes. Erste (klassische) Elektronentheo­ rie der Metalle (Drude; J. J. Thom­ son).

1902 1907

1908 1909

14

Gründung des Forschungslaborato­ riums der Firma General Electric Company. Zusammenfassung der Forschung bei Bell in einem zentralen Labora­ torium. Verflüssigung von Helium bei - 269 ° (Kamerlingh-Onnes). Erfindung der Leichtmetall-Legie ­ rung «Duralumin» (Wilm).

Zeit

Entwicklung Im Bereich der Physik der festen' Materie/Elektronik/Industrieforschung

1911

Entdeckung der Supraleitung (Kamerlingh-Onnes). Erster Solvay-Kongreß («offizieller» Auftakt zur Quantentheorie).

1912

1913 1914

Entdeckung der Röntgeninter­ ferenz an Kristallen («Laue-Experi­ ment»). Bohrsches Atommodell. Bau eines zentralen Forschungs­ laboratoriums der Firma Siemens.

Zeit

Allgenieinhistorische, gesellschaftliehe und technische Daten

1911

Gründung der Kaiser-WilhelmGesellschaft in Berlin.

1914

Erster Weltkrieg.

1915

Department for Scientific and Indus­ trial Research (Großbritannien). National Research Council (USA).

1916

1919

«Atombau und Spektrallinien> (Som­ merfeld).

Gründung derNotgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und der Helmholtzgesellschaft. ab 1924 Förderung von internationalem Wis­ senschaftsaustausch in den USA durch den International Education Board der Rockefeller Foundation. Expansion im amerikanischen Uni­ versitätsbereich; USA wird neue Wissenschaftsgroßmacht.

1920

Quantenmechanik (Heisenberg, Schrödinger). 1927 Nachweis der Elektronenbeugung an Kristallen (Davisson und Germer bei Bell). ab 1927 Entwicklungeinerquantenmechani­ schen Elektronentheorie der Metalle, Halbleiterund Isolatoren. 1925

1929

Wirtschaftskrise.

1933

«Machtergreifung» der Nationalsozialisten;7. April: Gesetz zur«Wiederherstellung des Benifsbeamtentums» erzwingt Emigration jüdischer und linksgerichteter Wissenschaft­ ler.

1939

Zweiter Weltkrieg.

ab 1930 Theorien über Isolatorkristalle (Universität Bristol). «Farbzentren»-Forschungbei Pohl (Universität Göttingen).

1938 1939

1940

Demonstration eines Drei­ elektrodenkristalls (Pohl, Hilsch). Randschichttheorie zur Erklärung der Halbleiter-Metall-Kontaktwirkung (Schottky). Gründung des MIT-Radlab zur Koordinierung der alliierten Radar­ forschung.

15

Zeit

Entwicklung im Bereich der Physik der festen Materie/Elektronik/Industriefonchung

1942

Entwicklung von Halbleiterdioden als Radardetektoren (Bell, Purdue).

1945

Fertigstellung des ersten elektroni­ schen digitalen Computers für balli­ stische Berechnungen (ENIAC) am MIT. Erfindung des Germanium-Punkt­ kontakt-Transistors bei Bell (Bardeen, Brattain, Shockley). Erfindung des GermaniumFlächentransistors (Shockley). Projekt der US-Navy zur Miniaturisierung elektronischer Bauelemente mit Röhrentechnolo­ gieEntdeckung der IIl-V-Halbleiter (Welker). Bell-Symposium über Transistor­ herstellung. Entwicklung des berührungsfreien Zonenziehens zur Herstellung von Reinstsilizium (Siemens, Western Electric.) Entwicklung des ersten Transistors aus Silizium bei Texas Instruments. Entwicklung von Mesatransistoren bei Bell. Zweites Bell-Symposium.

1947 1948 1950

1951

1952

1953

1954 1956

1958 1959 1960

Erfindung der ersten integrierten Schaltung bei Texas Instruments (Kilby). Entwicklung der Planartechnologie bei Fairchaild. Erfindung des MOS-Transistors.

Zeit

ADgemeinhistorische, gesellschaftliehe und technische Daten

1941

Zentrale Steuerung kriegswichtiger Forschungen in den USA durch das Office of Scientific Research and Development (OSDR).

1944

Abschuß von V2-Raketen auf Paris und London. Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

1945

1947

Raketenflugzeug erreicht erstmals die Schallgeschwindigkeit.

1950

Korea-Krieg: Steigerung militäri­ scher Forschungsausgaben in USA.

1952

Zündung der ersten Wasserstoff­ bombe.

1957

Sputnik-Schock: Der erste Start eines Satelliten durch die UdSSR löst eine abrupte Intensivierung amerikanischer Raumfahrt­ forschungen aus; Miniaturisierung der Elektronik ist Teil dieser Anstrengungen. Amerikanischer Explorer-Satellit.

1958

1961

16

Präsident Kennedy beschließt das Mondlandeprogramm «Apollo». Erster erfolgreicher Test der Inter­ kontinentalrakete Minuteman. UdSSR-Raumfahrer Gagarin als erster Mensch im All.

Zeit

Entwicklung im Bereich der Physik der festen Materie /Elektronik /Industrieforschung

Zeit

1963 1964

1965

1967

1970

1974

1975

1977

1980

Aligemeinhistorische, gesellschaftliehe und technische Daten

Erster erfolgreicher Test einer Polaris A-3 Rakete, die von U-Booten abgefeuert wird. Mit dem Eingreifen der USA in Vietnam wird dieser Kriegsschau­ platz auch zum Testgelände neuer Waffensysteme.

Konstruktion der PDP 8 bei der Firma Digital Equipment, dem er­ sten Minicomputer, der in großen Stückzahlen hergestellt wurde und unter 20000 Dollar kostete. Der zivile Verbrauch integrierter Schaltungen erreicht erstmals den militärischen.

1967

Erstes Weltraumprogramm des For­ schungsministeriums in der BRD, das unter anderem auch die Bereit­ stellung staatlicher Mittel für die Entwicklung der Elektronik vor­ sieht.

1972

«Gespräche über die Beschränkung der strategischen Rüstung» (SALT) zwischen USA und UdSSR.

1976

Erste Testflüge von «intelligenten» Marschflugkörpern (Cruise Missi­ les) , die mittels hochentwickelter Radarverfahren aufgrund vorpro­ grammierter Geländeinformationen selbständig ihre Ziele finden.

1979

Erster Start der Europa-Rakete «Ariane».

1981

Im US-Forschungs- und Entwick­ lungsetat dominiert der Anteil für militärische Projekte überden zivi­ len; der militärische Anteil steigt von 1981 -1984 von 18 auf über 30 Milliarden Dollar, während der zi­ vile im gleichen Zeitraum auf weni­ ger als 15 Milliarden Dollar absinkt.

Entwicklung des Mikroprozessors durch die Firma Intel (Hoff).

Erster programmierbarer Taschen* rechner HP-65 der Firma Hewlett Packard. Programme wurden auf kleine Magnetkarten geschrieben. Mehrere Firmen erreichen eine Packungsdichte von 100000 Kom­ ponenten auf einem Chip.

Erster Personal Computer, entwikkelt von der Firma Xerox. IBM realisiert supraleitende Schalt­ elemente aus Niob mit ultrakurzen Schaltzeiten (10 '9 Sek.).

17

Zelt

Entwicklung im Bereich der Physik der festen Materie/Elektronik/Industriefonchung

Zeit

AUgemeinhistorische, gesellschaftliehe und technische Daten

1983

Erfindung des Quiteron, einer supraleitenden Schaltung mit drei Anschlüssen, die ähnlich wie ein Transistor wirkt (IBM).

1983

1985

Erstmals werden 1 Mio. Komponen­ ten auf einem Chip integriert.

1985

US-Präsident Reagan leitet mit der «strategischen Verteidigungs­ initiative* (SD1) die Militarisierung des Weltraums ein. Von diesem Pro* gramm erwarten industrielle For­ schungsgruppen auf dem Gebiet fortgeschrittener Technologien (La­ ser, Elektronik usw.) Riesenauf­ träge. Konferenz europäischer Außenund Forschungsminister über einen europäischen HochtechnologieVerbund (EURE KA).

1. Physik wird zum Beruf Die Emanzipation der Naturwissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert beschäftigte sich der Holländer Pieter van Musschenbroek (1692-1761) mit Phänomenen wie Wärmedehnung, Phosphorenz, Magnetismus und Elektrizität - Themen, die ihn heute als Physiker oder, noch spezieller, als Festkörperphysiker ausweisen würden. Aber zu Musschenbroeks Zeiten war die Physik noch keine eigenständige Disziplin; das Berufsbild des sollte erst im 19. und 20. Jahrhundert ent­ stehen. Musschenbroeks Werdegang mag nicht untypisch für so manchen Naturforscher im 18. Jahrhundert gewesen sein: er stammte aus einer wohlhabenden Familie, die sich im Instrumentenbau einen anerkannten Ruf verschafft hatte, studierte an der Universität Leiden Medizin, prakti­ zierte als Arzt und war zeitweilig Professor für Mathematik, Philosophie, Medizin und Astronomie. Seine Experimentalvorlesungen an der Uni­ versität Leiden zogen Studenten aus ganz Europa an; die in Buchform veröffentlichten Vorlesungstexte wurden in viele Sprachen übersetzt. Musschenbroeks Schriften spiegeln den Geist der () veröffentlicht. Französische Gelehrte des 18. Jahrhunderts waren mit Unterricht und Forschung in neugegrün­ deten Spezialschulen für Militärwesen (z. B. Ecole du Génie de Mé­ zières), Straßen- und Brückenbau (Ecole des ponts et chaussées) oder für das Bergwerkswesen (Ecole des mines) betraut. Ähnliche Institutionen wurden unter merkantilistischen Vorzeichen auch in anderen Feudalstaa­ ten errichtet. In Sachsen gehörte die 1765 gegründete Bergakademie Freiberg zum Zuständigkeitsbereich des Leiters der namens Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832); in Berlin stand die auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646-1716) Initiative zurückgehende und 1750 gegründete Akademie der Wissenschaften unter Leibniz’ Motto: «Theoria cum Praxi» (Her­ mann, 1975, S. 3). Vor allem im Montanwesen wird das Verhältnis zwischen den merkan­ tilistischen Zielsetzungen und der Wissenschaft sichtbar. Bergbau, Hüt­ ten- und Münzwesen waren alte Wirtschaftszweige, die nicht erst mit der neuen Wissenschaft entstanden. Aber je mehr die Bergwerke ausgebeu­ tet, je tiefer die Stollen in die Erde getrieben, je weniger Erze im Gestein vorgefunden wurden, desto effektiver mußte die Ausbeutung vonstatten gehen, und desto wichtiger wurden verbesserte Wasserhaltung, bessere Trennverfahren, und dafür zeigten sich auch wissenschaftliche Kennt­ nisse hilfreich. Fachbücher und staatlich organisierte Ausbildung traten an die Stelle von Mund-zu-Mund-Überlieferung und Geheimnistuerei um spezifische Verfahren. «Als der Boden seine Schätze weniger freigiebig 21

als bisher spendete, wurde es klar, daß man so in der Produktenbeschaf­ fung wie auch bezüglich deren Verarbeitung neuer Methoden bedürfe und Neues nur eine mit allen Waffen der Wissenschaft ausgestattete Generation zu schaffen vermag» (Proszt, 1938, S. 11). Am Beispiel der Bergakademie Schemnitz, die 1735 in der Habsburger Monarchie unter Maria Theresia gegründet wurde, soll der Wissenschaftsbetrieb jener Zeit anschaulich gemacht werden. Ziel dieser Institution war es, «Expectanten auf einer entsprechenden theoretischen, aber gleichzeitig auch auf einer praktischen Grundlage die Ausbildung zu geben, welche sie für den Offiziersdienst in den ärari­ schen [altertümlicher Ausdruck für «staatlich)] Berg-, Hütten- und Münzwerken befähigt». Sie stand unter der «Direktion des Oberkammergrafenamtes in Selmecbänya (Schemnitz) und unter der Oberaufsicht der Hofkammer in Wien, bzw. Sr. Majestät... Die Aufnahme in die Schule hing in jedem Falle von der Genehmi­ gung der Hofkammer ab ... Die Zahl der Lehrkanzeln und der Professoren war vom Jahre 1770 an mit drei festgestellt, und zwar: a) für Mathematik, Physik, Me­ chanik; b) für Mineralogie, Chemie, Hüttenwesen; c) für Bergbaukunst». Es gab ferner eine Mineraliensammlung, in der sich - einer Schilderung von 1830 zufolge «prachtvolle Schaustücke von Gold- und Eisenstufen, Kalkspath... geognostische Stücke, besonders von Granit, Syenit, Itakolumit, Glimmerschiefer, Kieselkalke, Mergal, die schönsten Formate ... [sowie] Krystallmodelle aus Gyps» befanden. Außerdem war ein Laboratorium vorhanden, dessen Ausstattung als «wirklich mit königlicher Munifizienz» gepriesen wurde, und eine Bibliothek, in der - einem Register von 1770 zufolge - auch Musschenbroeks «Essay de Physio enthalten war. (Der erste Professor der Lehrkanzel für Mineralogie, Chemie und Hüttenwesen, Nicolaus Josef Jacquin, war Holländer und hatte selbst während seines Studiums in Leiden Musschenbroeks Vorlesungen gehört.) Den Studenten standen in be­ schränktem Umfang Stipendien zur Verfügung; dafür unterlagen sie strengen Ver­ ordnungen: Die Professoren waren «verpflichtet, das Besuchen der Kollegien strengst zu überwachen, und die ungerechtfertigt Fernbleibenden dem Oberkam­ mergrafenamte anzuzeigen, welche dann durch den Oberkammergrafen mit Ent­ ziehung des auf die betreffenden Tage fallenden Teiles des Stipendiums zu bestra­ fen sind ...» In den erster Jahren ihres Bestehens betrug die Zahl der eingeschrie­ benen Bergakademiker insgesamt 3248, davon «48 Grafen, 51 Barone und 325 Edelleute ...» Am Ende der Ausbildung standen den Absolventen der Akademie «außer dem Berg-, Hütten- und Münzwesenbetrieb auch andere Berufe offen. Aus ihrer Reihe rekrutierten sich die Offiziale der Bergbehörden, die Waldmeister der für den Bergbau reservierten Forste, die Beamten der Bergkassa und des Berg­ buchhaltungswesens. Wegen ihrer allgemeinen technischen Ausbildung wurden sie aber auch in den übrigen Dienstzweigen technischer Natur gerne angestellt...» (Mihalovits, 1938, S. 12ff.).

Die Ecole Polytechnique Mit der fortschreitenden Emanzipation des Bürgertums und der indu­ striellen Revolution setzten sich an der Schwelle zum 19. Jahrhundert in vielen Ländern neue Institutionen der Wissenschaft durch. Im revolutio­ nären Frankreich der 1790er Jahre entstand mit der Ecole Polytechnique eine Einrichtung, die weit mehr war als lediglich eine Schule für die Tech­ nik. Zu den mit dieser Schule verbundenen Persönlichkeiten zählen viele, 22

deren Namen heute mit physikalischen oder chemischen Naturgesetzen oder mathematischen Prinzipien verbunden werden: Arago, Biot, Cau­ chy, Dulong, Fourier, Fresnel, Gay-Lussac, Liouville, Navier, Petit, Pois­ son, Carnot... um nur einige zu nennen. «Die erste Schule der Welt, eine Schule, die man mit vollem Recht ein Prinzip nennt, um die uns das Aus­ land beneidet» (nach Manegold, 1970, S. 20), so charakterisierte François Arago die Ecole Polytechnique; und noch hundert Jahre später wurde sie von dem Mathematiker und Wissenschaftsorganisator Felix Klein als einer der «wichtigsten Geistesfaktoren des neunzehnten Jahrhunderts» bezeichnet (Klein, 1927, S. 5). Unmittelbarer Anlaß für die Gründung der Ecole Polytechnique war die Desorga­ nisation des höheren Schulwesens während der französischen Revolution, vor allem auf dem Gebiet des zivilen und militärischen Ingenieurwesens. Auf die In­ itiative führender Männer der Ecole des Ponts et Chaussées und dem Génie mili­ taire wurde am 11. März 1794 in Paris die Ecole centrale de Travaux publics gegrün­ det; damit sollte die Ingenieursausbildung zentralisiert und für breitere Schichten geöffnet werden. Im darauffolgenden Jahr wurde sie umbenannt in Ecole Poly-

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Abb. 2: Diese Kasernenhofidylle aus dem Jahr 1814 zeigt nicht etwa einen General vor seinen Soldaten, sondern Napoleon vor den Studenten der Ecole Polytechnique. Auch heute noch hat diese erste technische Universität Frankreichs ihre militärische Ausrichtung nicht verloren. Sie untersteht nicht dem Erziehungs-, sondern dem Verteidigungsministerium. Die Studenten tra­ gen Uniform und nehmen an Militärzeremonien teil. Aus ihren Kreisen rekrutieren sich die meisten der führenden Technokraten in den französischen Staatsprojekten wiez. B. der Atom­ energie-Kommission (Kosciusko-Morizet, 1973).

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technique; für ihre Organisation dienten die Bergakademie Schemnitz und die Mi­ litärschule von Mézières als Vorbild. Waren für die Ingenieurschulen des Ancien régime noch Herkunft und Stand maßgeblich, so wurde jetzt die Zulassung durch Aufnahmeprüfungen geregelt, denen sich jeder Franzose unterziehen konnte, der «gutes Benehmen, Treue zu den republikanischen Prinzipien, Kenntnisse in der Arithmetik und den Grundlagen der Algebra und Geometrie, und ein Alter zwi­ schen 16 und 20 Jahren» besaß. Nach Reformen und Neugründungen bei den höhe­ ren Spezialschulen, den «Ecoles d’application de 1’Artillerie, du Génie, des Ponts et Chaussées, des Mines, des Ingénieurs géographes et des Ingénieurs de vaisseau» wurde es zur Aufgabe der Ecole Polytechnique, für diese Fachrichtungen Studen­ ten mit einer breiten, wissenschaftlichen Grundausbildung heranzubilden. Der Unterrichtsstil war militärisch ausgerichtet: Die Studenten wurden in »Brigaden» eingeteilt; Vorlesungen, Laborunterricht, Selbststudium und wechselseitiges Ab­ fragen standen ebenso auf dem Dienstplan wie handwerkliche Betätigung oder militärisches Exerzieren. Abb. 2 vermittelt eine Vorstellung vom Alltag an der Ecole Polytechnique um 1810, als ihre Verwaltung dem Kriegsministerium oblag und ihre Schüler Karrieren in Napoleons Armee entgegensahen. Studenten wie Professoren der neuen Hochschulen genossen hohes Sozialprestige. Die Heraus­ gabe eines < Journal de l’Ecole Polytechnique» sowie die für die Professoren obliga­ torische Veröffentlichung der Vorlesungstexte sorgten für Ansporn, Elitebewußt­ sein und hohes Niveau. Forschung und Lehre, theoretische und experimentelle Untersuchungen wurden als zusammengehörig empfunden (Ecole Polytechnique, 1897, S. 1-43).

Die Naturwissenschaft, wie sie an der Ecole Polytechnique betrieben wurde, unterschied sich bereits beträchtlich von der Naturforschung nach Musschenbroek ein Jahrhundert früher. Die Betonung der Mathematik ließ in manchen physikalischen Gebieten Theorien entstehen, die heute zum Grundstock der modernen theoretischen Physik gehören; so wurde zum Beispiel Fouriers mathematisches Verfahren bei der Analyse der Wärmeleitung als eine gängige Methode der theoreti­ schen Physiker, auch wenn Fouriers Auffassung der Wärme heute als überholt bezeichnet werden muß. Ausgangspunkt für viele Untersuchun­ gen waren technische Probleme. Navier, ein Schüler der Ecole Polytech­ nique, wurde z. B. auf Veranlassung der französischen Regierung 1821 und 1823 nach England geschickt, um die dortigen Methoden des Eisen­ brückenbaus zu studieren. Bis zu dieser Zeit war Stein bevorzugtes Bau­ material. Die Brückenbauingenieure des 18. Jahrhunderts hatten vor allem Experimente und Theorien verfolgt, mit denen die größte Bela­ stungsgrenze dieser Materialien ermittelt werden konnte. Navier, der seit 1819 an der Ecole des Ponts et Chaussées mit Vorlesungen über die Fe­ stigkeit von Materialien betraut war, betonte nach seinen Englandreisen, daß es für Metallbrücken nicht genüge, lediglich die letzte Belastungs­ grenze zu ermitteln; eine wesentliche, weitere Bestimmungsgröße sei der Elastizitätsmodul. (Der Elastizitätsmodul wurde zuerst - aber in anderer Weise als bei Navier - von Thomas Young 1807 in die Mechanik einge­ führt. Heute ist jedoch Naviers Definition allgemein üblich.) Er machte dazu selbst Tests an Eisen, das er später für die Konstruktion der Invali-

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denbrücke (Pont des Invalides) in Paris benutzte. Dem neuen Lehr- und Forschungsprinzip entsprechend, begnügte sich Navier nicht mit prakti­ schen Analysen zum Brückenbau. Ausgehend von molekulartheoreti­ schen Vorstellungen, entwickelte er Differentialgleichungen für die Ela­ stizität dreidimensionaler isotroper (gleichförmiger) Körper, die von Cauchy später auf anisotrope Medien (Kristalle) erweitert und zu einer allgemeinen Theorie der Elastizität und der Optik ausgebaut wurden. Wie Navier war auch Cauchy zunächst Student an der Ecole Polytechni­ que, dann an der Ecole des Ponts et Chaussées; beide wurden nach einigen Jahren Ingenieurstätigkeit als Professoren an die Ecole Polytech­ nique berufen (Timoshenko, 1953). Das Vorbild der Ecole Polytechnique wirkte auch in anderen Ländern: In USA wurde nach diesem Muster die Militärakademie West Point orga­ nisiert und zu einer der fortschrittlichsten amerikanischen Institutionen für naturwissenschaftlichen Unterricht und Forschung im 19. Jahrhun­ dert. In Europa, vor allem in den deutschen Staaten, wurden polytechni­ sche Schulen gegründet, aus denen später viele technische Hochschulen hervorgingen, so in Karlsruhe (1825), München (1827), Dresden (1828), Stuttgart (1829) und Hannover (1831): «Pflegestätten einer besonders seit der Mitte des Jahrhunderts wissenschaftlich betriebenen Technik, die der von der bürgerlichen Kultur getragenen industriellen Bewegung kräf­ tige Förderung angedeihen ließ» (Klemm, 1983, S. 160).