Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein: Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907 9783666357961, 3525357966, 9783525357965


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German Pages [344] Year 1999

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Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein: Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907
 9783666357961, 3525357966, 9783525357965

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 133

VÔR

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 133 Gesine Krüger Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907 von

Gesine Krüger

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Umschlagbild: Drei Herero-Frauen aus den dreißiger Jahren, Photograph unbekannt. N L I Medienpädagogik Hannover, Landesmedienstelle Hannover.

FürJonas, Konstantin, Seraphina, Tim Lucca, Judith, Patrick und Inger.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krüger, Gesine: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein : Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907/ von Gesine Krüger. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft ; Bd. 133) ISBN 3-525-35796-6

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

© 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

4

Inhalt Vorwort

7

Einleitung

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1.

Kapitel: Der Charakter des Krieges

29

1.1.

Die Zentralisierung der Viehzüchtergesellschaft und die deutsche Inbesitznahme der Kolonie Kriegsursachen und Kriegsverlauf Völkermord?

30 45 62

1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6.

Kapitel: Kriegsberichte - Kriegsbilder Erste Erwartungen der Soldaten und der »konstruierte Held« der Literaturwissenschaft Sechs Soldatentagebücher - Erfahrung und Ambivalenz Verstümmelungen und Greueltaten Die besondere Rolle von Frauen im Herero-Krieg Kapitel: Kontrollpolitik und Machtphantasien Konzentrationslager und Arbeiterpolitik Deportation und Paßgesetze Kampf gegen »Gebärstreik« und »Rassenselbstmord« Die Erfahrung von Kindern und Jugendlichen Die Rolle der Mission - Vermittlungspolitik, Sammellager und die Betreuung der Überlebenden Kapitel: Der Rekonstruktionsprozeß innerhalb der Herero-Gesellschaft Eigen-Sinn und Widerständigkeit während der letzten Phase der deutschen Kolonialherrschaft Die Machtübernahme Südafrikas: Hoffnung auf Befreiung im Namen der »Nation« Die Beerdigung von Samuel Maharero Der Kampf um das Land - Ejuru Die Otjiserandu Die Reservatsgesellschaft - Millenarismus, Politik und Geschlechterkonflikte

69 73 82 104 116 123 126 138 144 155 163

183 184 194 203 216 223 239 5

5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

6.

Kapitel: Gräber, Feste und Erinnerungen Gräber als Markierung der Landschaft - Soldatengräber, Hererogräber Der Kampf um die Gräber in Okahandja Die symbolische Landbesetzung Erinnerungen - Formen der Kriegsbewältigung in der oralen Literatur

265 267 274 282

Schlußwort

299

290

Abkürzungen

307

Quellen- und Literaturverzeichnis

308

Register Sachbegriffe Personen und Orte

329 329 337

6

Vorwort

Dieses Buch ist ein Beitrag zur deutschen und zur afrikanischen Geschichte. Es handelt von einem Krieg und der Kraft der Uberlebenden, ihre Identität zu verteidigen und neu zu definieren. Der Kolonialkrieg von 1904 - 1907 ist der erste Völkermord in der deutschen Geschichte. Trotzdem, oder gerade aus diesem Grund, ist es das zweite wichtige T h e m a dieses Buches, die Vorstellungen von der Allgewalt des kolonialen Staates zu befragen u n d zu korrigieren. Die Nachkriegsgeschichte, der beeindruckende Prozeß der Rekonstruktion der Herero-Gesellschaft, hat anders als der Krieg selbst, bisher noch zu wenig Beachtung, besonders in der Öffentlichkeit, erfahren. Das gilt die Bundesrepublik Deutschland, die immer noch auf eine Sonderbeziehung zur ehemaligen Kolonie rekurriert, und vielleicht auch für das heute endlich unabhängige N a mibia selbst. Das Buch folgt einigen Aspekten des langen Prozesses der Kriegsbewältigung auf Seiten der Opfer bis z u m Zweiten Weltkrieg. Der Kolonialkrieg hat beide Seiten verändert; und er bezeichnet eine Vergangenheit, die nicht beendet ist. Die d e m Buch zugrundeliegende Dissertation wurde 1995 von der Fakultät für Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität H a n n o ver angenommen. M e i n e m Betreuer H e l m u t Bley sowie meiner Gutachterin Irmgard Wilharm gilt der erste Dank. Das Evangelische Studienwerk Villigst e.V hat die Forschung großzügig u n terstützt und daher danke ich seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an dieser Stelle herzlich für die materielle und besonders auch ideelle Förderung. Die guten Forschungsbedingungen in Namibia und Südafrika verdanken sich nicht zuletzt der ausgesprochen freundlichen u n d kompetenten Betreuu n g und Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der dortigen Archive und Bibliotheken. Brigitte Lau und Werner Hillebrecht von den National Archives ofNamibia seien besonders hervorgehoben. Ich danke ebenfalls meinen Freundinnen Laura Sasman u n d U t a Lehmann-Grube mit ihren Familien. Ich möchte weiterhin ganz besonders meiner Familie und meinen Freunden danken, die mich während der Fertigstellung der Dissertation unterstützt haben. Wolfgang Krüger hat zwei Karten gezeichnet und Werner Krüger ein Sol7

datentagebuch transkribiert. Brigitta Schmidt-Lauber, Dag Henrichsen und Frank Schubert haben dieses Buch mit Freundschaft und Kritik bis zu seiner Fertigstellung begleitet. Für die anregende Diskussion des Manuskriptes danke ich Alf Liidtke sowie den Herausgebern dieser Reihe. Hamburg, im April 1999

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Gesine Krüger

Einleitung

In Namibia findet jedes Jahr im August der Herero-Tag statt. Z u diesem Anlaß treffen sich Menschen aus dem ganzen Land, zahlreiche geladene Gäste und Touristen, u m an den Gräbern der alten Herero-chiefs in Okahandja eine Gedenkfeier zu halten. Mit dem Fest wird an den Kolonialkrieg zwischen den Herero und d e m Deutschen Kaiserreich erinnert und die Einheit der HereroNation gefeiert. Das auffälligste Merkmal dieses Tages ist das Auftreten der sogenannten >Truppenspielerviktorianische< Kleider, die an die Kolonialzeit erinnern. D e r offizielle Teil der Feier beginnt am Sonntagmorgen mit einer Prozession, die vom township in die ehemals weiße Stadt Okahandja führt, w o chiefs und Politiker aus d e m 19. und 20. Jahrhundert begraben sind. Hier wurde 1923 auch Samuel Uereani Maharero bestattet, der 1904 den Krieg gegen die deutsche Kolonialherrschaft angeführt hatte. Die zentrale Zeremonie findet am Grab der Maharero-Familie statt. Sie wird v o m omurangere, einem Priester, geleitet. Er hat den Platz rituell vorbereitet u n d hält Zwiesprache mit den ovakuru, den Vorvätern oder Ahnen. 1 Während alle Festteilnehmer u m die Gräber herumgehen und sie mit der H a n d berühren, spricht der omurangere über die Geschichte der Herero; er trägt Sorgen und N ö t e vor und erbittet den Segen der Ahnen. Große Teile der Reden, die an diesem Tag gehalten werden, haben die vereinigte Herero-Nation z u m Thema. Trägerin des Herero-Tages in Okahandja ist die otjiserandu. Der Herero-Tag stellt das bis heute größte öffentliche Ritual in Namibia dar. Während der deutschen u n d südafrikanischen Kolonialzeit gab es keine vergleichbar großen und bedeutungsvollen Feiern. Auch der nach der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 zur Erinnerung an den Befreiungskampf neu eingeführte Heroes Day konnte den Herero-Tag nicht ersetzen. Ein G r u n d für die große Bedeutung dieses Festes liegt darin, daß es auf ein Ereignis der namibischen Geschichte Bezug nimmt, das wie kein anderes im öffentlichen Gedenken, in der Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis verankert ist - den Krieg von 1904 bis 1907 und besonders den »Herero-Feldzug«. 2 Wenn der Krieg noch heute allgegenwärtig präsent ist, liegt das an

1 Z u m Begriff »Ahn« siehe: Almes, Holy Fire, S. 1. 2 Z u m Krieg gegen die Nama siehe immer noch Drechsler, Südwestafrika.

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seinen katastrophalen Folgen, der Völkermordpolitik und der vollständigen Enteignung der Herero. Die Präsenz ist gleichzeitig das Ergebnis einer erfolgreichen »invention of tradition«3, der Erfindung einer »Herero-Nation«, die erst nach dem Krieg in der ehemals segmentären Viehzüchtergesellschaft zur Grundlage einer umfassenden Herero-Identität wurde. 4 Die These, daß die Erfindung der »Nation« mit ihren speziellen symbolischen Repräsentationen Bestandteil und Ergebnis eines aktiven und kreativen Prozesses der Kriegsbewältigung ist, ist Ausgangspunkt und einer der Gegenstände dieser Studie. Die Geschichtswissenschaft interpretiert den Krieg übereinstimmend als »tiefsten Einschnitt in die Geschichte« (Drechsler) und als Basis einer völligen Neuordnung der Gesellschaft in der Kolonie.5 Als Ende der sechziger Jahre die beiden bis heute wichtigen Grundlagenwerke zum deutschen Kolonialismus in Namibia von Bley und Drechsler erschienen 6 , führte die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus fast zwangsläufig dazu, zunächst den Blick auf die Untersuchung der strukturellen und moralischen Voraussetzungen totalitärer Herrschaft in den Kolonien zu richten. 7 Dabei fiel die Perspektive der Herero aus dem Blick, das heißt die Beschreibung der vielfältigen Reaktionen der afrikanischen Bevölkerung auf die Vernichtungs-, Kontroll- und Zwangsarbeitspolitik der deutschen Kolonialmacht, die bereits im Krieg begann und bis lange nach Kriegsende fortgesetzt worden ist. Während das Thema des Krieges zwischen Deutschen und Herero immer wieder »neu entdeckt« wird 8 und in nahezujeder Publikation zur Geschichte und Gesellschaft Namibias, in Reiseführern und Zeitungsartikeln Erwähnung findet, existieren über die Nachkriegszeit auffällig wenig Berichte und Untersuchungen. 9 Es scheint so, als bliebe nach dem Desaster des Krieges nichts zu sagen übrig, und als würde sich die Geschichte der Herero allein auf diesen Fluchtpunkt hin schreiben lassen.

3 Hobsbawm u. Ranger. 4 Gewald, R e d e m p t i o n , S. 357, sieht als Ausgangspunkt die Beerdigung von Samuel M a h a r e r o 1923, »when all the various splintered historical strands of H e r e r o society came together to create, that w h i c h had not existed beforehand, a single H e r e r o identity.« Hendrickson, Historical Idioms, S. 454, spricht von »Hereroness« zur K e n n z e i c h n u n g einer Herero-Identität, die sich nicht einfach als »ethnischer Z u s a m m e n h a l t « beschreiben läßt. 5 Bley, Kolonialherrschaft u n d Sozialstruktur; Drechsler, Südwestafrika; Wallenkampf; Bridgman-, auch Sudholt, S. 192. 6 Bley, Kolonialherrschaft u n d Sozialstruktur; Drechsler, Südwestafrika. 7 Eine U n t e r s u c h u n g zur personellen Kontinuität zwischen Kolonialismus u n d Faschismus steht n o c h aus. Als bekannte Figuren sind etwa Ritter Franz v o n E p p u n d Lettow-Vorbeck zu n e n n e n . Ein Teil der ehemaligen S c h u t z t r u p p e n - O f f i z i e r e n fand sich in d e n Freikorps wieder. T r o t h a w u r d e E h r e n f ü h r e r der Hitlerjugend. Babing u. Bräuer, S. 102. 8 Pool, Die Herero-opstand; Nuhn; Seybold; Zirkel; Klein-Arendt; Eckart. 9 Eine A u s n a h m e bildet die jetzt erschienene Studie von J a n Bart Gewald zur Geschichte N a mibias von 1890 bis 1920, siehe Gewald, Redemption. Die meisten Forschungsarbeiten über die afrikanischen Gesellschaften nach d e m Krieg w u r d e n v o n Ethnologen u n d E t h n o l o g i n n e n sowie T h e o l o g e n d u r c h g e f ü h r t . H e r v o r z u h e b e n ist: Alnaes, Living w i t h the past.

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Herero werden ausschließlich als Opfer eines Völkermordes wahrgenommen, und zugleich findet eine Folklorisierung der otjiserandu als pittoreske, der Kolonialzeit und der Tradition verhaftete Truppenspieler statt.

Abb. 1.: Samuel Maharero (Dritter von links) mit seinem Rat, links neben ihm Assa Riarua National Archives of Namibia.

Die »andere Seite« des Schweigens über die Nachkriegszeit sind die vielen Mythen und »Geschichtsgeschichten« über Herero, die in der populären und wissenschaftlichen Literatur, in Erzählungen und im kollektiven Gedächtnis fest verankert sind: Dazu gehören die angeblich von Herero verübten Greueltaten im Krieg,10 der Gebärstreik der Herero-Frauen, ein vom Volk verübter »Rassenselbstmord« und die Imitation der Deutschen als pathologische Reaktion auf den Krieg. Ausgehend von diesen Topoi untersucht die Studie Kriegsund Nachkriegszeit unter dem Aspekt von Rekonstruktionsprozessen innerhalb der Herero-Gesellschaft. In der lange Zeit einzigen Monographie zum Thema der Auswirkungen des Krieges auf die Herero, behauptet die Autorin Karla Poewe, daß der Krieg als traumatisches aber verdrängtes Ereignis zu einer Desintegration der Herero 10 Diese Argumentation zogen nach 1953 Lenssert und 1970 Sudhold zur Rechtfertigung der brutalen Kriegführung heran.

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geführt habe, die bis heute ihre individuelle und kollektive psychische Struktur präge.11 Dieser Ansatz steht in einer Tradition der Pathologisierung, der Krankschreibung der Herero, die schon nach dem Krieg 1904 beginnt und sich in Titeln wie »Begeht das Volk der Herero Rassenselbstmord«, »Zerrüttete Volksseele« oder »Das finstere Volk« niederschlägt.12 Das Bild einer »psycho-sozialen Desintegration«, der völligen >Deformation< einer Gesellschaft, ist ebenso gewalttätig wie die Vorstellung einer umfassenden, von den deutschen Kolonialherren gleichwohl angestrebten, sozialen und politischen, ökonomischen und spirituellen Vernichtung, die weiter unten dargestellt wird. Poewe bestreitet allerdings, daß die deutsche Militärführung eine Genozidpolitik verfolgte, und die berüchtigte Proklamation des Oberbefehlshabers der Schutztruppe in Südwestafrika, Generaloberst von Trotha, hält sie für einen Bestandteil psychologischer Kriegführung. Damit greift sie auf eine kolonialapologetische Argumentation zurück, die in den siebziger Jahren durch Sudholt einen wissenschaftlichen Anstrich erhielt, als dieser in Reaktion auf die beiden zentralen Werke zur deutschen Kolonialgeschichte in Namibia von Bley und Drechsler sein Buch zur deutschen »Eingeborenenpolitik« schrieb.13 Uberraschend nahm auch die Historikerin und langjährige Leiterin der National Archives in Windhoek, Brigitte Lau, diesen Faden auf. Am Vorabend der Unabhängigkeit Namibias erschien ein kurzer Artikel in einer kleinen namibischen Zeitschrift, der umgehend empörte Reaktionen und Gegendarstellungen in internationalen Fachzeitschriften hervorrief. Sie erklärte die Beurteilung des Herero-Krieges als Völkermord zu einem »Mythos eurozentrischer Geschichtsschreibung«, der am Schreibtisch entstandene Machtphantasien reproduziere, ohne die Gegebenheiten im Land zu berücksichtigen.14 Ihrer Ansicht nach war die deutsche Schutztruppe weder in der Lage gewesen, die HereroKrieger vernichtend zu schlagen, noch habe die deutsche Verwaltung nach dem Krieg ein umfassendes Kontroll- und Zwangsarbeitssystem errichten können. Ihre Kritik fährt mit der These fort, daß die Kennzeichnung des Krieges als

11 Poewe. Der Versuch, die Geschichtsschreibung fremder Völker um eine psychologische Dimension zu erweitern, ist angesichts der eigenen Erfahrung der »Fremdheit« sinnvoll und zudem durch die ethnopsychoanalytische Schule methodisch fundiert. In Karla Poewes Untersuchung ist aber die Zuschreibung von kollektiven Charaktermerkmalen und Deformationen als Grundlage der Untersuchung einer fremden Gesellschaft sowohl theoretisch als auch methodisch unhaltbar. 12 Ludendorff; Steenkamp;Jenny, Volk. 13 Sudholt, S. 9. 14 Lau, Uncertain Certainties, S .4. Brigitte Lau ist bei einem tragischen Unfall tödlich verunglückt. Viele von ihr angerissene Diskussionen können nicht fortgeführt werden, andere haben die Forschung nachhaltig beeinflußt. Daß ausgerechnet ein Artikel zur deutschen Kolonialzeit derartige Beachtung gefunden hat, ist eine Ironie des Schicksals, denn Brigitte Lau hat immer und in erster Linie dafür gestritten, die Zeit der südafrikanischen Herrschaft zu untersuchen und nicht alle >Kolonialverbrechen< auf die relativ kurze deutsche Zeit zurückzuführen.

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Völkermord allein auf einer unterstellten totalen Dominanz der deutschen Kolonialherrschaft beruhe. Diese Behauptung, so Lau, sei wiederum durch die implizite Nähe von deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus beeinflußt. Obwohl Laus Argumente inhaltlich wenig brisant sind, da sie keine neuen Fakten liefert, hat ihr Artikel Aufsehen erregt, weil sie in zweierlei Hinsicht ein Tabu bricht. Die Behauptung, der Krieg sei nicht so gravierend gewesen, war bisher eine Domäne der Kolonialapologeten. Lau weist aber darüber hinaus - obwohl sie diese These nur andeutet - daraufhin, daß mit einer undifferenzierten Gleichsetzung von Faschismus und Kolonialismus eine so totale Dominanz des Kolonialismus beschworen wird, daß afrikanische Geschichte darüber völlig aus dem Blick geraten ist.15 Lau verbindet somit zwei konträre Traditionen in ihrem Artikel: Einerseits folgt sie konservativen bis reaktionären Rechtfertigungsmustern, die seit der Kolonialzeit bemüht werden, um den grausamen Krieg zu relativieren, andererseits plädiert sie für eine Wende von der Kolonialgeschichte hin zur einer afrikanischen Geschichte, die ihre Themen nicht mehr allein vom Kolonialismus her bestimmt und die in anderen afrikanischen Länder längst vollzogen ist; zur Zeit ihres Artikels in Namibia aber noch weitgehend ausstand.16 Der Völkermord als eines der zentralen Themen der bisherigen Geschichtsschreibung über Namibia ist tatsächlich so dominant, daß darüber nicht nur die Seite der Herero im und nach dem Krieg aus den Augen gerät, sondern auch die südafrikanische Periode mit ihrem über zwei Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg insgesamt. Das ist weder Drechsler anzulasten, der keine Möglichkeit hatte, im Land zu forschen, noch Bley, der ebenfalls massiv behindert wurde. 17 Historikerinnen und Historikern aus dem Umfeld der europäischen und amerikanischen Solidaritätsbewegung sowie exilierten Namibiern war es nicht möglich, die Archive im Land zu benutzen, und so wurde lange Zeit mit dem Bild einer »Ruhe des Friedhofs«18 zur Kennzeichnung der Nachkriegszeit auch ungewollt das Bild einer völlig zerstörten afrikanischen Gesellschaft reprodui s Z u r Diskussion ü b e r die T h e s e n von Brigitte Lau siehe: Randolph Vigne in: S o u t h e r n African Review of Books Feb./März 1990, S. 3. Brigitte Lau in: S o u t h e r n African Review of Books Juni/Juli 1990, S. 21. R a n d o l p h Vigne u. H e n n i n g Melber in: S o u t h e r n African Review of Books Aug./Okt. 1990, S. 23. Dedering, T h e G e r m a n - H e r e r o - W a r , S. 80-88. In einer zweiten Auflage des Artikels hat Brigitte Lau n o c h einmal auf die Kritik geantwortet. Lau, History. Z u r Diskussion des Kolonialismus bzw. des Herero-Krieges als verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte siehe: Bley, Unerledigte Deutsche Kolonialgeschichte; Stubbe, S. 121-138. 16 So ließe sich auch Dederings Frage, w a r u m Laus Artikel ausgerechnet zu diesem Z e i t p u n k t erschienen ist, beantworten. Vor der Unabhängigkeit war n o c h einmal das Verhältnis z u m D e u t schen Kolonialismus zu klären u n d gleichzeitig eine N e u o r i e n t i e r u n g hin zu einer afrikanischen Geschichtsschreibung geboten, die Brigitte Lau selbst in ihrer Studie zu J o n k e r Afrikaner vorbildlich u n d als eine der ersten eingelöst hat. 17 Dedering, S. 81. 18 Drechsler, Südwestafrika, S. 221.

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ziert." Die Darstellungen der »nationalistischen Geschichtsschreibung«, als deren Gründungsvater man Drechsler bezeichnen kann, stehen aber auch vor einem grundsätzlichen Problem, w e n n sie der militärischen und kolonialapologetischen Tradierung des Krieges eine Geschichtsschreibung entgegensetzen, die tendenziell nach denselben Regeln funktioniert, also nur nach großen M ä n nern, offizieller Politik u n d wirtschaftlichen Grundlagen des Kolonialismus fragt und so die afrikanische Bevölkerung hinsichtlich des Krieges als m e h r oder weniger gesichtsloses Kollektiv in einer Opferrolle festschreibt, ohne deren Geschichte u n d Geschichtsinterpretationen selbst zu befragen. Mit d e m Verschweigen der anderen Seite geht eine Unterschlagung von Subjektivität einher: sowohl der konkreten anderen als Subjekte von Geschichte als auch der eigenen Subjektivität bei der Produktion historischer Texte. Das unterliegende Thema, das »Sub-Thema«, das in allen Texten z u m Genozid an den Herero mitgeschrieben wird, ist die Auseinandersetzung mit Auschwitz. Dieses Sub-Thema produziert so starke Bilder, daß eine Journalistin noch 1980 entgegen j e d e m Augenschein u n d allen Fakten schreiben kann, »die kläglichen Reste [der Herero] vegetieren bis z u m heutigen Tage.«20 Die W a h r n e h m u n g der heute lebenden Herero als »dahinvegetierende Reste« weist auf die Wirkungsmächtigkeit der Bilder der Shoah im U n b e w u ß t e n hin. Diese Verknüpf u n g m u ß sichtbar gemacht werden, auch w e n n ihr nicht zu e n t k o m m e n ist, denn »Schuld und Entsetzen angesichts der eigenen Geschichte lassen nur allzuleicht auf einen Standpunkt fliehen, von dem her man Andersheit überhaupt leugnen kann: es gäbe n u r eine einheitliche Menschheit« 21 . So erscheinen die eigenen, anderen Formen der Kriegsbewältigung und des Geschichtsverständnisses der H e r e r o vor d e m Hintergrund der deutschen Schuld als nicht-existent oder krank. Die Praxis der otjiserandu, militärische U n i f o r m e n zu tragen, wurde entweder als Imitation der Deutschen Kolonialherren aufgrund der Zerstörung der eigenen Tradition 22 begriffen oder als psychische Reaktion der »Identifikation mit d e m Angreifer« (Anna Freud) gedeutet u n d pathologisiert. 23 Karla Poewe spricht den H e r e r o eine eigene Gedächtniskultur sogar explizit ab, w e n n sie sagt, die Uberlebenden des Krieges »verweigern einfach jegliche innere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - als ob diese gestorben ist.«24 Ferner stellt sie in ihrer Einleitung die frappierende Behauptung auÇ daß sie nicht in der Lage gewesen sei, auch n u r einen einzigen Herero ausfindig zu machen, der sich an den Krieg erinnern könne, oder zumindest an Erzählungen über den 19 20 21 22 23 24

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Babing u. Bräuer; Heibig; Patemann. Gabriele Ventzky, in: Die Zeit 11.4.1980. Böhme, S. 226. Siehe unter anderem: Lehmann, Truppenspieler. Poewe·, Emmett, African Nationalism; Gordon, Second World War. Poewe, S. 78.

Krieg. 25 Auch der Historiker J o n Bridgman behauptet in seiner 1981 erschienenen Studie zum Herero-Krieg, daß der Krieg im Bewußtsein der Namibier heute keine Rolle mehr spiele und vergessen sei. 26 Angesichts des jährlich stattfindenden Herero-Tages ein mehr als erstaunlicher Befund, der ebenfalls darauf verweist, wie stark die Bilder völliger kultureller Zerstörung entgegen der sichtbaren Realität im Land selbst wirken. Die Behauptung des Schweigens und Verdrängens fügt sich in ein Bild, in dem Herero nach dem Krieg als Akteure der Geschichte >verschwunden< sind. Die vorliegende Studie verbindet drei unterschiedlichen Perspektiven: Sie fragt nach Bildern, Mythen und Geschichtsgeschichten über den Krieg und die Geschichte der Herero, nach sozialen, ökonomischen und kulturellen Formen der Kriegsbewältigung innerhalb der Herero-Gesellschaft sowie den historischen Entwicklungen der Nachkriegszeit, die in einen Prozeß der Rekonstruktion mündeten, der bisher in der Forschungsliteratur nur in Ansätzen dargestellt worden ist.27 Dabei ist es keineswegs eine Voraussetzung, den Genozid zum Mythos zu erklären, um die Geschichte der Nachkriegszeit nicht allein als Geschichte der Unterwerfung zu verstehen und zu schreiben. Dazu ist es nötig, noch einmal auf den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit zurückzukommen. Tatsächlich war es den deutschen Kolonialherren erstens nicht möglich, ein so umfassendes Kontrollsytem zu errichten, wie sie es nach offiziellen Verlautbarungen und Plänen anstrebten, in diesem Punkt ist Lau zuzustimmen, und zweitens fand noch während der deutschen Kolonialherrschaft eine Reorganisation, bzw. Rekonstruktion innerhalb der Herero-Gesellschaft statt, die einer eigenen Logik und Dynamik folgte und nicht allein als Abwehr der kolonialen Unterdrückung zu verstehen ist. Während der südafrikanischen Militärregierung von 1915 bis 1921 beschleunigte sich dieser Prozeß, der die Rekonstruktion gesellschaftlicher Strukturen mit der »Konstruktion«, der »Erfindung« der Herero als Nation verknüpfte. U m 1945 ist dieser spezifische Rekonstruktionsprozeß abgeschlossen; er geht in anderen Prozessen auf und wird von diesen überlagert. Die Generation, die den Krieg führte, ist zu dieser Zeit alt geworden, neue Generationen kennen die Vorkriegsgesellschaft nicht mehr; wobei allerdings Hosea Kutako, die zentrale politische Figur in der Zwischenkriegszeit, bereits als Erwachsener im Krieg gekämpft hat und noch bis 1970 lebte. 28 Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten neue Einflüsse die afrikanischen

25 Ebd., S. 69. Wenn sie ihre Interviews Anfang der achziger Jahre geführt hat, dürfte es kein Wunder sein, daß sie keine Uberlebenden des Krieges von 1904 mehr traf. 26 Bridgman, S. 2: »Few Hereros today have more than a hazy idea about their national past, and even fewer Africans know anything about the Herero Revolt.« 27 Zum ökonomischen Wiederaufbau siehe die ausgezeichnete Grundlagenstudie von Werner, Economic and Social History; allgemein Krüger u. Henrichsen. 28 Du Pisani.

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Gesellschaften in Namibia: Der Widerstand gegen die Inkorporation, die Gründung Unabhängiger Afrikanischer Kirchen und politischer Organisationen, die Gewerkschaftsbewegung und Proteste gegen die südafrikanische Kolonialherrschaft prägten eine neue Epoche. 29 In den letzten fünfzehn Jahren ist Namibia von einem relativ wenig untersuchten Teilgebiet der südafrikanischen Geschichte zu einem im Vergleich zur Größe des Landes mit seinen nicht einmal zwei Millionen Einwohnern vergleichsweise gut erforschten Gebiet geworden. Nach der Unabhängigkeit des Landes herrschte geradezu ein Boom in der Geschichtswissenschaft, der sich in zahlreichen Monographien, Universitätsarbeiten und Konferenzen niedergeschlagen hat. Dabei kristallisierten sich manchmal wenig nachvollziehbare Forschungskonjunkturen heraus. Während etwa die Geschichte deutscher Frauen unter vielfältigen Aspekten Beachtung fand, 30 ist der gesamte Norden des Landes bis auf wenige Ausnahmen eher vernachlässigt worden. 31 Das gilt auch für die unterschiedlichen Perioden der Geschichte. Die deutsche Kolonialzeit ist nach wie vor die am besten untersuchte Zeit, und dies liegt auch an einem regen historischen Interesse im Land selbst. Laien- und Lokalhistoriker aus der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe haben die Kolonialgeschichte zum Teil akribisch nachverfolgt, oft im »fiktiven Dialog mit einem anklagenden, vorwurfsvollen Kritiker«.32 Ein zentrales Thema der »Südwester Historiographie« ist der Herero-Krieg, der bis in die Schulbücher hinein in kaum gebrochener Tradition als Pazifizierung »aufständischer Eingeborener« vermittelt wurde. 33 Die Geschichtsschreibung aus dem Umfeld der Befreiungsbewegungen, und der mit ihr sympathisierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchte, in Uberblicksdarstellungen einer solchen Verzerrung der deutschen Kolonialgeschichte zu begegnen und orientierte sich an Drechsler und Bley, ohne die Archive im Land konsultieren zu können. 34 Da es bis auf die wenigen schwarzen und weißen Studentinnen und Studenten im Exil kaum akademisch ausgebildete namibische Historiker gab, blieb die Geschichtsschreibung innerhalb Namibias zum größten Teil Heimatgeschichte. Die erste überhaupt von einem schwarzen Namibier verfaßte Dissertation ist eine historische Arbeit und wurde erst nach fünfundzwanzig Jahren veröffentlicht. 35 29 Emmett, African Nationalism; Ngavirue, Political Parties; ders. ; Religious Movements. 30 Engelhardt; Decker, Reich; Stnidf, Wildenthal; Mamozei. 31 Hayes·, Hartmann; Williams. 32 Rüdiger, S. 23. 33 »Die Südwester Geschichtsschreibung stabilisierte die Koloniallegende, orientierte sich an stereotypen kolonialen Argumentationsmustern und schuf einen Konsens, der auf Heldenverehrung aufbaute.« Ebd., S. 28. 34 Heibig u. Heibig; Katjavivi; Mbuende; Melber; Nachtwei; Nagavirue. 35 Ngavirue, Political Parties. Die von Dag Henrichsen und Pierrette Schlettwein konzipierte Reihe Basel Namibia Studies Series hat es sich zur Aufgabe gemacht, wichtige neue und besonders

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Geschichtsforschung neben der »Heimatgeschichte« fand im Land u m bestimmte Zentren h e r u m statt. Hervorzuheben ist das Staatsarchiv (National Archives of Namibia) mit eigenen Forschungen und Publikationsreihen, 36 sowie die Academy als Vorläuferin der Universität u n d die Wissenschaftliche Gesellschaft mit ihren verschiedenen Abteilungen und Publikationen. 37 Kritische Studien zur Geschichte erschienen in der Namibian Review Publication, einer hektographierten u n d gehefteten Zeitschrift, die von Kenneth und Ottilié Abrahams herausgegeben wurde, die 1982 u n d 1985 auch erste History Workshops im Land organisierten. 38 Die im Zuge der Unabhängigkeit einsetzende neue Welle der Historiographie konnte zunächst n u r auf wenig Grundlagenforschung zurückgreifen und tendierte daher zu einer regionalen u n d thematischen Spezialisierung ohne Vernetzungsmöglichkeiten. 39 Das Projekt »Trees never meet« stellte sich die Aufgabe, regional angelegte Forschungen zur bisher noch wenig untersuchten Periode zwischen den beiden Weltkriegen, die an europäischen, afrikanischen u n d amerikanischen Universitäten entstanden, z u s a m m e n z u f ü h r e n . Eine Konferenz des Projektes in Namibia bezog Geschichtslehrerinnen und -lehrer sowie afrikanische Experten der mündlichen Uberlieferung mit ein. 40 Die mündliche Geschichte, die oral history und oral tradition, war vor der U n abhängigkeit vor allem eine D o m ä n e der Missionare und Ethnologen, die seit der deutschen Kolonialzeit Texte sammelten, u m einerseits die vorkoloniale Geschichte des Landes zu rekonstruieren 4 1 u n d u m andererseits Kenntnisse der afrikanischen Gesellschaften zu erlangen, die auch für eine Politik der indirect rule wichtige Informationen boten. Mit der G r ü n d u n g des »Michael Scott Oral Record Project« 1985 erfolgte eine Neuorientierung. Die Sammlung einer »alternativem Geschichte, einer Geschichte der aus der offiziellen Geschichtsschreibung herausgefallenen Stimmen, war erklärtes Ziel des Projektes. »Geschichte« wurde hier verstanden als »Historie« u n d »historische Tradition« und das verweist auf ein grundsätzliches Problem im U m g a n g mit oral history. Das Gedächtnis, das Archiv einer mündlichen Gesellschaft ist anders strukturiert als

auch bisher unveröffentlichte Studien zu namibianischen Themen zu veröffentlichen. Ngavirues Dissertation eröffnet als Nr. 1 die Reihe, Nr. 2 wird die Dissertation von Wolfgang Werner sein. 36 In der Reihe Archeia sind etwa die Tagebücher von Carl Hugo Hahn und Hendrik Witbooi erschienen sowie weitere wichtige Quelleneditionen. 37 Z.B. die Reihe: Namibiana. Mitteilung der ethnologisch-historischen Arbeitsgruppe. 38 Z u diesem Kreis gehörten auch Brigitte Lau, Wolfgang Werner und Neville Alexander. 39 Erschwerend kommt die Sprachenfrage hinzu. Für die Geschichte des Nordens müssen finnische Akten eingesehen werden, da hier die Finnische Mission aktiv war, im Zentrum und im Süden sind Englisch, Deutsch und Afrikaans als Kolonialsprachen erforderlich. 40 Rassool, S. 181-190, sowie als Ergebnis des Projektes Hayes u.a.. 41 Hier ist besonders Heinrich Vedder hervorzuheben, dessen Geschichte Südwestafrikas allerdings besonders methodisch nicht mehr heutigen wissenschaftlichen Anforderungen entspricht.

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geschriebene Geschichte. Das Wissen über den U r s p r u n g der eigenen G r u p p e , über historische Ereignisse, Religion u n d Kultur ist e i n g e b u n d e n in einen rituellen Kontext u n d verändert sich d u r c h die Verschriftlichung. Oral history kann daher nicht als >mündliches Geschichtsbuch« verstanden werden, das n u r einer U b e r s e t z u n g bedarf. Schriftlich fixierte Genealogien etwa eignen sich n u r b e dingt als chronologische u n d ereignisgeschichtliche Quellen. D i e notorisch widersprüchlichen Angaben über N a m e n , verwandtschaftliche Verhältnisse u n d M a c h t a n s p r ü c h e von chiefs reflektieren weniger die U n s i c h e r h e i t der I n f o r m a n t e n über vergangene Ereignisse, sondern spiegeln die jeweils zeitgenössische Auffassung von Gründungsgeschichten wieder. Das Prinzip oraler G e schichte, divergierende, k o n k u r r i e r e n d e oder »überholte« Versionen der Vergangenheit auszusondern u n d zu vergessen, erschwert chronologische E i n o r d n u n g e n u n d verweist auf ein anderes, ein oftmals schwer zu entschlüsselndes Verständnis von Geschichte. In der m o d e r n e n Geschichtsschreibung über N a m i b i a w e r d e n z u n e h m e n d M e t h o d e n der oral history benutzt, wobei zwischen lebensgeschichtlichen Interviews u n d der Verschriftlichung von oraler Tradition unterschieden w e r d e n muß. 4 2 In der Praxis vermischen sich j e d o c h diese beiden F o r m e n , d e n n eigene Lebensläufe u n d Lebenserfahrungen speisen sich auch aus der oralen Tradition, etwa d u r c h spezielle Erzählweisen, A n k n ü p f u n g an Genealogien, Einbezieh u n g von Ortsgeschichten u n d Legenden in die eigene Biographie. U n d orale Traditionen beziehen den Erzähler mit ein, etwa dessen eigene Position als Spezialist u n d Bewahrer der oral tradition, als Historiker. A u c h dienen die von Missionaren im 19. J a h r h u n d e r t aufgezeichneten m ü n d l i c h e n Ü b e r l i e f e r u n gen häufig als Vergewisserung der eigenen Erzählungen, u n d so überschneidet sich m ü n d l i c h e s Wissen m i t schriftlich fixierten Versionen der oralen Tradition. 43 Eine Geschichte der Nachkriegszeit des Herero-Krieges m u ß auf u n t e r schiedliche Q u e l l e n zurückgreifen. 4 4 M ü n d l i c h e U b e r l i e f e r u n g e n , in ihrer verschriftlichten F o r m u n d als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses stellen eine wichtige Q u e l l e dar. Ein Teil der Akten der S c h u t z t r u p p e n sind vernichtet oder verloren gegangen. D e n n o c h bieten die Kolonialarchive ein reichhaltiges Material, das aus einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive

42 Hartmann, Lindsay, Williams, O v a m b o Kingdoms; dies., O r d e r . 43 H e n r i c h s e n gibt ein beredetes Beispiel. Als er Interviews führte, griff einer seiner I n f o r m a n t e n im Verlauf des Gesprächs zu e i n e m Standardwerk der namibischen Geschichte, u m eine Angabe zu prüfen, die er dann allerdings verwarf, siehe: Henrichsen, Erzählungen, S. 88. Lonsdale spricht v o n d e n »Stammesbibeln«, d e n von Missionaren aufgezeichneten Geschichten, die orale Traditionen fixieren u n d b ü n d e l n u n d z u m Bezugspunkt ethnischer Identität werden. 44 Z u m H e r e r o - T a g gibt es z.B. k a u m Beschreibungen von H e r e r o selbst. Eine A u s n a h m e ist ein Artikel in der South West News N r . 9, 1960 u n d ein kurzer Vortrag v o n Zeze. D a r ü b e r hinaus finden sich kleine Ausschnitte in Akten, etwa Anträge u n d P r o g r a m m e . Siehe auch Kaujeua, S. 28f.

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interpretiert, der Festschreibung der Herero als sprachlose Opfer entgegenwirken kann. 45 Alexander von Plato, definiert Erfahrungswissenschaft als Ansatz, dem es »um subjektive Erfahrung, u m die Verarbeitung« historischer Erlebnisse und Abläufe, u m die Entwicklung von Konsens- und Dissenselementen einer Gesellschaft, auch u m die Veränderung von Selbstdeutungen von Menschen in der Geschichte oder gar prinzipiell u m die Bedeutung des Subjekts in der Geschichte geht.«46 Mit Hilfe eines solchen Konzeptes von Erfahrungswissenschaft lassen sich Akten u n d ähnliche D o k u m e n t e als Schnittstelle von subjektiven Erfahrungen u n d historischen Prozessen lesen. Jan Vansia schrieb z u m Problem der »Objektivität« schriftlicher Quellen gegenüber oraler Geschichte: »Das Studium der Erinnerung lehrt uns, daß alle historischen Quellen von Anfang an von Subjektivität durchzogen sind. Wenn die Quelle geschaffen wird, besonders w e n n sie im Akt des Erkennens antizipiert wird, ist die Subjektivität bereits enthalten.« 47 Bei der Beschäftigung mit d e m Archivmaterial der Nachkriegszeit scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. Die Auslöschung von Subjektivität und von Subjekten verdoppelt sich in den Akten; N u m m e r und Zahlen durchziehen wie eine Sprache der Gewalt Todeslisten und Dienstbücher, Verzeichnisse von Paßmarken und G r a b n u m mern. U n d doch sind auch schriftliche Quellen zugleich subjektive Quellen, die von Individuen verfaßt worden sind. In einem erfahrungswissenschaftlichen Ansatz der Kolonialgeschichte geht es nicht u m die Bewahrung, Fixierung und Analyse von Oraler Geschichte oder Tradition, sondern u m die Frage nach den Subjekten, ihren Lebensgeschichten, nach subjektiven Erfahrungen im Verhältnis zum Kolonialismus. Gerade in Akten, auch w e n n sie nur bestimmte Menschen und Ausschnitte der Gesellschaft erfassen, finden sich viele »subjektive« Zeugnisse bzw. Zeugnisse des Alltags, die ebenso wie verschriftlichte Texte der Oralen Literatur Grundlage dieser Studie sind. Die klassische Kolonialwissenschaft hat sich immer schon mit subjektiven Zeugnissen und Quellen beschäftigt, ohne dies z u m T h e m a zu machen. D e n n erstens ist jede Akte im Verständnis von Vansina auch Zeugnis von Subjektivität, und zweitens k o m m e n in vielen Akten aus der Kolonialzeit, in Interviews, Zeugenaussagen, Verhören, Petitionen oder beschlagnahmten Briefen Subjekte zu Wort, ohne daß dies als besondere Quellengattung thematisiert oder analytisch genutzt wurde. Grundsätzlich aber fehlt für die Geschichtsschreibung afrikanischer Gesellschaften in zweierlei Hinsicht »historisches Material«. Z u m einen wurde die Geschichtlichkeit afrikanischer Gesellschaften bezweifelt, verdrängt und negiert. Z u m anderen wurden Quellen aus unterschiedlichen G r ü n d e n zerstört. 45 Z u unterschiedlichen Formen mündlicher Quellen und zu lebensgeschichtlichen Ansätzen in der afrikanischen Geschichte, siehe: Ranger, Persönliche Erinnerung S.7 4—107. Zur Unterscheidung von Oral History und lebensgeschichtlichen Interviews siehe: Bozzoli, Einleitung. 46 Plato, S. 98. 47 Vansina, S. 276.

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Was in besonderem Maße Bestandteil afrikanischer Geschichte ist, Leerstellen u n d Lücken, betrifft im G r u n d e jede Geschichte: »Das Vergessene, Verlorengegangene oder Zerstörte, das Nichtgesagte, das Nichtfestgehaltene oder das aus der schriftlichen Kultur Herausgefallene oder -gedrängte, das Mißachtete, das Verstümmelte, das Verschwiegene, das Unterdrückte oder das Verdrängte kurz: Lücke, Loch u n d Leerstelle, Stille u n d Schweigen sind nicht n u r bedeutende Strukturvarianten f ü r die Geschichtsschreibung selbst, sondern auch für den Aneignungsprozeß von Historie. Sie sind das, weil sie in den historischen Diskurs selbst einen >Mangel< einführen, der >begehrtMangels in der FülleEigensinn< brechen mit dieser Logik, in der n u r das entweder-oder von Gehorchen oder Widerstehen gilt. Beobachtungen, die die Distanz Einzelner nicht n u r gegen >obenSchlappe< geschilderten Entscheidungsschlacht am Waterberg (Hamakari), floh ein großer Teil der Herero in die Omaheke, um auf britisches Gebiet im Betschuanaland zu gelangen. Der »Wüstenflucht« als von der deutschen Militärführung geplanter Vernichtung des Volkes steht in der oralen Geschichte eine Prophezeiung gegenüber, die die Fluchtwege vorzeichnete. Obwohl Handelswege durch die Omaheke bekannt waren und Verwandtschaftsbeziehungen zu Herero im Betschuanaland bestanden, fanden Tausende von Menschen den Tod, zumal das deutsche Militär Rückwege verlegte, die Wasserstellen kontrollierte und die Fliehenden verfolgte, wie im dritten Kapitel dargestellt wird. Die im Lande verbliebenen Menschen wurden einem rigorosen Kontrollsystem unterworfen. Die Einrichtung von Konzentrationslagern und einem Zwangsarbeitssystem in der Polizeizone war die Grundlage einer »Arbeiterpolitik«, die alle Afrikaner vollständig unterwerfen sollte. Mit einer Verordnung zur Enteignung von allem Land und Vieh62 und der Einführung von Paßgesetzen verfolgte die Kolonialregierung unter Gouverneur von Lindequist nach dem Krieg das Ziel einer endgültigen Fragmentierung und Zerstörung der vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften. Der Herrschaftsanspruch der deutschen Kolonialherren erstreckte sich nicht nur auf die äußere Unterwerfung, sondern verlangte eine »Neukonstruktion der Empfindung«. U m alle Erinnerungen an die vorkoloniale Zeit auszulöschen und jeglichen Widerstandswillen zu brechen, wurde sogar die Deportation ganzer Bevölkerungsgruppen innerhalb der Kolonie oder in andere deutsche Kolonien erwogen. Solche Projekte des »social engineering« der Kolonialplaner beruhten ebenso wie die Haltung der deutschen Siedler auf einer kolonialen Ideologie, die afrikanische Menschen in erster Linie als »Wirtschaftsgut« sah. Das Ziel einer totalen Kontrolle über die afrikanische Bevölkerung erstreckte sich auch auf die Körper der Frauen. Nach dem Krieg begann eine zunehmende Beschäftigung mit der Reproduktionsfähigkeit afrikanischer Frauen, denen unterstellt wurde, sie hätten einen »Gebärstreik« inszeniert, um keine Kinder mehr zu bekommen. Kinderlosigkeit war jedoch zuallererst eine direkte Kriegsfolge, da gerade Kinder in 62 Eine Ausnahme bildeten vereinzelte >loyal< gebliebene Gruppen, deren Land und Vieh nicht enteignet worden ist.

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den Konzentrationslagern u n d w ä h r e n d der Flucht starben. D i e überlebenden Kinder w u r d e n wie Erwachsene der Zwangsarbeit u n t e r w o r f e n , w e n n sie nicht in d e n von der Mission eingerichteten Erziehungshäusern eine H e i m a t fanden. Die H a l t u n g der Mission gegenüber den H e r e r o war nach d e m Krieg äußerst ambivalent. Einerseits hatten sich viele Missionare bereits w ä h r e n d des Krieges f ü r eine h u m a n e r e Politik gegenüber den H e r e r o eingesetzt, andererseits sahen sie das F u n d a m e n t ihrer Zivilisations- u n d Missionierungsarbeit d u r c h d e n Krieg in materieller u n d geistiger Hinsicht nachhaltig erschüttert u n d k o n n t e n daher nicht eindeutig Stellung f ü r die H e r e r o beziehen. Als die Folgen der Trothaschen Vernichtungspolitik i m m e r deutlicher w u r d e n , setzte sich die Mission v e h e m e n t d a f ü r ein, d e n H e r e r o eine Möglichkeit zur Kapitulation zu geben. N a c h der A b b e r u f u n g Trothas E n d e 1905 w u r d e es der Mission gestattet, Sammellager f ü r die im Land verstreuten Flüchtlingsgruppen einzurichten. Diese Lager unterstanden nicht d e m Militär, w a r e n aber auch n u r Durchgangsstationen in die Zwangsarbeit. D a m i t hatte sich die Mission d e m staatlichen Primat der Arbeitskräftefrage gefügt. Die überlebenden H e r e r o ließen sich nicht einfach in ein »homogenes P r o letariat« u m w a n d e l n , wie die zeitgenössische Sprachregelung lautete. Trotz des u m f a s s e n d e n Kontrollanspruchs des kolonialen Staates w a r e n sogar Kinder u n d Jugendliche in der Lage Handlungsspielräume zu n u t z e n . Die Beispiele des H e r e r o - J u n g e n >Norbert< u n d der sogenannten »Truppenbambusen« zeigen, wie sich Kinder u n d Jugendlichen einen Platz innerhalb der kolonialen O r d n u n g suchten. Das Kolonialmilitär übte auf männliche Kinder u n d J u gendliche eine so große Anziehungskraft aus, daß sie sich auch freiwillig u n d o h n e L o h n in den Dienst von Soldaten stellten. Die individuellen Kämpfe u m das U b e r l e b e n nach d e m Krieg, die A u s n u t z u n g von Handlungsspielräumen u n d die Widerständigkeit lassen bereits die Strukturen, d.h. kollektive Strategien der Rekonstruktion erkennen, die u m Land u n d Vieh zentriert waren. Viehdiebstahl bot eine Möglichkeit des Ü b e r lebens außerhalb des Zwangsarbeitssystems, stellte eine notwendige Ergänz u n g der E r n ä h r u n g f ü r Farmarbeiter dar u n d diente auch der systematischen U m v e r t e i l u n g des nach wie vor wichtigsten Produktionsmittels. Weit schwieriger gestaltete sich der Kampf u m das Land. N a c h der A u f h e b u n g der Kriegsgefangenschaft 1907 fand eine merkliche B e w e g u n g von Arbeitern hin zu Farm e n im alten H e r e r o - L a n d statt. Dieser Prozeß der » N i c h t a n e r k e n n u n g der Landenteignung« 6 3 entwickelte sich nach der M a c h t ü b e r n a h m e der Südafrikaner 1915 zu einer tatsächlichen Wiederaneignung von Land d u r c h die Besetz u n g verlassener Farmen. M i t der Befreiung von der deutschen Kolonialherrschaft verband sich f ü r viele H e r e r o die H o f f n u n g auf eine Rückgabe der ancestral lands u n d eine Befrei63 Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, S. 290f.

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ung der »Nation«. Herero-chiefs kehrten aus dem Exil zurück, und die Rückgew i n n u n g von Land und Vieh wurde intensiviert u n d systematisiert. Auf dem Land und in den Urbanen Gebieten hatten Arbeiter mit der otruppa, der Vorläuferin der otjiserandu, eine Organisation geschaffen, die wie ein Netzwerk die verstreut lebenden H e r e r o umspannte. 1923 war Samuel Maharero im Exil in Botswana gestorben und in Okahandja, seiner alten Residenz u n d Schauplatz des Kriegsausbruchs beerdigt worden. Bei diesem Anlaß trat die otjiserandu z u m ersten Mal in einer öffentlichen Funktion auf. Uniformierte Regimenter aus dem ganzen Land gaben dem chiefdas letzte Geleit und setzten ihn als Ahn und König neben seinem Vater und Großvater ein. In der Folgezeit konzentrierten sich die chiefs und von Südafrika eingesetzten headmen auf die Verbesserung der Situation innerhalb der Reservate. Z u r Durchsetzung von Interessen wurden »utopische« oder millenarische Ausdrucksformen mit konkreten »politischen« Forderungen verbunden. Die neuen Kolonialherren änderten nichts an der grundsätzlichen Enteign u n g der ancestral lands, sondern ersetzten sie durch eine Landgesetzgebung, die auf Segregation beruhte. Sie erklärten die Rücksiedlung in das zentrale HereroLand f ü r illegal u n d ließen die O r t e r ä u m e n . D e r Widerstand gegen die Zwangsumsiedlungen war der Beginn einerjahrzehntelangen Auseinandersetzung über die Landfrage. Dabei wurde das von Südafrika geschaffene Reservatssystem zu einem ideologischen u n d ökonomischen Rahmen, innerhalb dessen Herero wieder zu Viehzüchtern werden konnten u n d der zudem als Platzhalter der ancestral lands fungierte. Die Reservatspolitik der headmen war durch die Verbindung realpolitischer Forderungen mit utopischen Konzepten gekennzeichnet, die auf historisch legitimierten Landrechten beruhten. Mit der Forderung nach Rückgabe der ancestral lands nahmen die chiefs und headmen H o f f n u n g e n und Proteste der verarmten städtischen und ländlichen Bevölker u n g auf und hielten im eigenen Interesse die Situation gegenüber der Regier u n g offen. D e r Rekurs auf die Geschichte lieferte ihnen Argumentationshilfen und war Bestandteil des „langen Kampfes u m den Besitz der herausragenden Zeichen und Symbole» 64 zwischen Verwaltung und Herero-Elite. Die otjiserandu diente der Restauration alternativer Hierarchien und bot eine Möglichkeit kulturelle Autonomie zu bewahren. Nicht Widerstand gegen das koloniale System, sondern Widerständigkeit innerhalb einer kolonialen O r d nung, aus der es kein E n t k o m m e n mehr gab, war kennzeichnend f ü r diese Organisation. Sie kämpfte in einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Administration u m ihre Eigenständigkeit, symbolisiert im Recht Uniform e n tragen zu dürfen. Die otjiserandu war die Repräsentantin der vereinten Herero-Nation, deren »Erfindung« als Bewältigung des Krieges, insbesondere der Erfahrung der Isolation und Versprengung zu verstehen ist. Die Rekon64 Comaroff u. Comaroff, S. 4.

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struktionsprozesse verliefen nicht ohne innere Konflikte. Eine soziale Differenzierung, die sich auch im Gegensatz zwischen otjiserandu und den von Südafrika im Zuge der indirect rule eingesetzten headmen äußerte sowie Generationsund Geschlechterkonflikte, begleiteten die erfolgreiche Verteidigung ökonomischer und kultureller Eigenständigkeit. D e r Protest der Frauen aus d e m Waterberg-Reservat ist ein außergewöhnliches Beispiel für den Kampf einer weiblichen Elite gegen headmen und Administration, anhand dessen die unterschiedlichen Interessen von Frauen und M ä n n e r n in den Reservaten in einer Situation verschärfter sozialer Konflikte in den zwanziger und dreißiger Jahren deutlich werden. Innerhalb der Kolonialgesellschaft konnten Herero wieder zu Viehzüchtern werden u n d wehrten sich mit der bewußten Entscheidung f ü r die »ReservatsOption« gegen die Proletariserung und Isolation in Folge des Krieges. Da die südafrikanische Herrschaft z u m Teil auch auf einem »Stammeskonzept« beruhte, konnten headmen und >Führer des Volkes« immer wieder erfolgreich im N a m e n »der Herero-Nation« Ansprüche geltend machen. U n t e r Verweis auf die Geschichte bestanden sie auf einer inneren Autonomie, die von der otjiserandu verkörpert wurde, aber weit über diese Organisation hinausging. Der Konflikt zwischen dem realpolitischen und dem »utopischen« Flügel in den zwanziger u n d dreißiger Jahren zog keine nachhaltige Spaltung nach sich. Die Berufung auf eine Herero-Identität, auf »Hereroness« vermochte unterschiedliche politische, religiöse und soziale Gruppierungen zu integrieren und kennzeichnete gleichzeitig die Grenzen dieser Form von Widerständigkeit, weil sie nicht z u m Ausgangspunkt politischer Organisation wurde. Die Rücksiedlung in die alten Gebiete nach dem ersten Weltkrieg gipfelte in Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Die ancestral land waren endgültig verloren u n d der Kampf u m eine Erweiterung und Verbesserung der Reservate fand unter Anerkennung der südafrikanischen Kolonialherrschaft statt. Auf einer symbolischen Ebene eroberten Herero jedoch ihr Land zurück, wie das f ü n f t e Kapitel zeigt. Gräber und Feste wurden in der Folge der Beerdigung von Samuel Maharero z u m Ausgangspunkt einer »symbolischen Landbesetzung«. Anläßlich jährlicher Gedenktage »besetzten« die uniformierten Truppen der otjiserandu >weißes< Gebiet u n d schufen eine Erinnerungskultur, die sie gegen alle staatlichen Ubergriffe verteidigten. Gegenüber d e m Kolonialstaat waren die Feste kaum mehr als symbolische Akte, aber innerhalb der Herero-Gesellschaft gewannen sie ihre Bedeutung als O r t e der Kriegsbewältigung und der Rückeroberung der eigenen Geschichte.

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1. Kapitel Der Charakter des Krieges

Der Kriegsverlauf von deutscher Seite ist außer im Generalstabsbericht 1 in mehreren Monographien 2 sowie in zahlreichen Aufsätzen und einer Reihe von Hochschularbeiten 3 ausführlich dokumentiert und behandelt worden. Dazu kommt eine Memoirenliteratur von Soldaten, die mehr als hundert Titel allein über den Herero-Feldzug zählt. Für die Seite der Herero dagegen fehlt weitgehend Material. Über deren Kommandostruktur, Strategie, Taktik und Kriegsziele ist nur wenig bekannt. 4 Auch Angaben über die Zahl der Krieger und deren Bewaffnung beruhen allein auf Schätzungen von beteiligten deutschen Soldaten. Als Kriegsursachen gelten das Händler- und Kreditwesen, Land- und Viehverluste sowie eine allgemeine Verschärfung des politischen und sozialen Klimas Anfang des Jahrhunderts. Kontrovers diskutiert wird jedoch die Frage, welches der ursächliche Auslöser für den Kriegsentschluß war. Handelte es sich um einen spontanen Verzweiflungskampf oder um einen von langer Hand sorgfältig vorbereiteten Krieg? Im Zusammenhang damit und ebenfalls kontrovers diskutiert wird die Frage der Kriegsziele, die die deutsche Militärführung verfolgte. Weniger Beachtung fand dagegen die Frage der Kriegsziele der Herero, zumal Vertreter der »Genozid-These« hier offensichtlich keinen Erklärungsbedarf sahen oder generell von einem berechtigen Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft ausgingen. Die sogenannte »Genozid-Debatte« bestimmt bis heute akademische und populäre Diskurse über den Krieg, wobei hier die nicht zu klärenden Frage der Zahlen häufig im Vordergrund steht, ohne der Seite der Herero hinreichend Beachtung zu schenken 5 oder auch nur den

1 Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika. Auf Grund amtlichen Materials bearbeitet von der kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Generalstabes, Band I. u. II., Berlin 1906/07 (zitiert als Generalstab). 2 Drechsler, Südwestafrika; Pool, Herero-Opstand; Wallenkampj, Herero-Rebellion; Bridgman. 3 Zirkel; Seybold. 4 Gewald, Redemption, S. 2. 5 Eine Ausnahme in der neueren Diskussion ab den siebziger Jahren ist Sundermeiers Analyse, die weiter unten diskutiert wird. Die jüngst erschienene Arbeit von Jan Bart Gewald versteht den Krieg nicht nur als ungeplant und auch ungewollt von Seiten der Herero, sondern sieht sogar den unmittelbaren Anlaß für die ersten kriegerischen Handlungen in den Uberreaktionen des deutschen Distriktchef Leutnant Zürn begründet. Gewald, Redemption, Kapitel 5.

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jeweils zugrunde gelegten Begriff des Genozids, des Völkermordes zu definieren. U m Aussagen über den Charakter des Krieges zu treffen, ist es notwendig, Grundzüge der Herero-Gesellschaft im 19. Jahrhundert und die Voraussetzungen der Kolonisation nachzuzeichnen.

1.1. Die Zentralisierung der Viehzüchtergesellschaft und die deutsche Inbesitznahme der Kolonie Die Deutschen nahmen kein »unentdecktes« Land in Besitz. Missionare waren seit Anfang des 19.Jahrhunderts im Land tätig und spielten eine wichtige ökonomische und politische Rolle. An der Küste hatten Guanosammler und Walfischfänger Stationen gegründet und Teile der einheimischen Bevölkerung in ihre Dienste genommen. Großwildjäger handelten mit Fellen und Pelzen, Federn und Elfenbein; Händler fahndeten nach Rohstoffvorkommen, schlossen Landverträge mit lokalen chiefs und tauschten Rinder gegen Gebrauchsgegenstände und europäische Kleidung. 6 Schon seit 1844 bestand eine Schiffahrtsverbindung mit Kapstadt und parallel zum Ausbau des Küstenverkehrsnetzes verlief der seit Mitte des 19. Jahrhunderts begonnene Wegebau durch die N a m a - O r l a m und die Walfish Bay Mining Company. Missions- und Handelsstationen bildeten in Zentralnamibia »Brückenköpfe des von der Kapkolonie aus expandierenden Handelskapitalismus.« 7 Insbesondere die Missionsstationen entwickelten sich zu neuen internen Machtzentren mit unterschiedlichen Funktionen. Sie dienten als Umschlagplatz von Konsumgütern, Waffen, Pferden, Rindern und Jagdprodukten; in ihrem Umfeld entstand mit christlichen Gemeinden eine neue soziale Gruppierung innerhalb der afrikanischen Gesellschaft; und sie fungierten als Drehscheibe für die Kommunikation. Mit der Gründung der Missions-Handels-Actien-Gesellschafi durch die Rheinische Mission 1870 und dem Ausbau und der Befestigung von Missionsstationen verstärkte sich das politische und militärische Gewicht der Missionare, die als lokale chiefs, ovahona zunehmend an Einfluß gewannen. In den Auseinandersetzungen zwischen der N a m a - O r l a m - H e g e m o n i e und lokalen Herero-chiefs wechselten sie mehrfach die Seiten und spielten durch die Vermittlung von Friedensverträgen eine aktive Rolle. 6 Z u m 19. Jahrhundert siehe: Lau, Jonker Afrikaner; und jetzt besonders die umfassende und auf neuen Thesen beruhende Studie von Henrichsen, Herrschaft und Identifikation; sowie Gewald, Redemption und Dedering, Khoekhoe and Missionaries. Uberblicksdarstellungen zur deutschen Kolonialgeschichte siehe: Townsend·, Gründer, Westphal. 1 Henrichsen, Herrschaft und Identifikation, S. 77. Z u r ökonomischen Rolle der Mission siehe auch Loth, S. 31-34. 8 In der zeitgenössischen Literatur wird der Ausdruck »Kapitäne«, »Großleute« oder »Haupt-

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Im J a h r e 1884 erklärte das D e u t s c h e Reich formell seinen Herrschaftsanspruch über »Südwestafrika«. Seine Vertreter trafen auf eine Situation, in der Herero-c/ite/s 8 nach einer langen Phase der Auseinandersetzungen mit N a m a u n d O r l a m neue Verbündete suchten. 9 Z w a r hatte auch die britische Regierung in Südafrika ein Interesse daran, sich einen Z u g r i f f auf die großen Rinderherden der H e r e r o zu sichern, war aber nicht bereit, den chiefs militärische U n t e r stützung zu gewähren u n d sah von einer E r o b e r u n g des Gebietes ab, o b w o h l der als »Spezial-Kommissar« entsandte W. C . Palgrave mit Herero-c/ne/? Verträge abschloß, in d e n e n sie die englische O b e r h o h e i t anerkennen sollten. 1878 okkupierte Großbritannien die Walsfishbai, o h n e das völkerrechtliche Verhältnis z u m »Hinterland« zu klären, bis a u ß e n - u n d innenpolitische Ereignisse schließlich z u m R ü c k z u g der englischen Beamten führten. 1 0 Die Rheinische Mission hatte sich seit 1868 mit Schutzgesuchen an die britische sowie die preußisch-deutsche Regierung gewandt u n d forderte ab 1880 schließlich eine deutsche Intervention z u m Schutz ihrer Aktivitäten. 11 Dieses Anliegen konnte aber erst der B r e m e r Tabakhändler Lüderitz durchsetzen, der m e h r e r e Expeditionen mit d e m Ziel ausrüstete, R o h s t o f f v o r k o m m e n zu e r k u n d e n u n d dabei Kaufverträge über große Ländereien abschloß. D a sich seine H o f f n u n g auf D i a m a n t e n - u n d G o l d f u n d e nicht erfüllte, m u ß t e er den Konkurs erklären u n d verkaufte d e n v o m i h m mit m e h r oder weniger betrügerischen Mitteln erworb e n e n Küstenstreifen v o n 580.000 km 2 an die eigens gegründete »Deutsche Kolonialgesellschaft f ü r Südwestafrika«. Die w e i t r e i c h e n d e n Kolonialpläne von Lüderitz trafen in Deutschland zwar auf ein Klima verstärkter Kolonialagitation, entsprachen aber nicht der offiziellen Politik. Seit d e m E n d e der 1870er Jahre fand eine breite öffentliche Diskussion über die Notwendigkeit d e u t schen Kolonialbesitzes statt, begleitet von der G r ü n d u n g m e h r e r e r Kolonialvereine, aber O t t o v o n Bismarck bemerkte 1881: »So lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik« u n d sprach sich n o c h 1883 gegen Kolonien aus. 12 Ü b e r Bismarcks U m s c h w u n g in der Kolonialfrage gibt es eine lange, kontroverse Diskussion in der Literatur. Vermutlich machte er sich keine Illusion über die wirtschaftliche B e d e u t u n g v o n Kolonien, erkannte j e d o c h ihr

linge« fur die traditionell legitimierte Führerschaft der Herero gebraucht. Die Nama-fhte/j werden in der zeitgenössischen Literatur meist ebenfalls als kapteins oder »Kapitäne« bezeichnet. Da diese Begriffe ebenso unpräzise wie der Begriff chief sind, benutze ich diesen heute in der Afrikanischen Geschichte gebräuchlichen Begriff. 9 Zur Geschichte des 19. Jahrhunderts siehe auch: Vedder, Das alte Südwestafrika. 10 Drechsler, Südwestafrika, S. 30f. Die englische »Schutzherrschaft« brach 1880 zusammen, nachdem die Niederlage der Südafrikaner gegen die Zulu bei Isendlavane zum Sturz Disraelis beigetragen hatte und 1880 die britischen Beamten während der Kämpfe zwischen Herero und Nama nach Walfishbai flohen. 11 Gründer, S. 79.1880 erschien das Buch »Bedarf Deutschland der Kolonien?« von Missionsinspektor Fabri und legte den neuen Kurs der Missionsgesellschaft fest. 12 Zitiert nach Gründer, S. 51.

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Potential z u m Abbau innenpolitische Spannungen u n d zur Stärkung konservativ-reaktionärer Eliten. 13 Die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia läßt sich in drei Phasen einteilen. Von 1884 bis u m 1890 schlossen Regierungsvertreter offizielle »Schutzverträge« mit einigen chiefs ab und gaben dem Land den N a m e n »Deutsch-Südwestafrika«. Konzessions- u n d Landgesellschaften erwarben große Gebiete, jedoch gab es n u r wenig private Interessenten an der ökonomischen »Erschließung« und realen Inbesitznahme des Territoriums. Die deutsche Regierung übertrug politische und administrative Aufgaben an die Gesellschaften, die eine eigene »Gesellschaft-Truppe« zur Verteidigung aufstellten. 1885 traf Reichskommissar Göring im Land ein, m u ß t e aber 1888 nach Protesten der H e r e r o nach Walfishbai fliehen. In dieser Phase waren die Kolonialherren weitgehend auf die Kooperation der einheimischen chiefs angewiesen u n d übten die Schutzherrschaft n u r nominell aus.14 Der größte Teil der Nama-chiefs lehnte Verträge ohnehin ab u n d die Herero kündigten die Schutzverträge zunächst 1888, u m sie erst nach einer z u n e h m e n d e n Bedrohung durch Hendrik Witbooi 1890 wieder zu schließen. In der zweiten Phase ab 1893 nahm die Regierung die Verwaltung selbst in die H a n d u n d warb gezielt Siedler an. Eine reguläre Schutztruppe löste die Gesellschafts-Truppe ab. D e r Landeshauptmann, später Gouverneur T h e o d o r Leutwein (1894-1905) versuchte mit minimalem personellen und finanziellen Aufwand das Schutzgebiet zu kontrollieren. 15 Er schloß Bündnisverträge mit chiefs, u m diese an sich zu binden und gegen verfeindete Gruppen auszuspielen. Sein wichtigster Verbündeter wurde Samuel Maharero (1854—1923), der sich von einem Vertrag mit Leutwein die Festigung seiner Position als »Oberhäuptling«, wie es damals hieß, versprach. Leutwein ging davon aus, daß nicht die Schwächung, sondern zunächst die Stärkung einzelner chiefs diese an die deutsche Herrschaft binden würde. Das hielt ihn nicht davon ab, mit gezielten militärischen Schlägen gegen widerständige Gruppen vorzugehen, während er gleichzeitig Samuel Mahareros Bestreben, eine Zentralgewalt zu errichten, unterstützte. Letztlich begriff aber auch Leutwein den Kolonialismus zu aller erst als Geschäft und zielte darauf, den Land- und Viehbesitz zugunsten der Kolonialherren umzuverteilen. Die Rheinische Mission diente als wichtige Mittlerin zur afrikanischen Gesellschaft u n d auf ihre Infrastruktur, die Stationen, Schulen u n d Handelsverbindungen, konnten die anfänglich wenig landeskundigen Beamten zurückgreifen. »Bis 1897 hat die Mission somit zu einem ganz beträchtlichen Teil dazu beigetragen, daß aus der losen Schutzherrschaft 13 Z u r Diskussion Bismarck und die Kolonie siehe ebd., S. 51-60. In diesem Zusammenhang ist besonders auch auf H.-U.Wehlers Modell des Sozialimperialismus zu verweisen, ebd., S. 53. 14 1891 lebten 622 Weiße in der Kolonie, darunter 310 Deutsche. 15 Z u m »System Leutwein« siehe ausführlich Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, Teil 1.

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des Reichs ein weitgehend stabilisiertes Kolonialregime wurde.« 16 M e h r noch als direkte koloniale Eingriffe schwächte die Rinderpest von 1897 die HereroGesellschaft. Eine anschließende Malaria-Epidemie, gefolgt von einer H e u schreckenplage und einer Dürreperiode, führten zu einer »kulturellen Krise« (Bley) der Herero-Gesellschaft. Aufgrund der Verarmung m u ß t e n H e r e r o Lohnarbeit annehmen u n d gerieten erstmals in eine weitreichende Abhängigkeit von den Kolonialherren. Land, von d e m sich ohnehin nur noch zwei F ü n f tel nach europäischer Rechtsauffassung in afrikanischem Besitz befanden, wurde in dieser Situation zunehmend zu einem Geschäftsobjekt. O b w o h l es den Herero gelang, relativ schnell erneut Rinderherden aufzubauen, hatte sich das Machtverhältnis nachhaltig verschoben und dies schlug sich drastisch in den sozialen Beziehungen nieder. »Erst nach der Erschütterung von 1897 w u r d e n Mißhandlungen, M o r d und Vergewaltigung an Häuptlingsfamilien ohne sofortige Kriegserklärung hingenommen« 1 7 . Diese Situation änderte sich mit der Kriegserklärung von 1904. D e r bis 1907 dauernde Krieg beendete die zweite Phase der deutschen Kolonialherrschaft. Die dritte Phase von 1907 bis 1914 war durch eine rasante wirtschaftliche Entwicklung geprägt. Die Entdeckung von Diamanten und die von Lindequist eingeführte Karakulschafzucht stärkten die wirtschaftliche Basis der Kolonialökonomie, und Südwestafrika verlor seinen Status als Zuschußgebiet des Reiches. U n t e r d e m Vorzeichen des »wissenschaftlichen Kolonialismus« fand eine Reorganisation und Systematiserung der Verwaltung vor O r t statt, und in Berlin wurde ein eigenständiges Kolonialamt gegründet. Die Epoche der »Kolonialreformen« bedeutete aus Sicht der besiegten und enteigneten Bevölkerung allerdings eine Z e m e n t i e r u n g ihrer endgültigen U n t e r w e r f u n g , wie weiter unten ausführlich dargestellt wird. Die Herero-Gesellschaft, auf die die neuen Kolonialherren traf, basierte auf Viehhaltung. Es war den Herero in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelungen große Rinderherden aufzubauen' 8 u n d ihr Einflußgebiet erstreckte sich über das Z e n t r u m des Landes, von der Linie Grootfontein - O u t j o im N o r d e n bis in die Gegend südlich von Windhoek. Es war im Westen von der Namib-Wüste und im Osten von der Kalahari begrenzt. In der neuesten U n t e r suchung z u m 19. Jahrhundert stellt der Historiker Dag Henrichsen fest, daß »die Herero-Gesellschaft als Gesellschaft von Rinderhaltern par excellente, wie sie in der ethnologischen Literatur dargestellt wird,... [als] Folge der Transformationsprozesse in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts« anzusehen ist.«19 »Dies heißt nicht«, so Henrichsen weiter, »daß Herero vorher keine Rinderhalter 16 17 18 ding«, 19

Gründer, S. 115. Ebd., S. 117. Dag Henrichsen spricht von einer kombinierten Strategie des »Raiding, Breeding and Trasiehe: Henrichsen, Raiding. Henrichsen, Herrschaft und Identifikation, S. 19.

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waren und es unter ihnen vorher kein pastorales Werte- und Identifikationssystem gab.«20 Während des gesamten 19. Jahrhunderts jedoch, spielte neben der Groß- und Kleinviehhaltung die Jagd, Sammeln und in geringem Ausmaß auch der Anbau in den Tälern der Trockenflüsse eine Rolle. Verarmte Herero-Gruppen mußten periodisch ganz vom Sammeln und Jagen leben, eine Lebensweise, die mit einer sozialen Degradierung einher ging. Denn Rinder lieferten nicht nur ein wichtiges Nahrungsmittel - omaere, gesäuerte Milch - , sondern nahmen einen zentralen Platz in der kulturellen und religiösen Ordnung der Gesellschaft ein.21 Uber die Herkunftsgeschichte der Herero existieren unterschiedliche Versionen. Laut Vedder, Missionar und bis heute einflußreicher »südwester« Historiker, hatten sich die Herero während einer langsamen Wanderungsbewegung aus dem ostafrikanischen Zwischenseengebiet nach Süden in verschiedene Gruppen geteilt: die Himba, Tjimba, Mbanderu und Herero, die weitgehend eine gemeinsame Sprache und materielle wie spirituelle Kultur teilten.22 Henrichsen hat allerdings in seiner Analyse über den Zusammenhang von sozio-ökonomischem Status und ethnischer Zuordnungen im vorkolonialen und kolonialen Namibia dargelegt, daß die Bezeichnung »Herero« ursprünglich vermutlich einfach »Viehbesitzer« bedeutete. 23 Ab den 1840er Jahren setzte sich der Begriff Herero, bzw. Ovaherero bei den Europäern durch, die zuvor von Damara oder Viehdamara sprachen, wenn sie die in ihren Augen ethnisch homogenen Gruppen von Viehzüchtern meinten, die sie im Zentrum des Landes angetroffen hatten. Aus dieser Epoche stammt vermutlich auch der Ausdruck Ovatjimba für verarmte Herero, den Händler und Missionare als Eigenbezeichnung eines »Stammes« mißverstanden, während er auf einen sozialen Status und nicht auf eine ethnische Untergruppe verweist.24 Gleichzeitig setzte sich die Einteilung in West- und Ost-Herero (Mbanderu) durch, wobei die Bezeichnung Mbanderu auf eine Gruppe rekurrierte, die sich aufgrund anderer historischer Erfahrungen in ihrer Sprache, dem Verwandtschaftssystem und der Kleidung tatsächlich in manchen Aspekten von den eigentlichen »Herero«-Gruppen unterschied. 25

20 Ebd. 21 Irle, Die Herero; Almes, Holy Fire. 22 Siehe: Vedder, Wann und woher kamen die Herero, S. 109-112. Gewald, Redemption, S. 13 verweist darauf, daß nach archäologischen Ausgrabungen seit dem 11 .Jahrhundert Pastoralisten in Zentralnamibia siedelten, die möglicherweise Vorfahren der modernen Herero waren. Allgemein werden die unterschiedlichen otjiherero-sprachigen Gruppen heute in die Ovambanderu im Sandveld der Kalahari, die Ovahehero im Hochland Zentralnamibias sowie die Ovahimba im Kaokoveld eingeteilt. 23 Henrichsen, Herrschaft und Identifikation, S. 11-15. 24 Ebd., S. llffi 25 Ebd., S. 15.

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Wie in anderen pastoralen Gesellschaften kennzeichneten saisonale Wanderungen die Wirtschaftsform der Herero, die als Transhumanz bezeichnet wird. Das Vieh w u r d e jahreszeitlich von Sommer- auf Winterweiden verlegt u n d in von der Siedlung entfernten Viehposten gehalten oder bei Bedarf etwa der Teilung einer Gemeinschaft durch die G r ü n d u n g neuer homesteads, auf neu in Besitz genommenes Land getrieben. Mit dem Begriff »nomadische Viehzüchter« verbindet sich häufig die falsche Vorstellung einer wandernden Gesellschaft ohne feste Ortschaften. Die Herero siedelten jedoch in Dörfern oder sogenannten Werften, 26 Ortschaften, deren Besitzanspruch durch Preislieder legitimiert und abgesichert wurde. 27 Wie in allen akephalen, staatenlosen Viehzüchtergesellschaften basierte die Macht und Legitimation der Herero-chiefs, der ovahona (sg. omuhona), jedoch nicht in erster Linie auf ihrer Herrschaft über ein klar begrenztes Territorium, sondern ergab sich aus der Fähigkeit, Gefolgschaft zu rekrutieren u n d den Viehbestand zu mehren und zu sichern. 28 »Land w u r d e nicht fur den privaten Besitz oder Gebrauch verteilt. Vor allem aufgrund der physischen Mobilität und des k o m m u n a l e n Landbesitzes kannten die Herero keinen festgelegten Grenzbegriff.« 29 Wo mein Vieh geweidet hat, ist Herero-Land - so lautete ein viel zitierter Ausspruch von Herero. Landansprüche basierten auf Verhandlungen u n d Auseinandersetzungen über Einflußgebiete, Weiderechte u n d die N u t z u n g natürlicher oder angelegter Brunnen. Ein fehlendes Konzept von Territorialbesitz bedeutet keineswegs, daß die Landfrage unwichtig war, ganz im Gegenteil; der Missionswissenschaftler T h e o Sundermeier bezeichnet Land in Afrika als »mythisches Urdatum« 3 0 , wobei allerdings die Vorstellung eines individuellen oder k o m m u n a l e n Besitzrechtes historischen Veränderungen unterlag. Zunächst jedoch strukturierten nicht Grenzen, sondern Wasserstellen und Brunnen die imaginäre Landkarte der Viehzüchter. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, mit der Bedrohung durch die Orlam-Hegemonie und der damit verbundenen politischen Zentralisierung und schließlich den Ansprüchen der deutschen Kolonialherrschaft, spielten Grenzziehungen im Sinne territorialer Herrschaftsansprüche eine größere Rolle. Die Abwesenheit klar definierter Grenzen, die weiträumige N u t z u n g des Landes und die saisonalen Wanderungen von Menschen und Vieh führten bei den ersten Kolonialbeamten häufig zu dem Eindruck, große Teile des Landes seien ungenutzt u n d leer, und obwohl sie im G r u n d e nicht daran zweifel-

26 »Werft« bedeutet Gehöft, Siedlung, kleines Dorf, das von einem engeren oder erweiterten Familienverband bewohnt wird. »Die Werft« bezeichnet sowohl den konkreten Ort als auch die Zugehörigkeit. Dieser Begriff wurde später für jede Siedlung von Afrikanern im ländlichen und städtischen Bereich benutzt. 27 Siehe: Henrichsen, »Ehi rOvaherero«. 28 Lehmann, Häuptlingtum, S. 28-43; ders., Häuptlings-Erbfolgeordnung, S. 85. 29 Emmett, African Nationalism, S. 27.

30 Sundermeier, Mbanderu, S. 124. 35

ten, daß das Land den Herero »gehörte«, führten auch solche Wahrnehmungen zu Konflikten. Das äußerst komplexe Organisations- u n d Verwandtschaftssystem der H e r e ro hat in der Literatur unterschiedliche Darstellungen erfahren. 31 Selbst zentrale Elemente gesellschaftlicher Organisation, wie etwa die Rolle von Frauen, die Anzahl und Hierarchie der einzelnen chieftaincies u n d Abstammungsgruppen sowie Fragen der politischen und religiösen Machtverteilung zwischen Familienoberhäuptern und chiefs, sind f ü r das 19. und 20. Jahrhundert nicht eindeutig zu bestimmen. Wie das Landkonzept unterlag auch die Gesellschaftsordnung und damit verbunden das Verwandtschaftssystem einem stetigen historischen Transformationsprozeß aufgrund innergesellschaftlicher u n d äußerer E n t wicklungen. So spiegeln widersprüchliche Darstellungen in der Forschungsliteratur nicht n u r unterschiedliche ethnologische Schulen und das jeweilige Wissen der Zeit wieder, sondern auch die realen Veränderungen innerhalb der Herero-Gesellschaft. Idealtypisch beruht das Verwandtschaftssystem auf einer doppelten Abstammung, bei der das Kind in die eanda (pl. omaanda) der Mutter und in die oruzo (pl. otuzo) des Vaters hineingeboren wird und Anspruch auf einen Teil des j e weils diesen G r u p p e n zugeordneten Besitzes, v.a. des Viehs, hat. Darüber hinaus gehört ein Kind zur eanda der Mutter des Vaters und der des Großvaters väterlicherseits. U b e r die omaanda der Mutter und der väterlichen Großeltern ist es also in drei Familienverbände u n d über die oruzo des Vaters in eine in erster Linie religiös-rituell bestimmte Gruppe, die nicht unbedingt auf Blutsverwandtschaft beruht, eingebunden. Das Verwandtschaftssystem wird durch religiös-soziale Bindungen der unterschiedlichen otuzo und omaanda untereinander sowie durch Altersgruppen und lokale Allianzen von Nachbarschaften ergänzt. Jeder Mensch wird also in eine Vielzahl von Abstammungs- und sozialen Gruppen hineingeboren oder ihnen zugeordnet, und so entsteht ein N e t z werk, das praktisch das ganze Land u n d jeden Herero umspannt. 3 2 Innerhalb dieses Netzwerkes gab es führende, das heißt reiche Familien, die von einem Oberhaupt repräsentiert wurden, das zugleich in der Regel die priesterlichen Pflichten am okuruuo, d e m Heiligen Feuer, erfüllte, welches der j e weiligen oruzo zugeordnet wird. 33 Diese W ü r d e war zwar erblich, hing aber letztlich von der Fähigkeit des Erben ab, sein Vieh und seine Gefolgschaft zu vermehren, da jeder fähige M a n n unabhängig von seiner H e r k u n f t z u m omuhona, z u m Herren, aufsteigen konnte. Das Vieh wurde innerhalb der omaanda u n d der o tuzo vererbt, und der älteste Sohn als Nachfolger des Vaters erbte n u r einen kleinen Teil des oruzo-Viehs des Vaters. Daher fand immer wieder eine Auftei31 Irle, Die Herero; Sundermeier, Mbanderu; Hagolani-, Gibson; Malati. 32 Siehe auch Sundermeier, Mbanderu, S. 112-119. 33 Anders Sundermeier, Gemeinschaft, S. 113 der davon ausgeht, daß Priesteramt und politische Führung getrennt waren.

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lung ökonomischer u n d damit politischer Macht statt. Für eine Viehzüchtergesellschaft, die aufgrund der ökologischen Bedingungen ihre H e r d e n i m m e r wieder teilen u n d verlagern mußte, hatte dieses Prinzip den Vorteil, daß einerseits ein N e t z w e r k v o n Beziehungen über das ganze Land geschaffen w u r d e u n d andererseits die jeweils erfolgreichsten Viehzüchter eine Vorrangstellung unabhängig von ihrer G e b u r t erreichen konnten. Eine politische Zentralgewalt kannte die Herero-Gesellschaft im 18. u n d f r ü h e n 19. J a h r h u n d e r t nicht. Es bildeten sich allerdings im Z u g e der E i n f ü h r u n g von Pferden u n d Waffen aus Südafrika u n d aufgrund der Konflikte mit N a m a - O r l a m G r u p p e n im letzten Drittel des 19. J a h r h u n d e r t chieftaincies heraus, d e n e n sich die unterschiedlichen clans u n d Familien zuordneten, u n d die schließlich auch Ansprüche auf bestimmte, abgegrenzte Territorien erhoben. Ein halbes J a h r h u n d e r t bevor die deutsche Kolonialmacht zu einem neuen E i n flußfaktor in Zentralnamibia wurde, hatten innerhalb der Herero-Gesellschaft bereits tiefgreifende Veränderungen durch die Präsenz von Missionaren u n d O r l a m sowie die E i n b i n d u n g in d e n expandierenden Handelskapitalismus stattgefunden. Seit d e m späten 18. J a h r h u n d e r t wanderten O r l a m - G r u p p e n aus der Kapkolonie in den Süden des heutigen Namibia ein. Ausgerüstet mit Pferden u n d Waffen, zu großen Teilen christianisiert u n d vertraut mit europäischen Waren, Sprachen u n d Denkweisen waren die O r l a m eine typische Erscheinung der südafrikanischen Kolonial- u n d Grenzgesellschaft, derfrontier, 34 N a c h k o m m e n der f r ü h e r das Kap beherrschenden Khoikhoi clans, entlaufene u n d freigelassene Sklaven, »Mischlinge«, die weder in der »weißen« noch in der afrikanischen Gesellschaft assimiliert w u r d e n , Grenzgänger, Vertriebene u n d Abenteurer bildeten n e u e sozio-politische Einheiten, deren wirtschaftliche Grundlage Jagd, Handel, Viehzucht u n d eine Tribut- u n d R a u b ö k o n o m i e w a ren. U n t e r J o n k e r Afrikaner etablierte sich die »Orlam-Hegemonie« zwischen 1830 u n d 1865 im N a m a l a n d ( G r o ß N a m a q u a l a n d ) u n d Zentralnamibia. 3 5 Organisiert in sogenannten Kommandos u n t e r n a h m e n die O r l a m groß angelegte Raubzüge bis in das Herero-Land, zwangen die chiefs als Vasallen unter ihren Einfluß, oder raubten deren H e r d e n , die sie gegen Pulver, Blei u n d Pferde auf die Märkte der Kapkolonie handelten. U m 1840 stand Zentralnamibia unter der Herrschaft v o n J o n k e r Afrikaner u n d seinen Herero-Vasallen Kahitjene u n d T j a m u a h a . Orhrn-kapteins gingen Bündnisse mit d e n südlichen Herero-chiefs ein, d e n e n sie im Tausch gegen Arbeitskraft u n d Landeskenntnis militärischen Schutz boten. Einzelne chiefs wie T j a m u a h a u n d sein Sohn M a h a r e r o erhielten Gewehre u n d k o n n t e n so »Raubzüge auf eigene R e c h n u n g d u r c h f ü h r e n u n d ihren Anfang der 1840er Jahre zahlenmäßig kleinen clan in d e n 1850er J a h r e n als d e n mächtigsten und w o h l 34 Zurfrontier siehe: Lamar u. Thompson sowie Elphick u. Gäiomee. 35 Siehe hierzu: La«, Jonker Afrikaner's Time.

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habendsten im südlichen Herero-Land etablieren.«36 Auf der Basis solcher Bündnisse errichteten die Orlam ein weitläufiges Tributsystem, in das sie auch die europäische und afrikanische Bevölkerung der Missionsstationen und Teile der europäischen Händlerschaft einbezogen. Einzelne Herero-c/n'e/s übernahmen dieses System und konzentrierten ihrerseits Macht, d.h. Gefolgschaft und Vieh, die sie militärisch verteidigen konnten, und die Ausweitung der Tributund Raubpolitik führte zu einer starken sozialen Differenzierung. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen »Nama« und »Herero« im 19. Jahrhundert, ein zentraler Topos der Geschichtsschreibung, beruhten weniger auf ethnischen Konflikten, als viel mehr auf Raubzügen und Vergeltungsschlägen jeweils unterschiedlicher Bündnisse. Als 1861 Tjamuaha und Jonker Afrikaner starben, begann der Niedergang der Orlam-Hegemonie. Ab 1860 war es einer Reihe von Herero-c/ue/s gelungen, durch eigene Tributsysteme und die Teilnahme an der kommerziellen Großwildjagd sowie an interegionalen Handelssystemen, große Viehherden aufzubauen. Pferde und Gewehre boten neue Möglichkeiten, Machtpositionen zu sichern und auszubauen und das »goldene Zeitalter«, von dem Henrichsen spricht, hatte hier seine Grundlage: »Seit den 1870er Jahren galten Herero, die in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig keine Viehhalter waren, als wohlhabende Viehhalter par excellance.«37 Vorausgegangen war 1863 der sogenannte »Freiheitskampf der Herero«, der ausgehend von der Missionsstation Otjimbingue das militärische Gleichgewicht im südlichen Herero-Land verschob.38 Dieser »Freiheitskampf« begründete eine drastische Umverteilung des Viehbesitzes und den Aufstieg von Maharero, der mit einer breiten Bündnispolitik andere chiefs, Missionare und Händler für seine Interessen gewann. Er erklärte sich von Christian Afrikaner, dem Nachfolger Jonker Afrikaners unabhängig, ging aber Bündnisse mit anderen Nzmz-chiefs ein, was noch einmal unterstreicht, wie wenig ethnische Konflikte als Erklärungsmodell auch für die Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts greifen. 1868 hatte sich Maharero so weitgehend etabliert, daß Jan Jonker Afrikaner, der Nachfolger von Christian Afrikaner, bei ihm um einen Waffenstillstand nachsuchen mußte. Die Mission spielte eine wesentliche Rolle im gesellschaftlichen Gefüge dieser Zeit, wie bereits weiter oben angedeutet. 1842 begann die Rheinische Missionsgesellschaft ihre Arbeit mit den Missionaren Hahn, Kleinschmidt und Bam zunächst in Windhoek, dem Sitz von Jonker Afrikaner. 39 Nach Konflik-

36 Henrkhsen, Herrschaft und Identifikation, S. 153. 37 Ebd., S. 186. 38 Z u r Diskussion der Rolle des schwedischen Händlers Andersson siehe: Lau, Jonker Afrikaner's Time, S. 133f. und Henrkhsen, Herrschaft und Identifikation, S. 332f. 39 Menzel, S. 57.

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ten40 zogen sie weiter nach Norden und gründeten Stationen im Herero-Land. Missionar Hahn ließ sich 1844 in Otjikango (Neu Barmen) nieder und Missionar Rath gründete 1849 Otjimbingue. Es folgten Okahandja (1850), Otjosazu (1872), Otjiseva (1873) und weitere Stationen, die ebenfalls an den Hauptsitzen von chiefs eingerichtet und zu festen Niederlassungen und Handelszentren wurden. Missionar Hahn konnte erst nach vierzehnjähriger Arbeit seinen ersten Täufling vorweisen: Johanna Maria Gertse. Während die Missionierung eher schleppend voranging, hatten die Missionare eine wichtige Funktion als Diplomaten, Händler, Lehrer und Dolmetscher für die chiefs. Im Zuge der Konsolidierung ab den 1860er Jahren schickten die Hetero-chiefs ihre Kinder zunehmend zur Ausbildung in die Missionsschulen. 1865 gingen bereits 100 Jugendliche in die Schule in Otjimbingue, von denen ein Teil eine Weiterbildung als Lehrer absolvierte.41 Von Anfang an gehörte die Herero-Oberschicht, anders als in vielen anderen Missionsgebieten im südlichen Afrika, zu den ersten Gemeindemitgliedern. Durch Heiraten untereinander verfolgte die Herero-Elite offenbar eine »gezielte Christianisierung« (Henrichsen). Durch gegenseitige Patenschaften verbanden sich Missionarsfamilien und christliche Herero-Familien in einem »verwandtschaftlichen« Netzwerk. Die neuen Bindungen und Loyalitäten führten innerhalb der Herero-Oberschicht jedoch auch zu Konflikten, die sich zum Teil als Generationskonflikte herauskristallisierten, denn die Mehrheit der Täuflinge war zwischen 18 und 35 Jahren alt. U m die Missionsstationen bildete sich eine eigene soziale Gruppierung mit vielfältigen familiären und tributären Beziehungen zur alten Herero-Gesellschaft, aus deren Mitte wichtige chiefs wie Samuel Maharero stammten. Die Machtbasis der Mission im 19. Jahrhundert beruhte also weniger auf religiöser Bekehrung, als vielmehr auf ihrer politischen und wirtschaftlichen Rolle im Zentralisierungsprozeß der Herero-Gesellschaft. Sie unterstützte die Herero gegen die Orlam-Hegemonie und trug durch schwunghaften Waffenhandel zur Militarisierung der Gesellschaft bei, die wiederum Voraussetzung der Zentralisierung von Macht war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich fünfchieftaincies herausgebildet. Das zentral gelegene Gebiet um Okahandja war Einflußgebiet von Maharero Tjamuaha, dem nach seinem Tod 1890 sein Sohn Samuel Maharero folgte. Im Omaruru lebte die Gruppe von Manasse Tjiseseta, ab 1898 von seinem Sohn Michael regiert. In der Gegend von Otjozondjupa (Waterberg) hatte sich Kambazembi etabliert, der 1903 starb und von seinen Söhnen Salatiel und David gefolgt wurde. Die Region Otjimbingue war das Gebiet von Zacharias Zeraua, und in der Region Gobabis lebten die sogenannten Ost-Herero, die Mbanderu, unter dem 1896 als »Aufrührer« hingerichteten Kahimemua. 40 Gewald, Redemption, S. 16 und dort Fußnote 18. 41 Henrichsen, Herrschaft und Identifikation, S. 395.

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Die Herero-chiefs hatten im Zuge der Konsolidierung und Zentralisierung das N e t z der Missionsstationen genutzt u n d an europäische Händler Landund Minenrechte abgegeben, u m diese an sich zu binden. Mit den Landerwerbungen von Lüderitz im Namaland u n d im Gebiet der Walfischbai erhielt diese »Kozessionspolitik« einen kolonialpolitischen Charakter. 42 Maharero, über die Landverkäufe durch die Nama-chiefs an Lüderitz von Missionar H u g o H a h n unterrichtet, verfaßte umgehend eine Proklamation in deutsch und otjiherero, u m sein Land vor einer sich abzeichnenen Kolonisierung zu schützen. In der Proklamation grenzte er seinen Einflußbereich in Zentral- und Nordwestnamibia ab, erklärte sich z u m Oberhäuptling und legitimierte seinen Anspruch mit einem Siegel, das ihn als König von Herero-Land auswies. 43 Hier liegen die ersten Ursprünge einer >Herero-NationWas wollt Ihr Deutschen? In Deutschland putzt mir ein Weißer die Stiefel.< M a n wird daher o h n e weiteres begreifen, weshalb m a n unerbittlich u n d o h n e A u s n a h m e an d e m G r u n d s a t z festhalten m u ß , die Eingeborenen auf heimatlichem B o d e n zu belassen, wo sie das bleiben, was sie sind.« Brockmann, S. 111 ( H e r v o r h e b u n g e n d. Vf.). Die Geschichte demonstriert sowohl die D e m ü t i g u n g e n , d e n e n selbst Herero-chiefs ausgesetzt waren, als auch bereits d e n A n spruch der Kolonialherren, die »Eingeborenen« hätten das zu bleiben, was sie angeblich waren, der sich nach d e m Krieg erheblich verschärfte. 51 Pool, Samuel Maharero, S. 198f. 52 Drechsler, Südwestafrika, S. 132.

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bisher zu ihren zentralen Weidegebieten gehört hatten. Da die Regierung unter Leutwein drohende U n r u h e n aufgrund der z u n e h m e n d e n Landverluste voraussah, plante sie einen Teil des Landes als Reservate einzurichten. Hierin wurde er von der Mission unterstützt, die dabei auch eigene Interessen verfolgte. Z u r Sicherung eines Missionskonzepts, das auf d e m Ideal dörflicher Gemeinschaften beruhte, die sich u m Missionsstationen ansiedeln sollten, war es notwendig, zumindest einen Teil des Landes dem Zugriff von Landgesellschaften und Siedlern sowie den Verkaufsabsichten der chiefs zu entziehen. In den Jahren 1902 u n d 1903 gab eine eingesetzte Regierungskommission die Grenzen der geplanten Reservate bekannt, die weniger den Interessen der Herero als denen der Siedler dienten. Das Okahandja-Reservat Schloß nicht nur den O r t Okahandja aus, der seit 1868 der Sitz des Maharero-c/ans gewesen war, sondern auch das wasserreiche Gebiet am Waterberg. Regierung und Mission bezeichneten die geplanten Reservate als »Schutzgebiete«, aber die Reservatspläne waren ein eindeutiges Zeichen der grundlegenden Ä n d e r u n g der Machtverhältnisse: Nicht m e h r Herero-cfoie/s teilten Land zu oder verkauften es, sondern die Kolonialregierung und die Konzessionsgesellschaften beanspruchten die Hoheitsgewalt über das Territorium, auch w e n n sie ihren Herrschaftsanspruch bis nach dem Krieg nicht immer durchsetzten. 53 O b w o h l noch keine akute Landknappheit herrschte - die H e r d e n waren durch die Rinderpest immer noch erheblich reduziert - gingen mit der Aneignung von Land durch Kauf, Beschlagnahmung und willkürliche Besetzung durch die Deutschen Grenzziehungen einher, die die Mobilität der Herero-Viehzüchter entscheidend einschränkte. Während Maharero und einige andere chiefs versuchten, durch enge Kooperation mit der deutschen Kolonialregierung Vorteile zu erlangen, 54 verfolgten andere chiefs eine Strategie des Rückzugs. Einige wanderten ganz aus u n d ließen sich im Betschuanaland nieder. 55 Wie das Vieh besaß auch das Land einen Wert über seine ökonomische Funktion als Produktionsmittel hinaus. So schreibt der Theologe T h e o Sundermeier, das Land »ist durch die Ahnen geweiht. Es gehört dem Volk, es kann nicht enteignet u n d nicht veräußert werden. Kein Individuu m hat Anrecht darauf, auch der Häuptling besitzt kein Privatrecht. Selbst w e n n er es j e m a n d e m zuteilt, wird es nach d e m Tode des >Pächters< (Lehnsträger) an den Stamm zurückfallen. Jeder >Verkauf< war letztlich n u r ein Leihen auf Lebenszeit.« 56 D e r Begriff von Landeigentum in der Herero-Gesellschaft ging also von Nutzungsrechten, nicht aber von Privatbesitz aus. Dieser Unterschied war den Herero durchaus klar, u n d führte zu scharfen Konflikten unter den

53 Die Landgesellschaften, größter Landbesitzer zu dieser Zeit, vertrieben Herero offensichtlich nicht von ihren Erwerbungen. Siehe Gewald, Redemption, S.25. 54 Leutwein schrieb, er habe »zehn Jahre lang seitens des Oberhäuptlings eine Unterstützung erfahren ..., die nahezu an Verrat an seinem eigenen Volke grenzte.« Ders., ElfJahre, S. 511. 55 Lehmann, Häuptlings-Erbfolgeordnung, S. 85; siehe auch: Vívelo, The Entry of the Herero. 56 Sundermeier, Mbanderu, S. 91.

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Herero-c/ite/s, die wußten, was die Landverkäufe von Samuel Maharero an die Deutschen implizierten. Der Konflikt der unterschiedlichen Rechtsauffassungen wird in einer Geschichte deutlich, die in vielen verschiedenen Versionen überliefert ist: »Die Deutschen kamen und sagten Kahimemua, daß sie Land wollten. >GutDa habt ihrhier ist Land für euch.< Die Deutschen wurden wütend und sagten, daß sie keine Erde wollten, die man in Gefäße füllen kann, sondern daß sie unsere Erde, unser Land wollten.«57 Schon 1902 besaßen einige hundert deutsche Siedler nach einer amtlichen Viehzählung 44.490 Rinder. Damit war der Viehbesitz der Siedler nahezu auf die Größe der afrikanischen Herden in der gesamten Kolonie angewachsen, die 45.910 Rinder umfaßten.58 Mit den Landverkäufen und dem Landraub, dem geplanten Eisenbahnbau und den Reservatsplänen wurden Fakten geschaffen, welche die Lebensgrundlage der Viehzüchtergesellschaft grundsätzlich bedrohten. Gleichzeitig und ursächlich damit verbunden, hatte sich das soziale Klima weiter verschärft. Die Prügelstrafe59 war weit verbreitet, und am Vorabend des Krieges häuften sich brutale Ubergriffe von Siedlern und Händlern auch auf Angehörige führender Herero-Familien. So prügelte ein Bäcker Assa Riarua, den Sohn des »Feldhauptmanns« von Maharero Tjamuaha, mit der Peitsche aus seinem Laden, und der deutsche Händler Dietrich ermordete eine Schwiegertochter von Zacharias Zeraua.60 Diese Gewalttaten sowie ungerechte 57 Zitiert mchAltiaes,

Living w i t h the past, S. 275; eine andere Version findet sich bei Poewe, S.

69. 58 Drechsler, Südwestafrika, S. 129. 59 I m Juli 1900 verfaßten f ü n f u n d s i e b z i g B e w o h n e r des Bezirkes W i n d h o e k ein G e s u c h an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, als Reaktion auf Reichtagsdebatten zur A b s c h a f f u n g der Prügelstrafe. H i e r schrieben sie » O h n e Zweifel liegen diesem Antrag h u m a n e Ansichten z u grunde, wie solche n u r in der H e i m a t entstehen k ö n n e n , w o m a n w o h l Fragen ü b e r Eingeborene theoretisch erörtern kann, aber j e d e praktische E r f a h r u n g f ü r dieselben n o c h gänzlich f e h l t . . . Für Milde u n d Nachsicht hat der Eingeborene auf D a u e r kein Verständnis«, zitiert bei Melber, Kolonialismus u n d Widerstand, S. 28. D r e i ß i g j a h r e später steht in der Geschichte der ehemaligen Kaiserlichen Landespolizei: »Uber die N o t w e n d i g k e i t u n d Berechtigung der Prügelstrafe gegen Farbige ist viel geschrieben u n d geredet w o r d e n . Als eines Kulturvolkes u n w ü r d i g u n d mit sozialen u n d erzieherischen G r u n d s ä t z e n unvereinbar, wollte m a n sie von Deutschland, v o m g r ü n e n Tisch aus, abschaffen. Aber in Afrika k o n n t e u n d wollte m a n sie als Erziehungs- u n d Strafmittel gegen die unkultivierten, aller Ehrbegriffe baren, inländischen Farbigen nicht entbehren.«, Rafalski, S. 403. Die Prügelstrafe w u r d e stets mit zwei Rechtfertigungsmustern begründet: e n t w e d e r w u r d e n Afrikaner »als große Kinder« betrachtet, oder ihre »wilde Natur« machte die körperliche Z ü c h t i g u n g unabdingbar. Ein gesetzliches Züchtigungsrecht stand Privatpersonen in der Kolonie nicht zu, w u r d e aber in Analogie z u m Bürgerlichen Gesetzbuch u n d zur G e w e r b e o r d n u n g , die leichte Z ü c h t i g u n g e n v o n Kindern, Schülern u n d Lehrlingen zuließen, als Bestandteil der Erziehungspflicht zugebilligt. Siehe Mamozei, D e r Fall C r a m e r , S. 42 sowie Schröder, Prügelstrafe. 60 Drechsler, Südwestafrika, S. 135.

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Gerichtsurteile verdeutlichten den Herero, welche Stellung ihnen in der kolonialen Hierarchie zugedacht war.61 Die Verbitterung über Gewalt und Demütigungen blieben den Missionaren nicht verborgen. So schrieb Missionar Brockmann: »Wie fernes Donnergrollen vor dem Gewitter konnte es mir sein, wenn mein treuer Gemeindeältester Elphas mir eines Tages sagte: Muhonge, wir wünschen nicht geschlagen zu werden, sonst könnte es sein, daß wir auch mal wiederschlagen.«62 Die faktische und symbolische Entmachtung der Herero in Folge der Kreditverordnungen, des Eisenbahnbaus, der Reservatspläne und der zahlreichen Übergriffe müssen als Ursache des Krieges begriffen werden. Das von Herero Frauen im Krieg gesungene Lied ( o m u t a n g o ) »Wem gehört Herero-Land? Uns gehört Herero-Land!«, 63 benennt die Landfrage in einem ganz umfassenden Sinn als das Hauptmotiv für den Kriegsentschluß.

1.2. Kriegsursachen und Kriegsverlauf Der Beginn des »Herero-Aufstandes« wird auf den 12.Januar 1904 datiert. Dieser Aufstand war Teil eines Krieges zwischen fast allen Völkern in Zentralnamibia und der deutschen Kolonialmacht, der in verschiedenen Phasen verlief und sich teilweise bis in das Ovamboland im Norden des Landes ausweitete. Dem Ausbruch des Krieges im zentralen Herero-Land ging im Oktober 1903 eine Auseinandersetzung mit den Bondelswarts im Süden des Territoriums voraus, die zu einem Guerillakrieg führte, in den der Großteil der 800 Mann zählenden Schutztruppe und deren Hilfstruppen, die sich aus Witbooi-Kriegern und sogenannten »Rehobother Bastern« rekrutierten, verwickelt wurde. 64 Leutwein verlegte drei Kompanien aus Zentralnamibia in den Süden, war aber vorerst nicht in der Lage, den Widerstand niederzuschlagen. Als der HereroKrieg im Januar 1904 unter der Führung von Samuel Maharero begann, waren im Herero-Land nur noch die 4. Feldkompanie in Outjo und ein kleine Schutz61 Seit Leutweins Abzug in den Süden E n d e 1903 gab es allein zwölf Tötungsdelikte durch Siedler u n d Soldaten. Zirkel, S. 59. 62 N A N Private Accessions A.497: Lebenserinnerungen von J o h a n n Heinrich Brockmann, nach der Urschrift bearbeitet von seinem jüngsten Bruder Wilhelm Brockmann, S. 37. 63 Hier zitiert nach: Rohrbach, Deutsche Kolonialwirtschaft, S. 332; Sundermeier, Mbanderu, S. 92. 64 Für die männliche Bevölkerung von Rehoboth w u r d e 1895 eine offizielle Wehrpflicht eingeführt, u n d H e n d r i k Witbooi hatte sich 1895 im Schutzvertrag damit einverstanden erklärt, mit allen waffenfähigen M ä n n e r n Heeresfolge zu leisten. Siehe: Sudholt, Eingeborenenpolitik, S. 134140. Leutwein war der Auffassung, »daß m a n in d e m unwegsamen, weiten Südwestafrika Eingeborene n u r mit Hilfe von Eingeborenen besiegen könne«, u n d äußerte sich entsprechend positiv über die Qualitäten und den N u t z e n »eingeborener Soldaten«. Leutwein, Elf j a h r e , S. 522, S. 5 2 6 532.

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truppenabteilung in Grootfontein stationiert.65 Bevor Leutwein persönlich im Süden die Führung des Feldzugs übernahm, hatte er jedoch möglichst viele weiße Reservisten im Herero-Land eingezogen. Die Herero konzentrierten sich in einer ersten Angriffswelle auf die Farmen im Distrikt Okahandja und töteten mehr als einhundert deutsche Siedler, Händler und Soldaten in einem Überraschungsangriff. 66 In der Kolonial- und Erinnerungsliteratur wird durchgängig behauptet, der Krieg sei plötzlich und unerwartet ausgebrochen. Dabei wird gleichzeitig von durchaus sichtbaren Vorbereitungen der Herero wie etwa dem umfangreichen Kauf von Proviant und Ausrüstung berichtet. Überliefert ist weiterhin, daß Hausangestellte vor Kriegsbeginn Siedler warnten. Margarethe von Eckenbrecher, eine Farmerin, berichtet in ihren Erinnerungen, daß sie eines Tages hörte, wie die »Waschfrau Emma« ihrem Sohn das Lied vorsang: »Ihr armen Weißen. Ihr kommt ja doch um in diesem Land. Du kleines Kind kannst nichts dafür, daß Du hier geboren bist. Aber auch Du mußt sterben. Ich weine und mein Sohn weint, aber es hilft uns nicht.«67 Offensichtlich aber machten Überlegenheitsgefühl und Überheblichkeit viele Siedler für die Warnungen und Zeichen bevorstehender U n ruhen unempfänglich. Die Überraschung angesichts des »Aufstandes« war offenbar eher ein Erschrecken angesichts der eigenen Machtlosigkeit. Gerade die Siedler und Politiker, die »ihre Herero kannten«, reagierten schockiert und entsetzt.68 Auch die Missionare sahen zwar die Gefahr einer Erhebung, konnten sich aber nicht vorstellen, daß die Herero und besonders »ihre« Gemeinden einen solchen Schritt wagen würden. Tatsächlich zögerten besonders die christlichen Gemeinden in Omaruru, Otjimbingue und Otjosazu, sich dem Krieg anzuschließen. Eine klare Trennung zwischen »christlichen« und »heidnischen« Herero, wie es die Missionare gern gesehen hätten, läßt sich jedoch nicht treffen. Die Gemeinden und Siedlungen um die Missionsstationen waren gespalten, und oft drängten die Jungen und Radikalen zum Anschluß an den Krieg, als die Missionare in den ersten Tagen noch versuchten zu verhandeln. Die Gemeindemitglieder hegten keine Illusionen über die deutsche Kriegführung und wußten, daß sie von den Missionaren keinen Schutz erwarten konnten. Umgekehrt schützten die Herero-Truppen, besonders die alten Gemeindemitglieder, allerdings die Missionare und sahen deren Häuser häufig als neutrales Gebiet an, in das Frauen und Kinder der Siedler geschickt wurden, die auf ausdrückli65 Z u r Verwaltung und formalen Struktur der Schutztruppe siehe: Nuhn, S. 20; zu den einheimischen Hilfstruppen, deren Bedeutung Trotha völlig zu Unrecht herunterspielen wollte, siehe: Zirkel, S. 225. 66 Eine Liste der Getöteten mit Berufsbezeichnungen findet sich bei Rust, Krieg und Frieden, S. 145f. 67 Eckenbrecher, S. 106. 68 Btey, Kolonialherrschaft, S. 215.

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chen Befehl Samuel Mahareros nicht angegriffen werden sollten. In Omaruru verhandelte Michael Tjiseseta nach Kriegsausbruch noch täglich mit Missionar Dannert und schickte ihm am 28. Januar 1904 folgenden Brief: »Mein geliebter Lehrer, ich sage, ich will nicht, dass Du draussen seiest, wenn die Leute schiessen. Einige Leute sind Christen, andere Heiden. Ich will nicht, dass sie Dir etwas Boeses antun. Ihr und Mister Purainen [ein finnischer Händler, d. Vf.], wandelt nicht draussen, kommt nicht heraus, wenn das Gewehr schiesst. Damit genug. Grossen Gruss! Ich [bin] Haeuptling Michael Tjitjiseta [Tjiseseta], Omaruru.« 69 Den Überfällen auf Farmen folgte die Belagerung der wichtigsten Ortschaften Windhoek, Okahandja, Omaruru, Otjimbingue sowie Grootfontein und Outjo im Norden. Die deutsche Bevölkerung, die bereits am 11. Januar vor den anrückenden Herero-Truppen gewarnt worden war, floh in Festungen und andere feste Gebäude, die von den Herero-Truppen während des gesamten Kriegsverlaufes aus unbekannten Gründen nicht angriffen wurden. Sie beschränkten sich auf die Unterbrechung von Eisenbahnlinien und Telegraphenleitungen, Belagerungen und Feldschlachten. Zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen standen geschätzten 8.000 Herero-Soldaten mit einer Bewaffnung von 4.000 Gewehren 2.000 Schutztruppensoldaten und Reservisten gegenüber. 70 Der Abteilung unter Hauptmann Franke, die auf dem Weg in die südlichen Kampfgebiete kehrtmachte, gelang es Mitte Januar, nacheinander die belagerten Ortschaften zu befreien und dabei die Herero in mehrere Gefechte zu verwickeln. Die Herero zogen sich daraufhin zurück und sammelten sich mit ihren Familien und ihren Herden am Waterberg, bei Okahandja und in der Nähe von Gobabis.71 Leutwein konnte zunächst nicht glauben, daß »seine Herero« tatsächlich einen Krieg geplant hatten. Er kehrte jedoch aus dem Süden zurück, nachdem er einen schnellen Friedensvertrag mit den rebellierenden Bondelswarts geschlossen hatte. Die Schutztruppe hatte bereits im Januar Verstärkung durch eine deutsche Marieneeinheit aus Kapstadt erhalten, und Leutwein gruppierte die Einheiten neu. Im März 1904 war die Schutztruppe reorganisiert: Die Ostabteilung unter Major von Glasenapp bekam den Auftrag, die Grenze nach Betschuanaland abzusperren, um eine Verlagerung der Herero dorthin zu verhindern. Er wandte sich aber eigenmächtig in Richtung der Onjatiberge und wurde im Gefecht von Owikokorero am 13. März 1904 von Herero-Truppen unter cftiefTjetjo entscheidend geschlagen. Die Westabteilung stieß in Richtung Nordosten vor und verwickelte die Herero an der Wasserstelle Otjihinamaparero in ein zehnstündiges Gefecht, bei dem die Herero fünfzig Krieger und die 69 N A N Private Accessions A.436: Helene Heyse, geb. Dannert, Auszuege aus meinem seit 1903 gefuehrten Tagebuch, S. 9. 70 Leutwein, Elf jahre, S. 436, gibt die Zahl der Gewehre auf Herero-Seite mit 2 500 Stück an. 71 Zirkel, S. 79.

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Deutschen einen Mann verloren. Die Herero vermieden größere Gefechte mit der Schutztruppe und gingen mit gezielten Anschlägen effizient gegen Patrouillen vor. Die größte Herero-Gruppe wurden weiterhin in den Onjatibergen vermutet, wo sich etwa 4.000 Menschen aufhalten sollten. Bis zu 2.000 Herero wurden südlich der Bahnlinie von Windhoek nach Okahandja lokalisiert, und eine Gruppe in unbekannter Zahl am Waterberg. Angesichts anfänglicher Niederlagen der Schutztruppe mußten die Herero-Truppen von deutscher Seite zunehmend ernst genommen werden: »In Gegenwart dieses zahlreichen, wohlbewaffneten und organisierten Feindes konnte man sich nicht länger der Uberzeugung entziehen, daß es sich hier um einen anderen Aufstand handelte wie diejenigen waren, welche in früheren Jahren gleichsam spielend überwunden werden konnten.«72 In den Monaten März und April war die militärische Lage zwischen den zahlenmäßig weit überlegenen, wenngleich durch ihren Troß und die Herden in ihrer Mobilität beschränkten Herero und der Schutztruppe zunächst ausgeglichen.73 Die Schutztruppe hatte ab Januar 1904 zwar eine permanente Verstärkung erhalten und verfügte im Gegensatz zu den Herero über Maschinengewehre und Geschütze, konnte diese aber vorerst nicht entscheidend schlagen. Zwischen Januar und April 1904 waren die Verluste auf beiden Seiten nahezu ausgeglichen: die Herero hatten ca. 250 Kämpfer und die Deutschen 210 Soldaten verloren. Nach wie vor kämpfte die Schutztruppe mit großen Problemen, sich mit Klima und Gelände zurechtzufinden. Hinzu kamen Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Strategie. Leutwein strebte eine Verhandlungslösung an und hatte Samuel Maharero einen Brief geschrieben, um mit ihm im Kontakt zu bleiben und seine Stellung zu erkunden. Verschiedene chiefs, unter ihnen Samuel Maharero und Assa Riarua, signalisierten mehrfach ihre Verhandlungsbereitschaft, während die Gruppe um Frederik Maharero weiterkämpfen wollte.74 Leutweins Strategie stieß aber in Berlin auf eine eindeutige Absage, und damit war jegliche Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens und einer Begrenzung des Krieges gescheitert. Leutwein plante schließlich eine konzentrische Offensive gegen die Herero und forderte im März zusätzliche Verstärkung an. Die bisherigen Gefechte hatten gezeigt, daß der Gegner anfänglich erheblich unterschätzt worden war und für eine großangelegte Offensive immer noch Soldaten fehlten. In der Zwischenzeit ließ Leutwein Erkundungsritte durchführen, die ergaben, daß sich die Herero weiter konzentrierten. Diese Beobachtung wurde von Missionaren unterstützt, die sich in den Herero-Lagern aufgehalten hatten und daher direkte Informationen liefern konnten. Nach einer Neuformierung der drei Abtei-

72 Ansiedler-Abordnung, S. 2. 73 Bridgman, S. 108. 74 Zirkel, S. 89.

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lungen startete Leutwein im April einen ersten Angriff der Haupt- und Westabteilung gegen Onganjira. Bei dem Gefecht am 9. April fielen schätzungsweise 100 Herero: »Nach Gefangenenaussagen stellte das Gefecht von Onganjira die bislang schwerste Niederlage der Aufständischen dar. Dies mag an der Änderung ihrer Taktik gelegen haben, statt bisheriger punktueller Attacken bei ständiger Rückzugsbereitschaft nun in breiter Offensive vorzugehen. Hier scheiterten sie jedoch trotz klarer numerischer Überlegenheit und geschickter Gefechtsorganisation an dem technologischen Potential ihrer Gegner.«75 Ende April trafen weitere Verstärkungen von 1.200 Soldaten und achtzehn Feldgeschützen ein. Die Schutztruppe bestand jetzt aus elf Kompanien mit j e 110 Mann, fünf Batterien mit j e 100 Mann, zwei einheimischen Hilfstruppen und zwei Ersatzeinheiten. Sie verfügte über zwanzig Geschütze und mehrere Maschinengewehre. Die Aufklärungs- und Organisationsmaßnahmen beschäftigten die Truppe in den nächsten Wochen, und Leutwein hatte Kampfhandlungen größeren Stils untersagt. Sein Offensivplan sah eine konzentrische Aktion gegen die Stellung der Hauptgruppe der Herero am Waterberg vor, um sie zur Kapitulation zu zwingen und damit den Krieg zu beenden. Im Mai beschloß die Reichsleitung jedoch die Absetzung Leutweins, der bis zur Ankunft seines Nachfolgers Generalleutnant Lothar von Trotha noch im Amt blieb.76 Interne Auseinandersetzungen zwischen Generalstab und Militärkabinett in Berlin, die Stimmungsmache der Koloniallobby gegen das »System Leutwein« (Bley), die mangelnden Erfolgsmeldungen und der »zu langsame« Verlauf des Krieges führten zu diesem Machtwechsel. Der Kaiser hatte ohnehin das Interesse an der Kolonie verloren und verlangte eine schnelle und gründliche militärische Lösung, die »aus einem kleinen Krieg eine große Katastrophe« machte,77 wie Pakenham schreibt Im Juni 1904 wurde Leutwein das Oberkommando über die Schutztruppe endgültig entzogen. Er blieb Gouverneur, war aber faktisch entmachtet, da nahezu alle Belange in der Kolonie »kriegsrelevant« waren und damit in das Ressort des Oberkommandos der Schutztruppe fielen. Unter Lothar von Trotha, der bereits in China und Ostafrika Kolonialkriege mit kompromißloser Härte geführt hatte, wurde die vollständige Unterwerfung der Herero angestrebt, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für die Nachkriegszeit.78 »Sein Vorgän75 Ebd., S. 93. 76 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Leutwein und dem Oberkommando in Berlin über den kriegspolitischen Kurs besonders Zirkel, 104ff.; Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, S. 193-208; Drechsler, Südwestafrika, S. 149ff. 77 Pakenham, S. 673. Als »small wars« bezeichnete der Militärhistoriker Callwell, dessen Werk Pflichtlektüre fur KolonialofFiziere war, solche »Operationen«, bei denen nicht auf beiden Seiten reguläre Truppen standen, unabhängig von deren Dauer und Intensität. Nach seiner Definition wäre auch der Herero-Krieg bis zu seinem Ende ein »small war« gewesen. Trotha hatte jedoch offiziell den Kriegszustand erklärt. 78 Im sogenannten »Blaubuch«, dem Report on the Natives of South West Africa and Treatment by

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ger hinterließ ihm nach 4 1/2 Monaten militärischen Wirkens kein schlechtes Erbe: Alle bedrohten Orte waren befreit, der Hauptteil des Landes weitgehend frei von Aufständischen, diese selbst inzwischen im Nordosten am Waterberg konzentriert, und das bestehende Truppenkontingent stand, neugegliedert und formiert, bereit für eine großangelegte konzentrische Operation.« 79 Mit dem Machtwechsel änderte sich das Kriegsziel; Trotha erklärte offiziell den Kriegszustand, um weitreichende Handhabe zu erlangen und die militärische Niederlage der Herero sollte nur noch eine Voraussetzung ihrer völligen Vernichtung sein. Am Waterberg hatten sich inzwischen bis zu 6.000 Herero-Krieger mit ihren Familien und Herden gesammelt. 80 Trotha wartete weitere Verstärkungen ab, baute das Kommunikationssystem, Etappen und Bahnverbindung aus und ließ die neuen Truppen ausbilden. Zwischen dem 20. Mai und 17. Juni 1904 wurden noch einmal 2.185 Soldaten, 169 Offiziere und Beamte und 2.000 Pferde in die Kolonie verschifft. 81 Der Angriffsplan sah eine Einkreisungstaktik vor, bei der die einzelnen Kontingente sternförmig aufWaterberg marschieren, in einer Kette von Einzelgefechten die Herero schwächen und sie schließlich in einer Kesselschlacht schlagen sollten. Das militärische Aufgebot bestand aus 4.000 Mann, 10.000 Pferden und Ochsen, sechsunddreißig Geschützen sowie vierzehn Maschinengewehren. 82 Die Planung sah vor, daß im Osten eine Abteilung unter Major von Estorff und im Südosten eine Abteilung unter Major von der Heyde vorgehen sollte. Die Hauptabteilung im Süden stand unter dem Kommando von Oberstleutnant Müller und im Südwesten befehligte Oberstleutnant von Deimling die Truppe. Zwei weitere Abteilungen unter Oberleutnant Volkmann und Hauptmann von Fiedler hatten die Aufgabe, ein Ausweichen der Herero nach Norden zu verhindern. 83 Die Herero hatten sich zwischen Hamakari, Otjozondjupa und Otjikaru südlich des Waterbergs in einem Halbkreis verschanzt, wobei sie das Dornengebüsch als natürliche Stellung nutzten. Das Vieh und die Familien befanden sich im Inneren des Halbkreises. Bis Anfang August schloß das Militär den Ring um die Stellung der Herero enger. Am 11. August fanden an allen vier strategischen Punkten der Deutschen erste Konfrontationen statt. Durch die mangelnde Kommunikation zwischen den Abteilungen griff die stärkste Abteilung unter Deimling vorzeitig an, und die Herero drängten in Richtung der

Germany, L o n d o n 1918, heißt es: »He has j u s t suppressed the Arab rebellion in G e r m a n East Africa by bathing that country in the blood of thousands and thousands of its inhabitants«, S. 59. 79 Zirkel, S. 115. 80 Generalstab, 1906, S. 132. 81 Ebd., S. 130. 82 F ü r eine Rangliste der Schutztruppe u n d die Kriegsgliederung siehe: Rust, Krieg u n d Frieden, S. 352-64. 83 Z u m Aufmarschplan siehe: ebd., S. 367; u n d Bridgman, S. 116.

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schwächsten Abteilung im Osten. Am Tag des geplanten Hauptangriffs auf Hamakari, am 12. August, kam es tatsächlich zu einzelnen Gefechten, aber der Plan einer Kesselschlacht war gescheitert. Bis heute wird jedoch in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werken, in Schulbüchern, Reiseführern und Fernsehsendungen immer wieder behauptet, das Herero-Volk sei bei der Schlacht am Waterberg vernichtet worden. Der hohe symbolische Wert dieses für die deutsche Schutztruppe eher peinlich gescheiterten Angriffsplans ergibt sich nicht nur aus der Tendenz, die Propaganda der Schutztruppe für bare Münze zu nehmen, sondern hängt auch mit dem Begriff der »Kesselschlacht« zusammen. Tatsächlich war es der aber Schutztruppe nicht gelungen, die Herero einzukreisen und zu vernichten, wie aus den Tagebüchern von Soldaten und Offizieren hervorgeht. Das hielt Trotha allerdings nicht davon ab, enthusiastische Telegramme mit Siegesmeldungen an den Kaiser zu schicken, was die Offiziere vor Ort mit spöttischen Kommentaren bedachten. 84 Die Verluste auf deutscher Seite betrugen nach dem 11. und 12. August 26 Gefallene und 60 Verwundete. Uber die Verluste der Herero gibt es keine Zahlen. Dokumente über eine Zählung der Toten liegen nicht vor und die abziehenden Herero versuchten zudem, möglichst viele Tote mit sich zu nehmen. Nach dem Gefecht am Waterberg am 11. und 12. August waren die Herero militärisch besiegt.85 In großer Eile verließen sie die Siedlungen am Waterberg, so daß später Soldaten von den noch brennenden Feuern berichteten. Am 13. August befahl Trotha eine Verfolgungsaktion längs der Grenze zur Omaheke. Die Herero flohen in panischer Angst in Richtung Osten, Nordosten und Südosten mit Frauen, Kindern und Herden. Alle Männer, derer die Schutztruppe habhaft werden konnte, wurden sofort erschossen. Frauen und Kinder sollten zwar verschont bleiben, aber es sind zahlreiche Erschießungen dokumentiert. 86 Die Flucht in das Sandfeld der Omaheke wird häufig als Verzweiflungsakt der Herero gedeutet und auch Trotha »mußte schon nach den ersten Versuchen erkennen, daß eine wirksame Verfolgung der Herero in die Sandwüste ein verlustreiches und im Grunde sinnloses Unterfangen darstellte. Denn keines der deutschen Kontingente war den geographischen und klimatischen Extrembedingungen dort auch nur annähernd gewachsen.«87 Die Herero dagegen kannten die Wege durch die Omaheke entlang der Wasserstellen, die sie regelmäßig benutzten. Für den Andrang der vielen Menschen und Tiere in einer über84 Z u r Kritik durch die Offiziere und Soldaten siehe Kapitel 2. 85 Drechsler sagte bereits, daß, entgegen der bis heute immer wieder erhobenen Behauptung (hier unter Verweis auf Katesa Schlosser), die Herero nicht am Waterberg vernichtet worden seien: »Die Vernichtung der Herero war eine Folge der Trothaschen Maßnahmen nach den Kämpfen am Waterberg, für die keine militärische Notwendigkeit vorlag.« Drechsler, Südwestafrika, S. 158. 86 Uber Tötungen von Gefangenen unabhängig von Alter und Geschlecht siehe das sogenannte »Blaubuch«: Union of South Africa, Report, S. 61-67. 87 Zirkel, S. 126.

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stürzten Flucht war die Kapazität der Wasserstellenjedoch in keiner Weise ausreichend. Die deutschen Truppen riegelten keineswegs die Wüste ab, wie häufig behauptet wird, sondern orientierten sich ebenfalls am Verlauf der Trockenflüsse u n d den Wasserstellen, w o sie die fliehenden G r u p p e n in Gefechte verwickelten. Ende August erfolgte ein zweiter Versuch, die Herero zu verfolgen und sie von den Wasserstellen am Rand des Sandfeldes zu vertreiben. Ein Teil der Herero versuchte in das besiedelte Gebiet nach Nordosten u n d Südosten zu e n t k o m m e n oder hinter d e m Rücken der Schutztruppe nach Westen zurückzukehren. Auch im Land westlich der Linie Waterberg - Epukiro befanden sich noch viele Herero-Gruppen, die nicht am Gefecht von Hamakari teilgenomm e n hatten. Ende September sammelten sich Herero am Eiseb südöstlich des Waterbergs, und Trotha verschärfte die Verfolgung, u m den Gegner, »falls er nicht standhält, in das Sandfeld zu werfen, w o Durst und Entbehrungen seine Vernichtung vollenden mußten.« 88 Bereits am 2. Oktober 1904 erließ Trotha seine Proklamation, in der es heißt: »Herero sind nicht m e h r deutsche Untertanen. Sie haben gemordet u n d gestohlen, haben verwundeten Soldaten O h r e n und Nase u n d andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht m e h r kämpfen. Ich sage d e m Volke: Jeder, der einen der Kapitäne an einer meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält 1000 M ; wer Samuel Maharero bringt 5000 M. Das Volk der Herero m u ß jetzt das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit d e m >groot Rohr< [Geschütz] dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich n e h m e keine Weiber und Kinder m e h r auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der H e r e ro.«89 Gefangene, von Soldaten dazu gezwungen, die Exekution von chiefs anzusehen, bekamen anschließend Kopien der übersetzten Proklamation ausgehändigt und wurden freigelassen, u m Trothas Worte zu verbreiten. 90 Der Tagesbefehl wies die Soldaten an, über die Köpfe der Frauen u n d Kinder hinweg zu schießen. Aber die Vertreibung aus dem Land bedeutete den fast sicheren Dursttod. Entscheidend ist an d e m Befehl, daß Trotha allen Herero jegliches Lebensrecht in der Kolonie absprach, u n d diese Politik versuchte er weiterzuführen. Gegen Reichskanzler von Bülows später erhobene Bedenken begründete er seine Haltung mit d e m Verweis, daß es sich bei dem Krieg u m einen »Rassenkampf« handele, der nur durch die Vernichtung des Gegners entschieden werden könne. Als Entgegnung auf Leutweins Bedenken, der die Herero »als notwendiges Arbeitsmaterial« bezeichnete, schrieb Trotha: »Ich bin

88 Generalstab, S. 199. 89 Rust, Krieg u n d Frieden, S. 25. 90 Ebd., S. 386.

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gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, daß die Nation als solche vernichtet werden muß.«91 Trotha schlug alle Verhandlungsangebote seitens der Herero-chie/s aus, so auch Ende Oktober, als sich Salatiel, der Sohn von chief Kambazembi, ergeben wollte, und seine Ablehnung führte zu einem erneuten Konflikt mit Leutwein. In einem Brief vom 27. Oktober 1904 schrieb Trotha an den Gouverneur: »Die Absperrung der Ostgrenze der Kolonie und die Ausübung des Terrorismus gegen jeden sich im Lande zeigenden Herero bleibt, solange ich im Lande bin, bestehen. Die Nation muß untergehen. Wenn es mir nicht gelang, sie durch die Geschütze zu vernichten, so muß es auf diese Weise geschehen.«92 Mit diesem Brief hatte Trotha seine Absicht noch einmal deutlich erklärt; von einer »psychologischen Kriegführung« konnte nicht die Rede sein. Im Dezember verließ Leutwein das Land, und Trotha delegierte die zivile Administration an Regierungsrat Tecklenburg. Es war keine Frage mehr, daß die Herero nur noch kämpften, wenn sie dazu gezwungen wurden, aber Trotha verfolgte seine Vernichtungspolitik weiterhin. Durch Patrouillen versuchte er, so weit dies möglich war, das Sandfeld als Grenze gegen Rückkehrer abzuschließen, zunächst gegen die scharfe Kritik von Offizieren wie Estorff, die sich aber schließlich fügten. »Es war eine ebenso grausame wie törichte Politik, das Volk so zu zertrümmern, man hätte noch viel von ihm und seinem Herdenreichtum retten können, wenn man sie jetzt schonte und wieder aufnahm, bestraft waren sie genug. Ich schlug dies dem General von Trotha vor, aber er wollte ihre gänzliche Vernichtung.«93 Erst am 8. Dezember 1904 erließ der Kaiser einen Gegenbefehl zu Trothas Proklamation, der besagte, daß denjenigen Herero, die sich nicht an Tötungen und der Führung des Krieges beteiligt hatten, Gnade zu erweisen sei. Ferner sollte Trotha die Vermittlungsdienste der Rheinischen Mission annehmen. Er versuchte jedoch, seine Politik bis zu seiner Abberufung im November 1905 durchzusetzen. 94 Während der Terror gegen die Herero durch Patrouillen sowie die Einrichtung von Konzentrationslagern 95 und einem Zwangsarbeitssystem weitergeführt wurde, hatte sich der Krieg seit dem Oktober 1904 in den Süden des Landes verlagert. Die Witbooi, die bisher noch Heeresfolge geleistet hatten, erklärten den Krieg. Und es »kam in der Folgezeit zu dem denkwürdigen Schauspiel, daß eine europäische Großmacht, die etwa 15000 Soldaten in

91 Zitiert nach Bley, Kolonialherrschaft u n d Sozialstruktur, S. 204. 92 Drechsler, Südwestafrika, S. 164. 93 Estorff, W a n d e r u n g e n u n d Kämpfe, S. 117. 94 Bley, Kolonialherrschaft u n d Sozialstruktur, S. 204ff. 95 D e r Begriff »Konzentrationslager« w u r d e im Kontext dieses Krieges z u m ersten Mal in ein e m Schreiben von Reichskanzler von B ü l o w an Generalleutnant von T r o t h a v o m 11.12.1904 benutzt, das die A n w e i s u n g enthielt, den »Vernichtungsbefehl« a u f z u h e b e n u n d Konzentrationslager f ü r die H e r e r o einzurichten. Siehe: Nuhn, S. 351.

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Südwestafrika hatte, gegen anfänglich 1000 - 2000, später nur noch wenige hundert Nama einen jahrelangen Kleinkrieg führte, dem sie in keiner Weise gewachsen war.«96 Nach Leutweins Ausscheiden aus der Kolonialpolitik und dem Einzug von Trothas Militärregime fühlten sich auch die Gesellschaften im Süden zunehmend bedroht. Die Art der Kriegführung gegen die Herero, die jede Gnade ausschloß, und die öffentlichen Diskussionen in der Kolonie über die »Behandlung der Eingeborenen« nach dem Krieg dürften einen erheblichen Einfluß auf den Kriegsentschluß der Witbooi gehabt haben. Kurz nach Bekanntgabe von Trothas Proklamation schlossen sich die meisten Nama-Gruppen im Süden dem Krieg an. Die erste Maßnahme Trothas war die Entwaffnung, Gefangennahme und Deportation der Witbooi-Hilfstruppen. Zwischen November und Januar 1905 trafen weitere 4 300 deutsche Soldaten als Nachschub ein.97 Neben Hendrik Witbooi waren Jakob Marengo und Simon Kooper die bekanntesten Führer der Guerilla im Süden. Als mit Hendrik Witbooi, der im Oktober 1905 tödlich verwundet wurde, der wichtigste Gegner im Süden ausgeschaltet war, gab dies Trotha die Gelegenheit, sich aus dem Kriegsgeschehen, das keine spektakulären Erfolge versprach, zurückzuziehen. »Trotha hat also nicht, wie mitunter angenommen, aufgrund seiner Vernichtungsstrategie gegen die Herero nach Berlin zurückkehren müssen, sondern weil er im Kleinkrieg gegen die Nama versagt hatte.«98 Erst nach der Trennung militärischer und ziviler Zuständigkeiten unter Gouverneur von Lindequist Ende 1905 und angesichts der Klagen über den Arbeitskräftemangel unter den deutschen Siedlern ergab sich eine langsame Umorientierung in der Politik der Kolonialregierung gegenüber den Herero. Ihr »Arbeitspotential« sollte erhalten und den Bedürfnissen der Kolonialökonomie untergeordnet werden, und so ging die Gefangenenpolitik in eine Arbeitskräftepolitik über. Jede Form eigenständiger Organisation und wirtschaftlicher Unabhängigkeit außerhalb der weißen Ökonomie suchte die Regierung, flankiert von Gesetzen und Verordnungen, zu verhindern. 99 Gouverneur Lindequist, bereits im August 1905 berufen, trat sein Amt erst im Dezember 1905 nach der Abberufung Trothas an, weil er »Kompetenzstreitigkeiten« voraussah, denen er aus dem Weg gehen wollte. Nachfolger Trothas war Oberst Dame, der ein halbes Jahr später von Oberst von Deimling abgelöst wurde. Dame war nach dem Tod von Witbooi, mit dem die Nama eine wichtige Integrationsfigur verloren hatten, durchaus zu Verhandlungen bereit. Lindequist jedoch, in Umkehrung der Rollen von Verwaltung und Militärführung, 96 Drechsler, Südwestafrika, S. 183. 97 Generalstab, S. 18f. 98 Zirkel, S. 172. 99 Z u den »Eingeborenenverordnungen« u n d Paßgesetzen sowie d e m Zwangsarbeitssystem siehe weiter u n t e n .

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plädierte dafür, die Politik der Konzentrationslager und der bedingungslosen Unterwerfung weiterzuführen. Der Kleinkrieg zog sich unter von Deimling noch bis März 1907 hin. Am 31. März wurde der Kriegszustand für beendet erklärt. Deimling erhielt seine Beförderung zum General und gab das Kommando an Estorff ab. Marengo und Kooper hatten jedoch nicht kapituliert. Simon Kooper entkam nach einem letzten Gefecht 1908 auf englisches Gebiet, wo er bis zu seinem Tode lebte. Marengo fiel 1907 einem Polizisten der Kapregierung in die Hände, der ihn erschoß. Eine Diskussion über die Ursachen und den Charakter des Krieges fand bereits ab 1904 statt. Unter Siedlern, Beamten und Militärs herrschte die Überzeugung, ein Krieg sei zur Durchsetzung der Kolonialherrschaft letztlich unvermeidbar gewesen. Samuel Maharero selbst hatte allerdings in einem Brief 0 0 an Leutwein im März 1904 den Kriegsausbruch sehr viel konkreter begründet. Er schrieb: »Deinen Brief habe ich empfangen, und ich habe alles gut verstanden, was Du darin an mich und meine Großleute geschrieben hast. Ich und meine Großleute antworten Dir folgendermaßen: Der Anfang des Krieges ist nicht angefangen worden durch mich in diesem Jahr, sondern er ist begonnen worden durch die Weißen, wie Du weißt, daß die Weißen und besonders die Händler, wieviel Herero haben sie getötet, sowohl durch Gewehre wie durch Einsperren in die Gefängnisse ... Und die Händler haben es auch so weiter getrieben mit den Schwierigkeiten, ihre eigene Schuld auf meine Leute zu schieben ... Und fingen an meine Leute bezahlen zu lassen und das Vieh wegzutreiben ... Diese Dinge haben den Krieg in diesem Land entstehen lassen.«101 Eine Siedler-Abordnung, die sich noch während des Krieges 1904 für Entschädigungsansprüche der Farmer einsetzte, argumentierte dagegen in einer radikal anderen Richtung: »Die Hauptursache des Aufstandes haben wir lediglich in dem Hasse der Hereros gegen die deutsche Fremdherrschaft und ihrem Wunsche zu erblicken, diese Herrschaft abzuschütteln.«102 Für die Siedler bedeutete eine solche Interpretation die Möglichkeit, sich selbst zu Unbeteiligten, zu »unschuldigen Opfern« eines Krieges zwischen Herero und dem deutschen Kolonialstaat stilisieren zu können, an dessen Ursache sie selbst keinen Anteil hatten.103 Diese Argumentation wurde im Grundsatz auch vom Generalstab aufgegriffen, der im offiziellen Bericht den »natürlichen Freiheitsdrang« der Herero als Hauptursache des Krieges bezeichnete. Hier heißt es: »Es lag auf der Hand, daß jede ernsthafte Kolonisation an solchen starken Eigenschaften 100 Dieser Brief hat eine interessante Geschichte. Er w u r d e z u m ersten Mal vollständig, in englischer Ubersetzung, abgedruckt bei: Goldblatt. Dieser hatte ihn von Hosea Kutako erhalten, der ihn w i e d e r u m von einem deutschen Missionar b e k o m m e n hatte. 101 A E L C R N , D o c u m e n t s VII, 11.19: Letters of M a h a r e r o and others. Letter Samuel M a h a r e ro to T h e o d o r Leutwein, Otjizonjati, 6.3.1904. 102 Siedler-Abordnung, S. 1. 103 Ebd.

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der eingeborenen Stämme Widerstand finden mußte. In deren kriegerischer und freiheitsliebender Art ist deshalb auch wohl die vornehmste Ursache des allgemeinen Aufstandes vom Jahr 1904 zu suchen.«104 Ursächlich verantwortlich für den Krieg war nach dieser Argumentation die freiheitsliebende und kriegerische Art der Herero und gleichzeitig verlangte man von ihnen Unterordnung und Loyalität. So wurde ihnen ihre »Natur« also gar nicht zugestanden, und ihr Widerstand ließ auf Seiten der Deutschen Empörung über ihre »abgrundtiefe Treulosigkeit und Verstellungskunst« 105 entstehen. Obwohl nichts anderes zu erwarten war,106 denn im Generalstabsbericht heißt es weiter: »Die deutsche Kolonialpolitik stand schon im Jahre 1894 vor der entscheidenden Frage, ob sie den mit Sicherheit zu erwartenden Ereignissen vorgreifen, diesen Kampf ihrerseits beginnen, oder erst notgedrungen zu den Waffen greifen sollte.« Der Krieg mußte kommen, das war auch die Grundüberzeugung aufgeklärter Kolonialpolitiker und -militärs wie Leutwein. Er sollte nur möglichst lange hinausgezögert oder kontrolliert in kleinen Etappen gegen vereinzelte rebellierende Gruppen geführt werden. Mit dieser Haltung, die den kriegerischen Charakter der afrikanischen Völker und die Unausweichlichkeit eines »Schicksalskampfes« in den Mittelpunkt stellte, konnten konkrete Gründe, die in den politischen und ökonomischen Entwicklungen in den Vorkriegsjahren lagen, weitgehend unterschlagen oder nur als Funke im Pulverfaß begriffen werden. Während Leutwein davon ausging, daßjede Kolonialpolitik auf Unterwerfung hinauslief und insofern Konflikte und Kriege in Kauf genommen werden müßten, trennte August Bebel in seiner Rede im Reichstag vom 19. Januar 1904 zwischen der Kolonisierung an sich und den in Südwestafrika angewandten Methoden der Kolonialherrschaft: »was nach meiner Uberzeugung für die Hereros in erster Linie die Ursache zu ihrem Aufstande war, ist, daß alle Grundlagen ihrer bisher gewohnten Existenz schon in so hohem Grade in Frage gestellt und eingeschränkt wurden, und daß für sie die Gefahr besteht, daß ihre Existenz noch weiter eingeschränkt, ja überhaupt für sie in Frage gestellt werden soll.«107 In der modernen Forschungsliteratur wird der Herero-Krieg in ähnlicher Weise als letztes Aufbegehren einer zunehmend bedrängten und verarmten Viehzüchtergesellschaft gegen den deutschen Kolonialismus betrachtet. Landverlust, Viehraub und die Gewalt des kolonialen Staates gehen hier als

104 Generalstab (1906), S. 3. 105 Siehe Estorff, Wanderungen, S. 110. 106 Jan Bart Gewald spricht vom Krieg als »self-fulfillig prophecy«. Obwohl unter den Siedlern kurz vor Kriegsbeginn ohne Zweifel eine paranoide Stimmung herrschte, teile ich seine Auffassung nicht, daß der Krieg im wesentlichen aufgrund von Mißverständnissen und als Resultat von Panik auf Seiten eines deutschen Kolonialbeamten ausbrach. Siehe: Gewald, Redemption, S. 178ff. 107 Bebel, 19.1.1904, S. 367.

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konkrete Gründe in einem allgemeinen, antikolonialen Widerstand und Freiheitskampf auf 1 0 8 So sind für Drechsler die Ursachen des Krieges eindeutig: »Die systematische Expropriation und ihre völlige Rechtlosigkeit hatte die Herero zur nationalen Erhebung gegen den deutschen Imperialismus getrieben.« 109 Es ist in diesem Zusammenhang eine nach wie vor strittige Frage, ob der Krieg von den Herero langfristig geplant und vorbereitet war. Die Antwort hängt wesentlich von der Beurteilung der Kriegsziele der Herero ab. Sowohl die zeitgenössische Öffentlichkeit in der Kolonie als auch der Generalstab sowie ein Teil der modernen Geschichtsschreibung gehen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, davon aus, daß es sich um einen gut vorbereiteten Krieg gehandelt habe. Pfarrer Anz aus der evangelischen Gemeinde in Windhoek sprach von einem »seit Jahren vorbereiteten, sorgsam organisierten Krieg«. 110 Oskar Hintrager betonte angesichts der Größe des Territoriums die »Gleichzeitigkeit und Einheitlichkeit des Aufstandes«.111 Auch Drechsler konstatierte eine langfristige Planung, wenngleich der Entschluß zum »Losschlagen« kurzfristig getroffen worden sei.' 12 Zwar gibt es wichtige Aspekte des Krieges, die einer solchen Beurteilung widersprechen, etwa der uneinheitliche Beginn der Kampfhandlungen an verschiedenen Orten, die mangelnde Koordinierung der Herero-Truppen im weiteren Kriegsverlauf und das Nacheinander des Krieges im Norden und im Süden. Aber diese Aspekte werden in der zeitgenössischen und modernen Literatur entweder der »Unfähigkeit der Eingeborenen« oder ihrem »mangelnden Bewußtsein« zugeschrieben. Beide Sichtweisen liefern nur wenig befriedigende Antworten, denn geht man nicht tatsächlich von einem intellektuellen Unvermögen der Herero aus, muß die Frage beantwortet werden, warum der Aufstand so schnell zusammenbrach und die Herero nach anfänglichen Erfolgen im weiteren Verlauf des Krieges im wesentlich nur noch auf die deutschen Truppenbewegungen reagierten. Es gibt zwei Interpretationsansätze, die auf der Annahme basieren, der Krieg sei nicht geplant gewesen. T h e o Sundermeier schreibt, es habe sich um einen spontanen Verzweiflungskampf gehandelt, der zwar rituell lange vorbereitet, nicht aber das Ergebnis einer langfristigen strategischen Planung war.113 Sundermeier weicht von der gängigen Argumentation ab, obwohl auch er davon ausgeht, daß die Zeit »reif« für einen Aufstand gewesen sei. Er stützt sich auf ein Gespräch des Missionars Johannes Neitz mit Frederik (Friedrich) und Samuel Maharero vom 8. November 1907 im Betschuanaland. Befragt zu den Kriegs108 109 110 111 112 113

SWAPO, T o be Born a Nation; Nachtwei, Namibia. Drechsler, Südwestafrika, S. 131. Anz, Gerechtigkeit, S. 28. Hintrager, Südwestafrika, S. 58. Drechsler, Südwestafrika, S. 143. Sundermeier, Mbanderu, S. 93.

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Ursachen sagten die Mahareros: »Der Krieg ist von ganz kleinen Dingen gekommen und hätte nicht kommen brauchen. Einmal waren es die >storemen< mit ihrem schrecklichen Wucher und eigenmächtigen, gewaltsamen Eintreibereien... Dann ist es der Branntwein gewesen, der Leute schlecht und gewissenlos gemacht hat. Wenn jemand trinkt, dann ist ihm gleich, was er tut. Aber das schlimmste Übel ist, was viel Blut und Streit hervorgebracht hat, die Vergewaltigungen unserer Frauen durch Weiße. Manche Männer sind totgeschlagen wie Hunde, wenn sie sich weigerten, ihre Frauen und Töchter preiszugeben und dachten, sie mit der Waffe zu verteidigen. Wären solche Dinge nicht geschehen, wäre kein Krieg gekommen, aber er ist bei solchen Vergewaltigungen ausgebrochen.«114 Diese Aussage spricht nicht gegen eine langfristige Kriegsplanung, sondern nennt lediglich Gründe, warum ein Krieg aus Sicht der Herero gerechtfertigt war. Allerdings sagen die Mahareros hier dezidiert, daß der Krieg zu verhindern gewesen sei. Dies mag auch einer persönlichen Sichtweise von Samuel Mahareo und seinem Wunsch entsprochen haben, aufgrund der langjährigen Verbindung mit Leutwein keinen Krieg gegen die Deutschen zu führen. Allerdings muß diese Aussage noch genauer beleuchtet werden, um die Kriegsziele der Herero und den Charakter des Krieges beurteilen zu können. Wollten die Herero wirklich keinen Krieg führen? Sind sie tatsächlich in den Aufstand getrieben und ohne jede Planung innerhalb weniger Monate militärisch überwältigt worden? Ein zentraler Aspekt bei Sundermeiers Überlegungen sind symbolische Handlungen und Prophezeiungen, die den Krieg rituell vorbereitet hätten. In einer 1966 im Aminuis Reservat in Namibia erzählten Version der mündlich überlieferten Geschichte der Mbanderu, die Sundermeier gemeinsam mit dem Missionar Wienecke aufzeichnete, wird eine Prophezeiung Kahimemuas überliefert. »Danach sprach Kahimemua zu Samuel Maharero: Du bist noch ein kleiner Junge. An dem Tage, da meine Halssehnen brechen und meine Kniescheibe von meinem Bein abfällt, werde ich die Freunde gegeneinander aufhetzen. Du wirst an dem Tage den Weg gen Ovamboland einschlagen, aber den Ort, an dem ich liege, wirst Du nicht mehr sehen. Du wirst die Wegrichtung verändern und Ovamboland nicht erreichen, sondern am großen Omuramba mit den großen Bäumen entlangziehen. Wenn Du dahin kommst, wirst Du an einer Wasserstelle trinken, aber Du wirst nur Wasser mit einem Löffel schöpfen. Danach wirst Du das Land eines anderen Volkes erreichen.«115 Die Einsicht in die rituelle Einbettung des Krieges schließt nicht aus, daß dem Entschluß zum Krieg eine »rationale«, politische Komponente zugrunde lag.116 Die in der oralen Geschichte tradierte Prophezeiung Kahimemuas ist 114 Zitiert nach Sundermeier, M b a n d e r u , S. 96. 115 Ebd., S. 49. 116 Ngavirue, Political Parties, S. 139f.

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möglicherweise ein Element eines nachträglichen Erklärungsversuchs für die Kriegsniederlage u n d die traumatischen Erfahrungen der Flucht u n d der Nachkriegsgeschichte. Auffällig präzise beschreibt die Geschichte den Fluchtweg in den N o r d e n , der durch deutsche Einheiten bewußt verlegt worden ist, u m die Herero in den Osten zu treiben. Doch selbst w e n n die Geschichte älter als der Krieg sein mag, besagt sie nicht, daß der Krieg nicht Elemente der Plan u n g u n d ein Ziel gehabt hat. D e n n mythische Selbstverständigungen widersprechen nicht taktisch-logistischen Denkweisen, sondern bestehen parallel zu diesen. Schon im März 1903 gab es am Waterberg und in Okahandja Versammlungen von chiefs, bei denen es nach ihren eigenen Aussagen u m Probleme mit den deutschen Händlern ging. Pool geht davon aus, daß die chiefs schon bei dieser Gelegenheit versuchten, Maharero zur Auflösung seiner engen Verbindungen zu den Deutschen zu bewegen. 117 Im April u n d Mai 1903, während die von der Kolonialregierung eingesetzte Kommission die Grenzen des geplanten O t j i m bingue-Reservats festlegte, fand ein weiteres, vierwöchiges Treffen der H e r e r o chiefs in Okahandja statt, nachdem sich eine Radikalisierung unter denjenigen chiefs abgezeichnet hatte, denen die größten Landverluste durch den Eisenbahnbau u n d die Reservatspläne drohten. 118 Rohrbach spricht direkt von einer »Kriegspartei«, die den Krieg forderte und sich gegen Mahareros Kooperationspolitik wandte. 119 Auch zeigen die Berichte der Missionare, daß an manchen Orten besonders die jüngeren Männer auf eine Beteiligung am Krieg drängten und von den Alteren nicht zurückgehalten werden konnten, u n d auch Frauen spielten nach mündlichen Uberlieferungen eine entscheidende Rolle beim Kriegsentschluß. 120 Offensichtlich war auch der unterschiedliche Grad der Bed r o h u n g von Bedeutung, denn der Krieg begann im zentralen Herero-Land, in der Region der größten Landverluste u n d der größten Bedrängnis durch Siedler. Maharero hatte in Briefen an H e n d r i k Witbooi u n d H e r m a n u s von Wyk aus Rehoboth u m deren Unterstützung gebeten. Bereits die Existenz solcher Briefe läßt Elemente einer großräumigen Strategie bei Samuel Maharero erkennen. Außerdem stand Maharero offensichtlich schon vor Kriegsbeginn in Kontakt mit Witbooi, denn er schrieb am 11. Januar 1904 in einem zweiten Brief als Antwort an ihn: »lassen Sie, mein Bruder, nicht ihr erstes Wort gelten, u m von dem Aufstand abzustehen, sondern ganz Afrika gegen die Deutschen fechten und uns lieber zusammen sterben und nicht sterben durch Misshandlung, Gefängnis oder auf allerlei andere Weise.«121 117 118 119 120 121

Pool, Samuel Maharero, S. 197. Ebd., S. 199. Rohrbach, Deutsche Kolonialwirtschaft, S. 337ff. Ainaes, Going through the War, S. 7. Zirkel, S. 62; Drechsler, Südwestafrika, S. 144.

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Das Argument jedoch, Maharero habe den Kriegsbeginn von der Unterstützung anderer chiefs, d.h. einer »nationalen Erhebung« abhängig machen müssen, unterliegt einer teleologischen Betrachtungsweise, die eine gerade Linie von »Planungsfehlern« zur Niederlage der Herero zieht. Vieles deutet aber darauf hin, daß sich die Herero 1904 angesichts ihrer umfangreichen Vorräte an Waffen und Munition stark genug fühlten, den Krieg gegen die Deutschen auch allein zu beginnen. 122 Warum aber haben die Herero am Waterberg praktisch auf ihr Verhängnis gewartet? Bridgman k o m m t zu d e m Ergebnis, daß Samuel Maharero und seine Berater davon ausgegangen seien, daß der Krieg mit einem letzten Gefecht zu gewinnen war. Was aber hieß »gewinnen«? Zunächst stellt sich die Frage, w a r u m ausgerechnet Samuel Maharero an der Spitze der kriegführenden H e r e r o stand. 123 Aus deutscher Sicht w u r d e dieser »Verrat« seinem »verschlagenen Charakter« zugeschrieben; Mahareros Freundschaft mit den Deutschen sei n u r vorgetäuscht gewesen, und er hätte Land n u r verkauft, u m es sich später wieder mit Gewalt anzueignen. 124 Pool argumentiert in seiner Biographie Samuel Mahareros, daß der Kriegsentschluß f ü r ihn die letzte Möglichkeit gewesen sei, seine Legitimation als Oberhaupt der Herero gegenüber den unzufriedenen u n d radikaleren Gruppen zu beweisen. 125 D e n noch bleibt die Frage, w a r u m ihn die »Kriegspartei« nicht entmachtete, galt er doch schließlich als schwach und völlig abhängig von Leutwein. Auch w e n n Maharero nicht die Position eines klassischen Feldherren inne hatte, weil die unterschiedlichen H e r e r o - G r u p p e n relativ unabhängig voneinander agierten, behielt er seine führende Position vermutlich gerade aufgrund seiner langjährigen Verbindung mit Leutwein. Auf diese Weise hielten die Herero eine Verhandlungsoption offen. Die führende Position von Maharero deutet d a r a u f h i n , daß die Herero bei aller Auflehnung gegen die Kolonialherrschaft keinen »schicksalhaften Rassenkampf« im Sinn hatten, sondern einen begrenzten Krieg. Ein solcher Krieg sollte die Machtbalance im Herero-Land noch einmal verschieben und die politische wie ökonomische Stellung der Herero im Rahmen des kolonialen Staates verbessern, schloß also schon bei Kriegsbeginn eine Verhandlungsoption ein. Dies war auch Trotha bewußt, w e n n er schrieb, »sie glaubten immer noch, es würde mit ihnen nach alter Weise verhandelt und sie w ü r d e n wieder mit ihren Kapitänen in die Gefilde ihrer Untaten zurückgeführt werden.« 126

122 Auch John Iliffe argumentiert, daß gerade die relative Stärke der Herero zu einer verhängnisvollen Uberschätzung der eigenen Chancen geführt hätte. Siehe: Iliffe, S. 110. 123 Eine Morddrohung gegen Samuel Maharero wird in der Literatur öfter als entscheidende Kriegsursache angeführt, verengt eine generelle historische Situation jedoch auf ein einzelnes Ereignis. Siehe z.B. Sundermeier, Mbanderu. 124 Siehe unter anderem: Anz, Gerechtigkeit, S. 656. 125 Pool, Samuel Maharero, S. 200. 126 Trotha in: Deutsch-Südwestafrikanische Zeitung 13.3.1909.

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Abb. 2: Kriegsgefangene Herero - National Archives o f Namibia.

Die Herero kämpften nicht gegen alle Weißen, sondern sie führten einen K a m p f gegen die deutschen Siedler, gegen die Praktiken der Händler und gegen die zunehmende Mißachtung und Unterminierung der Autorität ihrer chiefs. Dabei stellten sie nicht nur Frauen und Kinder, Missionare und N i c h t - D e u t sche, sondern in einigen Fällen geachtete deutsche Siedler und Händler unter ihren Schutz. Es handelte sich nicht um einen Krieg zwischen zwei Staaten, bzw. zwischen einer Kolonialmacht und einer politischen oder gar staatlichen Einheit. Die Herero verfügten nicht über eine Armee, die ein generelles und von einem O b e r k o m m a n d o definiertes Kriegsziel verfolgen konnte. Vielmehr mußten sie die jeweilige Situation ihrer Gruppen berücksichtigen, wie die Verhandlungsangebote einzelner chiefs dokumentieren. Eine Abwägung von Interessen und Strategien erfolgte generell nach anderen Kriterien als bei einer Armee im klassischen Sinne. Wie in den vorkolonialen Auseinandersetzungen wurde der Gegner überfallen und geplündert. Die vorkolonialen Kriege unterlagen j e d o c h einer Logik, bei der es auch um Interessenausgleich ging, und diese Haltung erwarteten die chiefs, trotz aller Härte, die ein Krieg bedeutete, auch von Leutwein. D e r Missionar und Historiker Vedder, jeglicher Romantisierung der Herero unverdächtig, beschrieb diese andere Logik mit den Worten: »Es ist ein sehr gewöhnlicher Brauch bei den Herero, daß, wenn ein Stamm einen anderen gänzlich zugrunde gerichtet hat, man ihm dann als eine Handlung der Gnade etwas von dem wieder zurückgibt, was man ihm genommen hat, wodurch man gegen Wiedervergeltung gesichert wird«. 127 Sogar Trotha

127 Vedder, Vom alten Kahitjene, S. 245.

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hatte den Unterschied erkannt, aber spätestens mit seinem Eingreifen war eine solche Form von Ausgleich und Verhandlung unmöglich und der »Aufstand« aus Sicht der Herero zu einem totalen Krieg geworden. 128

1.3. Völkermord? Kolonialkriege als Vorformen des »totalen Krieges« richteten sich nicht allein auf eine militärische Niederlage, sondern zielten auf die Vernichtung der wirtschaftlichen, wie auch der sozialen und politischen Grundlage der zu unterwerfenden Gesellschaft. Die Niederschlagung des Madji-Madji-Aufstandes 1905 in Deutsch-Ostafrika, bei dem die Guerillataktik mit einer Politik der verbrannten Erde beantwortet wurde, zeigt, daß der Krieg in Namibia in dieser Hinsicht keine Ausnahme war. Begrenzt wurde eine totale Kriegführung nur von den Interessen der Siedler am Erhalt der Arbeitskraft der unterworfenen Afrikaner.129 De iure erklärte Trotha den Kriegszustand am 19. Mai 1904, also noch vor seiner Ankunft in der Kolonie. Von Anfang an verfolgte er, gedeckt von Berlin, die Vernichtung des Gegners, die nach der militärischen Niederlage durch eine gnadenlose Verfolgung und Vergeltung vollendet werden sollte, um die Kolonie ihrem eigentliche Zweck zuzuführen. 130 Gerade Trotha führte den Krieg nicht um seiner selbst willen, sondern mit einem dezidiert politischem Ziel. »Der >Widerstandalten StammesorganisationenSurvival of the Fittest< aus der Welt schaffen.«146 Der Versuch, die Vernichtung von Menschen wissenschaftlich zu begründen, rückte Trothas Politik mehr noch als die Gnadenlosigkeit und die Zahl der Opfer in die Nähe zum Nationalsozialismus. Schon 1909 antwortete der Wirtschaftshistoriker Moritz Julius Bonn auf diese »wissenschaftliche Begründung der Trothaschen Eingeborenenpolitik« mit den prophetischen Worten: »So lange es ... noch Leute gibt, die eine solche Politik für die naturnotwendige halten, besteht die Gefahr, daß sie auch einmal an anderen Stellen zur Anwendung kommen könnte. Wenn die Fehler der Trothaschen Kolonialpolitik sich theoretisch verklären lassen, dann wird uns nichts vor ihrer Wiederholung schützen.«147 Die von Bonn gefürchtete Wiederholung der Trothaschen Vernichtungspolitik ist nach Drechsler, dessen Arbeit über den Kolonialkrieg auf der Auswertung der Akten des Reichskolonialamtes basiert und die bis heute die detaillierteste Darstellung des Herero-Krieges ist, mit dem Nationalsozialismus tatsächlich eingetreten. Wenn er zu dem Schluß kommt, dieser Krieg sei »der erste Krieg, in dem der deutsche Imperialismus die Methoden des Genozids ... praktizierte,«148 erklärt er den Krieg gegen die Herero zum Vorläufer der Shoah. Helmut Bley stützt sich in seiner Dissertation über »Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Südwestafrika« von 1968 auf Hannah Arendts These von den Ursprüngen totaler Herrschaft in der Kolonialpolitik in Afrika. Er kommt zu dem Ergebnis, daß »die Deutschen in SWA an die Auseinandersetzungen mit den Afrikanern trotz aller >kolonialen< Aspekte mit den Erfahrungen herangingen, die aus der sozialen Unruhe des damaligen Europas stammten.«149 Diese Übertragung europäischer Problematik auf ein afrikanisches Land führte schließlich dazu, daß in der Kolonie »die Schwelle des Totalitären bereits überschritten wurde«. Die in Afrika erprobten »Methoden der Menschenbehandlung« haben schließlich, so Bley, wieder »auf das Mutterland zurückgewirkt«. Die Kontinuität des Totalitären wird von Bleyjedoch nicht als Kontinuität zum Faschismus verstanden: »Die Trothasche Vernichtungspolitik, so mechanisch146 Trotha in: Windhuker Nachrichten, 13.03.1909. 147 Frankfurter Zeitung 14.9.1909. Bonn war ein Schüler von Max Weber und Lujo Brentano und verfaßte mehrere Werke zur Südafrikanischen Geschichte, siehe Melber: Kontinuitäten, S. 98. 148 Drechsler, Südwestafrika, S. 20. 149 Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, S. 314.

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moderne Züge sie zeigt, war nur soweit systemkonform, als sie wohl das Sicherheitsmotiv der Deutschen [Siedler] befriedigte, nicht aber den Herrschaftswillen und das ökonomische Kalkül.«150 In den nachfolgenden Jahren charakterisierte die Geschichtswissenschaft den deutschen Kolonialismus weitaus weniger differenziert als »präfaschistisch« und »frühfaschistisch«151, und der Begriff Genozid zur Kennzeichnung der Politik von Trotha ist in der wissenschaftlichen Literatur bis auf wenige Ausnahmen allgemein übernommen worden. Gegen eine solche »neue Kontinuitätsthese« richtete sich Gunther Spraul in einem 1988 erschienen Aufsatz, der bereits im Titel polemisch auf den Historikerstreit rekuriert.152 Er argumentierte jedoch nicht gegen einen Vergleich des nationalsozialistischen Staates mit einem Kolonialstaat oder gegen eine Gleichsetzung von Antisemitismus mit kolonialem Rassismus. Seine Einwände beruhten ausschließlich auf einer Relativierung der Methoden der Kriegführung: Z u m einen rechtfertigte er das Verhalten der deutschen Soldaten unter Hinweis auf die von Herero verübten »Greultaten«. Z u m anderen führte er das Argument ins Feld, es gäbe keine gesicherten Zahlen über die Verluste der Herero. Diese Einwände hatte schon Sudholt in seinem Buch zur »deutschen Eingeborenenpolitik« erhoben. Er behauptete hier ebenfalls, angesichts fehlender Zahlen und angesichts der Beteuerungen von Kolonialsoldaten über ihr Verhalten im Krieg lasse sich »die im heutigen Sprachgebrauch gängige These vom >Völkermord< an den Herero ... nicht aufrechterhalten.« 153 Diese auch in Kreisen deutschsprachiger Namibier beliebte These akzentuierte Rust, langjähriger Leiter der SWA-Wissenschaftlichen Gesellschaft, 1984 neu, indem er resümierte, Trothas Schießbefehl habe zwar die Absicht verfolgt, das Herero-Volk zu vernichten, jedoch sei die Zivilbevölkerung in den beiden Weltkriegen viel grausamer behandelt worden. 154 Bevor man die Aussagekraft unterschiedlicher Quellen und Zahlen diskutiert, ist es jedoch geboten, eine genaue Bestimmung des Begriffs »Genozid« vorzunehmen. Doch weder Lau, Sudholt, Spraul noch Poewe, die es ablehnen, das Ziel der Kriegsführung und Nachkriegspolitik als Völkermord zu kennzeichnen, geben eine Definition dieses umstrittenen Begriffs. Implizit scheinen sie aber davon auszugehen, daß Völkermord die buchstäbliche Vernichtung aller Menschen der entsprechenden Gruppe bedeutet. Sinnvoller ist die Definition des polnischen Soziologen Zygmunt Bauman: »Der >gewöhnliche< Genozid hat auch nur selten die vollständige Vernichtung einer Bevölkerungs150 Ebd., S. 315 151 Heibig, D e r koloniale Frühfaschismus, S. 102-118. M e l b e r spricht von e i n e m »prä-faschistischen Kolonialenthusiasmus«, zieht aber vor allem eine Verbindungslinie zwischen der d e u t schen Kolonialherrschaft u n d d e m Apartheid-System in Namibia. Siehe: Melber, Das doppelte Vermächtnis. 152 Spraul, S. 713-739. 153 Sudholt, S. 186. 154 N a c h Rüdiger, S. 27.

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gruppe zum Ziel; Sinn und Zweck der Gewalt (sofern diese zweckgerichtet und organisiert ist) ist vielmehr, die Lebensfähigkeit und relative Autonomie der stigmatisierten Gruppe (eine ganze Nation, ein Stamm oder eine religiöse Sekte) zu zerstören. In diesem Fall ist das Ziel des Genozids erreicht, wenn (1) Gewalt und Terror den Willen und die Widerstandskraft der Opfer gebrochen haben und zur Kapitulation und Annahme der aufgezwungenen Ordnung führen; und (2) wenn die Gruppe aller Mittel zur Fortführung ihres Widerstandes beraubt ist.«155 Diese Bestimmung richtet sich gegen eine Argumentationsweise, die den Tatbestand des Genozids oder Völkermords auf der rein numerischen Ebene verhandelt. Der richtige Einwand gegen eine Gleichsetzung des Krieges in der Kolonie mit der Shoah, gegen eine vereinfachte Kontinuitätsthese und die Behauptung einer Zwangsläufigkeit der Vernichtung< in der deutschen Geschichte geht zu Unrecht einher mit der Leugnung der tatsächlichen Grausamkeit der Kriegführung und insbesondere der politischen Entscheidung die Herero, wenn nicht physisch, so doch als Gruppe auszulöschen. Chalk und Jonassohn haben in ihrer komparativen Forschung versucht, solche Formen des Genozids begrifflich zu bestimmen. Sie schlagen, in Abgrenzung von anderen Arten kultureller und religiöser Unterdrückung, die sie als »ethnocid« bezeichnen, die folgende Definition des Genozids vor: »Der Genozid ist eine Form einseitiger Massentötung durch die ein Staat oder eine andere Autorität beabsichtigt eine Gruppe zu zerstören«, wobei »die Gruppe und die Zugehörigkeit zu ihr, von dem Täter bestimmt wird.«156 Die Begriffsbestimmungen von Baumann und Chalk und Jonassohn treffen auf den Herero-Krieg und insbesondere die Nachkriegspolitik in allen Punkten zu, ohne zwangsläufig einen Vergleich zur Shoah nahezulegen.

155 Bauman, S. 133. 156 Siehe: Chalk u. Jonassohn, S. 23; der Begriff»Genozid« wurde nach Chalk und Jonassohn von Raphael Lemkin während des Zweiten Weltkrieges geprägt (Axis Rule in Occupied Europe, Washington, D . C . 1944), er entwickelte dort ebenfalls eine Typologie, die wesentlich in die obige Definition einging.

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2. Kapitel Kriegsberichte - Kriegsbilder

Der Krieg in Südwestafrika wurde zum Testfeld für die moderne Kriegführung. Die Reichweite des Funks als Kommunikationsmittel spielte neben der Reichweite des Maschinengewehrs eine entscheidende Rolle. 1 Gleichzeitig wurde der Krieg, besonders von der alten Schutztruppe, ideologisch als Verteidigung des Ideals einer patriarchalisch-agrarischen Gesellschaft verstanden, die sich in Deutschland aufzulösen begann. »In keinem anderen Lande zeitigte die industrielle Umwälzung so rasch... Erfolge... und verwandelte ein Volk der Agrarier im Zeitraum einer einzigen Generation in den zweiten Industriestaat Europas.« 2 Viele Soldaten hatten sich zum Dienst im Kolonialmilitär bereits mit der Absicht gemeldet, dauerhaft im Land zu bleiben. Da zum Aufbau einer Farm, die in der Regel auf extensiver Viehzucht beruhte, ein relativ hohes Startkapital erforderlich war, erhielten ausgemusterte Jahrgänge der Schutztruppe bis 1906 äußerst günstige Kredite, denn man ging davon aus, daß ihre Landeskenntnis den Kapitalmangel ausgleichen würde. 3 1903 lebten erst insgesamt 4.682 Weiße in der Kolonie, 4 aber Südwestafrika beflügelte als Ideal einer Siedlungskolonie die Phantasie der Kolonialapologeten und -schriftsteller. Ungeachtet der realen Härten vor Ort, und ungeachtet auch der Tatsache, daß die Farmer während der gesamten deutschen Kolonialzeit eine Minderheit unter den Siedlern bildeten, wurden hier Utopien eines »befreiten Lebens« auf eigener Scholle beschworen, im Gegensatz zur als be-

1 Kkin-Arendt. Neben Telegraphen und Heliographen, die nur von eingeschränktem Nutzen waren, wurde im Herero-Krieg erstmals die Funktechnologie im Ernstfall erprobt. Auch das Maschinengewehr wurde hier zum ersten Mal von einer deutschen Armee im Krieg eingesetzt. Siehe: Dürr, Das Maschinengewehr in: Rust, Krieg und Frieden, S. 415-421. 2 Townsend, S. 144. Zwischen 1840 und 1910 sank die bäuerliche Bevölkerung von 63% auf 33% und die Anzahl der Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern stieg von acht auf achtundvierzig. Ebd. 3 Siehe: Schmidt-Lauber, Deutschsprachige Namibier, S. 36. Gentz, Die Besiedlungsfrage, S. 520: »Die ausgedienten Schutztruppensoldaten haben bisher fast durchweg brauchbare und vorwärtsstrebende Farmer abgegeben.« 4 Vesper, Uberleben in Namibia, S. 70. 1913 lebten in der Kolonie bereits 14.830 Weiße, von denen 83% Deutsche waren, siehe: Weigend, Deutsche Siedlungsstrukturen, S. 9. Am Ende der deutschen Kolonialherrschaft lebten mit 12.000 Menschen mehr als die Hälfte der Kolonialdeutschen in Südwestafrika, siehe: Schmidt-Lauber, Deutschsprachige Namibier, S. 33.

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drohlich empfundenen Enge und Übervölkerung in den Städten des industrialisierten Deutschen Reiches. Das Bild der Kolonie als Gemeinwesen autonomer Farmer, die ganz auf sich selbst vertrauend, unabhängigvon Marktgesetzen und Verwaltung, von Bürokraten und Technokraten, ein eigenes Reich schufen und befehligten, kennzeichnet viele Lebenserinnerungen von ehemaligen Soldaten, von Farmern und Farmerinnen. 5 »Die schriftstellerischen Bemühungen zielten auf eine Rekonstruktion des >freien< ländlichen Lebens, eines anachronistischen Zustandes, der etwa dem Dasein eines spätmittelalterlichen Bauern oder Handwerkers entspricht.«6 Dieses Bild beruhte auf einer konsequenten Verdrängung der Tatsache, daß die Kolonisierung eine Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft bedeutete und keineswegs ein »vormodernes« Projekt einzelner Abenteurer war. Weite Teile des Landes befanden sich im Besitz von Land- und Mienengesellschaften, 7 und die Farmer waren von Verwaltung und Ordnungskräften abhängig, die sie im Zweifelsfall auch immer zur Hilfe riefen. Bis heute wirkt jedoch der Mythos des unabhängigen »Alten Afrikaners« fort, ein Begriff, mit dem sich die Pioniergeneration bezeichnete und der im Krieg zum Ehrentitel avanchierte. Diese Spannung verkörpert auch der Gegensatz zwischen Trotha und Leutwein. Auf der einen Seite stand der »Landesvater« Leutwein, der zwar Soldat, aber dennoch Garant einer »maßvollen« kolonialen Eroberung des Landes war, zu der auch die befriedeten und unterworfenen, aber »wertvollen Eingeborenen« in ihrer Eigenart gehörten. Auf der anderen Seite stand Trotha, der Feldherr, der einen modernen Krieg bis zur Vernichtung des Gegners führte, ohne Pardon, ohne Rücksicht auf Fragen der wirtschaftlichen und politischen Belange der Siedler und ohne jede kolonialromantische Vorstellung. O b Leutweins Politik »humaner« war, steht hier nicht zur Diskussion; sie basierte aber auf einem anderen Konzept kolonialer Eroberung. Die Soldaten standen ebenfalls in dieser Spannung, je nach ihrer Lebensgeschichte und je nachdem, ob Afrika ein Abenteuer oder die Zukunft für sie bedeutete. 8 Eine Beschäftigung mit 5 Bis heute ist das Ideal des Farmers als autonomen Patriarchen ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Identität in Namibia. Siehe hierzu: Schmidt-Lauber, »Die verkehrte Hautfarbe«, S. 74-110. Ein häufig bemühtes Feindbild der Siedler sind bereits während der Kolonialzeit »die Politiker«, genauer noch »vermuteten sie die Wurzel allen Übels im parlamentarischen Regierungssystem, das die Beschlüsse des Reichskolonialamtes in Berlin von Wählerstimmen abhängig mache und daher dem liberalen Kurs eher folgte, als Rücksichten auf die Existenznöte der Kolonisten zu nehmen.« Benninghoff-Liihl, Deutsche Kolonialromane, S. 164. 6 »Es ist derselbe Fluchtpunkt, den die zeitgleiche Heimatkunstbewegung setzte, indem sie eine agrarische Idylle als Ersatzbereich für das unerträglich werdende Großstadtleben empfahl.« Benninghoff-Lühl, Deutsche Kolonialromane, S. 166. 7 Bismarck hatte zunächst vorgesehen, die Verwaltung, Ansiedlung und wirtschaftliche Erschließung der Kolonie durch Privatgesellschaften vornehmen zu lassen. 8 Wie Oberstleutnant Stuhlmann in seinem Tagebuch notierte, hatten sich die Reserveoffiziere von Trotha, Eikhoff, Rost und Strahler bereits mit der Absicht gemeldet, als Farmer in SWA zu bleiben. Tagebuch Major Stuhlmann, S. 11.

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einzelnen Soldaten kann nicht das Ausmaß der Zerstörung, welches diese Armee und das heißt die Soldaten zu verantworten hatten, relativieren. Die Frage nach der »subjektiven« Seite des Krieges aber ist die Frage danach, ob sich die einzelnen Soldaten dessen bewußt waren, was sie taten bzw. was sie als ihre Aufgabe verstanden. Was motivierte, was legitimierte diese Männer, die den Krieg oft nicht als richtigen Krieg empfanden und selbst enttäuscht und beschämt über die Gemetzel waren, die anstelle glorreicher Schlachten den Kriegsalltag ausmachten? Diese Fragen entspringen keineswegs allein nachträglichen Erklärungsversuchen von Handlungen, die sich aus zeitgenössischer Sicht von selbst erklärten, denn viele Texte der Soldaten sind selbst durch einen hohen Legitimationsdruck gekennzeichnet. 9 Es geht dabei nicht um individual-psychologische Deutungen und Interpretationen, sondern um die Erschließung eines wesentlichen Bestandteils kolonialer Erfahrung auf beiden Seiten, um einen Perspektivwechsel, der Praxis, Erfahrungen und konkrete Begegnungen in den Mittelpunkt stellt. Sicher war die Schutztruppe keine »war machine of cool killers«10, wie Brigitte Lau in ihrer Kritik einer eurozentrischen Sicht des Krieges ironisch paraphrasierte. In wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Darstellungen des Krieges würde eine von Durst und Typhus geplagte, schlecht ausgebildete und landesunkundige Truppe zur »arischen Kampfmaschine« stilisiert, so Lau. Beide Sichtweisen sind jedoch weit überzogen. Die Vorstellung einer von vorn herein und in allen Situationen, gleichsam »natürlich« überlegenen Militärmaschine trifft den realen Kriegsalltag ebenso wenig, wie ihr Bild der Soldaten als verwirrte deutsche Bauernjungen und der Schutztruppe als »wanderndes Lazarett«. Mangelndes landeskundliches Wissen konnte den altgedienten Schutztruppensoldaten kaum unterstellt werden, und zudem wird mit diesem Argument die wichtige Rolle der afrikanischen Hilfstruppen, »Bambusen« und Führer unterschlagen; ein Kapitel der afrikanischen Geschichte des Krieges also, die Lau gerade in ihr Recht setzen wollte. Weiterhin wurden auf deutscher Seite moderne Waffen- und Kommunikationstechnologien eingesetzt, und die militärische Führung konnte auf einen nahezu unbegrenzten Nachschub von Truppen zurückgreifen, während die Herero mit ihren Familien und Herden in den Krieg zogen oder vor diesem fliehen mußten. Die von Lau zur Beweisführung angeführten Fakten und Zahlen liefern wenig neues Material und werden weiter unten diskutiert. Einem Grundgedanken ihrer Argumentation bezüg9 Es ist kein Zufall, daß Timms Roman Morenga, der auf Studien im Archiv in Windhoek basiert, von diesem Thema beherrscht ist, wie auch dessen kolonialer Vorläufer von Frenssen, Peter Moors Fahrt nach Südwest. Die existentiellen persönlichen Krisen gingen allerdings in den biographischen Texten selten so weit wie im Roman Timms, wo der Sinn des Krieges in Frage gestellt wird und einer der Protagonisten desertiert. 10 Lau, Uncertain Certainties, S. 8.

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lieh der Geschichtsschreibung und Tradierung des Krieges istjedoch zuzustimmen: Die Mystifizierung der Schutztruppe verhindert eine Beschäftigung mit den Akteuren auf beiden Seiten, ihren subjektiven Erfahrungen, Perspektiven und Interaktionen; vor allem aber werden Herero auf diese Weise allein zu Opfern und Objekten einer Geschichte, die in Berlin, im Hauptquartier der Schutztruppe und vielleicht noch von der Interessenvertretung der Siedler geschrieben worden ist.11 Die Tradierung des Krieges auf Herero-Seite ist Ausdruck eines spezifischen historischen Prozesses und hat ihre Gestalt nicht ausschließlich durch die Vernichtungspolitik und die Rolle der deutschen Armee erfahren. So erinnern die von der otjiserandu getragenen Uniformen auch an Epochen vor dem Krieg und sind Ausdruck einer älteren Herero-Tradition, und eine Reihe von Gefechten werden mit Stolz als Siege über die deutsche Armee gefeiert. Die Beschreibung der Soldaten als reine Erfüllungsgehilfen der Trotha'sehen Genozidpolitik hat einen entscheidenden Einfluß auf die Sicht der »afrikanischen Seite« des Krieges und der Nachkriegszeit. Denn geht man davon aus, daß die Soldaten Afrikanern ausschließlich als gesichtslose »Herrenmenschen«, als homogene Militärmaschine begegneten, blendet man einen Erfahrungsbereich von Afrikanern und damit auch eine Ebene ihres Handlungsspielraumes aus. Bleibt diese Seite des Krieges unbeachtet, besteht tatsächlich die Gefahr einer »Mystifizierung« und eines eurozentrischen Blicks, den Lau als »Falle« beschrieben hat, ein nur »scheinbares Mitgefühl für die afrikanische Sache, das in Wirklichkeit aber die totale Dominanz der Kolonialisten behauptet.«12 Es bestanden vor dem Krieg und während des Krieges enge Verbindungen zwischen der Herero-Gesellschaft und der Kolonialgesellschaft, auch wenn diese häufig widersprüchlich und zum Teil antagonistisch waren. Vor dem Krieg hatten Herero den Deutschen Heeresfolge geleistet, und während des Krieges standen Herero freiwillig und unfreiwillig als Soldaten und sogenannte »Truppenbambusen« auf deutscher Seite. Die Bambusen haben ihre Vorgesetzten geführt, versorgt und im Krankheitsfall mitunter tagelang gepflegt. Die Situation der Afrikaner, die auf deutscher Seite standen, war keinesfalls durch die Erfahrung einer totalen Unterlegenheit gekennzeichnet, ganz im Gegenteil. Die Schutztruppe war existentiell abhängig von ihrem einheimischen Personal. Die neuere Geschichtsschreibung unterschlägt jedoch in der Regel die Rolle der Afrikaner, die auf deutscher Seite kämpften, während die ältere Kolonialgeschichte sie als »treue Kaffernsoldaten« erwähnt. 13 Eine Betonung ihrer Rolle soll keine moralischen 11 Laus Interesse, diesen Artikel zu schreiben, betrifft nicht nur den Herero-Krieg, denn sie argumentiert, daß die permanente Wiederholung, Simplifizierung und Popularisierung von Drechslers Beschreibung dazu führe, die fünfzig Jahre währende Militarisierung des Landes durch Südafrika zu verdrängen und die Tragik der namibischen Geschichte allein den ersten Kolonisten anlasten zu können. 12 Lau, Uncertain Certainties, S. 4.

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oder politischen Urteile liefern, sondern die Beschreibung einer Konstellation ermöglichen, welche die Frage beleuchten kann, warum Herero deutsche Uniformen positiv besetzten und warum sie Symbole derjenigen Armee, die zu ihrer Niederlage geführt hatte, in die eigene Tradition und Gedächtniskultur integriert haben. Die Art der Eroberung des Landes und die Rolle der Soldaten, die häufig im Land blieben, sind Grundlage und Ausdruck eines besonderen kolonialen Verhältnisses, das bis heute im Geschichtsverständnis nachwirkt. Eine Beschäftigung mit dem Kriegsalltag auf der Grundlage von unveröffentlichten und bisher noch nicht untersuchten Tagebüchern soll mehrere Fragen beantworten: Was motivierte die Soldaten, welches Verhältnis hatten sie zu Afrika und den Afrikanern und wie verstanden sie ihre eigene Rolle? Zudem erschließen sich anhand der biographischen Literatur typische Geschichtsgeschichten über den Krieg: Die Gerüchte über Verstümmelungen und Greueltaten sowie die besondere Rolle von Frauen im Krieg. Tagebücher und andere Texte der Kolonialliteratur werden in diesem Kapitel mit mündlichen Überlieferungen der afrikanischen Geschichte konstrastiert. Hier existieren weit weniger schriftliche oder verschriftlichte Quellen zum Krieg, und auch in dieser Hinsicht sind die Soldatentagebücher aufschlußreich und wichtig, weil sie von alltäglichen Begegnungen berichten. 14

2.1. Erste Erwartungen der Soldaten und der »konstruierte Held« der Literaturwissenschaft Der Krieg war ein Kolonialkrieg, und der größte Teil der Soldaten hatte sich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Eine Motivation war die Möglichkeit, sich »endlich« im Ernstfall als Soldat bewähren zu können. Daneben aber lockte viele Soldaten auch das »Abenteuer Afrika«, und eine Reihe von ihnen hatte die Absicht, im Land zu bleiben, wo man sie als willkommene Ergänzung der Siedlerschaft begrüßte. Der Feldzug geriet geradezu zur Werbekampagne: »Tausende von unternehmungslustigen jungen Leuten sind augenblicklich als Soldaten in der Kolonie. Aus eigener Anschauung können sie dort das Land, seine Reize 13 Bis Mitte der achtziger Jahre befand sich auf dem Militärfriedhof am Waterberg ein Grabstein mit der Inschrift: »Hier ruhen treue KafFernsoldaten der Kaisl. Schutztruppe«. Heute ist an der Friedhofsmauer eine Plakette zu ihrem Gedenken eingelassen. 14 Da die Texte Abschriften der Originale sind, ist es nicht immer sicher, ob und in welcher Weise Eingriffe vorgenommen worden sind. Da die Abschriften aber fur private Zwecke und nicht fur eine Veröffentlichung bestimmt waren, ist vermutlich wenig verändert worden. Auch die Abschriften der Texte zeigen noch die »Handschrift« der Autoren, wenn etwa äußere Geschehnisse in die Schreibweise der Texte eingehen, siehe weiter unten.

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und seinen Wert beurteilen. Das ist mehr wert, als die beste Agitation.«15 Viele Soldaten führten daher nicht nur Krieg in einem fremden Territorium für das Vaterland und in Verteidigung der Kolonie, sondern sie kämpften um eine eigene »Heimat«, die sich in Afrika realisieren sollte. U n d darüber hinaus verstanden sie die Verteidigung der Kolonie und den Kampf um eine Heimat auch als Kampf der Zivilisation gegen das »Wilde«. Welches Vorwissen und welche Erwartungen hatten die Soldaten, die sich freiwillig zum Dienst in der Kolonie meldeten? Je nach Bildungsgrad und sozialem Hintergrund konnten sie auf unterschiedliche Informationsquellen zurückgreifen. Wie Weltausstellungen, die Offiziere besucht hatten, boten auch Völkerschauen und Jahrmärkte einen Blick auf fremde Welten und fremde Menschen. Das Tagebuch16 des Soldaten Liebig beginnt mit einem Zitat aus der »Kolonialpolka«: »Nach Kamerun - Nach Afrika - Nach Angra Pequeña!« und fährt fort: »Anfang der neunziger Jahre, letztes Jahrhundert hoerte man dieses aufjedem Jahrmarkt... manche Kokosnuss wurde dann wohl auf einem Jahrmarkt angestaunt als Kolonial Produkt. Sahen wir doch meistens auf Bilder und Schilder der Tropen Kokosnuss und Bananen abgebildet.«17 Eine möglichst naturgetreue Darstellung fremder Lebenswelten sollten die aufwendig inszenierten Völkerschauen bieten. Sie hatten ihren Höhepunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im Zusammenhang mit der »seit der Jahrhundertwende zunehmend verflachenden und popularisierten naturphilosophischen Diskussion« und dem »Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialstaaten«.18 »Neben der didaktischen Absicht, die Welt- und Menschenkenntnis zu fördern, war das erklärte Ziel dieser Ausstellungen, weite Kreise der Bevölkerung für deutsche Kolonialinteressen zu gewinnen.«19 Herero wurden auf den Völkerschauen von Hagenbeck und seinen Konkurrenzunternehmen vermutlich nicht ausgestellt.20 Als Repräsentanten der neuen Kolonie Südwestafrika konnte das Publikum im Juni 1886 im Hannoverschen Zoo jedoch erstmals »Basotu-Kaffern«

15 Gentz, Die Besiedlungsfrage, S. 520. 16 Die hier zugrunde gelegten Tagebücher befinden sich im Staatsarchiv in Windhoek. Sie sind zum Teil ausführliche Berichte, z u m Teil Bemerkungen für spätere Aufzeichnungen. Häufig handelt es sich u m eine Kombination von Briefen und eigenen Notizen. 17 N A N Private Accessions A.5: Humoristische Erinnerungen aus Suedwest Afrika als Kolonialtruppler 1893. D e n alten Kameraden gewidmet. 48 Seiten. 18 Martin, S. 223. Die ersten Völkerschauen wurden in Deutschland in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts veranstaltet. Sie dienten sowohl der Unterhaltung des Publikums, wie der wissenschaftlichen Forschung: »Die Einrichtung der Völkerausstellung ist in ihrer Bedeutung fur die Berliner anthropologische Gesellschaft nicht zu unterschätzen, da Virchow selbst Hagenbeck Vorschläge für zukünftige Schaustellungen unterbreitete. Diese Vorführungen boten den damaligen Ethnologen und Anthropologen die Gelegenheit, ihre Studien auch zu Hause zu betreiben.« Goldmann, Wilde in Europa, S. 258. 19 Goldmann, Zwischen Panoptikum und Zoo, S. 52. 20 Z u Hagenbeck siehe Goldmann, Wilde in Europa, und Sokolowsky, Carl Hagenbeck; zu den

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sowie eine »Hottentotten- und eine Buschmannfamilie« bei ihren »Spielen, Tänzen und Gefechten« besichtigen. 21 1896 aber brachen vier Herero auf und reisten nach Berlin. Samuel Maharero hatte Lindequist gebeten, seinen Sohn dem Kaiser vorstellen zu lassen, u m die Beziehungen zur deutschen Regierung zu stärken. 22 Die Spur von Frederik Maharero, der auf eigene Kosten in Begleitung von zwei weiteren chiefSöhnen und dem Lehrer Josaphat Kamatoto nach Berlin gereist war, findet sich in der Kolonial-Abteilung der Berliner Gewerbeaussteilung wieder. D o r t sollten die Männer »heidnische Herero-Trachten« vorführen, was sie in Konflikte mit ihrer religiösen Uberzeugung brachte, da sie getaufte Christen waren. 23 In einem Schreiben unterrichtete Bülow den Kaiser über das eigentliche Ziel ihrer Mission: »Ausserdem möchte der Wortführer, welcher kürzlich in den Zeitungen gelesen hat, dass d e m Landeshauptmann von Südwest-Afrika, H e r r n Major Leutwein, zu grosse Nachsicht gegenüber den Hereros zum Vorwurf gemacht wird, Seiner Majestät aussprechen, dass der Landeshauptmann ihr volles Vertrauen besässe und ihren Charakter gut verstünde. Die Hereros erwarten eine Versicherung, dass Seine Majestät gewillt sind, den Frieden mit ihnen zu halten.«24 Afrikanische Würdenträger haben häufiger Kolonialausstellungen u n d Völkerschauen genutzt, u m sich über Deutschland zu unterrichten und diplomatische Verbindungen zu knüpfen, 2 5 aber in dieser Begegnung zwischen den Herero-Prinzen - in Begleitung eines deutsch sprechenden Lehrers, die sich auf Zeitungslektüre beziehen und eine Audienz beim Kaiser erwarten - und einem gaffenden Berliner Publikum, d e m sie heidnische Trachten vorführen sollten, wird der scharfe Kontrast zwischen deutschem Exotismus u n d afrikanischer Diplomatie überdeutlich. Eine weitere Informationsquelle über exotische Welten stellten die zu dieser Zeit äußerst populären Reiseberichte u n d ethnographischen Betrachtungen Völkerschauen im Basler Z o o siehe Staehelin. Dag Henrichsen hat in einem Ende der achtziger Jahren geführten Interview mit einem etwa hundertjährigen Mann von diesem erfahren, daß er u m die Jahrhundertwende in Hamburg in einem Z o o ausgestellt worden ist. Siehe: Henrichsen, Gespräche, S. 87. Auch ich habe die Geschichte eines Veteranen gehört, der angeblich im Ersten Weltkrieg in Deutschland gekampft hatte, vermutlich aber in einer Völkerschau engagiert war. 21 Ziegan, S. 9. In einem Artikel des Hannoverschen Tageblatts zur Süd-Afrikanischen Caravane klingt schon die alle Völkerschauen begleitende Angst an, man würde keine Originale zu sehen bekommen: »Eben wegen der typischen Reinheit der uns vorgeführten Individuen ist der Besuch der Karavane sehr zu empfehlen ...« Ebd. 22 Pool, Samuel Maharero, S. 121. 23 BAP AA Kolonial Abtheilung 10.01 6350 Ausstellungen, Beiakten 4. »Die für die Kolonial Ausstellung bestimmten Eingeborenen der Deutschen Schutzgebiete« 24 BAP AA Kolonial Abtheilung 10.01 6350 Ausstellungen, Beiakten 4, S. 26f.: Brief Franz Joseph von Bülow an den Kaiser v o m 12. 9.1896. 25 Mehrfach hatte ein Somali -chief eine Truppe nach Deutschland geführt, w o sein Sohn die Schule besuchte, und er selbst v o m Kaiser für seine Verdienste u m die Schutztruppe eine Auszeichnung erhielt. Siehe. Goldmann, Wilde in Europa, S. 257.

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dar. Der Soldat hätte zum Beispiel in dem Buch von Johannes Schanz »NeuDeutschland« von 1889 nachschlagen können und unter dem Stichwort »Herero« folgende Eintragung gefunden: »Diese sind kräftig, von dunkler Hautfarbe, begabter als die Nama und auch von einnehmenderer Gesichtsbildung... Auch die Herero waschen sich nicht und verbreiten einen widerlichen Geruch. Ihre Wohnungen ähneln denen der Nama und starren vor Ungeziefer und Unreinlichkeit... vor allem sind sie sehr abergläubisch.«26 Schmutzig, abergläubisch, aber auch von einnehmender Gesichtsbildung und kräftig, auf solche Menschen war man vorbereitet. Peter Martin bemerkte dazu: »Der Körper des Schwarzen hat jedoch, trotz seiner teuflischen* Seele, häufig gefallen.«27 Wie eine Bestätigung liest sich Major Stuhlmanns Eintrag in seinem Tagebuch, der ursprünglich lautete: »Nicht minder groß und schön sind die Frauen«, dann aber durch die Einfügung »schön {gewachsen}« die Schönheit auf die Gestalt beschränkte. 28 Offiziere wie Stuhlmann und Auffarth 29 , von denen weiter unten noch die Rede sein wird, hatten sich Afrika lesend angenähert, und auch im Tagebuch von Unteroffizier Mahlzahn werden die »verschiedenen Negerrassen« in einer populären völkerkundlichen Weise unter den Stichpunkten Siedlungsgebiet, Körperbau, Unterkünfte und Charakter beschrieben. 30 »Afrika« bedeutete Exotik, Tiere, »wilde Eingeborene«, »schöne Eingeborene« und vor allem Palmen. Häufig war die Landung in Swakopmund daher mit einer krassen Enttäuschung verbunden: »Das ist doch nicht Afrika«. Diese Enttäuschung beim ersten Blick auf Afrika ist ein stereotypes Muster, das sich bis heute in fast allen Romanen, Lebenserinnerungen, Kinderbüchern, Reiseberichten bis hin zu feuilletonistischen Artikeln über Namibia findet. In der auf Tagebuchaufzeichnungen und Gesprächen beruhenden Lebensbeschreibung des Reiters Schlüter heißt es: »Viel Nebel, viel Sand, wenige verstreute Häuser, Baracken und große Zelte für die Soldaten ... und vor allem: Keine Palmen, keine Papageien, keine Affen!«31 »Afrika« fand für die Soldaten und die europäischen Reisenden bereits vorher statt, auf den Inseln, die wie Las Palmas und Madeira zum Kohleladen angelaufen wurden und wo man »unter Palmen wandelte«. Leutnant Haak schrieb im Brief nach Hause: »Die Häuser mit flachen Dächern, alle ohne Fenster, nur große Türen, die am Tage offenstehen, die 26 Schanz, Neu-Deutschland, S. 59f. 27 Martin, S. 25. 28 N A N Private Accessions A.109: Major Stuhlmann, »Tagebuch meiner Kriegserlebnisse in Süd-West-Afrika 1904 und 1905 als Oberleutnant der Schutztruppe«, 308 Seiten, S. 31 und S. 63, Stuhlmann bewunderte auch wiederholt das »Ebenmaß« der Leichen und der gefangenen Frauen und Kinder im Krieg. 29 Ebd.; N A N Private Accessions A.549: Briefe von Adolf Auffarth 24.12.1904 - 6.4.1905,24 Seiten. 30 N A N Private Accessions A.510: Tagebuch, Briefe und Vortrag von Unteroffizier Erich Mahlzahn, 1901-1904, 30 Seiten, S. 5. 31 Lohse, Ludwig Schlüter, S. 5.

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öffentlichen Plätze, bestanden mit wundervollen hohen Palmen der verschiedensten Art, gaben ein echt afrikanisches Bild,«32 U n d Oberst Stuhlmann berichtete begeistert über Madeira, wo sein Dampfer am 7. Mai 1904 Station machte: »Überall Blumen in den leuchtendsten Farben, Rosen, Apfelbäume, Palmen, Bananen, unzählige, die ich noch nie gesehen habe, die Mauern bedeckt mit blühenden Schlingpflanzen, Winden, Passionsblumen, Geranien, Kakteen.« Stuhlmann hatte eine Weltausstellung besucht, 1900 in Paris, und dort einen »hervorragenden Stierkampf« gesehen, wie er seinem Tagebuch anvertraute. Daher interessierte er sich in Teneriffa in erster Linie für »das Volksleben«, dessen Schilderung dann allerdings nur eine knappe halbe Seite umfaßt. Auf exotische Pracht und fremdes Volksleben richteten sich die Wünschen der Soldaten. Das Zauberhafte, Verführerische, sehnsüchtig Erwartete erfüllte sich auf den Inseln, die wenig Überraschungen boten, denn es stand bereits vorher fest, was zu »Afrika« gehört. In der Erwartung und in der Enttäuschung spiegelt sich ein wichtiges Motiv für den freiwilligen Kriegsdienst in der Kolonie wider: Die Sehnsucht nach Abenteuer, Exotik und fremder Ferne. »Schon längst war mein sehnlichster Wunsch, fremder Herrenländer und Völker kennenzulernen« 33 , schrieb Unteroffizier Mahlzahn als Begründung dafür, warum er sich für vier Jahre in der Schutztruppe verpflichtete. Aber diese Sehnsucht kontrastierte mit dem Phänomen, daß alles wirklich Fremde, das am wenigsten Erwartete, sofort abgewehrt, verändert oder zerstört wurde. Das fremde Tier wird erschossen, um es betrachten zu können, 34 die »unfertige« Landschaft soll kultiviert, und die fremden Menschen müssen zunächst erst einmal »zivilisiert«, also verändert, werden. Die Bilder und Erwartungen sind so stark, daß in den Tagebüchern die konkreten, oft positiven, Erlebnisse mit afrikanischen Menschen unverbunden neben den Stereotypen stehen. Die Ambivalenz gegenüber Afrika und afrikanischen Menschen ist nicht nur ein generelles Strukturmerkmal des Rassismus. 35 Sie basiert auf einem Zusammenprall des vorgebildeten »ethnographischen Blicks« mit konkreten Erfahrungen und kennzeichnet die Soldatentagebücher wie Kolonialliteratur in vielfacher Hinsicht. Ambivalenz zeigt sich in den Beschreibungen der Natur, der Zivilisation und nicht zuletzt des Krieges. Dabei unterscheiden sich die Tage32 Haak, Tagebuchblätter, S. 8. (Hervorhebung d. Vf.) 33 Tagebuch Emil Mahlzahn, S. 1. 34 Schon in den Titeln veröffentlichter Kriegsberichte findet sich oft die Jagd (»Jagd- und Kriegsbilder«) wieder. Sie hat eine große Rolle im Krieg gespielt und wird in den Tagebüchern ausführlich beschrieben. Die Jagd diente der Ernährung, viele der Soldaten waren aber auch passionierte Jäger. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, daß die Jagd eine Ersatzhandlung war, denn sie wird häufig wie eine »Entladung« beschrieben. 35 Diese Ambivalenz wird in zahlreichen Aufsätzen und Studien zum Rassismus sowie zur Kolonialliteratur beschrieben. Zum Zusammenhang politischer und ökonomischer Interessen mit ambivalenten Beschreibungen »der anderen« siehe: Miles, Rassismus, S. 2 9 ^ 2 .

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bûcher nicht nur untereinander, sondern auch innerhalb des selben Textes werden Ambivalenzen deutlich; sie sind geradezu ein bestimmendes Stilelement und können nicht allein als (unbewußte) Widersprüche, oder allgemeines, überhistorisches Kennzeichen rassistischer Ideologie gedeutet werden. Die Analyse der Texte von Kolonialsoldaten ist bisher vor allem ein Feld der Literaturwissenschaft gewesen. In der südafrikanischen Germanistik und Literaturwissenschaft gibt es seit den dreißiger Jahren eine Tradition der Beschäftigung mit der deutschsprachigen Kolonialliteratur.36 Die moderne Forschung fächert sich in unterschiedliche Richtungen auf In der ideologiekritischen Tradition steht Sibylle Benninghoff-Lühl 37 , die in ihrer Analyse literarischer Kriegsbewältigung Kolonialromane, biographische Texte und Feldzugsberichte mit der literarischen Exotismusforschung verbindet, die diese Texte als »minderwertige Trivialliteratur« ausgegrenzt hatte.38 In jüngerer Zeit sind psychoanalytisch orientierte 39 und diskurstheoretische Ansätze40 in den Vordergrund gerückt. Hier hat das Thema Krieg, Gewalt und koloniale Ordnung einen großen Stellenwert.41 Auch die Imagologie hat sich ausführlich mit Kriegsliteratur beschäftigt. Uber seine Konzeption schreibt Amadou Booker Sadji, daß es ihm »nicht so sehr auf den Bezug auf die tatsächliche Geschichte an[kommt], sondern auf die kolonialpropagandistische Substanz der Darstellungsweise.«42 Anhand der südwestafrikanischen Kolonialliteratur wird für Sadji erkennbar, wie »historische Geschehnisse ... gleichzeitig doch durchaus für gewöhnliche Klischees gehalten werden könnten, [und das] zeigt, in welchem Maße die historischen Komponenten bei den Grundmotiven in der europäischen Kolonialliteratur über Negro-Afrika und Negro-Afrikaner für die literarische Imagologie irrelevant sind.«43 Eine Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Richtungen der Literaturwissenschaft, die sich mit kolonialen Texten beschäftigen, ist der Ver-

36 Trümpelmann, S. 101-152. Besonders e r w ä h n e n s w e r t ist das J a h r b u c h des Südafrikanischen Germanistenverbands Acta Germanica, in d e m regelmäßig Aufsätze zur Kolonialliteratur erscheinen. I m Beiheft 2 z u m T h e m a »Afrika als Anderes« (1991) beschäftigen sich vier v o n n e u n Aufsätzen explizit m i t Namibia. 37 Benninghoff-Lühl, Deutsche Kolonialromane, S. 68. Z u »Aspekten literarischer Kriegsbewältigung« siehe dort S. 112-142. 38 Ebd., S. 4f. Z u r Forschungsgeschichte über Kolonialliteratur bis in die achtziger Jahre, ebd., S. 2 - 7 . 39 Horn, Fremdsprache u n d Fremderlebnis; sowie die im W i n d h o e k e r Archiv zugänglichen, unveröffentlichten Vorträge: ders., Das »Unwiederbringliche Bild der Vergangenheit, das m i t j e d e r Gegenwart zu verschwinden droht«; ders., D e r schwärzeste Verrat; ders., Historical Discontinuities. 40 Noyes, Colonial Space. 41 D e r bekannteste, auflagenstärkste u n d einflußreichste Kolonialroman, »Peter M o o r s Fahrt nach Südwest« v o n Gustav Frenssen, ist n e b e n d e n Texten von H a n s G r i m m w o h l einer der am meisten u n t e r s u c h t e n Texte der deutschen Kolonialliteratur. Siehe: Benninghoff-Lühl, D e u t s c h e Kolonialromane, Kapitel IV.4. Ein Erfolgsbuch, 123-136; Haarhoff, A Soldier in Namibia; Horn, D e r schwärzeste Verrat; Pakendorf, T h e Literature of Expropriation. 42 Sadji, Das Bild des Negro-Afrikaners, S. 174.

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zieht auf eine Unterscheidung der Genres, auf die Sadji verweist. Dieser Zugang verdankt sich nicht nur den jeweiligen literaturwissenschaftlichen Methoden, die eine Unterscheidung fiktionaler und biographischer Texte unnötig machen oder bewußt vermeiden, sondern ist den Texten selbst inhärent. »In der vielen Kolonialromanen eigenartigen Mischung aus Fiktion und Faktischem... wird der Eindruck erweckt, die Darstellung sei mehr als nur >LiteraturWahl< als ein Zwang erscheint.« Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, S. 117. 46 Z u dieser Wechselwirkung siehe auch Miles, Rassismus, S. 30. 47 »In considering the prose of German South West Africa, John Noyes identifies a peculiar problem: how to >pin point the function of a discours that blurs distinction between fiction and reportage or admits fictionality but assumes the authority of a sienceSollen wir noch Kinder gebären, die später doch nur Sklaven der Weißen sind?Wir H e r e r o sind versklavt w o r d e n , haben nicht m e h r so viel Vieh, wie unsere Väter hatten, k ö n n e n daher unsere Familien nicht m e h r so ernähren, wie unsere Väter das konnten, daher wollen wir unsere Kinder vor d e m Sklavenlos bewahren u n d verzichten auf N a c h k o m m e n s c h a f t ^ Es ist möglich, dass irgend ein Europäer e i n e m H e r e r o - M a n n solche G e danken suggeriert hat, u m einen solchen Ausspruch publizieren zu k ö n n e n . Es ist auch möglich, dass ein vergrämter H e r e r o einmal im U n w i l l e n eine solche A e u s s e r u n g getan haben mag.« A V E M C / k 2 0 (2.635): Aufsätze, ο. N . , O . u n d j . (zeitliche E i n o r d n u n g : nach 1915). Es ist interessant, daß in diesem Aufsatz nicht m e h r Frauen sprechen, s o n d e r n M ä n n e r . 131 Ebd. 132 Bongard, S. 704.

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hinaus waren es - wenn man sich auf Bongards Argumentation einläßt - gerade die »Kräftigsten des Volkes«, die als Soldaten im Krieg getötet oder als Kriegsverbrecher hingerichtet worden sind. Die zweite Redefigur, auch von den Uberlebenden sei keine gesunde Nachkommenschaft zu erwarten, basiert implizit auf der Annahme, daß afrikanische Frauen (und Männer) auch in einer katastrophalen Nachkriegszeit »natürlich« Kinder zu produzieren hätten. Die »gesundheitliche Schädigung« der Uberlebenden wird für die niedrigen Geburtenraten verantwortlich gemacht - und nicht etwa der Tod oder Verlust von Ehepartnern, die Konzentration darauf, Familienmitglieder wiederzufinden, die Trauer um verlorene Kinder und das Trauma des Krieges und der Flucht. Als spezifische »gesundheitliche Schädigung« nennt Bongard Geschlechtskrankheiten, die bei Frauen zur Sterilität führten, und als weitere Ursache niedriger Geburtenraten, die »künstliche Abtreibung«. Die venerischen Krankheiten verbreiten sich in Bongards Bericht einfach »mit erschreckender Schnelligkeit« 133 , die Verantwortlichen, die Soldaten, nennt er nicht. Auch treten allein Frauen als Betroffene von Geschlechtskrankheiten auf, denn nicht die Krankheit an sich, sondern deren Folge, die potentielle Sterilität und die mögliche Infektion deutscher Männer, interessierte die kolonialen Planer. Die alarmierende Vorstellung eines »Gebärstreiks« unterlief nicht nur das Interesse der Kolonialökonomie an möglichst zahlreichen Arbeitskräften, sondern auch den grundsätzlichen staatlichen Anspruch auf die Kontrolle der Reproduktionsfähigkeit von Frauen, der sich in gesetzgeberischen Maßnahmen gegen Abtreibungs- und Verhütungstechniken zeigt. Dabei mischte sich die angestrebte staatliche Planung und Zuständigkeit mit der Vorstellung, alle afrikanischen Frauen hätten ohnehin (viele) Kinder zu bekommen, das heißt mit der Vorstellung eines Reproduktions-Standards, von dem die konstatierte niedrige Geburtenrate abwich: »Die Zahl der Geburten entspricht nach Ansicht eines Missionars namentlich bei den Herero noch immer nicht der Zahl der vorhandenen Frauen. Er glaubt, daß die Eingeborenen die Zahl der Kinder vielfach freiwillig beschränken und dazu von weißen Kaufleuten gelieferte Mittel anwenden.« 134 Regierungsrat Kohler, der diesen Verdacht äußerte, schlug daher eine Prüfung des Tatbestandes vor. Darüber hinaus vermutete er jedoch, daß »die Eingeborenen selbst im Besitz von eigenen Mitteln oder Kenntnissen [sind], welche Mittel zur Abtreibung dienen. Sie hüllen sich darüber aber in Schweigen und verweisen auf die weisen FrauenHerrPlaying SoldiersNeuerung< geworden.« 132 Zu der Delegation gehörten Frederik Maharero, Alfred und Traugott Maharero, Bernhard Tjamuaha, David Riarua, Hosea Kutako, David Zeraua, Elia Moreti, Jacob Toneka, Silphanus Mungundu, Asser Kamosobisa, Cleophas Hukununa, Joel Kasetula. Lehmann, Truppenspieler, S. 57.

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zen, u n d dies alles würde sein Vertrauen in die Herero beweisen. 133 Hosea Kutako bedankte sich f ü r die Ansprache und sagte: »Ich bin der Führer und headm a n der Herero in diesem Distrikt. U n s e r chief Frederick Maharero ist heute Morgen hierher gekommen u m Sie zu sehen und ihnen, mit allen Führern der Herero, zu danken ... U n d ich, Hosea, als headman in Windhoek u n d im N a m e n der Menschen aus Windhoek u n d anderen O r t e ersuche u m die G e n e h migung f ü r die beiden Söhne von Maharero in diesem Land bleiben zu dürfen.«134 Die anderen chiefs wiederholten diese Bitte u n d machten deutlich, daß Frederik Maharero nicht n u r zurückkehren, sondern als »Herrscher« (ruler) eingesetzt werden sollte. U b e r die Frage der Rückkehrmodalitäten verhandelten in mehreren Sitzungen bis z u m 21. September 1923 Vertretern der Herero und der Administration. Courtney-Clark zeigte sich trotz seines Zögerns während der Beerdigung sehr von Frederik Maharero beeindruckt und wies bereits in seinem Report über die Beerdigung darauf hin, daß dieser einige Jahre in Südafrika gelebt hätte u n d die dortige »Eingeborenenverwaltung« kennen w ü r de. Z u d e m hätte er durch das Native Affairs Department in Pretoria eine gute Beurteilung erhalten. 135 Während der letzten Besprechung am 21. September kam die Frage der U r sachen des Herero-Kriegs zur Sprache u n d Hosea Kutako sagte, nach einer von dem Ethnologen Lehmann aufgezeichneten mündlichen Uberlieferung, »Samuel Maharero habe nicht gewollt, mit den Deutschen in einen Krieg zu k o m men. Aber die Deutschen haetten die Eingeborenen noetigen wollen, unter ihrer Herrschaft zu leben. Als der alte Maharero gestorben war, haetten die Deutschen das Land der H e r e r o und alles moegliche von ihnen gestohlen. Eine Menge Eingeborener sei darueber unwillig geworden u n d habe mit den D e u t schen gekaempft, aber nicht, weil Maharero es gesagt haette. N u n aber Samuel Maharero gestorben ist [sie], hat er seinen Sohn Friedrich (NB. als Erbe) hinterlassen, und dieser will (NB. als Haeuptling) mit der hiesigen Regierung arbeiten.« 136 Die Argumentation, daß Samuel Maharero, den gerade eine Herero-Armee zu Grabe getragen hatte, den Krieg nicht gewollt habe und der Krieg nicht auf seinen Befehl geführt wurde, könnte als Legitimation für Frederik gedeutet werden, der damit als Nachfolger des »regierungstreuen« Samuel anzusehen wäre. Kutako n a h m damit den Ton der Rede von Courtney-Clarke bei der Beerdigung auf, der den Krieg ebenfalls als »Irrtum« heruntergespielt und Samuels gute Seiten - w e n n auch weniger ausführlich - hervorgehoben hatte. 137 Die Südafrikaner hatten jedoch nicht die Absicht, das Amt eines paramount chiefs 133 134 135 136 137

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Ebd., S. 58. Ebd. Burial Report, S. 9. Lehmann, Truppenspieler, S. 58. Burial Report, S. 6f.

einzuführen: »Es wurde den Eingeborenen erklärt, daß ganz abgesehen von allen politischen Fragen das Reservatssystem eine solche Position ausschließt... Jedes einzelne Reservat wird einem headman unterstellt, der der direkten Kontrolle des Superintendenten oder Magistrat unterstellt ist. Wenn Frederick z u m paramount chief berufen würde, würde sein Volk natürlich von ihm Anweisungen erwarten und Konflikte wären nahezu unvermeidlich.« 138 Die Richtung der künftigen Politik gab bereits die offizielle Botschaft des Administrators bei der Beerdigung vor. Er ließ ausrichten, daß er hoffe, alle Irrtümer der Vergangenheit seien mit Samuel Maharero zu Grabe getragen, und dieser Tag möge der Beginn einer neuen Ara für die Herero-Nation sein. 139 Er ließ aber keinen Zweifel an den Grenzen dieser Nation u n d erläuterte gew o h n t anmaßend: »Wie ihr wißt, richte ich Reservate für euch ein ... Diese Reservate sind nicht dafür vorgesehen, daß eure j u n g e n M ä n n e r sich hier ein müßiges u n d faules Leben machen. Sie werden zur Arbeit fortgehen und Geld verdienen u m die Reservate im Wert zu steigern... Es liegt an euch zu zeigen, ob es euer Wunsch ist auf d e m Weg des Fortschritts vorwärtszugehen oder wie die Buschmänner in das Barbarentum zurückzufallen.« 140 Frederik Maharero erhielt die Erlaubnis, aus Botswana zurückzukehren, und das Versprechen, in einem von ihm gewählten Reservat als headman eingesetzt zu werden. A m 21. September 1923 w u r d e ein »Vertrag« im Administrationsgebäude in Windhoek unterschrieben, in dem sich Frederik einverstanden erklärte, n u r unter den Bedingungen der Administration im Land zu bleiben oder nach Botswana zurückzukehren. Das als »geheim« eingestufte A b k o m m e n zwischen d e m Administrator sowie Frederik Maharero, Traugott Maharero und Hosea Kutako besagte: »(3) Er [Frederik] versteht, wie es ihm in den Gesprächen mit der Verwaltung erklärt wurde, daß Seine Gnaden ihn nicht als chief anerkennen kann (4) Es ist nicht sein Wunsch, noch der des Volkes, irgendeine Form richterliche Gewalt zu beanspruchen, noch ist es erwünscht, das Verwaltungssystem in irgendeiner Weise zu behindern. (5) Es wird anerkannt, daß der Gouverneur oder seine autorisierten Beamten die Oberhoheit über das Volk ausüben.« 141 Frederik Maharero beugte sich dem Willen der Administration insoweit, als er nach Mahalapye in Botswana zurückkehrte, w o er 1952 im Alter von 76 Jahren starb. Einen untergeordneten Posten als headman schlug er aus, und Hosea Kutako blieb das von Samuel Maharero offiziell eingesetzte, von der Verwaltung jedoch nicht anerkannte Oberhaupt der Herero. Frederik Mahareros Beisetzung fand ebenfalls in Okahandja statt. 142 138 Union of South Africa (1923), S. 16. 139 Burial Report, S. 8. 140 Burial Report, S. 8f. 141 N A N SWAA 1/1/3, C C 4. Das Abkommen wurde von der Administration als Brief von Hosea Kutako sowie Frederik und Traugott Maharero vorformuliert und von allen anwesenden Führern unterschrieben. 142 Lehmann, Truppenspieler, S. 60f.

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Es war nach 1923 deutlich, daß die Südafrikaner das Land niemals zurückgeben und auch einer zentralen politischen Vertretung nicht zustimmen würden. Doch ihren Anspruch auf den Ort Okahandja und damit auf das Land der Väter erhielten die Herero symbolisch aufrecht und bestätigten ihn durch die zeremonielle Erneuerung des Volkes, der Nation am Herero-Tag. Damit hatte die otjiserandu eine neue Bedeutung als Verkörperung des Herero-Bewußtseins nach dem Krieg erlangt: Die Beerdigung war eine Rückeroberung eines historischen Ortes, eine machtvolle politische Demonstration und eine spirituelle Bestätigung der Nation. Samuel Maharero, der den Krieg verloren hatte, wurde in seine Heimat gebracht und als Ahn in eine Reihe mit seinem Vater und seinem Großvater gestellt. Der Grabstein, der alle drei Namen vereint, symbolisiert die Begründung einer unangefochtenen »Herero-Dynastie«, die in der Vergangenheit nicht existiert hatte, aber die zeremonielle Besetzung Okahandjas durch eine »Herero-Armee« unterstützte diesen Anspruch. Die otjiserandu symbolisierte die Vision einer geeinten Herero-Nation und deren Recht auf die »ancestral lands«.

4.4. Der Kampf um das Land - Ejuru Von 1915 bis zum Zweiten Weltkrieg fand eine kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen Herero-headmen und der Administration über die Landfrage statt. Die zweite Migrationswelle in das Herero-Land ab 1915 beantwortete die Regierung mit Zwangsumsiedlungen, und es folgte ein jahrzehntelanger Kampf um die Verbesserung der Lebensbedingungen in den neu eingerichteten Reservaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen Hcrcro-chiefs und Politiker wie Hosea Kutako an der Spitze des Widerstandes gegen die Inkorporation des Territoriums in die Südafrikanische Union, eine Maßnahme, die sie als endgültigen Landverlust empfanden. Damit hatte die Landfrage auch eine internationale Dimension gewonnen, während die internen Auseinandersetzungen um die Reservatsfrage und den Landanspruch in den gewohnten Bahnen weiterliefen. Während der Zwischenkriegszeit, schreibt Ngavirue, »konzentrierten sich die Herero und die Mehrheit der Nama auf ihre Wiederherstellung. Ihr Ziel scheint es gewesen zu sein, den Machthabern lediglich Zugeständnisse für Land, Erziehungseinrichtungen und andere Grundbedürfnisse abzuringen ... Die Weise in der >externalisierte< politische Ausdrucksformen durch rein eskapistische und millenarische Formen der Anpassung ersetzt wurden, kann interessante Belege für einen natürlichen Heilungsprozeß liefern.«143 Grundsätzlich 143 Ngavirue, Political Parties, S. 247.

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ist dem Autor, der unter externalisierten politischen Ausdrucksformen politische Vertretungen u n d Parteien versteht, zuzustimmen. Die afrikanische Bevölkerung hatte keinerlei Stimmrecht u n d formale Entscheidungsgewalt auf kommunaler und staatlicher Ebene, und der Kampf u m Mitbestimmung im Rahmen von politischen Organisationen begann erst nach d e m Zweiten Weltkrieg. Es ist auch richtig, daß der »Heilungsprozeß«, der Prozeß der Kriegsbewältigung, eine millenarische Komponente beinhaltete. 144 Für eine kurze Zeit zwischen 1922 und 1923 konnte die in den U S A von Marcus Garvey gegründete Universal Negro Improvement Association (UNIA), deren Ideen von südafrikanischen Arbeitern nach Namibia gebracht wurden, besonders unter Herero große Erfolge erzielen. 145 Führer wie Hosea Kutako, Traugott Maharero, Aaron M u n g u n d a u n d Nikanor Hoveka waren aktiv in der Bewegung, deren Slogan »Africa for the Africans« sich auch in den Landforderungen der Herero widerspiegelte. 146 So notierte Missionar Kuhlmann in den frühen zwanziger Jahren im O r t O m a r u r u , in der N ä h e der Herero-Siedlung, eine Inschrift, die mit Teerfarbe an einen Felsen geschrieben war: »Omaruru, den 5. März 1922. Michael [Zeraua, der letzte chiefvon O m a r u r u ] . Dieses Land. Diese Land ist nicht Eures, es ist das der von Amerika und das der Herero.« 147 Da die U N I A in Namibia niemals spezifische Forderungen hinsichtlich einer Landpolitik entwickelte, verlor die Bewegung unter der Herero-Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit an Einfluß. 148 Erst in den späten dreißiger Jahren wurden noch einmal millenarische H o f f n u n g e n zu einem wesentlichen Faktor innerhalb der otjiserandu. Insgesamt war der Prozeß der »Heilung« in den Zwischenkriegsjahren nicht in erster Linie durch millenarische Formen der Kriegsbewältigung gekennzeichnet. Anhand der Auseinandersetzungen zwischen der Verwaltung und der schwarzen Bevölkerung über die Landfrage wird gezeigt, daß »politische« und »utopische« 149 Konzepte eng miteinander verflochten sein können. Die traditio144 »Millenarismus« als E r w a r t u n g einer b e v o r s t e h e n d e n B e f r e i u n g v o n U n t e r d r ü c k u n g d u r c h das Eingreifen einer anderen Macht, war f ü r die otjiserandu allerdings n u r f ü r kurze Zeit ein Charakteristikum. Z u millenarischen B e w e g u n g e n , Widerstand u n d sozialem Wandel siehe: Hobsbawm sowie Worsley. 145 Z u m Garveyismus u n d seiner V e r b i n d u n g zur Gewerkschaftsbewegung siehe: Bradford, besonders Kapitel 7. Marcus Garvey versuchte im Z u g e der Versailler Friedenskonferenz in die Pläne f ü r die ehemaligen deutschen Kolonien einbezogen zu w e r d e n . Siehe: Emmett, Popular R e sistance, S. 237. 146 Pirio, S. 259-267. 147 Die Inschrift w u r d e von Missionar K u h l m a n n aufgezeichnet u n d übersetzt. Zitiert nach: Engel, Kolonialismus u n d Nationalismus, S. 233. 148 Werner, E c o n o m i c and Social History, S. 223. 149 Als »utopisch« bezeichne ich das Konzept der »ancestral lands«, des Landes der Vorväter, das nicht n u r Landbesitz im faktischen oder juristischen Sinn bedeutet, sondern eine vorkoloniale Lebensweise repräsentiert, die gleichzeitig erinnert, idealisiert u n d als Befreiung in die Z u k u n f t projiziert wird.

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nell legitimierte Führung, die neue Elite der von Südafrika kooptierten headmen und Regierungsangestellten und die otjiserandu überschnitten sich sowohl personell als auch in ihren Strategien. Dabei w u r d e der Versuch, d e m Staat Konzessionen abzuringen, nicht n u r u m den Preis der Anpassung geführt. Gerade die utopischen Konzepte oder der »Eskapismus« wie Ngavirue formuliert, standen dem Hegemonialanspruch des Kolonialstaates entgegen. D u r c h konkrete ökonomische Strategien schufen Landbesetzer und Viehbesitzer, vertreten von ihren chiefs, darüberhinaus Tatsachen, auf die der Staat seinerseits zu reagieren hatte. N a c h d e m die Südafrikanische U n i o n das Mandat erhalten hatte, m u ß t e sie jährlich Rechenschaftsberichte an den Völkerbund liefern. Im zweiten »Report of the Administrator of South West Africa« von 1922 hieß es: »Die Eingeborenen, die natürlich die ursprünglichen Besitzer des Landes waren, das als Ergebnis des Krieges von der Deutschen Regierung konfisziert, in Farmen aufgeteilt u n d Europäern verkauft oder zugewiesen wurde, haben die Erwartung entwikkelt, daß die Verwaltung als natürliches Resultat des Krieges n u n ebenfalls die im deutschen Besitz befindlichen Farmen konfiszieren würde, u n d die Eingeborenen so ihr verlorenes Land und ihre frühere Heimat, zurückerlangen würden ... und die allergrößten Schwierigkeit entstand dabei, sie zu der Einsicht zu bringen, daß dies völlig unmöglich ist.«150 Mit dieser Aussage bestritt der Bericht den historischen Landanspruch nicht. Die Südafrikaner präsentierten sich nicht n u r d e m Völkerbund, also der internationalen Öffentlichkeit, sondern auch im Land selbst immer als die »besseren Kolonialherren«, die den rigiden Herrschaftsstil der Deutschen ablehnten und Verständnis für die Geschichte und die Belange der Bevölkerung zeigten. Dies konnten Herero-Politiker u n d chiefs f ü r ihre Interessen ausnutzen. Sie nahmen den Anspruch der »besseren Kolonialherren« ernst u n d bestanden ihrerseits darauf nie gegen Südafrika Krieg geführt zu haben. So konnten sie einerseits Loyalität beweisen und andererseits legitime Forderungen stellen. In d e m Report wird aber auch die grundsätzliche Beibehaltung des status quo der Landenteignung erklärt, und die Lösung der angedeuteten »Schwierigkeiten« bestand aus drastischen Maßnahmen, die von Zwangsumsiedlung bis z u m Bombenabw u r f reichten. 151 Nicht die Rückkehr zu einer in den Augen der Administration veralteten Wirtschaftsform, sondern die Eingliederung in die moderne weiße Ö k o n o m i e war das Ziel der »Native Policy« der Südafrikaner. Darin unterschieden sie sich nicht von der deutschen Kolonialherrschaft. Die 1921 mit der Planung der Reservatspolitik beauftragte Native Reserves Commission formulierte als vorrangige Aufgabe »das Problem der Bereitstellung eingeborener Arbeitskraft f ü r die

150 U n i o n of S o u t h Africa (1923), S. 16. 151 Engel, Kolonialismus u n d Nationalismus, S. 236.

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Farmern und andere Körperschaften«.152 AufVorschlag der Kommission erfolgte die Einführung eines Reservatssystems, das ausdrücklich nicht der »Restauration der Stämme«153 dienen sollte: »Sie sind Sammelbecken der für den Wirtschaftsbetrieb entbehrlichen Bevölkerung, der Alten, Schwachen, Arbeitsunfähigen, wohl auch mancher Arbeitsscheuen, und der immer mehr anschwellenden Viehherden der Eingeborenen.«154 Ethnisch homogene >Heimatländer< waren die Reservate, die wie ein Flickenteppich um das fruchtbare Farmland lagen, nur in der Ideologie. 1922 wurden die Reservate Aminuis südöstlich von Gobabis, Ovitoto östlich von Okahandja und Otjituo im Osten des Waterberg als >chiefly Herero< Reservate eingerichtet; 1924 kamen das Waterberg East Reservat und Epukiro nordöstlich von Gobabis hinzu und 1925 das Otjohorongo Reservat westlich von Omaruru sowie das Otjimbingue Reservat. Die Funktion der Reservate war es einerseits, die schwarze Bevölkerung zu konzentrieren 155 und aus den weißen Gebieten fernzuhalten, andererseits die Arbeitskräftenachfrage der Distrikte zu befriedigen. 156 Gleichzeitig mit der Einrichtung von Reservaten verabschiedete die Verwaltung eine Reihe von Gesetzen, die sich sowohl an der südafrikanischen als auch an der ehemaligen deutschen Gesetzgebung orientierten. Die beiden wichtigsten Gesetze zur Kontrolle der afrikanischen Bevölkerung waren der »Suppression of Vagrancy and Idleness Proclamation Act, 25/1920«157 und der »Masters and Servants Proclamation Act 34/1920«158. Die Südafrikanische Militärregierung hatte das Zwangsarbeitssystem insofern gelockert, als Afrikaner, die einen gewissen Besitz von Vieh nachweisen konnten, eine Ausnahme vom Arbeitszwang beantragen konnten. U m jedoch zu verhindern, daß sich zu viele potentielle Arbeitskräfte dem weißen Wirtschaftssektor entziehen konnten, wurden erstmals verschiedene Steuern und Abgaben eingeführt, eine Maßnahme, die vor dem Herero-Krieg zu brisant war und sich nach dem Krieg nicht mehr lohnte. Die wichtigste Steuer zur Begrenzung des Viehbesitzes und der Kon152 Zitiert nach: Werner, Struggles, S. 272. 153 N A N SWAA A 158/1: Secretary for the Protectorate an den Secretary for Lands, Cape Town 20.5.1920. 154 BRM 1926, S. 122. 155 Auch die Wohngebiete von Afrikanern in der Nähe urbaner Siedlungen wurden zur besseren Kontrolle konzentriert, z.B. in Omaruru. Siehe: Engel, Kolonialismus und Nationalismus, S. 235. 156 Olivier, S. 116 u. 256. 157 »A person found wandering abroad and having no visible lawfull means or insufficient lawfull means of support who, being thereunto required by any Magistrate, policeman, owner or occupier of land, shall not give a good and satisfactory account of himself, shall be liable to imprisonment for a period not exceeding three months.« Union of South Africa (1923), S. 16. 158 Mit diesem Gesetz wurden alle Afrikaner, bis auf die genannten Ausnahmen, weiterhin als »servants« innerhalb einer weißen Ökonomie festgeschrieben. Zu den Gesetzen siehe: Gordon, Vagrancy.

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trolle der Arbeitskräfte stellte die »grazing fee« dar, die jeder Viehbesitzer nach Anzahl seiner Rinder oder des Kleinviehs zu entrichten hatte. Die Reservate sollten sich möglichst selbst tragen, u n d daher plante die Kommission, die Abgaben in einen Tribal Trust Fund einzuzahlen, der der D u r c h f ü h r u n g von Infrastrukturmaßnahmen dienen sollte. Die »wilden« Siedlungen, die während des Ersten Weltkriegs und danach entstanden waren, sowie die von der südafrikanischen Militärregierung eingerichteten »temporary reserves«, die nicht in den geplanten Reservatsgebieten lagen, ließ die Verwaltung nach der E i n f ü h r u n g permanenter Reservate räumen. Das entsprach der Segregationspolitik der Südafrikaner, die »black spots« in dem als »weiß« deklarierten Farmgebiet verhindern und zudem die von H e r e r o okkupierten fruchtbaren Farmen u n d Regierungsländereien an Siedler aus Südafrika verkaufen wollten. Herero, die sich in den Distrikten Windhoek, Rehoboth und entlang des Weissen Nossob angesiedelt hatten, zwang die Verwaltung, nach Epukiro oder Aminuis zu ziehen. Die Herero in der fruchtbaren Waterberggegend mußten weiter östlich in das Waterberg East Reservat umsiedeln. 159 Die Zwangsumsiedlung aus d e m fruchtbaren Farmland im Z e n t r u m des Landes führte zu einer Reihe von Widerstandsakten. So weigerten sich die 108 Bewohner der Farmen Okatumba u n d O r u m b o in der Region Windhoek, 1916 als »temporary reserve« von der Militärverwaltung eingerichtet, nach Epukiro umzusiedeln, weil dort nicht ausreichend Wasser vorhanden war.160 Sie wollten stattdessen in ein Gebiet ziehen, das sie ejuru nannten - ein vieldeutiger Begriff, wie die Beamten lernten. Hosea Kutako organisierte den Widerstand in den Distrikten Windhoek u n d Gobabis u n d engagierte einen Rechtsanwalt aus Windhoek, dessen Arbeit das Native Affairs Department als »Einmischung von Europäern in Eingeborenenangelegenheiten« bezeichnete u n d ablehnte. 161 Der Widerstand gegen die Vertreibung, die Aktivität der U N I A und die von Farmern beklagte »Unruhe« u n ter den Arbeitern veranlaßten die Regierung dazu, 1925 zu »Demonstrationszwecken« in den Distrikten Windhoek, Okahandja, Grootfontein u n d Tsumeb Bomben abzuwerfen. 162 N o c h bis 1927 weigerten sich jedoch Herero in der Region von Rehoboth, nach Epukiro umzusiedeln, u n d »nahmen eine Haltung passiven Widerstandes ein«.163 Erst nach massiven D r o h u n g e n und gerichtli-

159 Zynischerweise sind die östlichen Herero-Reservate in dem Gebiet piaziert, in dem Tausende von Flüchtlingen 1904 verdurstet sind. Hosea Kutako sagte zur Begründung dafür, warum die Herero nicht von O r u m b o in das Reservat ziehen wollten: »Our people have died there before and we dont wish them to repeat the experience.« Zitiert nach: Werner, Struggles, S. 275. 160 Union of South Africa (1924), S. 21. 161 Memorandum des Native Commissioner an den Administrator zitiert nach: Emmett, African Nationalism, S. 390 162 Engel, Kolonialismus und Nationalismus, S. 236. 163 Union of South Africa (1927), S. 5.

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chen Verfolgungen konnte die Regierung den Widerstand brechen. »Obwohl die Verwaltung Mitte der zwanziger Jahre schließlich einen Erfolg bei den Zwangsumsiedlungen der Herero verzeichnen konnte ..., hatte der Widerstand, d e m sie auf unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt war, sie zweifellos für die Landansprüche der Herero sensibilisiert.« 164 N a c h d e m die U m s i e d l u n g Mitte der zwanziger Jahre weitgehend abgeschlossen war, verlagerte sich die Auseinandersetzung zwischen headmen und Administration in die Reservate selbst. Dabei ist zu bemerken, daß Herero sich nicht generell gegen die Einrichtung von Reservaten wehrten, ganz im Gegenteil. Nach d e m Krieg 1915 fand ein Prozeß der »self-peasantization« statt, ein bewußter Rückzug auf das Land, der entgegen den Interessen der Südafrikaner zur Herausbildung einer relativ lebensfähigen Reservatsökonomie und einer Schicht wohlhabender Viehbesitzer führte. 165 Die Reservate boten die M ö g lichkeit, d e m Arbeitszwang zu entkommen, und sie waren O r t e der Rekonstruktion sozialer Beziehungen von Familien u n d Nachbarschaften. Die Missionare erkannten u n d beschrieben diese Prozesse. In den Worten von Missionar Kuhlmann: »in den Reservaten sammeln sie sich zu festen Sippenverbänden, und mir will scheinen, dass da noch eher eine gewisse Sittlichkeit und Sittsamkeit sich entwickelt als in den Ortschaften, weil die Sippenhäupter, w e n n selbst gut, doch ihre Leute m e h r in der H a n d haben und sie gut beeinflussen.«166 Während die Missionare die Festigung neuer Familien- und Verwandtschaftsstrukturen begrüßten, versuchte die Regierung durch Steuern und andere Druckmittel, die »Reservats-Option« so unattraktiv wie möglich zu machen: »Der koloniale Staat versuchte die Produktion so weit es ohne deren direkte Organisation möglich war, zu kontrollieren. Während die Produktion größtenteils in den H ä n d e n der Viehzüchter selbst verblieb, w u r d e dennoch eine Phalanx von Verordnungen und Gesetzen auf die Viehzüchter angewandt. Diese versuchten ihrerseits, die Macht, die aus einer solchen Kontrolle entstand, zu minimieren.« 167 Die Verwaltung verfügte eine Begrenzung des Viehbesitzes auf 100 Stück Großvieh und 300 Stück Kleinvieh; eine Verordnung, die durch gezielte Umverteilung der H e r d e n in der Verwandtschaft relativ leicht zu unterlaufen war. Auch die »grazing fees«, monatlich berechnete Abgaben auf jedes Stück Vieh, konnten nicht systematisch eingetrieben werden. Ein Großteil der Auseinandersetzung in den zwanziger und dreißiger Jahren betraf die mangelnde Infrastruktur u n d die Größe der Reservate. In den regelmäßig auftretenden Dürreperioden litten die Reservate unter Wassermangel und Überweidung, und eine Vergrößerung der Flächen war nötig, u m neues 164 Emmett, African Nationalism, S. 390. 165 Wolfgang Werner hat in seiner Studie zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Herero diesen Prozeß der »self-peasantization« analysiert. Siehe Werner, Economic and Social History. 166 AVEM 2.514: 2. Halbjahresbericht 1.4.-30.9.23 (Kuhlmann), S. 2. 167 Werner, Struggles, S. 273.

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Land als Weideflächen u n d f ü r die Erschließung von Brunnen zu gewinnen. In den zwanziger und dreißiger Jahren w u r d e n die Reservate zwar kontinuierlich vergrößert, doch selbst der neue Administrator Conradie m u ß t e zugeben, daß es sich bei den Reservatsländereien nicht u m die besten Weiden im Land handelte, andere stünden aber nicht zur Verfügung; und, »dessenungeachtet«, teilte er den H e r e r o mit, »möchte ich, daß ihr versteht, daß dies eine große Sache ist, die wir für euch getan haben.« 168 Außer konkreten Forderungen und Weigerungen bestimmte das T h e m a der Rückgabe der »ancestral lands« praktisch jede Reserve Board Sitzung. Mit den »ancestral lands« waren z u m Teil konkrete geographische Gebiete gemeint, in denen H e r e r o historische Landrechte besaßen: so forderten Anfang der dreißiger Jahre die Herero im Aminuis Reservat in einer U n t e r r e d u n g mit d e m Superintendenten die Rückgabe des Landes zwischen Gobabis-Windhoek u n d Omaruru. 1 6 9 Mit den »ancestral lands« war aber auch ein Landkonzept verbunden, das sich nicht an bestimmte O r t e knüpfte. Im Zuge der D ü r r e Ende der zwanziger Jahre hatte Hosea Kutako in einem Brief an den Magistrat von Gobabis geschrieben: »Aminuis ist dem Verhungern nahe. U n d doch sind die Herero nicht weggelaufen. Die Administration hat uns hierhergeschickt, w o wir jetzt großes Unglück erleiden. Deshalb bitten wir sie, sie möge uns das Sandveld bei >Ejuru< u n d Okomviburu geben.« 170 Das »Sandfeld bei ejuru« konnte allerdings nicht lokalisiert werden, und der Magistrat von Gobabis mußte feststellen, daß es auch keinen O r t dieses N a mens gab. Nach längeren Diskussionen schlossen die Beamten, daß ejuru wohl eine Art »Eldorado« sein müsse. Als Administrator Conradie 1933 das wiederu m von der D ü r r e geplagte Aminuis besuchte, teilte er den headmen mit: »Als Hosea 1926 H e r r n Clark getroffen hat, war es ein O r t mit d e m N a m e n Ejuru, zu dem er gehen wollte. Bei einer anderen Gelegenheit in Winhoek war es das Kaokoveld oder ein Gebiet im Nordosten von Epukiro. Laßt mich jedoch sagen, daß all diese Gebiete sich nicht unterscheiden, solange die Menschen, die dort leben nicht hart arbeiten und sie entwickeln und der N a t u r trotzen indem sie B r u n n e n u n d Bohrlöcher anlegen und D ä m m e errichten u n d sich darum k ü m m e r n , die Weiden nicht zu ruinieren.« 171 Die Botschaft des Aministrators lautete: N u r harte Arbeit u n d die Opferbereitschaft der Reservatsbewohner werde Aminuis zu ejuru werden lassen. Wörtlich übersetzt heißt ejuru »Himmel«, und zwar im Sinn der englischen Begriffe »heaven« und »sky«. N e b e n der Konnotation »Regen«, der existentiell wichtig f ü r pastorale Gesellschaften ist, umfaßt ejuru auch die Idee einer »idealen Landschaft«. Diese ideale Landschaft ist nicht n u r ein geographisch be168 169 170 171

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Union of South Africa (1933), Cape Town 1934, S. 34. Lehmann, Truppenspieler, S. 81. Zitiert nach: Lehmann, Ejuru, S. 53. Union of South Africa (1934), 34f.

stimmbares Gebiet, sondern ein Raum, der die Einheit von Vieh, Menschen, Wasserstellen und Weiden umschließt. Diese »Einheit« wird durch Genealogien und Ortsgeschichten historisch 172 u n d durch die Verbindung mit den Ahnen spirituell eingebunden u n d abgesichert. So enthielt der Begriff ejuru, als Vorstellung eines idealen Weidegebietes, in den zwanziger Jahren eine eindeutige Referenz auf den in vorkolonialer Zeit »unbeschränkten« Landbesitz, ehi rOvaherero, das Land der ovaherero. Ejuru war also gleichzeitig eine nicht-lokalisierbare ideale Landschaft und ein spezifisches historisches Siedlungsgebiet und konnte z u m »Kampfeswort« 173 werden. D e n n zwischen den Weltkriegen war die Landfrage einerseits durch einen realpolitischen Kampf u m Erweiterung und Verbesserung der Reservate gekennzeichnet, während andererseits die Forderung nach der Rückgabe der »ancestral lands« durch die Verwendung von Konzepten wie ejuru durch die headmen aufrechterhalten wurde.

4.5. Die Otjiserandu D e n Kampf der headmen u m die Erweiterung der Reservate flankierten symbolischen Formen der Landbesetzung, deren Ausgangspunkt die Beerdigung von Samuel Maharero war. Die Geschichte der otjiserandu, der »Truppenspieler«, verdeutlicht zentrale Aspekte der Nachkriegsgeschichte: Die soziale Reorganisation der Herero, ihre Versuche der Kriegsbewältigung und ein spezifisches Verhältnis z u m kolonialen Staat, das sowohl durch Anpassung an die herrschende O r d n u n g als auch durch eine sehr bewußte Ausnutzung von H a n d lungsspielräumen gekennzeichnet war. Das Interesse der otjiserandu war nicht die offensive Konfrontation mit dem kolonialen Staat, sondern die Bewahrung größtmöglicher organisatorischer und kultureller Eigenständigkeit. Ihre Taktik bestand darin, die koloniale O r d n u n g unter Ausnutzung ihrer eigenen Symbolen und ideologischen Versatzstücken zu unterlaufen. Eine solche Form der Subversion läßt sich nicht in einem Dualismus von »Widerstand und Kollaboration« fassen. 174 Sie war charakterisiert durch »eigensinniges« Verhalten, das sich auch »gegen gleiche« richtete, Widerständigkeit gegen den kolonialen Staat, ohne die Entwicklung politischer Programme und Forderungen sowie ein Beharren auf das »eigene«, das sich Definitionen von außen beständig entzog.

172 Z u Ortsgeschichten und Genealogie als O r d n u n g des Raumes und Absicherung von Landansprüchen siehe: Henrkhsen, Mündliche Überlieferungen, S. 15-24. 173 Lehmann, Ejuru, S. 54. 174 Emmett, African Nationalism, S. 406f; Werner, Economic and Social History, S. 366fF.

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Bereits die südafrikanische Militärverwaltung von 1915 bis 1921 war mit d e m Phänomen der otjiserandu konfrontiert, und auch in der Folgezeit erweckte die Bewegung immer wieder das Interesse der Regierung. Dabei waren sich die südafrikanischen Beamten über deren Charakter nie ganz im klaren. Landesweite, in den zwanziger u n d dreißiger Jahren durchgeführte Untersuchungen zur Klärung möglicher Restriktionen gegen die otjiserandu, zeigen ganz unterschiedliche Beurteilungen der Bewegung durch die Beamten. D e r einzige gemeinsame N e n n e r der Berichte war die Erkenntnis, daß sich die otjiserandu seit d e m Ersten Weltkrieg in allen Landesteilen verbreitet hatte. Der N a m e der Bewegung änderte sich mehrfach im Laufe der Jahre, und ihre Mitglieder benutzten gleichzeitig unterschiedliche Bezeichnungen. Aus Akten und Interviews läßt sich eine ungefähr zutreffende zeitliche Z u o r d n u n g des N a m e n ablesen. In den Akten erhält die Bewegung von den Beamten fast durchgängig die N a m e n »troops«, »military movement« oder »truppenspielers«. Gegenüber der Administration bezeichneten sich die Mitglieder selbst ebenfalls als »troops«, »otruppa« oder »o troep«. Briefe, die sich Mitglieder untereinander schrieben, waren Mitte der dreißiger Jahre mit »Band of the Nationals M.RE.S.M. (Mukuru puna ete Samuel Maharero)« unterschrieben. 175 D e r Regierungsethnologe Lehmann 176 , der Ende der vierziger Jahre Gespräche mit otjiserandu-Mitgliedern führte, geht davon aus, daß sich die Bewegung 1938 infolge des Verbotes, U n i f o r m e n zu tragen, einen »zivilen« N a m e n gegeben und in »Red Bands« oder »Red Flaggers« u m b e n a n n t hatte. 177 Die Ubersetzung in otjiherero lautete otjira tjotjiserandu, die Gruppe, die Versammlung der Roten, oder in der Kurzform otjiserandu.178 In den zwanziger Jahren w u r d e n die otjira tjotjizemba (die Gruppe der Weißen/die Weiße Flagge) u n d in den dreißiger Jahren die otjira tjotjingerini (die Gruppe der Grünen/die G r ü n e Flagge) gegründet. 179 In den archivalischen Quellen findet sich diese Unterscheidung nicht, dort sprechen die Beamten zusammenfassend von »truppenspielers« oder »tro175 Die Abkürzung bedeutet »Gott mit uns, Samuel Maharero«. 176 F. Rudolf Lehmann war 1946 als »Assistant Ethnologist« des »Eingeborenen Ministeriums«, Pretoria, in Hoachanas, später in Windhoek tätig. 177 Lehmann, Truppenspieler, S. 124. Verbote, Uniformen zu tragen, bestanden bereits seit der deutschen Kolonialzeit und wurden von den Südafrikanern ab 1916 ausgesprochen. 178 Otjira bedeutet »council, party, organisation, team«, siehe: Viljoen u. Kamupingene. 179 Die bisher umfassendste Studie zu den drei Sektionen der »Truppenspieler« stammt von der amerikanischen Ethnologin Hildi Hendrickson. Die orale(n) Geschichte(n) der Flaggen, die Gespräche, die sie führte und die von ihr aufgezeichneten verbalen Teile der Zeremonien, an denen sie teilnahm, erlauben es nicht, die Geschichte der Truppen zu rekonstruieren. Sie konzentriert sich auf sehr wesentliche Aspekte, z.B. Symbole und Farben der Organisationen, die Konstruktion männlicher Hierarchien, die Frage »angemessenen« weiblichen Verhaltens, aber es wird nicht deutlich, ob und in welcher Weise es sichjeweils um spezifische Kennzeichen der Organisationen handelt. Indem sie die Truppen zur zentralen und entscheidenden Instanz von Hereroidentität erklärt, umgeht sie dieses Problem und reproduziert im Grunde den Anspruch der Truppen, für die gesamte Herero-Nation zu sprechen.

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ops«. Die amerikanische Sozialanthropologin Hildi Hendrikson, die Ende der achtziger Jahre in Botswana und z u m Teil in Namibia Interviews mit Mitgliedern der drei Gruppen geführt hat, benutzt in ihrer U n t e r s u c h u n g den Begriff »flags«, der auch heute von der Bewegung vornehmlich als englischer N a m e verwendet wird. Daneben hat sich in der wissenschaftlichen Literatur der Begriff »Truppenspieler« eingebürgert. Dieser Begriff rückt jedoch den spielerischen Charakter der Bewegung zu stark in den Vordergrund und legt eine zu große Betonung auf den militärischen Aspekt sowie auf den Z u s a m m e n h a n g mit der deutschen Schutztruppe, daher ist der Begriff otjiserandu angemessener. Es ist kennzeichnend f ü r den besonderen Charakter der Bewegung, daß über ihre Anfänge weder in der Literatur, noch in den Akten oder unter den Mitgliedern selbst Einigkeit besteht. Es handelt sich nicht u m eine zentralisierte u n d straff hierarchisierte Organisation. Ihre Entstehungsgeschichte ist im Bewußtsein der Mitglieder tief in der Geschichte der Herero verwurzelt und reicht bis zum Ursprungsmythos zurück. Die unterschiedlichen Daten, die Mitglieder der otjiserandu für den Beginn der Bewegung angeben, korrespondieren mit wichtigen historischen Einschnitten. Der Anfang wird auf die Zeit nach d e m Krieg 1904, nach dem Ersten Weltkrieg oder nach der Beerdigung von Samuel Maharero zurückgeführt, wobei diese Daten wohl eher unterschiedlichen Phasen der Bewegung entsprechen: 1915 bestand bereits eine weitverzweigte Bewegung, die otruppa, deren Mitglieder Herero waren, die als Farmarbeiter und als Arbeiter in Urbanen Gebieten arbeiteten. Nach der Zerstörung zahlreicher familiärer u n d verwandtschaftlicher Bindungen durch den Krieg 1904 schuf der Zusammenschluß von Arbeitern an den jeweiligen Orten einen Rahmen, der soziale Sicherheit u n d gegenseitige Hilfe bot. Auch chiefs, die auf Farmen als Arbeiter lebten oder nach 1915 aus d e m Exil zurückkehrten, knüpften an diese neu geschaffene Struktur der Organisation an. Das lockere Netzwerk der einzelnen Regimenter schuf darüber hinaus Verbindungen zwischen Herero überall im Land. Anfangs fand die otruppa vermutlich besonders unter j u n g e n M ä n nern Zulauf, die während und nach dem Krieg aufgewachsen waren und denen daher die Einbindung in die Altersklassen fehlte. In deren Abwesenheit übernahm die otruppa die »Funktion Solidarität und Kooperation« zu vermitteln. 180 Die Führer der Bewegung waren sowohl ehemalige »Truppenbambusen« als auch Herero-Krieger. In einem Zeitungsartikel von 1938, der die besondere Bindung der Herero an die ehemaligen deutschen Kolonialherren betonen sollte, verwies der Autor auf die Tradition der »Truppenbambusen« innerhalb der otjiserandu: »In W i n d h u k liegt die erste, in Tsumeb die 8. Kompanie, bestehend aus alten Leuten, die z u m großen Teil noch Bambusendienste bei unserer alten Schutztruppe in den Friedensjahren nach d e m Orloggetan haben... Diese

180 Werner, Playing Soldiers, S. 484.

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stellen auch das Offizierskorps.« 181 In einem von Hildi Hendrickson durchgeführten Interview hob der Informant dagegen die andere Seite, die der HereroKrieger, hervor: »Die Generale waren Soldaten aus Samuel Mahareros Krieg gegen die Deutschen ... Die Ränge erhalten all diejenigen, die sich tapfer geschlagen haben, nicht n u r die Altesten. Es ist das selbe wie die Auszeichnung mit d e m Löwenfell, outoni.« 182 Der Rang in der otruppa beruhte also nicht n u r auf dem Status der Seniorität, sondern konnte auch durch besondere Taten erworben w e r d e n - vergleichbar mit der besonderen Auszeichnung von Kriegshelden im 19. Jahrhundert. D e r militärische R a h m e n der otruppa - die U n i f o r m e n , Ränge, Paraden u n d Exerzierübungen - war nicht etwa ein Ausdruck des »kriegerischen Charakterfs]« 183 der Herero, ihrer besonderen »Vorliebe für militärische Dinge«, noch war sie Loyalitätsbekundung gegenüber der deutschen Kolonialmacht. Vielmehr stammte sie aus der direkten Erfahrung der M ä n n e r aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die otruppa zeigte die »Uniformen«, die sie als Soldaten auf beiden Seiten bereits getragen hatten. Gerade die Kontinuität der militärischen Tradition bot die Möglichkeit, die beiden ehemals gegnerischen Seiten zu versöhnen, indem sie sich auf die gemeinsame militärische Erfahrung bezogen. N e b e n der militärischen besteht eine historische Kontinuitätslinie, welche die Bewegung in die Geschichte der H e r e r o einzubettet. Aus den Interviews, die Hildi Hendrickson geführt hat, und aus dem Material in den Akten läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß es f ü r die Mitglieder keine relevante Frage war, wann die Bewegung tatsächlich gegründet worden ist, und ob es sich überhaupt u m eine neue Bewegung gehandelt hat. Vielmehr wird die Geschichte der otjiserandu als Geschichte der Herero im 19. Jahrhundert erzählt. Darauf verweist etwa die Interviewäußerung, »die otjiserandu begann in Namibia während des Krieges zwischen den N a m a u n d den Ovaherero« 184 , also mit den Kriegen zwischen 1863 u n d 1869, in denen die H e r e r o unter Maharero Tjamuaha die Macht im Herero-Land zurückeroberten. 1 8 5 Mit der Zugehörigkeit zur otjiserandu wird hier also die Zugehörigkeit z u m Haus Maharero betont. Hildi Hendrickson faßt das Ergebnis ihrer Interviews folgendermaßen zusammen: »Diese Darstellungen f ü h r e n den U r s p r u n g der Roten Flagge [otjiserandu] auf 181 Zeitungsartikel 1938, in BAP AA Kolonial Abteilung, 10.01 2102, Bd. 5. A u c h die A d m i n i stration ging davon aus, daß die otjiserandu direkt auf die »Truppenbambusen« zurückging. Siehe: N A N SWAA 50/59 Bd. I: Brief des Officer in Charge, Native Affairs an den Native C o m m i s s i o ner, W i n d h o e k v o m 20.7.1927: »The titles of the office bearers are of course copied f r o m the G e r m a n forces, with w h i c h so m a n y natives w e r e associated as servants or camp followers.« 182 Interview m i t H e r r n Α. Κ., zitiert nach Hendrickson, Historical Idioms, S. 238. 183 Diese B e h a u p t u n g wird v o n d e n B e a m t e n i m m e r wieder erhoben, siehe z.B.; N A N SWAA A 59/59 Bd. I: T h e Secretary of SWA, Circular N o t e , 3.2.1932. 184 Interview m i t H e r r n S. T., zitiert nach Hendrickson, Historical Idioms, S. 237. 185 Siehe: Vedder, Das alte Südwestafrika, S. 198-443: D e r Freiheitskrieg der H e r e r o u n d der Orlamkrieg.

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die 1860er Jahre zurück und verknüpfen ihre Entwicklung mit d e m Tod von Samuel Maharero 1923. Alle Darstellungen erwähnen, daß zu dieser Zeit... die eigentliche Flagge, die Otjiserandu, begann ... die Aspekte des Gemeinschaftsdienstes der Truppen haben ihre Wurzel möglicherweise noch vor der deutschen Periode und zumindest das militärische Marschieren als eines der formalen Elemente der heutigen Z e r e m o n i e n blickt gleichfalls auf eine lange Geschichte zurück.« 186 In der zweite Phase der Bewegung, die mit der Beerdigung von Samuel Maharero 1923 begann, überschnitten sich die drei Hierarchien der otruppa, der traditionell legitimierte Führerschaft und der von Südafrika angestellten headmen. Hosea Kutako etwa war als headmen eingestellt, gleichzeitig aber durch Frederik Maharero 1917 als Stellvertreter Samuel Mahareros eingesetzt worden und fungierte bei der Beerdigung als Zeremonienmeister. Edward Maharero, Bruder des headmen Traugott Maharero, war der Anführer der otjiserandu in Okahandja. E m m e t t vertritt die These, daß vor der Einrichtung der Reservate die otjiserandu-Führcr weitgehend aus der traditionell legitimierten Elite stammten. Mit der Einrichtung der Reservate hätten sich die älteren und etablierteren Führer aus der Bewegung zurückgezogen. Sie seien in die Verwaltung der Reservate einbezogen worden und hätten die Organisation in der H a n d der jüngeren Mitglieder gelassen, die auf Farmen und in den Städten lebten. 187 Aus den Akten geht jedoch hervor, daß mindestens seit 1927 otjiseranJw-Gruppen nicht n u r in den Städten, sondern auch in den Reservaten existierten u n d aktiv waren. 188 Z u d e m ist eine Unterscheidung zwischen »ländlicher« und »urbaner« Herero-Bevölkerung in dieser Zeit kaum zu treffen. Die Reservatsökonomie stützte sich zu einem erheblichen Anteil auf Wanderarbeiter. In den zwanziger und dreißiger Jahren war ca. ein Drittel der erwachsenen M ä n ner im Lohnarbeitssektor beschäftigt. 189 Umgekehrt hielten Herero, die in den Urbanen Gebieten lebten, enge Verbindungen zu den Reservaten aufrecht. Ein Mitglied der otjiserandu aus Windhoek, Bartholomeus Ngwase, sagte z.B.: »Viele von uns, die in Windhoek arbeiten haben ihre Familie und Verwandten in Aminuis, und viele von uns besitzen dort Vieh. Wir wollen nicht, daß die Regierung sagt, wir haben nichts mit Aminuis zu tun, oder daß die Leute aus Aminuis nichts mit uns zu tun haben.« 190 Es war gerade eine wichtige Funktion der Bewegung, die Verbindung zwischen Stadt und Land, zwischen den Farmen, den Reservaten und den M i n e n c o m p o u n d s aufrecht zu erhalten. Z u der Sektion in

186 Hendrickson, Historical Idioms, S. 252f. 187 Emmett, African Nationalism, S. 406. 188 N A N SWAA A 59/59 Bd. I: Berichte über die Untersuchung 1927 aus allen Distrikten des Landes. Siehe auch; Union of South Africa (1928), S. 36. 189 Werner, Economic and Social History, S. 286f. 190 NAW SWAA 431 A 50/51 Bd. I.: Notes of interview 4.4.1930 Windhoek Bartholomeus Ngwase.

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Windhoek gehörten zum Beispiel neben der städtischen Bevölkerung auch Arbeiter der umliegenden Farmen.191 Des weiteren gibt es keine Belege dafür, daß die Führung in den Städten in den zwanziger und dreißiger Jahren in die Hand den jüngeren Mitgliedern übertragen wurde, obwohl diese allerdings im Laufe der Zeit einen stärkeren Einfluß auf die Bewegung gewannen. Die soziale Struktur der Mitgliedschaft der otjiserandu war sehr heterogen. In den städtischen Gebieten gehörten Arbeiter, Lehrer, Wachmänner, Laufburschen und Hilfsarbeiter zur Bewegung. Festus Kaatura, general und höchster Offizier in Windhoek, arbeitete in den dreißiger Jahren als Gehilfe bei einem Steinmetz. Fritz Kasutu, ebenfalls ein hochrangiger Offizier, der als kleiner Junge bereits bei der deutschen Post in Okahandja gearbeitet hatte, erhielt später eine Stelle als offizieller Regierungsdolmetscher und -Übersetzer.192 Eine Reihe von Regierungsangestellten und drei der »native constables« in Windhoek finden sich in den Mitgliederverzeichnissen der otjiserandu. Einer von ihnen diente als Bursche bei dem Polizei-Colonel (Oberst) van Coller und hielt in der otjiserandu selbst den Rang eines lieutnant. Bis Mitte der dreißiger Jahre tolerierte die Administration die Mitgliedschaft ihrer Angestellten in der Organisation. Auch im weißen Farmgebiet organisierten sich die Arbeiter in Regimentern. Arbeiter verschiedener Farmen trafen sich nachts und an Wochenenden, um Exerzierübungen durchzuführen und Feste zu feiern. Polizei-Sergeant Nel berichtete über seine Beobachtungen auf der Farm Locamo: »An jedem Freitag Abend versammeln sich die Herero-Männer ... sie werden gedrillt (d.h. die treten in Reih und Glied an, Kommandos Augen links oder rechts, rechts um usw. in Otjiherero) und sie marschieren zum >Denkmal< wo sie beten, dann marschieren sie zurück und treten weg.«193 Das erwähnte Denkmal war der Mittelpunkt eines von den Arbeitern angelegten runden Platzes, wo sie ihre Zusammenkünfte abhielten. Solche Festplätze existierten auf verschiedenen Farmen im ehemaligen Herero-Land. Walter Sydow, der in den fünfziger Jahren eine Farm im Bezirk Omaruru bewirtschaftete, entdeckte einen Festplatz bei einem »Feldgang«, »einen mit Brocken von Oberflächenkalk in regelmäßigem Viereck abgegrenzten Platz von etwa 3 mal 4 m Umfang. Darin war ein kleinerer Raum von etwa 2 mal 3 m abgegrenzt. An seiner rueckwaertigen Begrenzung war ein ca. 1 m hoher laenglicher Schieferbrocken nach Art eines Menhirs eingepflanzt. Dieser war mit Kalk geweißt.«194 Sydow begann, sich für die Geschichte des Platzes zu interessieren und fand heraus, daß er aus der Zeit 191 Ebd., Interview vom 4.8.1927. 192 BAP AA Kolonial Abteilung, 10.01 2102, Bd. 5, Brief Konsul von Oelhafen, Deutsches Konsulat Windhoek, an das Auswärtige Amt Berlin 14.10.1938, S. 3. 193 N A W SWAA 432 A 50/59 Bd. II.: Constable Nel to Deputy Commissioner, South African Police, Windhoek 1.7.1940. 194 Sydow, S. 1.

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vor dem Zweiten Weltkrieg stammte, als »ein Mitglied der Haeuptlingsfamilie als Arbeiter auf der Farm tätig gewesen ist«.195 Ein weiterer Platz lag z.B. auf der Farm Voigtskirch, er bestand aus konzentrischen Kreisen, die einen Steinhaufen umschlossen, auf den eine zehn Meter lange, ebenfalls mit Steinen ausgelegte »Feststraße« zulief. Angesichts der Größe von Farmen in Namibia k o n n ten solche Plätze unbemerkt hinter d e m Rücken des Farmers an entlegenen Orten angelegt werden, eine heimliche, symbolische Landnahme, die schon vor der Beerdigung von Samuel Maharero stattfand. Anders als über die otjiserandu in den Städten lassen sich über die Z u s a m m e n setzung der Bewegung in den Reservaten keine genauen Aussagen machen. Der Superintendent des Waterberg East Reserve schrieb 1927, daß die meisten Herero-Polizisten gleichzeitig Mitglieder der Organisation seien. 196 Darüber hinaus legen die weiter unten beschriebenen Konflikte nahe, daß Frauen und junge M ä n n e r die Bewegung unterstützten. Aus einer 1927 landesweit durchgeführten U n t e r s u c h u n g geht hervor, daß spätestens seit dieser Zeit Frauen Mitglieder der otjiserandu waren und ebenfalls militärische Ränge hielten, 197 und in den dreißiger Jahren sollen die Frauen bereits die Hälfte der Mitglieder gestellt haben. Die Frauensektion wurde nach Angaben des Historikers Zedekia Ngavirue lange Zeit von Mukaahasera Katjata geleitet, der Tochter von Katjata, »einem militärischen Führer, der zusammen mit Samuel Maharero die HereroTruppen kommandierte, die die Erste Division der Deutschen am 13. April 1904 bei O v i o m b o geschlagen hatte.«198 Auch in der Hierarchie der Frauenabteilung spiegelte sich also ein direkter Bezug z u m Herero-Krieg wider. N e b e n der Frauenabteilung existierte seit den f r ü h e n zwanziger Jahren auch eine gesonderte Jugendabteilung. 199 Die zahlenmäßige Verbreitung der Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren läßt sich n u r ungefähr rekonstruieren. Z u m einen differierten häufig die Urteile unterschiedlicher Beamter an denselben Orten, und z u m anderen nahmen die Beamten meist nur den »sichtbaren« Teil der Bewegung wahr, d.h. die uniformierten Truppen. Z u d e m erklärte die Verwaltung in m e h r oder weniger regelmäßigen Abständen die Bewegung für aufgelöst und ging davon aus, daß dies auch den Tatsachen entsprach, w e n n sie keine uniformierten Herero mehr sahen. Nach Angaben von Missionaren soll in Okahandja 1930 die gesamte männliche Bevölkerung der otjiserandu angehört haben. 200 U n d Missionar Vedder schrieb: »Es ist eine Tatsache, daß fast alle männlichen Herero als Mit195 Ebd. 196 N A W SWAA 432 A 50/59 Bd. I.: Superintendent Waterberg East Native Reserve an den Magistrate Otjiwarongo, 29.10.1927. 197 Uber von Frauen in den fünfziger Jahren getragene Orden siehe Kaujeaua, S. 29. 198 Ngavirue, Political Parties, S. 265. Zur Kleidung der Frauen besonders Hendrickson. 199 AVEM 2.514: A. Kuhlmann, Halbjahresbericht April-September 1924. 200 Siehe: Engel, Kolonialismus und Nationalismus, S. 229

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glieder einer großen militärischen Organisation zusammengeschlossen sind und daß j e d e r m a n n genau weiß, welchem Rang er angehört - Soldat, U n t e r o f fizier oder General.« 201 Die Missionare hatten zwar meist einen engeren Kontakt zu der Herero-Bevölkerung als die Regierungsbeamten. Sie sahen die otjiserandu aber als Konkurrenz an, und daher mögen ihre Urteile übertrieben sein. Sicherlich waren nicht alle Herero Mitglieder der Kommandos. Vermutlich bildeten jedoch die uniformierten Truppen nur eine Kerngruppe, u m die sich weitere Kreise zurückgetretener Offiziere, neuer Anwärter, nicht aktiver Ehefrauen u n d weitere Verwandtschaft gruppierten, die sich alle der otjiserandu zuordneten. 202 Nach d e m Ersten Weltkrieg war die otjiserandu im ganzen Land verbreitet, von Keetmanshoop bis in das Kaokoveld, von Lüderitzbucht bis in den Westen des Territoriums und über die Grenze hinaus bis in das Betschuanaland Protectorate. O b w o h l die Windhoeker Sektion als führend galt, handelte es sich nicht u m eine zentralisierte Organisation, sondern u m ein Netzwerk, das auf der Basis lose verbundener Gruppen operierte, die jeweils hierarchisch organisiert waren. Ein Beispiel für eine solche Hierarchie ist die von dem Ethnologen Kuno Budack zusammengestellte Liste von dreizehn Rängen, die v o m ogeneralfeldmarshara (Generalfeldmarschall) bis z u m otnunambandi (Gefreiten) reicht. 203 Diese Rangliste war nicht verbindlich für alle Gruppen. In Keetmanshoop waren sieben Ränge vom General über den Paymaster bis z u m Sergeant Major abgestuft. 204 An j e d e m O r t existierte ein eigenes Offizierkorps der otjiserandu. Tradi-

201 Vedder, T h e Herero, S. 163. 202 Hendrickson, Historical Idioms, S. 181f, sagt in bezug auf die heutige otjiserandu: »Active troop membership may involve only a small fraction of the overall Herero population, but m y sense is that a m u c h larger proportion of people would say that they are m e m b e r of the ... flag. T o say otherwise, is tantamount to saying one is not H e r e r o at all.« U b e r die Vorbereitung eines Herero-Tages in den fünfziger Jahren in Südnamibia schreibt Jackson Kaujeua, daß »die D o r f j u n gen« von einem otjiserandu-Offtzier gedrillt wurden, offenbar ohne formale Mitgliedschaft. Siehe Kaujeua, S. 28. Generalfeldmarschall 203 ogeneralfeldmarshara Generaloberst ogeneralovers Generalmajor ogeneralmajora Generalleutnant ogeneraloitnanta Oberst oovers Oberstleutnant ooversleutnanta Major omajora Hauptmann ohauptmana Oberleutnant ooverloitnanta Wachtmeister ouovikaho vine Sergeant ouovihako vivari Unteroffizier omunatjihako tjimue Gefreiter omunambandi Budack, zitiert nach: Hendrickson, Historical Idioms, S. 208. 204 General, Major, Captain, Lieutnant, Paymaster, Lieutnant, Sergeant Major; siehe: N A N

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tionell legitimierte Führer wie Hosea Kutako u n d besonders Frederik Maharero nahmen in diesen Hierarchien eine herausragende Stellung als ideelle F ü h rer ein, o h n e jedoch tatsächlich die otjiserandu zu leiten. Jede Gruppe funktionierte bis zu einem gewissen Grad autonom und war nicht weisungsgebunden, obwohl es eine enge Kooperation unter den Gruppen bzw. den Mitgliedern gab. Das geht aus Briefen hervor, die zwischen den einzelnen Kommandos verschickt wurden, und aus Dokumenten, die die otjiserandu ihren Mitgliedern ausstellte. N e b e n Mitgliedsausweisen waren dies »Reisepässe«, in denen die betreffende Person identifiziert und anderen Kommandos bzw. Personen anempfohlen wurde. Die Ubersetzung eines »Membership Certificate«, ausgestellt 1937 v o m Commando No 1, O m a r u r u , verzeichnet auch den Aufstieg innerhalb der Organisation: »Fritz Kutamundu, trat den j u n g e n M ä n nern ... 1913 bei. Seine ersten Vorgesetzten waren Hosea Puriza, Cephas Kauka, Isaac Tjikukutu. 1917 w u r d e er Sergeant, u n d Feldwebel (Sergeant Major) 1919, u n d 1934 wurde er O b e r Luitland (Lieutenant).« 205 Beförderungen erfolgten nach Alter und besonderen Leistungen, wobei offenbar alle Männer von einem gewissen Alter an Offiziersränge hielten und die Mannschaften durch Jugendliche ergänzt wurden. Die Reisedokumente identifizierten das Mitglied u n d gaben eine formalisierte Empfehlung an die Gruppe, die er oder sie besuchen oder auf deren Hilfe das Mitglied angewiesen sein könnte. D e r folgende Reisepaß wurde von einem Polizisten konfisziert und vertraulich an den Native Commissioner in Ondonga übergeben. D e r Paß ist 1933 ausgestellt und an verschiedenen O r t e n von otjiserandu-Offizieren abgezeichnet worden, daher bezeichnete der Polizist das D o k u m e n t als »route form«. Das Original ist in otjiherero geschrieben und enthält einige d e m Deutschen entlehnte Worte, die in Klammern angefügt sind: »Kenntnisgebung oder Bericht (6 meidung) des Generaloberst (Freiherr) von Trotha auf dem Marsch ins Kaokoveld. Ein geachteter Offizier der ó.Kompanie (kompanie). N e h m t ihn überall gut und in Frieden auf, w o es eine Abteilung (oTruppa) gibt, von Grootfontein u n d O u t j o bis Otjiwarongo. Gezeichnet Stabshauptmann Hirsberg, Otavi, General von Hindburg.« 206 Dieses D o k u ment ist das einzige Beispiel dafür, daß ein otjiserandu Mitglied den N a m e n »von Trotha« benutzt hat.

SWAA 432 A 50/59 Bd. I.: Brief des Sub Inspector, South West Africa Police Keetmanshoop an d e n Magistrat Keetmanshoop v o m 30.11.1927. 205 N A W SWAA 432 A 50/59 Bd. II: M e m b e r s h i p Certificate, Übersetzt von J.Katjerungu (Sworn Interpreter), Magistrat Keetmanshoop, 30.7.1937. Die Rangbezeichnungen w u r d e n aus der englischen U b e r s e t z u n g ü b e r n o m m e n . 206 N A N N A O 31: T r o o p Organisation: O f f i c e of the SWAP O t j i t u n n d u u a an den Native C o m m i s s i o n e r O n d o n g a , 18.6.1933. Die Ü b e r s e t z u n g der englischen Ü b e r s e t z u n g aus den Akten habe ich v o n Boltig, S. 75 ü b e r n o m m e n , der ü b e r die T r u p p e n im Kaokoveld schreibt.

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Die otjiserandu hatte neben den zeremoniellen Pflichten in Okahandja, O m a ruru und an anderen Orten, an denen Herero-Tage gefeiert wurden, eine Vielzahl weiterer Funktionen. Eine der wichtigsten Aufgaben im Alltag war die gegenseitige Unterstützung u n d Selbsthilfe. Innerhalb der regionalen Gruppen fanden regelmäßige Z u s a m m e n k ü n f t e statt. Z u diesen Gelegenheiten führten die uniformierten Truppen nicht nur Exerzierübungen durch, sondern hielten auch Zeremonien an den bereits erwähnten Denkmalen oder in privaten H ä u sern ab. Während solcher Anlässe wurde Geld gesammelt, das wie die Mitgliedsbeiträge in eine gemeinsame Kasse flöß. Aus dieser Kasse finanzierte die otjiserandu Beerdigungen u n d Feste, unterstützte bedürftige Mitglieder u n d zahlte Geldstrafen von Mitgliedern. Hesekiel Kaundje, Mitglied der Windhoeker Sektion bis 1936, erklärte die Aktivitäten in knapper Form: »Wir zahlen einen Beitrag von einem P f u n d (?) pro Monat. Das Geld wird für den Zweck benutzt, armen Menschen, deren Verwandte es sich nicht leisten können, einen Sarg, etc. zu kaufen. Manchmal kaufen wir ein Rind, das wir schlachten u m ein gemeinsames Mahl zu halten.« 207 Diese Form von Zusammenschlüssen, die auf d e m Prinzip gegenseitiger Hilfe beruhen, findet sich in ganz Afrika. Sie können den Charakter von kleinen Nachbarschaftsvereinen bis hin zu Sparvereinen im großen Maßstab haben. Eine besondere Rolle spielen dabei in der Regel Beerdigungskassen, aus denen die Kosten für Särge und die Trauerfeier bestritten werden. 208 In den Aussagen der otjiserandu-Mitglieder erscheint immer wieder der Aspekt gegenseitiger Hilfe, die mit der Einhaltung bestimmter moralischer Verhaltensweisen verbunden ist. So übernahm die Organisation etwa Geldstrafen von Mitgliedern n u r dann, w e n n es sich nicht u m Diebstahlsdelikte handelte und bekämpfte Pläne der Administration, Bierhallen in den locations einzurichten. Die E i n f ü h r u n g eines strengen Moralkodexes als Uberlebensstrategie in einer kolonialen Situation, als Mittel, Jugendliche zu disziplinieren u n d zu kontrollieren, Alkohol und Geldverschwendung zu unterbinden sowie verbindliche N o r m e n f ü r das Alltagsleben der Gemeinschaft einzuführen, sind ein typisches Kennzeichen von Organisationen und Zusammenschlüssen wie den Unabhängigen Afrikanischen Kirchen in Südafrika 209 oder den Beni-Dance-Societies in Ostafrika, mit denen die otjiserandu verglichen wurde. 210 Die Beni-Dance-Societies »waren keine Pantomime weißer Macht, noch eine gegen sie gerichtete Protestbewegung. Sie waren vor allen Dingen u m das Überleben, den Erfolg und die Reputation ihrer Mitglieder bemüht. Sie beschäftigten sich mit deren Wohler-

207 NAW SWAA 432 A 50/59 Bd. II.: Statement by Hesekiel, Windhoek, 18.6.1938. 208 Die Existenz dieser Kassen liefert noch einen weiteren Beleg dafür, wie wichtig Beerdigungen innerhalb der Herero-Gesellschaft waren. 209 Krüger, Zwischen Gott und Staat; West. 210 Werner, >Playing SoldiersTruppe< hat.«214 Wanderarbeiter aus d e m Ovamboland gründeten Ende der dreißiger Jahre eine Organisation, die sie Mandume Demfayo Fund ( M D F ) nannten. Die Organisation ging, nach Aussagen des Native Commissioner des Ovambolandes, aus einer »Beerdigungsgesellschaft« hervor, die O v a m boarbeiter in Windhoek gegründet hatten: »Nach und nach kamen die Mitglieder zu der Ansicht, daß sie ihre Aktivität erweitern sollten... sie entschieden sich dafür, den N a m e n M.D.F. ( M a n d u m e Demfayo Fund) anzunehmen und eine jährliche allgemeine Versammlung am Jahrestag des Todes von chief M a n d u m e abzuhalten.« 215 Die M D F stand Wanderarbeitern aus allen Regionen des O v a m bolandes offen und nahm, wie die otjiserandu, auch N a m a und Damara auf. Die Führer der MDF, Titus und Isaac, waren bereits seit 25 respektive dreizehn Jahren nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. Sowohl der Native Commissioner

211 Ranger, Dance, S. 75. 212 Werner, >Playing SoldiersTruppenspielern< nicht befolgt, und die letztgenannte Vorschrift hat sich ebenfalls als ungenießbar für sie erwiesen, u n d sie suchenjede Gelegenheit sie zu umgehen.« 240 Die otjiseratidu-Führung versuchte unermütlich, die Administration von ihrer Loyalität zu überzeugen, war aber nicht gewillt, sich an die Verbote zu halten, die die U n i f o r m e n betrafen. Diese Haltung n a h m die Administration mehr oder weniger hin. 1936 verschärfte sich die Situation allerdings insofern, als sich n u n auch das advisory board hinter die Verbote gestellt hatte. Daraufhin wandte sich die otjiserandu n u n ihrerseits an die Administration. Bei einem Treffen mit dem Chief Native Commissioner beschied ihnen dieser jedoch, »daß er ihren Beschwerden über die Verwaltung der Lokation keinerlei Substanz beimessen könne und ihr Mißfallen über die Mitglieder des Board bei den nächsten Wahlen zur Sprache k o m m e n würde.« 241 Die Administration betrachtete den 236 Döpcke, S. 371-392. Döpcke beschreibt für Zimbabwe eine ganz ähnliche Konstellation der traditionalistischen Allianz von headmen und Administration, in bezug auf die Kontrolle der Unabhängigen Afrikanischen Kirchen. 237 N A N SWAA 432 A 50/59 Bd. I.: Advisory Board Minutes. Meeting of the 25th November 1935. 238 Ebd. 239 Ebd.: Notes of an Interview with certain Hereros and Hottentots (12 in all) on 3.12.1935. 240 Ebd.: Brief Assistant Native Commissioner Trollope an den Chief Native Commissioner 13.10.1936. 241 Ebd.

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Konflikt als »faction fighting« unter den Herero und wandte sich an Hosea Kutako, damit dieser den Frieden wieder herstellen möge. Es stellte sichjedoch heraus, daß Kutako selbst in den Konflikt involviert war. Er hatte von der otjiserandu aus Windhoek im Januar und Februar 1936 vier Briefe erhalten. D e r erste Brief, adressiert an den »chief headman der Nation und alle anderen Führer, den chief H . Kutako«, besagte: »Wir und alle anderen der Nation, die in der Lokation ansässig sind, sind unterdrückt. Wir bitten Euch und die anderen Führer zu uns zu k o m m e n u n d uns eine Fahne zu geben. Wir dürfen nicht länger ein Bandelier tragen. Wir bitten Euch zu k o m m e n , damit Ihr uns eine Fahne geben mögt.« 242 In der Verdoppelung als chiefheadman und chief Kutako sprechen die Absender Hosea Kutako als sowohl offiziell wie traditionell legitimierten Führer an. Das Verbot, einen Patronengurt zu tragen, bezieht sich vermutlich auf die Auseinandersetzung über die U n i f o r m e n . Der zweite Brief richtete sich erneut an den »chief headman der Nation und die in unserem O r t Aminuis ansässigen Führer«. Er klingt noch dringlicher, denn hier schreiben die Absender, daß ein Feuer die Nation verzehre; gleichzeitig fragen sie, welche anderen Führer unter Kutako legitimiert seien. 243 Möglicherweise ein >MißtrauensvotumOffiziereThe men should marryloose unions< stammen, werden nicht als illegitim betrachtet und solche Fälle sind offensichtlich in den hohen Zahlen >illegitimer< Kinder in den Verwaltungsstatistiken eingeschlossen« 273 Kinder aus solchen Verbindungen erhielten die oruzo des Ehegatten der Frau, denn nicht n u r die biologische Vaterschaft, sondern die geregelte Einbindung des Kindes in die Verwandtschaft und den sozialen Kontext spielte eine vorrangige Rolle. 274 Konnte die Familie keine

269 Siehe z.B.: Wagner, Aspects of Conservatism, S. 20f. 270 Siehe z.B.: AVEM 2.642, Evangelisten Konferenzen SWA 1914-1955, 1963. 271 »Herero marriage is contracted among relatives as in olden times, i.e. the bridegroom marries the daughter or daughters of a mother's brother (ongundue) or o f a father's sister (hongaze).« Köhler, Acculturation, S. 141. 272 Ebd., S. 141f.; Lehmann, Spannungs- und Ausgleichserscheinungen, S. 265: »die Nachrichten, die über das frühere Stammesrecht bezüglich der Eheeinrichtung aufgezeichnet worden sind, weisen doch so große Unterschiede und Widersprüche auf und bezeugen, daß trotz aller Vorschriften und Strafen im Hinblick auf die Festigkeit der Ehe die Freiheit in der Praxis sehr groß war. Der Wortschatz in der Herero-Sprache, der das illegitime sexuelle Leben betrifft, war schon immer reichlich ausgebildet gewesen und hat sich bis heute erhalten.« 273 Köhler, Acculturation, S. 141f. In den Fällen, in denen der Vater nicht bekannt ist oder die Vaterschaft nicht anerkennt, erbt das Kind die oruzo des mütterlichen Großvaters. Ebd. 274 Hagolani, S. 38. Zur Frage der Aufnahme von Personen in eine eanda, die keine eigene,

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passenden Ehegatten finden, wie es nach dem Krieg häufig vorkam, blieben Frauen auch bewußt unverheiratet, wie die Äußerung von Albertine Zeraua belegt, die die Geburt ihres unehelich geborenen Urgroßenkels Christian Zeraua mit den Worten kommentierte: »Wen hätte Emilie standesgemäß heiraten können? Sind nicht alle Großleute tot oder über die Grenze geflüchtet in andere Länder?«275 Grundsätzlich waren »instabile« Ehen und »illegitime« Kinder also kein moralisches Problem. Daher muß die Frage gestellt werden, warum sich die Fälle der »Otjioketa-Wirtschaft«, d.h. der »instabilen« Familien und Lebensgemeinschaften, in den zwanziger und dreißger Jahren häuften und - über die moralischen Bedenken der Missionare hinaus - zu einem Problem auch innerhalb der Herero-Gesellschaft wurden. Eine Erklärung der Missionare war die Wiedereinführung der Morgengabe, ovitunja, die junge Männer an die Brauteltern zu entrichten hatten und die 1926 Missionar Kuhlmann zufolge zehn Pfund Sterling betrug.276 Diese hohe Forderung führte einerseits zur Auflösung von Ehen, die nach dem Krieg ohne Entrichtung der Morgengabe geschlossen worden waren, um die Töchter noch einmal verheiraten zu können. 277 Andererseits fungierte sie als Ehehindernis, weil potentielle Schwiegersöhne warten mußten, bis sie es sich leisten konnten zu heiraten; oder sie verblieben in einem unsicheren Status gegenüber den Schwiegereltern, bis das Geld abbezahlt war. Die Morgengabe konnte in diesen Fällen als Pfand eingesetzt werden. 278 Kuhlmann berichtete: »Da manche jungen Leute diese unerhört hohe Summe nicht aufbringen konnten, blieben sie Schuldner der Schwiegereltern, die aber ihre Tochter nicht verweigerten ... und auf spätere Zahlung rechneten. Diese trat aber restlos nicht oft ein. Kam nun eine kleine Ehezwistigkeit vor, oft aber ganz ohne diese, so nahmen die Schwiegereltern einfach ihre Tochter von dem Manne weg. Auf diese Weise sind schon nach 10-13 Jahren bestehende Ehen wieder auseinandergerissen. Diese Fälle häufen sich.«279 Wenn diese Beobachtung zutraf, hatten Männer gute Gründe dafür, nicht zu heiraten oder sich nicht wieder zu verheiraten, wenn sie bereits einmal dazu gezwungen worden waren, ihre Frau zu verlassen. Der Hinweis auf die »kleine Ehezwistigkeit« ist aber keine ausreichende Begründung dafür, warum Eltern und Verwandte lange existierende Ehen annullierten. Eventuell handelt es sich bei dieser Beobachtung auch um eine verdeckte Form der Scheidung. Das

ererbte eanda haben (das betrifft Ehegatten aus anderen ethnischen G r u p p e n u n d die aus diesen V e r b i n d u n g e n s t a m m e n d e n Kinder), siehe: Malati, S. 87f. 275 Schlosser, S. 211. 276 Köhler, Acculturation, S. 141, gibt die S u m m e m i t 1 0 - 3 0 P f u n d Sterling an; dies bezieht sich offensichtlich auf die fünfziger Jahre. 277 Werner, E c o n o m i c and Social History, S. 206. 278 AVEM 2.514: Halbjahresbericht O m a r u r u 30.9.1923 ( K u h l m a n n ) . 279 August K u h l m a n n in: Β R M 1927, S. 37ff.

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würde bedeuten, daß die nicht vollständig geleistete ovitunja den Frauen die Möglichkeit gab, ihren Ehemann zu verlassen, wobei es die Aufgabe der Verwandten wäre, dies gesellschaftlich zu sanktionieren. 280 Ein G r u n d f ü r Frauen, ihre E h e m ä n n e r zu verlassen, könnte die verstärkte Wiedereinführung der Polygynie in den zwanziger Jahren sein. Laut Missionsinspektor Driessler hatten Herero-Frauen ihm während seiner Inspektionsreise durch das EpukiroReservat gesagt, daß sie eher ihre Ehemänner verlassen wollten, als zu erklären, daß sie bereit seien, eine weitere Frau zu akzeptieren. 281 Eine weitere Ursache für die Auflösung lang existierender Ehen, ist in der Nachkriegssituation zu suchen. N a c h dem Krieg waren vorkoloniale Institutionen wie das Heiratssystem nicht m e h r aufrecht zu erhalten. H e r e r o besaßen nur noch in Einzelfällen Großvieh, und so konnte einerseits keine Morgengabe m e h r gezahlt werden, andererseits waren die strengen Heiratsregeln, die die Vererbung von Vieh innerhalb der Verbände der otuzo und omaanda festlegten, obsolet geworden. Mit d e m Wiederaufbau von H e r d e n und dem verstärkten Rekonstruktionsprozeß innerhalb der Herero-Gesellschaft nach der Beerdigung von Samuel Maharero 1923, wurden Verwandtschaftsverhältnisse neu geknüpft und stabilisiert. Die Missionare empörten sich darüber, daß Töchter dabei wie »Handelsgüter« eingesetzt würden. Es ging aber nicht n u r u m den materiellen Wert der ovitunja, sondern auch darum, Töchter im Zuge der Restauration verwandtschaftlicher Verhältnisse »strategisch« zu verheiraten. Diese Versuche, in den Reservaten »vorkoloniale« Verhältnisse zu restaurieren, stellte eine Seite des Spannungsfeldes dar, in d e m die von den Missionaren beobachtete Auflösung von Familien stand. Die andere Seite bildeten die veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen nach 1915. Das von den Südafrikanern eingeführte Reservatssystem erzwang Lohnarbeit u n d Wanderarbeit, u n d deshalb waren Väter häufig von ihren Familien getrennt, eine Situation, die Herero Informanten dem Ethnologen Köhler gegenüber mit »Kriegszeiten« verglichen, in denen die M ä n n e r an der Front Militärdienst leisten müßen. 282 Die Urbanen Gebiete boten den M ä n n e r n potentiell eine größere U n a b h ä n gigkeit von der Kontrolle durch die Verwandtschaft, aber die Abwesenheit von der Familie im Reservat konnte auch umgekehrt einen Kontrollverlust f ü r die Männer nach sich ziehen. In den Urbanen Gebieten entstanden neue soziale Bindungen, wie Clubs und Vereine, und die Arbeitsmigranten aus Südafrika brachten neue intellektuelle Anregungen: Gewerkschaftsideen, Garveyismus und die Tradition der Unabhängigen Kirchen. Die otjiserandu n a h m solche n e u 280 Ahnlich hat Ε. P. Thompson den öffentlichen »Verkauf« von »ehebrecherischen« Frauen im England des 18. und 19. Jahrhunderts als verdeckte Scheidung interpretiert, d.h. als eine nach außen hin legitimierte Möglichkeit für Frauen, die Ehe aufzulösen. Siehe: Thompson, S. 296ff. 281 Werner, Economic and Social History, S. 207. Siehe auch: Irle, Die Herero, S. 110. 282 Köhler, Stage of Acculturation, S. 142.

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en Ideen auf und hatte gleichzeitig die Funktion, die Bindung unter den Herero zu stärken und die Verbindung zwischen Stadt und Land über Verwandtschaftsbeziehungen hinaus aufrecht zu erhalten u n d abzusichern. D e n n o c h veränderten sich die sozialen Beziehungen nachhaltig. In den Beobachtungen der Missionare und den Klagen der Herero-e/dm wird z u m einen ein Generationskonflikt deutlich; j u n g e Leute versuchten generell dem Zugriff der Alteren, der Abhängigkeit und der sozialen Kontrolle zu entkommen. Z u m anderen handelte es sich aber auch u m einen Geschlechterkonflikt, denn M ä n n e r konnten sich mit den Möglichkeiten, im weißen Sektor Arbeit zu finden, eher ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern entziehen. Dies galt besonders, w e n n sie lange abwesend waren und in der Stadt neue Familien gründeten. Missionar Pönninghaus berichtete 1936 mit Erleichterung, daß »eine Tochter von Samuel Maharero in Okarupuka die Frauen des [Waterberg] Reservates angeregt habe, die j u n g e n Mädchen energisch zur Reinheit zu erziehen. So haben die älteren Frauen sich zusammengetan und bearbeiten die sittenlosen Mädchen so lange, bis sie geloben, der U n z u c h t zu entsagen« 283 , u n d »mit Freuden hören wir, wie eine Anzahl führender Frauen im Waterberg-Reservat einen Anlauf g e n o m m e n haben, sich der U n z u c h t entgegenzustemmen u n d alle u n erlaubten Beziehungen ihrer Töchter zu j u n g e n Burschen aufzuheben.« 284 Es handelte sich hierjedoch nicht nur, wie Pönninghaus meinte, u m eine Kampagne im Sinne christlicher Moral und Ehe-Ideale, die sich an j u n g e Mädchen richtete, wie sich noch herausstellen sollte. A m 17. Oktober 1936 zog eine Demonstration von 60 Herero-Frauen vor das Büro des Welfare Officer des Waterberg East Native Reserve, d e m weißen Kolonialbeamten, der f ü r das Reservat zuständig war. Angeführt w u r d e n sie von sechs Frauen: Unangoroa Maharero, Louisa Kambazembi, Edla Maharero, Augusta Kambazembi, Magdalina Katjimune und Hester Keha, die alle aus dem alten Herero-Adel stammten, unter ihnen eine Tochter von Samuel Maharero. Die Frauen verlasen eine Petition, die sie dem Beamten anschließend aushändigten 285 , u m Unterstützung von der Kolonialverwaltung f ü r die folgenden sechs Forderungen zu erhalten: An erster Stelle verlangten die Frauen einen »doctor«, der herausfinden sollte, wer für die »Vergiftung« (poisoning) des Reservats verantwortlich sei. Punkt zwei forderte die E i n f ü h r u n g einer Junggesellensteuer für Männer, die das 30. Lebensjahr überschritten hatten, ohne verheiratet zu sein. Weiterhin sollte es M ä n n e r n nicht erlaubt sein, mit Frauen zusammenzuleben, o h n e sie zu heiraten. Von unverheirateten Vätern w u r d e gefordert, daß sie die Mutter ihres Kindes heiraten oder eine Zahlung von drei 283 AVEM 2.635: F. Pönninghaus, August 1936 >Der heutige Stand im Waterbergreservatverhextunbekannte Krankheit< zu untersuchen. Es besteht kein Zweifel, daß sie Hexerei vermuten u n d denken, daß die Hautfarbe des Arztes ihn in die Lage versetzt, diese mysteriöse Praxis oder Krankheit zu beheben.« 296 Aus dieser Annahme zog der Welfare Officer aber keine weiteren Schlüsse. Er kommentierte anschließend die Forderung nach einer Junggesellensteuer und der Zahlung von Kompensationen für uneheliche Kinder: »Darüber kann man nachdenken, aber da es schon schlimm genug ist, mit der männlichen Bevölkerung umzugehen fragt man sich, was passiert u n d worauf es hinausläuft, w e n n diese >Damen S u f f r a g e t t e s zu Diktatoren des Reservats werden.« 297 Da eine solche »Agitation« auf alle Reservate übergreifen könne, müsse die Antwort sorgfältig bedacht werden; ein guter Grund, die Angelegenheit nicht einfach abzutun. Der Welfare Officer fühlte sich offensichtlich überfordert und bedroht durch die Präsenz der Frauen, die sich Gehör verschafften, Forderungen stellten und Lösungsvorschläge vorlegten, u n d ihn mit einer Demonstration in seinen Verwaltungsalltag heimgesucht hatten. Der Akt als solcher und nicht n u r der Inhalt der Petition war unerhört: Visionen von Suffragetten, Diktatorinnen u n d ein e m auf alle Reservate überspringenden Widerstand erscheinen in seinem Schreiben. D e r Magistrat von Otjiwarongo dagegen reagierte weitaus gelassener. Er schickte die Vorgänge weiter an den Chief Native Commissioner und erklärte dazu, daß es in seiner Amtszeit keine Fälle von Vergiftung im Reservat gegeben habe, daß Bierbrauerei ohnehin verboten und im Fall illegitimer Kinder vom Gesetz vorgesorgt sei. Z u einer Junggesellensteuer könne er sich nicht äußern. Er fragte sich nur, zunächst in völliger Ignoranz der geschlechtsspezifischen Problematik, w a r u m »die Eingeborenen ihre Vorschläge nicht umset295 Ebd., Briefvon Courtney-Clark, Secretary for South West Africa, Windhoek an den Magistrat, Otjiwarongo am 19.12.1936. 296 Ebd., Brief des Welfare Officer, Waterberg East Native Reserve an den Magistrat, Otjiwarongo vom 22.10.1936. 297 Ebd.

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zen«.298 Damit benutzte der Magistrat, der gleichzeitig als Native Commissioner fungierte, eine Redefigur, die sich im Laufe der Auseinandersetzung noch öfter finden sollte. Trotz des umfassenden Zuständigkeitsanspruchs für die Reservate von seiten der Administration w u r d e beständig darauf verwiesen, daß die Bewohner ihre Angelegenheiten selbst zu regeln hätten. Der Magistrat entwikkelte dann aber doch noch ein gewisses Verständnis f ü r die Frauen und besonders für die Aufregung des Welfare Officer. Da sich alle Beschwerden, bis auf den ersten Punkt, gegen die M ä n n e r richten würden, hätte der Beamte keine andere Alternative gehabt, als der Frauenversammlung zuzuhören. 2 9 9 Aus dieser Formulierung spricht, daß schon allein das Anhören von Frauen einer Rechtfertigung bedurfte. Chief Native Commissioner Courtney-Clarke, noch weiter entfernt vom konkreten Verwaltungsalltag des Reservats als der Magistrat, sah denn auch einen positiven Aspekt in der Aktion der Frauen. Er schrieb, daß die Administration mit Befriedigung zur Kenntnis nähme, daß die Herero-Frauen im Reservat Anteil am Wohlergehen ihrer Leute zeigten. 300 Z u d e m hoffte er, demnächst das Reservat gemeinsam mit dem Magistrat besuchen zu können, u m die Petition zu diskutieren. In seinem Schreiben b e k o m m t auch das Gift, die Krankheit, erstmals einen N a m e n . »Es scheint auch unter den Herero in anderen Reservaten die hartnäckige Vorstellung zu herrschen, daß irgendeine Form von Hexerei praktiziert wird. Kann es sein, daß die Ursache Syphilis ist?«301 An dieser Stelle wird deutlich, wie die Begriffe »Hexerei« und »Vergiftung«, welche die Frauen in vieldeutiger Weise benutzten, durch eindeutige Begriffe wie »Krankheit« und »Syphilis« ersetzt wurden. Zugleich fand eine Übertragung von Begriffen, die in einem politisch-sozial-medizinischen Kontext stehen, in eine sozialhygienische und pathologisierende Sprache statt. Dahinter stand möglicherweise auch die damals kursierende Vorstellung von einem »Rassenselbstmord« als indirekter Kriegsfolge. Syphilis als Ursache von Sterilität betrachteten die Beamten als ernsthaftes Problem u n d so erklärten sich das Interesse an d e m »Fall« und die ständigen Verweise auf den Distrikarzt. D e n Vorschlag einer Junggesellensteuer zog Courtney-Clarke als zusätzliche Einnahme f ü r den geplanten Tribal Trust Fund in Erwägung und wies daraufhin, daß der Magistrat in seiner Funktion als Native Commissioner M a ß n a h m e n im Sinne des customary law ergreifen könne, u m »interne« Probleme zu lösen. Er schlug vor, daß der Welfare Officer gemeinsam mit dem Reserve Board Informatio-

298 Ebd., Brief des Magistrat, Otjiwarongo an den Chief Native Commissioner, Windhoek vom 28.10.1936. 299 Ebd. 300 Ebd., Brief des Chief Native Commissioner, Windhoek an den Native Commissiner, O t jiwarongo vom 10.11.1936, S. 1. 301 Ebd.

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nen über Brauchtum u n d Gesetze sammeln könne, 302 obwohl es den Frauen nicht u m eine »Wiederbelebung des Brauchtuns« ging, sondern gerade u m die E i n f ü h r u n g neuer Regelungen. In d e m darauf folgenden Schreiben aus d e m Büro des Assistant Native Commissioners in Windhoek wurde bestätigt, daß die H e r e r o häufig ein »Gift« als Ursache venerischer Krankheiten sähen. 303 Die Forderung nach einer Junggesellensteuer lehnte der Beamte - in einer erstaunlich verständnisvollen und u m so sprechenderen Argumentation im Sinne der heiratsunwilligen Junggesellen - ab. Hier zeigte sich zugleich einer der seltenen M o m e n t e von Solidarität über alle »Rassengrenzen« hinaus: »Ich stimme bei allem Respekt nicht mit der Sache überein, daß es eine >Verpflichtung< für einen M a n n gäbe, zu heiraten. Viele können sich dies nicht leisten; manche sollten es nicht tun; u n d manche wollen es sogar nicht einmal, und, da dies ein freies Land ist, sehe ich nicht, w a r u m es ihnen nicht erlaubt sein sollte, diesem Bedürfnis nachzugeben.« 304 Auf die Forderung nach Kompensation, immerhin zwei der sechs Punkte, wird denn auch überhaupt nicht eingegangen. Was die Einmischung in das customary law betrifft, widersprach der Beamte d e m Vorschlag von Courtney-Clarke vehement. Es sei nicht wünschenswert, das »native law« willkürlich durch wohlwollende Laien anwenden zu lassen. Da auch das traditionelle Recht - »vielleicht n u r instinktiv« - auf einem System basiere, müsse es, wie jedes andere Rechtssystem, genau studiert werden. Trotz einer zunächst durchaus differenzierten Argumentation über traditionelles RechtKönigs Grabes< und den übrigen Gräbern der Kambazembi Sippe. Ehrt man so seine VonVaders