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German Pages [176] Year 2013
L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft Band 21 Herausgeberinnen: Caroline Arni, Basel; Gunda Barth-Scalmani, Innsbruck; Ingrid Bauer, Salzburg; Mineke Bosch, Groningen; Božena Chołuj, Warschau; Christa Hämmerle, Wien; Gabriella Hauch, Wien; Almut Höfert, Zürich; Anelia Kassabova, Sofia; Claudia Kraft, Siegen; Ulrike Krampl, Tours; Margareth Lanzinger, Innsbruck/Wien; Sandra Maß, Braunschweig; Claudia Opitz-Belakhal, Basel; Regina Schulte, Berlin; Xenia von Tippelskirch, Berlin; Claudia Ulbrich, Berlin.
Li Gerhalter / Christa Hämmerle (Hg.)
Krieg – Politik – Schreiben Tagebücher von Frauen (1918–1950)
2015 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Forschungsplattform „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ an der Universität Wien (2006–2012) der Wissenschafts- und Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Tagebücher aus der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien; Foto © Li Gerhalter
© 2015 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Michaela Hafner und Brigitte Semanek, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Prime Rate Kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-78942-0
Inhalt
Christa Hämmerle und Li Gerhalter Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . .
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Veronika Helfert „Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“ Politische Dimensionen im Tagebuch von Bernhardine Alma (1934) . . . . . . . . 33 Ingrid Brommer und Christine Karner Das Tagebuch einer Autobiographie Elise Richters ,öffentliches‘ und ,privates‘ Schreiben während der NS-Diktatur (1938–1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Helen Steele Daily Lives and Informal Networks in the Diaries of two Viennese Women (1943–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Benjamin Möckel „Die Bewährung der jungen Generation“ Geschlechterbilder in Jugendtagebüchern des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Ulrich Schwarz Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt Von der Verwandlung einer Buchführung im ländlichen Niederösterreich (1945–1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Brigitte Semanek Von der Edition zum Original Politik im Tagebuch Rosa Mayreders (1918–1934) . . . . . . . . . . . . . . . . .139
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Inhalt
Arno Dusini Was am Tagebuch ,weiblich‘ sein soll … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175
Christa Hämmerle und Li Gerhalter
Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert
Die historiographische Auswertung verschiedener Formen des diaristischen Schreibens ist in den letzten Jahren erneut in Bewegung gekommen. Dabei haben, weit mehr als zuvor, vor allem theoretische und methodische Konzepte der neueren, von den Debatten der ‚Postmoderne‘ geprägten Literatur- und Kulturwissenschaften Eingang in solche Studien gefunden. Sie werden derzeit vermehrt kritisch geprüft, adaptiert und stärker historisiert, um die sich ab dem 18. Jahrhundert entfaltende Vielfalt des Tagebuchschreibens in Europa fassen zu können – als eine große Bandbreite, zu der heute, aufgrund einschlägiger Forschungsarbeiten, auch viele von Mädchen und Frauen verschiedener gesellschaftlicher Schichten verfasste Diarien zu zählen sind.1 Gerade sie fordern nachhaltig dazu heraus, überkommene Genretheorien zu überdenken und in Hinblick auf Klassen- oder Schichtkorrelationen ebenso zu hinterfragen wie in Bezug auf die diesen eingeschriebene Gebundenheit an einen männlichen Autor oder literarischen Kanon, der erst so ‚gesprengt‘ werden kann.2 In diesem Sinne ruft eine feministische Wissenschaftskritik, die den grenzziehenden und damit ausgrenzenden wie hierarchisierenden Zusammenhang von „Genre und Gender“ erkennt, auch in der historischen Tagebuchforschung zu „einer generellen Revision von Gattungen und Gattungstheorien“ und deren Neukonzeption auf, wie die Anglistin Renate Hof es formuliert hat.3 Sie spricht damit Suchbewegungen an, die andauern und noch immer auf neu erschlossene Quellenbestände, Räume und Zeiten bezogen werden können – auch in einer frauen- und geschlechtergeschichtlichen Perspektive. Dabei geht es – das haben kürzlich die Historikerinnen Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke und Mineke Bosch betont – nach wie vor auch um eine Dekonstruktion der wirkmächtig ‚vergeschlechtlichten‘ Dichotomie zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, da diese mit dem auto/biographischen Schreiben verbundene Prozesse der Kanon- und Traditionsbildung bis heute bestimmt.4 1
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Das inkludiert ebenso das populare Schreiben. Damit folgen wir hier einer im Anschluss an Bernd Jürgen Warneken, Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985, in der Forschung gängig gewordenen Bezeichnung für verschiedenste Selbstzeugnisse ‚bildungsferner‘ bzw. nicht den kulturellen Eliten zugehöriger Menschen. Vgl. etwa Margot Brink, Ich schreibe, also werde ich. Nichtigkeitserfahrung und Selbstschöpfung in den Tagebüchern von Marie Bashkirtseff, Marie Lenéru und Catherine Pozzi, Königstein i. T. 1999; Renate Hof, Einleitung: Genre und Gender als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle, in: dies. u. Susanne Rohr Hg., Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, 7–24. Hof, Einleitung, wie Anm. 2, 8f. Editorial des Themenhefts Auto/Biographie von L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 24, 2 (2013), 5–10, 5f.
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Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert
Vor diesem Hintergrund vereint der vorliegende Sammelband Beiträge, die mit unterschiedlichen methodischen Zugängen und Erkenntnisinteressen das Themenfeld Krieg, Politik und Geschlecht in Tagebüchern von Frauen aus dem Zeitraum von 1918 bis 1950 behandeln. Indem sie solche engen Relationen ins Zentrum stellen, wird nach den Nahtstellen zwischen der Frauen- und Geschlechtergeschichte und der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Österreich und Deutschland, insbesondere im Zeitraum der Jahrzehnte vor dem, im und nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Durch ihren Fokus auf die offen definierte Quelle Tagebuch und Fragestellungen nach verschiedenen damit verknüpften, im ‚Privaten‘ wie im ‚Öffentlichen‘ verankerten Verwendungsweisen, Funktionen und Erscheinungsformen tragen die Beiträge zudem zu den Theoriedebatten rund um die Vielfalt des (popularen) diaristischen Schreibens von Frauen bei, was im Folgenden genauer dargelegt werden soll. Dabei sind zunächst zentrale Aspekte der sich wandelnden, immer auch ‚vergeschlechtlichten‘ und von Kriterien wie Alter oder Schicht beeinflussten Genrekonzepte sowie die methodische Verwendung von Tagebüchern als historische Quellen angesprochen, worauf Vorschläge für offene Definitionen und Konzeptualisierungen der vielfältigen diaristischen Schreibpraxen folgen. Am Ende, nach der Darlegung einiger wichtiger Facetten solcher Praxen im Kontext von Krieg und Politik im 20. Jahrhundert und einer kurzen Vorstellung der Beiträge dieses Sammelbandes, steht ein Ausblick auf die Materialität von Tagebüchern – und damit auch die Rückkehr zum Ausgangspunkt der hier dokumentierten Forschungen.
Der ‚Kanon‘ und die Kategorien Geschlecht, Alter und Schicht5
Die Auseinandersetzung damit, was die Textgattung Tagebuch charakterisieren sollte oder könnte, hat vor allem in den Literaturwissenschaften eine lange Tradition und kann mittlerweile auf einer breiten Basis an Forschungsliteratur aufbauen.6 Ralph-Rainer Wuthenow – um einen der bis heute viel zitierten Autoren einer solchen literaturwissenschaftlichen Überblicksdarstellung zu nennen – hob in seiner Zusammenschau unter mehreren möglichen inhaltlichen Dimensionen die Selbstexploration der Schreibenden als oberstes Gattungsmerkmal hervor. Ungeachtet seiner ansonsten relativ offenen Definition des Tagebuchs betonte er die darin stattfindende „Reflexion auf das Ich, das sich hier zu vergegenwärtigen, zu objektivieren, zu erinnern, vielleicht auch zu entwerfen versucht“.7 Demgegenüber nach5
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Die folgenden Synthesen und Überlegungen wurden in einer früheren Fassung zum Teil veröffentlicht in: Christa Hämmerle, Diaries, in: Benjamin Ziemann u. Miriam Dobson Hg., Reading Primary Sources. The interpretation of texts from nineteenth- and twentieth-century history, London/New York 2008, 141–158. Aus einer dekonstruktivistischen Perspektive auf diese Forschungstradition v. a. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005. Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990, 1. Vgl. als ältere, bis heute viel zitierte Überblickswerke etwa auch Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969; Gustav René Hocke, Das europäische Tagebuch, Wiesbaden 1963.
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rangig erscheinen die in diaristischen Texten ebenfalls häufig vorgenommenen Beschreibungen von Alltäglichkeiten, die Wiedergabe von Lektüre- und Landschaftseindrücken, die Formulierung religiöser Gedanken oder die Ansammlungen von philosophischen, literarischen oder wissenschaftlichen Skizzen und Kommentaren etc.8 Wuthenow folgte damit noch 1990 jenen eng an die Literaturgeschichte angelehnten Kriterien, die lange Zeit ganz generell die maßgeblichen Parameter für die Bewertung des Tagebuchschreibens in der Moderne darstellten; nicht von ungefähr machen Frauen wie die Schriftstellerinnen Katherine Mansfield (1888–1923) oder Virginia Woolf (1882–1941) in seinem Sample nur etwa zehn Prozent der behandelten Tagebuch-Autor_innen aus.9 Immerhin haben sie hier aber schon Eingang in die Gattungsgeschichte gefunden – was in älteren, noch weit stärker an den zählebigen Individualismusbegriff des Historismus angelehnten Arbeiten dazu keinesfalls selbstverständlich war.10 Ähnlich wie bei der idealtypischen Konzeptualisierung der Autobiographie11 wurden in den Kanon exemplarischer Tagebücher zunächst jedenfalls nur solche von Schriftstellern aufgenommen, deren diaristisch vorgenommene Selbsterkundungen – als „Literatur im Rohzustand“12 – Werkcharakter und damit ästhetischer Wert zugesprochen wurde. Im hegemonialen Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts galt „[e]in Mann ohne Tagebuch (habe er es in den Kopf oder auf Papier geschrieben)“ mitunter als das, „was ein Weib ohne Spiegel“ sei, wie es Gottfried Keller 1838 formulierte. Er sprach damit die für die Gattungsbestimmung relevante bürgerliche Geschlechterdichotomie ebenso an wie den Topos, dass die „geistige Selbständigkeit [eines Schriftstellers] nur bewahrt werden [könne] durch stetes Nachdenken und strenges Beobachten seiner selbst“, was eben „am besten durch ein Tagebuch“ geschehe.13
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Vgl. Wuthenow, Tagebücher, wie Anm. 7, 1, 11. Nicht in der Auswahl ist etwa auch das Tagebuch von Anne Frank, von Tine Nowak pointiert als das „meistgelesene Tagebuch der Welt“ bezeichnet. Vgl. Tine Nowak, Das meistgelesene Tagebuch der Welt. Anne Franks Zeitzeugnisse, in: Helmut Gold, Christiane Holm, Eva Bös u. Tine Nowak Hg., @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, 142–145. In dieser Tradition wurden auch Tagebuchtexte als Quellen nur verwendet, „um die Leistung und Entwicklung der Einzelpersönlichkeit“ darzustellen, wie es Hermann Oncken, Aus der neueren Memoirenliteratur, in: Deutsche Monatsschrift für das Gesamte Leben der Gegenwart, 7 (1905), 616–620, 616, mit Blick auf das männliche Geschlecht allein formuliert hat; zit. nach: Dagmar Günther, „And now for something completely different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift, 272 (2001), 25–61, 26f. Als literarische Vorbilder galten hier lange vor allem „Les Confessions“ (1782) von Jean-Jacques Rousseau und „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ (1811–1813) von Johann Wolfgang von Goethe. Kritisch dazu Felicity A. Nussbaum, Toward Conceptualizing Diary, in: Trev Lynn Broughton Hg., Autobiography. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies, 4, London/New York 2007 (Orig.1988), 3–13, 4. Wuthenow, Tagebücher, wie Anm. 7, IX. Zit. nach: Brink, Ich schreibe, wie Anm. 2, 40. Keller verwendete dabei fast wortwörtlich die Formulierung von Johann Caspar Lavater aus 1771, vgl. dazu Anm. 21.
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Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert
Die „Ausbildung von an Schrift gebundenen Individualitätsstrukturen“ 14 war und ist also in gängigen Gattungsdefinitionen die dem Tagebuch zugeschriebene primäre Funktion. Dabei wird als Voraussetzung dafür oft von einem „Entwicklungsprozeß des Selbstbewußtseins“ ausgegangen, der sich (neben der notwendigen Literalität) in Europa ab dem 18. Jahrhundert vollzogen habe.15 Diese Ich-Bezogenheit des ‚modernen‘ Tagebuchs gilt demzufolge auch als hauptsächlicher Unterschied zu seinen seit dem 16. Jahrhundert – von Männern und Frauen – verwendeten verschiedenen ‚Vorformen‘, wie den Schreibkalendern,16 den Haushaltsbüchern17 oder „livres de raison“18 beziehungsweise den eher das äußere Geschehen und Handeln beschreibenden „Journalen“.19 Und auch die stark an die religiös motivierte Gewissenserforschung gebundenen diaristischen „Selbstbeschreibungen“ im puritanischen Neuengland des 17. oder in deutschen pietistischen Glaubenszirkeln des 18. Jahrhunderts20 werden aus dieser Perspektive als ‚Vorläufer‘ moderner Selbstreflexivität beschrieben – bis hin zu Johann Caspar Lavaters 1771 zunächst anonym erschienenem, im deutschsprachigen Raum rasch als Idealtypus etablierten „Geheime[n] Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst“.21 Es steht in dieser Genealogie für eine neue subjektive Ausformung von Religiosität in einer Phase des Übergangs „von pietistisch motivierter zu psychologischer Selbstdarstellung“.22 14 15 16
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Sybille Schönborn, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999, 3. Wuthenow, Tagebücher, wie Anm. 7, 7. Als Überblick dazu Helga Meise, Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624–1790, Darmstadt 2002; Harald Tersch, Schreibkalender und Schreibkultur. Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums, Graz/Feldkirch 2008. Sarah M. Edwards bezeichnet „household memorandum books“ als „the first works to be referred to as diaries and journals in the modern sense of the term“. Dies., Women’s Diaries and Journals, in: Margaretta Jolly Hg., Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms, 2 (L–Z), London 2001, 950–952, 950. Sylvie Mouysset, Papiers de famille. Introduction à l’étude des livres de raison (France, XVe–XIXe siècle), Rennes 2007; dies., Quand „Je“ est une femme: les spécificités d’une écriture ordinaire?, in: dies., Jean-Pierre Bardet u. François-Joseph Ruggiu Hg., Car c’est moy que je peins. Écritures de soi, individu et liens sociaux (Europe, XVe–XXe siècle), Toulouse 2010, 185–201. Die Begriffe „Journal“ und „Tagebuch“ werden in der Forschungsliteratur allerdings zum Teil widersprüchlich oder synonym verwendet. Vgl. etwa Harriet Blodgett, Centuries of Female Days. English women’s Private Diaries, New Brunswick, NJ 1988, 262, Fußnote 12; Rachel Cottam, Diaries and Journals: General Survey, in: Jolly, Encyclopedia, wie Anm. 17, 1 (A–K), 267ff., 268; Nussbaum, Conceptualizing Diary, wie Anm. 11, 5. Außerdem existieren die genannten Formen selbstverständlich über die ‚Vormoderne‘ hinaus. Dazu u. a. Ulrike Gleixner, Religion, Männlichkeit und Selbstvergewisserung. Der württembergische pietistische Patriarch Philipp Matthäus Hahn (1739–1790) und sein Tagebuch, in: L’Homme. Z. F. G., 14, 2 (2003), 262–279. Johann Caspar Lavater, Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst, hg. von Georg Joachim Zollikhofer, Leipzig 1771. Anke M. Melichor, „Liebesprobleme … waren schon immer ein Anlaß für mich, Tagebuch zu führen.“
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Vor allem das ‚bürgerliche‘ 19. Jahrhundert gilt in der Forschung dann als ,goldenes Zeitalter‘ des – weitgehend säkularisierten – ‚privaten‘ Tagebuchs.23 Das gipfelte insbesondere in Frankreich im Begriff des „Journal intime“,24 welches dem Historiker Alain Corbin zufolge das „Geheimnis des Individuums“ hüten sollte und in verschließbaren Schreibunterlagen, die vom Papierhandel kommerziell angeboten wurden, seinen dinghaften Ausdruck gefunden hat.25 Dabei ist auffallend, dass sich eine solche Mode rasch auch an Mädchen und Frauen richtete, umso mehr, als diese im Zuge der für die Moderne konstitutiven Polarisierung und Naturalisierung der (bürgerlichen) „Geschlechtscharaktere“ auf ‚private‘, der ‚Öffentlichkeit‘ entgegen gesetzte Sphären festgelegt waren26 – was in Hinblick auf das Tagebuchschreiben zu einem Paradoxon führte: Obwohl weiterhin (fast nur) Schriftsteller den veröffentlichten Kanon ausmachten, entwickelten sich im Zuge der Popularisierung diaristischer Praktiken parallel dazu auch eine von vielen Mädchen und Frauen getragene Kultur des Tagebuchschreibens, für die es seit dem späten 19. Jahrhundert wiederum eigene vorgefertigte Textträger zu kaufen gab.27„Kommerzielle
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Liebe, Ehe und Partnerschaft in Frauentagebüchern, Königstein i. T. 1998, 19f. Insbesondere die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine entwickelten das Schreiben von beichtähnlichen Tagebüchern „fast zur Profession“ und lasen sich gegenseitig daraus vor; vgl. Boerner, Tagebuch, wie Anm. 7, 42f. Das wurde auch von den Herrnhuter Schwestern kultiviert; vgl. Irina Modrow, Religiöse Erweckung und Selbstreflexion. Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern als einem Beispiel pietistischer Selbstdarstellungen, in: Winfried Schulze Hg., Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 121–130. Für Großbritannien vgl. dazu u. a. Blodgett, Centuries, wie Anm. 19, 10. Der Begriff „Journale intime“ steht für spezifische literarische Tagebuch-Editionen des 19. Jahrhunderts ebenso wie als französische Bezeichnung des ‚privaten‘ Tagebuchs generell. Vgl. Philippe Lejeune u. Catherine Bogaert, Le journale intime. Histoire et anthologie, Paris 2006, 23; Béatrice Didier, Le journal intime, Paris 19912. Alain Corbin, Das Geheimnis des Individuums, in: Michelle Perrot Hg., Geschichte des Privaten Lebens, 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt a. M. 1992, 466ff. Vgl. z. B. Dorothy O. Helly u. Susan M. Reverby Hg., Gendered Domains. Rethinking Public and Private in Women’s History, Ithaca/London 1992; Leonore Davidoff, Worlds Between. Historical Perspectives on Gender and Class, Cambridge 1995; dies., Alte Hüte. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung, in: L’Homme. Z. F. G., 4, 2 (1993), 7–36; und nach wie vor grundlegend: Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: dies., Gesellschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, Göttingen 2013, 19–49 (Orig. 1976); vgl. dazu auch dies., Der Aufsatz über die „Geschlechtscharaktere“ und seine Rezeption. Eine Spätlese nach 30 Jahren, in: ebd., 83–105. Zu den vielfältigen Produkten der papierverarbeitenden Industrie vgl. die detailreiche Studie von Heinz Schmidt-Bachem, Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland, Berlin 2011. Es ist anzunehmen, dass auch die vielfältigen Papierwaren zur Etablierung der verschiedenen Formen des Tagebuchschreibens beigetragen haben. Vgl. Li Gerhalter, „Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch“? Formen, Inhalte und Materialitäten diaristischer Aufzeichnungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Janosch Steuwer u. Rüdiger Graf Hg., Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 64–85.
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Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert
Fertigtagebücher“28 mit Prägung, Goldschnitt und Schloss etablierten sich dabei nicht zuletzt als Geschenkgaben für Jugendliche zu Geburtstagen, Firmungen und ähnlichen Anlässen.29 Daneben wurden aber auch eine Vielzahl verschiedener Kalendertagebuch-Vordrucke angeboten, die sich jeweils an bestimmte Personengruppen richteten: Für den deutschsprachigen Raum ist etwa bereits aus dem Jahr 1874 ein „Damen-Almanach“ belegt, aus Großbritannien liegen vorgedruckte „Ladies’ Diaries“ oder „School Girls’ Diaries“ vor, ein „Notiz-Kalender für Arbeiter“ ist mit 1900 datiert etc.30 Der Markt reagierte also auf die Verbreitung des auto/biographischen Schreibens beziehungsweise gestaltete dieses durch vorgefertigte Schreibunterlagen auch mit – selbst wenn bei weitem nicht alle Diarist_innen das nützten.31 Im Zuge dieser länderübergreifenden Entwicklung wurde das Tagebuchschreiben unter bürgerlichen Mädchen und Frauen seit dem späten 19. Jahrhundert so weit verbreitet, dass feministische Wissenschaftlerinnen immer wieder darüber diskutiert haben, ob das Tagebuch nicht ein genuin ‚weibliches‘ Genre darstelle.32 In diesem Kontext wurde formuliert, dass auto/biographisches Schreiben für Frauen schon im 19. Jahrhundert einen Akt der „Selbstermächtigung“ als handelnde Subjekte bedeuten konnte,33 oder eine, wenn auch marginale, „form of resistance against prescriptive notions of female silence and exclusion from the literary world“ – alleine schon wegen des täglichen Zeitaufwands, der damit verbunden war (und die Schreiberinnen von ‚Nützlicherem‘ abhielt.)34 Der Bogen spannt sich hierbei bis in die Zeit nach 1945, als Tagebuchschreiben für Frauen weiterhin auch eine Art von „Überlebens- und Widerstandsform“ darstellte; es mochte sogar subversives Handeln bedeuten, das ihre anhaltende ‚Unterdrückung‘ erschüttern konnte – wie es Doris Niemeyer 1985, im Kontext der damaligen Frauengeschichte wohl noch zu eindimensional, für den von ihr zu einem eigenen Genre erhobenen Typus des „Frauentagebuchs“ dargelegt hat.35 28 29 30
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Wir verwenden diesen Begriff nach Marianne Soff, Jugend im Tagebuch. Analysen zur Ich-Entwicklung in Jugendtagebüchern verschiedener Generationen, Weinheim/München 1989, 255. Vgl. z. B. Gerhalter, „Ordentliches Tagebuch“, wie Anm. 27. Christiane Holm, Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Gold/Holm/Bös/Nowak, @bsolut, wie Anm. 9, 10–50, 23; Cynthia A. Huff, British Women’s Diaries. A Descriptive Bibliography of Selected Nineteenth-Century Women’s Manuscript Diaries, New York 1985, xivff.; Alison Twells, Socks for the Boys! My Great Aunt Norah’s wartime diaries, 1938–1948, unter: www.norahsdiaries.wordpress.com, und Ilse Fischer, Autobiographische Quellen zur Geschichte der Arbeiterbewegung im AdsD, unter diesem Titel online verfügbar bei www. fes.de, Zugriffe: 1.6.2015. Vgl. Li Gerhalter, Materialitäten des Diaristischen. Erscheinungsformen von Tagebüchern von Mädchen und Frauen im 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Z. F. G., wie Anm. 4, 53–71, und dies., „Ordentliches Tagebuch“, wie Anm. 27. Vgl. etwa Blodgett, Centuries, wie Anm. 19, 5; Cottam, Diaries, wie Anm. 19, 269. Patricia Gabrielli, Tagebücher, Erinnerungen, Autobiographien. Selbstzeugnisse von Frauen im Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano, in: L’Homme. Z. F. G., 15, 2 (2004), 345–352, 346f. Edwards, Women’s Diaries, wie Anm. 17, 951. Doris Niemeyer, Die intime Frau. Das Frauentagebuch – eine Überlebens- und Widerstandsform, Frankfurt a. M. 1986; vgl. auch Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher
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Gleichzeitig blieben die gesellschaftlichen Barrieren unübersehbar, die für Frauen bis weit in das 20. Jahrhundert gelten sollten – auch in ihren Tagebuchtexten. Folglich konnten die Diaristinnen dem postulierten Ideal eines „autonomen“, selbsttätig wirkenden „Ich“, das der hegemoniale auto/biographische Diskurs postulierte,36 nicht annähernd nachkommen. Sehr viel mehr fokussierten sie auch auf andere Schreibtraditionen, ihren Alltag oder ein kollektives, meist auf die Familie bezogenes „Wir“.37 Sie blieben damit mehr oder weniger eingezwängt in die ihnen zugeteilte Sphäre des ‚Privaten‘, was ihre verschriftlichten Selbstentwürfe häufig repetitiv und widersprüchlich werden ließ. Das hatte wiederkehrende Negativurteile über das ‚weibliche‘ Tagebuchschreiben zur Folge – vor allem in Hinblick auf die Tagebuchkultur heranwachsender Mädchen, die, wie schon dargelegt, um 1900 bereits sehr weite Verbreitung gefunden hatte.38 Darauf hat in der Forschung schon früh der Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune verwiesen, der für Frankreich mehr als 100 Tagebücher von Mädchen oder jungen Frauen aus dem Bürgertum und adeligen Kreisen recherchieren konnte, die zwischen 1783 und 1914 geführt wurden; im Vergleich dazu fand Lejeune für den selben Zeitraum nur wenige Tagebücher heranwachsender Burschen.39 Die Zahl der Mädchentagebücher nahm ihm zufolge ab etwa 1830 merklich zu, wobei ein Großteil davon schon im Laufe des 19. Jahrhunderts – meist posthum – gedruckt wurde.40 Dafür war der religiöse Gehalt dieser – von Lejeune völlig wertfrei analysierten – Tagebuchtexte entscheidend, die entsprechend häufig inhaltlich bearbeitet waren. Ihre Edition sollte neben der Erinnerungsfunktion auch Vorbildwirkung haben, da es üblich geworden war, Mädchen zum Tagebuchschreiben anzuhalten – und das Ergebnis von Eltern oder Erzieherinnen kontrollieren zu lassen.41 Die
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im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945, Berlin 1993, 24f.; Christa Hämmerle, Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive, in: Thomas Winkelbauer Hg., Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik, Horn/Waidhofen a. d. Thaya 2000, 135–167, 161f. Dazu auch Gabriele Jancke u. Claudia Ulbrich Hg., Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen 2005. Vgl. Huff, Women’s Diaries, wie Anm. 30, xviif. Für Deutschland und Österreich Soff, Jugend, wie Anm. 28; Christa Hämmerle, Ein Ort für Geheimnisse? Jugendtagebücher im 19. und 20. Jahrhundert, in: Peter Eigner, Christa Hämmerle u. Günter Müller Hg., Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 28–45; für Großbritannien Blodgett, Centuries, wie Anm. 19; Huff, Women’s Diaries, wie Anm. 30; für Frankreich Philippe Lejeune, The „Journal de Jeune Fille” in Nineteenth-Century France, in: Suzanne L. Bunkers u. Cynthia A. Huff Hg., Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries, Amherst 1996, 107–122; für die USA Margo Culley, A Day at a Time. Diary Literature of American Women from 1764 to 1985, New York 1985. Vgl. aber, als Beispiel aus dem späten 18. Jahrhundert, Arianne Baggerman u. Rudolf Dekker, Child of the Enlightenment. Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary, translated by Diane Webb, Leiden 2009. Vgl. Lejeune, „Journal“, wie Anm. 38, 108. Zu den ‚Vorläufern‘ dieser Entwicklung vgl. u. a. Baggermann/Dekker, Child, wie Anm. 39; Arianne
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Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert
jugendlichen Schreiberinnen hatten sich so in ‚weibliches‘ Wohlverhalten, Sittlichkeit und Frömmigkeit, aber auch in Schönschrift und Stil einzuüben, weshalb viele dieser auf das Ziel einer standesgemäßen Verehelichung ausgerichteten „Warte-Hefte“ extrem selbstzensuriert waren.42 Erst als ab circa 1880 die religiös-moralischen Einflüsse allmählich zurückgingen, begannen französische Mädchen Philippe Lejeunes Analyse zufolge damit, ihre Tagebücher ‚selbstbestimmter‘ zu gestalten, wie beispielsweise die 1887 veröffentlichten und zeitgenössisch breit rezipierten Aufzeichnungen der jungen Malerin Marie Bashkirtseff (1858–1884) belegen.43 Diese Säkularisierung und Demokratisierung der zunehmend auch schichtübergreifend praktizierten popularen Tagebuchkultur wurde nicht zuletzt in den Schulen vorangetrieben,44 führte aber auch zu wachsendem Misstrauen und der schon erwähnten Abwertung solcher Aufzeichnungen. So soll beispielsweise ein französischer Priester im Jahr 1885 die Tagebücher frommer Mädchen zwar nicht prinzipiell abgelehnt, aber doch behauptet haben, dass es „um jeden Preis gilt […], dieses hassenswerte und so raffinierte Ich, das sich sogar unter dem Schein größter Demut einschleicht, daraus zu vertreiben“.45 Es war wohl auch die in diesem Zitat angesprochene Janusköpfigkeit des diaristischen Schreibens, die dazu geführt hat, dass es unter Mädchen und Frauen in den Jahrzehnten um 1900 in vielen europäischen Ländern so stark angestiegen ist. Parallel dazu häuften sich abfällige Einschätzungen des Phänomens, sei es im Literaturbetrieb oder darüber hinaus. Sie sind nun von verschiedensten Seiten belegt, in fiktionalen Texten46 ebenso wie in einem Aufruf der bolschewistischen Propaganda, die in den 1930er Jahren (mit geringem Erfolg) selbst Moskauer Metro-Arbeiter dazu anregen wollte, „production diaries“ zu führen. Diese sollten sich aber vom „bourgeois’ diary“ unterscheiden, das als „a socially useless record filled with ineffectual talk“ oder als „a girl’s high school activity: a girl who sits down and writes all sorts of nonsense“ abgewertet wurde.47 Dass solche Geringschätzungen von jugendlichen
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Baggerman, Lost Time: Temporal Discipline and Historical Awareness in Nineteenth-Century Dutch Egodocuments, in: dies., Rudolf Dekker u. Michael Mascuch Hg., Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing since the Sixteenth Century, Leiden 2011, 455–541. Vgl. Philippe Lejeune, Moi aussi, Paris 1986, 160f. Zur Verbreitung dieser Praxis auch in Großbritannien im 19. Jahrhundert vgl. Huff, Women’s Diaries, wie Anm. 30, xxvf. Vgl. Lejeune, „Journal“, wie Anm. 38, 120; dazu auch die Analyse in Brink, Ich schreibe, wie Anm. 2, 86–133. Dazu u. a. Rebecca Rogers, Schools, Discipline and Community: diary-writing and schoolgirl culture in late nineteenth-century France, in: Women’s History Review, 4, 4 (1995), 525–554. Kursorische Aufzählungen von Beispielen gehen dabei bis in das 16. Jahrhundert zurück: Siegfried Bernfeld, Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern (Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, 54, hg. von William Stern u. Otto Lipmann), Leipzig 1931, 125f. Zit. nach: Brink, Ich schreibe, wie Anm. 2, 44. Vgl. etwa den Kommentar eines Romanhelden von Jean-Paul Sartre in „La Nausée“ (1938), in dem es hieß, er würde seine Eindrücke nicht „Tag für Tag, in ein schönes Heft einzutragen, wie die kleinen Mädchen“, zit. nach: Brink, Ich schreibe, wie Anm. 2, 96. Zit. nach: Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, MA 2006, 44.
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Diaristinnen durchaus wahrgenommen und möglicherweise internalisiert wurden, berichtete Rosa Mayreder (geb. Obermayer, 1858–1938), eine der bekanntesten Akteurinnen der Ersten Bürgerlichen Frauenbewegung in Österreich, die auch in diesem Band vertreten ist. In ihren Memoiren schilderte sie, als Mädchen ihre diaristischen Aufzeichnungen „auf einzelne Blätter, denen nichts Buchmäßiges anhaftete“ verfasst zu haben, weil ihr familiäres Umfeld dem Tagebuchschreiben abschätzig gegenübergestanden habe.48 Diese negativen Konnotationen, die mitunter sogar in literaturwissenschaftliche Darstellungen eingeflossen sind,49 belegen erneut, dass insbesondere jugendliche Tagebuchpraktiken noch im 20. Jahrhundert als ein auch irritierendes Phänomen wahrgenommen wurden – wohl umso mehr, da sie zur Mode geworden waren. Das führte dazu, dass Jugendtagebücher schon früh im Fokus von (sozial-)wissenschaftlichen Interessen standen, konkret (und nicht von ungefähr) in der Pädagogik und der Psychologie seit den 1920er Jahren. Nachhaltig rezipiert wurden aus diesem Feld insbesondere die in Wien zwischen 1923 und 1938 entstandenen Arbeiten von Charlotte Bühler (1893–1974), der Begründerin der dortigen Jugendpsychologie. Gemeinsam mit ihrer Forschungsgruppe hat sie die Auswertung von Tagebuchtexten als Methode etabliert und eine umfangreiche Quellensammlung aufgebaut, die auch die Basis für zum Teil mehrfach aufgelegte Studien sowie Tagebucheditionen bildete.50 Dabei hat Bühler zwar Burschen- und Mädchentagebücher getrennt ediert, das Tagebuchschreiben selbst – ähnlich wie alle anderen Forschenden ihrer Zeit – aber keinen dezidiert geschlechterspezifischen Fragestellungen unterzogen. Sie kam vielmehr zum Schluss, dass die „wesentlichen Eigentümlichkeiten der Pubertät“, die zu untersuchen ihr Ziel war, „beiden Geschlechtern gemeinsam“ wären.51 Die für sie ausschlaggebenden Unterschiede 48
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Rosa Mayreder, Mein Pantheon. Lebenserinnerungen. Mit einem Vorwort von Susanne Kerkovius. Dornach 1988, 33. Vgl. zum Tagebuchschreiben von Rosa Mayreder den Beitrag von Brigitte Semanek in diesem Band, sowie die Edition: Rosa Mayreder, Tagebücher 1873–1937, hg. und eingeleitet von Harriet Anderson, Frankfurt a. M. 1988. Vgl. z. B. Boerner, Tagebuch, wie Anm. 7, 52. Vgl. v. a. Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen, Jena 1921; dies., Zwei Knabentagebücher, Jena 1925; dies., Drei Generationen im Jugendtagebuch, Jena 1934. Dazu u. a. Li Gerhalter, Zwei Quellenfunde, k/ein Archiv. Die Tagebuchsammlung des Wiener Forschungsteams von Charlotte Bühler, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, 10, 2 (2010), 53–72; Melichor, „Liebesprobleme …“, wie Anm. 22, 36. Der Großteil der Originale dieser Tagebücher ist – nachdem Charlotte Bühler und ihr Ehemann Karl Bühler 1938 von der Universität Wien entlassen und ins Exil gezwungen worden waren – in der Zeit des Nationalsozialismus verloren gegangen. Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, 2. erw. u. völlig veränderte Auflage, Jena 1923, 1. Diese 1921 erstmals erschienene Studie (vgl. Anm. 50) wurde bis 1967 sechsmal aufgelegt. Eine Auswertung der von Bühler in den verschiedenen Analysen verwendeten Quellensamples hat zwei interessante Schieflagen zu Tage gefördert: Während in der Editionsreihe „Quellen und Studien zur Jugendkunde“ weitaus mehr Tagebücher von Mädchen veröffentlicht wurden als von Burschen (16 zu zwei), wurde etwa in „Das Seelenleben des Jugendlichen“ fast doppelt so häufig auf Tagebucheinträge von Burschen Bezug genommen. Vgl. Gerhalter, Quellenfunde, wie Anm. 50, 59.
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lagen vielmehr in den „Generationen“ der Jugendlichen, hier verstanden als Kohorten von Geburtsjahrgängen.52 Bühlers erste Arbeiten auf der Basis von Jugendtagebüchern entstanden zudem in Konkurrenz zu psychoanalytischen Studien, etwa in Form der von Sigmund Freud persönlich befürworteten Veröffentlichung eines Mädchentagebuchs (Erstauflage 1919) durch Hermine Hug-Hellmuth, das von Bühlers Team schließlich als Fälschung klassifiziert wurde. Die Psychologin Marianne Soff führte als Grund für diese auch wissenschaftshistorisch interessante Begebenheit den prinzipiellen Streit um den Quellenwert von diaristischen Aufzeichnungen an, da deren Inhalten „stets mit Interesse, aber auch mit Mißtrauen“ begegnet wurde – wobei in den Anfängen ihrer Beforschung in mehreren Fällen vor allem „der Ursprung“ von Tagebucheditionen, also ihre behauptete Authentizität, angezweifelt wurde.53 Der Reformpädagoge und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892–1953) stellte in dieser Kontroverse den Quellenwert von Tagebüchern zwar keinesfalls in Frage, schätzte den Grund dafür, dass Jugendliche solche Aufzeichnungen führten, aber prinzipiell anders ein als Charlotte Bühler: Sie sah darin „eine der möglichen Ausdrucksformen […] einer gesetzmäßigen und spezifischen Erlebnisweise des Reifungsalters“, die sie mit einem „Isolierungsbedürfnis“,54 an anderer Stelle auch mit der entwicklungsbedingten Kompensation einer psychologischen „Ergänzungsbedürftigkeit“ erklärte.55 Und der Quellenwert der Jugendtagebücher war für Bühler allein dadurch gesichert, dass sich die Schreibenden darin „über sich selber klar werden möchte[n]“, weswegen die Texte auch ein „gewissenhaftes, dem wissenschaftlichen [sic] ähnliches Wahrheitsstreben“ beinhalten würden.56 Bernfeld hingegen klassifizierte das jugendliche Tagebuchschreiben als einen „literarischen Brauch“ beziehungsweise eine „bestimmte Tradition“,57 die „historisch geworden [und] aus Vorstufen und
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Vgl. Bühler, Generationen, wie Anm. 50, 2–5, 9. Diese Studie definierte folgende drei Gruppen von Geburtsjahrgängen: 1880–1890, 1890–1906 und 1906–1916. Soff, Jugend, wie Anm. 28, 16f. Vgl. auch Petra Stach, Das Seelenleben junger Mädchen. Zwei Tagebücher der Jahrhundertwende in der Kontroverse zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie, in: Psychologie und Geschichte, 5, 3/4 (1994), 183–207; Julia Swindells, „What’s the Use of Books?“ Knowledge, Authenticity and A Young Girl’s Diary, in: Women’s History Review, 5, 1 (1996), 55–66. Die psychologische Tagebuchforschung wurde weder im Nationalsozialismus noch nach dem Zweiten Weltkrieg auf ähnlich intensive Weise weiterbetrieben. Jeweils als Fortführung des generationenvergleichenden Ansatzes von Bühler konzipiert waren die Studien von Waltraud Küppers (1964) mit einer Edition der Auszüge von sieben Tagebüchern sowie jene von Marianne Soff (1989); vgl. Waltraud Küppers, Mädchentagebücher der Nachkriegszeit. Ein kritischer Beitrag zum sogenannten Wandel der Jugend, Stuttgart 1964; Soff, Jugend, wie Anm. 28. Charlotte Bühler, Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, in: dies., Knabentagebücher, wie Anm. 50, V–XIV, X u. IX. Bühler, Seelenleben, wie Anm. 51, VII. Bühler, Bedeutung, wie Anm. 54, V. Bernfeld, Trieb, wie Anm. 44, 2. Die Studie wurde 1978 (Nachdruck des Originals) und 2014 (mit einem Nachwort von Ulrich Herrmann) neu aufgelegt.
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Anfängen […] im Laufe der Jahrhunderte herangewachsen“ sei.58 Er vertrat die Theorie der „Nachahmung“,59 zu der Erziehungsberechtigte und die Schule ebenso motivieren würden wie die Medien, literarische und edierte Vorbilder oder die Bewerbung im Papierhandel.60 In Abgrenzung zu Charlotte Bühler und weiteren Psychologen wertete er diaristische Aufzeichnungen zudem bereits in den späten 1920er Jahren als eine durch verschiedene Faktoren beeinflusste „Auswahl des Erlebten“,61 als eine auch historisch zu bestimmende kulturelle Praxis.62
Offene Genre-Definitionen
Diese – von Bernfeld schon früh formulierte – kulturwissenschaftlich gewichtete Interpretation kann über das Jugendtagebuch hinaus verallgemeinert werden und führt direkt in die aktuellen Genre-Diskussionen. Sie sehen das Tagebuchschreiben in diachroner wie synchroner Hinsicht eher als äußerst bewegliche, sich stets aufs Neue veränderbare Praxis, die vorherrschenden Gattungsdefinitionen ebenso folgt wie sie diese negieren oder verändern kann. Vor einem solchen Hintergrund wird nunmehr ein offener Genrebegriff vertreten, was die Literaturwissenschaftlerin Christiane Holm kürzlich folgendermaßen dargelegt hat: „Die Versuche, das Tagebuch zu beschreiben, setzen häufig bei der Unmöglichkeit an, es zu definieren. Und angesichts seiner inhaltlichen wie medialen Elastizität ist es schwierig, trennscharf verschiedene Tagebuchtypen zu unterscheiden.“63 Die Notwendigkeit eines offenen Genre-Begriffs erschließt sich rasch, wenn möglichst die ganze Bandbreite solcher Aufzeichnungen in den Blick genommen wird – und zwar in Hinblick auf die verwendeten Schreibunterlagen ebenso wie in Hinblick auf die unterschiedlichen diaristischen Textformen oder wiederum offen zu konzipierenden Sub-Genres. Dann stehen etwa die angeblich ‚typischen‘ Mädchentagebücher mit Schlüssel und Gold58
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Bernfeld, Trieb, wie Anm. 44, 1. Da eine „Geschichte des Tagebuchs […] bisher noch nicht geschrieben worden“ sei, fügte Bernfeld dieser psychologischen Arbeit 1931 einen knappen historischen Abriss bei (ebd., 108–124). Vgl. auch ders., Historische Jugendtagebücher, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, 30 (1928), 174–179. Bernfeld, Trieb, wie Anm. 44, 6. Vgl. Bernfeld, Trieb, wie Anm. 44, 127ff. Siegfried Bernfeld, Die heutige Psychologie der Pubertät. Zur Kritik ihrer Wissenschaftlichkeit. Sonderabdruck aus Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, hg. von Sigmund Freud, XIII, Leipzig/Wien/Zürich 1927, 45. Vgl. dazu auch den programmatisch betitelten Aufsatz von Nicole Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, in: Hof/Rohr, Erfahrung, wie Anm. 2, 39–60. Holm, Montag, wie Anm. 30, 39. Dieses Charakteristikum der „‚uncertain‘ nature between literary and historical writing“ habe Literaturwissenschaftler_innen auch „frustrated“, wie es der Historiker Jochen Hellbeck ausgedrückt hat. Ders., The Diary between Literature and History. A Historian’s Critical Response, in: The Russian Review, 63 (2004), 621–629, 621.
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prägung neben regelmäßigen Einträgen, die in vorgedruckte Kalender, einfache Schreibhefte oder sogar auf lose Blätter gemacht werden – was wiederum durchlässig war, das heißt auch innerhalb des Tagebuchs einer Person wechseln konnte.64 Oder es finden sich primär introspektiv gehaltene, auf individuelle Gefühle und Selbstentwürfe fokussierte Tagebücher neben von Rechenhaftigkeit bestimmten, immer wieder auch diaristisch verfahrenden Haushaltsbüchern, und ‚schwärmerische‘ Pubertätstagebücher kontrastieren mit stärker dokumentarisch oder chronikartig ausgerichteten Reise-, Kriegs-, Familien- und ‚Zeitzeugen-Tagebüchern‘,65 die alle wiederum auch literarisch gestaltet sein können. Zudem sind die Grenzen zu anderen Arten von Selbstzeugnissen prinzipiell offen, was nicht nur beim Brieftagebuch66 augenscheinlich wird; viele diaristische Aufzeichnungen enthalten außerdem längere oder kürzere retrospektive Passagen, nähern sich so als Erinnerungstext also auch der Autobiographie. Diese vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Tagebuchs können im Laufe des Schreibens auch ineinander übergehen, weil sich die Lebenssituation ihrer Verfasser_innen geändert hat, oder einfach deren Schreibmotivation.67 Je nach Kontext, in dem ein Tagebuch geführt wurde, kann es außerdem der Ort für sehr unterschiedliche Selbstentwürfe oder Strategien der Selbstwahrnehmung und -disziplinierung sein. Diese konnten noch im 20. Jahrhundert, das heißt lange, nachdem es in Europa angeblich den das autobiographische Schreiben bestimmenden ‚Durchbruch‘ eines Primats der Individualität gegeben hat,68 stark religiös motiviert sein,69 zunehmend aber auch politisch. Diesbezüglich kam es von Seiten politischer Regime immer wieder zu verschiedenen Bemühungen um das Tagebuchschreiben, was sowohl massiv vorangetriebene Instrumentalisierungen solcher Schreibkulturen als auch gewaltsame Übergriffe durch die Beschlagnahme persönlicher Aufzeichnungen nicht nur, aber insbesondere im Nationalsozialismus inkludierte.70 Auch das ‚moderne‘ Tagebuch ist daher, wie alle Selbstzeugnisse, im mitunter 64 65
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Vgl. Hämmerle, Ort, wie Anm. 38; Gerhalter, Materialitäten, wie Anm. 31; dies., „Ordentliches Tagebuch“, wie Anm. 27. Vgl. zu diesem Begriff Wolfgang Hardtwig, Der Literat als Chronist. Tagebücher aus dem Krieg 1939–1945, in: ders. u. Erhard H. Schütz Hg., Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, 147–180, 149. Vgl. die eindringliche Analyse eines Beispiels in Edith Saurer, „Aber wie unendlich weit ist diese Stimme …“. Nähe und Erinnerung in Otto Leichters Brieftagebuch, geschrieben in der Pariser Emigration 1938/39, in: Christa Hämmerle u. Edith Saurer Hg., Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute, Wien/Köln/Weimar 2003, 219–234. Vgl. als Fallbeispiel dazu u. a. auch den Beitrag von Ulrich Schwarz in diesem Band; sowie allgemein Gerhalter, „Ordentliches Tagebuch“, wie Anm. 27; Hämmerle, Nebenpfade, wie Anm. 35, 151–163. Vgl. dazu u. a. die sich auch kritisch gegen das Paradigma des Zusammenhangs von Individualität und autobiographischem Schreiben wendenden Arbeiten der DFG-Forschungsgruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“, z. B. Jancke/Ulbrich, Individuum, wie Anm. 36; Claudia Ulbrich, Hans Medick u. Angelika Schaser Hg., Selbstzeugnis und Person – Transkulturelle Perspektiven, Köln/Weimar/Wien 2012. Vgl. dazu auch den Beitrag von Veronika Helfert in diesem Band. Vgl. etwa Hardtwig, Literat, wie Anm. 65; Christa Hämmerle, Between Instrumentalisation and
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nur aufwendig zu entschlüsselnden Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Individuum angesiedelt und folglich nicht einfach ‚privat‘ oder ‚intim‘, obwohl gerade das als langlebiges „Gespenst unserer Köpfe“71 auch die Gattungsdefinitionen entscheidend bestimmt hat. Folglich kann ein Tagebuch selbst dann nicht als ausschließlich ‚privat‘ gelesen werden, wenn darin zum Beispiel ein Mädchen ‚nur‘ Alltägliches – über ihre Familie, die Schule und Freundschaften, ihr ‚Schwärmen‘ und Beten – festgehalten hat.72 Jegliches auto/biographische Schreiben hatte immer auch geschlechterpolitische, womöglich schicht- und religionsbezogene, jedenfalls aber gesellschaftliche Hintergründe und Implikationen, war und ist von bestehenden Schreibkulturen geprägt – weshalb es ja schließlich auch veröffentlicht werden, das heißt von breiterem Interesse sein konnte.73 Der hier vertretene offene Begriff des Tagebuchs verwirft damit auch eindimensional wirkende Einschätzungen wie zum Beispiel jene, dass Tagebucheinträge als formlose ‚Gebrauchstexte‘74 mit monologischem Charakter, die außer den Schreibenden selbst kein Publikum adressierten, keinem ästhetischem Anspruch folgen würden. Diesem „Topos der Formlosigkeit“75 ist der Aspekt der „Überformung“ (Nachahmung) entgegen zu halten,76 der sich aus der oben schon angedeuteten Orientierung der Schreibenden an Editionen oder fiktionalen literarischen Texten mit Vorbildcharakter, aber auch im Zuge des Austauschens von Tagebüchern unter Freundinnen, Familienmitgliedern oder Liebespaaren etc. ergeben kann. Zudem liegt jedem Schreiben ganz prinzipiell eine auf der Ebene der Sprache gegebene Struktur zugrunde,77 so wie die ebenfalls schon angesprochenen Schreibunterlagen, zumeist gebundene Bücher oder Hefte aus dem kommerziellen Papierhandel, jeweils eigenen Formvorstellungen folgen. Der „Topos des Monologischen“78 wiederum missachtet den Umstand, dass viele Tagebücher auf andere Personen zugeschrieben sind oder, wie etwa im Falle der viel zitierten „Liebe[n] Kitty“ bei Anne Frank (1929–1945), sogar explizit an ein Alter Ego adressiert werden. Mitunter wird diesbezüglich überhaupt eine „dialogische Grundstruktur des Tagebuchs“ vermerkt, die sich, abgesehen von der häufig überlieferten Praxis des Wieder- und Vorlesens solcher Texte, auch aus seiner Selbstreferenzialität – einem
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Self-Governing: (Female) Ego-Documents in the Age of Total War, in: François-Joseph Ruggiu Hg., Les usages des écrits du for privé. Afrique, Amérique, Asie, Europe, Oxford u. a. 2013, 263–284; zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 6, 71. Solche Beispiele finden sich in Selbstzeugnis-Archiven häufig überliefert. Vgl. Nussbaum, Conceptualizing Diary, wie Anm. 11, 5; Huff, Women’s Diaries, wie Anm. 30, ix–xxxvi. „[The] ordinary writer is writing for use“, behauptete etwa Jennifer Sinor, The Extraordinary Work of Ordinary Writing: Annie Ray’s Diary, Iowa City 2002, 13f. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 6, 68. Vgl. dazu sowie zum Folgenden auch den Beitrag von Arno Dusini in diesem Band. Holm, Montag, wie Anm. 30, 35. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 6, 68. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 6, 68.
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schriftlichen Dialog mit „diesem andern, der man selbst ist“ (Elias Canetti) – ergibt.79 Dadurch folgt das diaristische Schreiben einer „latent vorhandenen Adressierung“,80 die freilich – das muss aus frauen-/geschlechtergeschichtlicher Perspektive mit Nachdruck ergänzt werden – aufgrund der bereits angesprochenen, geschlechtsspezifisch differierenden Zugänge zu den Sphären der ‚Öffentlichkeit‘ und der ‚Privatheit‘ sehr verschieden ausfallen kann. In Anlehnung an Arno Dusinis richtungsweisende Dekonstruktion gängiger Gattungstopoi ist außerdem der häufig betonte Aspekt der „Unmittelbarkeit“ der Tagebucheinträge kritisch zu hinterfragen. Dass diese „sozusagen noch fast im Angesicht des Erlebten und Erfahrenen“ verfasst werden und daher „kein Zusammenfassen aus späterer Einsicht und nachgewachsenem Verständnis heraus“ zulassen,81 greift jedenfalls zu kurz, selbst wenn diaristische Aufzeichnungen im Prinzip klar durch die Erzählfigur „Tag“ (das Datum) strukturiert sind.82 Denn häufig werden in einem einzigen Eintrag auch mehrere Zeitebenen miteinander verwoben, wodurch weiter Zurückliegendes ebenso präsent sein kann wie die unmittelbare Vergangenheit, die mit der Gegenwart, etwa der konkreten Schreibsituation, verbunden wird – was den Eindruck oder Effekt von ‚Authentizität‘ wohl noch verstärkt.83 Und nicht zuletzt werden in Diarien (insbesondere, aber nicht nur von Jugendlichen) Pläne und Wünsche für die Zukunft – oder sogar fiktionale Versionen davon – formuliert.84 Das führt uns wieder zurück zu einem schon angesprochenen, besonders wichtigen Theorem für die Analyse historischer Tagebücher: Ihre Verfasser_innen versuchen darin in Verbindung mit einer großen Bandbreite möglicher Funktionen und Inhalte in unterschiedlicher Form ihr wie auch immer figuriertes, sich veränderndes, je nach Kontext stets neu entworfenes ‚Selbst‘ zu artikulieren – was auch für heranwachsende Mädchen des 19. Jahrhunderts zutraf, ungeachtet aller Normierungen ihres Geschlechts, denen sie schreibend entsprechen sollten.85 Um der historischen Vielfalt und Heterogenität verschiedener Tagebuchkulturen und -praktiken gerecht zu werden, kann der dem Tagebuch als selbstbezogenem Genre zugrunde gelegte Subjektbegriff also kein essentialistischer sein – nicht zuletzt, weil damit ein Großteil der historisch fassbaren Selbstpositionierungen von Mädchen und Frauen in ihren Tagebüchern unberücksichtigt bliebe. Er kann auch nicht einfach in einem linear verlaufenden Entwicklungsprozess ‚moderner‘ Subjektivität verortet werden, die sich ebenso als – besonders wirkmächtiges – Konstrukt erweist, das kritisch zu hinterfragen ist. Vielmehr gilt – um es nochmals deutlich zu formulieren –, dass Selbst- oder Personkon79 80 81 82 83 84 85
Holm, Montag, wie Anm. 30, 30, 34. Holm, Montag, wie Anm. 30, 31. Wuthenow, Tagebücher, wie Anm. 7, 1f. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 6, 83–108; zum Datum als Basis des Tagebuchs vgl. auch Lejeune/Bogaert, Journal Intime, wie Anm. 24, 23. Vgl. auch Seifert, Praxis, wie Anm. 62, 51. Vgl. Hämmerle, Ort, wie Anm. 38, 27ff. Vgl. dazu den programmatischen Titel von Philippe Lejeune, Le moi des demoiselles. Enquête sur le journal de jeune fille, Paris 1993.
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zepte86 genuin historische Phänomene sind und dass demnach auch noch so introspektiv gehaltene Tagebucheinträge nicht einfach als ‚authentische‘ Aussagen über frühere Individualität und Subjektivität, Erfahrung und Sinnstiftung gewertet werden können. Die Kategorie Geschlecht ist, neben anderen Faktoren, diesbezüglich eine maßgebliche Determinante – vor allem ab der ‚Moderne‘, als die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz zum hegemonialen Deutungsmuster wurde. Das belegen, neben anderen Selbstzeugnissen, in einer Langzeitperspektive auch (populare) Tagebücher; nicht von ungefähr wurden sie folglich als Quellen der Frauen- und Geschlechterforschung zunehmend prominent.87 In ihrer Analyse zeigten sich die darin zum Ausdruck kommenden Selbstpositionierungen von Mädchen und Frauen von Ambiguität, Ambivalenz und Flüchtigkeit geprägt, was eng mit deren begrenzten oder behinderten Handlungsräumen und -chancen korreliert.88 Das klassische Konzept eines ‚universellen‘ Subjekts, das in Wirklichkeit immer auf das männliche und westliche Individuum bezogen war, konnte so nachhaltig dezentriert werden89 – was im Zuge des linguistic turn bis hin zur Postulierung eines allein durch Sprache beziehungsweise im Text konstruierten, multiplen ‚Selbst‘ ging, welches nun verabsolutiert wurde.90 In der anhaltenden, oft von einer dichotomischen Setzung geprägten Diskussion um „Diskurs“ oder „Erfahrung“ wurden solche Positionen wiederum relativiert, etwa mit dem Verweis darauf, dass eine „gewissermaßen amputierte Kategorie Erfahrung“ ihrer eigentlichen Komplexität beraubt würde und damit „keine Erinnerung und keine Emotion mehr [umfasse]“, wie Kathleen Canning es formuliert hat.91 Sie erinnerte dabei unter ande86
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Der Begriff „Personkonzept“ wurde – in kritischer Ablehnung des universalistischen (realiter männlich-westlichen) Konzepts von Individualismus – im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ erarbeitet und erprobt; vgl. v. a. den Abschlussband Ulbrich/ Medick/Schaser, Selbstzeugnis, wie Anm. 68; sowie David Sabean u. Claudia Ulbrich, Personkonzepte in der Frühen Neuzeit, in: Claudia von Braunmühl Hg., Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog, Berlin 2003, 99–112. Vgl. Blodgett, Centuries, wie Anm. 19, 3. Vgl. Cottam, Diaries, wie Anm. 19, 269. Vgl. dazu auch Denise Riley, The Words of Selves. Identification, Solidarity, Irony, Stanford 2000, oder mehrere Beiträge in: Sidonie Smith u. Julia Watson Hg., Women, Autobiography, Theory. A Reader, Wisconsin 1998. Cottam, Diaries, wie Anm. 19, 269; vgl. auch Anm. 86. Dieses könne „only adopt positions within the language available at a given moment“, schreibt etwa Nussbaum, Conceptualizing Diary, wie Anm. 11, 6. Kathleen Canning, Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen Narrativität und Materialität, in: Historische Anthropologie, 10, 2 (2002), 163–182. Vgl. außerdem etwa Ute Daniel, Erfahrung – (k)ein Thema der Geschichtstheorie, in: L’Homme. Z. F. G., 11, 1 (2000) Normale Arbeitstage, 120– 124; Ute Planert, Zwischen Alltag, Mentalität und Erinnerungskultur an der Schwelle zum nationalen Zeitalter, in: Nikolaus Buschmannn u. Horst Carl Hg., Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2001, 51–66, sowie Marguérite Bos, Bettina Vincenz u. Tanja Wirz Hg., Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffes in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung, Zürich 2004.
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rem an das von Geoff Eley und Alf Lüdtke entwickelte Konzept „Eigensinn“, das – notwendigerweise – eine Verbindung zwischen Strukturen und Akteur_innen schafft und auf Prozesse der „Aneignung […] struktureller oder diskursiver Bedrängnisse“ setzt.92 Ähnlich sollte die Frauen- und Geschlechtergeschichte, trotz vieler Überlieferungslücken und „Fehlstellen“ in den Quellen, die unfruchtbare Dichotomie von „Diskurs“ und „Erfahrung“ auflösen, etwa indem sie Studien zu Materialität, Körper und Subjektivität auch erfahrungsgeschichtlich perspektiviert.93 Wie auch immer sich Tagebuch-Forscher_innen diesbezüglich positionieren: Sie gehen heute primär davon aus, dass das Genre ganz generell „by its hybridity and diversity“ zu charakterisieren ist94 und dass seine verschiedenen Kontexte und seine Textualität wie seine Materialität in einem jeweils auszulotenden Spannungsverhältnis stehen und ineinander verschränkt sind. Um einer solchen Vielfalt und Komplexität jeglichen diaristischen Schreibens gerecht zu werden und um normative Zuweisungen zu vermeiden, wurde auch vorgeschlagen, insbesondere nach den Funktionen zu fragen, die das Führen eines Tagebuchs für die jeweilige Schreiberin oder den jeweiligen Schreiber in bestimmten Kontexten hatte.95 Das können – ineinander verwoben oder in wechselnder Abfolge – verschiedene „Ich-Funktionen“ sein, wie „die Erinnerung, die Katharsis, die Selbstanalyse, die Selbsthypnose, die Denk- und Glaubenshilfe oder die Werkstatt“,96 oder aber Alltags- und Arbeitsdokumentation, Rechenhaftigkeit, die Chronik ‚äußerer‘ Ereignisse etc. Dabei sollten, wiederum nach Christiane Holm, auch lebenslang geführte Tagebücher von den temporär konzipierten und dabei thematisch meistens sehr einschlägig gestalteten Aufzeichnungen unterschieden werden, die aus einem konkreten Anlass, in einer besonderen Lebenssituation oder vielleicht auf
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Canning, Dichotomien, wie Anm. 91, 164, u. a. Bezugnehmend auf Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Aneignung und Akteure. Oder – es hat kaum begonnen!, in: Werkstatt Geschichte, 17 (1997), 83–91; ders., Organizational Order or Eigensinn? Workers’ Privacy and Workers’ Politics in Imperial Germany, in: Sean Wilentz Hg., Rites of Power, Symbolism, Ritual and Politics since the Middle Ages, Philadelphia 1985, 303–333; Geoff Eley, Labour History, Social History, Alltagsgeschichte: Experience, Culture, and the Politics of Everyday – a New Direction for German Social History?, in: Journal of Modern History, 61, 2 (Juni 1989), 297–343. Canning, Dichotomien, wie Anm. 91, 170. Cottam, Diaries, wie Anm. 19, 268; vgl. auch Sidonie Smith u. Julia Watson Hg., Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives, Minneapolis/London 20102, 18. Vgl. etwa Brink, Ich schreibe, wie Anm. 2, 46–53; Seifert, Tagebuchschreiben, wie Anm. 62, 46–49; oder Christa Hämmerle, Trost und Erinnerung. Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946), in: dies. u. Li Gerhalter Hg., unter der Mitarbeit von Ingrid Brommer u. Christine Karner, Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg (1938–1946), Wien/Köln/Weimar 2010, 1–60; dies., (Über-)Leben in einer „nicht privilegierten Mischehe“: Das Tagebuch der Therese Lindenberg (1938–1946). Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte (2012), unter: www.europa.clio-online.de, Zugriff: 1.6.2015. Holm, Montag, wie Anm. 30, 11.
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einer Reise geführt wurden.97 Solche oft zeit- und schichttypischen sowie von der herrschenden Geschlechterdifferenz bestimmte Verwendungsweisen und Funktionen des Schreibens zentral zu setzen, ist jedenfalls ein viel versprechender Ansatz, da er von letztlich unergiebigen Genre-Debatten wegführt hin zur Frage nach dem sozialen Gebrauch diaristischer Textformen – etwa in Kriegs- und (biographischen) Krisenzeiten oder im Spannungsfeld zwischen Widerstand und Anpassung eines Menschen an gesellschaftliche Konventionen oder Moden.98 Für die wissenschaftliche Auswertung der Tagebucheinträge als Texte99 ist eine mediale, biographische und historische Kontextualisierung dann auch entsprechend grundlegend.100
Krieg und Politik in Tagebüchern des 20. Jahrhunderts
Vieles vom bisher Gesagten zeigt sich auch in jenen von Politik und Krieg ihrer Zeit geprägten Schreibpraxen, die im Zentrum dieses Sammelbandes stehen. Sie sind Beispiele dafür, dass das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), mit seinen vielen Bürgerkriegen und politischen Umbrüchen, den totalitären Regimes, den beiden Weltkriegen und dem Holocaust, auch unter Frauen und Mädchen eine überaus große Zahl von verschiedensten diaristischen Aufzeichnungen generiert hat. Diese manifestierte sich in Form eines angesichts solcher Verhältnisse überhaupt erst aufgenommenen Schreibens ebenso wie im Umstand, dass seit längerem geführte Diarien nun intensiver genutzt wurden. Ein in der Selbstzeugnisforschung immer wieder betonter Zusammenhang zwischen der Abfassung autobiographischer Texte und Zeiten der eigenen wie der gesamtgesellschaftlichen Krise, von Krieg, Extrem- und Gewalterfahrungen, die sich gerade im 20. Jahrhundert so massiv häuften, wird damit eindringlich belegt.101 Vor dem Hintergrund der weiter vorne skizzierten Popularisierung des ‚privaten‘ Schreibens war dabei schon der Erste Weltkrieg ein regelrechter 97 98
Vgl. Holm, Montag, wie Anm. 30, 40f. Vgl. z. B. Christa Hämmerle, „Il libricino da chiudere a chiave“. Diari popolari femminili dell’OttoNovecento, in: Anna Iuso Hg., Scritture di donne. Uno sguardo europeo, Arezzo 1999, 33–51. 99 Vgl. dazu Benjamin Ziemann u. Miriam Dobson, Introduction, in: dies., Primary Sources, wie Anm. 5, 1–18. 100 Vgl. Hämmerle, Diaries, wie Anm. 5, 150; Edith Saurer, Auf der Suche nach dem Kontext: Diskussionen und Probleme in der Geschichtswissenschaft. Am Beispiel der nie abgesandten Briefe Otto Leichters an seine Frau Käthe Leichter (Paris 1938/39), in: Oswald Panagl u. Ruth Wodak Hg., Text und Kontext. Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinären Vergleich, Würzburg 2004, 219–234. 101 Schon im Dreißigjährigen Krieg ist ein Anstieg solcher Texte zu verzeichnen; vgl. v. a. Benigna von Krusenstjern, Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis, Berlin 1997; dies. u. Hans Medick, Zwischen Alltag und Katastrophe – Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999; für das 20. Jahrhundert etwa Volker Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 29, 3 (2003), 441–476.
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Katalysator in diese Richtung, wovon neuerdings auch die vielen im Zuge des Erinnerungsjahres 2014 wieder aufgefundenen, online gestellten, edierten und erforschten Tagebücher aus 1914 bis 1918/19 zeugen.102 Eine solche ‚Konjunktur‘ setzte sich in den politisch wie ökonomisch instabilen Nachkriegsjahren fort – mit neuen Höhepunkten ab 1933 und 1939, wie wir noch sehen werden. Gleichzeitig belegen die Beiträge dieses Sammelbandes, dass sich gesellschaftliche Umwälzungen, Totalitarismus und die Katastrophen der beiden Weltkriege in komplexer Weise selbst in jene Tagebücher von Mädchen und Frauen eingeschrieben haben, die sich weiterhin primär dem ‚Privaten‘ und ‚Alltäglichen‘ widmeten oder stark introspektiv ausgerichtet waren. Wie eng die Relationen und Verschränkungen zwischen den in diaristischen Aufzeichnungen behandelten Themen zum im weiten Sinne definierten Feld von Politik103 und Krieg sind, hat die Forschung in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten gezeigt – teilweise auch für populare Tagebücher.104 So hat etwa Jochen Hellbeck in seiner vorne schon zitierten Studie über „Writing a Diary under Stalin“ (2006) nicht nur untersucht, dass auch im totalitären System der Bolschewiki sowohl Jugendliche als auch Frauen und Männer, Angehörige des Proletariats wie der Intelligenzija, in bisher unbekanntem Ausmaß ‚private‘ Tagebücher verfasst haben, die er nach der Öffnung der sowjetischen Archive recherchiert und systematisch ausgewertet hat. Sie fügen sich hier in eine Entwicklung der Propagierung spezifischer Formen des Tagebuchschreibens nach 1917, als (entgegen zählebiger Annahmen) die Ausbildung von „personality“ oder der „appeal to the self“ auch für die kommunistische Ideologie zentral wurden.105 Die Diarist_innen bezogen das revolutionäre Narrativ beziehungsweise die kommunistischen Konzepte der ‚New Woman‘ und des ‚New Man‘ in ihre Selbstentwürfe mit ein, und viele von ihnen nahmen die Zeit, in der sie lebten, als außergewöhnliche historische Epoche wahr. „[T]o be aligned with history“ war ihnen ein Anliegen, das durchaus „work and struggle“ erforderte106 – auch in ihren Tagebüchern, die sie dann teilweise über Jahrzehnte führten. Durch die minutiöse Analyse dieser Quellen, wenn möglich in Verbindung mit anderen Selbstzeugnissen derselben Personen, lässt sich 102 Vgl. dazu u. a. die Online-Edition „Der erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen von Frauen“, hg. von Christa Hämmerle u. Li Gerhalter, unter: www.univie.ac.at/Geschichte/salon21/?cat=157 sowie die vielen Beispiele auf Europeana, unter: www.europeana1914-1918.eu/de, Zugriffe: 1.6.2015. 103 Vgl. etwa Eva Kreisky, Gegen „geschlechthalbierte Wahrheiten“. Feministische Kritik an der Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum, in: Eva Kreisky u. Birgit Sauer Hg., Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York 1995, 27–62. 104 Vgl. dazu auch den Beitrag von Veronika Helfert in diesem Band. 105 Hellbeck, Revolution, wie Anm. 47, 13. Aus den 1930er Jahren vgl. dazu als deutsche Übersetzungen u. a. die Aufzeichnungen der Tochter eines Revolutionärs in: Nina Lugowskaja, „Ich will leben.“ Ein russisches Tagebuch 1932–1937, München/Wien 2005; die Tagebücher des jungen Ukrainers Stepan Podlubnyi in: Jochen Hellbeck Hg., Tagebuch aus Moskau 1931–1939, München 1996, oder die gesammelten Aufzeichnungen von sieben Schreiber_innen in: Véronique Garros, Natalija Korenewskaja u. Thomas Lahusen Hg., Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalinzeit, Berlin 1998. 106 Hellbeck, Revolution, wie Anm. 47, 54f.
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ein komplexes „working of socialist subjectivity“ als dynamisches Wechselspiel von Ideologie und individuellen Handlungsspielräumen nachvollziehen, was in der Erforschung totalitärer Systeme auf solche Weise bislang kaum geleistet wurde.107 Dass politische und damit oft verknüpfte existentielle Ausnahmesituationen zu einer Veränderung und Zunahme individueller Schreibbedürfnisse führen, gilt umso mehr für die Zeit des nationalsozialistischen Regimes und des Holocaust. In ihm wurde der Aspekt des Zeugnis-Ablegens in Form von autobiographischem Schreiben zentral, wie etwa – auch auf der Basis zahlreicher unveröffentlicht gebliebener Tagebücher von jüdischen Menschen, die meist in Ghettos oder im Versteck geschrieben wurden – Alexandra Garbarini herausgearbeitet hat.108 Ihr zufolge übermitteln solche Niederschriften zwar nicht all die schrecklichen Erfahrungen der Diarist_innen, aber „they do shed light on their efforts to make meaning of and understand their experiences. Diarists were themselves conscious of the incomplete nature of their chronicles, yet this in no way undermined the importance of the people reading their accounts. Their pages clamor with the desire to be read.“109 Aus jenen Jahren datieren jedoch nicht nur weit mehr Tagebuchaufzeichnungen von ausgegrenzten und entrechteten, geflüchteten und verfolgten, in Ghettos und Konzentrationslagern eingeschlossenen (jüdischen) Menschen, als lange angenommen wurde110 – was auch von außen angeregt sein konnte und so bereits existierende Schreibmotivationen noch verstärkte.111 Das Phänomen einer stark zunehmenden Diaristik gilt ebenso für die Seite 107 Hellbeck, Revolution, wie Anm. 47, 12. 108 Alexandra Garbarini, Numbered Days. Diaries and the Holocaust, New Haven/London 2006. Zur Komplexität der „Traumatic Cultural Memory“ vgl. u. a. Julia Epstein u. Lori Hope Lefkovitz, Shaping Losses. Cultural Memory and the Holocaust, Urbana/Chicago 2001; vgl. auch Ulrich Baer Hg., „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a. M. 2000; Magdalena Heuser, Holocaust und Gedächtnis: Autobiographien, Tagebücher und autobiographische Berichte von verfolgten Frauen, in: Ortrun Niethammer Hg., Frauen und Nationalsozialismus. Historische und kulturgeschichtliche Positionen, Osnabrück 1996, 83–99. 109 Garbarini, Numbered Days, wie Anm. 108, xiii. 110 Als Beispiele: Viktor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen zum letzten. Tagebücher 1933–1945, I–VIII, hg. von Walter Nowjski, Berlin 1995; Renata Laqueur, Bergen-Belsen Tagebuch 1944/45, aus dem Niederländischen übersetzt von Peter Wiebke, Hannover 1983; dies., Schreiben im KZ. Die Tagebücher 1940 bis 1945, Bremen 1992; Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941– 1943, Reinbek 1990; Hélène Berr, 1942–1944. Mit einem Vorwort von Patrick Modiano und einem Nachwort von Mariette Job, aus dem Französischen von Elisabeth Edl, München 2009; Ruth Maier, „Das Leben könnte gut sein.“ Tagebücher 1933 bis 1942, hg. von Jan Erik Vold, aus dem Norwegischen von Sabine Richter, München 2008; Willy Kohn, Kein Recht. Nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941, 2 Bde., hg. von Norbert Conrads, Köln/Weimar/Wien 2007; Drahomír Bárta, Tagebuch aus dem KZ Ebensee, hg. von Florian Freund u. Verena Pawlowsky, Wien 2005; Lindenberg, Jahre, wie Anm. 95; vgl. auch den Beitrag von Ingrid Brommer und Christine Karner in diesem Band. 111 Das zeigt auch das Beispiel von Anne Frank: Die Exilregierung rief die niederländische Bevölkerung Ende März 1944 durch das Auslandsradio auf, die deutsche Okkupation zu dokumentieren, was sie im Versteck hörte und was sie zur Überarbeitung ihres Tagebuchs veranlasste. Sie hatte das Tagebuch 1942 zum Geburtstag bekommen. Vgl. Hämmerle, Diaries, wie Anm. 5, 141.
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der ‚deutschen Volksgemeinschaft‘, die ihre spezifische Tagebuchkultur entfaltete – in einem Ausmaß, dass das Tagebuch in der Forschung sogar „als populäre Gattungsform des Nationalsozialismus“ gewertet wurde.112 So haben etwa viele ‚reichsdeutsche‘ Kinder und Jugendliche Kriegstagebücher verfasst,113 was wiederum in Schulen angeleitet oder durch Zeitschriften propagiert wurde.114 Manche dieser stark dokumentarisch ausgerichteten Aufzeichnungen enthalten (wie schon Beispiele aus dem Ersten Weltkrieg) wortwörtliche Abschriften von Frontberichten oder Montagen von Zeitungsausschnitten. Zu den diaristischen Praktiken ‚arischer‘ Frauen hat die Historikerin Susanne zur Nieden, von der die gerade zitierte Einschätzung über die Bedeutung des Tagebuchschreibens im Nationalsozialismus stammt, bereits 1993 eine grundlegende Studie veröffentlicht, worin sie auch jene „Tradition“ nachzeichnete, die das „Schreiben im Krieg“ in den 1940er Jahren bereits hatte.115 Sie verweist darauf, dass Selbstzeugnisse schon im Ersten Weltkrieg oft zu propagandistischen Zwecken veröffentlicht und somit auch gelesen worden waren,116 was in den Jahren 1939 bis 1945 noch in weit stärkerem Ausmaß geschah. Verschiedene Seiten lancierten nun Aufrufe an die Soldaten wie an die Zivilbevölkerung, damit diese kriegs- und politikaffine Aufzeichnungen beispielsweise zum Abdruck in Zeitungen einsenden. Ein wichtiger Aspekt, der das förderte, war erneut die immense Verbreitung der Feldpostkommunikation, wodurch sich auch viele Menschen, die zuvor möglicherweise weniger geschrieben hatten, Übung im schriftlichen Ausdruck erwarben.117 Dies sowie die zunehmenden Widrigkeiten des Postverkehrs, und vor allem der Einbruch unmittelbarer Kriegsgewalt durch Luftangriffe auch in die ‚Heimat‘, wertete zur Nieden als Gründe dafür, dass ‚reichsdeutsche‘ Frauen und Mädchen ab 1943, insbesondere aber im Frühjahr und Sommer 1945, verstärkt damit begannen, ein Tagebuch zu führen118 – ähnlich wie Soldaten und vom NS-Regime Verfolgte es schon seit Kriegsbeginn getan hatten. Ihren Ergebnissen zufolge tendierten die Diaristinnen dabei dazu, das äußere Geschehen zu dokumentieren, während Selbstreflexionen oder Introspektion eher in den Hintergrund treten konnten.119 Trotz der zunehmend drastischer werdenden Situation und der absehbaren Niederlage des Dritten Reiches identifizierten sich viele der Schreiberinnen in ihren Selbstbildern außerdem bis zuletzt mit dem nationalsozialistischen Frauenbild, während sie umgekehrt die Existenz von Konzentrationslagern oder Deportationen, Zwangsarbeiter_innen und Andersdenkenden 112 Zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35, 26, 59–69. 113 Eine große Auswahl solcher Tagebücher von beiden Seiten wurde ausgewertet in: Nicholas Stargardt, Witnesses of War. Children’s Lives under the Nazis, London 2005. 114 Vgl. Hämmerle, Instrumentalisation, wie Anm. 70, 268. 115 Zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35, 59. 116 Vgl. für Feldpostbriefe v. a. Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997. 117 Vgl. zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35, 75, 65f. 118 Zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35, 73. Vgl. dazu auch die Beiträge von Helen Steele und Benjamin Möckel in diesem Band. 119 Vgl. zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35, 56.
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aus ihren Tagebüchern fast gänzlich ausklammerten.120 Schicksale wie jenes von Anne Frank, die zu fast derselben Zeit in den besetzten Niederlanden ihr Mädchentagebuch verfasst hat, verblieben damit selbst in diesen ‚privaten‘ Aufzeichnungen deutscher Frauen und Mädchen in einer gänzlich ausgeblendeten Welt der Verfolgung und Vernichtung. Inwieweit sind demnach Tagebücher, die in jenen Jahren auf beiden Seiten der völlig entzweiten Gesellschaft entstanden, überhaupt miteinander vergleichbar? Hatten sie in der Situation ,totaler‘ Kriege auch die übergreifende Funktion eines „governing oneself“ oder, mit anderen Worten, des Versuchs „not to lose self-control and self-evidence despite all the catastrophes around“, wie Christa Hämmerle kürzlich vorgeschlagen hat? Dabei nimmt sie nicht zuletzt die lange Tradition der diaristischen Selbsterziehung und -disziplinierung seit dem 18. Jahrhundert in den Blick, die weiter vorne am Beispiel der Geschichte des Mädchentagebuchs diskutiert wurde und im Foucault’schen Sinne als Zusammenspiel von Macht und Prozessen der Subjektivierung, beziehungsweise von Subjektivität oder Selbstkonstruktion und Gouvernementalität, zu konzipieren wäre.121 Diente die Diaristik des 20. Jahrhunderts, mit seinem „Katastrophenzeitalter“, ebenfalls solchen Ausrichtungen des schreibend stets neu entworfenen ‚Selbst‘? Und welche Unterschiede ergeben sich diesbezüglich, wenn die Kategorie Geschlecht dabei mit Fragen nach ‚Alltag‘ wie nach ‚Politik‘ verwoben wird? Die Beiträge in diesem Band können zu dieser Diskussion beziehungsweise zu solchen inhaltlichen Dimensionen oder Funktionen des Tagebuchschreibens neue Aspekte beitragen – auf unterschiedliche Art und Weise. Veronika Helfert analysiert dazu die Tagebücher der schriftstellerisch tätigen Wienerin Bernhardine Alma (1895–1979) im Jahr des österreichischen Bürgerkrieges 1934. Sie kann in den umfangreichen Aufzeichnungen der streng katholisch-gläubigen Diaristin eine enge Verflechtung der Themen Politik, Religion und Alltag nachweisen, wobei insbesondere die Praktiken des Tagebuchschreibens sowie der Beichte als Handlungsfelder politischer Positionierungen identifiziert werden. Ingrid Brommer und Christine Karner legen im nächsten Beitrag erstmals eine Auswertung der Kalender-Tagebücher der mit ihrer Schwester Helene zusammen lebenden Romanistin Elise Richter (1865–1943) vor, die eindrücklich die während der NS-Diktatur zunehmend prekärere Lebenssituation älterer, als jüdisch verfolgter Frauen in Wien dokumentieren. Gleichzeitig lässt sich darin die Arbeit an Elise Richters erst 1997 erschienener Autobiographie „Summe des 120 Vgl. zur Nieden, Alltag, wie Anm. 35, 102–197. 121 Hämmerle, Instrumentalisation, wie Anm. 70, 275f., 279f. Gefolgt wird dabei der Definition von Thomas Lemke, Gouvernementalität, in: Clemens Kammler, Rolf Parr u. Ulrich Johannes Schneider Hg., Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008, 260–263, 260, wo sie definiert wird als Set aus „unterschiedliche[n] Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven zielen“. Vgl. auch ders., Die politische Theorie der Gouvernementalität: Michel Foucault, in: André Brodocz u. Gary S. Schaal Hg., Politische Theorien der Gegenwart, I: Eine Einführung, 2. erw. u. aktualisierte Aufl., Opladen/Farming Hills, 467–498.
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Lebens“ nachvollziehen, ihrer nach der Zwangspensionierung im März 1938 bis zur Deportation in das KZ Theresienstadt/Terezín zentralen Beschäftigung. Helen Steele wiederum hat die Aufzeichnungen von zwei Wienerinnen aus der Zeit von 1942 bis Ende 1945 bearbeitet, die weder Proponentinnen des NS-Regimes noch Verfolgte waren. Die Fleischerin Marie Krenn (1911–2005) und die pensionierte Beamtin Josefine Appiano (1892–1983) haben in ihren Tagebüchern vor allem die informellen Netzwerke beschrieben, auf denen sie die Organisation ihres städtischen ‚Kriegsalltags‘ aufbauten. Deutlich werden aber auch Funktionen des Tagebuchschreibens in persönlichen Ausnahmesituationen – bis hin zu buchhalterischen Aufzeichnungen von getauschten Lebensmitteln oder Arbeitsleistungen. Es folgt ein Beitrag von Benjamin Möckel, der zeitlich ebenfalls über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinausgeht, wobei er Tagebücher von mehreren ‚reichsdeutschen‘ Jugendlichen auswertet. Dabei werden generationen- und geschlechterhistorische Fragestellungen verknüpft in Hinblick auf die diaristischen Thematisierungen biographischer Brüche einerseits, und die Frage nach Kontinuitäten in der Lebenswelt der Jugendlichen, dem Prozess der gesellschaftlichen ‚Normalisierung‘ nach den Gewalterfahrungen im NS-Regime und dessen Zusammenbruch 1945 andererseits. Auch Ulrich Schwarz behandelt diese lange anhaltende, für viele Menschen nicht ‚glückende‘ Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden. Er beschäftigt sich mit den bemerkenswerten Veränderungen im Schreiben der Müllerin Theresia Vogt (geb. 1901) von 1945 bis 1950. Dabei zeichnet er nach, wie die Niederösterreicherin, deren einziger Sohn nach 1943 in Russland vermisst wurde, ein ehemaliges Buch für Geschäftseinträge aus dem Mühlenbetrieb sukzessive ausweitet, und zwar zunächst um Bilanzen von verrichteten landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder Tauschgeschäften mit Städterinnen, später dann, zunehmend intensiver, als Ort des Erinnerns und der Kommunikation mit dem nie wiederkehrenden Sohn. Der nächste Beitrag kehrt noch einmal in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Mit dem Fokus auf das Thema Politik im Zeitraum von 1918 bis 1934 untersucht Brigitte Semanek ausgewählte Auszüge aus dem Tagebuch der schon erwähnten Rosa Mayreder, einer zentralen Aktivistin der Ersten österreichischen Frauenbewegungen. Ausschnitte daraus liegen seit Längerem in einer Edition vor, die hier einem Vergleich mit der originalen Handschrift unterzogen werden. Mittels der Methode der Wiener Kritischen Diskursanalyse kann die Autorin im Abgleich der beiden ‚Fassungen‘ dieses Tagebuchs zudem zeigen, dass Rosa Mayreder ihre diaristisch formulierten politischen Ansichten zu Beginn der Ersten Republik nicht einfach gegenüber dem ‚Privaten‘ hintanstellt, wie die Textauswahl der Edition nahe legt. Der Band schließt mit einem literaturwissenschaftlichen Zugang von Arno Dusini, der in Anlehnung an seine in der neueren Tagebuchforschung einflussreiche, weiter vorne zitierte Studie noch einmal grundsätzlich die Frage nach der gängigen „Topik der Gattung“ aufwirft – und die gewichtigsten Argumente dagegen zusammenfasst. Dabei legt Dusini insbesondere die geschlechterspezifischen Fokussierungen des Genres Tagebuch dar und betont, dass dieses bestimmten Lektüreregeln unterworfen ist. Sie vor allem leiten die Frage danach, „was weiblich sein soll an der Gattung Tagebuch“, nicht die Texte selbst, die immer
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von Zeit handeln – wobei offen bleibt, ob es eine genderspezifische, ‚weibliche‘ Zeit überhaupt geben kann. Mit seiner rhetorischen Frage knüpft der den Sammelband abschließende Beitrag von Arno Dusini auch an seinen Ausgangspunkt an, nämlich die interdisziplinäre Ringvorlesung „Frauentagebücher im 19. und 20. Jahrhundert“. Sie wurde im Wintersemester 2007/2008 von der von Edith Saurer und Christa Hämmerle geleiteten Forschungsplattform „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ veranstaltet und bildete einen der Schwerpunkte dieser von 2006 bis 2012 an der Universität Wien eingerichteten Einheit. Zu ihren vielfältigen Aktivitäten gehörten im Rahmen des interdisziplinären Teilprojekts „Sprache und Erinnerung in Frauentagebüchern des 20. Jahrhunderts“ die Edition und begleitende Erforschung zweier Tagebuchbestände122 sowie mehrere thematisch einschlägige (Lehr-)Veranstaltungen, aus denen auch Diplomarbeitsprojekte hervorgegangen sind.123 Die „Sammlung Frauennachlässe“, deren Bestände die Quellengrundlagen für mehrere der Beiträge in diesem Band sind, war neben dem Publikationsprojekt „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ eine der während ihrer Laufzeit von der Forschungsplattform getragenen Einrichtungen.
Materialität in Editionen, Sammlungen und Archiven – ein Ausblick
Wie inzwischen mehrfach angesprochen, waren und sind es in der Forschung häufig nicht die Originale von auto/biographischen Dokumenten, die als historische Quellen verwendet wurden oder werden, sondern deren Editionen: Texte, die oft nur aus ausgewählten Passagen bestehen beziehungsweise bereits für eine Veröffentlichung bearbeitet wurden.124 Dass dabei möglicherweise auch deren Inhalte stark ‚zurechtgerichtet‘ sind, wird dann augenfällig, wenn mehrere Textfassungen vorliegen – wie etwa im Falle des Tagebuchs von Anne Frank, von dem aktuell vier Versionen veröffentlicht sind. Die Frage nach Originalität stellt sich so besonders deutlich.125 122 Hämmerle/Gerhalter, Jahre, wie Anm. 95; Nikola Langreiter Hg., Tagebuch von Wetti Teuschl (1870– 1885), Wien/Köln/Weimar 2010. 123 Auf solchen Diplomarbeiten basieren die hier veröffentlichten Beiträge von Veronika Helfert, Brigitte Semanek und Ulrich Schwarz. Die Forschungsplattform „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ organisierte zudem, neben Seminaren, am 6./7.10.2006 den Workshop „Sprache und Erinnerung in Frauentagebüchern des 20. Jahrhunderts. Methodische Zugänge“ (gemeinsam mit Ruth Wodak und Juliane Vogel) und am 5.12.2008 den Workshop „Frauentagebücher in der historischen Forschung“. Zum jeweiligen Programm vgl. unter: www.univie.ac.at/Geschichte/Neuverortung-Geschlechtergeschichte unter der Rubrik „Veranstaltungen“, Zugriff: 1.6.2015. 124 Dazu u. a. Arno Dusini, Die offene Wunde Tagebuch: Gendertheoretische Anmerkungen anhand der Tagebücher von Sylvia Plath, in: Hof/Rohr, Erfahrung, wie Anm. 2, 25–38. 49. Vgl. zu dieser Thematik auch den Beitrag von Brigitte Semanek in diesem Band. 125 Zu den vier Versionen des Tagebuchs vgl. Anne Frank, Gesamtausgabe: Tagebücher – Geschichten und
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Neben dem Eindruck des gesamten Inhalts eines Tagebuchs gehen in Editionen zwangsläufig auch wesentliche Informationen zu seiner Form, dem Aussehen und der Materialität des Originals verloren. Auch in detaillierten Quellenbeschreibungen ist es kaum möglich, den Textträger umfassend darzustellen: Wie ist die Handschrift gestaltet, wann ändert sie sich? Und wie ist das Papier beschaffen, was ist wo beigelegt, eingeklebt oder ausgerissen? Wie genau zeigen sich Durchstreichungen, ein Unkenntlichmachen einzelner Passagen, inwieweit bestimmt der Seitenumfang einer Vorlage oder der unter einem Datum verfügbare Platz die Länge eines Eintrags etc.?126 Im Wissen um die Reichhaltigkeit all jener Informationen und Botschaften, die mit solchen materiellen oder visuellen Dimensionen des Tagebuchschreibens verbunden sind, plädiert dieser Sammelband indirekt auch für die Nutzung von Originalen – wo immer das möglich ist. Die Chancen dazu haben sich in den letzten Jahrzehnten jedenfalls deutlich erhöht, nachdem im Rahmen der veränderten Einschätzung ‚subjektiver‘ Quellen durch die neuere Geschichtswissenschaft zahlreiche Spezialsammlungen oder Teilbestände in kommunalen Archiven gegründet wurden, die inzwischen eine breite Quellenbasis von Selbstzeugnissen bereitstellen können.127 Freilich stoßen Forscher_innen auch in solchen Sammlungen oder Archiven mitunter darauf, dass Tagebücher nicht immer als originale Handschriften vorliegen. Das trifft im Besonderen auf Einrichtungen zu, die konkrete inhaltliche Schwerpunktsetzungen verfolgen, gruppiert etwa um politische Ereignisse (wie das Kriegsende 1945) oder um Gedenkjahre, aus deren Anlass via Medien um ‚authentische‘ Erinnerungen aus der Bevölkerung gebeten wurde. Die daraufhin eingesandten Quellen sind häufig Abschriften von Auszügen der Originale, die zumeist von den ehemaligen Diarist_innen selbst oder von Familienmitgliedern entsprechend der Aufrufe ausgewählt und angefertigt wurden.128 Die 1990 von Edith Saurer gegründete „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien ‚speichert‘ alle Formen diaristischen Schreibens, gegebenenfalls also auch Abschriften. Um die vorne skizzierte Vielfalt auto/biographischen Schreibens – bezogen sowohl auf die Inhalte, deren Anlässe und Veränderungen, als auch auf die wandelbaren Materialitäten solcher Aufzeichnungen – so weit wie möglich zu dokumentieEreignisse aus dem Hinterhaus – Erzählungen – Briefe – Fotos und Dokumente, hg. vom Anne Frank Fonds, Basel, aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler, Frankfurt a. M. 2013. 126 Vgl. Gerhalter, Materialitäten, wie Anm. 31, 69–70. 127 Eine Auflistung solcher Einrichtungen findet sich u. a. auf der Website der „Sammlung Frauennachlässe“ in der Rubrik „Links“, unter: www.univie.ac.at/Geschichte/sfn, Zugriff: 1.6.2015. 128 Zur Motivation, persönliche Dokumente an ein öffentliches Archiv zu geben, vgl. u. a. Christa Hämmerle, Fragmente aus vielen Leben. Ein Porträt der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: L’Homme. Z. F. G., 14, 2 (2003), 375–378; Li Gerhalter, „Quellen für die Frauen- und Geschlechtergeschichte haben wir auf jeden Fall benötigt“: Die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte, in: Hubert Szemethy u. a. Hg., Gelehrte Objekte? Wege zum Wissen. Aus den Sammlungen der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 2013, 122–141.
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ren und der Forschung zur Verfügung zu stellen, wird keine thematische oder formbezogene Auswahl getroffen. Daher ist hier auch der archivierte Bestand von Tagebuchaufzeichnungen entsprechend breit: Aktuell (2015) sind mehr als 800 sehr unterschiedliche Bände vorhanden, die von 101 Schreiber_innen im Zeitraum von 1815 bis 2006 verfasst wurden. Viele von ihnen kreuzen sich zudem mit Kalendern und Haushaltsbüchern, im späteren 20. Jahrhundert zunehmend auch mit Reise-Dokumentationen und weiteren Formen auto/biographischen Schreibens – ganz im Sinne der vorne ausgeführten Hybridität des Tagebuchs. Diese Zusammensetzung ist zwar einerseits nur exemplarisch zu verstehen, da auch die Bestände der „Sammlung Frauennachlässe“ in den Kontext ihrer Aktivitäten, einschlägigen Aufrufe und Vernetzungen zu stellen sind. Sie zeigt andererseits historische Dimensionen des Tagebuchschreibens auf und belegt eindrücklich, wie kreativ und vielfältig oder mehr oder weniger stark angelehnt an Konventionen und Schreibkulturen auch viele Frauen und Mädchen die Diaristik des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt und gestaltet haben. Wohin aber geht die Entwicklung des Tagebuchschreibens im Zuge der digitalen Revolution, der heute global genutzten ‚Neuen Medien‘? Deren Erkundung hat sich bereits zu einem eigenen Forschungsgebiet etabliert,129 wovon sich auch die historische Tagebuchforschung Anregungen holen kann, etwa für konsequentere Geschlechtervergleiche der spezifischen Verwendung einzelner Formen oder ‚Sub-Genres‘.130 Die Kontinuitäten zwischen dem Tagebuch-Blog und den in den Einzelstudien des Bandes untersuchten Tagebüchern oder Tagebuchkulturen sollten in Zukunft ebenso erforscht werden wie viele andere Aspekte des diaristischen Schreibens im Kontext von Krieg – Politik – Geschlecht, die hier offen geblieben sind oder nur am Rande thematisiert wurden.131 Wir hoffen auf rege weitere Untersuchungen dazu und – nicht zuletzt –, dass die historischen Fallstudien dieses Bandes auch einen Eindruck davon geben, welche Quellenschätze in den bestehenden Sammlungen verschiedenster Selbstzeugnisse noch gehoben werden können. Die Beiträge zeigen zudem alle trotz des relativ kurzen Zeitraums, den sie behandeln, in welcher Weise das Diaristische in ständiger Veränderung war und ist. Das macht wohl eine der Herausforderungen des Themenfeldes aus – aber auch die Spannung und sein immenses Potential für viele weitere, unterschiedlich gelagerte Forschungsinteressen.
129 Vgl. dazu u. a. zahlreiche Beiträge der Online-Zeitschrift „kommunikations@gesellschaft“, unter: www. kommunikation-gesellschaft.de, Zugriff: 1.6.2015. 130 Als Überblick Klaus Schöneberger, Doing Gender, kulturelles Kapital und Praktiken des Bloggens, in: Michael Simon u. a. Hg., Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags, Münster/Berlin/New York 2009, 378–386. 131 Das gilt insbesondere auch für die Integration der in den letzten Jahren erarbeiteten, mittlerweile hoch theoretisierten emotionsgeschichtlichen Ansätze. Vgl. etwa Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2013; dies., Monique Scheer, Anne Schmidt, Pascal Eitler, Bettina Hitzer, Nina Verheyen, Benno Gammerl, Christian Bailey u. Margrit Pernau, Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011; Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2013.
Veronika Helfert
„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“ Politische Dimensionen im Tagebuch von Bernhardine Alma (1934)
„Der Samstag wird mir ewig in Erinnerung bleiben. – Nach der Beichte, als er etwas fragte, mußte ich (ich war doch so aufgeregt) weinen. Noch fragte er freundlich um den Grund – dachte an Kleinigkeiten – u. wie ich die politischen Verhältnisse angab, meinte er ich hätte Angst. Hätte ich bejaht, hätte er mich wohl getröstet, daß alles ‚gesäubert sei‘, die ‚roten Nester‘ ausgehoben. – – Ich sagte es aber, dachte nicht, daß ein denkender Mensch mir Unrecht geben könnte, wie ich das Vorgehen der Regierung verabscheue – nannte den Namen des Mörders Dollfuß – – u. – nun befahl er mir sofort, wie er nie zu mir gesprochen, das sofort zurückzunehmen – ich sagte nein. Da lag ja schon mein Ideal zertrümmert – […] Er drohte: ‚Dann verweigere ich dir die Lossprechung –‘ ich blieb meiner Überzeugung treu. ‚Dann haben wir nichts mehr miteinander zu reden –‘ Ich sagte ‚bitte‘ und ging. Alles war leer, war tot. Dann fiels [sic] mich an. Absolution muß ich haben.“ (20.2.1934)1
Mit diesem Absatz beginnt der Eintrag vom 20. Februar 1934 im Tagebuch der Wienerin Bernhardine Alma (1895–1979). Eine Woche zuvor, am 12. Februar 1934, hatte sich der sozialdemokratische Republikanische Schutzbund in Linz einer polizeilichen Waffendurchsuchung durch Heimwehr und Regierungstruppen im Parteiheim Hotel Schiff mit Waffengewalt entgegengestellt. Das war der Beginn von tagelangen und heftigen Kämpfen in Österreichs Industriegebieten und vor allem in Wien.2 Der Februaraufstand markiert den Anfang des „offenen Bürgerkriegs“ (Gerhard Botz) – jenes Zeitraums der Verdichtung der 1
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Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner im Dezember 2010 approbierten Diplomarbeit an der Universität Wien: Veronika Helfert, Geschlecht. Schreiben. Politik. Frauentagebücher im Februar 1934, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2010. Die Diplomarbeit wurde von Christa Hämmerle betreut. Das Zitat im Aufsatztitel stammt aus dem Eintrag vom 14. Februar 1934 im Tagebuch der Bernhardine Alma, das heute im Umfang von 47 Bänden aus dem Zeitraum von 1908 bis 1979 in der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien als Nachlass 9 archiviert ist (vgl. Tagebuch 20, 21.10.1933 bis 12.12.1934). Im Folgenden werden die Zitate aus den Tagebüchern der Bernhardine Alma über das Datum kenntlich gemacht. Es handelt sich bei allen zitierten Stellen um Transkripte aus den Handschriften. Vgl. Emmerich Tálos u. Wolfgang Neugebauer Hg., Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 20055; Ilse Reiter-Zatloukal, Christiane Rothländer u. Pia Schölnberger Hg., Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß/Schuschnigg-Regime, Wien 2012.
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„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“
Konflikte zwischen den zeitgenössischen drei großen politischen Lagern Österreichs in Abgrenzung zu den von Gewalt und Krisen gekennzeichneten Jahren davor,3 der bis zum nationalsozialistischen Putschversuch und der Ermordung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß am 25. Juli des Jahres andauern sollte.4 Jener Zeitraum bildet den Kontext des folgenden Beitrags, in dem anhand des Tagebuchs von Bernhardine Alma geschlechterhistorische Perspektiven auf die Geschichte des autoritären christlichen Ständestaates, des Austrofaschismus, eröffnet werden sollen.5 Im Zentrum steht die Analyse des Tagebuchtextes, die eine dichte Verschränkung der Themen Politik, Alltag und Religion sowie eine komplexe Verwobenheit der Selbstthematisierungspraxen Beichte und Tagebuchschreiben enthüllen wird.6 Die eingangs zitierte Stelle verdeutlicht dies: Auf drei eng beschriebenen Seiten schildert Bernhardine Alma ein Beichtgespräch, das aufgrund unterschiedlicher politischer Positionen mit der Verweigerung der Absolution durch den Beichtvater K.7 endete. Das spirituelle und scheinbar intime Beichtgespräch selbst präsentiert sich, wie ich zeigen werde, als umkämpftes Feld von ‚Politik‘, in dem die Legitimität politischen Handelns und politischer Deutungsmacht ausgehandelt bzw. durchgesetzt wird.
Geschlecht und Politik
Vermeintlich und gemeinhin als unpolitisch und ‚weiblich‘ abqualifizierte Bereiche erweisen sich – so die These des Beitrags – als explizite Orte des Politischen. Im Fall des Tagebuchs der Bernhardine Alma bezieht sich das sowohl auf die Themen, die darin vorkommen, als auch auf die Praxis des Tagebuchschreibens als politisches (Ver-)Handeln selbst. Meine Aus3
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Die „Drei-Lager-Theorie“ wurde von Adam Wandruszka formuliert. In diesem Beitrag soll ebenfalls zwischen drei Lagern – dem sozialistischen, katholisch-konservativen und deutsch-/nationalen bzw. völkischen – unterschieden werden. Vgl. Johanna Gehmacher, „Völkische Frauenbewegung“. Deutschnationale und nationalsozialistische Geschlechterpolitik in Österreich, Wien 1998, 32–34. Als „offenen Bürgerkrieg“ bezeichnet Botz die Phase bis zu den Kämpfen nach dem gescheiterten nationalsozialistischen Putsch im Juli 1934, um diese von den ebenfalls durch Gewalt und Krisen gekennzeichneten Jahren zuvor abzugrenzen. Vgl. Gerhard Botz, Krisenzonen einer Demokratie: Gewalt, Streik und Konfliktunterdrückung in Österreich seit 1918, Frankfurt a. M./New York 1987, 16–25. Einen aktuellen Überblick zur Frauen- und Geschlechtergeschichte zum Austrofaschismus bietet Gabriella Hauch, Vom Androzentrismus in der Geschichtsschreibung. Geschlecht und Politik im autoritären christlichen Ständestaat/„Austrofaschismus“ (1933/34–1938), in: Florian Wenninger u. Lucile Dreidemy Hg., Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013, 351–379. Vielen Dank für das Zurverfügungstellen des ungedruckten Manuskripts an Gabriella Hauch. Vgl. zur Beichte Berthold Unfried, „Ich bekenne“. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt a. M. 2006, 140f.; zum Tagebuch etwa Christa Hämmerle, Diaries, in: Miriam Dobson u. Benjamin Ziemann Hg., Reading Primary Sources. The interpretation of texts from nineteenth- and twentieth-century history, London/New York 2008, 141–158, 146. Der Name des Priesters ist in diesem Beitrag anonymisiert, das betrifft auch die zitierten Textstellen.
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gangsthese ist, dass sich Politik und das Reden über Politik im Schreiben des Tagebuchtextes entlang der Kategorie Geschlecht und der damit verbundenen Hierarchien ordnen. Für die Analyse soll ein weiter Politikbegriff, wie er sich in der Neuen Frauenbewegung entwickelt hat, herangezogen werden. Politik bzw. ein politisches System soll dabei nach Robert A. Dahl als ein „andauernde[s] Muster menschlicher Beziehungen, das zu einem beträchtlichen Teil Kontrolle, Einfluß, Macht oder Autorität beinhaltet“,8 verstanden werden. Verwiesen sei zudem auf die Erkenntnisse feministischer (Geschichts-)Wissenschaft, denn wie Joan W. Scott es formuliert: „High politics itself is a gendered concept […]. Gender is one of the recurrent references by which political power has been conceived, legitimated and criticized. It refers to but also establishes the meaning of the male/female opposition.“9 Das komplexe gesellschaftliche Leben und die ökonomische Produktionssphäre sind entlang der Achse Geschlecht strukturiert und bedingen die Zuweisungen von sogenannten öffentlichen und privaten Sphären und deren Verschränkungen mit Politik.10 Die scheinbar naturhafte Geschlechterdichotomie, die sich im Kontext der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung mit ihren spezifischen Geschlechtscharakteren (Karin Hausen) ab dem 18. Jahrhundert entwickelt hat, ist mit den Sphären privat und öffentlich verbunden und evoziert bestimmte Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘.11 Wenn die öffentliche Sphäre als männlich und Politik als öffentlich verstanden wird, führt die ‚Dethematisierung‘12 von Politik im Privaten zu einer Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse. Ein kritischer Politikbegriff muss dies dekonstruieren: Politik ist einerseits Ergebnis, andererseits Produzentin von Ausschlüssen und hierarchischen Machtstrukturen.13 Vor diesem Hintergrund wird Politik im vorliegenden Text als Feld verstanden, das sich im Tagebuch Bernhardine Almas (ähnlich anderer scheinbar privater und damit apolitischer Felder wie der Familie oder der Beichte) entlang des Geschlechterverhältnisses und
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Robert A. Dahl, Modern Political Analysis, Englewood Cliffs 19844, 9f., zit. nach: Eva Kreisky, Gegen „geschlechthalbierte Wahrheiten“. Feministische Kritik an der Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum, in: Eva Kreisky u. Birgit Sauer Hg., Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York 1995, 27–62, 40. Joan W. Scott, Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: Sue Morgan Hg., The Feminist History Reader, London u. a. 2006, 133–148, 144f. Erstmals erschienen in: American Historical Review, 91,5 (1986), 1053–1075. Vgl. u. a. Leonore Davidoff, „Alte Hüte“. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 4, 2 (1993), 7–36, 9. Vgl. Davidoff, Hüte, wie Anm. 10, 13–18. Vgl. Claudia Bruns, Wissen – Macht – Subjekt(e). Dimensionen historischer Diskursanalyse am Beispiel des Männerbunddiskurses im Wilhelminischen Kaiserreich, in: Österreichisches Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 16, 4 (2005), 106–122, 109. Vgl. Birgit Sauer, „Add women and stir?“. Die mühsamen Wege der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung, in: Marlen Bidwell-Steiner u. Karin S. Wozonig Hg., A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 47–61, 54.
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den damit verbundenen Hierarchien konstituiert.14 Um Politik im Tagebuchtext unter Berücksichtigung der vorher genannten Überlegungen analysierbar zu machen, wurde ein Vier-Ebenen-Modell entwickelt, das versucht, ihre vergeschlechtlichte Konstruktion im Auge zu behalten: 1. politische Ereignisse, 2. politische Ideen und Ansichten, 3. das Private als Ort von Politik und 4. Deutungssysteme und symbolische Ordnungen. Zentrale Fragestellungen in der Tagebuchanalyse waren, wie sich Politik in den Einträgen etablierte; wie gerade im Fall Bernhardine Almas die katholische Beichte zu einem offenbar zentralen politischen Handlungsfeld werden konnte; wie und von wem die Deutungsmacht politischer Ereignisse durchgesetzt wurde und ob bzw. wie sich das Tagebuchschreiben als politische Praxis erwies.
Bernhardine Alma als Schreibende
Bevor dem Verhältnis der beiden Selbstthematisierungspraxen Beichte und Tagebuch nachgegangen wird, soll Bernhardine Alma vorgestellt werden. Sie wurde 1892 geboren, stammte aus einer bürgerlichen Familie und wohnte Zeit ihres Lebens in der elterlichen Wohnung in der Weißgerber Lände im dritten Wiener Gemeindebezirk. Nach dem Tod der Eltern 1931 und 1932, die sie gepflegt hatte, blieb sie unverheiratet und lebte mit ihrem Bruder Marius (1902–1945) zusammen. Ihren Lebensunterhalt – soweit sie sich nicht vom restlichen Familienvermögen erhalten konnte – verdiente Bernhardine Alma im Untersuchungszeitraum durch gelegentliche Honorare für religiöse Texte in Zeitschriften und die Einnahmen durch die Untervermietung eines Zimmers in ihrer Wohnung. Die Großeltern väterlicherseits aus Lwiw (Lemberg) waren bekennende religiöse JüdInnen, ihr Vater Maximilian aber trat aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus, änderte seinen Namen von Altmann auf Alma und heiratete die Katholikin Lydia Tanzer. Alle Alma-Kinder waren katholisch getauft. 15 Bernhardine und Marius überlebten die Shoah in Wien, die beiden älteren Schwestern, Cora (1890–1921) und Sigrid (1891–1934), waren unter dramatischen Umständen schon vor der NS-Verfolgung gestorben. Für Bernhardine Alma dürfte ihre jüdische Herkunft lange Zeit kaum eine Rolle gespielt haben – sie war Katholikin. In ihren Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1934 re/produzierte sie jene damals gängigen Antisemitismen, die den „antisemitischen Grundkonsens“ der zwischenkriegszeitlichen österreichischen Gesellschaft ausgemacht hatten. 16 Dies änderte 14 15
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Vgl. Bruns, Wissen, wie Anm. 12, 109. Vgl. Ulrike Seiss, „… ich will keinen Krieg oder als Krankenschwester mit!“ Selbstinszenierungen, Kriegsrezeption und Männlichkeitsbilder im Tagebuch einer jungen Frau im Ersten Weltkrieg, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2002, 3f. Vgl. Peter Pulzer, Spezifische Momente und Spielarten des österreichischen und des Wiener Antisemitismus, in: Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollack u. Nina Scholz Hg., Eine zerstörte Kultur – Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 20022, 129–144.
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sich allerdings angesichts der konkreten Bedrohung nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich.17 Schreiben dürfte im Leben Bernhardine Almas eine zentrale Rolle gespielt haben. Sie verfasste und veröffentlichte (vor allem religiöse) Literatur, war ausdauernde Korrespondentin und Diaristin. Das dokumentiert ihr umfangreicher Nachlass in der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien.18 Bernhardine Alma schrieb „in Tagen“ fast ihr ganzes Leben lang.19 Die Menge an nachgelassenen Texten und die Kontinuität der diaristischen Praxis belegen die Bedeutung des Schreibortes Tagebuch für die Autorin.20 Dabei lassen sich bei einer Durchsicht ihrer Tagebücher aus den 1920er und 1930er Jahren eine Vielzahl an benutzten Schreibunterlagen finden, deren Einträge, in enger Schrift verfasst, den Eindruck erwecken, dass jeder Platz ausgenützt werden musste. Bernhardine Alma schrieb nahezu täglich. Im Februar 1934 allerdings – dem zentralen Zeitraum dieser Untersuchung – finden sich immer wieder Abstände von mehreren Tagen zwischen den Einträgen, die auch von der Schreiberin selbst als Ausnahmezustand deklariert wurden: „Ich konnte die Zeit über nicht schreiben, das Entsetzen war zu groß. Immer noch liegts lähmend in mir.“ (20.2.1934) Die Tagebücher selbst sind einerseits durch einen Montagecharakter gekennzeichnet: In den einzelnen Büchern sind Zeitungsausschnitte, Blumen, Marien- und Heiligenbilder sowie Korrespondenzkarten Bestandteile der Einträge. Andererseits scheint Bernhardine Alma ihre Schreibunterlagen für ihre Bedürfnisse passend gemacht zu haben. Das Tagebuch Nr. 20 etwa21 besteht aus zwei aneinander genähten Heften. Der Eintrag am letzten Blatt des Tagebuchs Nr. 22 erlaubt einen Blick auf die Wichtig-
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Vgl. Edith Saurer, Er hat „Ja“ gesagt. Kardinal Theodor Innitzer und Bernhardine Alma im Beichtstuhl, in: Heinrich Berger, Melanie Dejnega, Regina Fritz u. Alexander Prenninger Hg., Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien u. a. 2011, 255–264. Vielen Dank für das Zurverfügungstellen des ungedruckten Manuskripts an Heinrich Berger. Bernhardine und Marius Alma waren zunächst nicht von direkter Verfolgung betroffen, allerdings wurde die Situation jener Menschen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Mischlinge ersten Grades“ oder „Mischlinge zweiten Grades“ klassifiziert worden waren, bis zum Ende des Dritten Reiches schwieriger: Durch die Diskussionen um Ausweitungen der Verfolgung wurde für diese Gruppe die Lebensgefahr größer. Vgl. Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 20022, 96–104. Insgesamt sind von Bernhardine Alma in der „Sammlung Frauennachlässe“ 47 Tagebücher aus den Jahren 1908 bis 1979 erhalten. Vgl. Li Gerhalter unter der Mitarbeit von Brigitte Semanek, Bestandsverzeichnis der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage (Stand September 2012), Wien 2012, 39–42. Vgl. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, 93: Das Tagebuch erzählt „auch in ,Tagen‘“. Vgl. Nicole Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof u. Susanne Rohr Hg., Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie und Essay, Tübingen 2008, 39–60, 40f. Tagebuch 20, 21.10.1933 bis 12.12.1934.
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Abbildung 1: Doppelseite aus dem Tagebuch Bernhardine Almas mit Einträgen der ersten Tage des Februaraufstandes. (SFN, NL 9, Tagebuch 20, 21. Oktober bis 12. Dezember 1934)
keit dieser Praxis:22 „Mein liebes, liebes Tagebuch! Ich habe dein Resterl ins neue Tagebuch eingenäht – das ist, als würde ich dich weiterschreiben. Leb wohl – und jetzt und immer: Gottes Wille geschehe!“ (o. D.) Der ‚physischen‘, materiellen Kontinuität der Schreibunterlage, dem Schreibort, maß Bernhardine Alma offenbar einen großen Stellenwert bei. Dass das Um/Nähen der Tagebücher auch eine fremdbestimmte Funktion erlangen konnte und die Materialität des Buchs Aufschluss über externe Vorgänge gibt, wird später noch anhand des Tagebuchs Nr. 2123 gezeigt werden, das sich in förmlicher Auflösung befindet und nur mehr als ein Kompendium loser Seiten im Nachlass aufbewahrt ist.
Beichten und Schreiben
Religion und Frömmigkeit sind in Bernhardine Almas Tagebüchern ein konstantes und wichtiges Themenfeld. Für eine Forschung gerade im Kontext des politischen Katholizismus, der als ideologische und organisatorische Basis des austrofaschistischen Ständestaa-
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Tagebuch 22, 26.9. bis 31.3.1937. Tagebuch 21, 25.12.1934 bis 15.9.1935.
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Abbildung 2: Aufnahme der losen Seiten des Tagebuchs Nr. 21. (SFN, NL 9, Tagebuch 21, 25. Dezember 1934 bis 15. September 1935)
tes fungierte,24 scheint das Tagebuch in dieser Hinsicht bemerkenswert: Bernhardine Almas Überlegungen zur katholischen Kirche und ihres (im Konkordat von 1855 gefestigten) gesellschaftspolitischen Machtanspruchs25 sowie teilweise seitenlange Beschreibungen der Beichtgespräche, die sich nicht selten um politische Differenzen mit ihrem Beichtvater drehten, eröffnen einen Einblick in den religiösen Raum als immanent politischen. Dabei muss zwar die Repräsentativität des Schreibens von Bernhardine Alma offen bleiben, doch ist dies angesichts eines Anteils von 90,5 Prozent KatholikInnen an der österreichischen Bevölkerung26 im Jahr 1934 und einer offenbar immens hohen Beichtfrequenz27 doch als signifikant 24
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Gemeint ist hiermit die enge Verbindung von Staat und katholischer Kirche; seit dem 19. Jahrhundert setzten sich die Akteure aus kirchlichen Würdenträgern, den katholischen Vereinsträgern und nicht zuletzt den Funktionären der Christlichsozialen Partei zusammen. In der Zwischenkriegszeit war es vor allem die Christlichsoziale Parteielite, zu der Engelbert Dollfuß oder Kurt Schuschnigg gehörten, die Verbindungen zu Industrie und Heimwehren unterhielt und 1933 den austrofaschistischen Ständestaat installierte. Vgl. Ernst Hanisch, Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des „Austrofaschismus“ in der Ersten Republik, in: Tálos/Neugebauer, Austrofaschismus, wie Anm. 2, 68–86, 70; Neda Bei, Krampus, Gott, Führer. Zum männlichen Subjekt des Austrofaschismus, in: Brigitte Lehmann Hg., Dass die Frau zur Frau erzogen wird. Frauenpolitik und Ständestaat, Wien 2008, 99–152. Vgl. Hanisch, Katholizismus, wie Anm. 24, 71–81. Vgl. Hanisch, Katholizismus, wie Anm. 24, 71. Rupert M. Scheule geht davon aus, dass die Beichtfrequenz zwischen 1910 und 1960 einen Höchststand erreichte und dass dies einer Zunahme an Volksmissionen und der „eucharistischen Frömmig-
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zu bezeichnen. Gleichzeitig ist die Quellenlage zur Praxis der Beichte und ihrer Erforschung im deutschsprachigen Raum insgesamt prekär. Neben normativen Schriften und sogenannter Erbauungsliteratur, die auch autobiographische Berichte inkludiert, gibt es wenige Zeugnisse von Beichtenden selbst.28 Insofern sind die ausführlichen Aufzeichnungen Bernhardine Almas außergewöhnlich, beleuchten sie doch nicht nur die Beichtpraxis aus der Sicht einer Beichtenden, sondern erlauben einen Blick auf die Bedeutung und die Rolle der Beichte als disziplinierende Praxis – auch wenn die Reichweite mangels weiterer Forschungsergebnisse dazu offen bleiben muss.29 Der religiöse Raum, und besonders die geschilderte Praxis der Beichte, sind daher im vorliegenden Beitrag ein wichtiger Fokus für die Frage nach Politik im untersuchten Tagebuch. Das Verhältnis von Beichte und diaristischem Text kann als gedoppelte und gleichzeitig gebrochene Form der Selbstthematisierung (im Feld des Politischen) gelesen werden.30 Wie bereits angedeutet hängt das Denken von Politik im hohen Maße von den Zuschreibungen öffentlich und privat ab. Das Tagebuch als Genre und die Beichte als Praxis stehen in einem Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit, verschränken diese und eignen sich damit für die vorliegenden Fragestellungen. Dabei darf nicht davon ausgegangen werden, dass in den Einträgen lediglich die Beichtgespräche niedergeschrieben wurden, vielmehr dürften diese der Reflexion und Vorbereitung gedient und somit in die Gespräche eingewirkt haben. Das Verhältnis Beichte und Tagebuchtext lässt sich aber auch durch eine ordnende Funktion bestimmen: Die Einträge sind um Kirchgänge herum angeordnet; religiöse Formeln stehen zudem am Beginn und am Ende nahezu aller Einträge. Diese Formeln hatten, folgt man Edith Saurers Einschätzung in ihrer Analyse des Tagebuchs von Bernhardine Alma im Jahr 1938, schließlich auch die Funktion, das Tagebuch vor fremden Eingriffen zu schützen.31 In einem Fall spitzte sich das Verhältnis von Tagebuch und Beichte dramatisch zu. Bern hardine Almas Beichtvater K. verlangte im September 1935 die Herausgabe ihres Tagebuchs, nachdem er von dessen Existenz erfahren hatte. Nach anfänglicher Weigerung ging Bernhardine Alma darauf ein:
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keit“ geschuldet war. Vgl. Rupert M. Scheule, Beichte und Selbstreflexion. Eine Sozialgeschichte katholischer Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 69–83. Vgl. Unfried, „Ich bekenne“, wie Anm. 6, 35–42. Die Studie Rupert M. Scheules, Beichte, wie Anm. 27, versuchte hier mittels Schreibaufrufen Abhilfe zu schaffen. Vgl. Saurer, Er, wie Anm. 17. Weiters soll nicht unerwähnt bleiben, dass beide Praxen (des Tagebuchschreibens sowie des Beichtens) für die Geschichte des Geschlechterverhältnisses von Relevanz sind. Sie wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend von Frauen ausgeübt und schon von ZeitgenossInnen als „feminisiert“ beschrieben und damit abqualifiziert; vgl. für die Beichte Edith Saurer, Frauen und Priester. Beichtgespräche im frühen 19. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen Hg., Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn, Frankfurt a. M. 1990, 141–170; für das Tagebuchschreiben etwa Patricia Gabrielli, Tagebücher, Erinnerungen, Autobiographien. Selbstzeugnisse von Frauen im Archivo Diaristico Nazionale in Pievo Santo Stefano, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 15, 2 (2004), 345–352. Vgl. Saurer, Er, wie Anm. 17.
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„Ich schreibe herein wie sonst, trotzdem der Beichtvater das Tagebuch vielleicht liest. Nein, ich kann doch nicht wie sonst schreiben – ich bin so niedergedrückt – so aufgeregt im Inneren. Dreimal hat der Beichtvater gestern zu mir ‚pfui‘ gesagt […]. Gott ja – wenn er nun das Tagebuch liest u. sieht, wie schlecht u. eitel, wie kleinlich u. deutschfreundlich ich bin – kann {er} doch auch nicht mehr als ‚pfui‘ sagen. Ich nehme es als Strafe Gottes für meine Sünden.“ (22.9.1935)
Die Funktion der Beichte als Mittel sozialer Kontrolle wird hier offensichtlich.32 Sie ist – wie Edith Saurer in ihrer Studie „Frauen und Priester“ feststellt – eine „Institution […], die kirchlich-soziale Normen über ‚Gewissenserforschung‘ und deren Kontrolle vermittelt bzw. einprägt“.33 Das Tagebuch von Bernhardine Alma während des Jahres 1934 zeigt jedoch da rüber hinausgehend, dass das Beichtgespräch auch zum Ort des Verhandelns von Politik und des politischen Widerspruchs werden kann. Allein das Aufschreiben der Gespräche läuft dem Charakter der Beichte entgegen, die auch als Zwang bezeichnet werden könnte, „alles zu sagen, um alles auszulöschen“.34
Politik schreiben Themen und Relationen im Tagebuch
Politik ist – in allen vier eingangs genannten Ebenen – im Tagebuch der Bernhardine Alma durchgängig Thema. Das lässt sich auch anhand einer quantitativen Analyse der Einträge der Monate Februar bis Juli 1934 – basierend auf einer Reihe von thematischen Kategorien, die zum einen deduktiv aus dem Material und zum anderen aus den vorher genannten Überlegungen herausgefiltert wurden – zeigen.35 Das wichtige Thema Politik spiegelt sich in der relativ hohen Häufigkeit an Nennungen in den Einträgen wider (siehe Tabelle). Der andere hier relevante Themenkomplex, die Religion, die mit dem Politischen eng verbunden ist, tritt im Vergleich dazu noch öfter auf (im Mai 1934 etwa in 85,7 Prozent aller Einträge). Diesen beiden Kategorien wurden in der untenstehenden Tabelle einerseits eine alltägliche Kategorie, die der Besuche, und eine selbstreferentielle Kategorie, die des Schreibens, gegenübergestellt, um sie in ihrer Häufigkeit und in ihrem Stellenwert besser einschätzen zu können. Das Tagebuchschreiben Bernhardine Almas stellt sich als eine Praxis dar, die durch eine alltägliche Routine gekennzeichnet ist, die auch das regelmäßige Notieren der erhaltenen und gesandten Postsachen wie der empfangenen und getätigten Besuche beinhaltet.
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Vgl. Unfried, „Ich bekenne“, wie Anm. 6, 34f. Saurer, Frauen, wie Anm. 30, 149. Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, Berlin 2001, 28. Vgl. für die folgenden Ausführungen die genaue Analyse in Helfert, Geschlecht, wie Anm. 1, 85–153.
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Februar März April Mai Juni Juli Gesamt
Einträge gesamt
Einträge mit Politik
Einträge mit Religion
14 25 26 21 23 21 130
42,9 % (6) 56 % (14) 57,7 % (15) 52,4 % (11) 39,1 % (9) 42,9 % (9) 49,2 % (64)
71,4 % (10) 80 % (20) 69,2 % (18) 85,7 % (18) 78,3 % (18) 76,2 % (16) 76,9 % (100)
Einträge mit Tagebuch/ Schreiben 28,6 % (4) 12 % (3) 7,7 % (2) 23,8 % (5) 17,4 % (4) 14,3 % (3) 16,5 % (21)
Einträge mit Besuchen 50 % (7) 72 % (18) 65,4 % (17) 71,4 % (15) 60,9 % (14) 71,4 % (15) 66,2 % (86)
Tab. 1: Einträge Februar bis Juli 1934: Prozentsatz der Einträge mit Nennungen von Politik, Religion, Tagebuch/Schreiben und Besuchen an der Gesamtzahl der Einträge (Anzahl der Einträge in Klammer).
Hier soll auf mehrere Faktoren in der Tabelle aufmerksam gemacht werden: Es fällt auf, dass die Häufigkeit der Einträge im Februar signifikant geringer ist als in den darauffolgenden Monaten. Dies dürfte, wie bereits angemerkt, eine Folge der politischen Gewalthandlungen sein. Einkäufe und Versorgung, Familienangelegenheiten, Kirchgänge und Besuche (in 66,2 Prozent der Beiträge des Untersuchungszeitraums) und andere Themen des Alltags tauchen häufig auf und bilden eine gewisse Konstante in den Tagebucheinträgen. Diese sind durchaus im Feld der Politik zu verorten; so liegt die Bedeutung der notierten Besuche nicht zuletzt in der Zirkulation von politischen Ideen und Inhalten – auch wenn dies nicht immer explizit ist. Neben engen Freundinnen und Familie sind es vor allem mehrere Verehrer, die in Bernhardine Almas Wohnung ein und aus gingen. Dabei schwankt die 39-Jährige in den Einträgen zwischen Unnahbarkeit und heimlicher Hingabe: „Nachmittags Lindenbaum. Sehr nett war er, sehr lieb – – aber – – es ist doch immer das Gleiche. Er will von mir, was ich nicht geben kann u. nicht geben will. ‚Abtasten‘ will er mich – und ‚Gott behüte –‘ nicht mehr.“ (23.3.1934) Diese Männerbeziehungen waren im Zusammenhang mit ihrer Frömmigkeit äußerst ambivalent. Deutlich wird, dass die Analyse des Tagebuchs berücksichtigen muss, dass dieses zwar ein Ort wäre, an dem sich Dinge sagen ließen, die ansonsten ungesagt blieben, die Eintragungen aber gleichzeitig von Selbstzensur durchwirkt sind – der gattungstheoretisch gängige Topos der Authentizität stellt also einen Effekt dar, der erst durch Mittel der Gattung hergestellt wird.36 Diese (mitunter auch von der Schreiberin selbst themati sierte) Selbstzensur scheint vor allem bei Themen einzusetzen, die nicht zu ihren religiösen Vorstellungen passten und ihren gerade im Medium des Tagebuchs entworfenen Selbstentwürfen als demütige und sittlich-keusche Frau entgegenliefen. Das ist etwa an dieser Stelle 36
Vgl. Renate Hof, Einleitung: Genre und Gender als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle, in: Hof/Rohr, Erfahrung, wie Anm. 20, 7–24, 17; Dusini, Tagebuch, wie Anm. 19.
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zu sehen: „Vielleicht sollte ich das jetzt nicht schreiben, aber es ist so: Manchesmal sehe ich (ohne unkeusche Gedanken) meinen Körper und muß konstatieren, daß ich {weder} auf Bildern u. Skulpturen u. sonst nie einen schöneren Menschenkörper gesehen habe.“ (8.6.1934) Mittels der Beschlagwortung von Einträgen lässt sich also Politik auf den Ebenen der Fakten und der politischen Ideen innerhalb der Tabelle darstellen und die unterschiedliche Relevanz des Themas innerhalb der untersuchten Monate zeigen. Die Zahl der mit Politik markierten Einträge steigt nach den dramatischen Ereignissen vom Februar 1934 sogar an. Das lässt sich vermutlich auf eine zunehmende Politisierung Bernhardine Almas zurückführen, die auch in den Inhalten der Beichtgespräche offensichtlich wird. Daneben ist allerdings auch die semantische Umgebung des Wortstammes „P/polit-“ in den Tagebucheinträgen aufschlussreich. Es ist augenfällig, dass auf der Straße, in den Geschäften, bei Zusammen treffen beruflicher und privater Natur, viel und „lang politisiert“ (15.4.1934) wird. Politik und politische Ansichten dienten dabei in den Texten dazu, persönliche Beziehungen zu anderen Menschen zu legitimieren bzw. zu klassifizieren und Nähe bzw. Distanz zu strukturieren: „die Ren u. Sabin waren […] teilweis scheußlich. In mancher (politischer) Hinsicht völlig minderwertig“ (20.7.1934). Ein weiteres Charakteristikum der Tagebucheinträge ist das Nebeneinander von scheinbaren Banalitäten und politischen Gewalterfahrungen: „So herrlich hat die Sonne heute geschienen – – Frühling will kommen – – und die Menschen töten einander. So weit hätte die Regierung es nie kommen lassen dürfen.“ (14.2.1934) Politik ist schließlich etwas, das auch in den vielen Einträgen im Tagebuch, in denen der Begriff genannt wird, nicht immer konkret fassbar ist. Erst im Zusammenhang wird beim Lesen klar, dass Wendungen wie etwa „politische Sachen“ erzählen (23.2.1934) und „politisieren“ die aktuellen gewaltvollen Ereignisse umschrieben. Die Schwierigkeit der Schreiberin, die Vorgänge konkret zu benennen, bedingte das Zurückgreifen auf allgemeine Formulierungen, die im Unbestimmten bleiben. Die Ebene der Ereignisse: „Ob immer noch gekämpft wird?“37
Damit kommen wir zur ersten der eingangs genannten Ebenen, auf der sich das Tagebuch der Bernhardine Alma aus dem Jahr 1934 hinsichtlich von Politik untersuchen lässt – jene der Ereignisse: Wie schrieben sich politische Ereignisse in die Einträge von Februar bis Juli dieses Jahres ein? Wie re/agierte und positionierte sich Bernhardine Alma in Bezug darauf? Die politischen Ereignisse des BürgerInnenkriegsjahres wurden im Tagebuch breit und intensiv rezipiert. Der Gewalt der Kampfhandlungen und damit dem Bruch von ‚Normalität‘ im Februar 1934 entspricht im Tagebuch Bernhardine Almas die Auflösung des Alltags, die sich auf das Schreiben übertrug. So ist der Eintrag vom 12. Februar 1934 ungewöhnlich 37
Eintrag vom 14.2.1934.
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kurz und bricht mitten im Wort (oder auch Satz) ab: „Lieber, lieber Gott, hilf meinem Österreich! – der Dollfuß soll abgedankt werden – u. nur kein Habsburger kommen, besonders der du [sic]“. Der erste Satz an diesem Tag, „hilf meinem Österreich“, ist auch in späteren Einträgen und in anderen Variationen Formel in der Verarbeitung politischer Unruhen und Instabilität. Bernhardine Alma positionierte sich eindeutig – und offensichtlich ist auch die Bedeutung von Religion dabei: „Meine Sympathien haben die – Revolutionäre. Ich will schon Wien [sic] sein. Mein, mein Wien. – In der Suche nach Hakenkreuzlern hat die blödsinnige Dollfußregierung auf den eigentlichen Feind vergessen. Standrecht – Straßenkämpfe – Auflösung der soz.-demokrat. Partei. Letztes Aufflackern despotischer Habsburger=Dollfußdespotie – dann wird (nicht durch die Kirche, nicht durch die geistl. Regierung, die beide dazu berufen wären) Ruhe u. Ordnung kommen – eine soziale demokratische Republik. – Menschen, denen mal alles genommen, Gott, Friede, Freiheit, Arbeit – sind aber zu allem fähig. Sie haben ja nichts zu verlieren. – Nur meiner Kirche, meinem Jesus sollen sie nichts tun.“ (13.2.1934)
Chiffre für die Gewalt der politischen Ereignisse ist das „Schießen“; ob Bernhardine Alma in ihrer Wohnung tatsächlich Kampfhandlungen hörte und das Beschriebene so sah, spielt dabei eine geringere Rolle. Im Tagebuch lesen wir jedenfalls die Beschreibung eines Kriegszustandes: „Mein Gott, dein Wille geschehe! – – Jetzt höre ich das Schießen nicht mehr. Gott gäbe, daß Ruhe eingetreten ist. ‚Mein Herz ist wie eine offene Wunde‘ – – Straßenkämpfe in Wien seit Montag abends. Tote, Verwundete – – Kanonen, Maschinengewehre Drahtverhaue – – ich glaube, es wird wieder geschossen – – Lieber Gott, schütze mein schönes Wien!“ (14.2.1934) Der gescheiterte nationalsozialistische Putschversuch vom 25. Juli 1934 bildet den zweiten gewaltsamen Höhepunkt der politischen Ereignisse im Untersuchungszeitraum. Nachdem das Frühjahr von zunehmender terroristischer Aktivität der Nationalsozialisten geprägt gewesen war, unternahmen SS- und SA-Verbände einen zu Beginn erfolgreich scheinenden Putschversuch und ermordeten Bundeskanzler Dollfuß. Die in den Bundesländern mehrere Tage andauernden Kämpfe wurden schließlich Ende Juli von den austrofaschistischen Truppen niedergeschlagen.38 Im Tagebucheintrag der Bernhardine Alma vom 27. Juli 1934 wurde Dollfuß’ Tod als Erlösung aus der politischen Situation begrüßt, allerdings wird der Kontext – der Versuch, die Regierung zu stürzen – unerwähnt gelassen. Diese Ausblendung überrascht nur auf den ersten Blick. Politik offenbart sich im Tagebuch als etwas, das Bernhardine Alma auf Führerfiguren zuschnitt: Denn mit dem Tod Engelbert Dollfuß’ war das austrofaschistische Regime keineswegs beendet – auch das wurde ausgeklammert: „Der Dollfuß ist ermordet worden, der Hitler will mit Österreich Frieden machen. – Daß der 38
Vgl. Gerhard Jagschitz, Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich, Graz/Wien/Köln 1976, 137–167.
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Dollfuß als Bundeskanzler erledigt ist, ist wundervoll. Traurig ist bloß sein Tod, denn er hat bestimmt gern gelebt. Aber für Österreich ist sein Tod eine förmliche Erlösung! – Er starb so feig, so gottlos, wie er gelebt hat.“ (27.7.1934) Aus den vorherigen Ausführungen wird deutlich, dass der Politikbegriff Bernhardine Almas mit dem Grad ihrer Teilhabe am als öffentlich erklärten Raum korrespondierte; er ist religiös aufgeladen und stützt sich auf das Denken von Führerfiguren. Das Private in seiner räumlichen Gestalt enthüllt sich zudem auch auf der Ebene der politischen Ereignisse als politischer Ort. Die Ebene der Ansichten und der politischen Ideen: „[W]ie ich das Vorgehen der Regierung verabscheue.“39
Neben den Ereignissen wurden in den Einträgen aber auch politische Ideen und Ansichten rezipiert und re/formuliert. Nach der in den Kampftagen des Februars 1934 zu lesenden Ablehnung der „christlichen Regierung“ erschien Adolf Hitler zunehmend als Erlöserfigur: „Ist die Rettung bei Deutschland? Warum ließ unsre blödsinnige Regierung es so weit kommen, daß man auf Hitler wie auf den Befreier wartet?“ (23.3.1934) Gleichzeitig kritisierte Bernhardine Alma die antiklerikale Grundhaltung nationalsozialistischer bzw. deutschnationaler Agitation: „so viel ‚Los=von Rom‘=Literatur!40 Warum hat der Doll41 diesen Kulturkampf heraufbeschworen?! – – Ich gebe morgen die Zetteln zurück u. sage ruhig, daß ich antikathol. Literatur nicht lese. – Schluß.“ (19.7.1934). Offenbar scheint Bernhardine Alma 1934 einige programmatische und inhaltliche Aspekte des Nationalsozialismus weitgehend ignoriert zu haben. Nachdem wir aber wissen, dass sie 1938 bei der Abstimmung zum ‚Anschluss‘ mit „Nein“ stimmte,42 muss sich dies in späteren Jahren geändert haben. In ihren Tagebüchern können wir nachvollziehen, dass sie am 17. August 1935 einen Brief von einem Bekannten erhielt, der davon schrieb, dass er vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste – offenbar war erst das ein Auslöser dieser Gesinnungswandlung; zwei Monate später schrieb sie in ihr Tagebuch:
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Eintrag vom 20.2.1934. Die politische „Los-von-Rom-Bewegung“ ist um die Jahrhundertwende in der Habsburgermonarchie vor allem mit Schönerers Alldeutscher Partei verbunden, die eine Austrittsbewegung aus der römisch-katholischen Kirche aus deutschnationalen Gründen propagierte. In den Tagebucheinträgen Bernhardine Almas ist wohl davon auszugehen, dass sie vor allem antikatholische Literatur im deutschnationalen und nationalsozialistischen Kontext meinte. Mit „Doll“ oder „Dolly“ ist Engelbert Dollfuß gemeint – Abkürzungen, die auch in der nationalsozialistischen Broschüre „Ein Jahr Dollfuss [Pamphlet]“ (1934) (aufbewahrt in der Österreichischen Nationalbibliothek) vorkommen. Vgl. Saurer, Er, wie Anm. 17.
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„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“
„Lieber Gott, daß unsere Regierung weg gehört ist klar, aber doch nicht mit Mord u. Menschen umbringen u. neuen Elend u. nachfolgendem Hitler-Regime. – Der liebe Gott hat mir rechtzeitig die Augen geöffnet. Los von Rom-Bewegung in schlimmster Aufmachung, Judenpogrome nach russischem Muster, eine unhaltbare Politik nach außen, Terror im Inneren – – das hat der National-Sozialismus aus meinem armen schönen, Deutschland gemacht!“ (13.10.1935)
Bereits 1934 gibt es auch Hinweise darauf, dass der ‚Rassen‘-Antisemitismus des Nationalsozialismus einen identitären Konflikt bei Bernhardine Alma auslöste: „Aber dann liegt mir das Andre im Blut – – das Schwere, Quälende – – die Zugehörigkeit zum Judentum – teilweise nur, aber doch. – Wie ich doch an dem Alten Testament hänge – – wie ich in meinem Schreiben davon nicht los komm.“ (28.3.1934) Für das Jahr 1934 kann der Stellenwert dieses Tagebucheintrags nicht überbewertet werden. Die antiklerikale Haltung des Nationalsozialismus wog für Bernhardine Alma in diesem Jahr jedenfalls offensichtlich weitaus schwerer als die antisemitischen Inhalte; noch dazu re/produzierten sich Antisemitismen in ihrem Schreiben: „Ich habe Ahels Lied43 zurück bekommen, weil sie [eine Zeitschrift in NS-Deutschland; Anm. der Autorin] ‚keine Stoffe aus dem alten jüdischen Testament‘ nehmen. Hier geht der Nat. Soz. zu weit. Das Alte Testament ist göttliche Wahrheit. – Wie verhaßt muß der jüdische Geist sich gemacht haben!“ (12.6.1934) Bernhardine Alma scheint also, wenn wir die vorher genannten Punkte zusammenfassen, den Nationalsozialismus vor allem in funktionaler Hinsicht (als Opposition zum Austrofaschismus) rezipiert zu haben: „Heute beim Mutil44 wieder Hitlerbildeln bekommen – wäre fast schlecht ausgegangen. – Aber der liebe Gott hat geholfen. – Ich hab so das Empfinden, daß sich die österr. Nationalsozialisten etwas geändert haben, das vielleicht eine neue, starke, vom Volke Partei aus dem Volke ausgehen, das (fast) ganze Volk umfassen u. die autoritäre Psychose endlich besiegen wird. – Und dann wird auch die hl. Kirche ihre Sendung wieder treuer erfüllen!“ (15.6.1934)
Neben der aktiven Beteiligung an der Zirkulation verbotener politischer Inhalte (die NSDAP war nach der Ausschaltung des Parlaments und während des Konstituierungsprozesses des sogenannten Ständestaates im Juni 1933 verboten worden), die in diesem Eintrag zum Ausdruck kommt, wurde Bernhardine Alma selbst schreibend aktiv. Sie schickte an den deutschen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ein Gedicht:
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Bernhardine Alma war Autorin zahlreicher meist kleinerer religiöser Texte, die sie in Zeitschriften und Anthologien unterzubringen suchte – dies war einer davon. Aus den Einträgen lässt sich erschließen, dass „Mutil“ der Name eines Nahversorgungshändlers ist.
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„Ich hab den Unsinn gemacht, dem Hindenburg ein Gedicht zu schicken. (,Würden noch wie in alter Zeit, die Barden singen u. sagen, Bilder ruhmreicher Vergangenheit, In die Gegenwart zu tragen, Sie sängen ein Preislied wunderbar in mächtigen deutschen Akkorden‘ – – u.s.w.) Hoffentlich kommt keine Hausdurchsuchung u. Verhaftung daraus. Allerdings würde ich in Wöllersdorf45 bald gestorben sein.“ (12.4.1934)
Die Angst, aufgrund dieses Gedichts im Anhaltelager Wöllersdorf eingesperrt zu werden, scheint überzogen – Bernhardine Alma selbst sandte am 26.4.1934 das Gedicht auch an die „Wiener Neuesten Nachrichten“ mit dem Ziel der Veröffentlichung und erhielt im April auch noch einen Dankesbrief aus Hindenburgs Büro. Der politische Katholizismus – ganz wesentliche Stütze des austrofaschistischen Regimes – wurde von Bernhardine Alma ebenso zurückgewiesen wie das Regime selbst, das sie etwa als „Schund=Regierung“ (16.7.1934) und als „das entsetzliche Innitzer=Dolly&Co Regime mit Terror und Verfassungsbruch u. Galgen“ (20.7.1934) bezeichnete und in durchaus heftigen Konfrontationen mit ihrem Beichtvater K. verhandelte. Die Ablehnung des Austrofaschismus realisiert sich nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der sprachlichen Ebene des Lächerlichmachens von Würdenträgern des Regimes, wie sich etwa im Eintrag vom 29. April 1934 zeigt: „Heil Dollfuß = wie heilt man tolle Füße?“ Die katholische Kirche war eine der systemtragenden Institutionen im austrofaschisti schen Ständestaat und stellte wichtige Teile seiner theoretischen und ideologischen Fundie rung. Bernhardine Alma jedoch erkannte nach den blutigen Kämpfen in den Februartagen die vom austrofaschistischen Regime beanspruchte Deutungshoheit über Gottgefälligkeit und Christlichkeit nicht an und verweigerte damit eine wichtige Legitimation des Staates: „Der boshafte kleine Dolly, ein Zerrbild der römischen Mordkaiser oder des Robespierre u. Co.,46 hängt sich um [sic] Überfluß noch ein das Schild, Marke ‚christlich‘ um u. mordet, daß es eine Art hat. – Schießt in der Stadt mit Kanonen, laßt einsperren, läßt schwer Verwundete aufhängen, verweigert ‚Pardon‘ (oh du kleiner, arroganter Bluthund!!!) und
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Im Oktober 1933 wurde, nachdem der Nationalrat im März ausgeschaltet und damit zahlreiche Maßnahmen zur Schwächung und Ausschaltung der Opposition in Gang gesetzt worden waren, das Anhaltelager Wöllersdorf errichtet, in dem politische Gegner (bis auf eine kurzzeitig internierte Frau nur Männer) festgehalten wurden. Das Anhaltelager, das bis Februar 1938 verwendet wurde, unterschied sich allerdings erheblich von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Vgl. Pia Schölnberger, Wöllersdorf – Die Anfänge, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Wien 2010, 190–211. Bernhardine Alma bezog sich hier auf jene historischen Personen, die Willkür und Grausamkeit symbolisieren, also etwa die Christenverfolgung unter Nero oder der nachrevolutionäre „Terreur“ unter Robespierre.
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„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“
grinst hämisch von den Bildern. – Dazu der gräßliche Schmitz47 mit Fey48 u. Konsorten gemischt. – Mein armes, mein süßes, mein geliebtes Wien! – Wann wirst du von dieser Regierung befreit sein? […] Wunderschön, daß der Innitzer sich nicht äußert, das blutige heimtückische Vorgehen des Dolly-Quilp49 nicht gut heißt. Das hatte ich schon so gefürchtet.“ (15.2.1934)
Erzbischof Theodor Innitzer und der Papst werden in den Tagebucheinträgen ebenso abfällig kommentiert, wenn sie sich als Unterstützer des Ständestaates oder Gegner des Nationalsozialismus äußerten: „Lieber Gott, wenn wir bloß einen anderen Papst hätten! – Immerfort nimmt er gegen Deutschland Stellung, ist weit mehr schlechter Politiker als heiliger Vater.“ (10.4.1934) Oder, wie Bernhardine Alma am 29. April 1934 notierte: „Und der Papst u. der Innitzer sind mir so zuwider. Nebenbei macht der Innitzer so ein dummes Gesicht.“ Trotz der Ablehnung des offiziellen politischen Katholizismus wandte sie sich nicht von der katholischen Kirche ab: „Ich werfe keinen Stein auf die (angeblich 13.000!) Menschen, die seit den Februartagen zur evangel. Kirche übergetreten sind. Ich begreife es nur zu gut – – u. ich danke Gott, daß er mich meinem Glauben so lieb haben läßt, daß ich trotz allem bei der Kirche bleibe. Was ich leide, daß die Kirche mich so enttäuscht hat, weiß nur ich. Und Gott. Und mein Schutzengel.“ (4.5.1934)
Neben den Ereignissen wurden also auch politische Ideen und Ansichten in den Einträgen rezipiert und re/formuliert. Auffällig – und für eine Katholikin auf den ersten Blick vielleicht überraschend – ist jedenfalls die Sympathie für den Nationalsozialismus und die Ablehnung des Ständestaates. Bernhardine Alma änderte allerdings wie bereits erwähnt ihre Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus im Laufe des Jahres 1935 und stimmte am 13. März 1938 als eine von 464 Personen unter 92.662 Wahlberechtigten in ihrem Wahlbezirk mit „Nein“ zum ‚Anschluss‘.50
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Richard Schmitz (1885–1954) war Direktor des „Katholischen Volksbundes“, 1933/34 Sozialminister und von 1934 bis 1938 Wiener Bürgermeister. Vgl. http://austria-forum.org/af/AEIOU/ Schmitz%2C_Richard, Zugriff: 1.6.2015. Emil Fey (1886–1938) war als Wiener Heimwehrführer massiv an der Niederschlagung der Februarkämpfe beteiligt. Vgl. http://austria-forum.org/af/AEIOU/Fey%2C_Emil, Zugriff: 1.6.2015. „Quilp“ spielt auf die Romanfigur Daniel Quilp im Buch „The Old Curiosity Shop“ („Der Raritätenladen“) von Charles Dickens an, die sich durch ihren heimtückischen Charakter auszeichnet und von kleiner Statur ist. Vgl. Saurer, Er, wie Anm. 17.
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Die Ebene des Privaten: „Er hat mir lieb u. gut zugeredet. Gott sei dank, kein Wort vom Dollfuß.“51
Auf die eingangs genannte Kritik der Dethematisierung reagierend, soll nun das sogenannte Private auf der dritten Analyseebene als politisches Feld dechiffriert werden. Dies ist in einem ersten Schritt konkret als Ort zu verstehen: Politik dringt in diesen privaten Raum ein, wird dort verhandelt und transformiert. Am Beispiel der Zirkulation von nationalsozialistischen Flugzetteln und Schriften innerhalb der Wohnzimmer und Geschäfte52 lässt sich ersehen, wie sehr Politik auch außerhalb von Vereinslokalen ‚gemacht‘ wurde: „Gestern erst Tantelilly da. Nur kurz. […] Sie hat mir ein entzückendes Jahr Dollfuß53 v. der Nationalsozialistischen Partei geschenkt – wirklich ausgezeichnet in Text u. Bild!“ (7.4.1934) Auch die Kirche und religiöse Rituale bildeten Schauplätze politischer Inszenierung,54 wie am Beispiel des Dollfuß-Begräbnisses gezeigt werden kann: „Das gestrige Prunk=Begräbnis muß unendlich aufreizend auf die gewirkt haben, die Tote betrauern müssen. – Aufreizend die Haltung der Kirche, das verrückte Glockenläuten, die stumpfsinnige Innitzer-P.[redigt] (Ein Hirte, der so albern spricht – –).“ (29.7.1934) Die Charakterisierung Innitzers in Klammern ist übrigens ebenfalls im oben genannten Pamphlet „Ein Jahr Dollfuss“ zu lesen und lautet vollständig: „Ein Hirte der so albern spricht, ist ein Faustschlag in’s Gesicht der ganzen deutschen Christenheit!“55 Abgesehen von den vorhin genannten Orten sind auch soziale Beziehungen Trägerinnen von Politik. Beziehungen selbst sind keine machtfreien Konstruktionen, sondern von Asymmetrien und Hierarchien gekennzeichnet, die unter anderem durch das Geschlechterverhältnis bestimmt sind. Hierbei zeigt sich auch, wer ein ‚Recht‘ auf gültige politische Äußerungen hat und wessen politische Ansichten sich im Kampf um die Deutungshoheit durchsetzen
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Eintrag vom 29.7.1934. Johanna Gehmacher hat darauf aufmerksam gemacht, dass über die vorgeblich unpolitischen Frauenorganisationen während des Verbots der Partei nationalsozialistische Inhalte zirkuliert wurden, vgl. Gehmacher, Frauenbewegung, wie Anm. 3, 74–180. Hiermit ist ein sechsseitiges, zweispaltiges und mit Karikaturen bebildertes nationalsozialistisches Pamphlet gemeint, das sich auf ein Plakat der „Vaterländischen Front“ bezieht. Ein Schwerpunkt der Broschüre ist neben einer allgemeinen und umfassenden Schmähung des Regimes die Verhöhnung von Dollfuß. Plakat: Paul Gerin, Ein Jahr Dollfuss! Die Wirtschaft erholt sich! Wien 1934, unter www.bildarchivaustria.at/Bildarchiv/FLU/3/B1206301T1768500.jpg, Zugriff: 1.6.2015; Broschüre: Ein Jahr Dollfuss [Pamphlet], o.O. 1934. Beide werden in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Die Lektüre des Flugblattes könnte im Übrigen ein Auslöser für die im vorigen Abschnitt geschilderte Angst vor dem Anhaltelager Wöllersdorf sein. Dort heißt es: „Bevor es kommt zur Ueberlegung ist er in Böllersdorf [sic] Umhegung – ohne Angaben von Gründen kann man sich hier befinden“, Ein Jahr Dollfuss, 5. Diese waren fester Bestandteil im Kampf um den ‚öffentlichen‘ Raum v. a. in Wien. Vgl. Siegfried Mattl, Austrofaschismus, Kulturkampf und Frauenfrage, in: Lehmann, Frau, wie Anm. 24, 63–77. Ein Jahr Dollfuss, wie Anm. 53, 3.
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„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“
können. Jenes Recht wird im Tagebuch der Bernhardine Alma mehrheitlich Männern zu gesprochen. Deren politische Meinungen dienen darüber hinaus in den Einträgen immer wieder als Legitimation der eigenen Position: „Mit dem Brunner heute, gestern mit dem Winter über die österr. Lage gesprochen. Beide gaben mir recht, sind über die Grausamkeit der Regierung außer sich.“ (6.3.1934) Die Einstellungen von Freundinnen werden hingegen eher als gleichranging wiedergegeben: „Sie denkt deutsch, wie die Stau56 (die ein wenig zu radikal) wie so viele Tausende.“ (3.4.1934) Evident ist dabei, dass die Figur des Priesters K. im Tagebuch Bernhardine Almas eine besondere Rolle spielt. Zwischen ihm und der Beichtenden ist nicht nur eine Hierarchie, sondern auch ein Abhängigkeitsverhältnis festgeschrieben: Er ist Adressat der Beichte, Vertreter der Institution, Richter und Vergeben der, sie ist Sünderin.57 Der Beichtvater konstituiert sich in den im Tagebuch geschilderten Gesprächen als Vater gegenüber einem ungehorsamen und naiven Kind. Im Beichtgespräch, wie im Tagebuch beschrieben, zwang K. Bernhardine Alma immer wieder, sich ihm anzuvertrauen, was den Charakter der Beichte als „Erziehungsmittel“58 offenlegt: „Ich solle mich doch endlich überzeugen lassen, daß ich ihn nicht belästige, daß ich ihm alles sagen solle – und noch so, so viel Liebes – von ‚deinem Herzl‘ redete [er] u. ‚So sag doch einmal ja –‘ u. daß ‚seit unsrem Februargespräch‘ ich mich zurückgezogen – ich sagte, darüber nicht mehr zu sprechen, aber er meinte, wir müßten uns darüber aussprechen – er verlangte, daß ich ihm schreiben solle (wiederholt), sagte, ‚wenn man bei dir einmal eine seelische Kneippkur macht, bist du auf zehn Monate verkühlt –‘ und ich müßte ‚ganz Kind‘ sein – und dann kams [sic] so wunderschön ‚Bleibe wie du bist –‘ dann sagte er ‚ich könnte dich ja auch als Dame behandeln – aber das will ich nicht. Ich behandle dich ganz als Kind – – – vielleicht denkst du auch da anders –‘ und dann verlangte er ‚demütige Hinnahme‘ seiner Worte.“ (11.6.1934)
Auch in der Beurteilung (eigentlich Verurteilung) der politischen Einstellung Bernhardine Almas durch den Priester K. ist die hierarchische Beziehungsstruktur evident. Der schon eingangs illustrierte Konflikt begann, weil K. im Februar 1934 ihre Einstellung gegenüber der Regierung nicht ernst nahm und versuchte, sie von der Richtigkeit der staatlichen Handlungsweise zu überzeugen. Nachdem das nicht gelang, endete das Beichtgespräch, indem er ihr die Absolution nicht gewährte, was eine (religiöse) Krise bei Bernhardine Alma auslöste. K. verharmloste das Monate später im oben zitierten Beichtgespräch salopp als eine „seelische Kneippkur“ und machte ihre politische Position im Vergleich zu seiner (erneut) lächerlich. Tatsächlich führte also diese Verzahnung des Politischen mit dem scheinbar Intimen des Beichtgesprächs, in dem bestimmte Positionen legitimiert und andere abqualifiziert wurden, zu einer Störung des Verhältnisses Bernhardine Almas zur Kirche – „Lieber Heiland, das 56 57 58
Gemeint ist ihre Freundin Frau Staudacher. Vgl. Unfried, „Ich bekenne“, wie Anm. 6, 79–102. Unfried, „Ich bekenne“, wie Anm. 6, 136.
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schwerste Opfer ist es für mich, der Kirche treu zu bleiben.“ (20.2.1934) – und zu K. selbst, wenn auch nicht langfristig; Sie blieb bis zu seinem Tod im Juni 1936 sein ‚Beichtkind‘.59 Dieser Konflikt lässt also einerseits erkennen, dass Politik im religiösen Gespräch verhandelt wurde. Andererseits macht er deutlich, dass Bernhardine Alma ein enges Verhältnis zu ihrem Beichtvater hatte, was auf die doppelte Tradition der katholischen Beichtpraxis verweist: Die regelmäßige Beichte war nicht nur ein wiederkehrendes frommes Ritual (sie ging immer samstags zur Beichte, um die Eucharistie ‚ohne Sünde‘ empfangen zu können), sondern auch ausführliches Gespräch und demnach eine ,Seelenführung‘, die nur für einen kleinen Zirkel von Gläubigen vorgesehen war.60 Diese ,Seelenführung‘ steigerte sich schließlich zu einem absoluten Anspruch des Beichtvaters auf Bernhardine Alma: „Er meinte ‚Alles wird sofort abgelehnt‘ und ‚fällt dir denn jetzt das Folgen so schwer?‘ und ‚du folgst mir jetzt gar nicht mehr‘ und ‚wie wäre es dann wenn ich dich einfach zwingen würde? Sagen, du mußt das s tun –‘ u.s.w. – Ich sagte, ich wisse nicht, was ich tun sollte – u. er: ‚Gib mir deine Seele‘ und ich solle ihm meine Seele ‚ganz‘ geben.“ (11.3.1934)
Die Ebene des Symbolischen: „Der Tod des Dollfuß war ein Zeichen Gottes.“61
Auf der vierten Ebene zeigt sich, dass die im Tagebuch der Bernhardine Alma vorgenommene Deutung von politischen Zusammenhängen und Vorgängen einerseits von größeren Sinnsystemen und andererseits von ihrer gesellschaftlichen Teilhabe abhing. Mit dem Einbeziehen des Konzepts von symbolischen Ordnungen in die Analyse soll dem Rechnung getragen und Politik als – wie Birgit Sauer feststellt – „Kampf um Bedeutung und Benennungsmacht, der auf die Durchsetzung einer ‚legitimen Wahrnehmungsweise‘ der Welt zielt“,62 gelesen werden. Damit werden hier „machtvolle und autoritative Diskurse wie jene der Wissenschaften, der Religionen, der politischen Ideologien etc.“ verstanden, die „ein Potential von Interpretationsmöglichkeiten [bieten], das von Individuen genützt werden kann und zum Teil auch genützt werden muß, um ihr Handeln in diversen Handlungsfeldern zu orientieren“.63 Im vorliegenden Tagebuch lässt sich dies anhand von Sinnangeboten der katholischen Kirche nachvollziehen. 59
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Edith Saurer hat darauf aufmerksam gemacht, dass Bernhardine Alma zu keinem anderen Priester (mehr) ein ähnlich enges Verhältnis hatte. Das zeigt sich z. B. auch daran, dass sie im März 1938 zwar Kardinal Innitzer aufsuchte, um Rat bezüglich der Abstimmung zum ‚Anschluss‘ zu suchen, aber trotz seiner Empfehlung („Ja“) mit „Nein“ stimmte. Vgl. Saurer, Er, wie Anm. 17. Vgl. Unfried, „Ich bekenne“, wie Anm. 6, 57–78; Saurer, Frauen, wie Anm. 30. Eintrag vom 30.7.1934. Birgit Sauer, Women, wie Anm. 13, 59 (Hervorhebung der Autorin). Reinhard Sieder, Gesellschaft und Person: Geschichte und Biographie. Nachschrift, in: Reinhard Sieder Hg., Brüchiges Leben. Biographien in sozialen Systemen, Wien 1999, 234–264, 241.
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„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“
Das Motiv des Opferns durchzieht das Schreiben und schließt an Bernhardine Almas starken Katholizismus an.64 Opferrituale bestimmen ihre religiöse Praxis permanent: „Gestern, da Charsamstag{freitag} war, nicht hereingeschrieben. – Ich wollte an diesem Tag auch keine Post lesen, doch Gott wollte dieses Opfer nicht u. ich bekam gar keine.“ (31.3.1934) Auf der Motivebene des Opfers wird jedenfalls das gesellschaftliche und politische Geschehen in Österreich, dessen Konflikte sich im BürgerInnenkrieg zuspitzen, individualisiert und damit beeinflussbar. Bernhardine Alma imaginierte sich als Märtyrerin, deren Leben für die Menschheit (in diesem Fall: Wien) hingegeben wird: „Lieber Gott, laß mich (nach guter Beichte!) für mein Wien sterben – nimm mein Leben, das ich dir zweimal umsonst angeboten (beim Tode von Papa u. Mama) das drittemal als Opfer gnädig an.“ (14.2.1934) Das Gegenstück zum Opfer ist die Heilserwartung. Adolf Hitler wird im Tagebuch von Bernhardine Alma aus dem Jahr 1934 als Erlöserfigur dargestellt, die Österreich retten würde. Vielleicht sogar in einer Umkehrung der Dollfuß-Verehrung im Herrgottswinkel wird Hitler (im Tagebuchtext) gleichsam ikonisiert. So präsentierte Bernhardine Alma Bilder von Hitler mit Lorbeerschmuck: „Den Lorbeer aus dem Bouquet vom Winfried hab ich auf meinem Schreibtisch befestigt. Davor das Hitlerbild gestellt.“ (7.4.1934) Ikonenhaft gelesen werden kann diese Präsentation Hitlers auch in der Beschreibung des Bildes: „Was für ein verläßliches, treues Gesicht hat doch der Hitler. Ein Gesicht, von dem Trost kommt –, Stille – Bereitschaft.“ (28.3.1934) Aus dem Politiker Hitler wurde buchstäblich ein Heiligenbild, in das alle Hoffnung und Sehnsüchte hineinprojiziert werden konnten: „Meinen Hitler möcht’ ich mir schön einrahmen lassen.“ (4.3.1934) Politische Ereignisse scheinen nicht nur durch persönliche Opfer beeinflussbar gemacht worden zu sein, sondern waren überhaupt religiös deutbar. So etwa, wenn diese symbolisch aufgeladen und zum Zeichen göttlichen Willens stilisiert wurden – dies ist im Kontext des Ständestaates insofern spannend, als von den austrofaschistischen Propagandisten wiederum die sogenannte Selbstausschaltung des Parlaments 1933 als gottgewollt dargestellt wurde:65 „Der Tod des Dollfuß war ein Zeichen Gottes. Ganz, ganz sicher! – – Wann werden es alle erkennen? – – Noch hat versucht die Kirche, die Regierung u.s.w. das Märchen sei64
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Opfer als Legitimationsstragie für politisches Handeln von Frauen hat Irene Bandhauer-Schöffmann für katholische Frauenpolitik im austrofaschistischen Ständestaat herausgearbeitet. Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann, Gottgewollte Geschlechterdifferenzen. Entwürfe zur Restrukturierung der Geschlechterdichotomie in der Konstituierungsphase des „Christlichen Ständestaats“, in: Lehmann, Frau, wie Anm. 24, 15–61, insbes. 32–36. Vgl. etwa folgendes Zitat aus einer zeitgenössischen Biographie von Engelbert Dollfuß: „So bedeutet der März 1933 eine weltgeschichtliche einschneidende Wendung mannigfaltigster Art. Dollfuß wies, indem er die große Sendung klar erkannte, die Gott Österreich anvertraut hat, und indem er sich bedingungslos in den Dienst dieser Sendung stellte, ganz Europa den Weg der Rettung aus dem furchtbaren Chaos der Gegenwart.“ Dietrich von Hildebrand, Engelbert Dollfuß. Ein katholischer Staatsmann, Salzburg 1934, 34. Mit Dank an Lucile Dreidemy für den Hinweis.
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ner Vollkommenheit aufrecht zu erhalten, noch triumfieren [sic] Pharisäertum und Lüge u. Heuchelei, Intoleranz u. Grausamkeit über Wahrheit, Gerechtigkeit u. Nächstenliebe u. Gottesfurcht – – aber Gott wird helfen! – – Gott hat den Anfang gemacht – – u. Gott weiß, was Er tut!“ (30.7.1934)
In Bernhardine Almas Tagebuch wird also deutlich, dass Religion – bzw. die katholische Kirche – als wirkmächtiges System mehrere Deutungsmuster für politische Ereignisse anbot, wie etwa die Identifikation mit Jesus als Opfer, die Hoffnung auf den Messias bzw. die Stilisierung einer Erlöserfigur und die Umdeutung des Konzepts des politischen Katholizismus.
Resümee
Das hier vorgestellte Tagebuch ist aus mehreren Gründen ein außergewöhnliches Selbstzeugnis. Es wurde zunächst ersichtlich, dass die hybride Textform Tagebuch66 die vielfältigen Selbstentwürfe und -projektionen sowie Selbstdisziplinierung und -erziehung offenbart, die sich im vorliegenden Fall mit der Praxis des Beichtens überkreuzt. Schreiben und Beichten erscheinen als höchst ambivalent, lassen widersprechendes, eigensinniges Agieren zu und bleiben bis ins 20. Jahrhundert hinein Mittel der Kontrolle und Disziplinierung. Dieses Tagebuch erweist sich zudem als ein seltenes Zeugnis für die Bedeutung von Religion und Frömmigkeit, wie sie sonst in der Tagebuchforschung oftmals nur ‚vormodernen‘ diaristischen Texten zugesprochen wird.67 Nicht zuletzt vermag es auch wichtige Einblicke in die Praxis des Beichtens zu geben, von der die sozial- und geschlechterhistorische Forschung aufgrund der Quellenlage noch wenig weiß. Die Analyse der Tagebücher Bernhardine Almas zeigte, dass sich Politik in ihrem Schreiben in mannigfacher Weise manifestierte und re/präsentierte, die Schreiberin sich im Feld des Politischen verortete und durchaus als politische Akteurin betätigte. Das Schreiben und das Beichten dienten dabei als Handlungsfelder. Damit konnte auch gezeigt werden, dass durch eine unkritische Übernahme von Konzepten wie privat und öffentlich wichtige Räume des Politischen außer Acht gelassen werden. Dadurch wird auch wissenschaftlich bzw. historiographisch weiter am diskursiven Ausschluss von Frauen aus diesem Feld gearbeitet. Die Art und Weise, wie auf der Textebene Politik re/konstruiert wurde, hängt zudem von einem Politikbegriff ab, der mit der Teilhabe Bernhardine Almas am als öffentlich erklärten Raum korreliert: Sie entwickelte in ihrem Tagebuch einen religiös aufgeladenen Begriff von Politik, der sich unter anderem auf Führerfiguren stützt und politische Ereignisse religiös deutet. Darüber hinaus entlarvte sich die scheinbar persönliche und private Beicht situation als umkämpftes Feld von politischer Deutungsmacht. 66 67
Vgl. Seifert, Tagebuchschreiben, wie Anm. 20, 40f. Vgl. Hämmerle, Diaries, wie Anm. 6, 145.
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„Lieber Gott lasse mich sterben – und schenke dafür Wien Frieden und Segen“
Die hier vorgestellten Befunde, die sich auf eine Analyse des Tagebuchs der Bernhardine Alma in den Monaten Februar bis Juli 1934 stützen, müssen allerdings vor dem Hintergrund gelesen werden, dass sich die Situation der Schreiberin 1938 durch die Bedrohungs situation durch den nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus erheblich änderte. Dabei kommt der katholischen Religion in der Zeit von 1938 bis 1945 vermutlich verstärkt jene Bedeutung zu, die schon für die Jahre zuvor festgestellt werden kann: die katholische Kirche „als im weitesten Sinne Almas Überlebensraum“.68 Dieser Überlebensraum überkreuzte sich mit dem nahezu täglichen Schreiben und machte deren beider Funktion im Leben Bernhardine Almas deutlich: „Ich bin fast völlig ohne Orientierung. Ein furchtbarer Zustand! – – Auf diese Art kann ich weder beten, noch schreiben. Und dies brauch ich beides!“ (23.5.1934)
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Saurer, Er, wie Anm. 17.
Ingrid Brommer und Christine Karner
Das Tagebuch einer Autobiographie Elise Richters ,öffentliches‘ und ,privates‘ Schreiben während der NS-Diktatur (1938–1941)
Die Frau, deren autobiographisches Schreiben im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, ist keine Unbekannte, zählt doch die Wiener Romanistin Elise Richter in der wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung zu den Vorreiterinnen des Frauenstudiums in Österreich. 1865 als Tochter jüdischer Eltern geboren, war sie die dritte Frau, die an der Universität Wien promovierte (1901) und die erste Frau im deutschsprachigen Raum, die eine Venia Legendi erhielt (1905). Dass sie noch dazu ab 1907 an der Universität Wien lehren durfte, erregte auch im kaiserlichen Deutschland Aufsehen, wie der Brief ihrer in Berlin lebenden Kusine zeigt: „[…] in allen Zeitungen waren kurze und lange Artikel, gestern Dein Bild in einer Beilage des Berliner Tageblatts“.1 1921 wurde Elise Richter – wiederum als erste Frau in Österreich und Deutschland – zum „außerordentlichen Professor“ ernannt. Im Gedenken an diese bedeutende Persönlichkeit, die zeitlebens unverheiratet blieb und mit der älteren Schwester Helene (geb. 1861) zusammenlebte, gibt es deshalb im Bereich der Universität Wien mehrere Orte, die ihren Namen tragen. Auch Stipendien und Preise2 wurden nach ihr benannt, Internet-Plattformen und Weblogs3 eingerichtet, Ausstellungen4 organisiert. Die posthumen Ehrungen erinnern aber nicht nur an die Wissenschaftlerin. Sie erinnern auch daran, dass der 1897 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetretenen und 1911 evangelisch A. B. getauften Elise Richter5 im Jahr 1938, nach drei Jahrzehnten ununterbrochenen Wirkens an der Universität Wien, die Lehrbefugnis entzogen wurde, und dass man sie und 1
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Wienbibliothek im Rathaus (WBR), Nachlass Helene und Elise Richter, H.I.N. 232 991, Brief von Hermine Warschauer an Elise Richter, 27.9.1907. Der Nachlass wird in der Folge zitiert als: WBR, NLR; Tagebucheinträge werden mit TB, Jahreszahl und Datum angegeben (z. B.: WBR, NLR, TB 1938, 1.1.). Der „Österreichische Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ (FWF) vergibt ein Elise-Richter-Stipendium, der „Deutsche Romanistenverband“ einen Elise-Richter-Preis. Zu Plattformen und Weblogs vgl. Robert Tanzmeister u. Thierry Elsen, Elise und Helene Richter. Wissenschaftlerinnen, Jüdinnen, Wienerinnen, http://richter.twoday.net/, Zugriff: 1.6.2013, sowie Christiane Hoffrath, Die Welt von Gestern. Widmungsexemplare aus der Bibliothek Elise und Helene Richter, in: Stefan Alker, Christina Köster u. Markus Stumpf Hg., Bibliothek in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte, Wien 2008, 104–105. Vgl. Hoffrath, Welt, wie Anm. 3. Vgl. Anna L. Staudacher, Jüdisch-protestantische Konvertiten in Wien 1782–1914, Teil 2, Frankfurt a. M. 2004, 579; WBR, NLR, TB 1911, 5.1.
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ihre Schwester im Oktober 1942 nach Theresienstadt/Terezín deportierte. Die mit zwei Ehrendoktoraten der Anglistik6 ausgezeichnete Helene Richter verstarb dort wenige Wochen nach der Deportation, Elise Richter am 21. Juni 1943.7
Der Nachlass
Der umfangreiche Nachlass Elise Richters wurde den Wiener Städtischen Sammlungen (heute: Museen der Stadt Wien) im Mai 1947 übergeben.8 Nachlassgeberin war die Staatsbibliothekarin Christine Rohr9, eine ehemalige Studentin Elise Richters. Ihr hatte die Wissenschaftlerin im Jahr 1941 mehrere Kartons anvertraut, in denen Briefe, persönliche Dokumente, Fotografien, mehr als sechzig Tagebücher und tagebuchähnliche Aufzeichnungen10 sowie zwei Autobiographien verpackt waren. Die erste dieser autobiographischen Selbstdarstellungen, der „Versuch einer Selbstbiographie“,11 stammt aus dem Jahr 1884, die zweite – von Elise Richter als „Summe des Lebens. Lebensfreuden und Lebensleid“ bezeichnet – aus dem Jahr 1940.12 Die „Summe des Lebens“, die Lebensbilanz der 75-jährigen Gelehrten, wurde 1997 vom „Verband der Akademikerinnen Österreichs“ veröffentlicht, um damit 100 Jahre Frauenstudium und 75 Jahre Verbandsbestehen zu feiern.13 Bis heute gilt dieser Text als Referenzwerk zu Elise Richters Leben – obwohl diese in ihrer Einleitung ausdrücklich darauf hinwies, dass es sich um Erinnerungen und keine Biographie handle.14 Die „mit Bleistift beschmierten“ Taschenkalender und Agenden, in denen von Jugendjahren an die Geschehnisse des Tages, „viel Leid […], viele Anklagen, viele Enttäuschungen“15 festgehalten wurden, fanden 6 7 8 9 10 11
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Die Ehrendoktorate wurden Helene Richter 1931 durch die Universitäten in Heidelberg und Erlangen verliehen. Der Totenschein Helene Richters trägt das Datum 6.11.1942, vgl. www.holocaust.cz, Zugriff: 1.6.2015. Vgl. Christian Mertens, Die Sammlung Richter, in: AKMB-news. Informationen zu Kunst, Museum und Bibliothek, 12, 2 (2005), 24–26. Dr. Christine Rohr (1892–1952): Tochter des Feldmarschalls Franz Rohr von Denta; seit 1919 an der Österreichischen Nationalbibliothek beschäftigt. Elise Richters erste Aufzeichnungen stammen aus 1877, die letzten erhaltenen aus dem Jahr 1941. WBR, NLR, H.I.N. 233 310. Das 230 Seiten umfassende Manuskript mit dem Titel „Versuch einer Selbstbiographie“ wurde auszugsweise von Hannes Stekl publiziert: Hannes Stekl, „Höhere Töchter“ und „Söhne aus gutem Haus“. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik, Wien/Köln/Weimar 1999. Eine Gesamtedition der Jugenderinnerungen durch die Autorinnen dieses Beitrags ist unter dem Titel „’Möchte gern etwas schreiben ...’ Frühe autobiographische Schriften aus dem Nachlass der Wiener Romanistin Elise Richter (1865–1943)“ in Vorbereitung. WBR, NLR, H.I.N. 231 943. Verband der Akademikerinnen Österreichs Hg., Elise Richter: Summe des Lebens, Wien 1997. Das Typoskript wurde originalgetreu übernommen. Richter, Summe, wie Anm. 13, Elise Richter in ihrer mit 29. April 1940 datierten Einleitung (ohne Seitenangabe). Richter, Summe, wie Anm. 13, 233.
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hingegen kaum wissenschaftliche Beachtung.16 Gerade für den Betrachtungszeitraum 1938 bis 1941 sind die diaristischen Notate aber von größtem Interesse, denn in ihren Lebens erinnerungen widmete Elise Richter dem seit der nationalsozialistischen Machtübernahme Erfahrenen und Erlittenen nur wenige Seiten. Was es hieß, in diesen Jahren als Frau alt, alleinstehend,17 mehr oder minder mittellos und noch dazu ‚rassisch‘ verfolgt zu sein, führen uns ihre Tagebücher auf mehr als 1000 handgeschriebenen Seiten schmerzhaft vor Augen. Dadurch sind sie eine zeitgeschichtlich wichtige Quelle: Die Mehrheit der aus Wien deportierten Frauen war über 60 Jahre alt, lebte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in mehr oder minder prekären Verhältnissen, war gebrechlich, hilfs- oder pflegebedürftig. Keine dieser Frauen hat – unserem Wissen nach – ein Tagebuch hinterlassen. Auch in anderer Hinsicht sind die Diarien ein Dokument von besonderer Qualität: Jede einzelne Etappe der Niederschrift der Lebenserinnerungen wurde darin festgehalten. Wir können daher nicht nur nachvollziehen, wie es zur Entstehung der „Summe des Lebens“ kam und dank der täglichen Einträge erahnen, von welchen Gefühlen die Niederschrift begleitet war, sondern wir verfügen überdies über zwei parallel entstandene, ineinander verschränkte Lebensschilderungen.
Die Tagebücher 1938–1941
Seit Beginn ihrer diaristischen Praxis gehörte es zum abendlichen Ritual Elise Richters, die Geschehnisse des abgelaufenen Tages stichwortartig in kleinformatigen Kalendern oder Agenden festzuhalten.18 Die betagte Universitätslehrerin notierte auf den eng und absatzlos mit Bleistift beschriebenen Seiten der Kalender19 Nachtruhe, Gesundheitszustand, Lektüre oder Lehrveranstaltungsvorbereitungen. Die Hauptthemen ihrer Eintragungen sind gesellschaftliche Kontakte – bis zum März 1938.
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Die Recherche nach entsprechenden Arbeiten ergab nur drei Treffer: Thierry Elsen u. Robert Tanzmeister, In Sachen Elise und Helene Richter. Die Chronologie eines „Bibliotheksverkaufs“, in: Murray G. Hall Hg., Geraubte Bücher: Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit, Wien 2004, 128–138; Nicola Rickert, Helene Richter, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2001; Veronika Helfert, Geschlecht. Schreiben. Politik. Frauentagebücher im Februar 1934, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2010. Unter „alleinstehend“ sind unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen bzw. geschiedene und verwitwete Frauen, deren Kinder in der Emigration lebten, zu verstehen. Vgl. Richter, Summe, wie Anm. 13. Nur ein einziges Mal musste sie von dieser Gewohnheit abweichen: Die Einträge, die ihre lebensbedrohende Erkrankung betrafen (23. Februar bis einschließlich 22. Juli 1939), wurden 1940 nachgetragen. Orthographie und Interpunktion der in diesem Beitrag angeführten Tagebuch-Zitate entsprechen den Originaltagebüchern. Der Name der Schwester, in den Tagebüchern stets nur mit der Initiale „H“ bezeichnet, wird als Helene wiedergegeben.
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Das Sommersemester des Jahres 1938 hatte an der Universität Wien am 15. Februar begonnen.20 Elise Richters erste Vorlesung, ein Kolleg zur „Lautpsychologie“ am Institut für Romanistik, fand am 24. Februar statt. Bereits das Kolleg vom 10. März 1938 sollte ihre letzte Lehrveranstaltung sein. In der „Summe des Lebens“ wird sie dazu zwei Jahre später schreiben: „Mit einem frohgemuten ‚Nächstes Mal mehr davon‘ stieg ich vom Katheder herab, um nicht wieder zu kommen.“21 Ob sie damals tatsächlich „frohgemut“ war, ist zu bezweifeln, denn die Tagebucheinträge der vorangegangenen Tage zeigen, dass die Stimmung überaus gespannt war: „Jeden Tag Spektakel auf der Gasse. Wieder einmal Wendung zum schlechteren.“22 „Angeblich schon überall Umzüge mit Heil Hitler.“23 Elise Richter war sich durchaus bewusst, dass die nationalsozialistische Machtübernahme schwerwiegende Folgen für sie haben würde; etliche ihrer in Deutschland lehrenden Kollegen und Freunde 24 waren 1933 aus ‚rassischen‘ oder politischen Gründen der nationalsozialistischen „Säuberung“ zum Opfer gefallen: „Vielleicht meine letzte Vorlesung. Helene auch aufgeregt. Wir müssen sterben. Ich: wir können. Besser als unfreiwillig irgendwie krepiren. Frage nur, ob mein Morphinvorrat für 2 reicht.“25 Von der Einstellung des Vorlesungsbetriebs erfuhr Elise Richter am 11. März 1938; Grete Pick, Ehefrau des an der Universität Wien lehrenden Pharmakologen Ernst Pick und Mitbewohnerin des Hauses Weimarer Straße 83, ließ es ihr durch eine Hausangestellte mitteilen.26 Grete Pick war überzeugt, dass ihr 66-jähriger Ehemann jüdischer Herkunft wohl der erste sein werde, „der gehen muss“.27 Am Abend desselben Tages verabschiedete sich der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg vom Volk; sein Nachfolger Arthur Seyß-Inquart hielt eine über den Rundfunk mehrfach ausgestrahlte Ansprache, mit der die Bevölkerung aufgefordert wurde, Ruhe und Ordnung zu bewahren.28 Elise Richters Kommentare: „[…] keine Vorlesung. Schuschnigg selbst im Radio gesprochen verabschiedet. Seiss-Inquart [sic] ekelhaft: Ruhe bewahren, auch im Fall der Einrückung keinen Widerstand leis20 21 22 23 24
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Vgl. Öffentliche Vorlesungen an der Universität Wien, hg. vom Akademischen Senat: Sommersemester 1938. Richter, Summe, wie Anm. 13, 171. WBR, NLR, TB 1938, 22.2. WBR, NLR, TB 1938, 7.3. Zu diesen zählten die Romanisten Eugen Lerch (1888–1952), Leo Spitzer (1887–1960), Walther Küchler (1877–1953) sowie der mit den Schwestern Richter seit Jugendjahren befreundete Mediziner Peter Rona (1871–1945). WBR, NLR, TB 1938, 9.3. Grete Pick geb. Janssen (1894–1979) und Ernst Pick (1872–1960) waren 1927 in das Haus Weimarer Straße 83 gezogen. Der Pharmakologe wurde 1938 aus ‚rassischen‘ Gründen entlassen und sogar kurzfristig inhaftiert. 1939 emigrierten die Eheleute in die USA. WBR, NLR, TB 1938, 11.3. Die Rede wurde erstmals um 20.30 Uhr ausgestrahlt und um 21.30 Uhr sowie nach 22 Uhr nochmals wiederholt; vgl. Reichspost, 12.2.1938, 2.
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ten. Offenbar Salzburg besetzt. Tief erschüttert.“29 „[…] früh vor allem zur Zeitung … Seiyss-Inquart [sic] Bundeskanzler, Menghin Unterrichtsminister, Schuschnigg in Schutzhaft […] Hitler in Linz Jubel der Bevölkerung […] Jubel in Kärnthen, Graz (60 000 Fackelzug) sogar Innsbruck. Proklamation mit Schmähungen auf Schuschnigg; […] In der Universität alle mit Hakenkreuzen. Fahnen auf Parlament, Rathaus, wo Jubel […];“30 „[…] Zeitung zum übel werden. Das befreite Oesterreich. Einstimmiger Jubel. Alles von Deutschen geschrieben.“31
Dem Tagebuch ist weiters zu entnehmen, dass Elise Richter in diesen Tagen kaum das Haus verließ, schon gar nicht, um in das Stadtzentrum zu fahren; von dem, was dort passierte, wusste sie nur durch Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld.32
Der Kampf ums materielle Überleben: „Wenn nur irgend etwas zu verdienen wäre …“33
Bereits am Tag des „Anschlusses“ dachte Elise Richter darüber nach, wie sie der zu erwartenden Zwangsentlassung zuvorkommen könnte. Die beste Lösung schien ihr, sofort um Pensionierung anzusuchen, nicht zuletzt weil sie hoffte, dadurch die Umwidmung ihrer ministeriellen Unterstützungszahlung von 165 Schilling monatlich in Ruhegeld herbeiführen zu können.34 Der Weiterbezug dieser Subvention war wichtig, denn die finanzielle Lage der Schwestern war schon vor dem März 1938 durchaus angespannt. Ein Rückblick
Dank des ihnen hinterlassenen Erbes waren Helene und Elise Richter nach dem Tod der Eltern (1889 bzw. 1890) zunächst nicht auf Erwerbsarbeit angewiesen gewesen. Einen Teil des Vermögens hatten sie 1895 in den Bau einer großzügigen Villa investiert: Die Vermietung des ersten Stockwerks sollte ihnen ein regelmäßiges Einkommen sichern. Vom restlichen Erbe war am Ende des Ersten Weltkrieges allerdings nichts mehr übrig, denn die Schwestern hatten – wie viele andere auch – in patriotischer ,Begeisterung‘ Kriegsanleihen gezeichnet. Nachdem 1917 Mieterschutz und ‚Friedenszins‘ eingeführt, die Mieten ‚eingefroren‘ worden waren, konnten die Mieteinnahmen die Lebenshaltungskosten nicht mehr decken. Zwar kennen wir die Einkommenssituation der Schwestern nach 1918 nicht im 29 30 31 32 33 34
WBR, NLR, TB 1938, 11.3. WBR, NLR, TB 1938, 12.3. WBR, NLR, TB 1938, 13.3. WBR, NLR, TB 1938, 13.3. WBR, NLR, TB 1938, 2.5. Richter, Summe, wie Anm. 13, 219.
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Detail, doch lässt sie sich erahnen: Die Schriftstellerin Helene Richter verfügte über keine regelmäßigen Einkünfte. Die Privatdozentin Elise Richter bezog nur das am Semesterende ausbezahlte „Kollegiengeld“, jene Gebühr, die Studierende für den Besuch einer Lehrveranstaltung zu entrichten hatten. 1921 belief sich diese auf 30 Kronen pro Wochenstunde.35 HörerInnenschaft (und daher auch Kollegiengeld) werden sich in einem überschaubaren Rahmen bewegt haben, zumal Elise Richters Lehrveranstaltungen keine Pflichtkollegien waren: „Zum Dozenten geht nur, wer Lust hat und überschüssige Zeit.“36 Selbst die Ernennung zum „außerordentlichen Professor“ (1921) brachte keine finanzielle Besserstellung, geschweige denn eine Absicherung im Alter: Der Titel war nämlich nicht mit einer Erhebung in den Beamtenstand verbunden. Zwar erhielt Elise Richter 1922 vom Bundesministerium für Unterricht und Kultus eine jährliche „Subvention“ oder „Unterstützungszahlung“ zugesprochen,37 von einer angemessenen Entlohnung ihrer Lehrtätigkeit konnte aber keine Rede sein. Die Schwestern sahen sich daher 1923 gezwungen, ihr Haus gegen ein im Grundbuch eingetragenes, lebenslänglich mietfreies Wohnrecht sowie eine monatliche Rente an die Bankiers Max und Rudolf Gutmann zu verkaufen.38 1927 stellte der Ordinarius des romanistischen Seminars39 einen Antrag auf „Erteilung eines Lehrauftrages“ an Elise Richter.40 In seinem einführenden Referat vor der Professorenkommission betonte er die durch die Kriegsfolgen bedrängte Lage der „verdiente[n] Lehrerin“.41 Der Antrag wurde einstimmig angenommen, zwei Monate später erhielt Elise Richter die formelle Bestätigung, dass „die Unterstützung im Ausmass des Honorars für einen ganzjährig zweistündigen Lehrauftrag“ bewilligt sei. Die Verwaltungsstelle der Wiener Hochschulen wurde angewiesen, „diese […] Unterstützung unter der Voraussetzung gleich bleibender Bedürftigkeit“ für die laufenden drei Jahre „flüssig zu halten“.42 Dass die Unterstützung auch 1930, 1933 und 1936 genehmigt wurde, weist darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage der Schwestern nicht verbesserte.43 Wie prekär sie aber tatsächlich war, 35 36 37 38
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Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Nr. 445/1921. Richter, Summe, wie Anm. 13, 135. WBR, NLR, H.I.N. 231 915, Brief des Dekanats der Philologischen Fakultät der Universität Wien, 22.2.1922. Richter, Summe, wie Anm. 13, 192. Max (1857–1930) und Rudolf Gutmann (1880–1966) waren Söhne von Wilhelm Wolf Isaak Ritter von Gutmann. Letzterer, ein Freund der Familie Richter, hatte die Schwestern zum Hausbau angeregt; über das Bankhaus „Gebrüder Gutmann“ wurde die Lebensrente der Schwestern ausbezahlt. Nach dem Tod Max Gutmanns übernahm dessen jüngster Sohn Wolfgang Gutmann (1906–1964) das Erbe. Karl Ettmayer-Adelsburg (1874–1938); er war seit 1915 Ordinarius am romanistischen Seminar. Archiv der Universität Wien (UA), Personalakt Elise Richter. In weiterer Folge zitiert als: UA, PA Richter. Hier: Antrag Karl Ettmayer, 28.5.1927. UA, PA Richter, Handschriftliches Protokoll zur Kommissionssitzung, 8.6.1927. UA, PA Richter, Brief des Bundesministeriums für Unterricht und Kultus, 13.9.1927. UA, PA Richter, Briefe des Bundesministerium für Unterricht und Kultus, 20.12.1930, 21.9.1933. Das Schreiben von 1936 liegt im Personalakt nicht auf, doch nimmt jenes des kommissarischen Dekans
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offenbart Elise Richters Tagebuch aus dem Jahr 1937. Dort heißt es am 27. Jänner: „[…] in 75 Tagen 560 Schilling verheizt, dabei doch so frieren müssen; 9 ½o im Zimmer“, am 21. Dezember, drei Tage vor dem Weihnachtsfest: „Kein Geld, kein Geschenk für Helene“ und am 30. Dezember: „Kolleg[ien]geld diesmal 59 S, gerade die Krankenkasse!“ Die Umwandlung der Unterstützungszahlung in ein Ruhegeld war überlebenswichtig, umso mehr, als keine Sicherheit hinsichtlich des Weiterbezugs der Leibrente bestand: Rudolf und Wolfgang Gutmann waren ins Ausland geflüchtet, ihr Vermögen als jüdisches Eigentum beschlagnahmt worden. Elise Richter suchte deshalb Rat bei Carl Brockhausen44, einem Beamten des Unterrichtsministeriums. Dieser empfahl ihr, den sofortigen Rücktritt anzubieten – vorausgesetzt, man würde ihr einen Ruhegenuss gewähren; ihre Lehrverpflichtung war schließlich noch aufrecht. Dazu meinte Elise Richter bitter: „Da ich entrechtet [bin] und man mich ungênirt hinaus werfen kann, habe ich nichts zu bieten.“45 Als sie am 11. April die Aufforderung erhielt, die für den „Rassennachweis“ nötigen Dokumente ehestens vorzulegen, formulierte sie ihren Abschied: „Mit Rücksicht auf das am 9. April d. J. ergangene Rundschreiben, nehme ich an, daß ich zu meinem Bedauern nicht mehr in der Lage sein werde, meinem Lehrauftrag nachzukommen.“46 Gleichzeitig ersuchte sie um Umwandlung der bisher gewährten Subvention in ein dauerndes Ruhegehalt. Tags darauf sprach sie beim kommissarischen Dekan Viktor Christian47 vor und überreichte ihm ihr Rücktrittsgesuch mit den Worten: „[…] ich habe nicht erfahren, wie man sich seine Grosseltern aussucht und habe sie nun nicht.“48 Christian versprach, ihre Bitte um Ruhegenuss zu unterstützen; er werde das Ansuchen „in diesem Sinne weiterleiten“.49 Nach dem Gespräch verließ Elise Richter die Universität: „Das liebe Stiegenhaus noch gut ansehen und in den Arkadenhof, alle genau ansehen […].50 Hätte ja jedenfalls aufhören müssen […]. Aber die Entrechtung, die Ausbürgerung. […] Geweint. Doch wie ein Todesfall.“51 Selbstmord schien ihr in dieser Situation der einzige Ausweg zu sein, aber: „Mit dem Morphin, das ich habe, nichts zu machen.“52
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Viktor Christian am 13.4.1938 verfasste auf einen am 18.7.1936 ergangenen Beschluss des Ministeriums Bezug. Carl Brockhausen (1895–1951); seit 1929 Verwaltungsjurist im Ministerium für Unterricht und Kultus. WBR, NLR, TB 1938, 31.3. Zit. nach: Hans Helmut Christmann, Frau und „Jüdin“ an der Universität. Die Romanistin Elise Richter (Wien 1865–Theresienstadt 1943), Wiesbaden 1980, 7; vgl. auch WBR, NLR, TB 1938, 11.4. Viktor Christian (1885–1963); Professor für Orientalistik und Altsemitische Philologie; als illegaler Nationalsozialist 1934 in den Ruhestand versetzt, 1938 zum kommissarischen Dekan ernannt. In diesem Tagebucheintrag gibt Elise Richter ihre an den Dekan gerichteten Worte wieder. Vgl. WBR, NLR, TB 1938, 12.4. WBR, NLR, TB 1938, 12.4. Gemeint sind damit die hier aufgestellten Gedenktafeln und Büsten von Wissenschaftlern, die an der Universität Wien gelehrt hatten. WBR, NLR, TB 1938, 12.4. WBR, NLR, TB 1938, 6.4.
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Der Dekan hielt sein Versprechen: In seinem Schreiben an das Ministerium beantragte er, dass Elise Richter „ein ausserordentlicher Versorgungsgenuss in der Höhe bewilligt [werde], der der Dienstzeit ihrer Lehrtätigkeit als tit. ao. Prof. gleichkäme. […] Mit Rücksicht darauf, dass Prof. RICHTER infolge ihrer jüdischen Rassezugehörigkeit aus dem Lehramt ausscheiden muss und dadurch auch […] das […] Kollegiengeld verliert, sonst aber keinerlei Einkünfte besitzt, befürworte ich das Ansuchen auf das wärmste.“53 Seine Empfehlung fand kein Gehör. Am 29. Juni 1938 erging die Mitteilung, dass dem Ansuchen nicht stattgegeben werden könne, weil „die Genannte […] gemeinsam mit ihrer Schwester auf Lebensdauer eine monatliche Rente von fast 280 RM sowie das Anrecht auf eine zinsfreie Wohnung hat“.54 Die Einstellung der Zahlungen wurde rückwirkend mit Ende April verfügt. Die Aufrechterhaltung des Haushalts schien unter diesen Bedingungen kaum möglich, denn auch „Rezepte [waren] jetzt zu bezahlen“.55 Um die durch das NS-Dienstbotengesetz festgelegten finanziellen Ansprüche der Wirtschafterin befriedigen zu können, mussten die Schwestern unter anderem das Klavier verkaufen. Wie drückend die Not war, eröffnet sich durch den Tagebucheintrag vom 2. Mai 1938: „Wenn nur etwas zu verdienen wäre. Ich denke mir, jüd[ische] Schulen u Ausbild[ungs]kurse zwar traurig aber man würde es tun.“ Zur finanziellen Sorge kam die Angst vor der Beschlagnahmung der Wohnung,56 die Demütigung durch das rote „J“ im Pass57 und die Kränkung durch das Bibliotheksverbot,58 das wissenschaftliche Arbeit unmöglich machte. In dieser verzweifelten Lage riet die Elise Richter freundschaftlich verbundene, ehemalige Studentin Helene Adolf59: „ich sollte meine Memoiren schreiben, da brauche ich keine Bibliothek und nichts und käme von der Gegenwart weg.“60 Die Abfassung von Lebenserinnerungen hätte für Elise Richter sicherlich Ablenkung bedeuten können, doch fand sie dafür vorerst keine Zeit: Eine lebensbedrohende Erkrankung im Februar 1939 erforderte einen mehrwöchigen und vor allem kostspieligen Spitalsaufenthalt. Kaum genesen, musste sie ihre gesamte Energie für die Bewältigung des Alltags aufwenden. Dazu kam die Verzweiflung der Schwester: Die 77-jährige, zunehmend schwerhörige Schriftstellerin war der enormen psychischen Belastung nicht mehr gewachsen.61 Elise Richter war daher gezwungen, die gesamte Last der täglichen Versorgung allein zu tragen; Ängste und Sorgen konnte sie nur ihrem Tagebuch anvertrauen. 53 54 55 56 57 58 59 60 61
UA, PA Richter, Brief des kommissarischen Dekans Viktor Christian, 13.4.1938. UA, PA Richter, Brief des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt. IV, Erziehung, Kultus und Volksbildung, 29.6.1938. WBR, NLR, TB 1938, 6.4. WBR, NLR, TB 1938, 12.10., 13.10. WBR, NLR, TB 1938, 10.11. WBR, NLR, TB 1938, 8.12. Helene Adolf (1895–1998), Philologin; emigrierte 1939 in die Vereinigten Staaten, wo sie zuletzt als Professor of German an der State University of Pennsylvania lehrte. WBR, NLR, TB 1938, 7.12. WBR, NLR, TB 1939, 26.1., 19.9.
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Die Autobiographie: „Ich möchte eine Summe des Lebens ziehen …“
Diesen Satz trug die betagte Wissenschaftlerin am 28. April 1940 in ihr Tagebuch ein. Obzwar es im Notat weiter heißt: „Tue es vielleicht noch“, begann sie bereits am nächsten Tag mit der Abfassung ihrer Lebensbilanz. Ursache dafür war aber nicht die Erfahrung von Krankheit und drohendem Tod gewesen, sondern – auch das geht aus dem Tagebuch hervor – ein ganz konkretes Ereignis. Seit der nationalsozialistischen Machtübernahme war die Angst, aus ihrem Heim vertrieben zu werden, ständiger Begleiter der Schwestern. Immer wieder mussten sie erleben, dass Nachbarn und Bekannte ihre Wohnungen verloren. Nachdem am 6. Oktober 1939 ihr jahrzehntelanger Mitbewohner, der Pharmakologe Hans Horst Meyer62, verstorben war, stand der erste Stock des von ihnen bewohnten Hauses völlig leer.63 Mit jedem Tag wuchs die Sorge: ‚Jüdische‘ Villen im Döblinger Cottage waren begehrte Objekte für Ariseure.64 Auch in der Weimarer Straße 83 fanden sich immer wieder Kaufinteressierte zur ‚Hausbesichtigung‘ ein. Für die betagten Schwestern bedeutete dies jedes Mal Angst und Schrecken: Würde der neue Eigentümer oder Nachmieter sie als (Mit-)Bewohnerinnen des Hauses akzeptieren? Würde der Käufer ihr Wohnrecht anerkennen, würde er die Lebensrente übernehmen? Zu den zahlreichen BewerberInnen um die eindrucksvolle Villa zählten auch der Wiener Universitätsprofessor Friedrich Wild, ein Elise Richter persönlich bekannter Anglist, und seine Ehefrau Ludmilla.65 Wie dem Tagebuch zu entnehmen ist, stellte sich Ludmilla Wild am 4. Dezember 1939 bei Elise Richter vor, um sie in weiterer Folge immer wieder aufzusuchen. Dabei versicherte sie mehrmals, weder sie noch ihr Ehemann würden daran denken, die Schwestern auf die Straße zu setzen. Bezüglich einem Konkurrenten trug sie Elise Richter aber am Abend des 28. April 1940 zu: „Der Putschist hat erklärt, dass er uns [die
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Hans Horst Meyer (1853–1939); der emeritierte Ordinarius für experimentelle Pharmakologie an der Universität Wien hatte von 1904 an im Hause gewohnt. Das Ehepaar Pick war bereits im Juni 1939 emigriert, vgl. WBR, NLR, TB 1939, 7.6. Das „Cottage“ im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling gehört auch heute noch zu den teuersten Wohngegenden von Wien. Die Durchsicht des Wiener Wohnungsanzeigers „Lehmann“ aus dem Jahr 1940 zeigt, dass vor Redaktionsschluss zehn Häuser zur Disposition standen („Eigentümer: ungenannt“). Drei Immobilien waren bereits in neuen Händen: Als Eigentümer von Nr. 5 scheint die NSDAP auf, von Nr. 72 der Universitätsprofessor Leopold Schönbauer, von Nr. 105 der Gauleiter des Gaus Niederdonau, Dr. Hugo Jury. Friedrich Wild (1888–1966); Universitätsprofessor für englische und amerikanische Sprache und Literatur. Seinen Vater Wenzel Wild, Gymnasialprofessor für Geschichte und Geographie, hatte Elise Richter 1896/97 als Privatlehrer für die Vorbereitung ihrer Maturitätsprüfung engagiert. Ludmilla Wild geb. Neuhold (1893–1969) war eine Verwandte des Universitätsprofessors Kurt Knoll (1889–1953). Der überzeugte Nationalsozialist Knoll, von 1939 bis 1944 Rektor der Wiener Hochschule für Welthandel, übersiedelte um 1940 vom Währinger Gürtel 156 im 9. Wiener Gemeindebezirk in das Haus Weimarerstraße 100. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er in jene Wohnung einzog, in der das Ehepaar Charlotte und Karl Bühler bis zur Emigration gelebt hatte.
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Das Tagebuch einer Autobiographie
Schwestern, Anm. der Autorinnen] sofort hinauswirft.“ Diese Mitteilung ließ Elise Richter an Selbstmord denken – nicht zum ersten Mal, wie aus anderen Einträgen hervorgeht.66 „Helene gesagt, ihr ist es unsympathisch sich umzubringen, ich: mir gar nicht. Einmal muß ein Ende sein und nichts mehr zu erwarten, mir lieber, nicht so langsam abzusterben.“67 Die Aufzeichnung der Lebenserinnerungen wurde ab diesem Moment zur wichtigsten Beschäftigung Elise Richters. Nur an vier Tagen unterbrach sie die Arbeit an ihren Memoiren: Die „Schreiberei […] trägt einen […] besser über den Tag weg.“68 Obwohl sie gleich zu Beginn entschieden hatte, sich bei der Schilderung ihres Lebens „mehr an die Freuden“ 69 zu halten, konnte sie nicht verhindern, dass die Erinnerung sie aufwühlte: „Schreiben regt doch auf. Sage es aber nicht, besser schauen es weggeschrieben zu haben.“70 Dank ihres in der Regel mindestens fünf, an manchen Tagen sogar zehn Seiten und mehr betragenden Schreibpensums konnte sie bereits am 27. Mai notieren: „So froh, dass ich die Erinnerungen aufgezeichnet“, und zwei Tage später: „Ganzen Vormittag gebraucht, Manuskript zu sortiren und gerade einzureihen. 31 Kapitel, dürfte gegen 200 Seiten haben. Angefangen, in Ordnung zu bringen.“71 Sortieren und ordnen musste sie die handschriftlichen Aufzeichnungen, weil sie nur nach einem groben, sich an den Leitlinien „Lebensfreuden“ und „Lebensleid“ orientierenden Plan vorgegangen war und notiert hatte, was ihr spontan in den Sinn kam. So schrieb sie zum Beispiel am 1. Mai über „Krankheiten“ und „Musik“, am 2. Mai über „Lernen“ und „Reisen“, am 3. Mai über „Theater“ und „Kinderelend“ und am 4. Mai über „Tod“ und „Freundschaft“. Zwar zogen sich die Verkaufsverhandlungen rund um das Haus Weimarer Straße 83 in die Länge, doch zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die neue Hauseigentümerin Ludmilla Wild heißen würde.72 Elise Richter fand daher Zeit, Passagen einzufügen oder umzuschreiben.73 Als sie aber am 30. Juli 1940 von der präsumtiven ‚Hausfrau‘74 hörte: „[…] ein Herr bei ihnen, will die Richterwohnung. Sie werden doch die 2 Jüdinnen nicht in der grossen Wohnung lassen“, wurde das inzwischen auf 242 Seiten angewachsene Manuskript am 2. August abgeschlossen, die Blätter „in die Mappe gezwängt, fest verbunden und gepresst“ und der Schwester zur Lektüre übergeben. Helene Richter widmete sich den Aufzeichnungen ab dem 6. August 1940. Sie beschränkte sich nicht nur darauf, den Text aufmerksam zu lesen, sondern 66 67 68 69 70 71 72
73 74
Vgl. Anm. 52. WBR, NLR, TB 1940, 28.4. WBR, NLR, TB 1940, 5.5. WBR, NLR, TB 1940, 30.4. WBR, NLR, TB 1940, 17.5. WBR, NLR, TB 1940, 29.5. Ludmilla Wild kaufte am 31. Juli 1940 das Haus von der Österreichischen Kontrollbank um den Preis von 64.657 RM. Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vermögensentziehungsanmeldung (VEAV) Ludmilla Wild, Zl. 869, 15.11.1946. WBR, NLR, TB 1940, 30.5. Männliche Hauseigentümer werden in Österreich umgangssprachlich als ,Hausherren‘, die weiblichen als ,Hausfrauen‘ bezeichnet.
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„generierte“ auch manche der dort enthaltenen, Elise Richter zugeschriebenen Erinnerungen: „Helene Nachmittag lang gelesen und Notizen für Nachträge“; „Helene sich erinnert, dass wir die Erbschaft nicht annehmen wollten“; „Helene heut lang gelesen und wieder vieles nachzutragen. Jetzt schon etwa 300 Seiten“.75 Die Schriftstellerin wies aber nicht nur auf unerwähnt gebliebene Ereignisse hin; sie übte auch Kritik an Inhalt76 und Kapitelanordnung.77 Inwieweit Helene Richters Ergänzungen und Einwände Berücksichtigung fanden, ist im Einzelnen nicht nachweisbar. Dass Helene Richters Befürchtung, Aussagen der Schwester zum politischen Zeitgeschehen könnten verheerende Folgen haben, nicht ohne Wirkung blieb, zeigen aber die Notate vom 15. und 16. September 1940: „Helene […] gesagt, ich muss das über Hitler vernichten, sonst Lebensgefahr“; in der Folge wurde „viel ausgebessert im Politischen“. Am 9. Oktober 1940 heißt es im Tagebuch: „Die Erinnerungen fertig und weggelegt 329 Seiten.“ Den späteren Notaten ist jedoch zu entnehmen, dass noch im November daran gearbeitet wurde.78 Vermutlich lag der fertige, von einer Bekannten der Schwestern79 getippte Text im Laufe des Monats Dezember vor, denn am 9. Jänner 1941 notierte Elise Richter: „Erinnerungen zu ende gelesen, und Besserungen in Manuskript II und III, und Einklebungen.“
Letzte Spuren verlorener Texte: Auf der Suche nach Ms. I und Ms. II
Der Tagebucheintrag vom 9. Jänner 1941 zeigt auch, dass das Typoskript der „Summe des Lebens“ ursprünglich in dreifacher Ausfertigung – einem Original und zwei Durchschlägen – vorlag. 80 In Wien bewahrt blieb nur der als „Ms. III“ bezeichnete Durchschlag;81 er liegt der vom „Verband der Akademikerinnen Österreichs“ herausgegebenen Edition zugrunde. Wo Ms. I und Ms. II verblieben sind, ist nicht bekannt. Elise Richters Tagebuch aus dem Jahr 1941 könnte bei der Spurensuche hilfreich sein: „Helene Idee: ein Manuskript nach Marquatstein [sic] zu schicken.“82 In Marquartstein in Oberbayern lebte Robert Wilbrandt.83 Der Nationalökonom stand mit Helene Richter in regelmäßigem Briefkontakt: 75 76 77 78 79
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WBR, NLR, TB 1940, 22.8., 23.8., 29.8. WBR, NLR, TB 1940, 6.8. WBR, NLR, TB 1940, 28.8. WBR, NLR, TB 1940, 15.11., 17.11. Es handelte sich dabei um Dr. Elsa Weissel (1881?–1948), die Schwester der Gymnasiallehrerin und ehemaligen Direktorin des Mädchenrealgymnasiums von Eugenie Schwarzwald, Josefine Weissel (1877?–1960). WBR, NLR, TB 1941, 9.1. Das in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus ursprünglich in einer einzigen Flügelmappe bewahrte Typoskript wurde im Laufe des Jahres 2009 auf mehrere Archivmappen aufgeteilt. Dabei scheint das Blatt, auf dem sich der Vermerk „Ms. III“ befand, verloren gegangen zu sein. WBR, NLR, TB 1941, 11.1. Robert Wilbrandt (1875–1954). Der in Wien geborene, an der Technischen Universität Dresden
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Die Schriftstellerin arbeitete an der Biographie seiner Mutter, der Hof- und Burgschauspielerin Auguste Wilbrandt-Baudius.84 Wilbrandts Tochter Lisbeth/Lisl besuchte die Richter-Schwestern im November und Dezember 1941;85 es ist nicht auszuschließen, dass sie bei dieser Gelegenheit ein Exemplar des Typoskripts an sich nahm. Ein weiteres Exemplar war für die in die USA emigrierte Germanistin Helene Adolf86 bestimmt, die Elise Richter 1938 zur Abfassung von Memoiren angeregt hatte.87 Adolf schrieb am 14. März 1941 an die „Liebste Frau Professor“: „Ich freue mich unendlich, daß die ‚Summa totius vitae‘ fertiggeworden ist und daß ein Exemplar mir zugedacht ist – ich werde für es sorgen, wie für eine heiratsfähige Tochter! Möge es mir gelingen, sie ‚an den Mann zu bringen‘ – ich wüßte mir keine liebere Aufgabe!“88 Mit diesen Zeilen reagierte sie auf einen Brief Elise Richters vom 15. Jänner des Jahres, in dem diese möglicherweise kundgetan hatte, das umfangreiche Manuskript in die USA schicken zu wollen. Adolfs Schreiben traf aber erst am 9. April 1941 in der Weimarer Straße ein.89 Nachdem Elise Richter wochenlang vergeblich auf Antwort gewartet hatte, entschloss sie sich, ein Exemplar des Typoskripts der Staatsbibliothekarin Christine Rohr90 anzuvertrauen. Die an der Österreichischen Nationalbibliothek tätige Christine Rohr wird in den Tagebüchern erstmals 1940 namentlich erwähnt, als sie Elise Richter bei Literaturrecherchen behilflich wurde.91 Danach hatte sie den Kontakt zur einstigen Lehrerin aufrechterhalten; am 20. Februar 1941 kam sie persönlich in die in die Wohnung der Schwestern.92 Elise Richter erzählte bei dieser Gelegenheit von den von ihr verfassten Lebenserinnerungen, deutete auch an, dass sie diese gerne bewahrt wüsste. Zwar schweigt das Tagebuch darüber, im Nachlass liegt aber ein Brief Christine Rohrs vom 7. März 1941, der dies bestätigt.93 In diesem Schreiben bot Rohr an, die biographischen Schriften in Verwahrung zu nehmen. Möglicherweise steht das Angebot in ursächlichem Zusammenhang mit der „Wohnungsbesichtigung“, die am 6. März in der Weimarer Straße 83 stattgefunden hatte.94 Am 8. März notierte Elise Richter nämlich: „[…] gebe ihr [Christine Rohr, Anm. der Autorinnen] Biographie mit und behalte die Briefe noch hier. Will doch nicht alles schon weggeben. Werde Carton machen
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lehrende und 1933 zwangspensionierte Wirtschaftswissenschaftler lebte seit 1934 in Marquartstein/ Oberbayern. Wilbrandt arbeitete während der Kriegsjahre ebenfalls an seinen Lebenserinnerungen. Sie erschienen 1947 unter dem Titel „Ihr glücklichen Augen. Lebenserinnerungen von Robert Wilbrandt“. Helene Richter, Auguste Wildbrandt-Baudius, Wien 1963. WBR, NLR, TB 1941, 21.11., 25.11.,2.12. Vgl. Anm. 59. Vgl. Anm. 60. WBR, NLR, H.I.N. 232 189, Brief von Helene Adolf, 14.3.1941. WBR, NLR, TB 1941, 9.4. Vgl. Anm. 9. WBR, NLR, TB 1940, 29.2. WBR, NLR, TB 1941, 20.2. WBR, NLR, H.I.N. 232 611. WBR, NLR, TB 1941, 6.3.
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und verpacken.“ Laut Tagebuch wurde ein zweiter „Carton“ am 23. April, ein dritter am 18. Mai 1941 zusammengestellt. 1941 begannen die Massendeportationen österreichischer Juden und Jüdinnen in die osteuropäischen Ghettos.95 Auch in der Weimarer Straße 83 stellten sich ständig neue BewerberInnen um die ‚Judenwohnung‘ vor: „Nachmittag frau Wild da, exponiert sich was sie kann, der Gestrige [Wohnungsinteressent, Anm. der Autorinnen] hat gesagt, müssen alle weg. Kurator hat telefoniert, Wohnung soll für Universitätsprofessor96 reserviert werden. Sie gefragt, ob wir nicht irgendwo hin gehen könnten. Dies Helene nicht gesagt. Aber Helene selbst: wenn wir freiwillig gingen. Aber wohin? Beide geweint und elend.“97
In ihrer Verzweiflung wandte sich Elise Richter an die ‚arische‘ Hausärztin,98 in der Hoffnung, diese würde ihr Mittel für einen selbst bestimmten Tod bereitstellen können. Die Ärztin aber erklärte, sie dürfe „nur helfen, nicht töten“.99 Angst, Erschöpfung und Verzweiflung kennzeichnen die Tagebucheinträge der nächsten Monate, vor allem nachdem Elise Richter am 12. September 1941 Folgendes erfahren musste: „es soll Verordnung kommen, dass man gelbes Abzeichen100 tragen muss. Helene nicht erzählt, Zeit, bis es kommt.“ Eine Schonung der Schwester war aber nicht möglich; bereits tags darauf war die „Verordnung über gelben Stern schon da. Sehr benommen.“ Am 18. September 1941 wurden die Sterne von der Regierungsrätin Helene Rauchberg101 gebracht; Elise Richters Kommentar: „furchtbar“. Am 24. September 1941 wurden die beiden alten Frauen in die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in der Prinz-Eugen-Straße im 4. Wiener Gemeindebezirk vorgeladen: Ihre Wohnung war vom Militärkommando angefor95
Vgl. Florian Freund u. Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938–1945, in: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer u. Reinhard Sieder Hg., NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767–794, 767. 96 Die Wohnung war in der Tat für Hans Planitz (1882–1954 Wien) reserviert. Der Universitätsprofessor für Germanische Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht nahm im Wintersemester 1941/42 seine Lehrtätigkeit an der Universität Wien auf. Laut Auskunft des Wiener Historischen Meldearchivs war Planitz vom 5.6.1952 bis 16.1.1954 an der Adresse Weimarer Straße 83 (= Sterbeadresse) gemeldet. Vgl. dazu aber auch: Elsen/Tanzmeister, Sachen, wie Anm. 16, 131. 97 WBR, NLR, TB 1941, 8.7. 98 Emilie Domes (1891–1982) hatte die beiden Frauen seit 1935 ärztlich betreut; vgl. Richter, Summe, wie Anm. 13, 7. 99 WBR, NLR, TB 1941, 10.7. 100 Das Gesetz, das Jüdinnen und Juden zum Tragen eines gelben Sterns verpflichtete, war am 1.9.1941 erlassen worden. 101 Helene Maria Rauchberg (geb. 1875). Die unverheiratete Regierungsrätin und Professorin i. R. wurde am 3.12.1941 nach Riga deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Datenbank „Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer“.
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dert worden. Zwei Tage später mussten sie dort erneut erscheinen. Nun wurde ihnen mitgeteilt, dass die Hauseigentümerin – Ludmilla Wild – sich für sie verwendet hatte; sie sollten bloß „nicht muksen“.102 Auch wenn Ludmilla Wild zugunsten der Schwestern Richter interveniert hatte: Gegen Ende des Jahres 1941 begannen sich die Ereignisse zu überstürzen. Am 3. Dezember wurde Helene Rauchberg „auf Transport gestellt“;103 am 5. Dezember Marianne Neumann aus ihrer Wohnung vertrieben;104 am 12. Dezember teilte Josefine Winter den Schwestern mit, sie müsse „Ende Januar weg“.105 All diese Frauen hatten zum Bekanntenkreis der Schwestern gehört, alle waren jüdisch geboren, fortgeschrittenen Alters, unverheiratet oder verwitwet. Die Hoffnung Helene Richters: „Vielleicht doch die Absicht uns zu schonen“,106 teilte Elise längst nicht mehr. Deshalb hatte sie sich schon vorher entschlossen, das letzte Exemplar ihrer Lebenserinnerungen dem deutschen Romanisten Walther Küchler zu übermitteln.107 Küchler war von 1922 bis 1926/27 Ordinarius für romanische Literaturwissenschaft an der Universität Wien gewesen; seine in Frankreich lebende Tochter Elisabeth108 hatte die Schwestern noch 1939 in der Weimarer Straße besucht. Die Annahme, dass es sich bei diesem Text um jenen handelte, der ursprünglich für Helene Adolf bestimmt gewesen war, liegt nahe: In Helene Adolfs Nachruf auf Elise Richter heißt es nämlich, dass sich die Erinnerungen in Verwahrung von Küchlers Tochter befänden.109 Wie eingangs erwähnt, übergab Christine Rohr die ihr von Elise Richter anvertrauten Kartons zwei Jahre nach Kriegsende an die Wiener Städtischen Sammlungen.110 Sie ahnte, wusste vielleicht, dass die Schwestern in Theresienstadt zu Tode gekommen waren. Offi-
102 WBR, NLR, TB 1941, 26.9. 103 Vgl. Anm. 101. 104 Marianne Neumann geb. Karpeles (1874–1943). Die Witwe, die ursprünglich in Wien 1, Wiesingerstraße 1 lebte, wurde am 28.7.1942 von der Mühlfeldgasse in Wien 2 in das Konzentrationslager Theresienstadt/Terezín deportiert. Dort kam sie am 30.6.1943 zu Tode, vgl. www.holocaust.cz, Zugriff: 1.6.2015. 105 Josefine Winter geb. Auspitz (1873–1943). Die Witwe wurde am 14.7.1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt/Terezín deportiert, wo sie am 20.1.1943 verstarb. Vgl. www.holocaust.cz, Zugriff: 1.6.2015; Martin Pollack, Des Lebens Lauf. Jüdische Familien-Bilder aus Zwischeneuropa, Wien 1987, 32–52. 106 WBR, NLR, TB 1941, 21.11., 25.11., 2.12. 107 WBR, NLR, TB 1941, 25.12. 108 Elisabeth Küchler (1902–1967), die während ihres Studiums in Wien einige Zeit als ‚Haustochter‘ bei den Schwestern gelebt haben soll, stattete, aus Paris kommend, Elise Richter im Juli und August 1939 einen Besuch ab, ihr Bruder Heinz besuchte die Schwestern am 26.11.1940. Vgl. WBR, NLR, TB 1939, 30.7, 1.8.; TB 1940, 26.11. 109 Helene Adolf, In Memoriam Elise Richter, in: Romance Philology, 1, 4 (1948), 338–341. 110 Um wie viele Kartons es sich gehandelt hatte, ist nicht zu rekonstruieren. In den Akten der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus ist nur von einem „Konvolut“ die Rede. Vgl. Elsen/ Tanzmeister, Sachen, wie Anm. 16, 138.
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ziell für tot erklärt wurden Elise und Helene Richter aber erst 1973.111 Bis das Typoskript der „Summe des Lebens“ publiziert wurde – der deutsche Romanist Hans Helmut Christmann112 wertete es als „wertvollste[n] Bestandteil des Nachlasses“113 –, dauerte es lange. Auch Christa Wille, die Mitherausgeberin der 1997 veröffentlichten „Summe des Lebens“, wies in ihrem Vorwort darauf hin, dass es sich bei dem Text um ein „wichtiges Zeitdokument“ handle. Trotzdem kam eine Neuauflage der inzwischen vergriffenen Erstausgabe nicht zustande. In der Folge erschienen einige, vorwiegend kleinere Arbeiten zu Elise Richter;114 im Rahmen eines Forschungsprojekts (2003–2006) des Instituts für Romanistik der Universität Wien wurde der Nachlass bearbeitet.115 Eine intensive Auseinandersetzung mit Elise Richter – sowohl aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft wie auch der Autobiographie- und Tagebuchforschung – steht jedoch aus. Seit 2009 wird im Auftrag der Forschungsplattform der Universität Wien „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ an einer Online-Publikation der Tagebücher von 1938 bis 1941 gearbeitet.116 Die Wienbibliothek im Rathaus plant überdies, den 1884 verfassten „Versuch einer Selbstbiographie“ zu edieren. Damit wäre – zumindest ansatzweise – dem Wunsch, den Elise Richter schon als 20-Jährige in ihrem Testament ausgesprochen hatte, Genüge getan: „Was ich an Tagebüchern, Erinnerungsblättern, Zeittafeln, Aufsätzen, u.s.w. geschrieben, soll aufgehoben werden. Dies mein zweites Leben soll nicht gemordet werden, mein Herz schlägt darin.“117
Resümee
Die Lektüre von Elise Richters Tagebuch aus dem Jahr 1940 zeigt deutlich, wie sehr autobiographische Selbstdarstellung immer auch Konstruktion, Inszenierung ist. Elise Richter 111 Nach dem Tod von Ludmilla Wild (1969) stand das Haus Weimarer Straße 83 zum Verkauf. Bei Durchsicht des Grundbuches wurde festgestellt, dass das intabulierte Wohnrecht der Schwestern Elise und Helene Richter noch immer aufrecht war, da niemand sie für tot erklärt hatte. 112 Hans Helmut Christmann (1929–1995), ordentlicher Universitätsprofessor für Romanische Philologie, lehrte von 1974 bis 1994 an der Universität Tübingen. 113 Christmann, Frau, wie Anm. 46, 7. 114 Eine Auflistung siehe in der Datenbank Ariadne – frauenspezifische Information und Dokumentation der Österreichischen Nationalbibliothek, www.onb.ac.at/ariadne, Zugriff: 1.6.2015. 115 Dabei ging es vorrangig um „Expertise und Klärung der Besitzverhältnisse“ im Rahmen der Provenienzforschung der Österreichischer Nationalbibliothek und der Wienbibliothek im Rathaus. Vgl. Robert Tanzmeister, Endbericht zum Einzelprojekt des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, P16817 (2006). 116 Ein Ankündigungstext zur Edition findet sich auf der Website der vormaligen Forschungsplattform unter www.univie.ac.at/Geschichte/Neuverortung-Geschlechtergeschichte unter der Rubrik „Projekte“, Zugriff: 1.6.2015. 117 WBR, NLR, H.I.N. 231 856, Mein Testament.
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Das Tagebuch einer Autobiographie
schrieb die „Summe des Lebens“ als Gelehrte, als Person des öffentlichen Lebens. Was sie darin aus ihrem Leben erzählte, was sie an Erinnerungen preisgab, unterlag sorgfältiger Auswahl.118 Auch wenn sie uns dabei sehr freimütig entgegenzutreten scheint: Intimes, Privates will und kann sie uns nicht ‚verraten‘. Das Tagebuch offenbart auch, dass die Abfassung der Lebenserinnerungen eine Funktion erfüllte. Schreibend konnte Elise Richter die „Leere des Daseins“, die „Aussichtslosigkeit“ ertragen;119 schreibend konnte sie die ihr geraubte Identität zurückerobern: „War doch wer.“120 Ein letztes Mal durfte sie Regisseurin ihres nunmehr fremdbestimmten Lebens sein. Die umfangreiche Literatur zur Tagebuchforschung hat gezeigt, dass es das ‚private‘ Tagebuch nicht gibt; Arno Dusini bezeichnet es sogar als „ein Gespenst unserer Köpfe“.121 Dennoch wollen wir – entgegen aller Einwände – Elise Richters Diarien als ,private‘ Tagebücher bezeichnen, nicht zuletzt, weil formale Kriterien wie geringe Textkohäsion und schlichter Stil der Aufzeichnungen dafür sprechen, dass sie nicht mit Blick auf eine spätere Öffentlichkeit verfasst wurden.122 Der Eindruck der Privatheit wird dadurch verstärkt, dass die Verfasserin mitunter schwer zu dechiffrierende Wortabkürzungen verwendete, orthographische Normen wie Groß-/Kleinschreibung oder Interpunktion nicht beachtete und Personennamen auf Initialen oder wenige Buchstaben reduzierte. Auch die Sprache der Diarien ist eine ‚private‘; dies beweist nicht nur der Gebrauch umgangssprachlicher Redewendungen, sondern auch der eines ‚unsagbaren‘ Wortes wie „Onanie“: In der „Summe des Lebens“ musste Elise Richter dafür Umschreibungen wie „Kinderunart“ oder „Kinderelend“ wählen. Ob Elise Richter bei der Niederschrift ihrer täglichen Notizen jemals daran gedacht hatte, dass fremde Augen sie einmal lesen würden, wissen wir nicht. Es ist jedoch zu bezweifeln: Die Tagebücher weisen weder Korrekturen noch Streichungen oder Überschreibungen auf, Hinweise auf herausgerissene Seiten fehlen. Dies lässt die Vermutung zu, dass Elise Richter ihre Diarien als Chroniken betrachtete, die „Daten und […] Material für eine Autobiographie“123 bereitstellen sollten. Es ist nicht auszuschließen, dass sie die Tagebücher bewahrt hatte, um irgendwann auch ihr „zweites Leben“ zu schildern, jenes, in dem – nach ihren eigenen Worten – „ihr Herz schlug“. Diese Möglichkeit wurde ihr genommen. Bar jeder Hoffnung, dass sie dazu noch genügend Kraft und – vor allem – genügend Zeit haben würde, entschloss sie sich 1941, die Kartons an Christine Rohr zu übergeben. Dadurch machte sie ihre ‚privaten‘ Tagebücher ‚öffentlich‘. Dies kann als Auftrag verstanden werden. 118 119 120 121 122
Dies fällt besonders bei der Schilderung ihrer Herkunftsfamilie und ihrem Verhältnis zum Judentum auf. WBR, NLR, TB 1939, 29.7. WBR, NLR, TB 1941, 18.5. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, 71. Vgl. Angelika Linke, Sich das Leben erschreiben: Zur sprachlichen Rolleninszenierung bürgerlicher Frauen des 19. Jahrhunderts im Medium des Tagebuchs, in: Mererdid Puw Davis, Beth Linklater u. Gisela Shaw Hg., Autobiography by Women in Germany, Oxford u. a. 2000, 105–129, 106. 123 Nicole Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof u. Susanne Rohr Hg., Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, 39–60, 46.
Helen Steele
Daily Lives and Informal Networks in the Diaries of two Viennese Women (1943–1945)1
My doctoral work, examining the everyday lives of Viennese women pre- and post-1945, has involved the use of many diaries, letters and memoirs from archives in Vienna.2 An initial research question for the period 1943 to 1945 examined the extent to which the life of women in Vienna during the Second World War was an ‘organised’ one. It has been argued that the daily lives of Viennese women amounted to a tightly-knit network of dependency on the National Socialist regime, with the availability of numerous official women’s groups being cited as evidence.3 Such organisations undoubtedly reached out to many more women than were recorded in the membership registers or subscribed to official magazines, but even so it is difficult to accept the idea of this network as being representative of the majority of Viennese women du ring the Second World War. By reading women’s diaries of that time, I realised that instances of ‘unofficial’ support could be documented, and I became increasingly aware of the informal networks that women already had or came to develop during the war years. Evidence from the 1
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I am grateful for the scholarship awarded by the research platform “Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext/Repositioning of Women’s and Gender History in an Altered European Context. Networking – Resources – Projects” at the University of Vienna, which enabled me to carry out further research for my doctoral work in the “Sammlung Frauennachlässe” (Collection of Women’s Personal Papers) between October and December 2010. Some material in this chapter was first presented in Vienna on 26 November 2010 under the title “Informelle Unterstützung. Persönliche Netzwerke von Frauen während des Zweiten Weltkrieges in Wien”. Many thanks to my colleagues in Vienna for their support and advice, in particular Li Gerhalter and Christa Hämmerle for their suggestions on developing this chapter for publication. Jill Lewis (Swansea University) supervised my PhD and provided guidance throughout this period. Namely material from the Sammlung Frauennachlässe (SFN), Department of History, University of Vienna; Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku), Department for Social and Economic History, University of Vienna; Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStL). Brigitte Lichtenberger-Fenz, Kinder, Küche, Kriegsarbeit – Frauenalltag unter dem NS-Regime in Wien, in: Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 41 (1986), 13–18. Lichtenberger-Fenz estimates that 13 per cent of all Viennese women over the age of 18 were members of the “NS-Frauenschaft”, compared with eleven per cent in the ‘Reich’ as a whole. The “NS-Frauenschaft” (NSF) was the umbrella organisation for women’s groups in the ‘Reich’. It comprised the German Women’s Enterprise (DFW), which in itself was made up of smaller groups such as the National Mothers Service (RMD), National Economy & Domestic Economy (Vw/Hw) as well as working sections devoted to foreign work, culture, education, training and an auxiliary service. Cf. Jill Stephenson, Women in Nazi Germany, London 2001.
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Daily Lives and Informal Networks in the Diaries of two Viennese Women (1943–1945)
diaries presented below challenges the idea that women were part of networks wholly dependent on the National Socialist regime and presents networks that were far more informal and personal. To prove this, I will consider the experiences of two Viennese women before moving on to the different networks that can be identified upon close readings of their diaries. There is a rich body of work available on the topic of women during the National Socialist period. Jill Stephenson’s pioneering studies, for example, allow us to consider all facets of women’s life under National Socialist rule and the policies that affected them. Gabriele Czarnowski looks specifically at the policies concerned with marriage, family and reproduction.4 Both authors discuss women who were legitimised in the eyes of the regime because they complied with Nazi policy or ideals, while also examining women who were discriminated and persecuted because they did not. This is the most fundamental distinction to make when looking at women under National Socialism: those who were ‘allowed’ to be women under the regime and those who were not. At a basic level, the diarists selected for my case studies represent women whose political or religious beliefs did not warrant discrimination in everyday life.5 The diarists were women who were not at risk of persecution by the National Socialist regime. They were considered ‘German’ and ‘Aryan’ and neither their religious beliefs nor political affiliations threatened their status. A designation of this kind did not imply membership of the National Socialist party and, in fact, neither of these two women recorded being active in National Socialist organisations, nor did they make explicit their political beliefs in their diary entries. Monographs that deal with certain aspects of such women’s lives under the National Socialist regime, for instance Elizabeth Heineman’s study of marital status or Elizabeth Harvey’s work on women involved in ‘Germanisation’ projects in the East, make further sub-divisions of what it meant to be a woman; the nuances and differentiations of my own case studies will be addressed later on.6 Historically, the discussion surrounding women under National Socialism has, at times, been hampered by the emergence of a number of categories into which women’s experiences have been expected to fit.7 The labelling of women as victims or perpetrators, or perhaps 4 5
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Cf. Stephenson, Women, see note 3; Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991. Cf. Margarete Dörr, Mittragen – Mitverantworten? Eine Fallstudie zum Hausfrauenalltag im Zweiten Weltkrieg, in: Karen Hagemann and Stefanie Schüler-Sprinorum eds., Heimat–Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M./New York 2002, 275; Susanne Lanwerd and Irene Stoehr, Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven, in: Johanna Gehmacher and Gabriella Hauch eds., Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Wien 2007, 24f. Cf. Elizabeth D. Heineman, What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley 1999; Elizabeth Harvey, Women and the Nazi East: Agents and Witnesses of Germanization, London/New Haven 2003. Cf. Lanwerd/Stoehr, Frauen- und Geschlechterforschung, see note 5, 22–69; Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2008.
Helen Steele
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fellow travellers and spectators leaves little room for the plurality of experiences to be ack nowledged. Dagmar Reese and Carola Sachse have argued persuasively for a rejection of the “polarised terms of the debate, pleading instead for detailed historical reconstruction of the different experiences of different women”, which would help accommodate both ‘normal’ women and bigger actors, such as those who led women’s organisations.8 Both women whose diaries I analyse below lived within the districts of Vienna as recognised between 1938 and 1945. The sources are from women who do not fit into the conventional categories of heroine, follower, victim, or perpetrator.9
Case studies: the diarists
Susanne zur Nieden among others has demonstrated the particular value of diaries for researching women’s daily life under National Socialism.10 Paying attention to the individual Tageslauf detected in diary sources and examining the context in which diarists were writing helps us to identify the type of daily life women experienced, to a greater or lesser degree. Margarete Dörr notes that it is very difficult to give one clear description of a woman’s role during this time and certainly the two case studies used in this chapter are not to be considered definitive.11 The two diarists do share some similarities, but there is also variety within their experience of the period. Both diarists were urban women, living within the city boundaries of Vienna. Both women were mothers, though to children of different ages. Both were filling the traditional male role of head of the household due to the absence of their menfolk and were engaged in some type of work in addition to their household duties. Both women experienced the air raids on Vienna; one chose to leave while the other did not. Marie Krenn
The first case study is the diary of Marie Krenn. Krenn was born in 1911 and was 31 years old when she started her diary in 1942.12 She was married to a butcher and had two chil- dren, born in 1934 and 1937. Originally from Prinzendorf in Lower Austria, Marie Krenn lived with her family in Vienna’s 14th district where they had their own butcher’s shop. Her husband, Franz Krenn, was absent from 11 January 1941 until the end of May 1946, firstly 8
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Dagmar Reese and Carola Sachse, Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Eine Bilanz, in: Lerke Gravenhorst and Carmen Tatschmurat eds., Töchter-Fragen. NS-Frauengeschichte, Freiburg i. Br. 1990, 74; Lanwerd/Stoehr, Frauen- und Geschlechterforschung, see note 5, 28. Cf. Kompisch, Täterinnen, see note 7, 7–18. Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand: Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943– 1945, Berlin 1993, 68. Dörr, Mittragen, see note 5, 288f. Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku).
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as a soldier and then as a prisoner of war. Marie Krenn never mentions the location of her husband’s battalion: there is only one diary entry on 18 February 1944 that suggested he might be passing through Vienna, but a subsequent entry a week later reveals that this did not happen. No other visits are mentioned. As a soldier’s wife and mother to two children, Marie Krenn held positions charged with meaning and expectation by the National Socialist regime. However, the absence of her husband required her to take on his role in the butcher’s shop, supervising one male employee and dealing with the market office (Marktamt) and financial authorities. While many women found themselves working outside the home during the Second World War, whether through choice or conscription, their status was normally ‘employee’ rather than ‘employer’. Krenn’s multiple identities preclude easy categorisation, particularly considering the masculine connotations of her professional role. Her experiences certainly do not fit easily into traditional divisions of ‘spheres’.13 Marie Krenn’s diary appears in the archive as a two-part typed transcript. The first part is 14 pages long, beginning on 15 November 1942 and ending on 22 February 1945. The se cond part is twelve pages and covers April 1945, only mentioning one specific date (16 April 1945) amongst the paragraphs of prose. This second part is covered by a brochure with the title “Ein Tag im Mostviertel – an der Wiege Österreichs” (One day in the Mostviertel – at the birth of Austria). The transcription raises questions as to how the nature of the source has been altered and affected. Ideally, as Arno Dusini argues, it would be possible to “use the original in order to analyse the edited version as a ‘life rewritten’”, but examining the relation to the original is not possible in this case and cannot inform our interpretation.14 The archive worker tasked with transcribing the diary of Marie Krenn has added comments and explanations and included question marks in parentheses when a letter or part of a word is omitted, or when details are unclear.15 Susanne zur Nieden also discusses the problem of ‘reworking’ diaries in the post-war years. 16 Although she is concerned with published diaries, I would argue that the same problem can apply to Marie Krenn’s war diary, even when the diary was not intended for pub13
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Cf. Claudia Koonz, Mothers in the Fatherland. Women, the Family and Nazi Politics, New York 1987. Cf. also Margaret Randolph Higonnet, Jane Jenson, Sonya Michel and Margaret Collins Weitz eds., Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven/London 1987. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, quoted and elaborated for the diary of Therese Lindenberg (1938–1946) in: Christa Hämmerle, Diaries, in: Miriam Dobson and Benjamin Zieman eds., Reading Primary Sources. The Interpretation of Texts from 19th and 20th Century History, London/New York 2009, 141–159, 150f. An excerpt from 20 May 1944 illustrates this type of insertion (emphasis by transcriber in brackets): “It is Mother’s Day (on 20. May??)”. The ‘general notes’ provided by the transcriber explain “I have helped with the direct speech. A few commas instead of semi-colons, or replaced full stops here and there. In the second part (1945) also inserted paragraphs to ease reading.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku). Cf. zur Nieden, Alltag, see note 10, 64.
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lication. A transcript instead of an original precludes an analysis of the physical state of the text. Annotations and explanations of contemporary terms may enlighten some readers, but they often seek to rephrase a concept or frame it in a way not chosen by the original author. The transcriber has also commented on the content of the text, describing the first section as a “pithy diary, containing lots of issues of minor importance”.17 On an appended title page the author of the transcript has listed Krenn’s name, the dates covered by the diary and then in parentheses, “sparse, unfortunately only interesting in parts”.18 This raises questions about the nature of diary sources and, of course, the historian’s judgement on exactly what is or is not deemed ‘interesting’. As historians, what do we expect from such sources? It is the task of the historian to establish the context in which the diarist was writing and how this was shaped by the history of the diarist and the constraints of the medium.19 In the case of Marie Krenn’s diary, the transcript author is anticipating some disappointment, perhaps assuming a diary can only be useful when the entries are full or detailed in nature. However, Krenn’s entries have a lot to tell us, often due to their very brevity. To dismiss this section of the diary would be to miss out on rich material concerning the daily life of this particular Viennese woman and the chance to identify the types of networks that were part of her environment. In terms of frequency, Krenn made three entries during 1942, one during 1943, an average of eleven a month during 1944 and twelve and four entries respectively in January and February 1945. This writing pattern supports what Susanne zur Nieden has found in her examination of women’s diaries from Berlin, namely an increase in female diary writing from 1943 as everyday life became dominated by the war, particularly by the intensification of air raids.20 I would argue that the circumstances are slightly different when looking at women diarists in Vienna because the air raid attacks did not start in earnest until late summer 1944; this point will be elaborated below. Josefine Appiano
The second case study is the diary of Josefine Appiano. Appiano was 53 years old in 1945 and lived in Alsergrund, the 9th district of Vienna. Her diary is part of a much larger estate held at the “Wiener Stadt- und Landesarchiv” (Vienna City and County Archive) and is indexed as a ‘diary calendar’, the type of Notizkalender which Susanne zur Nieden distinguishes as a particular kind of diary, containing “an abbreviated chronicle of events”.21 There 17 18 19 20 21
“knappes Tagebuch, das sehr viele sehr banale ‘Nebensächlichkeiten’ enthält.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku), i. “spärlich, leider nur teilweise interessant.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku), i. Cf. Hämmerle, Diaries, see note 14, 150. Cf. zur Nieden, Alltag, see note 10, 73. Cf. zur Nieden, Alltag, see note 10, 74; Josefine Appiano. HK 209. Wien 1945/Historische Kommission, 3.15.A1006 (prov.), Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStL). The estate includes: notebooks recording living costs (1954–1971), household book (1904/1905), election paraphernalia, tax book,
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is a week to a page and 52 pages in total. Josefine Appiano wrote up to a maximum of three lines of handwriting, almost always in pencil. Her entries were a mix of abbreviated words and short sentences. However, the exception to this is between 9 and 19 April 1945 when she used the blank pages on the reverse of the diary to record longer, more fluent observations during the liberation of the city by Soviet troops. She wrote very regularly, with only ten days left blank between January and April 1945 and a monthly average of 26 entries between May and December 1945. Josefine Appiano does not mention a husband in her diary entries, and her listing in Lehmann’s address book in 1942 suggests she had either sole tenancy of the house or was the head of the household after the death of her husband. There are three diary entries recording a pension payment, which supports the idea that she was a widow. In addition, two grown-up daughters, Jessy and Fanny, are mentioned frequently. There is no information in the diary which reveals their precise ages, but Jessy, living with her mother Josefine, is often mentioned in conjunction with compulsory labour duty, indicating she would have been over 17 years old.22 Fanny did not live with Josefine and had her own child, Fritzi. Josefine Appiano’s profession is recorded in the 1942 address book as Beamtin (civil serv ant); however, her diary indicates that laundry and sewing work was a regular activity during 1945. There is no direct evidence to suggest that Appiano was employed or conscripted to provide laundry and sewing services. Her age meant that she fell outside of the remit for conscripted labour, even when this was extended in 1944.23 Where noted, her work seems to be for relatives or friends; indeed there are some instances where it is possible to identify a name supplying food with the same name receiving sewing items. This can be linked to the idea of an informal network of reciprocation, which will be discussed further below.
From daily life to Kriegsalltage24
The cases of Marie Krenn and Josefine Appiano are not to be taken as ‘typical’, but as representative of their own specific daily lives in wartime Vienna (Kriegsalltag). Margarete Dörr’s concept of many daily lives rather than one is particularly useful when women’s diaries are
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rent book, invitations, circulars, forms, travel report, membership card, letters, a calendar, an insurance premium and miscellaneous leaflets. The items span the period 1883–1971. For more on labour policies towards women cf. Stephenson, Women, see note 3; Karin Berger, Zwischen Eintopf und Fließband: Frauenarbeit und Frauenbild im Faschismus, Österreich 1938–1945, Wien 1984. On 12 January 1943 all women aged 17 to 45 who were not already in employment or engaged in auxiliary work were required to sign up at their labour office. They then entered the pool of possible labour for conscription. In July 1944 the upper age limit was extended to 50 years old. Cf. Berger, Eintopf, see note 22; Arbeitspflicht der Frau bis zum 50. Lebensjahr, in: Neues Wiener Tagblatt (31 July 1944), 3. This concept is used by Margarete Dörr and Susanne zur Nieden, among others.
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used as case studies.25 It incorporates the uncertain and changing nature of the years towards the end of the Second World War and accommodates decisions which may change a woman’s status under more rigid methods of categorisation, for example the decision to take up paid work, or the decision to leave the city. When considering the time period covered by the two diarists, it is worth bearing in mind Susanne zur Nieden’s argument that the end of the war and the first post-war months were focus points for writing. Entries often then ended with the first signs of ‘normalisation’ in everyday life.26 Such a concept is most explicit in my case studies during April 1945, when both women wrote in a more detailed, descriptive and fluent style than was normal for their respective diaries; this will be addressed below. In terms of the end of diaries, Susanne zur Nieden’s argument needs to be used carefully. The signs of a return to ‘normal’ life were different for each woman. They could be traced in the recording of ‘firsts’ by Josefine Appiano in the months following the end of the Second World War: the first time gas could be used, the first bath she took, etc. But the provenance of the sources must also be taken into account. The diary held by the archive may be an abridged version of the original or artificially truncated to fit within the remit of the collection. For example, Josefine Appiano’s diary makes up part of the “Historical Commission, 1945”, held at the “Wiener Stadt- und Landesarchiv”. This collection was initiated in April 1975 by the then mayor, Leopold Gratz, in association with the archive. Invitations to participants were issued through newspaper and radio appeals, as well as television adverts.27 People’s memories of 1945 and their documents from that time were sought and collected. It is therefore unknown whether Josefine Appiano only kept a diary during 1945 or whether she simply chose not to contribute the rest. Marie Krenn’s account, which has already been mentioned as an annotated transcript and therefore possibly altered version, may also be only a fragment of a longer running diary. Whether Marie Krenn continued writing after her return to Vienna is unknown. Therefore, no definitive analysis of the ending of the case studies can be determined, but models like those advocated by Susanne zur Nieden can be applied and tested against the evidence that we do have. In terms of the gaps or silences that can be deduced when examining the diarists’ depiction of daily life in wartime (Kriegsalltag), it is very difficult to generalise. Certainly one of the bigger obstacles to a rigorous analysis can be the discontinuity in terms of entries and this is true for Marie Krenn. She often wrote in stretches of a few days at a time, normally 25
26 27
Dörr, Mittragen, see note 5, 278. Some of the distinctions identified by Dörr include those who suffered air raid damage to their property and those who did not, those in ‘safe’ areas and those in cities threatened by air raids, those who stayed and those who left, people who were alone and people with large families, and many more. These are useful criteria to consider within the wider scope of the ‘German and Aryan’ categorisation for women under National Socialism. Cf. zur Nieden, Alltag, see note 10, 73. Cf. Felix Czeike, April und Mai 1945 in Wien. Eine Dokumentation, in: Wiener Geschichtsblätter, 30, 3 (1975), 221–236; 258. Cf. also Christine Klusacek and Kurt Stimmer, Die Arbeit der Kommission Wien 1945, in: Wiener Geschichtsblätter, 32, 2 (1977), 75.
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on weekdays. For example, in March 1944 there were entries from the 20 to 23 and the 25, then from 27 to 31. On the 25 Marie Krenn wrote, “[…] travel tomorrow to the children” and on the 27 “Was with the children”.28 The diary remained at home. She did not only write when her children were absent, but this was her overwhelming tendency. Her loneliness was acknowledged in many diary entries and this was naturally more profound when her children were not there. Marie Krenn’s husband was not a frequent theme in her diary entries, but she occasionally noted when she received correspondence from him. Philippe Lejeune suggests, “there are those who write, more or less regularly, when they need to”.29 Marie Krenn’s diary recorded both positives and negatives thoughts, so the temptation to generalise must be avoided, “It was a lovely Saturday today” and “Today was a difficult day”.30 Often it is not clear what made Krenn’s day particularly good or hard. Having the time to write was also a factor, “21.XII.44 The children were with me for 14 days, didn’t need a diary because my time was too full up.”31 Her previous entry had been on 2 December 1944. This seemingly fragmented and interrupted diary can be seen, as Suzanne L. Bunkers and Cynthia A. Huff would argue, to represent the fragmented and interrupted life of the author.32 This also allows a consideration of the space that diaries occupy in the lives of their authors in a tangible sense. Marie Krenn was often not physically present in the same space as her diary and therefore entries were not made. Other diaries travel more, removed from their ‘regular’ place when the situation becomes irregular, for example.33 In terms of recording daily life, both case studies have a number of recurring topics. Josefine Appiano’s most frequent entries include her trips to the cinema (usually accompanied by either the film title, or her choice of clothes), laundry tasks (ironing, washing, mending), visitors and the goods acquired from them, the availability of utilities, and regular appointments (doctors, work, church).34 Marie Krenn writes most frequently about her children; either anticipating their arrival, planning a visit, or missing them. Her husband does not feature prominently in her diary, although she does mention waiting for letters from him which may indicate that his ‘space’ was the letters she sent him, rather than being a key theme of the diary. Matters connected to the butcher’s shop, including the strains of physical work, 28 29 30 31 32
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“[…] fahre morgen zu den Kindern” and on the 27: “War bei den Kindern.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku), 20–31 March 1944. Philippe Lejeune, How Do Diaries End?, in: Biography, 24, 1 (2001), 99–112, 105. “Es war ein schöner Samstag heute” and “Ein schwerer Tag war es heute.” Marie Krenn, Diary 1942– 1945 (Doku), 6 May 1944; 16 May 1944. “21.XII.44 Nun waren die Kinder 14 Tage bei mir, habe kein Tagebuch gebraucht, denn meine Zeit war auch so ausgefüllt.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku). Suzanne L. Bunkers and Cynthia A. Huff, Issues in studying women’s diaries: a theoretical and critical introduction, in: Suzanne L. Bunkers and Cynthia A. Huff eds., Inscribing the daily: critical essays on women’s diaries, Amherst 1996, 19. Josefine Appiano’s entries for 9 to 19 April were apparently written in the cellar of her building, Agnes Henk’s household book is appropriated in a similar way; cf. Agnes Henk, NL 8 (SFN). Josefine Appiano, Diary (WStL).
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managing her employee and external responsibilities also form a large proportion of her entries. Trips to the cinema are also noted. Yet, all these activities were overshadowed as air raid attacks on Vienna broke the division of ‘home front’ and ‘fighting front’ and the impact of the war began to dominate daily entries by both women.35 Although the Second World War had been underway since September 1939, the air raid attacks brought violence and the threat of danger directly to the inhabitants of the city. Sirens sounded for the first time in Vienna on 13 August 1943, during an air raid on Wiener Neustadt, although it was not until the autumn of 1944 that air raids on the capital became ‘routine’.36 New types of ‘everyday’ were enacted, based around air raid alarms and seeking shelter in cellars. This invariably led to increasing prominence in the women’s diaries. Marie Krenn incorporated the daily threat into her usual reflective prose in a descriptive and immediate manner, “14.9. Today we didn’t have an air raid warning, but tomorrow they’re supposed to come. We hope not. Was in church this evening and prayed for a happy reunion.”37 For Josefine Appiano, the air raid alarms and their duration became like another appointment or activity to record and she began an orderly recording of precise times, “19.1. Pre-alarm ½ 11-11h, ½ 12-1h”, “1.3. Air raid warning ½ 11-¼ 4. Ironing finished.”38 It is worth speculating on this meticulous noting of the times and duration of the air raid alarms and whether it gave women like Appiano an almost tangible hold on the disruptive and unsettling events.39 We know that diaries kept by women during the Second World War can be seen as a manifestation of the attempt to cope and come to terms with a time of crisis.40 35
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Vienna had eight air raid alarms in 1943, 82 in 1944 and 51 in 1945. 1944–1945 saw 52 major air raids on the city, cf. Christiane Holler and Franz Severin Berger, Ich habe überlebt. Fragen an, Erinnerungen von, Gespräche mit Wiener Frauen über den Bombenkrieg gegen Wien 1943 bis 1945, in: Peter Eppel Hg., Frauenleben 1945 – Kriegsende in Wien (Katalog: Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), Wien 1995, 26–40, 28. Holler/Berger, Ich habe überlebt, see note 35, 34. “14.9. Heute hatten wir keinen Alarm, doch morgen sollen sie kommen. Hoffen wir nicht. War heute Abend in der Kirche, habe um ein glückliches Zusammensein gebetet.” Marie Krenn, Diary 1942– 1945 (Doku), 14 September 1944. “19.1. Voralarm ½ 11-11h, ½ 12-1h”, “1.3. Fliegeralarm ½ 11-¼ 4. Wäsche fertig gebügelt.” Josefine Appiano, Diary (WStL), 19 January 1945; 1 March 1945. Evidence to support this can also be found in the household diary of Agnes Henk, see note 33. Henk carefully recorded her daily activities, shopping lists and expenditure in a household book, but as the air raid attacks began on Vienna, she started to replace her weather observations with abbreviated notes on the duration of each alarm and each attack. For more on this diary, cf. Li Gerhalter, ,,Ich werde von nun an mehr hereinschreiben …“. Schreiben im Alltag, Schreiben als Alltag. Beispiele von Frauenund Mädchentagebüchern aus der Sammlung Frauennachlässe, in: Petra-Maria Dallinger ed., [M]ein Tagebuch. Überlegungen zum autobiographischen Schreiben an ausgewählten Beispielen, Linz 2008, 12–51, 28, 52; Christa Hämmerle, „Und etwas von mir wird bleiben …“. Von Frauennachlässen und ihrer historischen (Nicht-)Überlieferung, in: Montfort, 55, 2 (2003), 154–174, 161ff. Cf. Sabine Grenz, Feldpostbriefe, die nie versandt wurden. Das Brieftagebuch der Ursel H. –Konstruktion einer Beziehung, in: Veit Didczuneit, Jens Ebert and Thomas Jander eds., Schreiben im Krieg, Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, 253–262.
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It is to be assumed that the repetitions of Appiano’s air raid observations have a particular significance and demonstrate how something ‘abnormal’ quickly became an integral part of daily life.41 While the air raid alarms and attacks became incorporated into daily routine and the diary entries, the days surrounding the liberation of Vienna by the Soviet Army mark the most noticeable and significant change in both diaries.42 Marie Krenn and Josefine Appiano moved away from their generally consistent (in terms of themes and physical space) everyday accounts to special, extraordinarily long and detailed diary entries in the middle weeks of April 1945.43 This demonstrates the most significant caesura in how daily life was viewed, reflecting the absolutely unprecedented nature of those war days and weeks. Secondly, from a methodological point of view, connections can be made with Suzanne L. Bunkers and Cynthia A. Huff’s discussion of Rebecca Hogan’s thesis.44 She argues that diaries are organised by principles of association and accumulation and can be deemed ‘inclusive’ precisely because they do not favour ‘amazing’ over ‘ordinary’ events in terms of the scope of entries, the space devoted to events and the selection of events to discuss.45 It could be argued that during April 1945 both Marie Krenn and Josefine Appiano favoured ‘amazing’ over ‘ordinary’ events in terms of the space they give to them: in both cases disproportionately to their ‘usual’ entries. This contradicts Hogan’s thesis. It is also important to relate the change in narrative strategies used by both authors to Susanne zur Nieden’s discussion of ‘caesuras and breaks’ and how diarists respond. Particularly for the post-war period it is worth observing whether the process of adjustment was so pronounced. Josefine Appiano provides an interesting example by completely changing her style and regular entries while in the cellar during liberation and then reverting to her ‘normal’ way of writing after 19 April 1945. As she re-adjusts to her daily routine, her entries reflect this: the longer sentences and descriptive entries of April giving way to her ‘normal’ abbreviated comments on food, appointments and visitors. The caesura, according to zur Nieden, was 9 to 19 April, and it follows that Appiano’s return to routine entries represented adjustment in her daily life.
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Cf. Margarete Dörr describing the change from Alltag to Kriegsalltag: “Das Abnormale wurde zur Normalität.” Dörr, Mittragen, see note 5, 275. Cf. Elizabeth Hampsten on the value of acts of repetition in diaries, quoted in: Bunkers/Huff, Inscribing, see note 32, 11. The Russians reached the city outskirts on 6 April 1945, the first district by 10 April 1945 and the final clashes occurred on 14 April 1945. On 27 April 1945 the Second Austrian Republic was declared. Cf. Jill Lewis, Workers and Politics in Occupied Austria 1945–1955, Manchester 2007, 37–45. Cf. also Eva-Marie Csàky, Frank Matscher and Gerald Stourzh eds., Josef Schöner – Wiener Tagebuch 1944/1945, Wien/Köln/Weimar 1992. Cf. zur Nieden, Alltag, see note 10, 74. Rebecca Hogan, Engendered Autobiographies: The Diary as a Feminine Form, in: Prose Studies, 14, 2 (1991), 103, quoted in: Bunkers/Huff, Inscribing, see note 32, 5. Cf. Hogan, Autobiographies, quoted in: Bunkers/Huff, Inscribing, see note 32, 5.
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Informal networks
The question of the importance of informal networks adds a new dimension to the perception of women’s daily lives towards the end of the Second World War in Vienna, at a time when the ‘home front’ was under increasing threat and attack. While these informal networks are not explicitly anti-establishment or resistance-motivated, they reveal the more intimate and micro-organisational level of daily life. They vary in size, in the degree of informality, and in the level of provision. Each network is therefore something unique to those involved. Having considered the various approaches to defining networks, Edith Saurer’s discussion of social networks and their differing characters, in particular her presentation of the approaches of John A. Barnes and Elizabeth Bott, have had an influence on the way in which I identified networks in the case studies.46 John A. Barnes advocates social networks as something informal, without unity or limits or a firm organisation, but rather an expression of flexible relationships. Such networks, according to Barnes, are above all based on relationships between family members, friends and neighbours.47 Elizabeth Bott also argues that social networks have an “informal character”, incorporating friends, relatives and neighbours, and something clearly distinguished from the types of relationships established through “institutions”.48 For the purposes of my work, I consider National Socialist women’s organisations to represent such institutions. The contribution of informal networks to daily life varied considerably, but in certain cases it became key to maintaining and aiding daily life. They are personal groups, not connected to official organisations. There may be something offered or gained by such a network – whether material provision or something less tangible, like emotional support. They may have a reciprocal element, even if there is not a direct exchange. I divided the networks into two categories: familial and material. This was an artificially created model, designed to accommodate the findings from my sources, rather than based on an existing theoretical model. In reality, the two categories merged and an additional emotional category, in particular, was incorporated by the familial and material networks. Family
Family networks are an obvious place to start when we look at the informal support that women received during the later stages of the Second World War. However, the conscription 46
47 48
Cf. Edith Saurer, Frauenbewegung und soziale Netzwerke. Kommentar zur Karriere eines Begriffs, in: Anja Weckwert and Ulla Wischermann eds., Das Jahrhundert des Feminismus. Streifzüge durch nationale und internationale Bewegungen und Theorien, Königstein/Taunus 2006, 77–94. Cf. John A. Barnes, Class and Committees in a Norwegian Island Parish, in: Human Relations, 7 (1954), 39–58, quoted in: Saurer, Frauenbewegung, see note 46, 80. Elizabeth Bott, Family and Social Network: Roles, Norms and External Relationships in Ordinary Urban Families, London 1957, quoted in: Saurer, Frauenbewegung, see note 46, 80.
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of many male members had changed households and not everyone was lucky enough to have their family close by, or to enjoy a good relationship. The inclusion of family in my interpretation of a network is therefore supported by the approaches of John A. Barnes and Elizabeth Bott, as detailed above, but it is not without some controversy. It has been argued that family does not necessarily count as an informal network because family is a society or grouping legitimated by state (and church), in which members have reciprocal, lawful duties.49 However, I am convinced by Edith Saurer’s argument that despite the compulsory nature of such networks, this is in fact where their strength lies.50 Certainly there is an element of compulsion and obligation inherent in family relationships that needs to be acknowledged, but it is useful to include such arrangements in my analysis, not least because women who were able to call on family therefore did not need help or aid from official organisations. Even if families were not in such close proximity, they could still play a vital role. At the end of 1942, Marie Krenn’s diary shows evidence that she struggled to cope with her duties and with her eight year old and five year old children. She wrote “The children are ill; must go to tax offices at Hietzing and Ottakring tomorrow. Often think I can’t do this anymore. Chin up – it’ll be all right. It is 1.30 am as I get into bed.”51 Crucially, Krenn’s parents in Prinzendorf, Lower Austria were able to take care of her children regularly and by January 1944, Marie Krenn had decided to leave her children with her parents, “26.I.44. Returned from Prinzendorf today and left the children there; it hurts me so much, I could cry for evermore.”52 Krenn’s children stayed in Prinzendorf for the remainder of the war, although she visited them frequently at weekends or had the children to stay with her for some days. After the particularly intense air raid attacks on Vienna in September 1944, Krenn also sought refuge with her family in Prinzendorf and stayed for a month: “19.10.44. Was with the children for four weeks. It was an endlessly lovely time, always to be with the children. To know nothing of the shop and nothing of the bombs. Meanwhile all kinds of things have happened in Vienna. Living will be even more unbearable. […] Bought myself an electric cooker and will start again, god willing, with the shop.”53 The childcare support Krenn received from her family allowed her to continue her role in running the butcher’s shop and, once the air raids began, temporarily eased her worries 49 50 51
52 53
I am grateful to the editors for bringing this point to my attention. Cf. Saurer, Frauenbewegung, see note 46, 82f. “Die Kinder sind krank, müßte Morgen aufs Steueramt Hietzing und Ottakring. Glaube manchmal, ich ermache es nicht mehr. Kopf hoch, es muss gehen. Es ist heute ½ 1 Uhr, als ich ins Bett ging.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku), 15 November 1942. “26.I.44. Bin heute von Prinzendorf gekommen und habe die Kinder draußen gelassen; mir ist so weh, ich könnte immerfort weinen.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku), 26 January 1944. “19.10.44. War jetzt vier Wochen bei den Kindern. Es war eine unendlich schöne Zeit, immer bei den Kindern zu sein. Nichts vom Geschäft und nichts von den Bomben zu wissen. Inzwischen ist in Wien ja allerhand passiert. Das Wohnen wird immer unerträglicher […] Habe mir einen elektrischen Kocher gekauft und beginn in Gottes Namen wieder mit dem Geschäft.” Marie Krenn, Diary 1942–1945 (Doku), 19 October 1944.
Helen Steele
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about the children being in danger. Her alternative would have been to send her children on the “Kinderlandverschickung” (KLV) programme, organised by the “Nationalsozialistische Volkswohlfahrt” (NSV).54 Rather than her children being placed with host families in rural areas or entering communal camps with their school class, Krenn was able to rely on her own family. Statistics indicate that sending children to relatives, where possible, was a popular decision by Viennese families in 1944.55 Although it is evident from Krenn’s diary entries that the separation caused her pain, her family network ensured that she was freed from the more common worries experienced by parents who sent their children on the KLV scheme.56 Material
Informal networks could also be vital for easing everyday shortages, particularly as conditions worsened towards the end of the Second World War and access to a private food supply became increasingly important.57 Only those lucky enough to have contacts who were willing to share provisions with them, or those who were prepared to risk participating in illegal trading could obtain extra rations or luxury items. Josefine Appiano had a wider network for material goods, at least in terms of the various contributors to her household. She recorded in her daily diary a number of different visitors, usually just referred to by their surname, followed by a list of what they brought, “Stehlik: brought eggs, onion, carrots”, “Hoklmayer: bread, milk, lard”58. However, it is interesting to note the partly reciprocal nature of her involvement. She recorded her various dressmaking projects, always for other people – nightgowns, aprons, dresses and so on. She also looked after her grandson frequently, while her daughter was at work.59 As far as food was concerned, her fortune was to know so many people, who were 54 55
56
57 58 59
Cf. Helmut Engelbrecht, Wien und die so genannte Kinderlandverschickung, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, 57/58 (2001), 25–112, 46–54. “Vor den Angriffen auf Wien seien rund 45.000 Kinder verschickt worden, davon befanden sich etwa 18.000 in KLV-Lagern, der Rest entfiel auf die Verwandtenverschickung.” Bericht über eine Dienstreise des Vertreters der RMWEV, Abteilung Schulen, Lachmann, nach Breslau am 1./2.9.1944, BA Koblenz, R 21/723, quoted in: Gerhard Kock, Der Führer sorgt für unsere Kinder. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997, 219. Bericht über eine Dienstreise des Vertreters der RMWEV, Abteilung Schulen, Lachmann, nach Breslau am 1./2.9.1944, BA Koblenz, R 21/723, quoted in: Kock, Führer, see note 55, 219. The letters written by Julie Schreiber to her husband have also contributed to my understanding of the decisions women in Vienna faced regarding the evacuation programme, NL 79 (SFN), cf. Helen Steele, Schreiben oder Schweigen: Feldpost and Frauenalltag in Vienna, 1943–1945, in: Didczuneit/Ebert/Jander, Schreiben, see note 40, 273–282. Cf. Fritz Keller, Eintopf for the Austrian Gourmet: How Even the Spoiled Austrians Learned to Love German Hotchpotch, in: Contemporary Austrian Studies, 17 (2009), 135–156, 145. “Stehlik: Eier, Zwiebel, Karotten gebracht”, “Hoklmayer: Brot, Milch, Schmalz.” Josefine Appiano, Diary (WStL), 28 February 1945. There are not enough solid indications about Appiano’s professional life or employment status. It could
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Daily Lives and Informal Networks in the Diaries of two Viennese Women (1943–1945)
able to provide so many things. At least seven different names can be identified in her diary in conjunction with bringing food. It seems highly likely that some, if not all, of Appiano’s ‘providers’ lived outside of Vienna in the countryside. The abundance of fresh produce certainly suggests they were farmers, owners of smallholdings, or had access to allotments at the very least. Could we even call this a personal trade network? Although there is no specific evidence contained in the diary, I would certainly suggest that the activities of Josefine Appiano could be placed on the spectrum of black market activities. Even if she was simply the beneficiary of a reliable and generous group of acquaintances, the significance of Appiano’s material goods is that she possessed the means to barter or trade if required. She may have been able to supplement the rations of her household without resorting to illegal activity, but the items she possessed were undoubtedly currency at a time of increasing regulation and shortage. There was a flourishing black market in Vienna during and after the Second World War, and in both periods it was illegal and carried heavy sentences for those caught participating.60 It is clear that contacts outside of Vienna could be advantageous. Marie Krenn noted in her diary: “1.XII.44. Grandad and Mitzi were with me today, father brought with him many apples, grapes and pears, poppy seed and sugar.”61 This was not a recurring topic in her diary, unlike in that of Josefine Appiano, and she did not appear to want for anything in daily life. Even in 1944 she was still able to buy luxury items such as shoes for the children and chocolate. However, additional items were still welcome. Proximity is an important factor to consider with respect to support and personal networks. As conditions in Vienna worsened under the air raid attacks, particularly in relation to public transport, having support close by could be increasingly important. However, as the examples of Josefine Appiano and Marie Krenn show, if that network stretched further afield then certainly in material terms this could be an advantage. Food shortages were definitely not temporary and the official food ration still had to be supplemented if a family were to survive. It has been estimated that in the immediate post-war months the average Viennese household had to find the remaining two thirds of their diet themselves in order to avoid starvation.62
60
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certainly be that her skills were recruited, since laundry or mending work was promoted as a key area of women’s work and one in which women could perhaps most easily engage. For the food situation in Vienna during the Second World War cf. Keller, Eintopf, see note 57. For the situation after April 1945 cf. Irene Bandhauer-Schöffmann, Women’s Fight for Food: A Gendered View of Hunger, Hoarding and Black Marketeering in Vienna after World War Two, in: Claire Duchen and Irene Bandhauer-Schöffmann eds., When the War was Over: Women, War and Peace in Europe 1945–1956, Leicester 2000, 71–88; Irene Bandhauer-Schöffmann, Schlechte Karten für Frauen. Die Frauendiskriminierung im Lebensmittelkartensystem im Nachkriegs-Wien, in: Eppel, Frauenleben, see note 35. “1.XII.44. Großvater und Mitzi sind heute bei mir, Vater hat viele Äpfel, Weintrauben und Birnen, Mohn und Zucker mitgebracht.” Marie Krenn, Diary (Doku), 19 October 1944. Cf. Franz X. Eder, Vom Mangel zum Wohlstand. Konsumieren in Wien 1945–1980, in: Susanne Breuss ed., Die Sinalco-Epoche: Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945, Wien 2005, 24.
Helen Steele
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To return to the diary of Josefine Appiano, the significance of her particular network is that, since diary entries continue until December 1945, we have evidence that her material support remained in place after the war ended. Between 18 May and 24 December 1945 she received over thirty different types of foodstuff from her seven regular contacts. The full list of items received consisted of: salt, salad, cherries, hare, redcurrants, potatoes, bread, eggs, butter, dill, jam, cucumber, string beans, lettuce, tomatoes, apples, vegetables, oil, beans, white bread, pumpkin, milk, flour, semolina, sausage, lard, wine, duck, meat, poppy seeds, bacon and beetroot. Her diary records between one and six visits per month that yielded these items.63
Conclusion
To claim that women found solace in their diaries during the Second World War or used them to record and structure their days is only echoing arguments that have been made before.64 However, I am advocating an approach which identifies and, perhaps somewhat artificially, constructs a web of support networks to gain a deeper understanding of women’s relationships and their often ‘reciprocal’ nature, including how this did or did not change as activities in the political sphere impacted their daily lives. An awareness of how the diarists interacted with the people around them enhances our understanding of their daily lives. It places the diarists in a wider context and enriches our analysis, demonstrating further the unique value of diaries for researching the experience of women under National Socialism. The case studies have shown that some women were part of informal networks which aided them and brought provisions and companionship, among other things. These networks lay outside the official measures which sought to organise women’s daily lives. Although I attempted to divide these networks into familial and material categories, I would argue that making such clear cut divisions has the disadvantage of sometimes complicating or confusing the significance of the networks which can encompass both areas, or move between them. The networks need to be understood as fluid and partly reciprocal arrangements which were deeply personal and within which there could be different facets. For example, Josefine Appiano could be seen to have been at the centre of a web of such networks – many small, but all vital and making up (or providing for) a much larger whole. The ever encroaching impact of the war on the ‘home front’ led to an increase in restrictions in many areas of life, and the policies of ‘total war’ required women to make choices: whether to leave the city, how to supplement the rations or to deal with hunger. Small, personal networks best served the women from my case studies within this set of restrictive circumstances. Susanne zur Nieden and Margarete Dörr, among others, have argued that 63 64
Josefine Appiano, Diary (WStL), 18 May 1945 to 24 December 1945. Cf. zur Nieden, Alltag, see note 10.
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Daily Lives and Informal Networks in the Diaries of two Viennese Women (1943–1945)
women stabilised the ‘home front’ during the Second World War and therefore contributed to the National Socialist regime, whether directly or indirectly.65 While there were official channels and networks that on the surface at least aimed to provide organisation, and therefore underpin the regime, I would argue that the informal networks identified had the effect of stabilising part of women’s daily lives but only at an intensely personal level. In Marie Krenn’s case, this may have been the provision of childcare by her family, which enabled her to remain in the workplace. For Josefine Appiano, her network of consistent providers ensured that food was not as pressing a concern as it would have been for other women at that time. The stability in certain areas of women’s daily lives may have contributed to a wider stabilisation of the whole regime, but my concern is very much for the individual experience. As Mary Nolan discusses with respect to individual survival, “the attempt to retreat into a sphere of Eigensinn perpetuated an attitude of acceptance toward the regime, but one which stemmed from one’s own needs, interests and practices, rather than integration or deep ideological commitment to the regime”.66 Diaries are the ideal source for investigating this individual survival, and the entries made by Marie Krenn and Josefine Appiano demonstrate the personal preoccupations of daily life, enmeshed in informal networks, during the final years of the Second World War.
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Cf. Dörr, Mittragen, see note 5, 283; cf. also Mary Nolan on whether retreating into domesticity or work and ignoring more ‘offensive’ aspects of the regime also contributed to the stabilisation; Mary Nolan, Work, Gender and Everyday Life: Reflections on Continuity, Normality and Agency in Twentieth-Century Germany, in: Ian Kershaw and Moshe Lewin eds., Stalinism and Nazism. Dictatorships in Comparison, Cambridge 1997, 311–342, 318f. Nolan, Work, see note 65, 339.
Benjamin Möckel
„Die Bewährung der jungen Generation“ Geschlechterbilder in Jugendtagebüchern des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit1
„Wenn man bedenkt, es sind doch eigentlich noch alles Kinder und sie müssen schon wie richtige Soldaten leben. Das werden einmal später ganz harte Männer. Und Aufgabe von uns Frauen wird es dann sein, sie wieder zu angenehmen Leuten zu erziehen.“2 Dieses Zitat stammt aus dem Tagebuch der damals 16jährigen Ursula E.,3 die im Kriegssommer des Jahres 1944 über die Erlebnisse ihrer männlichen Schulkameraden als Luftwaffenhelfer berichtete. In einem relativ unscheinbaren Nebensatz lässt sich hier die Internalisierung vermeintlich eindeutiger Rollenverteilungen zwischen ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Aufgabenbereichen und Erfahrungsräumen im Nationalsozialismus wiedererkennen. Während die männlichen Jugendlichen in dem Zitat schon als Sechzehnjährige wie „richtige Soldaten“ leben und zu „harten Männern“ geformt werden, wird die weibliche Rolle von Ursula E. dahingehend interpretiert, diese Männer später wieder „zu angenehmen Leuten zu erziehen.“ Solche Vorstellungen einer Dichotomie von ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Erfahrungsräumen, wie sie von Ursula E. hier unhinterfragt übernommen werden, standen im Zentrum der normativ-moralischen Vorgaben, die im Nationalsozialismus sowohl durch Zeitschriften, Bücher und andere Medien als auch durch die Sozialisation in den NS-Erziehungsinstitutionen als gesellschaftliches Rollenmodell propagiert wurden. ‚Geschlecht‘ lässt sich auf diese Weise als eine Schlüsselmetapher der gesamten nationalsozialistischen Sozial- und Gesellschaftspolitik lesen.4 Dies gilt in besonderem Maße für die Zeit des Zweiten
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2 3 4
Der Aufsatz ist Teil des Dissertationsprojektes, das der Autor unter dem Arbeitstitel „Die Entstehung der ‚Kriegsjugendgeneration’. Erfahrungsbruch und Erinnerungsgemeinschaft in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften“ im Graduiertenkolleg „Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert“ an der Universität Göttingen durchgeführt hat. Die Dissertation wurde von Bernd Weisbrod betreut. Vgl.: Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die ‚Kriegsjugendgeneration‘ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014. Akademie der Künste, Berlin, Walter Kempowski-Biographienarchiv, Archivnummer A25, 23.7.1944. Sämtliche Namen von AutorInnen bisher unveröffentlichter Tagebücher sind in diesem Aufsatz anonymisiert worden. Vgl. Elke Frietsch u. Christina Herkommer Hg., Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009.
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„Die Bewährung der jungen Generation“
Weltkrieges, der als vermeintliches „letztes exklusiv männliches Großereignis“5 prädestiniert dafür war, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung dichotome Geschlechterbilder zu produzieren, die jedoch in der sozialen Realität kaum Entsprechungen fanden. In der Forschung ist der Raum des Militärischen jedoch erst relativ spät systematisch unter geschlechtergeschichtlicher Perspektive untersucht und dabei als einer der wichtigsten Orte erkannt worden, in denen Geschlechterbilder konstruiert und tradiert worden sind.6 Die Beschäftigung mit zeitgenössisch verfassten Selbstzeugnissen wie Briefen oder Tagebüchern kann hierbei in vielen Fällen einen unverzichtbaren Zugang bieten, um genau solche gesellschaftlichen Zuschreibungen im Hinblick auf individuelle Erfahrungsperspektiven zu hinterfragen. Tagebücher sind in diesem Kontext nicht primär als ‚authentischer‘ Zugang zu den subjektiven Erfahrungsschichten einzelner Individuen zu verstehen, sondern vor allem als Quellen, in denen sich die unterschiedlichen Möglichkeiten spiegeln, unter denen sich die VerfasserInnen subjektiv zu gesellschaftlichen Normen und Rollenmodellen positionieren konnten, diese einerseits zum Teil kritisch reflektierten, andererseits aber auch im Schreiben selbst als Praxis vollzogen. Gerade im Kontext von Geschlechternormen und Geschlechterbildern erscheinen Tagebücher aus diesem Grund als Quellen, die einen privilegierten Zugang zu einer Reihe von Fragestellungen bieten, die allein im Rückgriff auf politische und gesellschaftliche Diskurse nur sehr eingeschränkt in den Blick genommen werden können. Vor diesem Hintergrund liegen dem folgenden Aufsatz Tagebücher zugrunde, die vor allem aus dem „Walter Kempowski-Biographienarchiv“ an der Akademie der Künste in Berlin und dem „Deutschen Tagebucharchiv“ in Emmendingen stammen. Bisher sind aus diesen Beständen etwas mehr als 50 Tagebücher genauer analysiert worden, aus denen in dem folgenden Aufsatz verschiedene Beispiele vorgestellt werden sollen. Für eine geschlechtergeschichtliche Fragestellung zeichnen sich die Bestände beider Archive vor allem durch ein ausgewogenes Verhältnis von Quellen männlicher und weiblicher AutorInnen aus. Auch soziale und geographische Unterschiede lassen sich anhand des Quellensamples sehr deutlich nachvollziehen. In der Analyse dieser Tagebucheinträge soll ein generationengeschichtlicher Forschungsansatz verfolgt werden, der dazu beitragen kann, neue Perspektiven auf die geschlechtergeschichtliche Beschäftigung mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zu eröffnen. Eine Verbindung geschlechtergeschichtlicher Ansätze mit den Fragestellungen und Erkenntnissen der aktuellen Generationenforschung ist bislang noch nicht auf breiterer wis5
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Birthe Kundrus, Geschlechterkriege. Der Erste Weltkrieg und die Deutung der Geschlechterverhältnisse in der Weimarer Republik, in: Karen Hagemann u. Stefanie Schüler-Springorum Hg., Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M. 2002, 171–187, 171. Vgl. u. a. die programmatischen und methodischen Ausführungen von Christa Hämmerle in: dies., Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte, in: Thomas Kühne u. Benjamin Ziemann Hg., Was ist Militärgeschichte, Paderborn 2000, 229–265.
Benjamin Möckel
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senschaftlicher Basis unternommen worden, obwohl die Verbindung dieser beiden theoretisch und methodisch eng verwandten Ansätze ein enormes Erkenntnispotential zu bergen scheint.7 Unter generationengeschichtlicher Perspektive lässt sich ‚Jugend‘ dabei nicht allein als eine durch feste Altersgrenzen definierte Lebensphase auffassen, sondern vor allem als eine kulturelle Zuschreibungs- und Selbstthematisierungskategorie.8 Zugleich lässt sich erkennen, dass gerade in dieser Phase die Bedeutung gesellschaftlich vorgegebener Geschlechter rollen eine gesteigerte Bedeutung erlangen kann, was sich in den Selbstzeugnissen in großem Maße widerspiegelt. Unter dieser Prämisse soll in dem folgenden Aufsatz die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Bedeutung die normativen Vorgaben des NS-Staates und deren späterer Bruch durch das Kriegsende für die individuelle Selbsterfahrung und Selbstinterpretation von jugendlichen TagebuchschreiberInnen besaßen. Das eigene Engagement im Krieg wurde dabei oftmals auch als Bestätigung der eigenen Geschlechterrolle interpretiert. In demselben Maße erschien den TagebuchschreiberInnen aber auch das spätere Kriegsende nicht als ein primär politisches Ereignis, sondern als eine konkrete persönliche Demütigung, die nicht zuletzt mit dem Prekärwerden der Geschlechterrollen verbunden wurde. Die – durchaus problematische – Vorstellung des Kriegsendes als einen Biographiebruch lässt es demnach als sehr interessant erscheinen, die vorliegende Analyse über das Jahr 1945 hinaus auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft auszudehnen. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang vor allen Dingen, welche Bedeutung die Erfahrungen der Sozialisation im Nationalsozialismus in der Zeit nach 1945 hatten, ob Rollenmodelle in diesem Kontext entwertet wurden oder aber in großem Maße über den politischen Bruch des Kriegsendes hinaus Bestand hatten. Gerade die Beschäftigung mit der subjektiven Wahrnehmung von Jugendlichen kann in diesem Zusammenhang dazu beitragen, die Vorstellung einer ‚Stunde Null‘ als einen grundlegenden Biographiebruch in einigen Aspekten zu hinterfragen.
Gemeinschaftserwartungen und deren Enttäuschung im Krieg
Die Erziehung und Sozialisation vor allem der männlichen Jugend im Nationalsozialismus war von Beginn an auf das Ziel der Militarisierung im Kontext eines zukünftigen Krieges gerichtet. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bildete trotzdem einen entscheidenden 7
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Für eine erste Einführung in die Erkenntnisziele und Methodik der neueren kulturgeschichtlich geprägten Generationenforschung vgl. u. a. Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006; sowie Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 55, 8 (2005), 3–9. Zum Begriff der ‚Selbstthematisierung‘ vgl. Jureit, Generationenforschung, wie Anm. 7, 40. Zum Begriff ‚Jugend‘ als kulturelles Deutungsmuster vgl. Gerd Göckenjan, Das Alter Würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000.
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„Die Bewährung der jungen Generation“
Abb. 1: Quelle: Lehmann, Die Stunde der Bewährung, in: Junge Welt 4 (1942), Nr. 4, 1–3, 3.
Einschnitt für diese Bevölkerungsgruppe. In vielen nationalsozialistischen Zeitschriften und anderen Veröffentlichungen, aber auch in den zahlreichen Propagandareden der ersten Kriegsphase lässt sich häufig erkennen, wie der Krieg gegenüber der Jugend vor allem unter dem Topos einer ‚Bewährung der jungen Generation‘ inszeniert wurde – und dabei zugleich als vermeintliche Einlösung jenes generationellen Versprechens dargestellt wurde, auf das die Institutionen der Hitlerjugend zuvor nur die Vorbereitung gewesen seien: „Der Schicksalskampf unseres Volkes,“ so hieß es beispielsweise in dem Artikel „Die Stunde der Bewährung“ in der Jugendzeitschrift „Junge Welt“, „ist auch für die deutsche Jugend zur Zeit der großen Bewährungsprobe geworden.“9 Die Vorstellung einer solchen ‚Bewährung‘ der eigenen Person im Krieg bildete einen Erwartungshorizont, der für Jugendliche den Krieg nicht selten als Ort des eigenen Erwachsenwerdens erscheinen lassen konnte. Zugleich lässt sich die Rede von einer solchen ‚Bewährung‘ auch als eine gendered metaphor lesen, die im Kontext des Krieges ‚natürliche‘ Aufgabenbereiche für männliche und weibliche Jugendliche definierte. In dem zitierten Beitrag der Zeitschrift „Junge Welt“ lässt sich dies am deutlichsten anhand des beigefügten Bildmaterials darstellen, in denen die idealtypischen Einsatzformen männlicher und weiblicher Jugendlicher auf einer Doppelseite gegenübergestellt wurden.
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Lehmann, Die Stunde der Bewährung, in: Junge Welt 4 (1942), Nr. 4, 1–3. Vgl. für diesen Zusammenhang u. a. auch Joseph Goebbels u. Arthur Axmann, Die deutsche Jugend im Kriege, Berlin 1942. Die „Junge Welt“ (von 1939 bis 1942 „Die HJ. Kampfblatt der Hitler-Jugend“) war ab April 1939 die wichtigste überregionale Jugendzeitschrift. Sie war das zentrale Veröffentlichungsorgan der NS- Jugendorganisation und erschien unter der Herausgeberschaft des „Reichsjugendführers der NSDAP“ im Eher-Verlag.
Benjamin Möckel
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Abb. 2: Quelle: Lehmann, Die Stunde der Bewährung, in: Junge Welt 4 (1942), Nr. 4, 1–3,3.
In der bildlichen Darstellung erscheint hierbei die Aufgabe der männlichen Jugendlichen schon in jungen Jahren auf die Rolle als zukünftige Soldaten und politische Führungskräfte hin orientiert, während die weiblichen Jugendlichen primär als Pflegerinnen oder zwischenzeitliche Aushilfen in der (zivilen) Wirtschaft inszeniert wurden. Im Hintergrund solcher Zuschreibungen stand unübersehbar die dichotomische Gegenüberstellung von ‚Front‘ und ‚Heimat‘ als ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Erfahrungsräumen. Im Nationalsozialismus wurde diese Gegenüberstellung im Zeichen der Propaganda einer vermeintlichen ‚Kriegs-Volksgemeinschaft‘ neu aktualisiert, während sie zur gleichen Zeit im Kontext des sogenannten ‚totalen Krieges‘ mehr und mehr an Bedeutung verlor.10 Die Erwartungs- und Erfahrungshorizonte der meisten Jugendlichen waren jedoch bei weitem differenzierter und widersprüchlicher, als dies die Bilder der NS-Propaganda glauben machen sollten. So stellte zwar die Vorstellung einer ‚Bewährung der eigenen Männlichkeit‘ durchaus einen wichtigen Erklärungsmodus für die eigene soldatische Kriegserfahrung dar. Dies galt jedoch vor allen Dingen für jene Jugendliche, die noch keine Erfahrungen als Soldaten gesammelt hatten. In ihren Tagebüchern lässt sich erkennen, wie der Einsatz als Soldat als vermeintlich einzige adäquate Stellung während des Krieges angesehen wurde. Der zu dem Zeitpunkt 16-jährige Werner K., der bereits als Luftwaffenhelfer in einem Lager eingesetzt wurde, schrieb in diesem Sinne beispielsweise noch im Sommer 1944 in sein Tagebuch: „Besonders wenn ich in Frontbüchern von der großen Kameradschaft des Krieges, 10
Zur Genese der Dichotomie von ‚Front‘ und ‚Heimat‘ vgl. u. a. Karen Hagemann, Heimat – Front. Militär, Gewalt und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, in: dies./Schüler-Springorum, Heimat–Front, wie Anm. 5, 13–53. Als Beispiel für das Phänomen der starken Beteiligung von Frauen an den Kriegsschauplätzen des Zweiten Weltkrieges vgl. u. a. Franka Maubach, Die Stellung halten, Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachtshelferinnen, Göttingen 2009.
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„Die Bewährung der jungen Generation“
der Front, lese, überkommt mich dieses Sehnen. Dann bin ich ein anderer, bin ganz weit weg aus diesem ruhigen Heimatfrontleben […] Dann wünsche ich mir, daß wir dorthin kommen, wo es wirklich mal blitzt und kracht.“11 Bei älteren Jugendlichen, die sich zum Teil schon über einen längeren Zeitraum als Soldaten an der Front befanden, findet man solche Aussagen deutlich seltener. Den propagierten Idealen von Opfer, Gemeinschaft und Kameradschaft kam in der konkreten Erfahrung des Krieges meist eine sehr viel geringere Rolle zu als zuvor in den subjektiven Erwartungshaltungen. Reflexionen über diesen Prozess der Desillusionierung lassen sich in einer Reihe von Fronttagebüchern junger Soldaten finden. Bei dem damals 18-jährigen Hans E., der zu diesem Zeitpunkt als Soldat an der Ostfront eingesetzt war und dessen Tagebuch sich durch eine sehr genaue Beobachtung der Umwelt auszeichnet, lässt sich beispielsweise erkennen, wie er diesen Prozess der Abnutzung der propagierten Ideale an sich selbst und den Soldaten seines Umfeldes deutlich wahrnahm – und mit einer gewissen Selbstironie reflektierte. So schrieb er beispielsweise bei der Ankunft neuer Soldaten an der Front: „Wieder sind neue Rekruten eingetroffen. Ganz komisch naiv benahmen sie sich für uns alte Soldaten, so mit Hacken zusammen reißen, selbst vor billigen Rekruten mit der Würde von vier Monaten Dienstzeit und mit der peinlichen Sorgfalt, auch da, wo ein etwas erfahrenerer Kanonier nicht mehr daran denkt. Aber nur zu leicht vergessen wir wieder, daß es bei uns ja genau so war. […] Da erinnere ich mich gerade eines Freundes, ja, mit welch scheinbar unmöglichen Erwartungen kam ‚er‘ in unsere Gemeinschaft. Das ist es eben, heute scheinen sie uns unmöglich.“12
In den Texten von weiblichen Jugendlichen lassen sich strukturell sehr ähnliche Phänomene feststellen. Vor allem die skizzierten Gemeinschaftserwartungen spielten in den Tagebüchern jugendlicher Frauen eine kaum zu überschätzende Rolle. Die militarisierte Kultur des Nationalsozialismus machte in diesem Kontext auch vor den weiblichen Jugendlichen nicht halt. Als die in Mannheim geborene Ruth W. beispielsweise im Februar 1942 in ihrem Tagebuch über die schlechten Meldungen von der Ostfront schrieb, beendete sie diesen Absatz mit dem Ausruf: „Ich wollte, ich wäre Soldat und könnte auf dem Felde der Ehre fallen!“13
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Kempowski-Biographienarchiv, A1997, 22.8.1944. Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, Archivnummer 1349, Eintrag aus dem Jahr 1944, ohne Datum. Die hier zu erkennende Selbstbeschreibung in der dritten Person lässt sich als charakteristisches Merkmal einer distanzierenden Selbstbetrachtung interpretieren. In ähnlicher Weise lässt sich auch die eigene Charakterisierung als ‚alter Rekrut‘ als Modus einer ironischen Selbstdistanzierung auffassen, die jedoch zugleich darauf verweist, dass im Referenzrahmen des Krieges das ‚Alter‘ eines Soldaten zu einer Hierarchisierung führen konnte, die nicht mehr primär auf das individuelle Lebensalter verweisen musste. Kempowski-Biographienarchiv, A1445, 20.2.1942.
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Zwar ist eine solche Imagination des eigenen Todes als Soldat im Kontext von Tagebüchern weiblicher Jugendlicher als eine Ausnahme anzusehen, die zudem genau konträr zu den eigentlichen Intentionen des nationalsozialistischen Frauenbildes lag. Trotzdem verweist sie exemplarisch auf ein durchaus weit verbreitetes Phänomen: nämlich die Tatsache, dass die militarisierten Pathosformeln von Opfer, Gemeinschaft und Kameradschaft auch von weiblichen Jugendlichen in den eigenen Erwartungshorizont aufgenommen wurden. Exemplifizieren lässt sich dies anhand von zwei Begriffen, die im Nationalsozialismus zum ersten Mal auch für junge Frauen eine zentrale Bedeutung erhielten und aus diesem Grund von einigen Frauen als Ausdruck einer vermeintlichen Integration in zuvor allein jungen Männern vorbehaltene Erfahrungsräume wahrgenommen wurden. Die Rede ist von den Begriffen des ‚Lagers‘ und des ‚Dienstes‘, denen in vielen Tagebüchern von weiblichen Jugendlichen eine wichtige Rolle zukam. Vor allem das ‚Lager‘ stellte hierbei einen Sozialisationsraum dar, der zuvor als Ort der militärischen Ausbildung vor allem männlich konnotiert gewesen war und der in der Zeit des Nationalsozialismus durch den „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) und den „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) auch für einen Großteil der heranwachsenden Frauen zum Raum prägender Erfahrungen wurde.14 Dabei bildeten für viele Jugendliche die Lager der „Kinderlandverschickung“ (KLV) oder des „Reichsarbeitsdienstes“ durchaus einen Erwartungshorizont, den sie als Ausdruck eigener Autonomie und Unabhängigkeit von Eltern und Familie imaginierten – der aber zugleich in der konkreten Erfahrung des Lagerlebens nicht selten stark gebrochen wurde. Die zu diesem Zeitpunkt 16-jährige Ruth G. beispielsweise artikulierte in ihrem Tagebuch vor Beginn ihrer Aufnahme in eines der Lager der „Kinderlandverschickung“ noch die Hoffnung, in ein Lager möglichst weit entfernt von zu Hause zu gelangen, um unabhängig von der Familie eigene Erfahrungen machen zu können. Aus den Eintragungen des Tagebuchs, das sie dann in einem KLV-Lager in der Nähe von Prag fast täglich führte, lässt sich jedoch deutlich erkennen, wie wenig die Realität des Lagerlebens ihre eigenen Erwartungen erfüllte. So kam sie im Juni 1944 nicht zum ersten Mal auf diese Enttäuschung zu sprechen und schrieb unter anderem: „Ach, ich möchte raus aus dem ganzen Lagerbetrieb, möchte in die Umgebung anderer Menschen! […] Die meisten der Mädchen, mit denen ich hier zusammenlebe, kann ich nur verachten. Oberflächlich und gewissenlos, so erscheinen sie mir alle. […] Ich finde das so traurig, denn wahre Kameradschaft macht doch so ein Lagerleben erst erträglich und schön. Aber wir sind ein Haufen Menschen, einer lebt neben dem anderen her […] Ich sehne mich so in eine andere Umwelt!“15
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Zur Rolle der Lagererziehung im Nationalsozialismus vgl. Jürgen Schiedeck u. Martin Stahlmann, Die Inszenierung „totalen Erlebens“: Lagererziehung im Nationalsozialismus, in: Hans-Uwe Otto Hg., Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1991, 167–202. Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, Archivnummer 956, 29.6.1944.
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Interessant ist an dieser Aussage nicht nur, wie belastend die Schreiberin die Gemeinschaft des Lagerlebens empfand, sondern auch, dass sie ihre Kritik an dem Lagerleben unter dem Schlagwort fehlender ‚Kameradschaft‘ artikulierte – unter einem Begriff also, der in der nationalsozialistischen Ideologie vor allem dem männlich dominierten Referenzrahmen des Krieges zugeordnet war.16 Der zweite Topos, der eng mit jenem Begriffsfeld zusammenhing, ist jener des ‚Dienstes‘, der auf ganz ähnliche Weise bei vielen Heranwachsenden das Streben nach Teilhabe und erwachsener Unabhängigkeit ansprach. Die Vorstellung, im Krieg einen eigenen wichtigen ‚Dienst‘ zu verrichten, kam einem Bedürfnis nach „gesteigerter Selbstbedeutsamkeit“17 vieler Jugendlicher entgegen und wurde von der nationalsozialistischen Politik auf vielfältige Weise instrumentalisiert. Erahnen kann man dies etwa an einem Tagebucheintrag der 15-jährigen Ursula E. Nachdem sie zu Beginn des Jahres 1944 vom Dienst im BDM beurlaubt worden war, schrieb sie im Januar 1944 in ihr Tagebuch: „[…] der Dienst ist mein ein und alles. Man hört und erlebt was, lernt Leute kennen und kommt auch rum. Und jetzt fehlt mir auch immer was. Früher war meine ganze Zeit mit Dienst und Schule ausgefüllt, jetzt habe ich viel Zeit, wo ich nie recht weiß, was ich tun soll.“18 Die angeführten Beispiele zeigen, wie die Pathosformeln von Opfer, Dienst und Kameradschaft sowohl für männliche als auch für weibliche Jugendliche ein grundlegendes Ordnungsmuster zur Interpretation der eigenen Erfahrungen darstellten. In der Erwartung der Jugendlichen war der Krieg demnach eng mit der propagierten ‚Bewährung‘ der eigenen Persönlichkeit verknüpft. Die Enttäuschung dieser Erwartung geschah jedoch nicht allein durch das Ende des Krieges, sondern war oft schon das Produkt einer Konfrontation mit der Realität, die im Krieg selbst geschah. Das Auseinanderfallen von Erwartungshorizont einerseits und Erfahrungsraum andererseits19 lässt sich dabei möglicherweise an einem beinahe paradox anmutenden Effekt erkennen: Je mehr nämlich die einzelnen Jugendlichen mit den eigenen Erwartungen von Gemeinschaft, Kameradschaft und Opfer in der Realität des Krieges konfrontiert wurden, desto weniger Bedeutung schienen diese Begriffe zuletzt noch zu besitzen.
Das ‚lange Kriegsende‘ und dessen biographische Verarbeitung
Die Interpretation des Kriegsendes als eines grundlegenden Biographiebruchs stellte eine weit verbreitete Vorstellung in den gesellschaftspolitischen Debatten der unmittelbaren 16 17 18 19
Vgl. hierzu Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Maubach, Stellung, wie Anm. 10, 311. Kempowski-Biographienarchiv, A25, 27.1.1944. Für die Gegenüberstellung von ‚Erwartungshorizont‘ und ‚Erfahrungsraum‘ vgl. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1979, 349–375.
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Nachkriegszeit dar. Dies gilt in besonderem Maße für die zeitgenössische Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse. Gerade in diesem Bereich wurde der Krieg immer wieder als Zusammenbruch zuvor vermeintlich selbstverständlicher Geschlechterrollen interpretiert. Diese zeitgebundenen Wahrnehmungen müssen jedoch durchaus kritisch hinterfragt werden. So kann die zeitgenössische Diskussion über das vermeintliche Prekärwerden etablierter ‚Geschlechterbilder‘ nicht zuletzt auch als eine „moral panic“20 gelesen werden, die vor allem in Bezug auf die Jugend die gesellschaftliche Debatte der 1940er und frühen -50er Jahre geprägt hat. Auch wenn diese Diskurse demnach vor allem die zeitgenössischen sozial- und familienpolitischen Erwartungen widerspiegelten, so lässt sich gleichzeitig feststellen, dass das Ende von Nationalsozialismus und Krieg einen tiefen Einschnitt für die gesellschaftlich dominanten Geschlechterrollen bedeutete. In der neueren Forschung ist dieser Bruch zum Beispiel in sehr überzeugender Weise für die Veränderungen der Männlichkeitsbilder in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert worden, wobei hier unter anderem argumentiert worden ist, dass der verlorene Krieg zwar das Ende des soldatisch-heroischen Männlichkeitsideals als gesellschaftliches Leitbild bedeutet habe, dieses Leitbild jedoch zugleich in der Nachkriegszeit in der Form eines ökonomisch orientierten Leistungsethos ‚zivilisiert‘ worden sei.21 Im Hinblick auf die Erfahrungsperspektive von Frauen und weiblichen Jugendlichen ist in der Forschung nicht in ähnlicher Weise von einem fundamentalen Bruch durch das Ende des Nationalsozialismus ausgegangen worden. Ganz im Gegenteil hat etwa Hanna Schissler argumentiert, dass die Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem durch eine Restauration traditioneller Geschlechternormen geprägt gewesen seien.22 Zumindest für die frühe Bundesrepublik lässt sich ihrer Lesart gemäß feststellen, dass die Restauration jener als ‚natürlich‘ konstruierter Geschlechternormen ein Kernprojekt der sozial- und familienpolitischen Maßnahmen der Adenauerregierung dargestellt habe, welches in großem Maße auf die Wiederherstellung der Familie als „Stabilitätsrest“23 der Umbruchserfahrung des Kriegsendes gerichtet gewesen sei.24 Die alleinige Interpretation der 1940er und -50er Jahre als 20 21
22
23 24
Vgl. Kenneth Thompson, Moral Panics, London 1998. Vgl. teilweise schon zeitgenössisch Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963; in neuester Zeit u. a. aufgegriffen von Till von Rahden, Religion, Vaterschaft und die Suche nach Demokratie in der frühen Bundesrepublik, in: Andreas Holzem, Ehe – Familie – Verwandtschaft: Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn 2008, 437–458. Als frühe Beobachtung dieses Phänomens der Übertragung des soldatischen Männlichkeitsideals auf eine zivile Leistungsethik vgl. Heinz Bude, Deutsche Karrieren, Lebenslaufkonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt a. M. 1987. Vgl. Hanna Schissler, „Normalization“ as Project. Some Thoughts on Gender Relations in West Germany during the 1950s, in dies. Hg., The Miracle Years. A Cultural History of West Germany 1949– 1968, Princeton 2001, 359–376. Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Dortmund 1953, 128. Für die sozialpolitischen Interventionen in der frühen Bundesrepublik vgl. u. a. Robert G. Moeller, Re-
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Zeit der Restauration patriarchalischer Strukturen, die dann erst im Kontext der „Sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre aufgebrochen worden seien, ist in der Forschung jedoch mittlerweile einer sehr viel differenzierteren Sichtweise gewichen.25 Auch insofern erscheint eine Untersuchung dieser Zusammenhänge im Kontext zeitgenössischer Selbstzeugnisse als sehr vielversprechend. In der Tat war bei einer Mehrzahl der recherchierten Tagebuchschreiberinnen die Wahrnehmung des Kriegsendes als einer grundlegenden Brucherfahrung in großem Maße präsent. Diese Brucherfahrungen lassen sich jedoch nicht unter der Vorstellung einer ‚Stunde Null‘ als ein zeitlich distinkt zu lokalisierender Biographiebruch fassen. Vielmehr scheinen die subjektiven Zuschreibungen von Erfahrungsabschnitten nur selten mit den politischen und militärischen Brüchen einherzugehen. Sie entsprechen damit eher der Perspektive eines ‚langen Kriegsendes‘, das bis in den Sommer 1944 zurückversetzt werden kann. Richard Bessel hat für diesen Zeitraum von einem „shock of violence“ gesprochen,26 der auch in den hier analysierten Tagebüchern seinen Ausdruck findet. Das Ubiquitärwerden von Gewalt in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen kann demnach als eine der vordringlichsten Grunderfahrungen jener Monate angesehen werden, die die konkreten politischen und militärischen Ereignisse in vielen Fällen überdeckten oder bedeutungslos machten. Als wichtigstes Phänomen der subjektiven Wahrnehmung des ‚langen Kriegsendes‘ lässt sich dabei die Erfahrung universeller Unsicherheit ansehen. Gerade von Jugendlichen wurde das Kriegsende nur selten als ein primär politisches Ereignis wahrgenommen. Stattdessen lässt sich in ihren Tagebüchern erkennen, wie die Tatsache des verlorenen Krieges vor allem in dem Gefühl einer unmittelbaren persönlichen Demütigung perzipiert wurde. Wörter wie ‚Scham‘, ‚Schande‘, ‚Demütigung‘ oder unterdrückte Wut bildeten hierbei das Begriffsfeld, mit dem die große Mehrheit der Jugendlichen die Erfahrungen des Kriegsendes in den eigenen moralischen Horizont einordnete. Als die aus dem zunächst von amerikanischen Truppen eingenommenen Teil Sachsens stammende Lore E. beispielsweise am 29. April 1945 zum ersten Mal in eine von alliierten Truppen besetzte deutsche Stadt kam, konnte sie, wie sie schrieb, den Blick kaum heben, weil sie den Anblick der weißen Tücher und Fahnen nicht ertrug. In ihr Tagebuch trug sie an demselben Abend ein:
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constructing the Family in Reconstructing Germany. Women and Social Policy in the Federal Republic 1949–1955, in: ders. Hg., West Germany under Construction. Politics, Society, and Culture in the Adenauer Era, Ann Arbor 1997, 109–135. Vgl. z. B. Eva-Maria Silies, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010. Richard Bessel, The War to End All Wars. The Shock of Violence in 1945 and Its Aftermath in Germany, in: Alf Lüdtke u. Bernd Weisbrod Hg., No Man’s Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century, Göttingen 2006, 69–101.
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„Am Rathaus hingen Aufrufe und Verhaltungsmaßregeln, und die Stadt muß weiß flaggen. […] Als wir nun heute ein Stück spazieren gingen, erblickte ich das eigenartige Bild in den Strassen. Ich mußte wegsehen, konnte diese weißen Zeichen einfach nicht ertragen, diese Bettücher und Servietten, Tischdecken und Taschentücher. Ich habe mich schrecklich geschämt.“27
Andere Tagebuchschreiberinnen berichteten in ähnlicher Weise, wie solche Symbole – seien es weiße Tücher, russische Uniformen oder Plakate von Roosevelt oder Stalin – ein Gefühl von Scham oder sogar direkte körperliche Reaktionen wie den Ausbruch von Tränen auslösten. Gerade diese symbolischen Erlebnisse der ersten Nachkriegstage wurden dabei oft als ‚prägende Erfahrungen‘ wahrgenommen, in denen die Entwertung der nationalsozialistischen Sozialisation in verdichteter Form zum Ausdruck käme. Auch bei männlichen Jugendlichen findet man gerade in dieser kurzen Phase des unmittelbaren Kriegsendes immer wieder Reflexionen über die Bedeutung des vergangenen Krieges und die Folgen der militärischen Niederlage. Der zu dem Zeitpunkt 16-jährige Wilhelm K. aus Bremen schrieb dabei beispielsweise: „Der 9. Mai 1945, er wird wohl zu den schwärzesten Tagen der deutschen Geschichte gehören. Kapitulation! Wir Jungen von heute hatten dieses Wort aus unserem Wortschatz gestrichen, und nun mußten wir erleben, wie unser deutsches Volk nach einem fast 6-jährigen Ringen die Waffen strecken mußte. Und wie tapfer hatte das Volk alle Not und alle Opfer getragen. Es war sich bewußt über den Ernst des Kampfes. Einer Welt von Feinden haben wir […] getrotzt, […] der Welt 5 ½ Jahre gezeigt, was ein Volk wie das deutsche zu leisten vermag, wenn es gewillt ist, für seine Existenz alles hinzugeben. […] Jetzt ist es an uns, den Geist, der in uns gepflanzt worden ist, nicht aufzugeben, sondern immer zu bedenken, daß wir Deutsche sind.“28
Bei jenen jungen Männern, die sich am Kriegsende als Soldaten an der Front befanden, dominierten dagegen in vielen Fällen eher die Reflexionen über die Sinnlosigkeit eines jeden Weiterkämpfens und das primäre Ziel, in den letzten Kriegstagen nicht mehr verwundet oder getötet zu werden. Werner K. beispielsweise, der noch Mitte April in seinem Tagebuch den eigenen „Glauben an ein Wunder“ artikuliert hatte,29 schrieb am 2. Mai 1945: „Der Führer soll tot sein. […] Umsonst der Tod, umsonst aller Kampf, wann endlich wird dieser sinnlose Mord ein Ende finden. Und wenn es auch nur ein schlechtes für uns nimmt, dieser sinnlose Kampf schafft ja doch kein gutes Ende mehr.“30 Und in diesen Kontext der
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Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, Archivnummer 340, 29.4.1945. Kempowski-Biographienarchiv, A2035, 16.5.1945. Vgl. Kempowski-Biographienarchiv, A1997, 12.4.1945. Kempowski-Biographienarchiv, A1997, 2.5.1945.
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Sinnlosigkeit einer Weiterführung des Krieges wurde von ihm zwei Tage später auch das Gerücht eines Friedensschlusses eingeordnet: „Heute morgen ging ein gewaltiges Gerücht um. Unsere Kumpel von der 10,5 cm Batterie kamen plötzlich bei uns an und erzählten: ‚Es ist Frieden. Dönitz hat kapituliert. In Ringstedt sind Tommys, und da wird schon verhandelt!‘ Wir waren alle froh, nun war alles in Ordnung. Keine Kugel konnte uns noch in letzter Minute umlegen.“31 Nachdem das unmittelbare Erlebnis von Kapitulation und Kriegsende in den Jugendtagebüchern nach relativ kurzer Zeit einer neuen Einordnung in den Nachkriegsalltag gewichen war, gerieten andere Aspekte in den Vordergrund, die vor allem von der Reflexion über die eigenen Zukunftserwartungen geprägt waren. Eine Wahrnehmungsform, die sich dabei in zeitgenössischen Jugendtagebüchern finden lässt, ist die Interpretation des verlorenen Krieges als eines unmittelbaren Angriffs auf den eigenen und familiären sozialen Status. Dies galt insbesondere für jene Jugendliche, deren Familien im Nationalsozialismus eine höhere soziale Stellung eingenommen hatten und die nach 1945 im Kontext der Entnazifizierung in diesem Status – wenn auch meist nur für kurze Zeit – degradiert wurden. Die zum Zeitpunkt des Eintrags 16-jährige Ursula E. beispielsweise war als Tochter eines höheren NSDAP-Funktionärs aus der Zeit des Krieges eine relativ gesicherte Existenz und eine herausgehobene soziale Rolle der eigenen Familie gewohnt. Im Juni 1945 berichtete sie als eine ihrer einprägsamsten Erfahrungen, wie sie mit ihrem Vater und ihren Geschwistern in den Wald gehen musste, um Essen für sich und die Familie zu suchen: „Heute früh waren Lilo, Ilse und ich mit Vati schon um 6 Uhr früh im Wald. Wir haben nicht viel Pilze gefunden. Auf einem amerikanischen Abladeplatz mitten im Wald haben wir noch einen ganz großen runden, noch guten Käse gefunden. […] Es ist ja eigentlich eine Schande, das aufzulesen, was unsere Feinde wegwerfen, aber wo jetzt so eine Not mit dem Essen ist, wäre es ja eine Schande, das alles verkommen zu lassen.“32
Auf den ersten Blick war dies eine Alltagserfahrung, die viele Familien der Zeit in ähnlicher Weise teilten. Im Kontext des Tagebuchs von Ursula E. erhielt die kurze Erzählung jedoch eine symbolische Bedeutung, in der die Entwertung der eigenen sozialen Stellung als unmittelbare persönliche Demütigung ihren Ausdruck fand. Ein solcher Angriff auf den gesellschaftlichen Status der eigenen Familie wurde oftmals auch mit der Artikulation einer unterdrückten Wut verbunden, wie beispielsweise bei der zu dem Zeitpunkt 22-jährigen Liselotte S., die im Juni 1945 in ihr Tagebuch eintrug: „Vati hat heute von einem deutschen Bezirksbürgermeister ein Schreiben erhalten, in dem er als ein ‚alter, gehässiger Nazi‘ bezeichnet wird. Er bangt sehr um seine Existenz, glaubt 31 32
Kempowski-Biographienarchiv, A1997, 4.5.1945. Kempowski-Biographienarchiv, A25, 24.6.1945.
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nicht daß er noch lange der Verhaftung entgehen könne. Die Denunziation treibt üppige Blüten. Hass und Neid sind unter den Deutschen viel größer als ein Gemeinschaftsgefühl. Nach 6 Wochen ist keine Spur mehr von der Erziehungsarbeit dieser 12 Jahre!“33
In einer langfristigeren Perspektive kann das Ende des Zweiten Weltkrieges als Zeit radikaler Gewalt- und Unsicherheitserfahrungen in ihrer Bedeutung für die Nachkriegsgeschichte kaum überschätzt werden. Die Nachkriegsgesellschaften der 1940er und -50er Jahre waren gerade aus diesem Grund von einem ‚Normalisierungsdruck‘ in Bezug auf die individuellen Gewalterfahrungen des Krieges geprägt, der sich in großem Maße restriktiv auf die Formen der Kommunikation und der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auswirkte. Dieser Prozess ist im Kontext der öffentlichen „Vergangenheitspolitik“34 mittlerweile umfassend erforscht worden,35 kann jedoch durch die Beschäftigung mit zeitgenössischen Selbstzeugnissen zusätzlich um die Ebene einer ‚privaten Vergangenheitspolitik‘ erweitert werden. Diese war in großem Maße von dem Versuch geprägt, die jeweils individuellen Erfahrungen des Krieges in den Zusammenhang der eigenen Lebenslaufkontinuität einzuordnen. Dieser individuelle Umgang mit den eigenen Kriegserfahrungen ist in der Forschung vor allem als Prozess des ‚Vergessens‘ und ‚Verdrängens‘ analysiert worden, der dazu geführt habe, dass die Erinnerungen an den Nationalsozialismus – zum Teil transgenerationell – aus dem Gedächtnis verschwunden seien.36 Die hier vorgelegte Analyse von Selbstzeugnissen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit kann dazu beitragen, diese Problematik des subjektiven Umgangs mit der eigenen Vergangenheit in einigen Punkten zu differenzieren. Im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes soll daher versucht werden, diesen Aspekt einer ‚privaten Vergangenheitspolitik‘ unter einem Ansatz zu begreifen, der in jüngster Zeit von Jay Winter unter dem Begriff einer „Social Construction of Silence“ geprägt worden ist.37 Die hierin ausgedrückte Vorstellung einer „socially constructed silence“38 kann dabei den dynamischen Charakter der Etablierung, Aushandlung und Aufrechterhaltung spezifischer 33 34 35
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38
Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, Archivnummer 1499, 68. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Vgl. nur exemplarisch: Frei, Vergangenheitspolitik, wie Anm. 34; ders., Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006; Peter Reichel, Harald Schmid u. Peter Steinbach Hg., Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, Bonn 2009. Vgl. z. B. Ellen Ueberschär, Die Nazizeit als Familiengeheimnis. Literatur und Erinnerungspolitik, Rehburg-Loccum 2007. Vgl. für eine erste theoretische und methodologische Ausformulierung dieses Ansatzes Jay Winter, Thinking about Silence, in: ders. u. Efrat Ben-Ze’ev Hg., Shadows of War. A Social History of Silence in the 20th Century, Cambridge 2010, 3–32. Eine deutsche Übersetzung kann die Doppelbedeutung von „silence“ als Schweigen und Stille nicht adäquat wiedergeben. In den meisten Fällen wird in der Folge daher der ursprüngliche englische Begriff verwendet.
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‚Sagbarkeitsregeln‘ möglicherweise sehr viel adäquater ausdrücken. Während beispielsweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Erinnerungen an die Gewalterfahrungen des Krieges oft noch unmittelbar präsent waren und auf diese Weise nur partiell festen Regeln der Kommunikation unterworfen werden konnten,39 so lässt sich in größerer zeitlicher Distanz zu diesen Kriegserfahrungen von der Etablierung sozial ausgehandelter Sagbarkeitsregeln ausgehen, die in der kommunikativen Praxis darlegten, über welche Aspekte – und in welcher Weise – über die Vergangenheit geredet werden konnte. Der Prozess, in dem sich solche kommunikativen Regeln etablierten, ist jedoch in der Forschung bisher noch sehr wenig beachtet worden.40 Dieses sozial hergestellte Schweigen lässt sich dabei nicht allein als ein Phänomen des öffentlichen Diskurses auffassen. Vielmehr wirkten die Sagbarkeitsregeln der Nachkriegsgesellschaft oft sehr viel tiefer und strukturierten in großem Maße auch die Kommunikation im privaten Raum der Familie. Auf der Grundlage der untersuchten Tagebücher lässt sich sogar vermuten, dass diese Regeln des öffentlichen Sprechens auch im privaten Schreibprozess, im eigenen Tagebuch, in großem Maße ihre Wirkungsmacht behielten. Diese Tatsache legt nahe, dass das Schweigen über die Vergangenheit nicht zuletzt auch als Ausdruck eines individuellen Bedürfnisses zu erklären ist, bestimmte Aspekte der Vergangenheit im Kontext einer ‚Normalisierung‘ der eigenen Biographie nicht zur Sprache zu bringen.
Sprechen und Sprachlosigkeit über den Krieg
Ein solcher Kommunikationsbruch lässt sich in besonderem Maße für die Erfahrungen vieler Frauen in der Phase von Kriegsende und unmittelbarer Nachkriegszeit vermuten. Während es beispielsweise für die soldatischen Gewalterfahrungen des Krieges durchaus Räume gab, in denen diese artikuliert werden konnten,41 auch wenn sie – im Unterschied zum Ers39
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41
Dies gilt u. a. für die Vergewaltigungserfahrungen in der Zeit des Kriegsendes. Ein Beispiel für den Umgang mit diesen Erfahrungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist u. a. das mittlerweile breit rezipierte „Anonyma“-Buch, dessen Wert als authentisches Zeugnis der Nachkriegszeit jedoch kritisch zu reflektieren ist. Vgl. Anonyma, Eine Frau in Berlin: Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt a. M. 2003, zur wissenschaftlichen Diskussion über Authentizität und Aussagekraft des Tagebuchs vgl. u. a. Jody Raphael, Review Symposium: Silencing Reports of Sexual Assault: The Controversy over A Woman in Berlin, in: Violence Agains Women 7, 12 (2006), 693–699. Als ein Fallbeispiel lässt sich die Arbeit Habbo Knochs über den Umgang der (west-)deutschen Nachkriegsgesellschaft mit den fotografischen Dokumenten zur Shoah anführen: Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. So beispielsweise auf Veteranentreffen oder in der Militär- und Landserliteratur der Nachkriegszeit. Vgl. exemplarisch Thomas Kühne, Zwischen Vernichtungskrieg und Freizeitgesellschaft: Die Veteranenkultur der Bundesrepublik (1945–1995), in: Klaus Naumann Hg., Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, 90–113. Die Sagbarkeitsregeln eines solchen Kommunikationsraumes fanden jedoch ihre Grenze in der Erinnerung und Artikulation eigener Erlebnisse von Kriegsverbrechen, die in der Erinnerung der
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ten Weltkrieg – nun keine gesellschaftliche Priorität mehr beanspruchen konnten, so blieben die überwiegend passiven Gewalterfahrungen von Frauen oftmals sehr viel stärker tabuisiert – und dies nicht nur, weil die Erfahrungen für die Frauen selbst nur schwer zu kommunizieren waren, sondern vor allem auch deswegen, weil sie in großem Maße das weiterhin tradierte Männerbild als ‚Beschützer der Heimat‘ konterkarierten. Im Kontext jener „Remaskulinisierung“42 der deutschen Gesellschaft nach 1945 wurden die Gewalterfahrungen, die Frauen durch den Krieg erleiden mussten, in großem Maße marginalisiert beziehungsweise nur äußerst selektiv erinnert. Spuren dieser Sprachlosigkeit lassen sich auch in zeitgenössischen Tagebüchern finden. So lässt sich beispielsweise erkennen, wie die Erfahrung von Vergewaltigungen in den Tagebüchern meist nur in Form kurzer Andeutungen oder eines charakteristischen Aussetzens des Beschreibens ihren Ausdruck fand. Das folgende Beispiel eines zu diesem Zeitpunkt 16-jährigen Mädchens aus Berlin kann dieses Phänomen sehr deutlich zeigen. Es macht deutlich, wie bestimmte soziale Regeln des Sagbaren selbst in der privaten Artikulation im Tagebuch aufrechterhalten blieben. So beschrieb das junge Mädchen in einem längeren Tagebucheintrag die Situation eines sexuellen Übergriffes durch russische Soldaten zunächst sehr genau und detailliert, artikulierte jedoch die konkrete Vergewaltigungserfahrung in diesem Kontext nur durch eine charakteristische Leerstelle in der Erzählung, die das Geschehen jedoch trotzdem kommunikativ mitteilt. Zur Beschreibung ihrer Erlebnisse schrieb die Autorin dabei unter anderem: „Zwei schreckliche Tage liegen hinter uns. […] Die ersten Russen! Sehr aufgeregt rief ich gleich die andern aus dem Keller herbei. Etwas später bummerte es an die Haustüre. Zwei Russen! Einer davon sah gut aus und war auch sehr freundlich. Sie fragten nach deutschen Soldaten und Waffen. Dann durchsuchten sie alles, zeigten auf Mutti und mich, meinten wohl ‚Tochter und Mutter‘ und gingen wieder. Sollten die Russen doch ganz vernünftig sein? […] Gleich darauf kamen die nächsten. Ein am Auge verwundeter Soldat zog mich aus dem Zimmer raus. Mutti flehte ihn an, wurde aber zurückgeworfen. Ich wollte mich wehren, doch er fuchtelte daraufhin sofort an seiner Pistole. Noch etwas taumelnd vor Ekel, aber irgendwie doch froh, dass ich noch lebte, kehrte ich bald wieder zurück, und Mutti und die anderen trösteten mich.“43
Die zunächst äußerst detailreiche Beschreibung der Geschehnisse zeigt sehr deutlich, dass das Tagebuch für die Autorin einen Kommunikationsraum eröffnete, in dem sie die eigenen Erfahrungen des Kriegsendes zum Teil verarbeiten konnte. Zugleich jedoch sind an diesem
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Nachkriegszeit fast vollständig tabuisiert blieben. Vgl. Robert G. Moeller, Heimkehr ins Vaterland: Die Remaskulinisierung Westdeutschlands in den 50er Jahren, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), 403–436. Der Begriff geht zurück auf: Susan Jeffords, The Remasculinization of America. Gender and the Vietnam War, Bloomington 1989. Kempowski-Biographienarchiv, A5915, 27.4.1945.
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Eintrag auch die Grenzen subjektiv aufrechterhaltener Sagbarkeitsregeln erkennbar, die in diesem Fall in der direkten Beschreibung der erlittenen sexuellen Gewalterfahrung lagen. Solche Sagbarkeitsregeln für die eigenen Erfahrungen des Krieges waren jedoch keineswegs allein auf den Bereich sexueller Übergriffe beschränkt. Wie Atina Grossmann richtig angemerkt hat, sei es noch nicht einmal klar, „that rape claimed a particularly priviliged status in the long litany of miseries women confronted. The story of rape was told as part of a narrative of survival in ruined Germany.“44 So findet man bei vielen Jugendlichen der Zeit auch eine Reihe anderer Erfahrungen von Verlust und Gewalt, die in ähnlicher Weise so verstörend gewirkt hatten, dass sie von den Betroffenen kaum mehr in Worte gefasst werden konnten. In den meisten Tagebüchern schlug sich diese Sprachlosigkeit nur in indirekter Weise nieder, weil Themen, über die die AutorInnen nicht sprechen wollten oder konnten, in diesem Kontext meist vermieden werden konnten. Andere Kommunikationsräume scheinen für diesen Zusammenhang daher sehr viel aussagekräftiger sein. So lassen sich für Kinder und Jugendlicher zum Beispiel zeitgenössische Schulaufsätze als eine Quelle interpretieren, in denen die Erinnerung an eigene Kriegserlebnisse große Bedeutung erlangen konnte. Anders als das Schreiben eines Tagebuchs ist das Verfassen eines Schulaufsatzes in großem Maße von der Autorität der Lehrperson geprägt und kann aus diesem Grund nicht als authentische Artikulation eigener Erfahrungen und Erinnerungen gelesen werden. Es ist aber gerade dieser sozial eingeschränkte Kommunikationsmodus, der für das Themenfeld von ‚Kommunikation‘ und ‚Sprachlosigkeit‘ von besonderem Interesse sein kann, weil sich in diesen Quellen sehr viel deutlicher die individuelle Suche nach einer sozial akzeptierten Sprache für die eigenen Erfahrungen nachzeichnen lässt. Ein Beispiel hierfür ist Wilma D., ein etwa elfjähriges Mädchen aus Berlin, das nach Ende des Krieges in die sechste Klasse einer Volksschule in Berlin-Prenzlauer Berg ging. In ihrer Schule wurden 1946 Aufsätze geschrieben, in denen die Schüler und Schülerinnen über ihre eigenen Erlebnisse während des Krieges und der darauf folgenden Nachkriegszeit berichten sollten.45 Diese Aufsätze sind daher gerade deshalb von Interesse, weil hier das Reden über zutiefst persönliche Erlebnisse in einem sozialen Kommunikationskontext gefordert wurde, der eine solche offene Artikulation zum Teil von vornherein verunmöglichte. Wilma D. berichtete in ihrem Aufsatz dabei unter anderem vom dem Tod der eigenen Mutter durch einen Granateneinschlag an einem der letzten Kriegstage. Dazu schrieb sie:
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Atina Grossmann, A Question of Silence. The Rape of German Women by Occupation Soldiers, in: Robert G. Moeller, West Germany Under Construction: Politics, Society, and Culture in the Adenauer Era, Ann Arbor 1997, 33–52, 42. Der Quellenbestand befindet sich heute im Landesarchiv Berlin, Bestand Rat des Stadtbezirks Prenzlauer Berg, Abteilung Volksbildung (C Rep. 134-13). Die Aufsätze sind zum Teil veröffentlicht, vgl. Annett Gröschner Hg., „Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab“. Berliner Schulaufsätze aus dem Jahr 1946, Reinbek 2001.
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„Ich bin nie aus dem Keller rausgekommen, nur meine Mutti und mein Opa sorgten für das Essen. Am 28. April 1945 fiel auf unseren Hof eine Granate. Meine Mutti stand mit sieben Frauen auf dem Hof, als die Granate einschlug. Meiner Mutti wurden die Beine abgerissen. Meine liebe Mutti wurde am 30. April 1945 beerdigt. Das war mein Erlebnis während des Beschusses.“46
Sehr deutlich lässt sich in diesen Zeilen erkennen, wie es für das Mädchen beinahe unmöglich war, das Erlebnis des Todes der Mutter sprachlich detaillierter zu artikulieren. Gerade solche Erlebnisse erwiesen sich in der Nachkriegszeit meist als kaum kommunizierbar, blieben aber zweifellos in der subjektiven Erinnerung trotzdem äußerst präsent. Neben diesen unmittelbaren Gewalterfahrungen des Kriegsendes kam für viele Jugendliche als weiterer wichtiger Aspekt die Tatsache hinzu, dass ihre gesamte politische Sozialisation durch den Zusammenbruch des Nationalsozialismus entwertet zu sein schien. Gerade in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten findet man daher bei vielen TagebuchschreiberInnen Äußerungen des Entsetzens über die Tatsache, wie schnell die ‚Ideale‘ des Nationalsozialismus nach dem Kriegsende ‚verraten‘ worden seien. Sich selbst inszenierten diese Jugendlichen dagegen als Persönlichkeiten, die sich durch die Entwicklungen der Politik nicht von den eigenen ‚Idealen‘ abbringen ließen. Die damals etwa 18-jährige Ruth M., die die folgende Nachkriegszeit zunächst in der sowjetisch besetzen Zone erlebte, stellte beispielsweise im April 1945 ein „Album“ mit dem Titel „Schätze der Deutschen Kultur“ zusammen, in dem sie hinter einem großformatigen Bild von Adolf Hitler ein ganzes Heft mit Gedichten aus der Zeit des Nationalsozialismus versammelte. Noch im August 1945 fügte sie diesem Heft eine Erklärung bei, in der es unter anderem hieß: „Die Gedichte in diesem Buche wurden ganz willkürlich und in der Hast zusammengestellt in den Tagen, die den Untergang des Hitlerreiches und dem Tode unseres geliebten göttergleichen Führers Adolf Hitler vorangingen. Ich wollte sie bei mir tragen im letzten Kampf, um noch eine kleine Erinnerung an die große deutsche Kunst und ihre Blütezeit im 3. Reich hinüberzuretten in die neue, führerlose, schreckliche Zeit. Ich wollte sie späterhin mitnehmen auf den Marsch nach Sibirien. Dieses Buch sollte meinen Kindern ein letztes Vermächtnis aus den seligen Tagen des Dritten Reiches sein und ein kleiner Hinweis auf den kulturellen Wert unseres geschändeten Volkes.“47
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Gröschner, Mutter, wie Anm. 45, 118. Kempowski-Biographienarchiv, A3186, 9.8.1945. Mit dem Ausdruck „Marsch nach Sibirien“ beschrieb die Autorin die eigene Erwartung einer Verschleppung durch die Sowjetarmee nach dem Ende des verlorenen Krieges.
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Ein solches explizit formuliertes emotionales Festhalten an der NS-Sozialisation gehörte jedoch schon nach relativ kurzer Zeit eher zu den Ausnahmephänomenen. Bei der Mehrzahl der Jugendlichen, deren Tagebücher hier untersucht wurden, kann man stattdessen einen anderen Topos finden, der die eigene Rückschau auf die Erfahrungen im Nationalsozialismus strukturierte: nämlich die Rede von dem ‚betrogenen Idealismus‘, der zufolge die Begeisterungsfähigkeit der Jugend durch die Nationalsozialisten missbraucht und in eine falsche Richtung geführt worden sei. Dieses Bild der Jugend als einer ‚betrogenen Generation‘ wurde zunächst vor allem in den öffentlichen Jugenddiskursen der Nachkriegszeit geprägt48 und in der Folge dann von vielen Jugendlichen sehr bereitwillig zur Interpretation der eigenen Situation aufgenommen. Exemplarisch lässt sich hierfür der Brief eines jungen Mädchens aus Berlin anführen, das 1946 seine eigene Situation während des Nationalsozialismus folgendermaßen erklärte: „Mir und vielen anderen jungen Menschen wurde es zum Verhängnis, daß unsere Jugendzeit […] mit der vollkommenen Machtentfaltung des Nationalsozialismus zusammenfiel. Ich wuchs hinein in diese neue Ideenwelt mit einer Selbstverständlichkeit, mit der die Jugend wohl immer ihrer eigenen Zeit gegenübersteht, wenn sie nicht von der älteren Generation bedacht geleitet wird.“49
Auch in Tagebüchern lässt sich diese generationelle Selbststilisierung beobachten. So beschrieb der bereits erwähnte Werner K. beispielsweise schon während des Krieges seine eigenen Erfahrungen als Teil einer vermeintlichen Generationserfahrung, wenn er in seinem Tagebuch ausführte: „Wir sind eben in einer Zeit geboren und groß geworden, wo das persönliche Gute und Schöne zurücktreten muß. Uns hat das Schicksal eben keine frohe und wirklich schöne Jugend vorbestimmt, sondern den Dienst und Kampf für unsere Heimat und für unser späteres ziviles Leben. Wir müssen uns, wo andre Generationen das große freie Jugendglück genossen, mit kleinen Freuden begnügen. Und wir dürfen trotzdem nicht weich werden, müssen durchhalten weil wir einfach nicht anders können. […] Wir haben auch eine größere Urteilskraft über manche Sachen, als mancher denkt. Und daher kommt auch so oft der Gegensatz zwischen der alten Generation und uns Jungen zum Ausbruch! Weil sie uns einfach gar nicht verstehen. Sie legen unserem Handeln so oft ganz falsche Beweggründe zu, und verstehen andre Handlungen einfach nicht…“50
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Vgl. z. B. Heino Iversen, Wir bauen unsern Staat, Hannover 1947, 4; oder Jakob Kneip, Botschaft an die Jugend, Düsseldorf 1946, 8. Hilde Körber, Kindheit und Jugend 1942–1947: Briefe und Aufzeichnungen junger Menschen, Berlin 1948, 178. Kempowski-Biographienarchiv, A1997, 22.8.1944.
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Auf den ersten Blick erscheinen solche Aussagen nur als wenig verdeckte Strategie der Selbstviktimisierung, wie sie vor allem in der Nachkriegszeit auch in vielen anderen Bereichen gefunden werden kann. Die Stilisierung der eigenen Person als Opfer eines verbrecherischen Regimes, dessen Ziele man aufgrund der eigenen Jugend nicht durchschaut habe, spielte hier mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle – sie erzählt aber möglicherweise nicht die ganze Geschichte. Darüber hinaus eröffnete die Rede vom Krieg als Generationserfahrung einigen Jugendlichen überhaupt erst die Möglichkeit, über die eigenen Erfahrungen des Krieges zu reden. Die „Generationsrede“51 erscheint in diesen Fällen als ein Kommunikationsmodus, mit dessen Hilfe ein Teil der Jugendlichen versuchte, Erfahrungen des Krieges zu artikulieren, die sie in einer individualisierten Ausdrucksweise gar nicht oder nur sehr schwer hätten kommunizieren können. So ist es beispielsweise auffällig, dass es oft gerade jene zutiefst individuellen Erlebnisse im Bombenkrieg oder in den Kampfhandlungen an der Front waren, die besonders häufig als eine solche kollektive Erfahrung artikuliert wurden. Die Generationsrede stellte in diesem Kontext einen Kommunikationsmodus bereit, mit dessen Hilfe die isolierenden Erlebnisse des Krieges in den sichereren Rahmen einer vermeintlichen Kollektiverfahrung eingeordnet werden konnten. Gerade für jugendliche TagebuchschreiberInnen stellte das Bild der ‚betrogenen Generation‘ auf diese Weise einen Weg dar, den eigenen Biographiebruch als universelle Gemeinschaftserfahrung zu interpretieren und auf diese Weise in der Bedeutung für die eigene Identität zu rationalisieren. Ob auf diese Weise die individuellen Erfahrungen des Krieges wirklich artikuliert werden konnten, bleibt jedoch fraglich. Viel spricht im Gegenteil dafür, dass sie in der Rede von einer vermeintlichen Generationserfahrung zum Teil sogar noch weiter verstellt wurden.52
Resümee
Aus den hier dargestellten Quellenbeispielen sollen zum Abschluss einige zusammenfassende Folgerungen gezogen werden. Dabei soll zunächst noch einmal auf Hanna Schisslers These von der ‚Normalisierung‘ als dem grundlegenden Projekt der (west-)deutschen Nachkriegs-
51 52
Zum Konzept der Generationsrede u. a. Björn Bohnenkamp, Till Manning u. Eva-Maria Silies, Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster, Göttingen 2009. Diese Überlagerung individuell artikulierter Erlebnisschichten durch generationell strukturierte Erinnerungen lässt sich vor allem in größerem zeitlichen Abstand zu den unmittelbaren Kriegserlebnissen erkennen. Während in den Tagebucheintragungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre in den meisten Fällen noch eine individuelle Deutung der Ereignisse dominierte, so lässt sich beispielsweise in retrospektiv verfassten Schulaufsätzen oder in Memoiren und anderen Erinnerungsbüchern sehr viel stärker eine Interpretation der eigenen Kriegserfahrung als Kollektiverfahrung erkennen. Für Schulaufsätze aus den 1950er Jahren, in denen dieses Phänomen sehr deutlich beobachtet werden kann, vgl. Institut für Geschichte und Biographie, Archiv „Deutsches Gedächtnis“, Roeßler-Archiv.
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„Die Bewährung der jungen Generation“
gesellschaft verwiesen werden53 – zeigen doch die hier dargestellten Zeugnisse sehr deutlich, welch große Bedeutung dieser Vorstellung einer Entschärfung und Einordnung der Gewalt erfahrungen des Krieges in den deutschen Nachkriegsgesellschaften zukam. Die Jugendtagebücher, die im Zentrum dieses Aufsatzes standen, lassen es jedoch gleichzeitig naheliegend erscheinen, diesen Prozess der ‚Normalisierung‘ in einem breiteren Kontext zu verorten. So ist dieses Phänomen nicht allein auf die Restauration überkommener Geschlechterverhältnisse zu beschränken, sondern in einem sehr viel umfassenderen Maße als Streben nach einer Rückkehr zu traditionellen Familien- und Sozialbeziehungen zu verstehen, deren emotionale Grundlage in dem Gewaltschock des ‚langen Kriegsendes‘ zu suchen ist. Zwar baute die ‚Remaskulinisierung‘ der Gesellschaft auf einer ganzen Reihe sozialpolitischer Maßnahmen auf,54 diese konnten aber vermutlich nur deshalb so erfolgreich umgesetzt werden, weil sie individuell auf einen großen Resonanzboden trafen und sich für eine Reihe von emotionalen Bedürfnissen als anschlussfähig erwiesen. Jenes Projekt der ‚Normalisierung‘, wie es in der Forschung für die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges diagnostiziert worden ist, stellte insofern nicht allein ein gesellschaftspolitisches Projekt dar, sondern darüber hinaus auch ein jeweils individuelles biographisches Projekt, das darauf gerichtet war, die eigenen Gewalterfahrungen von Nationalsozialismus und Krieg in den Kontext der eigenen Lebenslaufkontinuität einzuordnen. Es erscheint aus diesem Grund von besonderer Bedeutung, verstärkt die subjektiven Sinnzuschreibungen in den Blick zu nehmen, unter denen die Brucherfahrungen des Kriegsendes wahrgenommen und reflektiert worden sind. Als grundlegender Faktor ist hierbei vor allem die radikale Gewalterfahrung der letzten Kriegsphase anzusehen, die die gesamte Gesellschaft in umfassender Weise betraf. Die Verarbeitung und Kommunikation der eigenen Kriegserfahrungen stellte dabei vor allem für weibliche Jugendliche oft ein unüberwindbares Problem dar. Anders als die soldatischen Kriegserfahrungen an der Front waren die meist passiven Gewalterfahrungen von Frauen in der Phase des Kriegsendes in der Öffentlichkeit der Nachkriegsgesellschaft nur schwer artikulierbar. Möglicherweise hängt hiermit auch zusammen, dass man in den Tagebüchern weiblicher Jugendlicher in den Jahren nach 1945 vor allem die Zukunftsperspektive betont findet. Überraschend häufig steht hierbei die Gründung einer Familie im Zentrum der eigenen Reflexionen. Diese vor allem auf den privaten Bereich orientierten Zukunftserwartungen sind dabei jedoch vor allem als Reaktion auf die soziale Situation der Nachkriegszeit zu interpretieren, in der sich in einer quantitativ weiblich dominierten Gesellschaft die Suche nach einem Lebenspartner für viele Frauen als außergewöhnlich schwierig oder unmöglich darstellte.55
53 54 55
Vgl. Schissler, Normalization, wie Anm. 22. Vgl. Moeller, Reconstructing, wie Anm. 24. Vgl. Elizabeth Heineman, What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley 2003, 13–53.
Benjamin Möckel
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Aus dieser subjektiven Bindung an traditionelle Selbstbilder heraus ist möglicherweise auch zu erklären, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges nur sehr eingeschränkt als Bruchstelle etablierter ‚Weiblichkeitsbilder‘ anzusehen ist – selbst wenn dies in den zeitgenössischen Diskussionen der 1940er und -50er Jahre durchaus so wahrgenommen wurde. Während das Ende des Nationalsozialismus demnach für die gesellschaftlich dominanten ‚Männlichkeitsbilder‘ einen sehr deutlichen Bruch darstellte, in dessen Folge das ‚soldatisch-heroische‘ Männlichkeitsideal in das Leitbild einer zivilen ‚Leistungsethik‘ transponiert wurde,56 so ist für die weiblichen Jugendlichen wohl eher die Verschiebung der Subjektkulturen in den ‚langen‘ 1960er Jahren als wirkungsmächtiger anzusehen.57
56 57
Vgl. Fußnote 21. Zur Theorie der Subjektkulturen vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.
Ulrich Schwarz
Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt Von der Verwandlung einer Buchführung im ländlichen Niederösterreich (1945–1950)
„Es ist punkt ½ 9h vorüber, ich sitze mutter= seelenallein wie immer, auf der Kautsch u. beende in diesem Buch meine heutigen Tagesereignisse in diesem Buch für das heurige Jahr 1949.“1
Diese Zeilen versetzen uns direkt in eine Schreibesituation, die geschriebene Zeit und die Zeit des Schreibens fallen zusammen. Es ist der letzte Abend des Jahres 1949. Die Zeitangabe, „es ist punkt ½ 9h vorüber“, hält einen genauen Zeitpunkt fest, der gerade eben verstrichen ist. Eine zweite Zeitebene, die darauf folgt, orientiert sich dagegen nicht an einer Uhrzeit, sondern beschreibt die wiederkehrende Erfahrung, alleine zu sein. Zudem führen uns diese Zeilen an einen Ort, eine Couch, auf der die Müllerin Theresia Vogt, die Verfasserin der obigen Zeilen, ihre „Tagesereignisse“ beendet. Hier erscheint noch eine Zeitangabe, die in den Text eingeflochten ist, der Tag, der die „heutigen Tagesereignisse“ rahmt, die weder vergehen noch wiederkehren, sondern von der Schreiberin „in diesem Buch beende[t]“ werden. Diese Handlung des Abschließens des Tages verbindet sich mit der des Schreibens. Sie wird jedoch nicht an dem zuvor genannten Ort, dem Raum, in dem das Sofa steht, auf dem die Schreiberin sitzt, vollzogen, sondern findet in einem eigenen, distanzierten Raum, in dem Buch, statt. Was war dieses Buch für ein ‚Raum‘, „in“ dem Theresia Vogt ihre „Tagesereignisse“ beendete? Dieser Raum ist zunächst durch die materielle Beschaffenheit des Buchs bedingt, es lässt sich ‚aufschlagen‘ und auch ‚schließen‘. Doch verdeutlichen gerade die Zeilen, die auf derselben Buchseite direkt unter den oben angeführten folgen, dass dieser ‚Raum‘ nicht alleine aus der Begrenztheit des Buchs gegenüber einem Außen besteht, sondern gleichzeitig auch durch den Umgang mit dem Buch entsteht, sich in die Ferne ausdehnt.2
1
2
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 31.12.1949, Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, Nachlass 12. Die von Theresia Vogt in den Tagebucheinträgen verwendete Orthographie wurde in diesem Beitrag wortwörtlich übernommen. Vgl. Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, 218.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
„Tausendmal recht guten Abend, recht gute geruh= same Nacht, nebst angenehme Ruhe, schlaf wohl mein lb. einziger armer gefangener Sohn Willi, u. träume die letzte Nacht für heuer ganz b’sonders süß im fernen fernen Osten, dies wünscht Dir heute u. immer Deine meist einsame, ganz ver= zagte Mutter daheim, in der wunder= schönen Heimat. – Tat in die Petroleumlampe einen neuen Docht.“3
Diese Zeilen sind dem dritten von insgesamt sieben überlieferten, handgeschriebenen Büchern entnommen, die Einträge aus der Zeit von 1941 bis 1979 umfassen und die als Teil des Nachlasses von Theresia Vogt in der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien archiviert sind.4 In diesem Artikel, in dem ich versuche, den ‚Buch-Raum‘, in dem Theresia Vogt „Tagesereignisse“ beendete und in dem sie zu ihrem abwesenden Sohn sprach, näher zu beschreiben, beschränke ich mich jedoch auf eine Betrachtung der ersten drei Bücher aus den Jahren 1941 bis 1950.5 3 4
5
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 31.12.1949. Der Nachlass von Theresia Vogt in der „Sammlung Frauennachlässe“ umfasst sieben (Tage-)Bücher aus dem Zeitraum 1941 bis 1979; zudem einen Feldpostbrief, eine Fotografie und ein Schulheft. Er wurde vom Schriftsteller Alfred Komarek 1997 an die „Sammlung Frauennachlässe“ übergeben, dem Theresia Vogt die Schriftstücke anvertraut hatte. Vgl. Bestandsbeschreibung NL 12. Theresia Vogt, in: Li Gerhalter unter der Mitarbeit von Brigitte Semanek, Bestandsverzeichnis der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage (Stand September 2012), Wien 2012, 43–45. Weitere Publikationen auf Grundlage des Nachlasses: Alfred Komarek, Es war heute stillkalt, gefroren und stürmisch. Beispiele für die Dämonie der Idylle. Die Mühle ist tot. Aber die Müllerin lebt noch ein wenig, in: Dinersclub Magazin, 6/Dezember (1986), 18–25; Christa Hämmerle, „Und etwas von mir wird bleiben …“ Von Frauennachlässen und ihrer historischen (Nicht)Überlieferung, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, 55 (2003), 154–174; Christa Hämmerle, Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive, in: Thomas Winkelbauer Hg., Vom Lebenslauf zur Biographie: Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik, Krems 2000, 135–167; Li Gerhalter, Geschichten und Voraussetzungen. Die Bestände der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich, 81, 1 (2010), 27–41. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 1941–1946; Theresia Vogt, Tagebuch, 1948; Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50. Dieser Artikel stellt einige überarbeitete Ergebnisse meiner Diplomarbeit dar: Ulrich Schwarz, „Über diesen Koffer könnte man einen Roman schreiben …“. Quellenkritische und diskursanalytische Lesarten eines Anschreibebuches aus dem Weinviertel (1945–1950), unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2008. Die Diplomarbeit wurde von Edith Saurer betreut. Zudem möchte ich mich bei Li Gerhalter und Christa Hämmerle für ihre hilfreichen Kommentare zu einer Erstfassung dieses Textes bedanken.
Ulrich Schwarz
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Beschaffenheit und Schriftbild
Bei den hier betrachteten Dokumenten handelt es sich vermutlich um sogenannte ‚Geschäftsbücher‘, wie sie zu dieser Zeit für die Buchhaltung im Mühlengewerbe üblich waren.6 Die Seiten der drei Bücher sind durchgehend mit einer Buchhaltungslineatur versehen. Die Schrift ist mit Bleistift ausgeführt. Nur selten ist der Schriftzug mit Tinte nachgezogen oder es sind Ergänzungen sowie Beifügungen in Tinte sichtbar. Das Schriftbild, das über die drei Bücher hinweg konstant bleibt, orientiert sich konsequent an der vorgegebenen Lineatur. Die einzelnen, durch die Lineatur begrenzten Zeilen scheinen eine spezifische, abgeschlossene Einheit darzustellen, was insbesondere daran ersichtlich wird, dass häufig für neue Sätze neue Zeilen angefangen wurden. Zudem erscheint die Schrift gegen Ende der Zeile oft gedrängter als an deren Anfang; einzelne Wörter eines Satzes, der für eine vorgegebene Zeile bestimmt war, die am Ende der Zeile aber keinen Platz mehr finden, sind oft am Zeilenende der darunter liegenden Zeile eingefügt. Diese Beobachtung verweist auf eine besondere Eigenschaft des Schriftbildes, die darin besteht, dass die Textkohärenz der Einträge oft stärker durch visuelle Bezüge hergestellt ist als durch sprachliche oder thematische Verknüpfungen. Die narrative Ordnung der meist elliptischen Sätze oder der Anordnung und Aufstellung von Ziffern und Wörtern ergibt sich, ähnlich der Logik der Liste, vorrangig aus deren graphischer Anordnung. Selbst dort, wo vollständig ausformulierte Textpassagen in sich abgeschlossen erscheinen, ist ihre Beziehung zu vorangehenden und nachfolgenden Textstücken mehr durch deren Platzierung auf der Seite, durch deren sichtbare Konstellation, als durch inhaltliche Konsequenz organisiert. Die Einträge wurden zum überwiegenden Teil in lateinischer Schrift verfasst, nur bei ausgewählten Abkürzungen finden regelmäßig Kurrentformen Verwendung. Zudem zeigen einzelne Absätze, die in Kurrentschrift verfasst sind, dass diese Wahl der Schrift eines von vielen Hervorhebungsmitteln darstellt, die das hier vorliegende Schriftbild prägen. Hierzu sind vor allem die vielen Unterstreichungen zu zählen, die einzelne Textstücke akzentuieren. Zwei Bücher in einem?
Auf dem Vorsatzblatt des chronologisch ersten der überlieferten Bücher finden sich die Zeilen: „Mahl. u. Schrotbuch für d. Jahr 1941“7
Über die folgenden zweieinhalb Seiten erstrecken sich tabellarische Auflistungen, die als „Vermahlung im Jahre 1941“ betitelt sind: 6
7
So finden sich Werbeanzeigen für den Versand solcher Bücher in Fachzeitschriften des Mühlengewerbes dieser Zeit. Vgl. etwa Allgemeiner Mühlen-Markt 4 (15.2.1946), 10; Allgemeiner Mühlen-Markt 18 (15.9.1946), 10. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
„2./I. 6./I. 2./I. 14./I. 21./XII. 27./XI. 29./XI. 4./XII. 4./XI. 14./XI. 7./XII. 15./I. 28./XII.
Hösch Franz 119 16 8 Havelka Jakob 60 ½ Unger Josef 200 28 Gaismeier Franz 153 Schilling Karl 63 7 Friedschall Joh. 484 Lobner J. Witwe 120 120 16 Harrer 91 13 40 Hösch Franz 287 40 125 Burghart Anna 236 Fr. Eigner 305 Havelka Jakob 7½ Vielnascher Peter bekommt 24“8
53 37 25 21 112 52 30 21 12 53 38 28 93
Ab der dritten Seite des Buchs werden diese Listen durch kurze Einträge abgelöst, denen jeweils ein Datum vorangestellt ist und die knapp, voller Abkürzungen und Ziffern, Berichte über Verrichtetes notieren und Ausgaben registrieren. „11.9.46 Nach d. hl. Messe Kukuruz ausgelöst in uns. Mühle 1 Schiebk. Kukuruzf. geholt Frank L. brachte v. Votsch zk. 12 kg Koch=Mehl. 12.9.46 Nach d. hl. Messe b. Schießer eingek. S 1.70 – 1 Brief aufgegeben Anwalt.wegen Steuer (Finanzamt Gänsernd.) u. 1 Brief Landes= verein v. Roten Kreuz (Suchdienst) Wien I., Minoritenpl. 3 – 13.9.46 Nach d. hl. Messe b. Berthold Wirt zk. 15 kg Weizenmehl (doppelgriffig) geholt. Ich gab ihm 5 St. Zigaretten. b. Schießer eingek. S 3.60 “ Weber “ S 3.20“9
8
9
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 1. (Die hier angeführten Seitenzahlen folgen der von Theresia Vogt in dieser Quelle durchgeführten handschriftlichen Paginierung. Die zwei von Jänner 1948 bis März 1950 geführten Tagebuchbände haben keine Paginierung, Zitate daraus werden im Folgenden mit dem Datum des jeweils angeführten Eintrags angegeben.) Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 3. Mit dem Namen „Votsch“ bezeichnete Theresia Vogt ihren Ehemann Wilhelm Vogt.
Ulrich Schwarz
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Ohne noch auf die Inhalte dieser Notate einzugehen, fällt bei einer ersten Betrachtung der jeweils vorangestellten Datierung ein eigenartiges Ordnungsprinzip auf. Die Einträge auf den einzelnen Seiten sind zwar chronologisch in der Lesrichtung angeordnet, blättert man jedoch der konventionellen Leserichtung des Buchs und der handschriftlichen Paginierung folgend weiter, trifft man auf zeitlich davor datierte Einträge. 7.9.46 b. Weber bez. S 4.20 “ b. Schießer “ “ -.60 “ b. Denk “ S 3.20 f. 40 St. Zigaretten 1 Mehlsackl geflickt. (v. d. alten Vogt Großm) Nachm. am Pfarreracker Futter geholt. Danach holte ich d. Eimerfaßl (Fabian) Nach d. Hl. Segen holte ich b. Marko Grindl zk. 15 kg Brot= mehl für 6 St. Zigaretten. – 8.9.46 Fest Maria Geburt! Um 10h Ankunft in Mr. Bründl Abfahrt ¼ 4h nachm. Spende S 2.- für 18 Metallknöpfe S 3.60 f. 2 hl. Segenmesse (um gt. Heimkehr) bez. S 12.-“10
Diese Beobachtung erlaubt erste Schlüsse. Sie zeigt, dass Theresia Vogt ein Buch, welches 1941 als „Mahl. u. Schrotbuch“ zur tabellarischen Buchführung verwendet worden war, im hinteren Teil des Buchs, beginnend 1945, für eine veränderte Art der (von hinten nach vorne geschriebenen) Buchführung, die es hier noch genauer zu beschreiben gilt, weiterverwendete. Einige Aufschlüsse über den eigenartigen Verwendungswechsel dieses Buchs verschafft eine Betrachtung der äußeren Kontexte, in denen sich dieser Wandel vollzog. Aus der Quelle selbst lassen sich die äußeren Umstände dieser Schreibpraxis allerdings nur fragmentarisch rekonstruieren, da die Texte kaum biographische Daten der Schreiberin preisgeben und nur spärlich über allgemeinere Umstände der beschriebenen Inhalte berichten. Unter Zuhilfenahme von Pfarrmatriken können jedoch basale Informationen zur Person der Schreiberin rekonstruiert werden. Theresia Eigner, wie die Verfasserin der Bücher vor ihrer Heirat hieß, wurde 1901 als Tochter eines Weinhauer-Ehepaares in Groß-Schweinbarth, einer kleinen Gemeinde im nordöstlich von Wien gelegenen Weinviertler Hügelland, geboren. 11 1921 wurde sie Mutter ihres einzigen Kindes Wilhelm, dessen Vater, Wilhelm Vogt sen., sie 1926
10 11
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 4. Pfarrarchiv Floridsdorf, Trauungsbuch 1926–1929 Tom XXIV; Pfarrarchiv Gr. Schweinbarth, Taufbuch, Tom F (1879–1902). Die Todesdaten von Theresia Vogt sind bisher nicht bekannt.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
heiratete.12 Dieser war gelernter Müller und hatte kurz vor der Hochzeit ein Mühlenanwesen etwas abseits von Bad Pirawarth, dem Nachbarort von Groß-Schweinbarth, gekauft.13 Die Mühle wurde von den jungen Eheleuten betrieben, bis der Mann 1941 zur Wehrmacht einrückte. Im Sommer des Jahres 1945, dem Zeitpunkt, an dem die hier untersuchten Einträge einsetzen, wohnte die Schreiberin mit ihrem aus dem Krieg heimgekehrten Mann nicht in ihrer Mühle, sondern in der Ausgedingestube des Hofes ihrer Mutter in Groß-Schweinbarth. Ihr Sohn Wilhelm, der 1941 in den Frontdienst eingerückt war, war noch nicht zurückgekehrt. Dies und andere Hinweise, wie in dem Buch vermerkte Berichte über Reparaturarbeiten oder über den ausgebrannten Keller, lassen darauf schließen, dass die Mühle im Zuge der Kampfhandlungen und Wirren der letzten Kriegswochen beschädigt worden war.14 Nicht zuletzt gibt ein im hinteren Drittel des Buchs eingetragener Vermerk über die Beschäftigung ihres Mannes in einer benachbarten Mühle15, wenn auch nur implizit, Auskunft über die Stilllegung des eigenen Betriebs. Als eine erste Erklärung für den Neubeginn des Schreibens im hinteren Drittel des Buchs können also die veränderten ökonomischen Umstände und ein damit einhergehender Wandel des Arbeitsalltags der 44-jährigen Verfasserin im Sommer 1945 angesehen werden. Ein weiterer Umstand ergibt sich aus dem Inhalt der Einträge. Diese zeigen, dass Theresia Vogt die aus der Buchhaltung des Mühlenbetriebs bekannte Buchführungspraxis für das Wirtschaften in der Not- und Mangelsituation der unmittelbaren Nachkriegszeit einsetzte. Als ein Grund für die Weiterverwendung ein und desselben Buchs ist sicherlich die mangelnde Verfügbarkeit von Papierwaren in dieser Zeit zu anzunehmen.16 Die Umkehr der Beschreibrichtung des Buchs kann als Anzeichen für die auch wiederholt thematisierte Erwartung der Wiederaufnahme des eigenen Mühlenbetriebs gelesen werden, welche eine Fortführung der Vermahlungslisten auf den vorderen Seiten des Buchs notwendig gemacht hätte. Diese Lesart zeigt, wie anhand einer Leerstelle, in dem vorläufigen Freilassen des Raums nach den Listen der Mühlenbuchhaltung aus dem Jahr 1941, welches ein direktes Fortführen der ‚Vermahlungslisten‘ erlaubt hätte, gleichsam auf eine Erwartungshaltung, eine Prognose der Akteurin geschlossen werden kann. Wie entwickelte sich aber nun die Buchführung, die Theresia Vogt ab dem Sommer 1945, im hinteren Teil des Buchs beginnend, praktizierte? Der erste Eintrag aus dem Jahr 1945 vom 28. Juni, in dem die Schreiberin einen Vermerk über das Arbeitsverhältnis ihres Mannes in einem benachbarten Mühlenbetrieb notiert, kann als Prolog für diese ,neue‘ Buchführung gedeutet werden: 12 13 14 15 16
Pfarrarchiv Floridsdorf, Trauungsbuch 1926–1929 Tom XXIV. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 19.10.1949; vgl. Anton Frank, Bad Pirawarth. Gemeinde, Pfarre und Heilbad im Wandel der Zeiten, Bad Pirawarth 1996, 272. Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), FBA, Gr. Schweinbarth; Pfarrarchiv Gr. Schweinbarth, Pfarrchronik. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 162. Vgl. Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 448f.
Ulrich Schwarz
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„Mein Mann arbeitet seit 28.6.1945 in der Haferlmühle. (v. 28.6.1945 bis Ende April 1947)“17
Der Eintrag hebt sich aufgrund seiner spezifischen Informativität deutlich von den ihm folgenden Einträgen ab und kann nicht in Bezug auf ein bestimmtes (Tages-)Geschehen gelesen werden, sondern stellt vielmehr eine Dokumentation der familiären Wirtschaftverhältnisse dar. Auch im Folgenden bilden nicht Tage das Kohärenzprinzip der Einträge, sondern erfolgte (Tausch-)Geschäfte und erbrachte Arbeitsleistungen. Die Einträge folgen keiner strengen Chronologie, oft sind zwei voneinander separierte Einträge zum gleichen Datum verfasst. Die Chronologie dieser Einträge bleibt gegenüber den notierten Posten sekundär. „Den 30.7.45 tauschte ich mir bei Meyer Resi, für 5 m schwarze Seide 4 kg Weizenmehl u. 1 ½ kg VorschußWeizenmehl den 6.8.45 um. (v. ausgebr. Keller.) Den 30.7.45 holte ich mir abends bei Fr. Bernauer 1 blau-weiß getupf= tes Kleidl u. 1 neues Trikothemd. Den 24.7.45 tauschte ich mir die v. d. Kathitant’ erhaltenen 5 M. Dirndl= stoff b. Fr. Schnitzer um (Abends.)“18
Besonders deutlich wird die Art der Buchführung, die hier praktiziert wurde, an zusammenfassenden Bilanzen, die ihrer Form nach gleichsam die ‚Vermahlungslisten‘ des „Mahl- u. Schrotbuchs“ zitieren. Trotz der formalen Ähnlichkeit sind diese Listen jedoch, wie das folgende Beispiel zeigt, keine gewerbliche Buchhaltung mehr, sondern eine inoffizielle Buchführung über Besitzstände innerhalb der Natural- und Tauschwirtschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit.
17 18
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 162. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 161.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
„Ich verausgabte folgendes: Fr. “ Fr. “ “ “ “ “ “ Fr. Fr. “ – “ Fr. “ “ “ “ “ “ “
Brem Iser Meyer Keppler Frank Hamsterin Wannenmacher Hamsterin Brandl Iser “ Lobner Helmerin Suda “ “ “ “ Wienerin
2 2 4 5½ 6½ 1½ 2 1 1½ 2 1 1 1½ 1½ 2 1 1½ 2 1 40 2½ 2
kg “ “ “ “ “ “ “
Weizenm. Brotm. Weizenm. “ “ “ Vorschuß Brotmehl Weizenmehl “ “ “ Vorschuß “ Gries “ Vorschuß “ Weizenmehl “ “ “ Bohnen “ Brotmehl “ Vorschuß “ Gries dkg Zucker kg Weizenmehl kg Vorschuß“19
19
Diese Auflistungen zeigen, wie sich die Logik der gewerblich motivierten Buchhaltung auf den Bereich der Tauschgeschäfte, der gegenseitigen Hilfeleistungen und der Verwaltung der knappen und gefährdeten materiellen Ressourcen des Nachkriegsalltags übertrug. Die Einträge gestalten sich als Buchführung der „Überlebensarbeit“,20 die sich einerseits auf die notdürftige Landbewirtschaftung, vor allem aber auf die nachbarschaftlichen Tauschgeschäfte und die Teilnahme am florierenden Schwarzmarkt bezog. Besondere Erwähnung in den Einträgen finden immer wieder die „Hamsterinnen“ und „Wienerinnen“, Frauen aus dem nahe gelegenen Wien, die bei ihren sogenannten Hamsterfahrten aufs umliegende Land 19 20
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch (August 1945), 152. Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann u. Ela Hornung, Von der Trümmerfrau auf der Erbse. Ernährungssicherung und Überlebensarbeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 2, 1 (1991), 77–105; Stefan Eminger, Lebenswelten Grossgemeinde Wolkersdorf 1870–2000, Wolkersdorf 2004, 82; Gertrude Langer-Ostrawsky, Frauen in Jedenspeigen 1945. Zum Kriegsalltag der Frauen, in: Ernst Bezemek u. Josef Prinz Hg., Der Bezirk Gänserndorf 1945. Begleitband zur Ausstellung im Schloss Jedenspeigen, 13. Mai bis 26. Oktober 1995, Horn 1995, 119–126, 124.
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Textilien und Geschirr, aber auch Schmuck gegen lebensnotwendige Grundnahrungsmittel einzutauschen suchten.21 „Den 31.7.45 brachte mir eine Wienerin folgende Wäsche: 1 Kompinesch 2 Hemd 1 Hose weiß 1ne Blouse Braun 3 Kleider“22
Diese Buchführung bildet eine gedächtnisentlastende Anschreibepraxis ab, die einerseits die Waren und das Tauschverhältnis der ‚Geschäfte‘, andererseits die Modalitäten der gegenseitigen Schulden, die bei diesen entstanden, festhielt. „Den 31.8.45 brachte mir Fr. Keppler 4 m schwarze Seide u. d. 2.8.1945 brachte ich dafür 5 kg Weizenmehl (übelriechend v. ausgebrannten Keller.) u. den 6.8.45 die restlichen 1 ½ kg Weizenmehl, verstehst? auch v. ausgebrannten Keller.“23 „Den 30.10.45 erhielt Fr. Bogad 1 l Milch, 10 kg Erdäpfel u. 1 Laib Brot u. 3 Paarl Weinbeer. Hat nichts dafür gebracht Sie sagte Sie bringt das nächstemal Handtücher.“24
Die formalen Merkmale dieser Anschreibepraxis erinnern an die – vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert – im kleingewerblichen, kaufmännischen und (klein-)bäuerlichen Kontext gebräuchlichen Anschreibebücher.25 Zentrale Gattungsmerkmale solcher Anschreibebücher 21
22 23 24 25
Vgl. Ela Hornung u. Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945 bis 1955, in: Reinhard Sieder, Heinz Steinert u. Emmerich Tálos Hg., Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, 54–67, 61; Bandhauer-Schöffmann/Hornung, Trümmerfrau, wie Anm. 20, 98ff. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 159. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 157. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 119. Vgl. Ruth. E. Mohrmann, Zwischen den Zeilen und gegen den Strich – Alltagskultur im Spiegel archi-
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
sind die Aktualität der Aufzeichnungen, das Prinzip des Sammelns sowie der Bezug zur Rechnungsführung von landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieben. Der bilanzierende Gestus dieser Gattung verleiht den Einträgen, ob es sich nun um Aufstellungen von Einnahmen und Ausgaben, um Notizen zu Arbeitsvorgängen oder um Aufzeichnungen zu Begebenheiten in der Nachbarschaft oder der Familie handelte, einen ökonomischen Rahmen. So fügt sich stilistisch nahezu unverändert eine Notiz zur Recherche über den Verbleib ihres noch nicht aus dem Krieg heimgekehrten Sohnes, den die Schreiberin in sowjetischer Kriegsgefangenschaft vermutete, in diese geschäftigen Anschreibungen, diese penible Abrechnung der Arbeiten und Ereignisse ihres Alltags ein. „Den 1.8.45 war ich b. Staudtvetter u. beantragte Nachforschungen ans Rote Kreuz Wien I., Milchgasse 1 betreffs meines lb. Sohnes Willi. (Gefangenschaft in Rußland.) Den 1.8.45 war ich vormittag b. Frau= ner Michl u. erbittete ich mir 1 kl. u. 1 gr. Bild.“26
Ausweitung der Buchführung
Im Zusammenhang mit den Einträgen zu den Nachforschungen über den Verbleib ihres Sohnes Willi tritt ein weiteres Element hinzu, das sich von der Geschäftsbuchführung deutlich abhebt und das – lediglich das Merkmal der Aktualität beibehaltend – die Verwendung weiterer Textsorten, wie die der (Familien-)Chronik, in dem Schreiben sichtbar werden lässt. „Den 26.7.45 war es 2 Jahre daß mein lb. Sohn Willi nach Beendigung sei= nes Erholungsurlaubes v. 5.7. bis
26
valischer Quellen, in: Der Archivar, 44 (1991), 234–246; Marie-Luise Hopf-Droste, Vorbilder, Formen und Funktionen ländlicher Anschreibebücher, in: Helmut Ottenjann u. Günther Wiegelmann Hg., Alte Tagebücher und Anschreibbücher. Quellen zum Alltag der ländlichen Bevölkerung in Nordwesteuropa, Münster 1982, 61–84, 72; Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt u. Björn Poulsen, Bäuerliche (An-)Schreibebücher als Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: dies. Hg., Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, Neumünster 1992, 9–28, 11ff.; Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt, Quellenkundliche Überlegungen bei der Auswertung bäuerlicher Schreibebücher, in: Forschungen zu Bäuerlichen Schreibebüchern. Newsletter, 8 (1993), 7–14, 12f. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 160.
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26.7.1943 wieder zum letztenmal an die russ. Front fuhr.“27
Eine weitere Veränderung der Schreibpraxis wird durch das Auftreten von kalendarischen Vermerken, wie der Aufzeichnung des Beginns ihrer Menstruation durch ein Kreuz, erkennbar. „Lobner Frzl. half uns den 14. u. 15.8.45 u. d. 16.8. auch. = 2 ½ Tage. Den 26.8.45 erhielt er v. m. Mann 1 ½ kg Vorschuß u. 1 ½ kg Weizenmehl. – Den 1.8.45 altbekannte X – Den 12.8.45 erhielt Tonlonkl keine Rauchwaren v. Vat’. Den 24.8.45 v. mir 7 St. Zigaretten (einge= graben)“28
Hier zeigt sich eine Verselbstständigung der Praxis, über bestimmte Ereignisse Buch zu führen gegenüber einer anfänglich rein ökonomischen Buchführung. So findet sich zum Beispiel inmitten der notierten Wirtschaftsposten die Niederschrift eines Trauminhalts. „Den 6.9.45 bei Nachte träumte mir folgendes: Ich saß auf einem Wirtshaustisch, vis a vis von mir sitzten, ebenfalls, auf einer Bank, 4 blutjunge Soldaten. Pertl Micherl, 2 reichsdeutsche u. mein Sohn Willi. Ihr Aussehen war blaß u. mager, daß Gott erbarm’. Perth Micherl strich ich seine hohlen Wangen u. sagte freudig, Micherl! Die zwei reichsdeutschen schliefen u. Willi klagte mir, mit den Worten mir ist schlecht! Ich sprach indem ich die daneben 27 28
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 158. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 154.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
stehende Nähmaschine abräumte leg Dich nieder u. ruh dich aus Willi Ich redete noch so verschiedenes zu die 4 wortkargen Heimkehrern aus russ. Kriegsgefangenschaft. Als ich erwachte, war ich so gebrochen u. gemagerten Soldaten, daß ich mit Mir war als stand ich vom Grab auf,
todtraurig, über das Aussehen der ab= besten Willen nicht mehr einschlafen konnte meiner Treu!!“29
Bei dieser Ausweitung der in den Aufzeichnungen beschriebenen Lebensbereiche ist zu beobachten, dass sie innerhalb bestimmter, bereits von der Schreiberin praktizierter Anschreibeformen notiert werden. Sobald aber neue Elemente in das Buch Aufnahme gefunden haben, gehören sie gewissermaßen auch zum ‚Programm‘ der Aufschreibungen. Dieses sich entwickelnde ‚Programm‘ der Aufschreibungen – im Sinne einer ‚Vor-Schrift‘, die einer Logik des Fortführens folgt – zeigt, wie einzelnen Themen, die aus einem aktuellen Anlass Eingang in einen Eintrag finden, wiederkehren und sukzessive ein System des zu Beschreibenden bilden.30 Sie kehren als fixe Elemente der Einträge wieder und entwickeln nach und nach je eigene, beständige Formen der Formatierung und Formulierung. So zeigt sich, dass der Wandel der Form der Einträge und der sprachlichen Handlungstypen im Vergleich zu inhaltlichen Veränderungen eine spezifische Trägheit aufweist, gleichzeitig aber die etablierte Form der Einträge die Beschreibung bestimmter Inhalte verlangt. Generell verwandelt sich die Form dieses Schreibens immer mehr zu einer geregelten Form der Vertextung ausgewählter, aber immer diverserer Elemente ihres Alltags. Ein charakteristischer Aspekt der Ausweitung dieses ,Programms‘ der Aufschreibungen und dem damit einhergehenden Wandel der Buchführung, der die spezifische Eigenart der Wiederkehr einmal thematisierter Bereiche in dieser Schreibpraxis verdeutlicht, ist der Beginn von Aufzeichnungen über die beobachtete Witterung. Diese treten das erste Mal im Zusammenhang mit der Teilnahme der Schreiberin an der Weinlese in Weingärten von Verwandten im September 1945 auf. „Den 24.9.45 hängte ich, weil Regenwetter war, meine Weintrauben vormittag auf.“31
Der argumentative Zusammenhang dieser Erwähnung der Witterung zeigt hier noch den direkten Bezug der Notiz zu einer bestimmten zu verrichtenden Arbeit. Aber schon in den nachfolgenden Einträgen taucht eine Notiz zur Witterung als eigenständiges Element des 29 30 31
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 144 (die letzten drei Zeilen erstrecken sich über zwei Seiten). Vgl. Steven Rendall, On Diaries, in: Diacritics, 16 (1986), 56–65, 58f. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 137.
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Eintrags wieder auf. „Den 1.X.45 holte ich mir nachmittag bis 5h abends (v. ½ 2h an) für Oktober die Lebensmittelk. Den ganzen Nachmittag war Regenwetter. Die Burghart A. hatte Weintrauben im Kuhstall gepreßt.“32
Die Verbindung dieser Witterungsnotizen zur Arbeit bleibt im Folgenden nur noch implizit bestehen, sodass die Beobachtungen der Witterung binnen kurzem in Form einer gänzlich eigenständigen Anschreibungsnotiz auftreten. Mit der Eingliederung der Aufzeichnungen über das Wetter in das ‚Programm‘ der Buchführung geht eine Etablierung eines täglichen Schreibens einher. Dies zeigt einen zentralen Aspekt der ‚Logik‘, die in dieser Anschreibepraxis Anwendung fand. Witterungsbedingungen repräsentieren tägliche Bedingungen und stellten nicht – wie bestimmte Tauschgeschäfte, verrichtete Arbeitsleistungen oder Ereignisse im familiären oder nachbarschaftlichen Kontext – gelegentliche und unregelmäßige Ereignisse dar. Somit liefern sie, einmal in das ‚Programm‘ des zu Notierenden aufgenommen, täglich ‚Merk-Würdiges‘ und damit ‚Stoff‘ – Gegenstand für einen täglichen Eintrag. „Den 2.X.45 (Dienstag) waren ich u. Vater in unserer Mühle v. d. 2. Stallung die Kohle im Kasten mit 2 Schiebkarren verstauen, v. Mittag zk 2h bis abends. Es war kalt, bewölkt u. windig. Den 3. Okt. 45 Mittwoch (Fest der kl. hl. Theresia v. Kinde Jesu, erhöre uns!) Nach d. hl. Messe war ich d. Grammanitsch Res d. Tintebleistift retournieren. Burgh. A. war nicht zuhause u. d. Wienerin b. Schil= hahn L. auch nicht. Beim Schramm u. b. Meyer Schmied gibt’s keinen Honig. Der Reinwald verteilt seine Nüsse seinen Kindern. Windig kalt, brrr! etwas Sonne.“33
32 33
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 133. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 132.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
Obwohl die Praxis des täglichen Notierens der beobachteten Witterung in den folgenden Monaten noch nicht konsequent durchgeführt wird, stellt dieser Aspekt wohl eine Markierung dar, die den Wandel der Buchführung hin zu täglichen Aufzeichnungen der Tagesereignisse anzeigt. „Den 4.XII.45 d. ganzen Tag Flicktag. “ 5. “ “ Regenwetter “ 5.XII.45 b. Weber (auf ) v. Lebensmittelk. 82 den Einser abschneiden lassen. Den 6.XII.45 d. g. Tag Flicktag (Regenwetter) Den “ Den “
7.XII.45 8.XII.45 7.XII.45 8.XII.45
Gefroren u. kalt u. windig. Schnee u. “ nachmittag Waschtag. Waschtag beendet zk 2 Std.“34
„Auch heute d. 17. d. M. d. g. Tag Flick= tag. Windig u. saukalt.34 – Den 18.1.46 Vormittag kehrte ich meinen Ofen aus u. nachmittag Großmutter ihrigen. Stürmisch u. saukalt. Zu Mittag war ich b. d. Isermutter be= treffs der meinen 2 Geiß u. abends tat ich d. 2 Geiß in Isermutters Roßstall im Haus in der Bodenzeile, im Schnee wa= tend hinunter.“35
Die Rolle der Beschreibung der Witterung bei der Veränderung dieser Buchführung ist in diesem Zusammenhang auch deshalb bemerkenswert, da Aufzeichnungen über klimatische Bedingungen und Witterungsverhältnisse, insbesondere in der Region, in der diese Bücher verfasst wurden, kein Novum darstellten, sondern eine bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgbare Tradition repräsentieren.36 Ohne hier genauer auf die Bedeutungen, die diese Beob34 35 36
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 106. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 86. Vgl. Erich Landsteiner, Bäuerliche Meteorologie. Zur Naturwahrnehmung bäuerlicher Weinproduzenten im niederösterreichisch-mährischen Grenzraum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie, 1, 1 (1993), 43–62; Bjarne Stoklunnd, Bäuerliche Tagebücher aus Dänemark als ethnologische Quelle, in: Ottenjann/Wiegelmann, Tagebücher, wie Anm. 25, 3–24, 5;
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achtungen hatten, und die Kontexte, in denen sie sich entwickelten, einzugehen, ist für die hier durchgeführte Untersuchung der Transformation der Buchführungspraxis das Auftreten solcher Aufzeichnungspraktiken von Interesse. Eine aus der kleingewerblichen Bilanzierung und Betriebsführung stammende Buchhaltung, die trotz der Stilllegung des Mühlenbetriebs auf andere Bereiche übertragen und weitergeführt wurde, bezog sich zunehmend auf den individuellen (Arbeits-)Alltag der Schreiberin in der Landwirtschaft. Dass die Verlagerung des praktischen Kontextes neue Formen des Aufschreibens erforderte, die jedoch im sozialen Kontext der Schreiberin etablierte und mit einer langen Tradition ausgestattete Muster darstellen, verweist darauf, dass sowohl die formale als auch die inhaltliche Entwicklung der Buchführung der Theresia Vogt auf einer Aneignung und Aktualisierung bestehender Schreibtraditionen basierte. In diesem Sinn stellen die Einträge des ersten Buchs eine Entwicklung dar, die ein praktiziertes System nach dem Wegfall seines primären Anwendungsgebiets weiterführt, indem sich dieses auch im Bereich des florierenden Schleichhandels und der Tauschwirtschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit als praktisch erwies. Zunehmend erweiterte Theresia Vogt ihr System des Notierens im Hinblick auf aktuelle Ereignisse und erschuf so neue Räume im Tagebuch, die zunehmend weitere Lebensbereiche beschreibbar machten. So mischen sich mehr und mehr stärker ausformulierte Erzählungen in die Einträge, in denen Theresia Vogt sich selbst und ihre Situation explizit thematisiert. Trotz der Beibehaltung des bilanzierenden Gestus dieser Notizen begann sich der Raum der Einträge hie und da über die engen Grenzen des verknappenden Anschreibens einzelner Posten auszudehnen. „Den 21.3.46 b. Jansky f. 24.90 kg Brotmehl bez. S 7.97 à 32 g Abends gleich nach d. ,Ave Maria‘ läuten als ich mich Waschen zum Labor ging hatte ich heftiges Schlucken ich sagte zu mir im stillen ,Willi‘ u. – sag sofort war Schluß! Ich nehme an, mein Sohn lebt doch, der arme. Gott weiß es, warum er gerade heute von mir spricht u. zu wem?“37 „Den 29.6.46 taten wir früh das Dörrgras am Stallungdachboden. Gegen Mittag führten
37
Utz Maas, Schriftlichkeit und das ganz Andere: Mündlichkeit als verkehrte Welt der Intellektuellen – Schriftlichkeit als Zuflucht der Nichtintellektuellen, in: Aleida Assmann u. Dietrich Harth Hg., Kultur als Lebenswelt und Dokument, Frankfurt a. M. 1991, 211–232, 227f. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 64.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
wir 1 Schiebkarren Grasfutter nach Schweinb. Ich kränkte mich furchtbar weil der Votsch schon wieder fortfuhr herumzigeunern, wohin? Gestern u. heute sehr heiß. Auch der Mühleküchofen rauchte stark, deshalb war ich sehr erbost. Nachmittag flickte ich mutterseelenallein Votsch sein Mehl= sackl. (30.6.46.) Nach d. hl. Segen trug ich den Schlosserleuten b. d. Isermutter wohnhaft in d. Bodenzeile fürs Geisfüttern (Geißl 51 Tage, Geis 20 Tage) 3 kg Brotmehl herunter. Während der hl. Messe holte ich mir b. H. Holzinger zk. 10 kg Gries, den mir Votsch v. Haferl schickte. Als ich während d. hl. Messe außer der Kirche auf einer Leiter saß, kam Isermutter Ich sagte, ich bin Nierenkrank, ha, ha! Gestern u. heute heißes schönes Sommerwetter. In dieser verg. Woche war ich bestimmt fleißig.“38
Ab dem Frühjahr 1946 verändert sich auch die Art des Textbildes. Der Raum für einzelne Einträge zeigt sich zunehmend als ein stark regulierter. Regelmäßige Abstände zwischen den einzelnen Tageseinträgen lassen vermuten, dass die Seiten schon vor der Verfertigung der Einträge in (Tages-)Abschnitte eingeteilt worden waren. Dies wird besonders dort ersichtlich, wo Seiten mit drei Einträgen in regelmäßigen Abständen beschrieben sind, die jedoch nur wenige Wörter beinhalten oder, gleich einem selbstgefertigten Schreibkalender, nur (vorgeschriebene) Eintragungen des Datums aufweisen. Insbesondere solche „Nulleintragungen“39 zeigen, dass die Schreibpraxis ab dieser Zeit nicht mehr durch das Anschreiben bestimmter Inhalte geprägt war, sondern dass sich ein regelmäßiges Schreiben etabliert hatte, welches über Tage Buch führte. Die chronologisch letzten Einträge in diesem ersten Buch schließen direkt an die Vermahlungslisten aus dem Jahr 1941 auf den ersten Seiten des Buchs an und stammen aus dem September 1946. Die letzten 30 Seiten des Buchs blieben, bis auf eine Abschrift eines Gebets, welche sich auf der letzten Seite dieses Buchs befindet, und die konsequent durchgeführte handschriftliche Paginierung unbeschrieben.
38 39
Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 27. Vgl. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, 107.
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Abbildung 1: „Nulleinträge“ im Tagebuch von Theresia Vogt im Juni 1946 (SFN, NL 12)
„Tagesaufschreibungen“
Aus den Jahren 1946 und 1947 sind keine Bücher überliefert.40 Das chronologisch nächste von insgesamt sieben überlieferten Büchern beginnt mit dem Jahresanfang 1948. Diesem Buch ist zu entnehmen, dass Theresia Vogt seit 1947 wieder in der Mühle etwas außerhalb von Bad Pirawarth wohnte. Dort hielt sie Federvieh und Ziegen und bewirtschaftete die umliegenden 56 Ar Land. Ihr Mann arbeitete inzwischen in einem Mühlenbetrieb in der weiter entfernt liegenden Bezirkshauptstadt Gänserndorf und kam nur noch unregelmäßig an den Wochenenden heim. Das dominierende Thema im von ihr beschriebenen Alltag stellte nun die Erfolglosigkeit in der Suche nach dem Aufenthaltsort ihres in sowjetischer Kriegsgefangenschaft vermuteten Sohnes und die Erwartung von dessen Heimkehr dar. Ihre Bemühungen um Nachrichten von diesem über den Suchdienst des Roten Kreuzes, aber auch über Heimkehrer aus der Gegend, die sie in den Büchern immer vermerkte, blieben ergebnislos. Eine Art Evidenz dafür, dass ihr Sohn noch am Leben war, stellte das jeweils 40
Zu Hinweisen auf weitere, nicht erhaltene Tagebücher vgl. Schwarz, Koffer, wie Anm. 5, 199.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
gewissenhaft im Buch notierte Auftreten von Schluckauf dar, was von Theresia Vogt als Hinweis dahingehend gedeutet wurde, dass ihr Sohn über sie sprach. Dies bestätigte sich für sie dadurch, dass sie diesen Zustand beenden konnte, indem sie seinen Namen dachte oder ausrief. „Montag den 13.9.1948. Mit ½ 7h Zug fuhr Votsch wieder ind’ Stadlermühle. Witterung wie gestern u. nachmittag bewölkt. – 0 Eier Nachmittag beendete ich im Garten, das Erdäpfelausnehmen. 1 ½ Sack (Ums Haus nahm ich insgesamt 24 ½ Sack Erdäpfel aus (ab 27.8. l. J.) u. ½ Sack kleine Erdäpfel. – Neben Haidinger holte ich 3 Bürdl reife Dreierlfisolen 1 Bürdl Rübenblattln, 6 Kübel Brunnenwasser, 2 Bürdl Dörrgras v. Rechenackerl u. 1 Bürdl Maisfutter – Um punkt 10h abends hatte ich momentan heftiges Schlucken ich dachte eiligst ‚Willi‘ u. sofort war Schluß! – Armer Willi, mit u. zu wem sprachst Du von mir, in sooo später Nachtstunde? Es ist punkt ½ 11h, mithin beende ich für heute meine Tagesaufschreibungen Gute Nacht, mein lb. einziger Willi schlaf wohl im fernen Osten, Tausendmal, gute Nacht! –“41 „Du meine Güte, Uijegerl, jetzt hätt’ ich bald vergeßen, um 9h auf ’ der Nacht hatte ich plötzlich Schlucken, ich schrie eiligst ‚Willi‘ u. sofort war Schluß! Ach, ich jammerte u. weinte ‚Willi komme heim zu mir‘ ich erwarte Dich mit großer Sehnsucht! Mein Sohn, wo steckst Du sooo lange? Wann kommst Du heim zu mir? Gott weiß es gewiß! – –“42
In den täglichen Einträgen, die von Theresia Vogt nun wiederkehrend als „Tagesaufschreibungen“ bezeichnet wurden, registrierte sie zwar immer noch penibel alle Einnahmen und Ausgaben sowie erhaltene oder eingekaufte Waren, jedoch verlagerte sich der Schwerpunkt der Einträge auf Berichte über ihre Arbeit und Verrichtungen am Mühlenanwesen. Die Einträge aus dieser Zeit weisen, im Vergleich zum ersten Buch, einerseits einen deutlich größeren Textumfang auf und andererseits eine sich immer beständiger gestaltende Form des Textaufbaus. Die Datumsangabe, die im ersten Buch noch in den Text integriert war, steht 41 42
Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 13.9.1948. Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 3.10.1948.
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nun in der Position einer Überschrift und ist meist in einer eigenen Zeile vom übrigen Eintrag abgesetzt. In der Zeile darunter findet sich regelmäßig eine Beschreibung des Wetters und während der Legesaison ein Vermerk über die Anzahl der gefundenen Hühner- und Enteneier. „– Dienstag den 24.8.1948. – Sonnig, bewölkt, windig. – 1 Ei – Vormittag jätete, vlm. raufte ich im Garten ind’ Erdäpfel das stinkende Gras aus, nebst Erdäpfel= gartl. Räumte den 2. Sommersaustall die Kukuruz= stengl aus u. tat die 2 Kitzl v. Roßstall hinein. Hab mich schon geärgert genug, jeden Tag 2x warens v. der Kiste heraußen, die Ludern. Beim Mist hinten bis abends Kukuruzstengl ge= hackt. 1 Nudlsieb nächst der Radstube Holler gebrockt. – War den ganzen Tag nicht außer Haus. Lobner Gretl Wien b. Kreuz hinten Holler gepflückt. – Der Zwetschkenbaum im Garten trägt doch welche Früchte, schon blau, aber noch sauer, brrr! – In uns. Briefk. lag heute nichts.“43
Im dritten der überlieferten Bücher, das Einträge aus dem Zeitraum vom Mai 1949 bis zum März 1950 beinhaltet, setzt sich die zuvor beschriebene Tendenz der Vergrößerung des Textumfangs der einzelnen Tageseinträge fort. Auch die Gliederung einzelner Textteile innerhalb der „Tagesaufschreibungen“ verstärkt sich weiter und bildet ein Textbild, das ein ordnendes Schema erkennen lässt. So werden Beziehungen und Relevanzen innerhalb der Elemente durch ihre Stellung im Text verstärkt. Die Tageseinträge lassen zusehends eine die Aussage bestimmende visuelle Anordnung, eine ‚graphische Syntax‘ erkennen, die unabhängig von den beschriebenen Inhalten den beschriebenen Tag strukturiert.44 Auch die Erzählfigur der Einträge hat sich gewandelt. Es handelt sich nicht mehr um ein Notieren, ein Anschreiben einzelner Handlungen oder Ereignisse, die mit einem Vermerk über ihren Zeitpunkt versehen sind. Die Rede ist von Tagen. Es wird von Tagen berichtet und es wird auch in Tagen erzählt.45 Diesem Wandel trägt die am vorderen Schutzblatt die43 44
45
Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 24.8.1948. Vgl. Roy Harris, Rethinking Writing, London 2001, 216f.; vgl. Sybille Krämer, „Schriftbildlichkeit“ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: dies. u. Horst Bredekamp Hg., Bild – Schrift – Zahl, München 2003, 157–176, 164. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 39, 93.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
ses Buchs befindliche, als Titel fungierende Zeile „(Tagebuch ab 1. Mai 1949)“46 Rechnung. Die textierten Tage dieses Tagebuchs sind in durch Leerzeilen oder Absätze abgegrenzte Bereiche fragmentiert. Die „Tagesaufschreibungen“ folgen gleichsam einer ,Schablone‘, als wären sie an einem formularartigen Grundmuster orientiert, das ordnend Positionen im Text verteilt und dabei der Selektion, die diese textierten Tage bilden, als Konstellation Zusammenhang verleiht.47 Wiederkehrende Formeln regulieren das Schreiben, wobei sich ein Muster abzeichnet, dessen Grundstruktur sich nur selten auflöst, meist aber durch zusätzliche Elemente ergänzt wird. Diese Aufteilung folgt einer weitgehend stabilen Anordnung in drei separierte Einheiten. Die erste, eine Art Kopfzeile, besteht aus der Datumsangabe, einer kurzen Beschreibung des Wetters und einer Notiz zu der Anzahl der vorgefundenen Eier. Die zweite Abteilung umfasst einen Bericht der Ereignisse des Tages, der sich meist auf verrichtete Arbeiten bezieht. Dieser Textteil ist oftmals wiederum in einzelne Texteinheiten untergliedert, um zeitliche oder thematische Bereiche voneinander zu trennen. Regelmäßig ist diesem Teil ein e igener Absatz angehängt, der die erhaltene oder auch nicht erhaltene Post notiert. Die dritte, am deutlichsten abgesetzte Einheit ist ein extrem stark formalisiertes, aus einer beschränkten Anzahl an Wörtern kombiniertes, direktes Ansprechen des Sohnes der Schreiberin, von dem sie noch immer keine Nachricht erhalten hatte. „– (Dienstag den 28.VI.1949.) – Stark bewölkt, windig, warm, sonnig. 1 Enten. u. 0 Hühnereier. Vormittag jätete ich Gras am Rechenackerl ind’ Burgunder u. führte 2 Schiebkarren Gras herein u. 1ne Grenzn voll, im Kuh= stall u. nachmittag das Gras ausraufen beendet u. ebenfalls 2 Grenzn herein ge= tragen. Heute war ich den ganzen Tag mutterseelen= alleine. Vergelts Gott tausendmal, das ich mit’n Gras ausraufen fertig bin am Rechenackerl. – Im weiten fernen Osten, tausendmal recht guten Abend u. geruhsame Nacht, nebst angeneh= me Ruhe, schlaf heute Nacht ganz besonders wohl mein Sohn u. träume süß lieber 46 47
Theresia Vogt, Tagebuch, 1948. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 39, 93.
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armer, gefangener Willi, dies wünscht Dir heute u. immer, Deine einsame, ganz verdroßene Mutter, die Dich jeden Tag mit Schmerzen, doch leider umsonst, erwartet.“48
Diese ‚Schablone‘, die gleichsam ein ‚Formular‘ des Tages anlegte, macht neben weiteren Hinweisen, die das Schriftbild gibt, auch Etappen des täglichen Schreibprozesses identifizierbar. So lässt sich schon bei einer genauen Betrachtung der jeweiligen Strichstärken des Bleistifts vermuten, dass Theresia Vogt am jeweiligen ‚Tagesanfang‘ den Kopf des Tageseintrags, das Datum, die Beobachtung der Witterung und daneben das Wort „Eier“ notierte. Später, oft abends, am ‚Ende des Tages‘, schrieb sie die Tagesereignisse und Tätigkeiten, Einnahmen und Ausgaben auf und vermerkte neben dem Wort Eier die entsprechende Anzahl. Oft weisen die Einträge auch eine im Zuge dieser zweiten Schreibphase hinzugefügte Ergänzung der in der Früh beobachteten Wettersituation oder die Beschreibung eines Wetterwechsels auf. Aus diesen Beobachtungen kann man einerseits einen Zeitraum des Schreibens rekonstruieren, andererseits reproduzierte sich so ein geschriebener Zeitraum, der gewissermaßen in der Früh durch das Anschreiben des jeweiligen Datums ,eröffnet‘ wurde und sich abends mit der Beendigung der „Tagesereignisse“,49 die Geschehnisse und Merkwürdigkeiten des Tages verwahrend, ,abschloss‘. Einige Einträge verdeutlichen diesen Ablauf des täglichen Schreibens, diese Formierung des Tages, indem sie die, für den Sprachgebrauch der Schreiberin ansonsten ungewöhnliche, unpassende Übereinstimmung „1 Eier“ aufweisen. „– Montag den 23.8.1948. – 1 Eier. – Bewölkt, regnerisch, windig u. kalt.“50
Dieser Umstand bestärkt die Vermutung, dass die Schreiberin das Wort „Eier“ schablonenhaft vorschrieb und zu einem späteren Zeitpunkt die die Anzahl der tatsächlich gefundenen Eier bezeichnende Ziffer einfügte. Mehrfach ist auch die eingetragene Ziffer durch eine andere überschrieben, die die Anzahl der gefundenen Eier nach oben korrigiert. Die dadurch sichtbare Praxis des Vorschreibens zeigt, dass diese Schreibpraxis nicht nur ein retrospektives Anordnen ausgewählter Interaktionen im Erzähl(zeit)raum der „Tagesaufschreibung“ darstellte, sondern immer auch einen ‚Tag‘ vorschrieb und damit einer gewissen Vorhersage, einer impliziten Erwartungshaltung Raum gab.
48 49 50
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 28.6.1949. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 31.12.1949. Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 117.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
Weitere Räume
Wenn man einen solchen Ansatz des Lesens dieser Bücher weiterspinnt, kann die Aufschreibung des Datums, die schriftliche Eröffnung eines neuen Tages als Aufzeichnung einer Erwartung, eines Potentials gelesen werden, die wiederholend den Tag beschrieb, an dem sich der Wunsch der Heimkehr des Sohnes erfüllt. Die Absätze hingegen, die vor allem ab dem Jahr 1949 regelmäßig das Ende der einzelnen „Tagesaufschreibungen“ darstellen und die Wünsche für den vermissten Sohn formulieren, die diesen direkt ansprechen, können als schriftliche Substitution einer (nicht eingetretenen) Präsenz des Sohnes betrachtet werden. Indem die erwartete und erwünschte Erzählung von der Heimkehr des Sohnes, für die der Tag den Raum geschaffen hatte, stumm blieb, ersetzte gleichsam die Schrift, die nicht auf die Präsenz des Rezipienten angewiesen ist, diese beunruhigende Leerstelle.51 Denn die abschließenden Absätze weisen bis auf geringe kombinatorische Abweichungen feste Formulierungen auf. Sie gleichen in ihrer formelhaften Rede einem ritualisierten Akt, der gewisse sprachliche Handlungen von der Aktualität der Tagesereignisse entkoppelte und ihre Begründung nicht mehr (nur) in einer Referenz auf ein erlebtes Außen, sondern durch eine spezifische, (re-)produzierte Ordnung der „Tagesaufschreibung“ empfing. „Im fernen, fernen Osten recht gute geruhsame Nacht, nebst angenehme Ruhe, schlaf wohl mein lieber Sohn Willi u. träume heute Nacht süß.“52 „Im fernen, fernen Osten ein lieber Willi, guten Abend u. recht geruhsame Nacht, nebst angenehme Ruhe, schlaf heute Nacht ganz b’sonders wohl mein Sohn u. träume süß.“53 „Tausendmal recht gute, geruhsame Nacht, nebst angenehme Ruhe, schlaf wohl mein lieber Willi u. träume süß mein Sohn im weiten, fernen Rußland! –“54 „Tausendmal recht gute Nacht mein lb. Willi, schlaf wohl mein Sohn, im weiten fernen Rußland.“55
51 52 53 54 55
Vgl. de Certeau, Kunst, wie Anm. 2, 228, 342. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 22.5.1949. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 13.6.1949. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 30.9.1949. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 7.1.1950.
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„Tausendmal recht gute, geruhsame Nacht mein lb. Willi, schlaf wohl mein Sohn, im fernen fernen Osten!“56
Die Intimität des Zwischenraums, der sich zwischen der Schreiberin und dem Geschriebenen auftat und den dieses direkte Sprechen der Theresia Vogt zu ihrem Sohn durchmisst, wird auch an anderen Stellen ersichtlich. So findet sich wiederkehrend eine Instanz, ein ‚Du‘, an das sich ein Fragen richtet, welches aber weder auf eine konkrete Person noch auf angesprochene LeserInnen Bezug nimmt.57 „Aaah, die graue Regenhaube, die mir Votsch einhamsterte, ist soviel warm, duli! – Schön ist’s nicht, aber warm, was für mich Hauptsache ist, verstehst! –“58 Dieses ‚Du‘ im Text, das im „verstehst“ angesprochen ist, ist nicht Ausdruck eines Mitteilungsbedürfnisses, sondern vielmehr eine sprachlich erzeugte ‚Komplizenschaft‘, ein Einfordern einer Bekräftigung und Anerkennung von Seiten des ‚Anderen‘, in dessen Richtung sich das Schreiben bewegte.59 „Mittwoch den 21.7.1948. Sonnig, windig u. sehr schönes, warmes Wetter. – 3 Hühner Eier Vollmondnacht! – O! Heute kochte ich mir Knödel mit Gurkensalat (ausnahmsweise verstehst.) Heute, sowie gestern schnitt ich mit Messer neben Haidinger im Kukuruz Windlingfutter aus. (2 Grenzn voll.) Auch heute kam d. g. Tag niemand zu mir. Heute v. 5 Jahre, ich erinnere mich noch sehr gut, sprach Willi schon des öfteren mit Wehmut, v. seiner allzu raschen vergehenden Urlaubszeit, ich dachte immer, ‚armer Willi‘.“60
56 57 58 59 60
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 20.1.1950. In den drei hier untersuchten Tagebüchern findet sich nirgends ein Hinweis auf mögliche AdressatInnen der Texte. Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 13.1.1950. Vgl. de Certeau, Kunst, wie Anm. 2, 343. Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 21.7.1948.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
Heute vor …
Wie schon zu Beginn erwähnt, finden sich wiederkehrend auch Formen der Chronik in Theresia Vogts Büchern. Insbesondere Geburts-, Namens- und Todestage von Familienangehörigen werden in den jeweiligen Einträgen vermerkt. Zusätzlich treten ab dem Jahr 1948 vermehrt Fragmente retrospektiven Erzählens auf, die mit der Formel „Heute vor“ eingeleitet werden und eine spezifische Auswahl an vergangenen Handlungen und Ereignissen erzählen. Schon die rhetorische Figur „Heute vor“ verdeutlicht, dass es sich hierbei nicht direkt um autobiographisches Erzählen handelt, das Vergangenes sammelt und aufzeichnet, sondern um ein funktionales Erinnern, das die Präsenz einer spezifischen Vergangenheit in die Gegenwart einschrieb.61 Im Tagebuch setzt selbst dort die Erzählung von Tagen in Tagen62 nicht aus, wo von größeren Zeiträumen die Rede ist. Vielmehr eröffnen sich in den textierten Tagen größere Zeiträume, indem diese zu ‚Jahrestagen‘ werden. „Den 5.2.46 Großer Gedenktag für mich! Heute ist es 5 Jahre (5.2.1941–5.2.1946.) daß mein lb. einziger Sohn Willi nach Wr. Neustadt zur Wehrmacht einrückte.“63 „Heute vor 7 Jahren den 5.2.1941 rückte mein lb. Sohn Willi nach Wr. Neustadt zur Wehrmacht ein. Es schneite in die= ser Nacht so arg, das sämtl. Verkehr lahmgelegt war. Um ½ 7h nachts hatte ich plötzlich Schlucken, ich sagte eiligst ‚Willi‘ u. sofort war Schluß. ‚Armer Willi‘ ich denke jede Stunde auf Dich, ich ver= geße Dich mein Lebtag nicht. Ewig schade, daß ich Dirs weder schreiben noch sagen kann.“64 „Heute vor 9 Jahre, den 5.2.1941 mußte mein lieber Sohn Willi nach Wr. Neustadt (z. Wehrmachtsdienst) einrücken. – Es schneite in dieser Nacht so stark, das sämtl. Verkehr lahmgelegt war. – 61
62 63 64
Vgl. Ernst Langthaler, Gedächtnisgeschichte: Positionen, Probleme, Perspektiven. Gedächtnis in der Krise? – Zwischen „Text“ und „Leben“ – Gedächtnis als „Innenwelt“ – Gedächtnis als „Außenwelt“ – Von „Gedächtnis“ als doing memory, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde. Sondernummer Kulturwissenschaften, (1999), 30–46, 34. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 39, 93. Theresia Vogt, Mahl- und Schrotbuch, 81. Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 5.2.1948.
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Mein lieber armer einziger gefangener Willi, ich denke jeden Tag, ja jede Stunde auf. – Nur auf dich. Ich vergeße dich mein Lebtag nicht. Ewig schade – daß ich dir’s leider Gottes, weder schreiben noch sagen kann.“65
Ebenso wie sich in der Buchführung ein selektives System des ‚Merk-Würdigen‘ ausformte, welches das ‚Zu-Schreibende‘ konstituierte, schrieb Theresia Vogt in die Bücher auch einen Kanon des ‚Erinnerungs-Würdigen‘ ein. Das ‚Erinnerungs-Würdige‘ bezog sich auf wahrgenommene Problematiken der Gegenwart und artikulierte diese als eine kontinuierliche, indem im Schreiben zu jener eine Vergangenheit hergestellt wurde, die sich an einer erhofften/befürchteten Zukunft orientierte.66 Schon die Artikulation „heute vor“ beschreibt eine Beziehung zur Vergangenheit, die Ereignisse des Gewesenen als Positionen im ‚Heute‘ formulierte. Nicht das Vergangene beherrschte den Raum des Buchs, sondern im Schreiben beherrschte Theresia Vogt die Herstellung diachroner Zusammenhänge, die der Situation eine Vergangenheit zuschrieben und Handlungen dadurch Richtung, Rechtfertigung und Sinn verliehen. Als Ordnung und Anlass dieser schreibenden Erinnerungspraxis spielte das Datum, mit dem die Schreiberin die Tage einordnete und bezeichnete, eine zentrale Rolle, indem es diese Praxis veranlasste und regelte. Eine ähnliche Funktion erfüllten jedoch auch Dinge wie Briefe, Kleidungsstücke oder eine Armbanduhr ihres Sohnes, deren Handhabung Erinnerungen wachrief und diese auf eine bestimmte Weise authentisierte. Die Gegenstände fungierten als eine Art Zeugen und verliehen den Erinnerungen damit eine gegenwärtige Evidenz.67 So löste zum Beispiel ein alter Koffer, den die Schreiberin an einem bestimmten Ort deponierte, am Tag dieser Handlung, dem 30. Jänner 1948, eine Erzählung über eine Serie an Ereignissen aus, die sie mit diesem Koffer verband. „30. Jänner 48. Windig u. kalt. Heute sind es 8 Jahre, daß ich in Willis gr. Koffer seinen werthen Namen hineinschrieb 1940-1948. Über diesen Koffer könnte man einen Roman schreiben Willi nahm sich diesen gr. Koffer b. s. Einrückung zur Wehrmacht 5.2.1941 nach 65 66
67
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 5.2.1950. Vgl. Margo Culley, Introduction to A Day at a Time: Diary Literature of American Women from 1764 to 1985, in: Sidonie Smith u. Julia Watson Hg., Women, Autobiography, Theory. A Reader, Wisconsin 1998, 217–221, 220. Vgl. Gottfried Korff, Sieben Fragen zu den Alltagsdingen, in: Gudrun M. König Hg., Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005, 29–42, 40.
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
Wr. Neustadt mit. Votsch nahm denselben b. s. Wehrmacht-Einrückung 1.4.1941 nach Hainburg mit – Mein Sohn nahm sich obengenannten Koffer nach Beendigung seines Krankenurlaubes 19.3.1942 an die Front (Krim-Kertsch) mit. Willi nahm sich seinen gr. Koffer ein zweitesmal mit nach seinem Erholungsurlaub 26.7.1943 im Fronteinsatz (Noworossijsk) Diesen Koffer schickte mir mein Sohn durch einen Urlauber mit Inhalt (1 weißer Damen-Wintermantel im Jänner 1944 In Großmutters Hof war dieser gr. Willikoffer 3 Monate mit Bekleidung meines Sohnes eingegraben Nach Enterdigung stand er im Stübl aufs Thetter Mariel Tisch v. Juli 1945 bis November 1947 Danach stellte ich den Koffer hinter die Tür im gr. Zimmer aufs Wäschekastl. Nun steht er in Gottes Namen in Ruhestand im gr. Zimmer aufm Wäschekasten seit 30.1.1948. – Nachmittag gab ich Post Pirawarth 1 Brief auf an Tischler= meister Stanzl Raggend. betreffs uns. demolierten Möbel (Betten u. 1 Kasten) reparieren. Frl. Hainisch schrieb mir mit Schreibmaschine 2 Bestätigungen für Votsch seine S 20.- Einlage in Sparkasse – Post – Pirawarth. Strobl Poldl No. 62 war im Wald, erledigte betreffs Lie= fer-Rückvergütung nichts. – Bis abends ½ 8h b. Fr. Gradinger (Bock) getratscht. O wusch, im nachhause gehn wars finster, meiner Seel! Ich rannte ganz außer Atem v. d. Kapelle bis heim. Um zk. ½ 8h u. um 10h hatte ich starken Schnackerl. Ich dachte ‚Willi‘ u. sofort war Schluß.“68
Ähnlich wie dieser Koffer können aber auch Theresia Vogts Bücher als Gegenstände betrachtet werden, die eine bestimmte Erinnerungspraxis bedingten. Gleich dem Koffer erinnerten die in ihren Büchern festgehaltenen Aufzeichnungen und Erzählungen Theresia Vogt an gewisse Ereignisse. Zeigen lässt sich dies an der Wiederkehr der Erzählung über den Koffer am Jahrestag seiner Unterbringung auf dem Wäschekasten und der damit verbundenen Eintra68
Theresia Vogt, Tagebuch, 1948, 15f.
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gung. Obwohl der Koffer am 30.1.1950 nicht mehr Gegenstand einer aktuellen Handlung war, wiederholt sich die Erzählung nahezu identisch im dritten der überlieferten Bücher an eben jenem Jahrestag. „(Montag den 30. Jänner 1950.) Stillkalt, hell, stark gefroren, sämtl. Fensterscheiben bumfest, das ich trotz allen anstrengen nicht hinaus=sehen konnte. Mein 1. braunes Sockerl beendet u. das zweite nach= mittag begonnen. (zu stricken.) – – – Heute vor 10 Jahre, den 30.1.1940 schrieb ich in Willis gr. braunen Koffer seinen werthen Namen hinein. – Von diesen Koffer könnte man fast einen Roman nieder= schreiben meiner Treu’. – Mein Sohn nahm sich obenerwähnten Koffer, bei seiner Einrückung zur Wehr= macht den 5.2.1941 nach Wr. Neustadt mit. – Auch meinen Mann gereichte es zur Ehre, sich Willys Koffer bei seiner Einrückung zur Wehrmacht den 1.4.1941 nach Hainburg mit zu nehmen. – Unser Sohn Willi nahm sich denselben nach Be= endigung seines Krankenurlaubes den 19. März 1942 an die Front (Krim oder Kertsch?) mit. – Willi benötigte den Koffer ein zweitesmal, indem er sich denselben den 26.7.1943 nach Beend= gung seines Erholungsurlaubes nach – No= worossijsk mitnahm. Diesen gr. Koffer schickte mir mein Sohn, durch einen Urlauber mit Inhalt (1 weißer Damen – Wintermantel) im Jänner 1944. 3 Monate während der Kampfhandlungen, mit Bekleidung. – Nach der Enterdigung stand er dann im Stübl (Großmutters Ausgedinge) auf ’s Thetter Mariel Tisch v. Juli 1945 bis November 1947. – Nach der Übersiedelung stellte ich diesen Koffer hinter die Tür im gr. Zimmer auf ’s Wäschekastl. – Nun steht dieser – Willis großer brauner Reisekoffer, in Gottes Namen, im gr. Zimmer
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
auf ’m Wäschekasten, seit 30.1.1948, bis auf den heutigen Tag – – verstehst! – Endlich in Ruhestand! – Im fernen fernen Rußland, gute, recht gute Nacht, mein lieber armer Willi, schlaf wohl u. träume süß, nebst angenehme Ruhe, mein gefangener armer lieber einziger Sohn! – Heut’ frisierte ich mich das erstemal mit’n neuen Kamm v. Vat’. v. Wien. Den alten schwarzen fand ich nicht mehr. Was konnte ich sonst tun?“69
Diese Wiederholung verweist auf eine zentrale Funktion der „Tagesaufschreibungen“, die schon im Zusammenhang mit der Regelung der thematischen Auswahl in diesen Büchern beleuchtet wurde. Eine Erzählung, die in eines der Bücher eingeschrieben wurde, reproduzierte sich am Jahrestag der Einschreibung in die Bücher in diesen selbst. Das ‚Ding‘ Buch übernahm in gewisser Weise die erinnerungstragende Funktion des Koffers. Dieser Ablauf, der sich auch anhand weiterer Beispiele zeigen ließe,70 verdeutlicht, wie die Bücher als lesbare Dinge für die Schreiberin zu wissens- und erinnerungsproduzierenden Gegenständen wurden und dadurch Erinnerungssequenzen, die in diese aufgeschrieben wurden, mitgenerierten. Dies beschränkt sich nicht nur darauf, dass in den Büchern das Ordnungswissen des Kalenders praktisch wirksam wurde. Die Bücher wurden zu einem Werkzeug, zu einem Apparat, durch den Theresia Vogt ihre Erinnerung praktizierte; gleichzeitig erinnerte sie der Gebrauch dieses Apparats an diese Praxis des Erinnerns. Jedes Einschreiben in die Bücher war zugleich ein Vorschreiben von dem, was wann zu bedenken war. Das Programm des Verzeichnens des ‚Merk-Würdigen‘ und ‚Erinnerungs-Würdigen‘ folgte also einer doppelten Logik: Es wurde geschrieben, weil ihm Merk- und Erinnerungswürdigkeit zugemessen wurde. Diesen Status erhielt das Programm im Verlauf der Entwicklung und Etablierung der Aufschreibepraxis jedoch wiederum dadurch, weil es schon aufgeschrieben worden war. In diesem Sinne wurde diese Buchführung zunehmend zu ihrer eigenen Voraussetzung. Das Buch wurde zu einer immanenten Ursache, zu einer Ursache, die sich in ihren Wirkungen aktualisierte – zu einem Dispositiv.71
69 70 71
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 30.1.1950. Vgl. Schwarz, Koffer, wie Anm. 5, 221–230. Vgl. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1992, 56, 153f.; vgl. Andrea D. Bührmann u. Werner Schneider, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, 54f.
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Räume des Schreibens
Abschließend will ich noch einmal zum Beginn dieser Ausführungen über die Entwicklung des Tagebuchführens der Theresia Vogt und zu der Frage nach der Art des Raums, den die Bücher darstellen, zurückkehren. Schon im ersten der überlieferten Bücher zeigt sich, wie Theresia Vogt eine spezifische Eigenschaft dieses Buchraums, die Richtung, die die Folge der Seiten vorgibt, gebrauchte, um einer bereits begonnenen Buchführung durch die Umkehrung der Beschreibrichtung eine zweite Buchführung hinzuzufügen. Dieser zweite Beginn in dem Buch bewirkte aber nicht nur eine räumliche Trennung der einen von der anderen Buchführung, sondern auch einen Zwischenraum, welcher der Möglichkeit einen Ort zuwies, die erste Buchführung, die „Vermahlungslisten“, fortzuführen. Mit Hilfe des handlungsperspektivischen Ansatzes von Michel de Certeau, den dieser für die Untersuchung von räumlichen Ordnungen und Verräumlichungspraktiken entworfen hat, lässt sich die doppelte Konstitution des Buchraums als etwas Gegebenes und gleichzeitig Produziertes besser erklären.72 De Certeau unterscheidet zwischen Ort und Raum. „Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden.“ 73 Ein Raum dagegen ist „von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten“.74 „Insgesamt ist der Raum ein Ort, an dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet.“75
Dieser Unterscheidung folgend ist das Buch ein Ort, dem durch seine materielle Beschaffenheit und die ihm kulturell eingeschriebenen Gebrauchsweisen eine Ordnung des Innen und Außen, des Oben und Unten und des Vorne und Hinten anhaftet. Im Schreiben verwandelte sich das Buch in einen Raum, dessen Strukturen sich jedoch, viel deutlicher als etwa die Spuren einer Lektüre, in den Ort einschrieben. Dadurch vollzog sich mit jedem Schreibakt in dem Buch eine Aktualisierung der Ordnung dieses Ortes, die diese den Bewegungen des Schreibens anpasste. So wurde das „Mahl- u. Schrotbuch“ des Mühlenbetriebs, mit seiner 72
73 74 75
Vgl. de Certeau, Kunst, wie Anm. 2, 217ff.; vgl. Monika Ankele, Am Ort des Anderen. Raumaneignungen von Frauen in Psychiatrien um 1900, in: Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel u. Alois Unterkircher Hg., Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld 2010, 43–63. Zur Gleichzeitigkeit von gegebenen und produzierten Verhältnissen vgl. Hans Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 10 (1984), 295–319. de Certeau, Kunst, wie Anm. 2, 218. de Certeau, Kunst, wie Anm. 2, 218. de Certeau, Kunst, wie Anm. 2, 217f. (Hervorhebung im Original).
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Die „Tagesaufschreibungen“ der Theresia Vogt
eingeschriebenen Ordnung der Liste, durch das Schreiben der Theresia Vogt ab dem Sommer 1945 zu einem Raum des auflistenden, registrierenden und bilanzierenden Anschreibens von Tätigkeiten und Tauschgeschäften. Diese Buchführung, die eine gedächtnisentlastende Anschreibepraxis darstellte, die vermerkte, ‚Merk-Würdiges‘ sammelte, verwandelte die Ordnung des Buchs zu einem Ort des ‚Merk-Würdigen‘. Und indem Theresia Vogt im Schreiben zunehmend weitere Bereiche ihrer Wahrnehmung des Alltags notierte, die täglich ‚Merk-Würdiges‘ darstellten, schrieb sie in die Ordnung des Buchs die Ordnung des Kalenders ein, die wiederum den Handlungsraum des Buchs neu, nach Tagen strukturierte. Diese Verwandlung zeigt sich besonders darin, dass nicht mehr ein Datum vermerkt ist, um die jeweilige Notiz zu kennzeichnen, sondern dass das Datum, als Vermerk des Tages, als eigenständiger Eintrag erscheint. Der Ort des Buchs blieb aber nicht auf eine Vermessung der Tagesereignisse beschränkt, sondern im Schreiben verwandelte er sich zusätzlich zu einem Raum, der Theresia Vogt ein ‚schreibendes Sprechen‘ zu ihrem abwesenden Sohn ermöglichte. Gerade dieser Raum, der sich in Richtung des abwesenden Anderen ausdehnt, ist der Raum, ‚in‘ dem Theresia Vogt ‚ihre Tagesereignisse beendete‘.76 Diese Ausdehnung des Raums erstreckte sich dorthin, wohin das „verstehst“ gerichtet war, mit dem sie bisweilen ihre Sätze beendete. Ein anderer Raum, der sich durch das Schreiben in dem Buch öffnete, ist der Raum des Erinnerns. Durch die einleitende Formel „heute vor“ durchmaß Theresia Vogt im Schreiben einen Zeitraum, der ihre Schreibgegenwart ans Ende einer – ihrer – Geschichte setzte, die sie, gleichsam als ‚Vorschrift‘ für ihr Erinnern, in die Ordnung des Buchs einschrieb.
76
Theresia Vogt, Tagebuch, 1949/50, 31.12.1949.
Brigitte Semanek
Von der Edition zum Original Politik im Tagebuch Rosa Mayreders (1918–1934)
Die Tagebuchaufzeichnungen von Rosa Mayreder, einer österreichischen Schriftstellerin und führenden Aktivistin der Ersten Frauenbewegung, liegen als handschriftliche Originale in der Wienbibliothek im Rathaus.1 Teile daraus wurden 1988 von der Germanistin Harriet Anderson publiziert,2 was in diesem Beitrag in Form einer Editionskritik thematisiert werden soll. Im Rahmen meiner Diplomarbeit, auf der die folgenden Ausführungen basieren,3 wurden dafür alle vorhandenen handschriftlichen Einträge in den Tagebüchern aus vier bestimmten Zeiträumen transkribiert, um der von Harriet Anderson editierten Auswahl exemplarische Reihen von aufeinanderfolgenden Originaleinträgen gegenüberstellen zu können. Diese stammen von Oktober und November 1918, von April und Mai 1924, von Oktober und November 1929 und von Februar und März 1934 – also aus verschiedenen Phasen der Zwischenkriegszeit vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum österreichischen Bürgerkrieg zu Beginn des Austrofaschismus. Mit dem Blick auf diese Zeiträume sollen Differenzen zwischen den beiden Versionen des Tagebuchs von Rosa Mayreder, der Edition und den Originalaufzeichnungen, aufgezeigt werden, besonders im Hinblick auf das Thema Politik. Dieses wurde – nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass die österreichische Zwischenkriegszeit eine politisch besonders bewegte Zeit war – einerseits gewählt, um Spuren der Editionsarbeit deutlich zu machen, und andererseits, um einen diskursanalytischen Ansatz für die Analyse eines Frauentagebuchs zur Diskussion zu stellen. Das erfolgt in diesem Beitrag in mehreren Schritten: Auf der ‚Reise‘ von der Edition zum Original wird zuerst die Tagebuchschreiberin kurz vorgestellt, um dann in einem zweiten Schritt die beiden Tagebuchversionen in formaler Hinsicht zu vergleichen. Wie sich die Versionen inhaltlich unterscheiden, wird zunächst überblicksmä-
1 2 3
Rosa Mayreder, Tagebücher, in: Teilnachlass Rosa Mayreder, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 264/1, im Folgenden zitiert als: RM Tgb. Hs. Rosa Mayreder, Tagebücher 1873–1937. Hg. und eingeleitet von Harriet Anderson, Frankfurt a. M. 1988, im Folgenden zitiert als: RM Tgb. Ed. In meiner Diplomarbeit wurden die transkribierten Originaleinträge und die publizierten Einträge mit Fokus auf das Thema Politik diskursanalytisch ausgewertet. Die Idee dazu entwickelte sich in einem Seminar über Politik in Frauentagebüchern und -autobiographien. Vgl. Brigitte Semanek, Politik im Tagebuch von Rosa Mayreder in der Zwischenkriegszeit. Möglichkeiten einer Diskursanalyse, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2011. Die Diplomarbeit wurde von Christa Hämmerle betreut.
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Von der Edition zum Original
ßig für die Zeit von 1918 bis 1934 dargestellt, dann in Form einer detaillierten Analyse von ausgewählten Tagebucheinträgen aus dem Herbst 1918 zum Thema Politik herausgearbeitet. Das Ziel ist dabei, eine sprachwissenschaftliche Studie eines Frauentagebuchs in den historischen Kontext des politischen Umbruchs in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges zu stellen und gleichzeitig den politischen Ansichten einer Protagonistin der Ersten Frauenbewegung in ihren späteren Lebensjahren nachzuspüren.
Eine Feministin als Tagebuchschreiberin
Rosa Mayreder (geborene Obermayer) kam am 30. November 1858 in Wien zur Welt; ihre Familie besaß ein Gasthaus in der Innenstadt. Sie erhielt die Erziehung einer ‚höheren Tochter‘ mit Klavier- und Gesangsstunden und Unterricht in Zeichnen und Französisch.4 Im Jahr 1881 heiratete sie den Architekten und späteren Universitätsprofessor Karl Mayreder (1856–1935).5 Kurz darauf lernte Rosa Mayreder die Sozialarbeiterin Marie Lang6 kennen und begann sich wie diese in der Frauenbewegung zu engagieren. Mayreder war von 1893 bis 1903 Vizepräsidentin des „Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins“ (AÖFV) und kurzzeitig auch Mitherausgeberin der Zeitschrift „Dokumente der Frauen“. 7 Sie arbeitete außerdem als Malerin und Kunstkritikerin, besonders aber als Schriftstellerin von Romanen, Novellen, Dramen und Essays.8 Ihre beiden bekanntesten Werke sind die geschlechtertheoretisch ausgerichteten Essaysammlungen „Zur Kritik der Weiblichkeit“ (erschienen 1905) und „Geschlecht und Kultur“ (1923). 1912 zeigten sich bei ihrem Ehemann Karl Mayreder erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung, die ihn bis zu seinem Tod 1935 schubweise begleitete und Rosa Mayreder mit seiner Pflegebedürftigkeit konfrontierte. Sie war dennoch weiterhin in der Frauen- und Friedensbewegung und als Schriftstellerin aktiv. Zu ihrem 70. Geburtstag 1928 wurde sie zur „Bürgerin der Stadt Wien“ ernannt.9 Sie starb am 19. Jänner 4 5
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7 8 9
Vgl. Harriet Anderson, Einleitung, in: RM Tgb. Ed., 10–40, 14ff. Vgl. Edith Prost, Biographische Einleitung, in: Helga Kaschl Hg., Rosa Mayreder 1858–1938. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 44, 1 (1989), 2–6, 4; Edith Leisch-Prost, Mayreder, Rosa, in: Francisca de Haan, Krassimira Daskalova u. Anna Loutfi Hg., A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms. Central, Eastern, and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries, Budapest/New York 2006, 319–321, 319. Marie Lang, geb. Wisgrill (1858–1934), war mit Mayreder im Vorstand des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins und im „radikalen Flügel“ der österreichischen Frauenbewegung vor allem in Fragen des Mutterschutzes und gegen den Lehrerinnenzölibat aktiv. Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 37; Biographie Marie Lang, in: Frauen in Bewegung. Diskurse und Dokumente der österreichischen historischen Frauenbewegung 1848–1918. Ein Projekt von Ariadne an der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 2009, vgl. www.onb.ac.at/ariadne/vfb/bio_langmarie.htm, Zugriff: 1.6.2015, 2 Absätze. Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 22. Vgl. Prost, Einleitung, wie Anm. 5, 5. Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 24ff.
Brigitte Semanek
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1938 im Alter von 79 Jahren an einem Gehirnschlag.10 In Kurzbiographien zu Rosa Mayreder11 werden einige Klischees im Leben einer frauenbewegten Frau immer wieder genannt; dazu zählen etwa die Rebellion durch Ablegung des Korsetts mit 18 Jahren und ihre heimliche autodidaktische Bildung in ihrem Dachbodenzimmer des Sommerhauses der Familie auf der Hohen Warte.12 Mayreders Sicht auf die zeitgenössische Politik, die im Laufe dieses Beitrags untersucht wird, wurde von ihren BiographInnen als „nicht immer eindeutig“ und teilweise „heute befremdlich“ anmutend,13 aber auch als bis „ins hohe Alter […] wachsam und […] hellsichtig“14 eingeschätzt. Mayreder selbst hatte sich in einem Stammbuch 1908 den Stand einer „Vorkämpferin“15 zugeschrieben. Sie war jedenfalls eine führende Repräsentantin der radikalen bürgerlich-liberalen Frauenbewegung in Wien16 und mit Feministinnen aus verschiedenen europäischen Ländern, wie Helene Stöcker17 und Ellen Kleman,18 aber etwa auch mit Wiener Intellektuellen, zum Beispiel mit dem Soziologen Rudolf Goldscheid,19 befreundet. Käthe Braun-Prager, eine enge Freundin in Mayreders letzten Lebensjahren, erbte ihren schriftlichen Nachlass.20 10 11
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Vgl. Leisch-Prost, Mayreder, wie Anm. 5, 321. Vgl. z. B. Ursula Kubes-Hofmann, Bericht über zwei Entartete. Rosa Mayreder und Helene von Druskowitz, in: Eva Geber Hg., Die Frauen Wiens. Ein Stadtbuch für Fanny, Frances und Francesca, Wien 1992, 126–140; Brigitte Spreitzer, Autothanatographie – niedergelegte Innerlichkeiten. Rosa Mayreders Selbstverlierungen im Labyrinth männlicher Identitätskonstrukte, in: dies., Texturen. Die österreichische Moderne der Frauen, Wien 1999, 62–70; Wolf Wucherpfennig, Kulturideal und weibliche Identitätsarbeit. Rosa Mayreder und ihr Briefwechsel mit Ellen Kleman und Klara Johanson, in: ders. Hg., Österreich und Skandinavien. Kulturelle Beziehungen zwischen Wiener Kongreß und Erstem Weltkrieg, Kopenhagen 2004, 135–156. Zur Ablegung des Korsetts vgl. Prost, Einleitung, wie Anm. 5, 2; René Freund, Land der Träumer. Zwischen Größe und Größenwahn – verkannte Österreicher und ihre Utopien, Wien 1996, 56; zur Bildung vgl. Mayreders eigene Beschreibung in: Rosa Mayreder, Das Haus in der Landskrongasse. Jugenderinnerungen. Mit einem Vorwort von Eva Geber u. einem Nachwort von Käthe Braun-Prager, Wien 1998, 51–55 [Originalausgabe Wien 1948]; Referenzen darauf in: Freund, Land, 54; Wucherpfennig, Kulturideal, wie Anm. 11, 142; Kubes-Hofmann, Bericht, wie Anm. 11, 134. Tatjana M. Popović, Vorwort, in: Rosa Mayreder, Der letzte Gott, Neuaufl. Wien 2008, 7–13, 12. Freund, Land, wie Anm. 12, 68. Der gesamte Stammbucheintrag ist vor dem Vorwort in der gedruckten Tagebuchausgabe wiedergegeben, vgl. RM Tgb. Ed., 6. Vgl. Prost, Einleitung, wie Anm. 5. Helene Stöcker (1869–1943) war eine deutsche Feministin, die u. a. für eine liberalere Sexualethik eintrat, vgl. Harriet Anderson, Anmerkungen, in: RM Tgb. Ed., 300–316, 313. Die Schwedin Ellen Kleman (1867–1943) und ihre Freundin Klara Johanson (1875–1948) standen mit Rosa Mayreder in Briefkontakt, vgl. Karin Bang, Nachwort, in: Rosa Mayreder, Meine theuren, fernen Freundinnen. Rosa Mayreder schreibt an Ellen Kleman und Klara Johanson. Kommentiert u. mit einem Nachwort versehen von Karin Bang, Kopenhagen/München 2004, 81–87. Rudolf Goldscheid (1870–1931) war Schriftsteller und Privatgelehrter und Mitbegründer der Wiener Soziologischen Gesellschaft, vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 40. Zu den Freundinnen und Freunden Mayreders vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 17–27.
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Von der Edition zum Original
Zu diesem Nachlass zählen zahlreiche handschriftliche Tagebücher, denn Rosa Mayreder hatte bereits 1873 als 14-jähriges Mädchen begonnen, ein Tagebuch zu führen. 21 Der erste Satz darin lautete: „Ich will, will es soll werden, und mein Wille ist fest, wenn ich auch bis jetzt noch ganz meiner Laune untertan bin.“ (RM Tgb. Ed., 28.4.1873) Aus der ersten Zeit der Beziehung zu Karl Mayreder bis 1888 liegen ebenfalls Tagebuchaufzeichnungen vor,22 nicht jedoch aus den Jahren ihrer stärksten Aktivitäten in der Frauenbewegung. Die vorliegenden handschriftlichen Texte setzen erst wieder mit dem Jahr 1905 ein23 und wurden über die folgenden Jahrzehnte kontinuierlich fortgeführt. Den letzten Tagebucheintrag verfasste Rosa Mayreder im Dezember 1937, wenige Wochen vor ihrem Tod.24
Das handschriftliche Tagebuch und seine Transformation in die Edition
Was als Tagebuch zu bezeichnen ist und wie sich das Tagebuch Mayreders während des Schreibens über die Jahrzehnte veränderte, lässt sich zunächst in formaler Hinsicht beschreiben. In der Wienbibliothek im Rathaus liegen verschiedene Formen von Tagebüchern, Notiz- und Adressbüchern von Rosa Mayreder und auch vereinzelte Notizbücher von ihrem Ehemann zusammen in einer Archivkiste.25 Unter den erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen von Rosa Mayreder befinden sich die Einträge von April 1873 bis November 1888 und jene von Jänner 1905 bis zum 10. Juni 1909 auf losen Blättern. Sie setzen sich nach einer Sommerschreibpause mit dem 24. September 1909 in kleinen Notizbüchern fort, die Rosa Mayreder dann bis zum Ende ihrer Tagebuchaufzeichnungen 1937 verwendete. Aus dem Jahr 1911 liegt kein Tagebuch vor – dieses ist vermutlich verloren gegangen. Die Notizbücher haben verschiedene Größen, verschiedenfärbige Einbände aus unterschiedlichen Materialien wie Karton oder Leder und wurden fortlaufend benutzt, das heißt, einzelne Jahre sind mitunter auch auf mehrere Bände verteilt. Eine solche komplexe und äußerst vielfältige „Architektur der Textträger“, wie der Germanist Arno Dusini dies nennt,26 wurde im Zuge der Edition von losen Seiten, Papierbündeln und Notizbüchern in ein einheitliches, gebundenes Buch umgestaltet. Außerdem geht beim Editieren prinzipiell verloren, dass handschriftliche Texte im Schriftbild etwa Zögern oder Hast, Anstrengung oder Leichtigkeit beim Schreiben vermitteln können.27 An vielen Stellen in ihrem Tagebuch strich Mayreder Wörter durch und fügte andere ein, manchmal 21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 10. Lose Blätter mit Aufzeichnungen aus 1880–1881, 1885 und 1887–1888, in: RM Tgb. Hs. Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 12. RM Tgb. Hs., Dez. 1937. In den letzten Lebensmonaten sind Mayreders Tagebucheinträge nicht mehr genau datiert. Handschriftensammlung der Wienbibliothek, Karton ZPH 264/1. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, 50. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 26, 51–54.
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schrieb sie auch ganze Sätze um.28 Die Edition von Harriet Anderson zeigt keine Spuren dieses Schreib- und Streichprozesses. Nach Arno Dusini reinigt das Editieren demnach den Text von materiellen „Lebensspuren“.29 Seiner Erwartung, dass EditorInnen dieses Veränderungspotential von Texten bei ihrer Arbeit reflektieren,30 entsprechen HerausgeberInnen von anderen, später erschienenen Tagebucheditionen mehr als Harriet Anderson in ihrem kurzen Vorwort in den 1980er Jahren.31 Christa Hämmerle und Li Gerhalter zum Beispiel gehen in ihrer 2010 veröffent lichten Edition von zwei Versionen der Tagebücher der Wienerin Therese Lindenberg von 1938 bis 194632 auf mehreren Wegen nahe an die Originale heran: Sie liefern eine umfassende Kontextualisierung und Analyse des Tagebuchschreibens,33 eine der Edition voran gestellte Beschreibung der beiden vorliegenden Tagebuchversionen34 und in der Edition laufend Informationen in Fußnoten. Diese beschreiben etwa die Buchstabengröße und das Schriftbild,35 das Schreibmaterial36 oder herausgetrennte Seiten.37 Im Fall der Tagebücher von Rosa Mayreder werden, um einige Merkmale zu erwähnen, ihre stets mit schwarzer Tinte geschriebenen Buchstaben in späteren Jahren größer, und an einigen Stellen im Tagebuch sind Zeitungsartikel zu politischen Ereignissen eingeklebt.38 Im Vergleich zu einem solchen formal heterogenen Textkorpus der handschriftlichen Originaltagebücher Rosa Mayreders wirkt die von Harriet Anderson herausgegebene Edition recht gleichförmig. Die aus den Jahren 1873 bis 1937 ausgewählten Tagebucheinträge umfassen etwa 257 Druckseiten, davon entfallen 101 Seiten auf den hier relevanten Zeitraum von Herbst 1918 bis zum Ende des Jahres 1934. Beim Abdruck wurde etwa auch die Datierweise der Einträge vereinheitlicht, was diesen einiges von ihrer Vielfalt nimmt.39
28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Vgl. z. B. RM Tgb. Hs., 16.11.1918 oder 22.11.1918. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 26, 55. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 26, 54. Vgl. Harriet Anderson, Vorwort, in: RM Tgb. Ed., 7–9. Christa Hämmerle u. Li Gerhalter Hg., unter Mitarbeit von Ingrid Brommer u. Christine Karner, Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938 bis 1936, Köln/Weimar/Wien 2010. Christa Hämmerle, Trost und Erinnerung. Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946), in: Hämmerle/Gerhalter, Jahre, wie Anm. 32, 1–60. Hämmerle/Gerhalter, Jahre, wie Anm. 32, 63f. und 111ff. Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Jahre, wie Anm. 32, z. B. 170 oder 205. Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Jahre, wie Anm. 32, 194f. Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Jahre, wie Anm. 32, 211 und 213. Zur Buchstabengröße vgl. RM Tgb. Hs. 1918 mit RM Tgb. Hs. 1934. In der Edition erfolgt die Datierung mit Tag, ausgeschriebenem Monatsnamen und Jahreszahl. In den handschriftlichen Beispielen aus meinen Transkripten wechselt die Datierungsweise immer wieder, allerdings ist – entgegen der Datierweise der Edition – fast durchwegs der Wochentag des Eintrags mit angegeben, während die Jahreszahl meist fehlt, so z. B. „Donnerstag 3. Oktober. [1918]“, „Mittw. 20. November. [1918]“, „Samstag 23./XI [1929]“, „14./II. 1934“, alle aus RM Tgb. Hs. Zum Datum als strukturgebendes Element des Tagebuchs vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 26, 171–188.
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Von der Edition zum Original
Abbildung 1: Rosa Mayreders Tagebucheintrag vom 19.2.1934 mit einer Zeitungsmeldung zu den ‚Februarkämpfen‘ (Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 264/1)
Die wohl folgenschwersten Eingriffe der Editorin beschreibt Harriet Anderson in ihrem Vorwort so: „Drei Punkte in eckigen Klammern bedeuten eine längere Auslassung; das Fehlen von Aufzeichnungen eines ganzen Tages ist jedoch nicht näher bezeichnet.“40 Diese beiden Entscheidungen haben großen Einfluss auf das Erscheinungsbild der Tagebuchtexte. Die LeserInnen können dadurch einerseits nicht erkennen, ob es sich bei der „längere[n] Auslassung“ um wenige Worte oder ganze Absätze handelt, und vor allem kann mit der Edition die Frage nicht beantwortet werden, welche Inhalte ausgelassen wurden. Beide Punkte bemängelte auch der Germanist Jacques Le Rider in seiner Auseinandersetzung mit Andersons Tagebuchedition.41 Die Entscheidung, ausgelassene Tage nicht zu kennzeichnen, führt andererseits dazu, dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, wie viele Einträge innerhalb eines bestimmten Zeitraums gemacht wurden, was meines Erachtens ein wichtiger Indikator für die Bedeutung 40 41
Anderson, Vorwort, wie Anm. 31, 8. Vgl. Jacques Le Rider, Rosa Mayreder, das Tagebuch einer Feministin, in: ders., Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne, Wien 2002, 187–190, 187.
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und Funktion des Tagebuchs in Rosa Mayreders Leben wäre. Für Oktober und November 1918 liegen beispielsweise 39 handschriftliche Originaleinträge vor, von denen neun publiziert wurden. Im April und Mai 1924 verfasste Rosa Mayreder 27 Tagebucheintragungen, davon enthält die Edition lediglich drei. In den Jahren 1929 und 1934 liegt das Verhältnis zwischen handschriftlichen und publizierten Einträgen bei 34:1 und 49:9. Das alltägliche Schreiben, „[d]as Erlebnis und seine unmittelbar darauf erfolgende Niederschrift“42 und die Tage als strukturierende Einheiten beim Tagebuchschreiben43 erschließen sich in ihrer Bedeutsamkeit für die Schreiberin also nur beim Blick in das Original. Die handschriftlichen Tagebücher umfassen allerdings insgesamt ungefähr 4.000 Seiten,44 sodass ihre vollständige Edition tatsächlich schwer möglich ist. Harriet Anderson hat sich 1984 als erste Wissenschaftlerin mit dieser Vielzahl von Seiten auseinandergesetzt. 45 Sich der Fülle des Materials zu stellen, überhaupt eine Auswahl zu treffen und die zuvor unentdeckten Tagebücher einer österreichischen Protagonistin der Ersten Frauenbewegung zu veröffentlichen, ist bei aller Editionskritik als wichtige Leistung anzuerkennen. Eine Rezensentin hob im Jahr 1990 folgende Qualitäten der Edition hervor: „In addition to the insightful introduction the volume is carefully edited; Anderson includes over 200 notes on people, events, works, organizations, and archaic terms. […] This volume would enhance any library.“46 Durch die Edition ist also eine Auswahl aus den Tagebuchtexten von Rosa Mayreder seit über 25 Jahren der Forschung auf einfache Weise zugänglich.47
Inhaltliche Verschiebungen zwischen Edition und Handschrift
Trotz der Zugriffsmöglichkeit auf die Edition kann nur das Original Auskunft darüber geben, welche Funktionen das Tagebuchschreiben für Rosa Mayreder jeweils hatte. Dafür ist 42
43 44 45 46 47
Manuela Hager, Selbstzeugnisse von Frauen in Tagebüchern an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Marie Bashkirtseff, Marie Lenéru und Matilde Serao, in: Heide Dienst u. Edith Saurer Hg., „Das Weib existiert nicht für sich“. Geschlechterbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft, Wien 1990, 210–229, 224. Vgl. Dusini, Tagebuch, wie Anm. 26, 9. Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 13. Vgl. Anderson, Vorwort, wie Anm. 31, 7. Jacqueline Vansant, Rosa Mayreder Tagebücher 1873–1937 [Rezension], in: Modern Austrian Literature, 23, 1 (1990), 129–130, 129f. Mit dem editierten Tagebuch gearbeitet haben z. B. Sigrid Ingeborg Bachler, Rosa Mayreder – eine exemplarische Antizipation, Dissertation, Universität Frankfurt 1994; Ute Berghammer-Stadlmann, Ist das Glück weiblich? Glückskonzeptionen in weiblichen Lebensentwürfen am Beispiel ausgewählter autobiographischer Texte Marie von Ebner-Eschenbachs und Rosa Mayreders, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Salzburg 2009; Le Rider, Mayreder, wie Anm. 41; Barbara Peschke, Geschlecht – Subjekt – Sexualität. Rosa Mayreders Radikalität, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien 2008.
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Von der Edition zum Original
auch eine Bestimmung von Inhaltshäufigkeiten notwendig. Diese können im editierten Tagebuch nur auf Basis der Versicherung von Anderson erschlossen werden, die betont, „eine repräsentative Auswahl“48 getroffen zu haben. Im Vergleich mit der Themenvielfalt49 in den Originalaufzeichnungen50 geben die publizierten Einträge Mayreders ein von der Herausgeberin Anderson zusammengestelltes Bild mit Schwerpunkt auf die biographischen Stationen einer Vertreterin der Ersten Frauenbewegung. Für die Zwischenkriegszeit bedeutet dies in der Edition vor allem eine Häufung von Aufzeichnungen über Mayreders Engagement in der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) und die internen Konflikte in deren österreichischem Zweig,51 wie unter anderem in folgender editierter Passage deutlich wird: „Sitzung der Friedensliga. Was ich kommen sah, geschieht – Frau Kulka weigert sich, weiter mitzuarbeiten, wenn ihr mit Frau Misar und Beer nicht eine eigene Gruppe zu bilden erlaubt wird. Die angeführten sachlichen Gründe entpuppen sich im Lauf der Debatte als persön liche Empfindlichkeit und Verstimmung über das eigenmächtige Vorgehen der Frau Hertzka. Meine Vermittlungsversuche bleiben natürlich fruchtlos wie meine Mahnung, daß ohne gegenseitiges Wohlwollen keine gemeinsame Arbeit möglich ist.“ (RM Tgb. Ed., 4.11.1919)52
So wie in diesem Zitat die Gefühlslage der Mitstreiterinnen gegenüber den politischen Inhalten im Vordergrund steht, unterstützt die Edition als Ganzes die Vorstellung von einem
48 49 50
51
52
Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 13. Die Begriffe „Thema“ und „Inhalt“ werden hier synonym verwendet. Die zur Analyse der Inhalte der beiden Tagebuchversionen in meiner Diplomarbeit herangezogenen Kategorien sind Alltag, Arbeit, Beziehung/Ehe, Familie, Freundschaft, eigene Gefühle, Gesundheit, Haushalt, Kultur, Politik, Religion, Selbstbild, Tagebuchschreiben, Tod und Wetter. Vgl. Semanek, Politik, wie Anm. 3, 93–99 und 109–114. Vgl. z. B. RM Tgb. Ed., 27.6.1921, 14.–16.11.1922, 28.11.1923, 10.12.1923. Zur Geschichte der IFFF vgl. Anne Ley, Geschichte der Deutschen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, in: Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit/IFFF, Deutsche Sektion: Über uns, Berlin 2011, vgl. www.wilpf.de/ueber-uns/geschichte/index.html, Zugriff: 1.6.2015, 16 Absätze. Die Hintergründe des Konflikts lassen sich aus der Tagebuchedition nicht ersehen. Leopoldine Kulka, Olga Misař, Elsa Beer-Angerer und Yella Hertzka, alle etwa 15 Jahre jünger als Rosa Mayreder, waren Aktivistinnen der österreichischen Frauenfriedensbewegung. Vgl. Anderson, Anmerkungen, wie Anm. 17, 309; Lydia Jammernegg, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, österreichischer Zweig, in: Frauen in Bewegung 1918–1938. Biographien, Vereinsprofile, Dokumente. Ein Projekt der Österreichischen Nationalbibliothek in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte, Wien 2010, vgl. www. fraueninbewegung.onb.ac.at, Zugriff: 1.6.2015, 4 Absätze. Die Biographien von Yella Hertzka und Olga Misař werden derzeit u. a. von Corinna Oesch und Brigitte Rath erforscht, vgl. dazu Corinna Oesch, Yella Hertzka (1873–1948). Vernetzungen und Handlungsräume in der österreichischen und internationalen Frauenbewegung, Innsbruck/Wien/Bozen 2014; dies., Transnationale Handlungsräume und Vernetzungen, in: Linda Erker, Alexander Salzmann, Lucille Dreidemy u. Klaudija Sabo Hg., Update! Perspektiven der Zeitgeschichte. Zeitgeschichtetage 2010, Innsbruck/Wien/Bozen 2012, 509–514; Brigitte Rath, Olga Misař oder: Die Vielfalt der Grenzüberschreitungen, in: Ariadne, 57 (2010), 44–47.
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Frauentagebuch als Ort der Selbsterforschung53 und des Ausdrucks von eigenen Gefühlen.54 Dies spielte für die schreibende Rosa Mayreder sicher eine Rolle, wie auch die folgenden beiden Zitate von 1919 und 1922 zeigen: „Bin ich noch ich? Ich lebe in der sonderbaren Vorstellung, daß ich wie ein abgeschiedener Geist nur als Zuschauer mein eigenes Leben mitmache.“ (RM Tgb. Ed., 28.7.1919) „Ich hätte erwartet, nach Vollendung dieser großen Arbeit, die so viele Jahre auf mir lastete, ein Gefühl der Befreiung und Befriedigung müßte das Vorherrschende sein. Keine Spur! Das Vorherrschende ist Melancholie und ein Gefühl unendlicher Einsamkeit.“ (RM Tgb. Ed., 13.7.1922)
Die hier erwähnte „große Arbeit“ war das Manuskript zur zweiten Essaysammlung „Geschlecht und Kultur“.55 Somit stellen diese Zitate die vier am häufigsten in der Edition vertretenen Themen vor: Alltag, Arbeit, Gefühle und Politik.56 In der Handschrift jedoch schwankt die Gewichtung der Themen je nach Zeitpunkt des Tagebuchschreibens stark. Im Oktober und November 1918 etwa dominiert das Thema Politik – angesichts des damaligen Umbruchs wenig erstaunlich; es erscheint mehr als doppelt so oft wie die zweitgereihte Kategorie Alltag. Arbeit und Gefühle spielen in dieser Zeit eine untergeordnete Rolle, Freundschaften hingegen sind ein stärker präsentes Thema. Ein völlig anderes Bild zeigt sich im Frühling 1924, in dem Alltag das häufigste Thema ist. In den für Herbst 1929 untersuchten Einträgen des Originals bietet sich eine ähnliche thematische Verteilung wie 1924 mit einem etwas größeren Anteil an Freundschaftsbezügen. Und auch im Februar und März 1934 zählt Freundschaft zu den vier häufigsten Themenkategorien, zusammen mit Alltag, Arbeit und Politik. Gefühle erscheinen demnach in allen ausgewerteten Originaltextstellen nicht unter den vier häufigsten Themen. Außerdem lässt sich bilanzieren, dass die Auswahl der Edition besonders beim Thema Gefühle den Eindruck von Intensität, der bei den LeserInnen entsteht, stark verschärft. Von Mai 1924 ist zum Beispiel folgender Eintrag über einen Tiefpunkt in der ehelichen Beziehung zwischen Rosa und Karl Mayreder (genannt Lino) abgedruckt: „Es gehört zu den bittersten Erlebnissen in der Gemeinschaft zweier Menschen, wenn es sich zeigt, daß Unfreundlichkeit, mürrisches Wesen, Kälte, ja Grobheit mehr Eindruck macht als Güte und Liebe. Abschiedsstimmung gegenüber allen Lebenshoffnungen. Und trotzdem verwandelt sich alles in Motive für Anda Renata!“57 (RM Tgb. Ed., 7.5.1924) 53 54 55 56 57
Vgl. Gustav René Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie, Wiesbaden 19863, 347. Vgl. Nicole Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof u. Susanne Rohr Hg., Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, 39–60, 47. Rosa Mayreder, Geschlecht und Kultur. Essays, Jena/Leipzig 1923. Zur Definition von Politik siehe den folgenden Abschnitt in diesem Aufsatz. „Anda Renata“ war ein von Mayreder verfasstes Drama, veröffentlicht 1934.
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Der unmittelbar am darauffolgenden Tag geschriebene versöhnliche Eintrag wurde allerdings in der Edition ausgelassen: „Die Entfremdung und Abneigung bezieht sich auf Lino’s kranke Person – jedes Hervorbrechen seines wahren Wesens stellt sofort unser Verhältnis wieder her.“ (RM Tgb. Hs., 8.5.1924) Die weiter vorne für die formalen Aspekte festgestellte chronologische Geformtheit des Tagebuchtextes ist also auch bei der Analyse der Tagebuchinhalte von Bedeutung. Einerseits ziehen sich einzelne Themen über mehrere Tage, andererseits sorgt der Tag als strukturierende Einheit für den Zusammenfall und die enge Verflechtung von verschiedenen Themen in einem Eintrag. Dies wird noch deutlicher, wenn der Fokus auf den Inhalt Politik gerichtet wird.
Politik als Analysekategorie
Am 13. Oktober 1918 notierte Rosa Mayreder nach einem Streit mit dem bereits erwähnten Freund Rudolf Goldscheid: „Ich brachte bei Goldscheid zwei ‚thatsächliche Berichtigungen‘ ein, die das Einvernehmen wiederherstellten. Die eine bezog sich auf seine Bemerkung, daß ich das gemeinsame Vorgehen der Sozialdemokraten mit den anderen deutschen Parteien billige – das stellte ich dahin richtig, daß ich es weder billige, noch verwerfe, weil ich mir in Dingen der praktischen Politik überhaupt kein Urteil erlauben dürfe; die zweite bezog sich auf seine Bemerkung bezüglich der nationalen Zwistigkeiten, daß ich mich einfach in’s Kloster zurückziehe und den Patienten seinem Schicksal überlasse, während er, Goldscheid, kein Mittel zu seiner Heilung unversucht lassen wolle. Ich hatte nämlich behauptet, daß der Welt nicht zu helfen sei, solange der Nationalismus in ihr herrsche. Deßhalb berichtigte ich, ich wolle den Patienten durchaus nicht seinem Schicksal überlassen; aber wenn jemand am Delirium tremens leide, so müsse der Arzt ihm kategorisch den Alkohol verbieten. Denn da gebe es xxx {kein anderes} xx xxxx Heilmittel; und alle Brausepulver, kalten Umschläge, heißen Fußbäder, Xxx{Luftveränderungen} und {dgl.}xxx {seien} ganz vergeblich.“ (RM Tgb. Hs., 13.10.1918)58
In diesem Eintrag spiegelt sich die sowohl für Mayreder und ihren Diskussionspartner Goldscheid als auch für die erwähnten politischen Parteien verwirrende, schwierig zu beurteilende Situation in den letzten Kriegswochen wider.59 Danach wird der Versuch unternommen, „der Welt“ zur Heilung zu verhelfen – unter Rückgriff auf medizinisches Wissen in einem längeren metaphorischen Vergleich mit der Kur einer alkoholabhängigen Person. 58 59
Transkriptzeichen: xxx = unlesbares Wort, die Zahl der x entspricht der ungefähren Wortlänge; abc = Streichungen von Rosa Mayreder; {abc} = Einfügungen von Rosa Mayreder. Vgl. etwa Robert Kriechbaumer, „Es war […] eine Revolution – und zugleich auch nicht.“ Die „österreichische Revolution“ 1918–1920, in: ders., Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien/Köln/Weimar 2001, 197–213.
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Mit Hilfe dieser ihr offenbar vertrauten Metapher deutet die Tagebuchschreiberin die gegenwärtige politische Lage, sie bedient sich also „discursive practices available in the socio- cultural domain“.60 Um solche diskursiven Praktiken und damit die Einbettung von Mayreders Tagebuchtexten in zeitgenössische politische Kontexte untersuchen zu können, entlehne ich eine Methodik aus einem sprachwissenschaftlichen Ansatz der Diskursanalyse. Diese soll eine Detailbetrachtung einzelner Einträge ermöglichen. Außerdem soll getestet werden, ob jener Ansatz, der für öffentliche Textsorten wie Reden oder Zeitungsartikel entwickelt wurde, für interdisziplinäres Arbeiten mit historischen Selbstzeugnissen geeignet ist. Der gewählte „Wiener Ansatz“ der Kritischen Diskursanalyse, wie er von Ruth Wodak und ihren KollegInnen seit den späten 1980er Jahren entwickelt und betrieben wird,61 nimmt eine wechselseitige Bedingtheit von Diskurs und Gesellschaft als gegeben an.62 Als konstitutive Elemente des Diskurses werden Multiperspektivität, Argumentativität und eine Verbindung zu einem Makro-Thema gesehen.63 Martin Reisigl weist zudem darauf hin, dass Diskurse „wenigstens teilweise öffentlich geführt“64 werden. Weiters sind Diskurse ihm zufolge keine „eigenständige[n] Instanzen und Großakteure“, sondern „immer an sprechende oder schreibende soziale AkteurInnen gebunden, die für ihr sprachliches Handeln Verantwortung tragen“.65 Das Analysemodell der Wiener Kritischen Diskursanalyse besteht aus „drei ineinander verwobenen Analysedimensionen“:66 aus Inhalten, Strategien und Realisierungsformen. Als Inhalte werden „Sub-Themen“ des in der Diskursdefinition erwähnten Makro-Themas bezeichnet.67 Strategien sind „eine Art mehr oder weniger automatisierter oder aber bewußter […], mehr oder weniger elaborierter Handlungspläne“.68 Beim Tagebuchschreiben wäre eine Strategie etwa das Bemühen um Speicherung von Erlebnissen,69 wie es sich auch im zitierten ‚Gesprächsprotokoll‘ der Versöhnung Rosa Mayreders mit Rudolf Goldscheid zeigt. Wich60 61
62 63 64 65 66 67 68 69
Felicity A. Nussbaum, Toward Conceptualizing Diary, in: Trev Lynn Broughton Hg., Autobiography. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies, Bd. 4, London/New York 2007, 3–13, 11. Vgl. Martin Reisigl, Zur Medienforschung der Kritischen Diskursanalyse, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, 9, 2 (2009): Schnitte durch das Hier und Jetzt. Qualitative Methoden medienwissenschaftlicher Gegenwartsforschung, hg. von Stephan Habscheid u. Bernhard Nett, 43–78, 59f. Vgl. Ruth Wodak, Rudolf de Cillia, Martin Reisigl, Karin Liebhart, Klaus Hofstätter u. Maria Kargl, Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt a. M. 1998, 42. Vgl. Martin Reisigl u. Ruth Wodak, The Discourse-Historical Approach (DHA), in: Ruth Wodak u. Michael Meyer Hg., Methods of Critical Discourse Analysis, London u. a. 20092, 87–121, 89. Martin Reisigl, Nationale Rhetorik in Fest- und Gedenkreden. Eine diskursanalytische Studie zum „österreichischen Millennium“ in den Jahren 1946 und 1996, Tübingen 2007, 29. Reisigl, Rhetorik, wie Anm. 64, 30. Wodak u. a., Konstruktion, wie Anm. 62, 71. Die drei Dimensionen sind auch beschrieben in: Reisigl/ Wodak, DHA, wie Anm. 63, 93f. Vgl. Wodak u. a., Konstruktion, wie Anm. 62, 71. Wodak u. a., Konstruktion, wie Anm. 62, 75. Vgl. Hocke, Tagebücher, wie Anm. 53, 23.
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tige sprachliche Realisierungsformen – also jene Wörter und Satzteile, die im Rahmen der Wiener Kritischen Diskursanalyse besonders genau untersucht werden – sind etwa Personenbezeichnungen oder Metaphern.70 Auf der Ebene der Inhalte soll, wie eingangs angekündigt, nun Politik die für die folgende Tagebuchanalyse zentrale Kategorie sein. Dabei wird mit einem mehrdimensionalen Begriff von Politik gearbeitet, der gouvernementale Politik, definiert als „Betätigung, die entweder direkt im Rahmen des etablierten Institutionengefüges von Parteien, Parlament und Exekutive oder aber zielgerichtet auf die Beeinflussung dieser Institutionen hin stattfindet“,71 ebenso beinhaltet wie emanzipatorische Politik. Letztere wird „als gesellschaftliches Handeln im Sinne eines emanzipatorischen Engagements zugunsten von Ausgeschlossenen oder Marginalisierten“72 verstanden. Ein ‚erweiterter‘, feministischer Politikbegriff soll aufzeigen, dass auch die Privatsphäre und vor allem die Familie keine herrschaftsfreien, von gesellschaftlichen Normierungen nicht betroffenen Orte sind.73 Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit werden brüchig, sobald die beiden Begriffe in ihrem historischen Kontext als „soziales Konstrukt“74 erkannt werden. Auch die ‚Privatheit‘ des Genres Tagebuch kann sich so schnell als brüchig erweisen. Das Tagebuch wird wohl vor allem dadurch als privat empfunden, dass AutorIn und LeserIn dieselbe Person sind und idealiter niemand sonst die intimen Aufzeichnungen lesen darf.75 Dem gegenüber kann man mit Lynn Z. Bloom argumentieren, dass Personen, die – wie Rosa Mayreder – Schreiben als Beruf haben, nie „off-duty“76 sind, also auch beim Tagebuchschreiben ein potentielles Publikum im Kopf haben.77 Bei Rosa Mayreders Tagebüchern ist belegt, dass sie ihren Ehemann immer wieder Teile ihrer Aufzeichnungen abschreiben ließ – vielleicht als Beschäftigungstherapie während seiner Krankheit.78 Sie deutete im Tagebuch auch an, an eine Publikation desselben zu denken.79 Beides versetzt die Grenzen der Privatheit ihres Tagebuchs; aber auch inhaltlich sind 70 71 72 73 74 75
76
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Vgl. Wodak u. a., Konstruktion, wie Anm. 62, 94f. Sabine Lang, Politik – Öffentlichkeit – Privatheit, in: Sieglinde K. Rosenberger u. Birgit Sauer Hg., Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven, Wien 2004, 65–81, 69. Lang, Politik, wie Anm. 71, 69. Vgl. Lang, Politik, wie Anm. 71, 71f. Leonore Davidoff, „Alte Hüte“. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 4, 2 (1993), 7–36, 32. Hans Rudolf Picard, Das Tagebuch als Gattung zwischen Intimität und Öffentlichkeit, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 223 (1986), 17–25, 18. Valerie Raoul beschreibt dies als „triple self-projection, performing more-or-less simultaneously all three functions: author, character and reader of the text“, vgl. Valerie Raoul, Women and Diaries: Gender and Genre, in: Mosaic. A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature, 22, 3 (1989), 57–65, 60. Lynn Z. Bloom, „I Write for Myself and Strangers“. Private Diaries as Public Documents, in: Suzanne L. Bunkers u. Cynthia Huff Hg., Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries, Amherst 1996, 25. Vgl. Bloom, „I Write“, wie Anm. 76, 25–33. Vgl. Anderson, Einleitung, wie Anm. 4, 13. Mayreder schrieb z. B. bereits 1914, dass „die Vorstellung hinter diesen Aufzeichnungen steht, daß
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Öffentlichkeit und Privatheit in ihrem Tagebuch verschränkt.80 Ein Beispieleintrag aus dem editierten Tagebuch von Rosa Mayreder, in dem ihr Alltag und ihre Gesundheitssituation mit einem öffentlichen politischen Ereignis von 1933 verbunden werden, lautet: „Heute früh ist mir der dritte untere Vorderzahn ausgefallen. Jetzt kommt der Zahnarzt an die Reihe. Adolf Hitler Reichskanzler.“ (RM Tgb. Ed., 2.2.1933) In einem längeren Eintrag, der in den Herbst 1918 führt und der nur teilweise editiert ist, lassen sich mehrere Dimensionen von Politik identifizieren: „Montg [sic] 28. Okt. Anbot von Sonderverhandlungen in der {durch} Andrassy-Lammasch81 an Wilson82 gerichteten Note. Lino zieht sich immer noch von allem Umgang zurück; da ihn aber die politischen Umwälzungen auf das Lebhafteste beschäftigen, führt er mit mir politische Gespräche. Namentlich an seinen schlechten Tagen, wenn er mit fremder Stimme und schwerfälliger Aussprache seine Meinungen {äußert}, die durch das krankhafte Bedürfniß der Negation Xxxxx gefärbt sind, äußert, stellen {bilden} diese Gespräche eine solche Belastung meiner Geduld, daß sie gewöhnlich mit einem Verzweiflungsausbruch enden. [Hier erst beginnt der editierte Text, Anm. der Autorin] Meine Isolierung wie meine Stimmung sind auf einem Tiefpunkt angelangt, der {wo} jede geistige Arbeit unmöglich macht {wird}. Wer die deutschösterreichische Bevölkerung in ihrer politischen Unfähigkeit und Urteilslosigkeit, ja noch mehr, in ihrer Degeneration kennt, kann nicht hoffen, daß ihr durch irgend welche äußeren Umwälzungen aufzuhelfen ist; sie wird immer ein ohnmächtiges, mißachtetes, an die Wand gedrücktes Überbleibsel oder Anhängsel sein. Gestern ging ich {abends} durch die Kärntnerstraße, da sah ich eine große Menschenansammlung. Endlich! Stehen die Leute vor einem Maueranschlag, bereiten sie sich zu einer öffentlichen Kundgebung wie in einer anderen Städten –? Aber was {sie so interessierte,} war bloß ein großes Schaufenster, hinter dem eben eine Wachspuppe mit einer neuen Toilette bekleidet wurde.“ (RM Tgb. Hs. und Ed., 28.10.1918)
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einst, wenn ich nicht mehr bin, unbekannte Herzen wissen und teilen werden, was ich gelitten habe“ (RM Tgb. Ed., 13.6.1914). Diese Verschränkung gilt als Charakteristikum des Genres Tagebuch, vgl. Christa Hämmerle, Diaries, in: Miriam Dobson u. Benjamin Ziemann Hg., Reading Primary Sources. The Interpretation of Texts from Nineteenth- and Twentieth-Century History, London 2008, 141–158, 150. Heinrich Lammasch (1853–1920), Jurist und Völkerrechtler, war ab 25.10.1918 Regierungschef; Julius Andrassy (1860–1929) war seit 24.10.1918 Außenminister von Österreich-Ungarn. Sie boten am 28.10.1918 der Entente einen Sonderfrieden an. Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815– 1915, bearb. von Eva Obermayer-Marnach, Bd. I, Köln/Graz 1957, s. v. Andrassy Julius (d. Jüngere), 21 und Bd. IV, Wien/Köln/Graz 1969, s. v. Lammasch Heinrich, 415f. Thomas Woodrow Wilson (1856–1924) war der 28. Präsident der USA zur Zeit des Ersten Weltkrieges und der Friedensverhandlungen danach (Amtszeit 1913–1921). Vgl. Das große Personen-Lexikon zur Weltgeschichte in Farbe, Bd. 2, Dortmund 1983, s. v. Wilson, Thomas Woodrow, 1432.
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Abbildung 2: Auf der linken Seite der Schluss von Rosa Mayreders Tagebucheintrag vom 28.10.1918, rechts der Beginn des Eintrags vom 31.10.1918 (Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 264/1)
Nach einer Notiz eines politischen Ereignisses werden im handschriftlichen Eintrag zunächst die Diskussionen zur politischen Lage mit dem Ehemann kommentiert und die eigenen Gefühle werden damit in Verbindung gebracht. Im daraufhin niedergeschriebenen und auch editierten Erlebnis beim Spaziergang durch die Kärntner Straße wird die Erwartung Mayreders an die Menschen auf der Straße, politisches Engagement im emanzipatorischen Sinne zu zeigen, enttäuscht. Im Tagebuchtext erscheinen aus dieser Enttäuschung heraus stark wertende Worte: „Unfähigkeit“, „Urteilslosigkeit“, „Degeneration“. Die Umbruchsituation in Österreich 1918 als eine Zeit der Entscheidungen darüber, wer an gouvernementaler Politik, das heißt an staatlicher Macht teilhaben wird, lässt sich in den handschriftlichen Tagebucheinträgen von Oktober und November an einer Reihe von Alltagsgesprächen wie hier mit dem Ehemann und an Diskussionen in Mayreders FreundInnenkreis nachlesen.83 An diesem 83
Vgl. z. B. RM Tgb. Hs., 7.10., 11.10., 13.10. und 22.10.1918. Die in diesem Eintrag ebenfalls enthaltene pessimistische Einschätzung der Situation Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg kann man auch in Mayreders Briefen an ihre beiden Freundinnen aus der schwedischen Frauenbewegung wiederfinden, nämlich in den Schreiben vom 21.12.1918, 8.1.1919 und 5.2.1919, vgl. Mayreder, Freundinnen, wie Anm. 18, 42–49.
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Beispiel aber wird bereits nachvollziehbar, wie die editorischen Eingriffe die inhaltliche Komplexität, die Eintragslänge und den vor allem an den gestrichenen Wörtern deutlich werdenden Eindruck vom Schreiben als Prozess reduzieren bzw. verschwinden lassen.
Feinanalyse eines Eintrags zur „politischen Erhebung“ 1918
Eine Synthese der drei Analyseebenen der Wiener Kritischen Diskursanalyse in einem einzelnen handschriftlichen Tagebucheintrag soll nun eine detaillierte Analyse zu den verschiedenen Dimensionen von Politik in Mayreders Tagebuch ermöglichen: „Donnerstag, 31. Oktober Das sterbende Österreich und der sterbende Matschakerhof fallen in den selben Zeitpunkt. Gestern verbrachte ich den ganzen Tag im Matsch, um unseren Möbeltransport zu bewerkstelligen. Indessen tagte die Nationalversammlung im Landhaus, um die Regierung für Deutschösterreich zu übernehmen. Abends gab Rudolf Mayreder den nächsten alten Freunden des Hauses ein Abschiedssouper im Grillparzerzimmer; als ich über den Ring kam, hörte ich das Johlen und Pfeifen einer großen Menschenmenge. Im Hotel Sacher wurden eben die Fensterscheiben eingeschlagen; der Matschakerhof war verschlossen, ich musste durch das verdunkelte Restaurant hineinschlüpfen. Aber xxx in diesem bürgerlichen Kreise fand die politische Erhebung keinen Widerhall. Man erzählte, daß den Offizieren die schwarzgelben Kokarden von den Mützen gerissen würden – die nächste Frage war nur: wer wird uns schützen, wenn das Militär nichts mehr gilt? Meine Antwort: die organisierte Arbeiterschaft, wurde mit skeptischem Schweigen aufgenommen. Später kam Mitzi Ohmann, die mit einem jungen Mann mitmarschiert war, und stellte die ganze Straßendemonstration als eine formlose ‚Hetz‘ dar. In der That gab es außer zerschlagenen Fensterscheiben nur ein verwundetes Pferd.“ (RM Tgb. Hs., 31.10.1918)
Betrachtet man den Eintrag aufgeschlüsselt nach den drei Ebenen der Wiener Kritischen Diskursanalyse – Inhalte, Strategien und Realisierungsformen –, so kann man zunächst auf der Ebene der Inhalte die Politik (als Ereignis und als Überzeugungen) und die Familie – der „Matschakerhof“ war das Elternhaus von Karl Mayreder – finden. Über den ganzen Eintrag hinweg wurde das politische Ereignis als Erzählung gestaltet und mit dem familiären Ereignis verbunden. Wenn dieser Eintrag außerdem mit anderen Texten verglichen wird, die Teil eines zeitgenössischen Diskurses über Politik (in diesem Fall über die politischen Ereignisse rund um die Gründung der Ersten Republik) sind, finden sich gemeinsame inhaltliche Elemente wie etwa die Zerstörung von Distinktionen und Uniformen der Offiziere als Symbol für das Ende der Habsburgermonarchie. Julius Deutsch berichtete zum Beispiel in seinen
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Erinnerungen über Männer, die „die schwarzgelben Rosetten von ihren Kappen“84 rissen. Über die Nationalversammlung und die „Straßendemonstration“ am 30. Oktober, die Rosa Mayreder beschreibt und die sie ja am 28. Oktober noch vermisst hat, wurde in der „Neuen Freien Presse“ – für die sie gelegentlich Artikel schrieb85 – sogar an zwei Stellen innerhalb eines längeren Artikels in denselben bzw. sehr ähnlichen Realisierungsformen berichtet: „Unter dem Eindruck eines stürmisch bewegten Straßenbildes hat die deutsche Nationalversammlung heute nachmittag ihre zweite Sitzung abgehalten.“86 „Unter dem Eindruck der Straßendemonstrationen wurde der restliche Teil der Tagesordnung in einem rascheren Tempo durchberaten.“87 Die Parallelen in der Wortwahl legen den Schluss nahe, dass Mayreder den Zeitungsartikel gelesen hat. Auf der Ebene der Strategien zeigt sich neben einer Abgrenzung von Rosa Mayreder zu „diesem bürgerlichen Kreise“88 vor allem das Bemühen um Speicherung der Ereignisse, das an der Formulierung „fallen in den selben Zeitpunkt“ zu erkennen ist. Bei den Personenbezeichnungen auf der Ebene der Realisierungsformen ist zunächst die Verwendung von „Ich“ zu erwähnen. Im ganzen Eintrag wird „Ich“ als ein einsames Subjekt konstruiert – im Gegensatz zu „einer großen Menschenmenge“, „diesem bürgerlichen Kreise“, „man“ und „uns“. Die einzelne Person Mitzi Ohmann, vermutlich eine Bekannte Mayreders, hat wiederum einen vollständigen Namen und wird nach einer Abgrenzung über das distanziertere „stellte […] dar“ durch die Worte „in der That“ schließlich doch als einigermaßen verlässliche Augenzeugin eingestuft. Bei Rudolf Mayreder, Rosa Mayreders Schwager, ist die Nennung des vollständigen Namens – aufgrund des nahen Verwandtschaftsverhältnisses – dagegen eher als Mittel der Distanzierung zu sehen. Die zitierte Gruppenbezeichnung „die organisierte Arbeiterschaft“ in Mayreders Eintrag vom 31. Oktober 1918 lässt sich auf ihre Verbreitung in anderen zeitgenössischen Texten hin untersuchen. In einer linguistischen Studie wurden zentrale Wörter in Parteiprogrammen der Zwischenkriegszeit erfasst.89 In den sozialdemokratischen Programmen lautete die Akteursbezeichnung eher „Arbeiter“ oder „Arbeiterklasse“,90 während bei den Christlichsozialen im Programm der „christlichen Arbeiter“ von 1923 neben anderen Formulierungen auch eben jene „Arbeiterschaft“ verwendet wurde.91 Rosa Mayreder solidarisierte sich in ih84 85 86 87 88 89
90 91
Julius Deutsch, Aus Österreichs Revolution. Militärpolitische Erinnerungen, Wien 1921, 12, zit. nach: Kriechbaumer, Revolution, wie Anm. 59, 201. Berichtet z. B. in RM Tgb. Hs., 13.5.1924. Neue Freie Presse, 31.10.1918, 2. Neue Freie Presse, 31.10.1918, 2. Die Abgrenzung zur Familie des Ehemanns, zum „Matschakerhof“, findet sich auch in anderen Tagebucheinträgen, vgl. z. B. RM Tgb. Ed., 28.10.1922. Andreas Gruber u. Ewald Hiebl, FahnenWörter. Eine Analyse zentraler Begriffe in österreichischen Parteiprogrammen der Zwischenkriegszeit, in: Helmut Bartenstein u. a. Hg., Politische Betrachtungen einer Welt von Gestern. Öffentliche Sprache in der Zwischenkriegszeit, Stuttgart 1995, 361–427. Gruber/Hiebl, FahnenWörter, wie Anm. 89, 386. Vgl. Gruber/Hiebl, FahnenWörter, wie Anm. 89, 403.
Brigitte Semanek
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ren Tagebuchtexten tendenziell mit den sozialdemokratischen ArbeiterInnen, verwendete dabei aber nicht deren Selbstbezeichnung. Die von Rosa Mayreder verwendete Metapher der Personifikation eines Landes, „Österreich“, und jene des Hauses „Matschakerhof“, die beide als „sterbend“ charakterisiert werden, ist beachtenswert. Hier wird der Verkauf eines alten Familienwohnsitzes mit dem Ende der Habsburgermonarchie gleichgesetzt, die neu entstehende Republik jedoch nicht positiv erwähnt. Diese Haltung entspricht dem ‚Mainstream‘ im österreichischen Diskurs über Politik zu jener Zeit der kriegsbedingten Instabilität, die mit wenig Vertrauen in neue Machtformen einherging.92 Sie lässt sich aber auch mit Mayreders Alter verbinden; als bald 60-jährige Frau hatte sie an den kommenden Jahrzehnten vielleicht nicht mehr so viel Interesse. Zur Satzlänge lässt sich feststellen, dass im Mittelteil des Eintrags fast durchgehend komplexe Satzgefüge vorhanden sind, die von den einfachen Sätzen am Beginn und Ende des Eintrags gerahmt werden und in deren Mitte die syntaktisch einfache, inhaltlich jedoch zentrale Äußerung „Aber in diesem bürgerlichen Kreise fand die politische Erhebung keinen Widerhall“ steht. In diesem Satz tritt auch das Wort „politisch“ das einzige Mal explizit auf, während dennoch im gesamten Eintrag – wie hier gezeigt wurde – Politisches und Familiäres, persönlich Erlebtes und in der Öffentlichkeit verhandelte diskursive Elemente miteinander verbunden werden. Hinzuzufügen wäre noch, dass es eine Fortsetzung des Eintrags mit nochmaliger Datierung gibt. Darin wird ein anderer Aspekt des politischen Umbruchs behandelt, der nicht mit Ansichten der Familie, sondern mit jener des schon genannten Freundes Goldscheid verknüpft ist: „31. Oktober abends. Bei Goldscheid, der über den Lauf der Dinge sehr beglückt ist. Er erzählt, daß er durch einen Mittelsmann den Grafen Karolyi, der ungarischer Ministerpräsident geworden ist, von seiner Absicht, die Lebensmittelzufuhr nach Österreich zu sperren, abgebracht hat.“ (RM Tgb. Hs., Fortsetzung 31.10.1918)
Politik in mehreren Dimensionen
Aus den handschriftlichen Tagebuchausschnitten vom Herbst 1918 erschließt sich Rosa Mayreders persönliches Verständnis von Politik also in mehreren Dimensionen, die mit Hilfe einer in der Politikwissenschaft üblichen Dreiteilung des Politikbegriffs nach den englischen Termini „polity“, „policy“ und „politics“ beschrieben werden können.93 Mayreder unterscheidet einerseits Politik im Sinne von Tagesgeschäft und Beruf, also im Sinne von in Form von Institutionen („polity“) betriebenen politischen Aufgaben („policy“). Diese 92
93
Vgl. z. B. Walter Goldinger, Geschichte der Republik Österreich, Wien 1962, 21; Karl R. Stadler, Die Gründung der Republik, in: Erika Weinzierl u. Kurt Skalnik Hg., Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik, Bd. 1, Graz/Wien/Köln 1983, 55–84, 56. Die Dreiteilung wird hier nach einer von Martin Reisigl erstellten Tabelle wiedergegeben. Vgl. Reisigl, Rhetorik, wie Anm. 64, 32.
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Politik „steht [ihr] doch ganz fern“ (RM Tgb. Hs. und Ed., 7.10.1918). Andererseits ist Mayreder häufig mit einer theoretischen Beschäftigung mit Politik als Prozess („politics“) in Diskussionen und eigenen Überlegungen befasst. Diese ist ihr ein wichtiges Anliegen und beinahe ständiger Bestandteil ihrer Aufzeichnungen von Oktober und November 1918. In Bezug auf einen erweiterten Politikbegriff ist außerdem festzustellen, dass Mayreder ihre aktive politische Tätigkeit in der Frauenbewegung nicht explizit mit den im Tagebuch vorhandenen Argumentationen zur politischen Situation Österreichs zu und nach Kriegsende in Verbindung bringt. Aus geschlechtergeschichtlicher Sicht ist auch interessant, dass die im Tagebuch wiedergegebenen Diskussionen über die politische Lage in der neuen Republik fast ausschließlich mit Männern geführt werden. In einem einzigen Fall gibt es eine Äußerung einer weiblichen Bekannten, Margarete Hilferding,94 die Mayreder allerdings nicht als Ausgangspunkt für einen Argumentationsaustausch, sondern eher zur Bestätigung ihrer eigenen Wahrnehmung dient. „Obwohl sie als Sozialdemokratin alle Ursache hätte, über den Lauf der Dinge erfreut zu sein, gestand sie doch, daß sie es zu keiner freudigen Stimmung bringen könne. Also muß wohl die allgemeine Depression eine Nachwirkung der vier grauenvollen Kriegsjahre sein.“ (RM Tgb. Hs., 22.11.1918) In kürzeren, eher berichtenden Einträgen erscheint Mayreder selbst aber durchaus als Akteurin, wenn auch nicht auf der Oberfläche der sprachlichen Realisierungsformen, auf der dann weder ein „ich“ noch ein Tätigkeitsverb vorkommen. Im folgenden Eintrag debattiert sie mit den vorne erwähnten Kolleginnen der „Friedensliga“: „Besprechung mit Frau Hertzka und Kulka über die Frage des Anschlusses an eine politische Partei. Das Resultat ist nach Abwägung aller Möglichkeiten immer wieder: Unabhängigbleiben.“ (RM Tgb. Hs., 20.11.1918) Wenige Tage zuvor, am 15. November 1918, war das Wahlrecht für Frauen eingeführt worden, und es bestand nun auch für Frauen die Möglichkeit, Abgeordnete zu werden.95 In einem zugehörigen Tagebucheintrag wird die Frage nach der Akteurinnenschaft explizit gemacht. Gleichzeitig gehört die Eintragung vom 16. November 1918 zu jenen wenigen vom Herbst 1918, die Harriet Anderson für die Edition auswählte:
94
95
Margarete Hilferding, geb. Hönigsberg (1871–1942), Ärztin und Psychiaterin, von 1904 bis 1922 verheiratet mit dem Austromarxisten Rudolf Hilferding, 1942 ermordet auf einem Transport nach Treblinka, vgl. Frauen in Bewegung. Diskurse und Dokumente der österreichischen historischen Frauenbewegung 1848–1918. Ein Projekt von „Ariadne“ an der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien 2009, vgl. www.onb.ac.at/ariadne/vfb/bio_hilferding.htm, Zugriff: 1.6.2015, 2 Absätze. Vgl. Birgitta Zaar, Frauen und Politik in Österreich, 1890–1934 – Ziele und Visionen, in: David F. Good, Margarete Grandner u. Mary Jo Maynes Hg., Frauen in Österreich. Beiträge zu ihrer Situation im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 1994, 48–76; Gabriella Hauch, Rights at Last? The First Generation of Female Members of Parliament in Austria, in: Günter Bischof, Anton Pelinka u. Erika Thurner Hg., Women in Austria, New Brunswick, NJ/London 1998, 56–82.
Brigitte Semanek
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„Samstag 16. November. Das Frauenwahlrecht, das mit der Republik vom Himmel geschneit kommt, wird mich wieder dem öffentlichen Leben unvermeidlich in Verbindung setzen. Gestern hatte ich mit Goldscheid eine lange Unterredung darüber, heute vormittags eine Sitzung der Friedenspartei. Die nächste und schwierigste Frage ist der Anschluß an eine politische Partei. Aber an welche? Die bürgerlichen Parteien sind alle unfähig, soweit sie freiheitliche genannt werden können, und sdie sozialdemokratische stellt die unbedingte Unterordnung unter das Parteiprogramm zur als Bedingung. Was für mich vor 25 Jahren die Entscheidung bestimmte, besteht noch unverändert fort. So wünschenswert die wirtschaftliche Befreiung des Proletariats mir erscheint, so wenig kann ich mich mit der Methode des Klassenkampfes befreunden. […] Heute muß die äußere Welt umgeschmiedet werden und die, die das vollbringen sollen, brauchen andere Eigenschaften. Ich sehe das ein. Da jedoch meine eigenen Eigenschaften nicht dazu taugen, bleibt mir nichts übrig, als mich fern zu halten. Das sagte ich auch zu Goldscheid, und er stimmte mit mir darin überein, daß ich absolut keine Eignung für das politische Leben habe.“ (RM Tgb. Hs., 16.11.1918, Auslassung der Autorin BS, vgl. auch RM Tgb. Ed., 16.11.1918)
Aus dem resignierenden „bleibt mir nichts übrig, als mich fern zu halten“ und den 1918 auffallend häufigen Bezügen darauf, dass Mayreder zu politischen Aktivitäten „nicht taugen“ würde, spricht vielleicht der Wunsch, sich nach den frauenbewegten Jahren um 1900 noch einmal in eine politische Führungsposition zu begeben. Mayreder bleibt hier im Tagebuch ambivalent, sie gesteht sich kein „halbwegs durch Kenntnis tatsächlicher Zustände und Vorgänge begründetes Urteil“ (RM Tgb. Hs. und Ed., 7.10.1918) zu und sieht ihre Schriftstellerinnenarbeit als Hindernis: „Und was kann der künstlerische Mensch in einer ausschließlich politischen Welt noch bedeuten?“ (RM Tgb. Hs. und Ed., 15.11.1918) Der sich aus der Analyse aller Tagebucheinträge ergebende wichtigste Hinderungsgrund erscheint im obigen Eintrag zum Frauenwahlrecht als „schwierigste Frage“: Eine „unbedingte Unterordnung“ unter das sozialdemokratische Parteiprogramm steht der Bedeutung entgegen, die Mayreder den individuellen Denk- und Entfaltungsmöglichkeiten eines Menschen beimisst. Zu diesem aus dem Liberalismus stammenden Gedanken96 schrieb sie einen ihrer Aufsätze, „Perspektiven der Individualität“,97 und daraus leitete sie auch ihre prinzipiellen Zweifel an der Demokratie als Staatsform ab, pointiert formuliert am 15. November 1918: „Ich glaube nicht an das ‚Volk‘ als weltordnende Macht, ich glaube nur an große 96
97
Vgl. Alfred Ableitinger, Die historische Entwicklung des Liberalismus in Österreich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Helmut Reinalter u. Harm Klueting Hg., Der deutsche und österreichische Liberalismus. Geschichts- und politikwissenschaftliche Perspektiven im Vergleich, Innsbruck/ Wien/Bozen 2010, 121–147. Rosa Mayreder, Perspektiven der Individualität, in: dies., Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays. Mit einem Nachwort von Eva Geber, Wien 1998, 228–249 [Originalausgabe Jena/Leipzig 1905].
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Persönlichkeiten, Träger eines mächtigen Willens im Dienste hoher Ideen.“ (RM Tgb. Hs. und Ed., 15.11.1918)
Politik im Herbst 1918 in Edition und Handschrift
Sowohl im handschriftlichen Tagebuch als auch in der Edition stehen beim Thema Politik zu Beginn der Zwischenkriegszeit die Zweifel an der neuen Republik und an der politischen Entscheidungsfähigkeit von Kollektiven im Vordergrund. Beide Formen des Tagebuchs zeigen demnach das im österreichischen Diskurs verbreitete Misstrauen gegenüber der Zukunftsträchtigkeit der Republik, und sie zeigen Mayreders Alltagserlebnisse und die philosophische Position des Individualismus, die sie auch in ihren Essays entwickelte. Doch es gibt auch auffallende Unterschiede zwischen Edition und Handschrift, die sich beim Thema Politik in dreierlei Hinsicht auftun. Erstens ist dabei noch einmal auf die formalen Aspekte des Editierens zurückzukommen. Die gedruckten Einträge sind, wie in den Beispielen gezeigt wurde, oft Auszüge aus längeren Aufzeichnungen eines Tages. Daher lassen sich anhand der Edition keine Aussagen über die Stellung unterschiedlicher Themen innerhalb eines Eintrags treffen, was für die Beurteilung der Prominenz eines Themas durchaus interessant wäre. Im Herbst 1918 etwa beginnen 28 der 39 handschriftlichen Einträge mit der Thematisierung von Politik, was ein weiterer Beleg dafür ist, wie wichtig Rosa Mayreder dieses Themenfeld beim Tagebuchschreiben in jenen beiden Monaten war. Zweitens sind die im Original zahlreichen Kurzberichte zur (Nach-)Kriegssituation auch in Deutschland und Europa98 in der Edition kaum wiedergegeben, hingegen wurden fast alle abstrakteren oder selbstreflexiven Stellen zu Mayreders eigener Einstellung zur Politik, die im vorigen Abschnitt besprochen wurde, abgedruckt. Drittens schließlich bestand eine weitere Auswahlstrategie der Herausgeberin des Tagebuchs darin, Einträge zu suchen, die an als zeithistorisch bedeutsam eingestuften Tagen geschrieben wurden: Einträge zur Veröffentlichung des Kaiserlichen Manifests am 18. Oktober 1918, zum Waffenstillstand am 4. November 1918, am Tag der Gründung der Ersten Republik am 12. November 1918 und, wie zitiert, zur Einführung des Frauenwahlrechts. Dies scheint mir eine legitime Auswahlrichtlinie zu sein; dadurch werden allerdings jene Einträge an weniger ‚wichtigen‘ Tagen vernachlässigt, in denen Politik in mehreren Dimensionen mit dem Familien- und Alltagsleben im Tagebuch besonders eng verschränkt ist. Diese Verknüpfungen soll ein letztes Beispiel aus der Originalhandschrift vom Ende des Monats November 1918 nochmals verdeutlichen. Nachrichten aus der Familie folgt darin die Erzählung eines Besuchs beim Notar:
98
Vgl. z. B. RM Tgb. Hs., 12.10.1918, 16.10.1918, 21.10.1918, 25.10.1918.
Brigitte Semanek
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„Mittwoch 27. November. Louise bringt schlechte Nachrichten über Fritz,99 der ganz theilnahmslos und verloren wird [sic]. Bei Winterstein wegen des Ausweises über unser Haus, das als ‚Doppelwohnung‘ zur Verfügung gestellt werden muß. Gesprächsweise fragt er mich, wie mir die neue Ordnung bei uns gefällt; ich finde, in einem Land ohne Gemeinsinn und ohne Ordnungssinn ist die Freiheit eine wüste Sache. Die alte Dummheit, Verlotterung und Gemeinheit sind wir durch die äußere Umwälzung nicht losgeworden – was ist da viel zu hoffen? Er tröstet sich damit, daß wenigstens die alten Machthaber weggefegt und neue Leute an die Spitze getreten sind. Schon im Begriff, wegzugehen, kam ich noch auf das unvermeidliche Thema der Lebensmittel zu sprechen. Da zeigte er auf einen Winkel bei der Kassa; dort lag auf Zeitungspapier am Boden ein Stück rohes Fleisch, das er eben im Schleichhandel erworben hatte.“ (RM Tgb. Hs., 27.11.1918)
Die Wohnungsnot und Nahrungsmittelknappheit, also die schlechte wirtschaftliche Lage als ein weiterer Aspekt der instabilen Situation zu Kriegsende, bilden die Rahmung der Erzählung. Darin eingebettet ist die bereits bekannte Verurteilung der Zustände in einem Österreich „ohne Gemeinsinn und ohne Ordnungssinn“, sodass Freiheit als Unsicherheitsfaktor erlebt wird. Diesmal durch Notar Wintersteins Einschätzung ergänzt, findet sich auch hier wieder die Erleichterung über die Ablöse der „alten Machthaber“ formuliert. Ein Urteil über „neue Leute an [der] Spitze“ bildete sich Rosa Mayreder in den Jahren nach 1918 erst nach und nach, und dies führt zu einem großen Vorteil der thematischen Auswahl von Einträgen in der Edition im Gegensatz zu der im Rahmen meiner Studie betriebenen chronologisch zusammenhängenden Auswahl. In der Edition lassen sich auch Einträge zu den Folgewirkungen der unmittelbaren Umbruchphase in den Jahren nach 1918 nachlesen.100 Erst im Rückblick Ende 1919 erlebt sich Rosa Mayreder als Teil einer „Zeitenwende“.101 Sie stimmt zwar in ihrem Tagebucheintrag zu Silvester nicht in die im zeitgenössischen Diskurs vorhandenen „euphorische[n] Deutungen des Jahres 1918“102 als Beginn für „ein besseres, schöneres Zeitalter“ ein.103 Dennoch erhofft sich auch Rosa Mayreder für die Zukunft erstmals seit Kriegsende positive Entwicklungen:
99 100
101
102 103
Louise Obermayer (1874–1928) und Fritz Obermayer (1861–1925) waren Geschwister Rosa Mayreders, vgl. Anderson, Anmerkungen, wie Anm. 17, 300 und 303. So finden sich in der Edition Anmerkungen zu einer „kommunistischen Aufwiegelung“ (RM Tgb. Ed., 3.12.1921) oder zur „Republik als die Quelle aller Unordnung und Massentyrannei“ (RM Tgb. Ed., 24.9.1921). Christa Hämmerle, 1918 – Vom Ersten Weltkrieg zur Ersten Republik, in: Martin Scheutz u. Arno Strohmeyer Hg., Von Lier nach Brüssel: Schlüsseljahre österreichischer Geschichte (1496–1995), Wien 2010, 251–271, 267. Hämmerle, 1918, wie Anm. 101, 268. Arbeiterinnenzeitung, 5.11.1918, zit. nach: Hämmerle, 1918, wie Anm. 101, 268.
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Von der Edition zum Original
„Ja, der Gedanke an die gewaltige Veränderung der äußeren Welt, deren Zeugin ich bin, vermag mich für viele Unbilden schadlos zu halten, wenn auch die Veränderung einstweilen nur eine Bewegung nach abwärts ist. Aber unstörbar erhält sich im Hintergrund meiner inneren Welt die Hoffnung auf eine dereinstige Wiedergeburt des Geistes in kommenden Geschlechtern.“ (RM Tgb. Ed., 31.12.1919)
Von der Edition zum Original – ein Resümee
Wie in diesem Beitrag gezeigt werden konnte, liefern Edition und Handschrift trotz der inhaltlichen Gemeinsamkeiten ein jeweils unterschiedliches Bild vom Tagebuch Rosa Mayreders und von der Rolle, die Politik darin spielt. Im ersten Abschnitt wurde das Tagebuch biographisch verortet und auf die Bedeutung des Schreibens für Rosa Mayreder verwiesen. Anhand von theoretischen Überlegungen zur Editionspraxis von Tagebüchern konnten in den folgenden beiden Abschnitten ein formaler Vereinheitlichungs- und ein inhaltlicher Verdichtungsprozess nachvollzogen werden; beides bringt eine Edition mit sich und wurde, wie erwähnt, bei dieser Tagebuchpublikation nicht immer reflektiert. Mit der im vierten Abschnitt dargelegten Auffächerung des Begriffs Politik und der Übernahme der Analyseschritte aus der Wiener Diskursanalyse ließen sich Tagebucheinträge aus der Umbruchzeit 1918/19 systematisch auswerten. Mayreders Positionierung zur Politik, wie sie sich im Tagebuch jener Zeit wiederfindet, wurde im fünften Abschnitt an einem einzelnen Eintrag und im sechsten anhand ihrer expliziten Aussagen dazu nachgezeichnet. In der Analyse konnten – beispielhaft – Bezüge zwischen einzelnen Einträgen und zum zeitgenössischen Kontext hergestellt werden. Intertextuellen Verbindungen zwischen Tagebucheinträgen und anderen Textsorten wie Zeitungsartikeln oder Briefen in einer größeren diskursanalytischen Untersuchung nachzugehen, wäre meiner Einschätzung nach ein lohnenswertes Forschungsfeld zwischen Geschichts- und Sprachwissenschaft. Dabei könnte auch geklärt werden, ob Tagebücher nicht nur vom öffentlichen Diskurs beeinflusst werden, sondern ob über Tagebuchtexte – vielleicht im Umweg über andere Textsorten – auch Rückflüsse und Veränderungen in den Diskurs eingebracht werden können.104 Auf dem Weg von der Edition zum Original und vom Blick über die Zwischenkriegszeit zum Fokus auf wenige Wochen aus dem Jahr 1918 wurde das Tagebuch als Ausdrucksort von Gefühlen identifiziert, besonders wurden aber seine Funktionen als täglicher Speicherort und als Ort des Aufeinandertreffens von konkreten Alltagserzählungen und abstrakteren Argumentationsketten herausgearbeitet.
104 Zur methodischen Kompatibilität von Diskursanalyse und Tagebuchanalyse vgl. Brigitte Semanek, Diskursanalyse und Tagebuchforschung. Politik im Tagebuch von Rosa Mayreder 1918–1937, in: Wiener Linguistische Gazette, 75 (2011), 141–160.
Brigitte Semanek
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Dass im Tagebuch einer Aktivistin der Frauenbewegung nicht notwendigerweise bzw. nicht zu jeder Zeit emanzipatorische Politik, Frauenbewegung und -solidarität im Zentrum stehen müssen, hat die genaue Beschäftigung mit der Handschrift im Herbst 1918 gezeigt. Diskussionen mit männlichen Gesprächspartnern und die Aufzeichnung von zahlreichen politischen Wendungen und Entscheidungen zu Kriegsende erschienen Mayreder ebenso wichtig wie die Niederschrift und Entwicklung ihres eigenen Standpunkts. Dieser ist in Edition und Handschrift gleichermaßen gut sichtbar und lässt sich mit ihren Worten vom 20. November 1918 zusammenfassen: „immer wieder: Unabhängigbleiben“. Als Abschluss sei daher noch ein Zitat wiedergegeben, das als charakteristisch für Mayreders intensive Beschäftigung mit Politik im engen wie weiten Sinn und auch für die Einschätzung ihrer Schriften gelten kann. Egal, wo sie hinkam, „[g]leich entbrannt die politische Debatte“. (RM Tgb. Hs., 22.10.1918)
Arno Dusini
Was am Tagebuch ,weiblich’ sein soll …
„Was am Tagebuch ‚weiblich‘ sein soll …“ – eine solche Formulierung wirft die Frage auf, inwiefern sie, selbst Frageform, überhaupt kritisch sinnvoll sein kann. Sie verharrt in mehrfacher Weise in einer Mehrdeutigkeit, die sich nicht konfliktfrei ausfalten lässt und Probleme allgemeiner Art erkennbar macht, Probleme, die als offene in die Sprache ihres Gegenstandes eingreifen.
Drei Vorbemerkungen
Zuerst Rhetorisches. Der Titel lässt sich als elliptisch begreifen, stellt eine Auslassungsfigur dar, und zwar jene, von der man annimmt, dass sie sich wie selbstverständlich ergänzen ließe. Eine solche Ergänzung könnte dergestalt lauten, dass man sagt: „Vorlesung darüber, was am Tagebuch ‚weiblich‘ sein soll …“.1 Eine Ellipse zu vervollständigen kann allerdings heißen, sie zum Verschwinden zu bringen. In der eben vorgeschlagenen Fassung „Vorlesung darüber, was …“ bedeutete der Titel, dass es so etwas gibt wie eine „Vorlesung über das ‚Weibliche‘“. Der Titel könnte aber auch lauten: „Behauptungen darüber, was …“. Oder: „Widerlegungen davon, was …“. Oder: „Suggestion davon, was …“. Die Fassung „Vorlesung darüber, was …“ stellt mithin eine spezifische Setzung dar; zudem keine seltene. Vorlesende, die darüber sprechen, was das ‚Weibliche‘ sein soll, können sich auf keine kleine Tradition berufen. Und es ist eine in außerordentlicher Weise ‚männliche‘ Tradition. Selbst ein epochaler Einschnitt in die Geschichte der Vorlesung, ein Traditionsbruch, wie ihn die später unter dem Titel „A Room for One’s Own“ (in der deutschsprachigen Übersetzung unter dem Titel „Ein eigenes Zimmer“)2 berühmt gewordene Vorlesung „Women and Fiction“ Virginia Woolfs von 1928 bedeutet, kann nicht vergessen lassen, dass Vorlesungen auch heute noch Vorlesungen sind, die ganz allgemein von Männern gehalten werden, Männern, die damit also qua Vorlesung mit festlegen, was ‚Weiblichkeit‘ ist, und dies zumeist umso stärker, je weniger sie davon explizit sprechen. Nichts schlimmer allerdings als die Variante des ‚Fürsprechens‘, also des gleichzeitigen Über- und Für-jemand-anderen-Sprechens, die 1
2
Das Beispiel liegt nahe. Der vorliegende Text dokumentiert die gleichnamige Vorlesung im Rahmen der Ringvorlesung „Frauentagebücher im 19. und 20 Jahrhundert“ an der Universität Wien im Wintersemester 2007/08. Zur Geschichte dieser Vorlesung vgl. die Nachbemerkung des Herausgebers in Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer. Drei Guineen. Hg. von Klaus Reichert. Deutsch von Heidi Zerning u. Brigitte Wa litzek, Frankfurt a. M. 2001, 365ff.
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Was am Tagebuch ,weiblich’ sein soll …
dort zu beobachten ist, wo dieser oder diese Andere, diese Anderen für sich selbst sprechen können oder könnten. Die zweite der Vorbemerkungen betrifft Grammatisches. „Was am Tagebuch ‚weiblich‘ sein soll …“: Diese Fügung ist nicht nur mehrdeutig, sie ist auch ambivalent hinsichtlich ihrer modalen Kontur. Gemeint ist das so geläufige wie schwierige „sein soll“. Hat diese Verbalkonstruktion adhortative Funktion, meint sie also den Sachverhalt, dass hier etwas eingefordert wird? Und wäre, was dergestalt eingefordert wird, dem verwendeten Verb „sein“ entsprechend, im Grunde Essentialistisches? Also so etwas wie ein ‚unverrückbares‘ Faktum? Fordert der Titel mithin, „dass etwas so sein muss“? Oder handelt es sich in Unterscheidung dazu um Konjunktivisches, um die Infragestellung einer Rede, und zwar der Rede darüber, was das eigentlich „ist“, die Unterstellung eines „‚weiblichen‘ Tagebuchs“? Oder nochmals anders ausgedrückt: warum es überhaupt so etwas geben soll wie ein ‚Weibliches‘ am Tagebuch? Die These, die sich in manchen Spielarten des genderkritischen Diskurses zu einem Dogma verfestigt hat, dass essentialistische Positionen radikal zu vermeiden sind, stellt sich gerade vor dem Hintergrund des Autobiographischen – also dort, wo jemand von sich selbst spricht – in verschärfter Form. Das Konzept eines „operativen Essentialismus“3 hat sich diesbezüglich einer dreifachen Unterscheidung zu stellen: ob a) jemand sagt und festlegt, wer ich bin; ob ich b) verwende und funktionalisiere, was jemand sagt, was ich bin; oder ob ich c) auf dem Recht besteht, unter bestimmten Umständen und Konditionen zu sagen, wer ich bin. Man ist nicht nur in die Tatsachen verstrickt, auch nicht nur in die Tatsache, dass andere sagen, wer man „ist“, sondern man kann sich auch verstricken in die Möglichkeiten, wer man „sei“. Dritte und letzte Vorbemerkung. Grundsätzlich irritierend ist schon die attributive Fügung in „Was am Tagebuch ‚weiblich‘ sein soll …“. Mary Eagleton hat ihren Aufsatz „Genre and Gender“ mit den Fragen eingeleitet: „What is the relationship of gender to writing? Should we talk of the female author or of feminine writing? Does the relationship differ with different literary forms […]? Can we create a criticism which is non-essentialist, non-reductive but subtly alive to the links between gender and genre?“4 Der vorgeschlagene Titel ist vielleicht nicht ganz so elegant, wie man dies mit Eagletons Hinweis auf sensible Kritik erwarten dürfte. Aber vielleicht liegt das an dem Hiatus, jenem Aufeinanderprall, den die Zuordnung des Adjektivs ‚weiblich‘ zu einem Genre, also zu einer Textform provoziert. Genres oder Textsorten sollen ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ sein? Dass Texte sich durch Merkmale, ‚Gattungsmerkmale‘ auszeichnen, kann sich auf eine lange Tradition der Textanalyse berufen. Aber – und wenn, dann inwiefern – haben Texte auch ‚Geschlechtsmerkmale‘? Die Literaturwissenschaft respektive Narratologie verhandelt tatsächlich so etwas wie ‚männliche‘ 3
4
Vgl. etwa Judith Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. Aus dem Englischen von Rainer Ansén, in: Uwe Wirth Hg., Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, 301–320, insbes. 317ff. Mary Eagleton, Genre and Gender, in: David Duff Hg., Modern Genre Theory, Harlow/New York 2000, 250–262, 260.
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und ‚weibliche‘ Formen. So heißt es etwa in dem Einführungsband „Erzähltextanalyse und Gender Studies“, dass „Gattungen und Formen […] geschlechtsspezifisch aufgeladen“ sind.5 Wir erfahren, dass der Bildungsroman als ‚männliche‘, der Briefroman hingegen als ‚weib liche‘ Form gelte.6 Wohlgemerkt mit Einschränkungen, wie man jeweils zugesteht – so seien „Die Leiden des jungen Werther“ nun eben nicht unbedingt ein ‚weiblicher‘ Briefroman, zumal Frauen „nur noch auf der Figurenebene als Objekte des frustrierten Begehrens präsent“ seien; und im „Wilhelm Meister“ fänden sich „mit der eingebetteten [sic] Erzählung Aurelies im vierten Buch, den Bekenntnissen einer schönen Seele, und Thereses Geschichte eines deutschen Mädchens im siebten Buch Schreibweisen weiblicher Selbsterfahrung und Selbstherstellung“.7 Wohlmeinende Lesarten werden solche Etikettierungsanstrengungen als ‚metaphorische‘ verstehen, in der Weise eben, dass wir es mit Gender zu tun hätten, also mit einer kulturellen Kodierung von Geschlecht, die durch Textsorten erfolgt, und nicht mit „eingebetteten“ ,Naturformen‘, die sich im Licht biologischer Geschlechtlichkeit konstituieren, also aufgrund dessen, was man im gendertheoretischen Sprechen unter Sex versteht. Doch diese Annahme ist ihrerseits so voraussetzungslos nicht: Inwiefern kommt kritische Gender-Rede ohne Sex aus? Inwiefern sollte, kann sie ohne auskommen, selbst dort, wo konsequent nicht nur das ‚natürliche‘, sondern auch das ‚biologische Geschlecht‘ als kulturell konstruiert verstanden wird? Vielleicht ist gegen die vulgär-konservative Befürchtung, dass Gender der ‚Skandal‘ ist, der dem ‚natürlichen Geschlecht‘ droht (jene Befürchtung also, gegen die der akademische Diskurs häufig genug vor sich selbst auftritt), vielleicht ist gegen diese Annahme ja Sex gerade im akademischen Diskurs das Skandalon, das immer wieder im Begriff des Gender rumort?
Topik der Gattung
Inwieweit also vermag eine genderspezifische Fokussierung Praxis und Hermeneutik der Gattung Tagebuch zu profilieren? Weit davon entfernt, eine ausgebaute Systematik vorlegen zu können, die die entsprechenden Differenzmerkmale abzudecken imstande wäre, seien hier doch einige Überlegungen vielleicht nicht ganz unsystematischer Art skizziert.8 Beginnen wir bei den Bezeichnungen, die dem Genre Tagebuch in der entsprechenden Literatur beigegeben werden. Sie sind Legion: „Abbild des Lebens“, „Abort der Literatur“, 5 6 7 8
Vera Nünning u. Ansgar Nünning Hg., Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart/Weimar 2004, 190. Nünning/Nünning, Erzähltextanalyse, wie Anm. 5, 195 bzw. 198. Nünning/Nünning, Erzähltextanalyse, wie Anm. 5, 199 bzw. 196; merkwürdig nur die einseitige Richtung dieser Beispiele. Ich erlaube mir dabei, in weiten Passagen zurückzugreifen auf mein Buch: Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005.
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„adressatenbezogenes Selbstgespräch“, „Ameisenhaufen“, „aula memoriae“, „Begebenheitsfilter“, „Brutkasten von Handlungsabläufen“, „chronologische Sammlung“, „Collage“, „Datenbank“, „datiertes Register“, „eingebundene Retorte“, „Ereignis-Album“, „Extrakt des Alltags“, „Exzerpt-Kollektion“, „intimes Beichtbuch“, „Kaleidoskop von Beobachtungen, Urteilen und Reflexionen“, „Knochengerüst von Daten“, „Kontrollbuch“, „Lagerhaus seines privatesten Selbst“, „Logbuch“, „Mosaik“, „Notenbuch des Herzens“, „Ort des Bekennens“, „papierenes Labor“, „pointillistisches Gemälde“, „psychologischer Musterschrank“, „Sammelschrank für Anekdoten“, „Schnupftuch“, „Speicher von Einfällen, Reflexionen und Stimmungsbildern“, „Spiegel“, „Spucknapf meiner Stimmungen und Verstimmungen“, „Tagesrapport“, „Tagesstenogramm“, „Tempel der Innerlichkeit“, „Tempel der Seele“, „Ventil“, „Werkstattbericht des Lebens“, „Wildpflanze“, „Zettelkasten“, „Zuchtrute“. 9 All diese aus der Rede über das Tagebuch entlehnten Namen können in spezifischem Kontext präzisierende Funktion übernehmen; hinsichtlich der Frage, worin die gattungsspezifische Eigenart des Tagebuchs liege, führen sie indes mehr vom Gegenstand weg als zu ihm hin. Zielführender erscheint es danach zu fragen, welche Topoi, also welche Gemeinplätze die Rede über das Tagebuch aufnimmt respektive welche Stereotypen unsere Vorstellung vom Tagebuch pflegen. Drei wiederum seien in diesem Zusammenhang kenntlich gemacht, weil sie auch das Tagebuch-Führen von Frauen in besonderem Maß betreffen können. A) Der Topos der ‚Formlosigkeit‘. „A priori definiert sich dieses Genre durch totale Strukturlosigkeit.“10 So lautet der immer wieder abgewandelte Glaubenssatz, von dem die meisten Beschreibungsvorschläge des Genres ausgehen oder zu dem sie schlussendlich zurückkehren. Die These ist töricht. Wenn erstens davon ausgegangen werden kann, dass Sprache per se Strukturierung bedeutet, und zweitens daran erinnert werden muss, dass Tagebücher Sprechakte darstellen, so lässt sich eine derartige These gerade „a priori“ nicht halten. Sie erklärt sich aus einem reduktionistischen Verständnis dessen, was „Struktur“ ist. Wenn als „Struktur“ allein gelten darf, was der Kanon der sogenannten ‚hohen‘ literarischen Gattungen – bezeichnenderweise unter Ausschluss prominenter moderner Formen – vorgibt, so muss man zum genannten Schluss kommen. Die Sache könnte sich allerdings auch anders darstellen. Wenn Tagebüchern offensichtlich eine ‚Logik der Erzählung‘ eignet, die mit dem herkömmlichen narratologischen Instrumentarium nicht in den Griff zu bekommen ist, dann ist nicht das Genre als struktur- oder formlos zu verwerfen, sondern die Narratologie zu erweitern. Mit anderen Worten: Es ist damit zu rechnen, dass das Tagebuch, so einfach es auch daher kommen mag, sich durch Strukturen von ungewohnt hohem Komplexitätsgrad auszeichnet. Und bevor nicht jemand eine intelligente Nicht-Struktur-Analyse etwa der zehn Bände Tagebuch Arthur Schnitzlers oder der 30 Tagebücher Virginia Woolfs („eines
9 10
Dusini, Tagebuch, wie Anm. 8, 67f. Beatrice Didier, Le journal intime, Paris 1991, 140 (Übersetzung des Autors).
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der großen Tagebücher der Welt“11) vorlegt, bleibt alle Behauptung von einer „Struktur losigkeit“ des Genres Schein. B) Der zweite Topos ist der unter Begriffen wie „monologische Subjektivität“ oder „monologischer Charakter“ figurierende Topos des ‚Monologischen‘. Auch er ist aus mehreren Gründen nicht haltbar. Zum einen ist auf Tagebücher zu verweisen, die direkt auf einen anderen zugeschrieben sind: Jonathan Swifts „Journal to Stella“ kann dafür als berühmtes Beispiel einstehen. Zum zweiten ist das Tagebuch in einen Dialog der Schreibenden mit ihrem Schreiben verwickelt. Zur Illustration dieses Sachverhalts mögen die Aufzeichnungen Anne Franks dienen: „Donnerstag 11. Nov. 1943. / Liebe Kitty, / Ich habe gerade einen guten Titel für dieses Kapitel: / Ode an meinen Füllhalter / In memoriam […]“. „Kitty“ ist der Name, den Anne Frank ihren Tagebüchern gibt. „Liebe Kitty“, „Beste Kitty“, „Beste Kit“, „Liebe Kit“, „Aber Kitty“, „Liebste Kit“, „Liebste Kitty“, „Allerliebster Schatz“, „Oh Kitty“, so lauten die das Tagebuch personifizierenden Anreden, in denen Anne Frank den Dialog mit sich selbst thematisiert.12 Und zum dritten ist festzuhalten, dass das Tagebuch durch eingeschobene Dialoge in den Notaten selbst der Vorstellung diaristischer ‚Monologizität‘ entgegenarbeitet. Theodor Haecker beispielsweise notiert in seinen Tage- und Nachtbüchern unter dem Datum des 29. Mai 1944: „Alles, was ich niederschreibe, hat nun ganz von selber die Tendenz, sich zu einem Dialog zu entwickeln.“13 Und letztlich gibt es – Gustav René Hocke hat diesen glücklichen Begriff geprägt – so etwas wie einen „Dialog“ der Tagebuchschreiberinnen oder Tagebuchschreiber untereinander: Tagebuchschreibende zitieren Tagebücher anderer.14 C) „Ein ‚privates Tagebuch‘ ist ein fundamentaler Unsinn […]“.15 Der dritte Topos ist jener des ‚Privaten‘. Wenn es in der Forschung heißt, dass „[w]eder der Struktur noch dem Inhalt nach […] eine unmißverständliche Trennung zwischen privaten und für die Öffentlichkeit bestimmten Tagebüchern“ vollzogen werden könne, so bedeutet dies, dass die Kategorie des ‚Privaten‘ für eine Gattungsbestimmung letztendlich untauglich ist.16 Dass die Rede über 11 12
13 14 15 16
So Quentin Bell in seiner Einleitung zu Virginia Woolf, Tagebücher 1. Deutsch von Maria Bosse-Spor leder, Frankfurt a. M. 1990, 11. Vgl. Die Tagebücher der Anne Frank. Hg. vom Niederländischen Staatlichen Institut für Kriegsdokumentation. Einführung von Harry Paape, Gerrold van der Stroom u. David Barnouw. Mit einer Zusammenfassung des Berichts des Gerichtslaboratoriums des Justizministeriums, verfaßt von Dipl.Ing. H. J. J. Hardy. Editorische Gestaltung der Tagebuchtexte von David Barnouw u. Gerrold van der Stroom. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler, Frankfurt a. M. 1988. Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher. 1939–1945. Mit einem Vorwort hg. von Heinrich Wild, Olten 1948, 300. Vgl. Gustav René Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten, Wiesbaden/München 1978, 110. Michel Leiris, Tagebücher 1922–1989, Graz/Wien 1996, 202. Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969, 25.
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das Tagebuch dennoch mit derartiger Unentwegtheit an diesem Topos festhält, deutet auf die Rezeptionsbedingungen, denen das Tagebuch unterliegt. Wenn Tagebücher zu Lebzeiten weggesperrt werden, wie Thomas Mann dies tat; wenn Tagebücher versteckt werden wie im Fall Leo Tolstois, der seine späten Aufzeichnungen in seinem Stiefel verwahrte; wenn Tagebücher lediglich einem kleinen Bekanntenkreis zugänglich gemacht werden, wie im Fall Johann Wolfgang Goethes; wenn Tagebücher wie im Fall Benjamin Constants, Thomas Manns oder Elias Canettis nach dem Tod für Jahrzehnte gesperrt werden; so unterscheidet dies die Rezeptionsbedingungen von Tagebüchern zwar nicht prinzipiell von nicht-autobiographischen Texten, doch irritiert es die im Fall der Tagebücher besonders ausgeprägte Vorstellung von der unbedingten Verfügbarkeit autobiographischer Schrift. Die Rede über das Tagebuch hat diese Vorstellung abzulegen zugunsten einer genauen Analyse der Text- Distribution, deren Regulation durch den Verfasser bzw. die Verfasserin die Niederschrift hinsichtlich der Überlegung, was man für wen aufschreibt, entscheidend mitbestimmt. Das ‚private‘ Tagebuch ist ein Gespenst unserer Köpfe. Wäre es nicht unser eigenes, das verschlossen und zeitgerecht vernichtet wird – wir kennten keins. Die eben angestrengte Rede vom ‚Gespensterhaften‘ hat freilich ihre historische Fundierung. Von vielen Tagebüchern wissen wir gar nicht, dass sie vernichtet wurden oder verloren gingen, ja – so wird man mit Bezug auf eine Geschichte der Tagebücher von Frauen vermuten müssen – viele konnten gar nicht erst geschrieben werden. „[…] es existiert kein Text“, so Béatrice Didier in ihrem Buch „Le journal intime“, „der verwundbarer wäre als das Tagebuch“; und weiter: „[…] Die Familie, die Freunde beeilen sich zu lesen, was der Schriftsteller hinterlassen hat, und stören sich an den Anspielungen, die sie betreffen. Der Stil, der ein Stil einfacher Notate sein kann, elliptisch, verkürzend, läuft andererseits Gefahr, uneigentlich oder unverständlich zu erscheinen. Zu oft werden nur Auszüge veröffentlicht. Auch wirtschaftliche Gründe spielen dabei eine Rolle. Welcher Verleger hätte den Mut, eine vollständige Ausgabe des Amiel’schen Tagebuchs zu versprechen? Als sie starb, hinterließ Virginia Woolf sechsundzwanzig Bände ihres Tagebuchs. Léonard Woolf ging an eine auszugsweise Publikation; er behielt sich das Recht auf Streichungen vor, ja er machte den Leser nicht einmal durch entsprechende Auslassungszeichen auf solche aufmerksam. Wobei anzumerken gilt, dass die Schriftsteller selbst vor den Tagebüchern anderer kaum mehr Respekt zeigen. Lamartine glaubte seiner Mutter einen Sohnes-Dienst zu erweisen, als er – den Text beschneidend und von neuem zusammensetzend zum ‚Manuskript meiner Mutter‘ – ihr Tagebuch veröffentlichte. Das Extrem dieser Verwundbarkeit des Tagebuchs ist freilich seine Vernichtung. Man hat weit mehr Tagebücher vernichtet als Manuskripte von Romanen oder Essays, und der Historiker arbeitet hier mehr denn anderswo an einer extrem lückenhaften Materie. Ohne von Unglücksfällen zu sprechen, die jedes Manuskript bedrohen, und um bei der absichtsvollen Vernichtung zu bleiben: Diese Vernichtung ist manchmal Anliegen des Schriftstellers. Wenn es auch selten ist, dass er das gesamte Manuskript unterdrückt, fühlt er sich doch
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berechtigt, ganze Jahrgänge ins Feuer zu werfen. Die Umgebung betreibt diese Vernichtung mit weitaus größerer Unbeschwertheit. Man kann sogar mutmaßen, dass der Gedanke einer Bewahrung des Tagebuchs relativ jung ist. Wenn man ihn kaum vor dem 19. Jahrhundert findet, dann deshalb, weil es damals keine Schriften gab? Oder deshalb, weil man sie nicht aufbewahrt hat?“17
Gegen die Topik der Gattung
Die Geschichte der Edition von Frauentagebüchern wäre also ein Kapitel, das der Untersuchung in hohem Ausmaß lohnte, nicht zuletzt deshalb, weil die Topoi, die wir mit dem Tagebuch verbinden und die im übrigen auch in die genannte Geschichte der Edition der Frauentagebücher massiv einwirken, einem offenen Blick nicht standhalten. Gegen den Topos der ‚Strukturlosigkeit‘ lässt sich die Komplexität der narrativen Form setzen; gegen den Topos der ‚Monologizität‘ ein Konzept dialogischer Äußerung; und gegen den Topos des ,absolut Privaten‘ eine kalkulierte Mitteilungsstrategie, die einen Raum eigener Rede absichert. Fragt sich, weshalb diese Topoi, wenn sie auf die einzelnen Äußerungen, die sie erfassen, nicht wirklich zutreffen, weiterhin für diese Äußerungsformen in Anschlag gebracht werden. Auch wenn oder gerade weil es tatsächlich ein Tagebuchschreiben gibt, das sich diesen Topoi vorauseilend beugt, scheint ihre Wirkungsmächtigkeit weniger im Beschriebenen selbst als gleichsam von außen begründet zu sein. Es sind also Lektüreregeln, denen ein Genre unterworfen wird, nicht die Texte selbst, die hier in Kraft gesetzt werden. An diesem Punkt hätte eine genderspezifische Beschreibung des Genres Tagebuch anzusetzen. Die entsprechende Frage, die ich nur ansatzweise zu stellen wage: Im Mittelalter wurde für Texte ein mehrfacher Schriftsinn angenommen. Ließe sich eine solche Pluralisierung auch spezifisch für die Moderne ausfalten? Und müsste man dann nicht kenntlich machen, dass es so etwas wie einen ‚männlichen‘ Schriftsinn gibt, der in der Lektüre der Texte von Frauen ‚werkt‘? Was hilft alles Schreiben, wenn anders gelesen wird? Und wäre ein ‚männlicher‘ Schriftsinn nicht tatsächlich eben so etwas wie ein historischer Essentialismus? Aufgrund der drei genannten Topoi und solcher Fragen sei kurz und sprunghaft Folgendes thesenhaft angerissen: Strukturlosigkeit der Form dient zur Abqualifizierung nicht nur des Genres, sondern freilich auch der Schreiber respektive der Schreiberinnen selbst (so tut sich etwa noch die heutige Forschung schwer mit dem Faktum, dass Thomas Manns schroff chronikale Tagebücher als sein größtes Werk gelten könnten). Der Topos des Monologischen vermag hinterhältiger zu funktionieren, weil er das behauptete Defizitäre in der mit dem Genre gegebenen Sprechweise aufsucht: Er verweist den 17
Didier, Journal, wie Anm. 10, 21f. (Übersetzung des Autors).
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Schreiber oder die Schreiberin auf sich selber zurück. Das Tagebuch wäre somit eine Form der Verweigerung dialogischer Kommunikation, eine Art ‚Selbstasylierung‘. Auch hier wird der tatsächlich nicht verifizierbare Defekt der Gattung in einem metonymischen Prozess auf den Schreiber, tatsächlich aber in höherem Ausmaß auf die Schreiberin eines Tagebuchs übertragen. Nur ein signifikantes Beispiel für eine derartige ‚Selbstasylierung‘: Die, so ich recht sehe, einzige deutschsprachige Anthologie von Frauentagebüchern – sie versammelt weit über den deutschen Sprachraum hinausreichende Zeugnisse aus drei Jahrhunderten – trägt den programmatischen Titel „Belauschtes Leben“.18 Schon das zwingt die Lesenden den aufgeschriebenen Frauenleben gegenüber in eine von vornherein voyeuristische Position. Ein solcher Titel wäre bei Tagebuchanthologien männlicher Autoren schwer denkbar. Gustav René Hockes nach wie vor maßgebliche Anthologie trägt den Titel „Europäische Tagebücher“. Schließlich die Privatheit der Form. Abgesehen davon, dass die Bestimmung des ‚Privaten‘ strenger historischer Differenzierung bedürfte: Während der Topos des Monologischen den Ausschluss aus der sozialen Kommunikation in der Intention diese Kommunikation verweigernden Tagebuchschreibenden begründet, installiert der Begriff der Privatheit eine Grenze zur Öffentlichkeit, die sich für Tagebuchschreiber vollkommen anders gestaltet als für Tagebuch schreibende Frauen; während für die männlichen Tagebuchschreiber das Private der der Öffentlichkeit vorenthaltene eigene Raum ist, stellt das Private im Fall der schreibenden Frauen meist einen Raum des Ausschlusses dar. Auf dem Spiel steht allemal, was gesellschaftlich überhaupt verhandelbar ist. Die genannten Topoi überschreiben die Leistungen des Genres also nicht nur in entscheidender Weise gegen das Genre selbst, sondern öffnen mit ihren haltlosen Überschreibungen Raster, in der die tatsächlichen Leistungen unterschiedlich auf Tagebuchschreiber und Tagebuchschreiberinnen zurückbezogen werden können. Einseitig kontaminiert werden damit die positiven Möglichkeiten der Gattung. Die hohe Komplexität des Genres nämlich dankt sich der Flexibilität ihrer einzelnen Erzähleinheiten, der Tageseinträge, die sich einer um den anderen zu einer großen Erzählung ausformen. Es ist ein langes Leben, aber nicht unbedingt ein langer Atem, der zum Tagebuchführen ausreicht. Und genau das ist der Vorteil: Man kann täglich am Tagebuch schreiben. Die Dialogizität wiederum, von der zu fragen gälte, ob sie sich nicht in einem signifikanten Ausmaß gerade bei den Tagebuchschreiberinnen nach innen wendet (vgl. das Beispiel Anne Frank), diese Dialogizität bewahrt dem Sprechen seine stabilisierende kommunikative Struktur selbst dort noch, wo unter Umständen mit niemandem mehr zu sprechen ist. Und eine kalkulierte Form der Mitteilung eigener Tagebuchaufzeichnungen, die zwischen einem Selbst, der Familie im engeren, der Familie im weiteren Sinn, den näheren und ferneren Bekanntschaften und der Öffentlichkeit im Allgemeinen unterscheidet, erlaubt mitunter lebensnotwendige Äußerungsmöglichkeiten; 18
Vgl. Verena von der Heyden-Rynsch, Belauschtes Leben. Frauentagebücher aus drei Jahrhunderten, Düsseldorf/Zürich 1997.
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man denke etwa an Sylvia Plath, von deren Tagebüchern man sagen kann, dass sie lange Zeit „ein eigenes Zimmer“ gegen die patriarchale Familiarisierung ihres Lebens darstellen, ja die Erkenntnis der familialen Verstrickungen überhaupt erst ermöglichten.19
Der Zeit entgegen
Von den Gemeinplätzen nun zu den Bildern, die in der Rede über das Tagebuch mit über raschender Regelmäßigkeit wiederkehren: Dass er sein „Herz unters Mikroskop“ lege, notiert Henri Beyle de Stendhal in sein Journal. Zur Art der Tagebuchführung Hildegard von Spitzembergs bemerkt der schon genannte Gustav René Hocke, dass sie die „abfallenden Kurven [ihrer] Epoche […] aufzeichnete wie ein Arzt die Fieberkurven eines Kranken“. Dass ihm die Tagebücher „zu Röntgenaufnahmen des Tages“ wurden, „die ihn stets faszinierten“, formuliert Rüdiger Görner angesichts der Tagebücher Thomas Manns. „Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte“, so wiederum Max Frisch in seinem Tagebuch über das Tagebuch.20 Barometer, Mikroskop, Thermometer, Skalpell, Röntgenstrahl und Oszillograph: Was haben diese Bilder gemeinsam? Man kann sagen: Es sind allesamt mehr oder weniger präzise Messinstrumente. Das Tagebuch als Messinstrument? Vor allem aber: Was misst es? Zeit? Das versteht sich aus dem Namen des Genres. Lebenszeit, das versteht sich aus der autobiographischen Fundierung des Genres. Aber ist nicht auch das noch zu ungenau? Paul Ricœurs monumentale Studie zu „Zeit und Erzählung“ hat erhellt, wie stark das Problem der Zeit in der abendländischen Tradition auf das Erzählen verwiesen ist.21 Erst das Erzählen, so die fundamentale These von Ricœurs Arbeit – und frappierenderweise nichts anderes als das Erzählen – macht Zeit sinnvoll: Indem Erzählungen Zeit figurieren, machen sie Zeit erst begreifbar. Ricœur spricht allgemein von Erzählungen. Aber seine These ist genrespezifisch auszudifferenzieren. Erzählung ist auf die Zeit hin gesehen nicht gleich Erzählung. Eine Biographie hat eine andere Zeit als das Märchen mit seinem ein eigenes Zeitfenster eröffnenden „Es war einmal“; die epische Formel „Und als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte“ (Homer) leitet eine andere Zeitdarstellung ein als der erste und plötzliche Satz einer Kurzgeschichte. Und das Datum des Tagebuchs begründet ein anderes Verhältnis zur Zeit als ein Romanbeginn wie „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ (Proust). Umgekehrt aber sind verschiedene Zeiteinheiten als gattungs- oder textsortenbe19
20 21
Vgl. Arno Dusini, Die offene Wunde Tagebuch. Gendertheoretische Anmerkungen anhand der Tagebücher der Sylvia Plath, in: Renate Hof u. Susanne Rohr Hg., Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, 25–38. Stellenangaben in: Dusini, Tagebuch, wie Anm. 8, 71. Vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung I–III (Bd. I: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz; Bd. II: Zeit und literarische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz; Bd. III: Die erzählte Zeit. Aus dem Französischen von Andreas Knop), München 1988–1991.
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gründend ins Spiel zu bringen: die Stunde im Stundenbuch oder im Stundenplan etwa, die Woche in der Wochenschau oder im Settimanal, der Monat in den Monatsheften, das Jahr in den Annalen. Die Zeiteinheit des Tages ist in dieser Reihe nicht zu unterschätzen. Sie allein begründet unterschiedlichste Gattungen: die Tragödie („[…] die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen […]“22) ebenso wie Geschichtensammlungen im Stil des „Decamerone“ oder eben das Tagebuch. Und wie das Tagebuch sind diese Gattungsbeispiele nicht nur Erzählungen über Tage. Es sind Erzählungen in Tagen. Tagebuch schreiben heißt, das eigene Leben in Tagen zu erzählen. So einfach dies klingen mag – diese Rhythmisierung, dieses Leben des Tag für Tag erschließt Möglichkeiten ganz eigener Art. Setzen wir bloß folgenden Fall: Wir haben, bis auf einen Tag, eine glückliche oder unglückliche Woche. Führen wir ein Settimanal, erzählen wir also in Wochen, werden wir die Woche – je nachdem – als unglücklich oder glücklich veranschlagen: Wir haben eine unglückliche Woche, wenn wir sechs unglückliche Tage haben, hingegen eine glückliche, wenn wir sechs glückliche Tage haben; der glückliche oder unglückliche Tag verschwindet im Zeitrahmen der Woche; im Settimanal fehlt mithin entweder ein unglücklicher Tag, oder ein glücklicher. Im Tagebuch dagegen sieht die Geschichte ganz anders aus: Da mag man sich im Unglück an den einen glücklichen Tag halten oder – schwieriger – im Glück auf den einen unglücklichen Tag verwiesen bleiben. Glück und Unglück ist analog dazu freilich auch in Wochen, Monaten, in Jahren oder Jahrzehnten und den entsprechenden Textsorten oder Gattungen denkbar. Je nachdem, welche Zeiteinheit durch eine Gattung oder Textsorte privilegiert wird, relativieren sich die umgebenden Zeitformate. Und je nachdem sieht unser Leben anders aus. Tagebuchschreiber und Tagebuchschreiberinnen wissen das, wenn sie in andere Zeitformate ausweichen; erleichtern mag es das Leben, verändern wird es dies nicht.
A Day for One’s Own
Wenn nun das Tagebuch von Zeit handelt, wenn es eines der Instrumente ist, die uns mit Zeit zu leben helfen könnten: Müsste man dann nicht zuletzt die Frage stellen, ob es so etwas gibt wie eine genderspezifische ‚weibliche‘ Zeit? Man kann diese Frage analytisch beantworten und man wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss kommen, dass es das nie gegeben hat und dass es das auch zeitlich nie gegeben hat, was Verena von der Heyden-Rynsch als Summe ihrer zitierten Anthologie behauptet: dass in den Tagebüchern die Frauen „nicht über sich selbst, sondern sich selbst schreiben“.23 Das ist – mehr als ein Befund – ein frommer Wunsch. Es mag diesbezüglich die eine oder andere Nische, den einen oder anderen Fleck geben, diesen oder jenen Winkel. Aber gibt es so etwas wie eine 22 23
Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1993, 17. von der Heyden-Rynsch, Leben, wie Anm. 18, 277.
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‚weibliche‘ Zeit? Eine mögliche Unterscheidung von ‚weiblicher‘ respektive ‚männlicher‘ Zeit könnte historisch die Gesetze unserer sozialen ‚Verzeitlichung‘ analysierbar machen; und vor allem auch zeigen, wo die sprachlichen Fallen liegen, die uns der Kongruenz solcher ‚Verzeitlichung‘ ausliefern. Nichts allerdings zwingt, bei der Analyse, die immer auch der Akt einer Wiederholung ist, stehen zu bleiben. Was zur Überlegung drängt, hängt mit dem zusammen, was Helga Nowotny einmal in den Begriff der „Eigenzeit“ zu fassen gesucht hat.24 Gibt es denn das überhaupt, eine Eigenzeit in Tagen? Wie? Und entscheidender vielleicht noch: Haben wir das? Der Titel, der über diesen Ausführungen steht, „Was am Tagebuch ‚weiblich‘ sein soll …“, ist zu überschreiben. Er müsste lauten: „A Day for One’s Own.“ Ich übersetze, wie man nicht übersetzen dürfte: „Ein Tag für Sie allein.“
24
Vgl. Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung des Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1989.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Ingrid Brommer, freiberufliche Wissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkten zur Sozialund Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Selbstzeugnisforschung. Mitarbeit an Editionsprojekten der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ und der „Sammlung Frauennachlässe“ an der Universität Wien. Laufende Projekte zur Biographie sowie zu einer digitalen Gesamtausgabe der Tagebücher von 1938 bis 1941 der Wiener Romanistin Elise Richter in Zusammenarbeit mit Christine Karner. Arno Dusini, Außerordentlicher Universitätsprofessor für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Habilitationsschrift: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, sowie zahlreiche andere Beiträge zu diesem Themenfeld. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Autobiographischer Diskurs, Übersetzung sowie Rhetorik. Li Gerhalter, Betreuerin der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien und Redakteurin des Wissenschaftsblogs „Salon 21“. Forschungsschwerpunkte: Tagebuch- und Auto/Biographieforschung, Freundinnenforschung, materielle Kulturen sowie Sammel- und Archivierungspolitiken. Laufendes Dissertationsprojekt zu „Formen, Inhalten und Materialitäten von Tagebüchern von Mädchen und Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Christa Hämmerle, Außerordentliche Professorin für Neuere Geschichte und Frauen-/ Geschlechtergeschichte am Institut für Geschichte der Universität Wien, Leitung der „Sammlung Frauennachlässe“ und der Redaktion von „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“. Forschungsschwerpunkte zu Krieg, Militär und Gewalt, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Auto-/Biographieforschung, Geschichte der Liebe sowie Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Veronika Helfert, Universitätsassistentin (prae doc) für Geschichte der Neuzeit, Frauen- und Geschlechtergeschichte am Institut für Geschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte zur Österreichischen Zwischenkriegszeit, Selbstzeugnisforschung sowie Neue Politikgeschichte. Laufendes Dissertationsprojekt zum Thema „Frauen- und Geschlechtergeschichte der Rätebewegung in Österreich im europä ischen Kontext“. Christine Karner, freiberufliche Übersetzerin und Wissenschaftlerin. Mitarbeit an Editionsprojekten der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ und der „Sammlung Frauennachlässe“ an der Universität Wien. Laufende Projekte zur Biographie sowie zu einer
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
digitalen Gesamtausgabe der Tagebücher von 1938 bis 1941 der Wiener Romanistin Elise Richter in Zusammenarbeit mit Ingrid Brommer. Benjamin Möckel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Generationengeschichte, Erinnerungskultur sowie Konsumgeschichte. Abgeschlossene Dissertation zum Thema „Kriegserinnerungen von Jugend lichen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften“ im Rahmen des Graduiertenkollegs „Generationengeschichte“ an der Universität Göttingen. Ulrich Schwarz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mediengeschichte des ländlichen Raumes, Oral History, Mikrogeschichte und relationale Methoden der Geschichtswissenschaft. Laufendes Dissertationsprojekt zum Thema „Macht vor Ort. Mikrohistorische Studien zu zehn Ortsbauernschaften im NS-Regime“ an der Universität Wien. Brigitte Semanek, wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Liebe in Paarkorrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts“, geleitet von Christa Hämmerle und Ingrid Bauer (2012), Redakteurin von „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ (2012 bis 2014), freie Mitarbeiterin der „Sammlung Frauennachlässe“. Laufendes Dissertationsprojekt zu „Die Betreuung kranker und alter Angehöriger in Tagebüchern im 20. Jahrhundert“. Helen Steele, wissenschaftliche Bibliothekarin an der University of Leicester und Lehrbeauftragte an der Loughborough University in Leicestershire bis 2015. Forschungsschwerpunkte: Frauennetzwerke und Selbstzeugnisforschung. Abgeschlossene Dissertation zum Thema „Erfahrungen von Wiener Frauen während des Zweiten Weltkriegs und der Alliierten Besatzung“ an der Swansea University.