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German Pages 211 Year 2015
Schriften zur Rechtstheorie Band 279
Konzeption des pouvoir constituant bei Sieyès und Schmitt Der theoretische Ursprung der Verfassungsänderung in Taiwan
Von Shang-Ju Yang
Duncker & Humblot · Berlin
SHANG-JU YANG
Konzeption des pouvoir constituant bei Sieyès und Schmitt
Schriften zur Rechtstheorie Band 279
Konzeption des pouvoir constituant bei Sieyès und Schmitt Der theoretische Ursprung der Verfassungsänderung in Taiwan
Von Shang-Ju Yang
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.
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Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14720-5 (Print) ISBN 978-3-428-54720-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84720-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2014 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Mein allererster Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Volker Gerhardt, ohne dessen Unterstützung und Förderung das Erscheinen dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Während der Promotion brachte er mir verständnisvoll viel Vertrauen entgegen und räumte mir großzügigen Freiraum ein. Für dies alles bin ich ihm zu tiefem Dank verpflichtet. Darüber hinaus möchte ich Herrn Prof. Dr. Herfried Münkler und Herrn Prof. Dr. Reinhard Mehring meinen Dank aussprechen. Die Gelehrsamkeit von Prof. Münkler hat mich tief beeindruckt und ich habe in seinen Veranstaltungen vergangener Jahren viel gelernt, was dieser Arbeit zugutegekommen ist. Auch die Kommentare im Gutachten von Prof. Mehring, dem renommierten Schmitt-Forscher, haben zur Verbesserung dieser Arbeit bei getragen. Besonders dankbar bin ich der Chiang Ching-Kuo Stiftung (Chiang Ching-Kuo Foundation) für ihre Unterstützung durch ein Stipendium, mit dem diese Arbeit erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Den Herren Dr. Yves Berna, Dr. Thilo Diefenbach und Jacob Schilling danke ich für das Korrekturlesen der Dissertation. Berlin, im Mai 2015
Shang-Ju Yang
Inhaltsverzeichnis Einleitung 11 A. Die politische Bedeutsamkeit des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Erster Teil
Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
19
A. Hintergrund und politische Umstände: Die Verfassungsdebatte am Vorabend der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Die Vorgeschichte der Französischen Revolution und des Verfassungskonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Die Vorstellung der „constitution“ und „lois fondamentales“ im Ancien Régime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 III. Die Bedeutung der Parlamentsideologie in der vorrevolutionären Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Trennung zwischen König und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Die Vorrangigkeit des altüberlieferten historischen Rechts vor der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Parlamente und die neue Konzeption der „représentation nationale“ . 30 IV. Der voluntaristische Diskurs von Sieyès . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Das System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt . 33 I. Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Die Umdeutung der Nation mithilfe der sozial-ökonomischen Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Der Dritte Stand als Nation und Exklusion der Privilegierten . . . . . 37 II. Vertragstheorie und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt . . . . . 41 1. Die Vertragstheorie von Sieyès . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Die Trennung der verfassunggebenden Gewalt von konstituierten Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III. Repräsentation der Nation und die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Die Vorstellung von Repräsentation im Ancien Régime . . . . . . . . . . 49
8 Inhaltsverzeichnis a) Der König als Repräsentant der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Generalstände als Repräsentanten der Partikularinteressen . . . . . 50 2. Der Begriff der nationalen Repräsentation bei Sieyès . . . . . . . . . . . . 52 a) Moderne Gesellschaft und die Notwendigkeit der Repräsenta tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Merkmale des Repräsentationsbegriffs bei Sieyès . . . . . . . . . . . . 54 aa) Unitarische und nationale Repräsentation. . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Freies Mandat: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 cc) Unterscheidung zwischen Legislativorgan als außerordent lichem Repräsentanten und verfassunggebende Versammlung als außerordentlichem Repräsentanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 IV. Die revolutionäre Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt bei Sieyès . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 C. Zäsur: Gemäßigte Betätigung des pouvoir constituant nach 1794 . . . . . . . . 60 D. Exkurs: Arendts Auseinandersetzung mit der Absolutheit der Nation . . . . . 66 Zweiter Teil
Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
71
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre . . . . . . . 71 I. Die Unterscheidung zwischen Souveränität und kommissarischer Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Auffassungen von der Diktatur bis zur Renaissance . . . . . . . . . . . . . 74 2. Souveränität im modernen Staat und Ausnahmezustand . . . . . . . . . . 75 3. Souverän und Diktator als Kommissar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Souveräne Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Der Übergang zur souveränen Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Souveräne Diktatur und pouvoir constituant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 III. Befugnis zur Verfassungsänderung und Möglichkeit zur „Revolution in Permanenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Die Möglichkeit legaler Revolution nach 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Herrschende Meinungen über die Verfassungsänderung gemäß dem Art. 76 der Weimarer Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Das Erbe: Behandlung des Art. 78 der kaiserlichen Verfassung in der alten Staatsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Inhaltliche Unbeschränktheit und totale Verfassungsänderung . . . 99 c) Umstrittene Verfassungsdurchbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Schmitts Kritik an der inhaltslosen Legalität und Neutralität . . . . . . 105 B. Umdeutung des pouvoir constituant und der Kampf gegen revolutio näre Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Nationale Homogenität und der Begriff des Politischen . . . . . . . . . . . . 111
Inhaltsverzeichnis9 1. Das Politische und der nicht überwundene Staatsbezug . . . . . . . . . . 111 2. Homogenität des Volkes als die Voraussetzung der Verfassung . . . . 119 II. Umkehrung der Lehre des pouvoir constituant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Analyse der Vieldeutigkeit des Verfassungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Absoluter Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Relativer Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 c) Positiver Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Verfassunggebende Gewalt des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Konkrete politische Entscheidungen in der Weimarer Verfassung . . 138 III. Begrenzung der Verfassungsänderung und Schutz der Verfassung . . . . 140 1. Verfassunggebung und die Grenze der Verfassungsänderung im Art. 76 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Unterschied zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Verfassungsdurchbrechung und apokryphe Souveränitätsakte . . . 143 2. Kommissarische Diktatur des Reichspräsidenten und Hüter der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Wahrende Gewalt und Gegengewicht zum Parlament . . . . . . . . . 147 b) Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten aus Art. 48 . . . . . . . . 150 aa) Kommissarische Diktatur oder souveräne Diktatur? . . . . . . . 150 bb) Die kommissarische Diktaturgewalt aus Art. 48 in der Endphase der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Dritter Teil
Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
165
A. Verfassungsreform in Taiwan nach dem Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . 165 I. Sechs Verfassungsänderungen nach dem Ausnahmezustand (1991–2000): Zur Verstärkung des repräsentativen Charakters der Regierung . . . . . . . 166 II. Unabhängigkeitsbewegung, Staatsgründung und das Thema der Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 III. Die letzte Verfassungsänderung von 2005 und die Verfassungsdebatte . 172 B. Debatte zwischen der Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 I. Schmitts Theorie über die Grenze der Verfassungsänderung und Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 II. Die Konzeption der verfassunggebenden Gewalt von Sieyès und die Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Einleitung A. Die politische Bedeutsamkeit des Begriffs der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes kann nicht nur revolutionär, sondern auch gegenrevolutionär sein. Nach der rechtspositivistischen Auffassung ist die Verfassung zwar die höchste Rechtsnorm in der innerstaatlichen Normenhierarchie, ihre Kraft ist dennoch nicht aus sich selbst abgeleitet, sondern vielmehr von einer ihr übergeordneten Größe, dem „pouvoir constituant“ des Volkes. In diesem Sinn definiert Böckenförde den pouvoir constituant als „diejenige (politische) Kraft und Autorität, die in der Lage ist, die Verfassung in ihrem normativen Geltungsanspruch hervorzubringen, zu tragen und aufzuheben.“1 In seiner Definition stellt Böckenförde den Begriff der verfassunggebenden Gewalt als demokratisch und revolutionär hin.2 Die revolutionäre Eigenschaft der verfassunggebenden Gewalt hängt eng damit zusammen, dass sie während der Französischen Revolution als ein polemisches Schlagwort gegen das Ancien Régime verwendet wurde. Ideengeschichtlich betrachtet fokussiert sich also die Erörterung der verfassunggebenden Gewalt in erster Linie auf ihren revolutionären Sinn. Isensee erkennt auch diesen revolutionären Sinn, verweist aber des Weiteren darauf, dass sich der Begriff der verfassunggebenden Gewalt in seinem Entwicklungsprozess eine zwiespältige Wirkung entfaltet: Auf der einen Seite kann er eine herbeizuführende Verfassung legitimieren; auf der anderen Seite kann er auch die bestehende Verfassung delegitimieren. Dieser Begriff kann sowohl als verfassungsbegründendes Argument für die Stabilität einer Verfassung benutzt, aber auch als ein verfassungszerstörendes Argument instrumentalisiert werden.3 In diesem Sinn kann der pouvoir constituant nicht nur zur Stabilisierung des Verfassungsrechts führen, sondern auch seine Politisierung zur Folge haben. „Das hängt davon ab“, so heißt es bei Isensee, „ob der Verfassungsgeber wirksam ist und verschwindet, solange die Verfassung in Wirksamkeit steht, oder aber ob er stets präsent und in Aktion bleibt.“4 1 Böckenförde,
Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, S. 11. S. 11 f. 3 Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, S. 30–34, 71–73. 4 Ebd., S. 33. 2 Ebd.,
12 Einleitung
In Taiwan kam der zwiespältige Charakter der verfassunggebenden Gewalt des Volkes während einer Serie von Verfassungsänderungen ab 1991 zum Vorschein. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes war, auch wenn sie nicht explizit zum Ausdruck kam, tatsächlich der ausschlaggebende Begriff, der sich hinter der verfassungsrechtliche Debatte in Taiwan seit den 90er Jahren verbarg. Nachdem der über 38 Jahre währende „Ausnahmezustand“ (1949–1987) abgeschafft worden war und die Demokratisierung Taiwans in die Wege geleitet wurde, fiel auf, dass die Verfassung Taiwans, die im Jahre 1945 auf dem chinesischen Festland entworfen worden war und als Verfassung der „Republik China“ (Republic of China) in die Geschichte eingegangen ist, sich bereits sehr weit von der aktuellen politischen Wirklichkeit entfernt hatte. Es stellte sich aus diesem Grunde als notwendig heraus, die rechtliche Normativität mithilfe von Verfassungsänderungen der Faktizität näher zu bringen. Folglich wurden in Taiwan im Zeitraum von 1991 bis 2005 sieben Verfassungsänderungen in die Wege geleitet. Jedes Mal stand die Frage zur Debatte, wie weitreichend die Verfassung geändert werden sollte. Währenddessen kristallisierte sich unter den Befürwortern einer Beschränkung der verfassungsändernden Gewalt die Lehre der beschränkten Verfassungsänderung heraus, und dies vor allem vor dem Hintergrund der Bewahrung der Kontinuität und Stabilität der Verfassung. Diejenigen, die für eine unbegrenzte Abänderung der Verfassung eintraten, begründeten dagegen ihre Überzeugungen damit, dass das Volk als Souverän auf keinen Fall an Rechtsformen und Prozeduren gebunden sei, sondern es jeweils nach seinem Willen über das Verfassungssystem und die grundlegende politische Ordnung entscheiden sollte. Diese Verfassungsdebatte brach am Vorabend der letzten Verfassungsänderung von 2005 erneut aus. Der Grund lag darin, dass erstmalig von dem Mittel einer Volksabstimmung bzw. eines Referendums zur Verfassungsänderung Gebrauch gemacht wurde. Die Verwendung des Referendums radikalisierte einerseits den demokratischen Anspruch, laut dem das taiwanische Volk als eine bereits von China getrennte, unabhängige Nation das Recht zur Selbstbehauptung und erwünschten Verfassungsrevision haben sollte. Die Referendumsbefürworter sahen in der Direktdemokratie die unmittelbare Äußerung des Volkswillens und die Überlegenheit der Volkssouveränität. Daraus zogen sie die folgende Schlussfolgerung: Wer die Volksabstimmung zur Verfassungsänderung ablehnt oder sie inhaltlich zu beschränken versucht, der verneint auch die Demokratie. Im Gegensatz dazu stand die Ansicht, dass Verfassungsänderungen, auch wenn sie mithilfe eines Referendums durchgeführt werden, nicht die grundlegenden Prinzipien ebenjener Verfassung brechen und aufheben dürfen, weil eine ausufernde Verfassungsänderung zur Verletzung der Verfassung und der konstitutionellen Basis führen könne. Wer die bestehende Verfassung ernst nehme, der solle be-
B. Problematik13
stimmte Werte in der Verfassung festschreiben und diese vor negativen Ergebnissen unverhältnismäßiger Verfassungsänderungen schützen. In jener Verfassungsdebatte kam die Spannung zwischen beiden Lagern zum Vorschein: auf der einen Seite die Befürworter des Vorrangs der Volkssouveränität und einer umfassenden (sogar totalen) Verfassungsrevision, auf der anderen Seite das Beharren auf dem „Geist der Verfassung“ und Begrenzung von Verfassungsänderungen zum Zwecke der Stabilität.
B. Problematik Sieyès und Schmitt sind die beiden ausschlaggebenden Denker, die dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt gegensätzlich definiert und eben dadurch zu Relevanz verholfen haben. Sieyès hat als Erster den Begriff der verfassunggebenden Gewalt explizit verwendet und theoretisch gefasst.5 Er stand vor der Problematik, dass das auf Gewohnheitsrechten beruhende Legalitätssystem in Frankreich die politische Hierarchie und das Ancien Régime rechtfertigte. Im Gegensatz zu den Kolonien in Nordamerika, wo die feudale Ordnung der alten Welt inexistent war, musste der Dritte Stand in Frankreich zuerst die althergebrachte Rechtsordnung durchbrechen, um eine neue politische Ordnung der Gleichberechtigung aufzubauen. Dafür berief sich der Dritte Stand auf eine höhere Legitimität als die Legalität der Rechtsordnung und politischer Einrichtungen. Das ist der Grund, weshalb zu jener Zeit die von Abbé Sieyès formulierte Lehre des pouvoir constituant in den Vordergrund trat. Insofern spielte Sieyès nicht nur im Rahmen der Französischen Revolution eine relevante Rolle, sondern auch in der Ideen5 Sieyès hat selbst die Unterscheidung zwischen dem „pouvoir constituant“ und „pouvoirs constitués“ als Errungenschaft der Revolution bezeichnet – freilich ist das als seine eigene Leistung zu verstehen, aber sein Zeitgenosse, Lafayette, stellte später Sieyès’ Behauptung und Urheberrecht in Frage. Er meinte, in Wahrheit habe die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten die Französische Revolution und die Lehre der verfassunggebenden Gewalt geprägt, so dass sie als die Wegbereiter der verfassunggebenden Gewalt bezeichnet werden sollte. Vgl. Zweig, S. 1 f. Es ist heutzutage zumeist unumstritten, dass die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten in der Praxis die Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität in die Wege leitete. Seitdem ist das Volk imstande, das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt zu werden. Jellinek, S. 522. Dazu auch Starck, S. 40; Boehl, S. 17 ff.; Möller, S. 9 ff. Trotzdem ist die Lehre der verfassunggebenden Gewalt während des Unabhängigkeitskrieges weder systematisiert noch für revolutionär gehalten worden – es ist fraglich, ob die amerikanische Unabhängigkeit wirklich eine „Revolution“ d. h., ein Umsturz des Ancien Régime war. Darum ist die Lehre letztlich doch auf Sieyès zurückzuführen. Der Begriff „pouvoir constituant“ ist vor allem wegen der Lehre von Sieyès bekannt geworden. Diese Auffassung vertreten Zweig, S. 118; Loewenstein, Volk und Parlament, S. 30; Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, S. 8 ff.; Isensee, S. 26 ff.
14 Einleitung
geschichte der verfassunggebenden Gewalt. Bei Schmitt aber bestehen Sinn und Zweck der Lehre der verfassunggebenden Gewalt nicht darin, die bestehende Rechtsordnung zu durchbrechen, sondern vielmehr darin, die Weimarer Verfassung vor dem Missbrauch der verfassungsändernden Befugnis des Parlaments zu bewahren und somit die Totalrevision und die daraus resultierende revolutionäre Umwälzung zu vermeiden. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes nicht im revolutionären Sinn gebraucht. Dieser revolutionäre Begriff wird deshalb bei Schmitt ins Gegenteil verkehrt. Erstaunlich ist, dass in der taiwanischen Verfassungsdebatte die Wirkung der Lehre von Sieyès und Schmitt auf die Diskurse selten thematisiert wurde. Die Diskurse der beiden politischen Lager standen tatsächlich in dieser Verfassungsdebatte hinsichtlich der Grenze von Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit beiden Theoretikern: Das für umfassende Verfassungsänderungen eintretende Lager neigte zum Vorrang der Volkssouveränität bzw. der verfassunggebenden Gewalt des Volkes vor der Verfassung und beruhte also auf der von Sieyès erstellten Konzeption; das entgegengesetzte Lager, das gegen umfassende Verfassungsänderungen und für Beschränkung der Befugnis zur Verfassungsänderung war, verwendete der Sache nach die Konzeption Schmitts und befürwortete die Verteidigung der aus der verfassunggebenden Gewalt abgeleiteten grundsätzlichen Prinzipien. Ideengeschichtlich betrachtet kann man den Kernpunkt der beiden Lager der taiwanischen Verfassungsdebatte auf Sieyès und Schmitt zurückführen, obwohl die Protagonisten beider Lager sich dieser Tatsache zumeist nicht bewusst sind. In diesem Sinn sind Sieyès und Schmitt die Riesen, auf deren Schultern die Debattierenden beider politischen Lager stehen. Bereits vor der Verfassungsdebatte waren tatsächlich einige einleitende taiwanische Schriften über die Lehre von Sieyès oder Schmitt verfasst worden. In den 50er Jahren waren z. B. schon rechtswissenschaftliche Lehrbücher erschienen, die Schmitts Lehre hinsichtlich der Grenzen der Verfassungsänderung thematisiert und als das relevante Paradigma bezeichnet hatten.6 Im späteren Verlauf hatte der Rechtswissenschaftler Tzong-Li Hsu sich intensiv mit den Lehren der beschränkten Verfassungsänderung in Deutschland, vor allem in der Weimarer Zeit, und in Taiwan beschäftigt.7 In diesem Zusammenhang verwies er auf den Einfluss der Lehre der beschränkten Verfassungsänderung Schmitts auf mehrere taiwanische Wissenschaftler und von ihnen verfasste Lehrbücher.8 Die in Lehrbüchern geäußer6 Liu,
S. 23 f.; Sa, S. 25 ff. Tzong-Li Hsu, Theories of The Limitation of Constitutional Amendment I; der., Theories of The Limitation of Constitutional Amendment II. 8 Tzong-Li Hsu, Theories of The Limitation of Constitutional Amendment II, S. 73. 7 Vgl.
B. Problematik15
te Darstellung baute eine vorherrschende Lehrmeinung auf, nach der die Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué unbedingt dazu führe, dass verfassungsändernde Organe, obwohl sie auch das Volk repräsentierten, nur die konstituierte Gewalt ausüben könnten. M.a.W., die verfassunggebende Gewalt solle beim Akt der Verfassungsgebung zur Anwendung kommen, um danach bis zur nächsten Betätigung im Tiefschlaf zu versinken. Dementsprechend sei die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt zwar nicht an das Verfassungsrecht gebunden, weil die verfassunggebende Gewalt die der Verfassung überlegene faktische Kraft sei; dennoch sei die Verfassungsänderung als eine Befugnis im Rahmen der Verfassung natürlich begrenzt. Diese Lehrmeinung, dass Verfassunggebung strikt von der Verfassungsänderung zu unterscheiden sei, ist die typisch für die von Schmitt geprägte Konzeption der verfassunggebenden Gewalt. Weil diese Lehrmeinung so beherrschend war, schien es den meisten taiwanischen Forschern, als ob der Begriff der verfassunggebenden Gewalt bei Schmitt sich nicht im Geringsten von demselben Begriff bei Sieyès unterscheide. Daraus folgt, dass nicht nur problematische Interpretationen zu den beiden Denkern entstanden, sondern auch dass die Lehre dieser beiden kaum als der theoretische Ursprung der taiwanischen Verfassungsdebatte bezüglich der Grenze der Verfassungsänderung erkannt wurde. Diese problematischen Interpretationen haben zuerst einmal den voreiligen und zweifelhaften Schluss zur Folge, dass sowohl Sieyès als auch Schmitt aus dem gleichen Motiv heraus und daher auf dieselbe Art und Weise den Begriff der verfassunggebenden Gewalt konzipiert hätten.9 Als ein Vertreter dieser Auffassung kann an dieser Stelle z. B. Jau-Yuan Hwang angeführt werden, der davon ausgeht, dass Sieyès mit der Lehre der verfassungsgebenden Gewalt vor allem die nach der Revolution gegebene neue Verfassung retten wolle.10 Seine Absicht sei daher mit der von Schmitt 9 Hingegen wurde in Deutschland Schmitts Umdeutung der Lehre der verfassunggebenden Gewalt des Volkes bereits in manchen Forschungen in Betracht gezogen und thematisiert. Vgl. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus; Breuer, Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyes und Carl Schmitt; Pasquino, Die Lehre vom „pouvoir constituant“ bei Emmanuel Sieyès und Carl Schmitt; Merkel, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes; Thiele, Advokative Volkssouveränität. Im Gegensatz zu anderen betont Pasquino eher Schmitts Rezeption der Lehre von Sieyès. Überdies zeigen andere Forscher darauf, dass Schmitt in seiner Verfassungslehre den Begriff der verfassunggebenden Gewalt als Pendant zum pouvoir constituant in das Vokabular der deutschen Rechtssprache einführte und das dahinterstehende Theoriegebäude erheblich modifizierte.“ Siehe Winterhoff, S. 127; Steiner, S. 216. 10 Er behauptet: „Eines der Hauptziele seiner [d. h., Sieyès, S. Y.] Lehre besteht darin, die nach der Französischen Revolution gegebene Verfassung zu verteidigen. Seiner Ansicht nach ist die verfassungsgebende Gewalt des französischen Volkes mit
16 Einleitung
gleichzustellen. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, ob dieser vor der Französischen Revolution bereits von Sieyès entwickelte Begriff wirklich zur Gewährleistung der Verfassung dient und daher konterrevolutionär ist. Parallel dazu ist eben auch zu fragen, ob Schmitts Darstellung der Lehre von Sieyès in der Weimarer Zeit wirklich die damit verbundene souveräne Diktatur als ihren Endzweck hat.11 Der Grund für solche unzutreffende Interpretation liegt darin, dass der konkrete Kontext von Schriften und Lehren nicht in Erwägung gezogen wurde. Die Forschung über die beiden Denker konzentriert sich vor allem auf die Analyse der Literatur vernachlässigt aber den politischen Kontext der Konzeptionen von Sieyès und Schmitt sowie deren Stoßrichtung. Denn Theorien entstehen niemals innerhalb eines Vakuums, sondern haben immer der Verfassungsgebung bereits zur Anwendung gekommen, sodass die nationale Souveränität unter der neuen Verfassung nicht mehr tätig zu werden brauche. Die Befugnis zur Verfassungsänderung sei ebenfalls beschränkt und lasse keine willkürlichen Änderungen an der für ihn sakrosankten neuen Verfassung Frankreichs zu. Für Abbè Sieyès ist ein Begriff wie „die Grenzen der Verfassungsänderung“ tatsächlich nichts anderes als eine nachträglich vorgelegte Ausrede, die dazu dient, die Errungenschaften seiner damaligen politischen Siege zu festigen und rechtfertigen.“ Vgl. Hwang, Rethinking the Theory of Substantive Limitations on Constitutional Amendments, S. 226 f. 11 Interessant ist, dass der renommierte taiwanische Politologe Carl K. Y. Shaw Schmitts Konzeption und Theorie durch die Brille von Sieyès betrachtet, während Hwang die Lehre von Sieyès gleichsam mit den Augen mit Schmitts Brille sieht. Shaw ist davon überzeugt, dass Schmitts Auffassung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auf die von Sieyès’ Theorie begründete Absolutheit des Volkes zurückgeführt werden könne. Wie Sieyès hebe Schmitt auch hervor, dass die absolute verfassunggebende Gewalt des Volkes nach einer Verfassunggebung nicht erschöpft und gebunden sei. Folglich könne das Volk jeweils in die Kontinuität und Stabilität der Verfassung eingreifen, um eine durchaus neue politische Ordnung mit der Verfassung, sogar auch eine undemokratische, zu schaffen. Insofern wird die Machtübernahme der NSDAP 1933 von Shaw als ein Akt der Verfassunggebung, nicht der Verfassungsänderung bzw. Verfassungsdurchbrechung interpretiert. Außerdem setzt Shaw diesem linear entwickelten Begriff Arendts Absicht entgegen, die der revolutionären Kraft innewohnende Absolutheit der Volkssouveränität zu zähmen. Vgl. Shaw, National Democracy in Taiwan; Shaw, Republicanism, Nationalism and Constitutional Theory. Shaws Meinung ignoriert aber, dass in Schmitts System die Grenze der Verfassungsänderung tatsächlich im Zusammenhang mit seiner Konzeption der verfassunggebenden Gewalt steht. Er hat also nicht vor Augen, dass Schmitt keine Revolution, sondern das Bremsen des legalen Umsturzes in der Weimarer Republik beabsichtigte. Darüber hinaus mag Shaws Interpretation unmittelbar aus Aratos Ansicht hervorgehen. Arato unterscheidet fünf Modi der Verfassunggebung. Die Lehre von Sieyès und Schmitt wird demnach der „revolutionary democracy“ zugeordnet; Arendts Lehre der „dualist democracy“. Kurz nach der letzten Verfassungsänderung zitiert Shaw in einem Artikel Aratos Modi. Siehe Shaw, „Constitu tional Amendment“ and „Quasi Constitutional-Making“. Näheres zu Aratos Ansicht vgl. Arato, Civil Society, Constitution, and Legitimacy, S. 236–247.
B. Problematik17
Beziehungen zu den jeweiligen sozialen und politischen Umständen. Dies ist insbesondere bei diesen beiden Theoretikern der Fall, deren Schriften zumeist polemisch und von der aktuellen Situation abhängig sind. D. h., ihre Schriften beziehen sich auf die politische Praxis und ihre persönliche Einstellung zu bestimmten Ereignissen.12 Gerade aus diesem Grund wurden sie oftmals heftig kritisiert. Es ist folglich unerlässlich, nicht nur die Schriften der Autoren, sondern auch ihren Kontext in Betracht zu ziehen, wenn man die jeweilige Intention ihrer Schriften klar darstellen will. Aus der vorherrschenden Lehrmeinung folgt andererseits ein von vielen geteiltes Stereotyp, nämlich dass Sieyès̕ Konzeption der verfassunggebenden Gewalt ausschließlich mit dem Akt der Verfassunggebung zu tun hätte, nicht aber mit der Verfassungsänderung.13 In der Tat meinte der taiwanische Verfassungsrechtler Meng-Wu Sa bereits in den 70er Jahren, dass im System von Sieyès Verfassunggebung und Verfassungsänderung kaum einen Unterschied darstellten.14 Jedoch wurde sein Hinweis in der folgenden Zeit nicht weiter beachtet und geriet dann in Vergessenheit. Aufgrund dieses Stereotyps kam die theoretische Affinität von Sieyès und Befürwortern der Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung fast nie in Betracht. Sogar diese Befürworter selber teilten eben das Stereotyp und hielten daher Distanz zu Sieyès. Ein Beispiel ist die Auffassung der Rechtswissenschaftlerin Wen-Chen Chang. Sie nahm, weil das revolutionäre Motiv von Sieyès̕ so beeindruckend ist, auch den Standpunkt ein, dass Sieyès mit der Konzeption der verfassunggebenden Gewalt lediglich den Akt der Verfassunggebung begründet hätte.15 Darüber hinaus stellte sie die verfassunggebende Gewalt im System von Sieyès heraus als eine reine faktische Gewalt ohne normative Bedeutung, die jede politische Kraft, und somit auch einen Diktator, rechtfertigen könnte. Changs Kritik zeichnet Sieyès als einen Wegbereiter der Jakobinerdiktatur. Hierbei wird jedoch die Tatsache außer Acht gelassen, dass ohne die rechtlich ungebundene Gewalt ein Durchbrechen der recht lichen Schranken des ancien régime kaum vorstellbar gewesen wäre. Außerdem wurde Schmitts Motiv für die Beschränkung der verfassungsändernden Gewalt trotz seines Beitrags dazu ebenfalls manchmal in Frage gestellt. Eine Autorin vertritt z. B. die Meinung, dass Schmitt aus der verfassunggebenden Gewalt politische Entscheidungen des Volkes ableite, die 12 Zu Sieyès siehe Eberhard Schmitt, Sieyes, S. 108. Zu Schmitt vgl. Quaritsch, Positionen und Begriffe, S. 17 ff. 13 Vgl. Ching-Hsiung Hsu, A Study of an Amendment to the Constituiom of R.O.C., S. 39–75; Tsai, An Explication of Making and Amending of Constitution; Tsi-Yang Chen, The New Taiwanese Constitution. 14 Vgl. Sa, S. 23. Eine auffallende Ausnahme ist der Rechtswissenschaftler ChihHsiung Hsu. Er hat diesen Unterschied auch erwähnt. Vgl. Chih-Hsiung Hsu, S. 55 ff. 15 Wen-Chen Chang, S. 7 f.
18 Einleitung
jeder positiven verfassungsrechtlichen Bestimmung überlegen seien, woraus folge, dass die Kraft der Normierungen des positiven Verfassungsrechts vermindert und eventuell unter Berufung auf die Entscheidungen als Substanz der ganzen Verfassung überwindbar sei. Folglich werde die Verfassungsdurchbrechung in Form des Ermächtigungsgesetzes von 1933 gerade durch Schmitts Lehre gerechtfertigt.16 In Wirklichkeit ist m. E. jedoch die Praxis der Verfassungsdurchbrechung in der Weimarer Zeit das, was Schmitt ablehnt und durch seine Theorie zu beschränken versucht. Die hier erwähnten problematischen Interpretationen sind einerseits von der ursprünglichen Absicht der Autoren, Sieyès und Schmitt, weit entfernt. Andererseits führen sie dazu, dass die Wirkung von Sieyès und Schmitt auf Taiwan in ungenauen Ausführungen sowie hinter polemischen Äußerungen verschleiert oder verdreht wird. Weil das Nachzeichnen des wirkungsgeschichtlichen Spannungsbogens, der sich vom Begriff der verfassunggebenden Gewalt von Sieyès über Schmitt bis hin zur Diskussion in Taiwan erstreckt, ideengeschichtlich von Interesse und Bedeutung ist, soll dies thematisiert und zurecht gerückt werden. Ziel und Zweck der vorliegenden Arbeit bestehen also darin, die „abwesenden Anwesenden“, Sieyès und Schmitt, innerhalb der taiwanischen Verfassungsdebatte in den Vordergrund zu stellen. Um diesen Themenschwerpunkt näher zu betrachten geht die vorliegende Arbeit folgendermaßen vor: (1) Zunächst wird die Arbeit auf die Lehre von Sieyès eingehen (1. Teil). Erörtert werden dann Schmitts Rezeption der Lehre von Sieyès (2. Teil) und seine Umdeutung der Konzeption der verfassunggebenden Gewalt (3. Teil). Hierbei beschränkt sich die Arbeit auf die Schriften, die hauptsächlich den Begriff der verfassunggebenden Gewalt betreffen: Bei Sieyès sind dies die Pamphlete aus der Zeit vor der Französischen Revolution; bei Schmitt die in der Weimarer Zeit entstandenen Werke. (2) Weiterhin wird die vorliegende Arbeit einführend auf den Kontext der entscheidenden Verfassungsänderungen in Taiwan eingehen (3. Teil, A.). (3) Anschließend wird sich die Arbeit auf die Verfassungsdebatte in Taiwan konzentrieren, d. h. die verschiedenen Meinungen bezüglich der Grenzen der Verfassungsänderung analysieren und auf dieser Basis die Rezeption der europäischen Lehre in Taiwan zu erläutern versuchen (3. Teil, B.).
16 Tsai, S. 47 f. Man kann auch bei U. K. Preuß die ähnliche Meinung wahrnehmen. Vgl. Preuß, S. 123 f.
Erster Teil
Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès A. Hintergrund und politische Umstände: Die Verfassungsdebatte am Vorabend der Französischen Revolution I. Die Vorgeschichte der Französischen Revolution und des Verfassungskonflikts Die Französische Revolution stellte sich nicht von Anfang an als umfassender Zusammenbruch des Ancien Régime dar, sondern entwickelte ihre Dynamik aus einer Debatte um die Reform des Steuersystems. In deren Verlauf radikalisierte sich der Anspruch allmählich und ging in einen verfassungsrechtlichen Konflikt über. Dieser dramatische Wandel hin zur Revolution begann zu dem Zeitpunkt, als die Generalstände einberufen wurden. Es ist daher nötig, zunächst die Generalstände und den mit ihnen verbundenen Verfassungskonflikt darzustellen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich die Finanzkrise des französischen Staates, die sich aus der Teilnahme an mehreren Kriegen und dem Defekt des Steuersystems ergab, immer weiter verschärft.1 Um das immer drängendere Finanzproblem zu bewältigen, musste der Monarch Steuererhöhungen und damit – nach dem Vorschlag des damaligen Generalkontrolleurs der Finanzen, Calonne – dringend nötige Reformen zu Lasten der Vorrechte von Adel und Klerus vornehmen. Solche Reformen wurden von den privilegierten Ständen erbittert abgelehnt und daher durch die Parlamente blockiert, die gemäß dem überlieferten Gewohnheitsrecht die Befugnis hatten, die Registrierung der königlichen Ordonnanzen zu weigern (droit de 1 Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg finanzierte Frankreich die riesigen Kriegsausgaben durch Anleihen. Dies führte dazu, dass die meisten Staatseinkünfte für den Schuldendienst blockiert wurden. Vgl. Hartmann, S. 43 f. Von daher versuchte die Zentralregierung durch eine Reformpolitik, die sich gegen die Ungleichheit des Steuersystems zugunsten der Privilegierten richtete, die Staatseinnahmen zu erhöhen. Vgl. Schulin, S. 168 f.
20 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
remontrance).2 Die Parlamente lehnten einerseits ab, neue Steuern zu erheben, und forderten andererseits, die seit 1614 nicht mehr versammelten „Generalstände“ wieder einzuberufen, weil sie daran festhielten, dass gemäß der Tradition die Generalstände als die Repräsentation des Gesamtvolkes das Recht zur Mitwirkung an der Steuerbewilligung hätten.3 Demzufolge sei für die neuen Steuern die Billigung der Generalstände unbedingt erforderlich. Aufgrund der Reformblockade sah sich Ludwig XVI. im August 1788 gezwungen, der Einberufung der Generalstände zuzustimmen, um im Appell an das gesamte Volk die neue Steuererhebung billigen und legitimieren zu lassen. Als die Erklärung zur Einberufung der Generalstände verbreitet wurde, forderte das Bürgertum, dass die Generalstände nach dem Modell der Ständeversammlung in der Dauphiné im September 1788 stattfinden sollten: Dabei hatte der Dritte Stand ebenso viele Vertreter gehabt wie die zwei privilegierten Stände insgesamt; außerdem wurde nach Köpfen abgestimmt.4 Jedoch erklärte am 25. September 1788 das Parlement de Paris im Einvernehmen mit den privilegierten Ständen, dass die kommende Versammlung der Generalstände nach denselben Regeln zusammentreten sollte wie im Jahr 1614, d. h., jeder Stand hatte die gleiche Zahl von Abgeordneten (etwa 200 Sitze) und es wurde nach Ständen abgestimmt. Die Empfehlung des Parlaments vom 25. September 1788 entzündete den Konflikt zwischen den Privilegierten und Nichtprivilegierten. Wenig später 2 Traditionell gehörte zu den Befugnissen der Parlamente im Ancien Régime das Remonstrations- und Registrierungsrecht. Eberhard Schmitt hat gezeigt, wie das Registrierungsverfahren dazu diente, „die Kontinuität der königlichen Gesetzgebung unverfälscht aufrechtzuerhalten; ließ sich nämlich feststellen, dass ein Gesetzesakt formell oder materiell gegen frühere Gesetze verstieß, so hatte das betreffende Parlament Stellung zu nehmen.“ Dies war jedoch mit dem Recht der Parlamente verbunden, „auf Widersprüche und Abweichungen neuer Gesetze von der Rechtspraxis des vergangenen Zeitraums hinzuweisen […] und konnte von den Parlamenten je nach der politischen Situation als Versuch eines Vetos gegen Neuerungen, die die Krone bewußt anstrebte, eingesetzt werden.“ Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 101. Aus dem Remonstrations- und Registrierungsrecht ergab sich die politische Konsequenz, dass die Parlamente, insbesondere das Parlament von Paris, bei der Gesetzgebung mitwirken konnte. Zutreffend vgl. Holtzmann, S. 346–352; Hartmann, S. 24. 3 Die Rolle der Generalstände war im Prinzip die eines außergewöhnlichen Notbehelfs gegen Ausnahmefälle: „Wenn der König mit einer Ausnahmesituation konfrontiert wird, wendet er sich zu ihrer Behebung an die ‚Repräsentation des Königreichs‘, um einen Konsens für seine Politik herzustellen oder – viel schlichter – um sich außerordentliche Subsidien bewilligen zu lassen.“ Siehe Ran Halévi, Generalstände, S. 96. Das wichtigste Recht der Generalstände war die Bewilligung neuer Steuern. Dazu vgl. Hartmann, S. 25 f.; Holtzmann, S. 378 ff. Aber nach 1614 verloren die Generalstände bis 1789 wegen der Entwicklung zum Absolutismus an Einfluss, wie die Ständeversammlungen in den meisten kontinentalen Ländern. 4 Vgl. Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 155 f.
A. Hintergrund und politische Umstände21
wurde der Konflikt jedoch nochmals verschärft, indem der Generalkontrolleur der Finanzen und faktische Premierminister, Necker, am 5. Oktober 1788 die Notabelnversammlung einberief. Sie trat vom 6. November bis 12. November zusammen. Necker erwartete, dass die Notabelnversammlung als Reaktion auf die Empfehlung des Pariser Parlaments ein Urteil abgeben würde – „uniquement sur la manière la plus régulière et la plus convenable à la formation des Etats généraux de 1789“.5 Das Ergebnis widersprach aber seinen Erwartungen. Während der Notabelnversammlung wurde ein Beschluss mit überwiegender Mehrheit gefasst, wonach „die Stände ‚in konstitutioneller Art‘ zusammengesetzt seien.“6 D. h., die Forderungen des Dritten Standes wurden als „verfassungswidrig“ verworfen, dass der Dritte Stand ebenso viele Vertreter wie die anderen zwei Stände insgesamt haben solle (kurz: „doublement du Tiers“) und dass nach Köpfen abgestimmt werden solle („vote par tête“). Der Beschluss der Notabelnversammlung neigt offensichtlich zur Empfehlung des Pariser Parlaments, und bezeichnete gleichzeitig die Ansprüche „doublement du Tiers“ und „vote par tête“ als verfassungswidrig. Danach erfolgte die Veröffentlichung eines Memorandums der Prinzen von Geblüt an den König. Das Memorandum, das alle königlichen Prinzen unterzeichneten – außer dem Herzog von Provence und dem Herzog von Orlèans – wiederholte die Haltung der privilegierten Stände und „verteidigte die Privilegien als ebenso alt und verfassungsmäßig wie die Monarchie selbst“.7 Von nun an schlug der Streit über Steuern und Repräsentation in einen Verfassungskonflikt um. Als der König die Generalstände einberief, plante der Dritte Stand, der seit langem den größten Anteil der Steuern erbrachte, aber immer unterrepräsentiert gewesen war, die Gelegenheit der Steuerbewilligung durch die Generalstände zur Einforderung der seiner Steuerlast entsprechenden politischen Rechte zu nutzen. Jedoch erfuhr er wenig später wegen der Erklärung des Pariser Parlaments und des Beschlusses der Notabelnversammlung eine bittere Enttäuschung. Der Dritte Stand stellte deshalb die Ansprüche der ersten beiden Stände als ein konservatives Manöver zur Bewahrung ihrer Vorrechte heraus. Aus diesem Grund wurden im Frühjahr 1788 / 89 zahlreiche Flugschriften verbreitet, die den Privilegierten und deren „verfassungsrechtlichen“ Ansprüchen widersprachen. In diesen Flugschriften wurde gefordert, dass die alten Grundgesetze und die politische Ordnung, die dem Nationswillen widersprächen, beseitigt werden sollten, weil nur die Nation als Ganzes die Verfassung entwerfen und entscheiden 5 Zitiert
nach ebd., 156 f. S. 213. 7 Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 158. 6 Zweig,
22 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
dürfe. Hierbei veränderte sich der politische Konflikt, der sich gewöhnlich zwischen dem Königtum und dem noblesse de robe in Parlamenten abgespielt hatte, zum Kampf zwischen privilegierten Ständen und Nichtprivilegierten.8 Die vorher vom Parlamentsadel vertretene und nun von den Privilegierten der Notabelnversammlung übernommene Auffassung, wonach Gewohnheitsrecht und Tradition unbedingt befolgt werden müssten – sogar der König dürfe diese nicht brechen und verändern –, wurde vom Dritten Stand als starres Festhalten an der veralteten feudalen Ordnung angesehen. Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Streits trat dann der Anspruch auf die Festlegung einer geschriebenen Verfassung hinzu. Aus diesem Grund gaben Wähler ihren Abgeordneten Cahiers de doléances (Beschwerdehefte) mit, in denen Abgeordnete beauftragt wurden, eine kodifizierte Verfassung während des Zusammentritts der Generalstände zu entwerfen, wie es auch 1776 in den neugegründeten USA geschehen war. (Wie Schulin gezeigt hat, war dies ein neuer Punkt, „denn bekanntlich sollte die Einberufung nicht deswegen, sondern wegen der Finanzkrise geschehen.“)9 Als aber die Generalstände am 5. Mai 1789 zusammentraten, gerieten sie sofort in einen heftigen Streit, weil die Necker-Regierung zwar im November 1788 das Wahlreglement des „doublement du Tiers“ akzeptierte, aber die Forderung nach der Abstimmung nach Köpfen (vote par tête) ablehnte. Weil keine Übereinstimmung über das Wahlreglement zu erreichen war, behaupteten die Vertreter des Dritten Standes, dass der Dritte Stand aufgrund seines Bevölkerungsanteils von 98 %10 allein befähigt sei, die Gewalt zum Entwurf einer neuen Verfassung innezuhaben. Am 17. Juni 1789 bildeten sie daher mit einigen Geistlichen und jenen adligen Abgeordneten, die als „Liberale“ aus dem Stand der Privilegierten Sympathie für die politischen Ansprüche des Dritten Standes empfanden,11 gegen überlieferte Grundgesetze die Nationalversammlung (Assemblée nationale) und postulierten, dass diese den Willen der Nation als Ganzes repräsentiere. Vom 6. bis 9. Juli begründete sich die Nationalversammlung als die verfassunggebende Nationalversammlung (Assemblée nationale constituante). Seitdem übte sie mit der Begründung, dass sie allein die Nation vertrete, die verfassunggebende Gewalt der Nation aus und setzte die bisher gültigen „lois fondamentales“ sowie die „constitution“ außer Kraft. Schulin, Die Französische Revolution, 62, 167, 174. 62. 10 Furet / Richet, Die Französische Revolution, 33. 11 Tatsächlich stand ein guter Teil der Vertreter der Privilegierten auch für politische Reformen. Solche „Liberalen“ spielten eine wichtige Rolle. Nach Schulins Äußerung gehörten fast ein Drittel der adligen Vertreter zu den „Liberalen“. Daneben waren zwei Drittel der Geistlichen der Reform ggü. aufgeschlossen. Vgl. Schulin, Die Französische Revolution, 66 f. 8 Vgl.
9 Ebd.,
A. Hintergrund und politische Umstände23
Von daher kann man deutlich erkennen, dass am Vorabend der Revolution der Streit um die Wahlreglemente schließlich zum Verfassungsstreit hinsichtlich der gesamten Rechtsordnung wurde: als der Dritte Stand die verhältnismäßige politische Macht und Repräsentation für sich in Anspruch nahm, wurde seine Forderung de jure als Verstoß gegen die bestehenden „Grundgesetze (lois fondamentales)“ und die „Verfassung (constitution)“ des Ancien Régime erklärt, gemäß denen die Generalstände zusammengetreten waren; somit fehlte es der Nationalversammlung an „Legalität“. Die „Grundgesetze“ und „Verfassung“ aber verhinderten die Gleichberechtigung des Dritten Standes, der absoluten Mehrheit der Bevölkerung. Daraus folgte die Frage, ob das Volk das Recht hat, seinem Willen nach die Verfassung abzuschaffen, wenn dieser Schritt zur Verfassunggebung – laut Auffassung der alten Rechtstradition und Gewohnheitsrechte – illegal ist. Gerade davon geht die Überlegung des pouvoir constituant von Sieyès aus. Es ist aber zuerst zu fragen, was man unter der „Verfassung“ im Ancien Régime verstand. Die Antwort darauf hängt nicht nur mit der politischen Position von Sieyès zusammen, sondern auch mit der Position seiner Theorie im politischen Diskurs am Vorabend der Revolution.
II. Die Vorstellung der „constitution“ und „lois fondamentales“ im Ancien Régime Es steht außer Zweifel, dass in dem bis 1789 bestehenden Ancien Régime eine geschriebene Verfassung im modernen Sinne fehlte. Semantisch hatte der Begriff „constitution“ im 18. Jahrhundert auch einen anderen Sinn als den des positiven kodifizierten Verfassungsrechts. Wie man anhand von Wörterbüchern und Lexika ersehen kann, bezog sich dieser Begriff damals auf zwei Bestimmungen: Die eine betonte die „Geordnete Einheit eines Ganzen“, z. B. der Körper des Menschen, die Disposition des Staates oder die Beschaffenheit der Welt etc. Die andere betraf das „Recht“ und wurde als Synonym für loi, ordon nace, règlement im Sinne des römischen oder kanonischen Rechts aufgefasst.12 Die zweite Bestimmung umfasste deshalb die Gesetze und Rechtsetzungsakte sowohl des Königs als auch der Kirche. Im Vergleich zu diesen Bedeutungen in Wörterbüchern taucht die Bedeutung des Begriffs in Bezug auf Staatsformen relativ später auf. Die allmähliche Wandlung des Wortsinns von „constitution“ wird erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts spürbar. Seitdem wurde der Terminus zuneh12 Vgl. Fehrenbach, S. 32; Baker, Verfassung, S. 899; Mohnhaupt, Verfassung I, S. 844 f.
24 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
mend im Sinn von „Staatsverfassung“ (constitution de l’Etat) in der singulären Form verwendet und begann eine politische Bedeutung zu enthalten. Allerdings hing der Gebrauch des Terminus noch kaum mit einem geschriebenen kodifizierten Verfassungsrecht zusammen, sondern eher mit der schon bei Aristoteles erschienenen Beschreibung der Staatsformen, etwa wie Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Hierfür kann Montesquieu als Beispiel angeführt werden. Im „L’esprit des lois“ nutzt er „constitution“ noch gemäß der traditionellen Vorstellung und bezieht sich auf Staatsformen überhaupt sowie die sie konstituierende Natur, d. h., die „vor-positive Ordnung“ eines Staates. Mit dem anderen Begriff in Montesquieus System, den „lois fondamentales“, werden die Grundregeln gekennzeichnet, die sich aus der Staatsform ableiten. Montesquieus Auffassung des Begriffs „constitu tion“ blieb bis zu einem gewissen Grade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein maßgebendes Paradigma, von dem die Ideologie der Parlamente stark geprägt war. Eben aus diesem Grund trat zwar in der vorrevolutionären Zeit der Begriff von „constitution“ und „lois fondamentales“ langsam in die politische Sprache, aber die Anwendung solcher Begriffe unterschied sich noch von der Vorstellung einer Verfassung im modernen Sinn. Gleichzeitig aber befand sich der Begriff von „constitution“ im Wandel und ging von Montesquieus Anwendungsweise in Bezug auf Staatsformen im Allgemeinen schrittweise zu der geschriebenen Verfassung im modernen Sinn über. Beim Zusammentritt der Generalstände koexistierte die alte Bestimmung dieses Begriffs noch mit der neuen.13 Wegen der Kollision der beiden Bedeutungen war dieser Begriff in Frankreich so vieldeutig und ambivalent, dass Gebrauch und Inhalt desselben Wortes als Kampf- und Propagandamittel immer abhängig von verschiedenen Kontexten und auch von politischen Haltungen waren. Da die inhaltliche Undeutlichkeit der Idee der „constitution“ vor der Revolution, vornehmlich 1788 / 89, noch bestehen blieb, entwickelte sich ein Streit darum, ob Frankreich eine Verfassung habe. Die Ambivalenz des Begriffs „constitution“ und der daraus folgende Verfassungskonflikt kamen schon in der nach dem Zusammentritt der Notabelnversammlung 1788 verfassten Flugschrift von Sieyès „Was ist der Dritte Stand?“ zum Ausdruck:14 13 Die Vieldeutigkeit des Begriffs „constitution“ und die davon ausgelösten Debatten hat Zweig schon deutlich beschrieben. Vgl. Zweig, S. 221 f., insbesondere S. 221 Fn. 3. 14 In der dritten Auflage fügt Sieyès die Anmerkung hinzu: „Dieses Werk, während der Notabelnversammlung von 1788 verfaßt, ist in den ersten Tagen des Januar 1789 veröffentlicht geworden. Es kann als Fortsetzung des Versuchs über die Privilegien dienen.“ Vgl. Sieyès, in: Politische Schriften, S. 117. Durch die Anmerkung zeigt sich, dass sich diese den dritten Stand betreffende Flugschrift gegen die Ansicht der Privilegierten richtet, die mit dem Rechtediskurs verbunden ist.
A. Hintergrund und politische Umstände25 „Unverfroren behaupten sie [die Privilegierten, S. Y.] heute das Gegenteil von dem, was sie vor sechs Monaten gesagt haben. Damals gab es in Frankreich nur einen Kampfruf: wir haben keine Verfassung, wir verlangen, daß eine Verfassung gemacht wird. Heute haben wir auf einmal nicht nur eine Verfassung, sondern diese enthält, wenn man den Privilegierten glauben will, auch noch zwei ausgezeichnete und unangreifbare Bestimmungen. Die eine ist die Trennung nach Ständen; die andere ist der gleiche Einfluß eines jeden Standes auf die Bildung des Nationalwillens.“15
Selbstverständlich brachten die kollidierenden Haltungen zu diesem Verfassungsstreit 1788 / 89 oppositionelle Diskurse hervor, nämlich den Rechtediskurs und den Voluntarismus-Diskurs.16 Den Gegensatz zwischen diesen beiden hat Baker so dargestellt: „Diejenigen, nach deren Ansicht Frankreich gänzlich ohne Verfassung war, betonten die Notwendigkeit der Schaffung einer politischen Ordnung, in der die willkürliche Ausübung der Macht beschränkt werde; diejenigen, die sich auf eine bereits bestehende Verfassung beriefen, benutzen diesen Begriff in einem erweiterten Sinn, der die notwendige Existenz einer in Ordnungen und Stände unterteil15 Ebd.,
172 f. trennt im Allgemeinen die politischen Diskurse der vorrevolutionären Zeit in drei Richtungen: Rechtediskurs, Voluntarismus-Diskurs und Vernunft-Diskurs. Der Unterschied zwischen dem Rechtediskurs und Voluntarismus-Diskurs wird unten weiter erwähnt. Hier ist kurz die Differenz zwischen den beiden letzteren zu erklären. Der Voluntarismus-Diskurs, der am Ende des Ancien Régime immer mehr als der zentrale Punkt der Überlegungen über die politische Ordnung gilt und unmittelbar die Souveränität des nationalen Willens unterstützt, ist nach Bakers Darstellung von der klassisch republikanischen Tradition geprägt. Dieser Diskurs stehe auf dem Standpunkt: Die Freiheit als der Ausdruck des kollektiven oder allgemeinen Willens über den individuellen Willen; die direkte Demokratie statt Repräsentation. Anders als der Voluntarismus-Diskurs bringe der Vernunft-Diskurs, den vor allem das Verwaltungsprogramm der Minister Ludwigs XVI. vertrete, solche Argumente vor: „[…] der politische Wille muß einem aufgeklärten Verständnis des naturbedingten und wesentlichen Zustandes der Gesellschaften weichen, und die Sprache des politischen Willens muß einem rationalen Diskurs der Gesellschaft Platz machen.“ Baker, Sieyès, S. 530 f. Der Vernunft-Diskurs beeinflusse, laut Baker, in der vorrevolutionären Epoche die Reformen der Zentralregierung. Von der politischen Stellung her betrachtet richtet sich der Vernunft-Diskurs in Verbindung mit dem Aufklärungsdenken gewissermaßen gegen die konservative Tendenz des Rechtediskurses. Baker sagt weiterhin, die Haltung von Sieyès richte sich einerseits gegen den Rechtediskurs, stelle aber auch einen Kompromiss zwischen den letzteren beiden Diskursen dar, d. h., er modifiziere den Willen-Diskurs und lasse ihn von der Vorstellung der rousseauschen Direktdemokratie abweichen. Von daher passe seine Theorie besser zur modernen Gesellschaft, obwohl er zugleich auch das Argument des Voluntarismus-Diskurses rezipiere, wonach die Nation das Recht haben solle, sich eine Verfassung zu geben. Hier ist nicht auf den Unterschied zwischen dem Voluntarismus-Diskurs und dem Vernunft-Diskurs einzugehen. Ich konzentriere mich nur auf die Frage, ob die traditionellen Grundgesetze und Rechtsordnung beibehalten werden sollen. 16 Baker
26 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès ten Gesellschaft einschloß, die folglich getrennt und gleich stark in den Generalständen repräsentiert sein sollten.“17
Den letzteren, den Rechtediskurs, vertraten vor allem die konservativen Adligen in der Notabelversammlung, die damit die Ansprüche des Dritten Standes für „verfassungswidrig“ hielten. Auf der anderen Seite standen die Revolutionäre und Liberalen insgesamt für den ersteren, den voluntaristischen Diskurs.
III. Die Bedeutung der Parlamentsideologie in der vorrevolutionären Epoche Der Rechtediskurs tauchte tatsächlich nicht erst am Vorabend der Revolution auf. Richtet man den Blick auf die Jahrzehnte vor 1788 / 89, so fällt auf, dass der Rechtediskurs in dem Konflikt zwischen Parlamenten und administrativen Beamten der Krone schon vor Jahrzehnten entstanden war und Einfluss im politischen Bereich hatte. Als ein essenzieller Bestandteil gehörte der Rechtsdiskurs zu der von Parlamenten aufgestellten Ideologie, die vor 1788 / 89 eine führende Rolle im Widerstand gegen den Absolutismus spielte, danach aber zu einem konservativen Faktor wurde. Im Verlauf der Entwicklung zum Absolutismus waren die Parlamente ursprünglich eine vom Königtum eingerichtete Justizinstitution, die dazu diente, die Übereinstimmung der Rechtsprechung mit der gesetzgebenden Gewalt des Königs zu bewahren. Aber seit dem Ende des 16. Jahrhunderts begannen die Parlamente, sich durch Ämterkauf und faktische Unabsetzbarkeit der Richter aus der Kontrolle der Zentralregierung zu lösen. Damit wurden sie zu Kritikern der Macht der Zentralisierung. Im 18. Jahrhundert radikalisierte sich der Gegensatz zwischen Krone und Parlamenten weiter. Die politische Situation kann mit einer kurzen Formulierung beschrieben werden: „Justice versus Administration“.18 Währenddessen setzte das Pariser Parlament vielfach durch sein Registrierungs- und Remonstrationsrecht der königlichen Ordonnanz, vor allem in Bezug auf die Erhebung neuer Steuern, Widerstand entgegen.19 Das Jahr 1771 war ein entscheidender Höhepunkt des Konflikts zwischen König und Parlamenten. In diesem Jahr wurde de Maupeou zum neuen Kanzler berufen, um eine Finanzreform durchzusetzen. Zugleich aber wurde das Pariser Parlament von der Zentralregierung wegen Obstruktion dieser Reform abgeschafft. Das Pariser Parlament „wurde zu diesem Zeitpunkt von 17 Baker,
Verfassung, S. 898. Justice versus Administration, S. 103 f. 19 Schulin, S. 170; Wagner, S. 65 ff. 18 Hinrichs,
A. Hintergrund und politische Umstände27
der Öffentlichkeit bereits so sehr mit der von ihm selbst für sich in Anspruch genommenen Rolle als Hüter der Prinzipien der französischen monarchischen Verfassung gegenüber dem ‚despotisme ministériel‘ identifiziert, daß die Zeitgenossen Maupeous Vorgehen als ‚Coup d’Etat‘ und ‚Révolu tion‘ apostrophieren und dem Kanzler ‚Verfassungsbruch‘ vorwerfen konnten.“20 Im Mittelpunkt dieses Vorwurfs stand die von Parlamenten entwickelte Ideologie in Bezug auf den Begriff der „lois fondamentales“ und „constitution“. Diese Ideologie umfasst drei Elemente: 1. Trennung zwischen König und Nation Unter dem Begriff „Nation“ wurde im Ancien Régime, besonders vor 1750, im Allgemeinen nicht eine Abstammungsgesellschaft im ethnischen Sinn verstanden, sondern eher auf eine Menge der Menschen, die unter gleichen Gesetzen und innerhalb eines bestimmten Territoriums zusammenleben.21 Nach dieser Definition werden vor allem die gleichen Gesetze und das gleiche Territorium als Merkmale hervorgehoben, die alle Mitglieder einer beliebigen Nation gemein haben. Sowohl Montesquieu als auch Voltaire verwenden den Nationsbegriff in diesem Sinn.22 Die „Nation“ wurde danach von Angehörigen der Parlamente (parlementaire) als ein Inbegriff der übergreifenden Einheit des französischen Gemeinwesens aufgefasst, der sich der König unterwerfen musste, auch wenn er Souverän und Gesetzgeber war. Die Vorstellung des Gemeinwesens stützt sich, Foucaults Darstellung zufolge, auf denjenigen historischen Diskurs, der vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts populär war und intensiv in die Wissenschaft des öffentlichen Rechts eindrang.23 In diesem Diskurs wurde Frankreich als ein Ganzes mit geschichtlicher Kontinuität aufgefasst, das ohne Unterbrechung auf das fränkische oder sogar auf das gallische Zeitalter zurückgehe. Frankreich sei mit gleichartigen Sitten, Gebräuchen und seinem eigenen Gesetz zusammengewachsen und habe damit eine Nation gebildet, wohingegen der Despotismus des Königs aus einem ganz anderen Gesetzessystem hervorgegangen sei. Nach dieser Auffassung steht die Souveränität des Monarchen zwar nicht in Frage, aber der König kann nur im Rahmen der Gesetze und zum Wohl der Nation seine Befugnisse ausüben. Er ist daher nicht mehr unumschränkt und allmächtig. Das Pariser Parlament erklärte 1764 sogar, dass sich die Stellung des Königs aus dem Recht herleite und 20 Fehrenbach,
Nation, S. 5 f. Dazu vgl. auch Furet / Richet, S. 48 f. Palmer, S. 97 f. 22 Godehot, S. 13 f. 23 Foucault, S. 133 ff. 21 Vgl.
28 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
er daher nur durch das und nach dem Recht regieren dürfe. Demnach sei die Regierung verantwortlich dafür, allen Mitgliedern der Nation die ihnen gesetzmäßig zustehenden Rechte zu garantieren. Wer mehr Rechte in Anspruch nehme als die ihm gesetzlich zustehenden, verstoße „gegen den Souverän, das Gesetz und die Nation“.24 Seitdem bildeten „Gesetz“ und „Nation“ ein Gegengewicht zum König. Die konsequente Weiterentwicklung führte dazu, dass 1790 diese Rangfolge umgekehrt und zur revolutionären Parole „La Nation, la loi, le roi“ wurde.25 2. Die Vorrangigkeit des altüberlieferten historischen Rechts vor der Souveränität Während die „Nation“ vom König getrennt wurde, wurden die „Rechte der Nation“ von den Souveränitätsrechten unterschieden. Die Elemente der ersteren bezogen sich aber nicht auf Naturrechte im Sinn von kontraktualistischen Theoretikern, sondern auf die altüberkommene Rechtstradition, die sowohl Freiheitsrechte als auch Privilegien der Stände bestimmte: „qui assurent et conservent les droits et les privilèges de la Nation“.26 Aus diesem Grund trat der parlamentarische Akzent der „lois fondamentales“ in den Vordergrund. Es ist bemerkenswert, dass zwischen 1771 und 1789 der Bedeutungsinhalt von „lois fondamentales“ in zunehmendem Maße vergrößert wurde.27 24 Rémontrance du parlement de Paris au XVIIIe siècle, ed. Jules Flammermont, Bd. 2, Paris, 1888, S. 436. Zit. nach Fehrenbach, Nation, S. 86. 25 Fehrenbach meint daher, ohne die Nationsidee der Parlamente als Basis sei es unvorstellbar gewesen, dass Revolutionäre im Jahr 1789 den Nationsbegriff intensivieren und fortentwickeln, um sich auf die nationale Souveränität zu berufen. Siehe ebd., S. 85, 91. 26 Paris, ‚Remontrances‘ vom 19. / 20. III. 1768. Zit. nach ebd., S. 88. 27 Im Terminus „lois fondamentales“ wurden in erster Linie zwei Rechte eingeschlossen, die auch im 17. Jahrhundert generell anerkannt waren: das Salische Gesetz (männliche Erbfolge) und die Unveräußerlichkeit des Territoriums. Aber wie Albertini zeigt, wurde die Zahl und Bedeutung von lois fondamentales „niemals endgültig festgelegt“. Sie haben „sich im Verlaufe der Geschichte herausgebildet“ und wurden „jeweils mit den politischen Begebenheiten in Verbindung gebracht und interpretiert.“ Siehe. Albertini, S. 58 f. Daneben hat Hartmann noch vier weitere lois fondamentales aufgezählt. Vgl. Hartmann, S. 4 ff. Beim immer mehr radikalisierten Konflikt zwischen Parlamenten und der Zentralregierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde dieser Begriff zum Mittelpunkt der politischen Rhetorik gegen den königlichen Hof. Dementsprechend änderten sich sein Inhalt und seine Anwendung, wie Schmale zeigt: „Besonders in der Sprache der Parlamente umgreift lois fondamentales einen umfangreichen Kanon von Gesetzen und Rechtsvorstellungen, der den Rahmen des althergebrachten Begriffes lois fondamentales völlig sprengt. Seine Anwendung wird so inflationär, daß
A. Hintergrund und politische Umstände29
Hatte es sich zuvor hauptsächlich um einige bestimmte, als grundlegend für das Königreich (royaume) betrachtete Gesetze gehandelt, wurden nun immer mehr die im 16. Jahrhundert erlassenen Gesetze, die vorher nicht als lois fondamentales bezeichnet worden waren, mit diesem Terminus belegt. Die Inflation des Begriffs brachte die Verwendung von lois fondamentales und von constitution einander immer näher. Die allmähliche Vermischung der beiden Begriffe fiel dann mit dem Phänomen zusammen, dass sowohl Parlamente als auch die parlementaire die traditionelle „Verfassung“ (con stitution) an die Idee der Nation knüpften. Der Parlamentsauffassung nach stellte sich die „constitution“ als die in der seit langer Zeit ununterbrochenen Tradition gestaltete beständige vor-positive politische Ordnung der Nation dar, die aus dem altüberlieferten Gewohnheitsrecht und mehreren positiven Gesetzen als „lois fondamentales“ bestand. Zugleich stellten die Parlamente fest, die „constitution“ stütze sich auf die „lois fondamentales“ und werde durch deren genaue Befolgung garantiert, deshalb seien die „lois fondamentales“, genau wie die „constitution“, nicht abänderbar und abschaffbar. Im Konflikt zwischen Justice und Administration erklärten die Parlamente die Ordonnanzen des Königs oft unter Berufung auf lois fondamentales und constitution für „verfassungswidrig“ bzw. den lois fondamentales widersprechend und weigerten sich daher sie zu registrieren. Von daher liegt es nahe, dass „constituton“ und „lois fondamentales“ in dem von 1750 bis 1788 dauernden Konflikt als politisches Mittel dienten, mit dem als theoretische Basis die Parlamente den Rechtediskurs zum Kampf gegen die Krone entwickelten. Die Argumentation des Rechtediskurses verfolgte die von Montesquieu dargelegten Argumente und Begriffsanwendungen und stellte die „lois fondamentales“ dem Despotismus, der willkürlichen Machtausübung des Königs, gegenüber.28 Eine politische Körperschaft musste demnach als ein „Hüter der Gesetze“ vorhanden sein, der mit der Rechtsprechung das Eigentum und die Freiheitsrechte aller Mitglieder der gesamten Nation vor dem Übergriff des Despoten beschützte – und natürlich sollten nur die Parlamente der Hüter der Gesetze sein. Mithilfe des Rechtediskurses behaupteten die Parlamente, der König dürfe auch nicht gegen Grundgesetze und Verfassung verstoßen. Unter dieser Voraussetzung könne die Krone solche Gesetze nur dann ändern und neue Steuern nur dann erlassen, wenn die „Nation“ zustimme. In letzter Konsequenz wandte sich jedoch genau diese Argumentation, die der Beschränkung der Macht der Krone in der Zeit des Absolutismus gedient hatte, gegen den politischen Anspruch des Dritten Standes. nicht mehr die Frage nach seinem positiven Inhalt zu stellen ist, sondern negativ danach, was eigentlich nicht unter den Begriff fällt.“ Vgl. Schmale, S. 50. 28 Vgl. Montesquieu, S. 28 ff.
30 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
3. Parlamente und die neue Konzeption der „représentation nationale“ Die Generalstände wurden vor der letzten Einberufung im Jahr 1614 gewöhnlich als „Repräsentation des Königreichs“ bezeichnet, mit der der König einen Konsens für seine Erlasse oder Steuererhebungen herstellen musste. In der öffentlichen Meinung der 1750er Jahre wurden die Parlamente ebenfalls als das der Krone gegenüberstehende Repräsentativorgan betrachtet, aber nur deshalb, weil in Frankreich keine oder nur regionale repräsentative Institutionen bestanden.29 Jedoch waren die Parlamente dem Wesen nach keine vom Volk gewählten Repräsentanten, sondern bloß ein aristokratischer Beamtenstand. Das Postulat der Parlamente hatte allerdings keine rechtliche Grundlage und stützte sich daher auf folgende Argumentation: als Nachfolger der Generalstände repräsentieren die Parlamente die Nation als Ganzes, weil nur sie in der Lage seien, mit der Auslegung der traditionellen Grundgesetze und dem Registrierungsrecht das Eigentum und die Freiheitsrechte der Nation zu schützen. In diesem Sinn kann man sagen, dass sich der Nationsbegriff zu jener Zeit eigentlich im Rahmen der Parlamentsideologie entwickelte und als Propaganda gegen den „Despotismus“ der Zentralregierung gerichtet war. Gleichzeitig spielte das Bürgertum, also der Dritte Stand, wegen der Erhebung neuer Steuern die Rolle eines Bündnispartners der Parlamente. Die Position der politischen Koalition von Parlamentsadel und Bürgertum wurde daraufhin als „antidespotische[r] Konsensus“ bezeichnet.30 Kurzum: diese von der „Partei“ der Parlamente seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte Parlamentsideologie hatte bis zur Revolution eine doppelte politische Funktion. Einerseits fungierte die parlamentarische Argumentation über die Nation im Anschluss an die Rechtstradition zu dieser Zeit als eine Waffe gegen die Krone. Da die Parlamente in Opposition zur Macht der Krone standen, beriefen sie sich auf die traditionellen Rechte der „Nation“, um die Freiheitsrechte aller Stände im bestehenden Rechtssystem zu gewährleisten. Andererseits war die hierarchische Struktur 29 Hinrichs,
S. 104 f. Wagner, S. 81 ff. Hier ist aber zu beachten, dass es auch Stimmen gab, die die repräsentative Qualität der Parlamente in Zweifel zogen, obwohl das Bürgertum in den Jahrzehnten vor der Revolution mehrheitlich die Parlamentsdoktrin unterstützte. Gegner der Parlamente lehnten mithilfe historischer Bezüge das Recht der Parlamente auf Vertretung der Nation ab oder prangerten die Ämterkäuflichkeit in den Parlamenten an. Dazu siehe Fehrenbach, S. 89. Außerdem zeigt Wagner auch, dass mehrere Aufklärer wie Voltaire, Diderot und auch die Encyclopédie die historische Argumentation der Parlamente zurückwiesen, mit der sich die Parlamente mit anderen repräsentativen Institutionen im Mittelalter, namentlich den Generalständen, gleichsetzten. Vgl. Wagner, S. 75 f. 30 Vgl.
A. Hintergrund und politische Umstände31
der Privilegien auch aus derselben Rechtstradition im Ancien Régime abgeleitet. Das überkommene Rechtssystem als Ganzes zu stabilisieren, bedeutete also nicht nur die Sicherung der Freiheitsrechte der Nation sowie aller dazu gehörenden Untertanen, sondern die Erstarrung der ständischen Privilegien. Aufgrund ihrer Ideologie galten die Ansprüche der Parlamente und ihr „aristokratische[r] Liberalismus“31 zu jener Zeit beim Volk als progressiv: Durch ihre Opposition zur Krone sahen das Bürgertum und die öffentliche Meinung die Parlamente als eine das ganze Volk vertretende Institution, und ihre Ideologie sowie ihren Rechtediskurs, der auf traditionellen Grundgesetzen und der „Verfassung“ beruhte, als einen Widerstand gegen die Monarchie zur Bewahrung der Freiheitsrechte.
IV. Der voluntaristische Diskurs von Sieyès Mithilfe der Rhetorik war es den Parlamenten vor 1788 offensichtlich gelungen, die Unterstützung des Bürgertums zu gewinnen.32 Im Verfassungskonflikt der Jahre 1788 / 89 aber kam es zu einer dramatischen Zäsur: die Parlamente verloren nun diese Unterstützung des Bürgertums. Sie wurden, als die Notabelnversammlung in Anlehnung an ihren Rechtediskurs die Ansprüche des Dritten Standes für verfassungswidrig erklärte, auch in der öffentlichen Meinung als eine konservative Kraft kritisiert, die zugunsten der Privilegierten dem Volk entgegenstand. Hierbei hielt der Rechtediskurs an den überkommenen Wahlreglementen und der in drei Ständen eingeteilten Repräsentation fest, womit die Debatte über das Wahlverfahren plötzlich auf die Ebene des Verfassungskonflikts gehoben wurde. Nun kam es zur Debatte über die Frage, ob die traditionelle hierarchische Ordnung im Ancien Régime, der die „constitution“ und die „lois fondamentales“ zugrunde lagen, bestehen bleiben sollte. Zugleich zerbrach auch die Koalition von Parlamenten und Bürgertum, die sich seit der Mitte des Jahrhunderts im Kampf gegen die Krone gebildet hatte.33 Die Argumentation der Parlamente und der Notabelnversammlung provozierte deshalb heftige Kritik, die die Formulierung verwendet Furet. Vgl. Furet / Richet, S. 51. Wagner, S. 71 ff., 81 f.; Schulin, S. 62, 170–175. 33 Bereits bei der Reform Calonnes in den Jahren 1786 und 1787 verweigerte das Pariser Parlament im Namen der traditionellen Freiheitsrechte neue Steuern, die allen Untertanen gleichermaßen gegolten hätten. Aber weil damals Nichtprivilegierte mit Privilegierten über die neue Steuererhebung einig waren, wurde der Kampf des Parlaments gegen die neue Steuer nicht als Widerstand gegen die steuerliche Gleichbehandlung bezeichnet, sondern als Widerstand gegen den Absolutismus und „eine anerkennenswerte Bemühung um die Wahrung des alten Grundsatzes der gewährten statt der auferlegten Steuer.“ Dazu vgl. Furet / Richet, S. 49 ff., 53 ff. 31 Die
32 Vgl.
32 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
Haltung der privilegierten Stände als ein Hindernis für Volkswillen und Gleichberechtigung betrachtete.34 Wenn die Repräsentanten des Dritten Standes oder der Liberalen aber das bestehende Rechtssystem sowie die darin eingeschlossenen Grundgesetze beseitigen wollten, dann trafen sie auf eine Schwierigkeit: Wie sollte man die Abschaffung des alten Rechtssystems legitimieren? Das Argument des Rechtediskurses war in der damaligen Konstellation zwar konservativ, konnte sich jedoch unter Berufung auf die in der Geschichte gewachsenen Rechtsnormen legitimieren und behaupten, dass sich alle dem Recht und den Gesetzen unterwerfen sollten. Der Argumentation des traditionellen Rechtediskurses widersprach aber der voluntaristische Diskurs, den die Abgeordneten des Dritten Standes und die für ihre Ansprüche eintretenden Liberalen der beiden ersten Stände vertraten. Gemäß dem voluntaristischen Diskurs sollte die Verfassung nicht als eine historische, von der Vergangenheit herkommende Rechtsnorm gelten, sondern als das Gesetz, das sich ausschließlich aus dem souveränen allgemeinen Willen der Nation herleite. Von diesem Standpunkt aus war die Behauptung des Rechtediskurses, dass sowohl der König als auch alle Untertanen dem Recht unterworfen sein sollten, nicht nur absurd, sondern auch folgewidrig. Folglich appellierte der voluntaristische Diskurs an eine über den Grundgesetzen stehende Quelle und legte damit die Grundlage, auf der die Konstituante wenig später die Durchbrechung von bestehenden Rechtsnormen und eine positive Verfassung sowie die daraus folgende neue politische Ordnung begründen konnte. Baker hat darauf hingewiesen, dass der im verfassungsrechtlichen Konflikt mit dem Rechtediskurs konkurrierende voluntaristische Diskurs auf zwei theoretische Denker, Emer de Vattel und Rousseau, zurückgeführten werden kann.35 Unter ihrem Einfluss wandelte sich die traditionelle Verfassungsauffassung in die auf der Volkssouveränität basierende Idee, dass das Volk durch seinen eigenen Willen aktiv die grundsätzlichen Gesetze erlässt, um dadurch eine Regierung einzusetzen und zu regeln. Untersucht man die Konstellation der politischen Diskurse beim Verfassungskonflikt 1788 / 89, kommt die politische Position von Sieyès klar zum Vorschein. Die Kritik in den Pamphleten von Sieyès zeigt, dass der Hauptgegner, gegen den Sieyès polemisierte, nicht der Absolutismus oder die sogenannten royalistes wa34 Siehe Baker, Sieyès, S. 530. Es ist also nicht verwunderlich, dass Sieyès geäußert hat: „Die Zeit ist vorbei, in der die drei Stände nur an die Verteidigung gegen den ministeriellen Despotismus dachten und bereit waren, sich gegen den gemeinsamen Feind zu vereinigen.“ Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 176. 35 Hier ist nicht der Ort, auf die Theorien der beiden Denker einzugehen. Den Einfluss auf den voluntaristischen Diskurs betreffend vgl. Baker, Verfassung, S. 900 f.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt33
ren.36 Zu jener Zeit bestand der entscheidende politische Konflikt in Wahrheit zwischen den Parlamenten und dem Dritten Stand. Als ein Stellvertreter des Dritten Standes wandte sich Sieyès also in erster Linie gegen die Position der Parlamente und die Konservativen der privilegierten Stände.37 Wie oben erwähnt, stellte der Rechtediskurs der Privilegierten die zwei veralteten Wahlreglemente der Generalstände von 1614 als Grundgesetze dar, die zur constitution gehörten und der Aufrechterhaltung der bestehenden ständischen Rechtsordnung dienten. Vor diesem Hintergrund versuchte Sieyès, eine Gegen-Theorie zur von den Privilegierten vertretenen Auffassung und dem darauf beruhenden Begriff von „constitution“ aufzustellen.38 Dieses Motiv kann man in einer Reihe der Ende 1788 verfassten Pamphlete von Sieyès erkennen, die sich gegen die Vorrechte und das Rechtssystem des Ancien Régime richten. Insofern ist der Grundzug der Hauptschriften von Sieyès in Jahren 1788 / 89 eindeutig abhängig von der politischen Konstellation seiner Zeit. Die Pamphlete dienten als Kampfmittel für die Ansprüche des Dritten Standes auf politische Gleichheit, die aber nur durch die Abschaffung der alten Rechtsordnung zu erbringen war. Die Revolution betrat somit die Bühne.
B. Das System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt Wie oben erwähnt, versuchten die Befürworter des Rechtediskurses das hierarchische politische System mit der Begründung zu bewahren, dass altüberkommene Grundgesetze nicht zu brechen und verletzen seien. Eine Anerkennung der Legalität dieser veralteten Gesetze bedeutete aber auch, das Unrecht und die Ungleichheit der hierarchischen politischen Ordnung unter dem Ancien Régime für akzeptabel zu halten, was Sieyès verweigerte. Dazu kommt die Frage, wie und worin Sieyès die Legitimationsgrund36 Wagner,
S. 69. als ein Abbé ist Vertreter des Klerus in der Provinzversammlung von Orléans gewesen, war aber bei der Wahl zum Repräsentanten des Klerus in den Generalständen gescheitert. Folglich war er bei der Eröffnung der Generalstände am 5. Mai 1789 nicht anwesend. Zwei Wochen später wurde er als der letzte Deputierte des Dritten Standes von Paris gewählt. Vgl. Hafen, S. 12 f.; Riklin, S. 7 f. 38 Gegen diese Auffassung stellt Sieyès eine Frage: „Haben wir aber, wie einige Leute hartnäckig behaupten, schon eine Verfassung, welche die Nationalversammlung, wie sie meinen, in drei verschiedene Abordnungen von drei Ständen von Bürgern trennt, dann darf man sich wenigstens nicht verhehlen, daß einer dieser Stände so starke Einwände erhebt, daß man nicht einen Schritt weiterkommt, wenn man nicht darüber entscheidet. Wem aber kommt die Entscheidung über solche Einwände zu?“ Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 164. 37 Sieyès
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lage finden konnte, um die Legalität des alten Rechtssystems herauszufordern. Genau unter diesen Umständen entwickelte Sieyès den Begriff der verfassunggebenden Gewalt und die ihn betreffenden Gedanken. Seine Konzeption der verfassunggebenden Gewalt besteht vor allem in den 1788 / 89 erschienenen vier entscheidenden Pamphleten: Essais sur les priviléges, Qu’est-ce que le Tiers-Etat?, Vue sur les moyens d’execution dont les représentants de la France pourront disposer en 1789 und Délibérations à prendre dans les Assemblées de bailliages39 Diese Schriften verurteilen nicht nur aufs Schärfste die auf Privilegien beruhende soziale und politische Struktur, sondern stellen auch die politische Vorstellung von Sieyès systematisch dar. Das, was in Sieyès‘ Erörterung den Begriff der verfassunggebenden Gewalt betrifft, schließt drei maßgebliche Momente ein: die Nation, die Unterscheidung der verfassunggebenden Gewalt von konstituierten Gewalten, und die Repräsentation. Im Folgenden werden diese drei Punkte nacheinander besprochen.
I. Nation Wie Fehrenbach gezeigt hat, spielte die Idee der Nation als politisch mobilisierende Parole im Ständekampf 1788 / 89 die zentrale Rolle und wurde das theoretische Mittel zur Abschaffung der Privilegien.40 Nun übernahmen die Wortführer des Dritten Standes diese Parole und machten davon auch im Widerstand gegen die Parlamentsideologie Gebrauch. Die Parlamente konnten diese Idee somit nicht mehr monopolisieren. Dabei ist unübersehbar, dass auch Sieyès zur Durchschlagskraft dieser Idee beitrug, indem er den Dritten Stand mit der Nation identifizierte und die Privilegierten davon ausschloss. 1. Die Umdeutung der Nation mithilfe der sozial-ökonomischen Bestimmung Wie oben dargestellt, bestand die von den Parlamenten benutzte Argumentsgrundlage aus einem theoretischen Komplex, der sich aus der Idee der 39 Wie Deusen gezeigt hat, soll „Vue sur les moyens“ die erste Schrift von Sieyès sein. Aber nachdem der Beschluss der Notabelnversammlung bekannt wurde, suspendierte Sieyès ihre Veröffentlichung und widmete sich seinen anderen Haupt werken, Essai sur les priviléges und Qu’est-ce que le Tiers-Etat? Daher erschien Vue sur les moyens später als die anderen zwei und bezog sich nicht ausschließlich auf das Problem der Privilegien und die verfassungsrechtliche Debatte. Vgl. Deusen, S. 24 f. 40 Fehrenbach, S. 75 f.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt35
Nation und des Rechts, d. h. „lois fondamentales“ sowie „constitution“, zusammensetzte. Wenn aber laut der „constitution“, auf der die Privilegien beruhten, die französische Nation sich als Ganzes auf drei Stände stützte und diese daher zusammen über die Verfassung entscheiden sollten, dann standen die Revolutionäre vor der Frage, ob Adlige von der Nation ausgeschlossen werden könnten. Denn ohne eine Trennung der privilegierten Stände vom Nationsbegriff wären die Vertreter des Dritten Standes unter den damals festgelegten Wahlreglementen nicht imstande gewesen, die Ausarbeitung einer neuen positiven Verfassung allein durchzusetzen. Andererseits wurde den Vertretern des Dritten Standes zugleich in manchen der im Herbst 1788 verbreiteten Pamphlete unter Berufung auf den traditionellen Nationsbegriff der Drei-Stände-Rechtsordnung vorgeworfen, die Spaltung der Nation zu beabsichtigen.41 Die Vertreter des Dritten Standes mussten also zunächst die Privilegierten vom Begriff der Nation trennen; erst dann würden sie ihre politische Intention, eine neue Verfassung ohne Privilegien zu begründen, legitimieren können. Vor diesem politischen Hintergrund nahm Sieyès die Umdeutung des Nationsbegriffs vor. Die Umdeutung des Nationsbegriffs besteht aus zwei Argumenten: erstens bestimmt Sieyès aus einer sozial-ökonomischen Perspektive die Nation neu.42 Zweitens stellt er die sozial-ökonomische Bestimmung über die politisch-rechtliche. Die Parlamentsideologie definierte die Nation in erster Linie aus einer politisch-rechtlichen Perspektive: die Nation sei das politische Kollektiv, das sich einheitlichen Gesetzen und einer Regierung unterstelle. Hingegen geht die Konzeption der Nation bei Sieyès nicht von der staatlich-rechtlichen Dimension aus, sondern von der Analyse der Bedürfnisse der Individuen sowie der Notwendigkeit der Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft. Demnach setzt eine Nation unterschiedliche private und öffentliche Arbeiten voraus. Nur wenn diese stabil und ständig wirken, kann eine Nation als Nation existieren. Sieyès unterscheidet zunächst zwei für die Nation notwendige Bedingungen: die politisch-rechtliche und die sozial-ökonomische. Die politischrechtliche Bedingung definiert Sieyès so: „Eine Körperschaft von Gesellschaftern, die unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und durch die41 Ebd.,
S. 17. Autoren haben schon darauf hingewiesen, dass im Nationsbegriff von Sieyès zwei Richtungen zusammenfallen, nämlich hinsichtlich des Rechtszustands und der nationalen Ökonomie. Diese Art der Analyse, die beide Aspekte berücksichtigt, bringt die Rekonstruktion und Umdeutung des Nationsbegriffs mit sich. Vgl. Foucault, S. 258 ff.; Hafen, S. 72 ff.; Sewell, S. 66 ff.; Lembcke / Weber, Revolution und Konstitution, S. 42–50. Foucault hat besonders hervorgehoben, dass die Analyse der Nation von Sieyès von allen vorherigen Definitionen abweicht, die eine Nation allein durch die rechtlich-staatliche Dimension bestimmt haben. 42 Mehrere
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selbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden usw.“43 Bei dieser Definition geht es um die Bedingung für den Rechtszustand einer Nation, also das „gemeinschaftliche Gesetz“ und eine „gesetzgebende Versammlung“. Diese beiden sind – mit dem Terminus Foucaults – die formale Bedingung.44 Die formale Bedingung ist zwar notwendig, aber abgeleitet. Vor der formalen Bedingung existiert tatsächlich bereits eine „Körperschaft“, die aus zahlreichen Individuen als Gesellschaftern besteht. Diese Körperschaft existiert vor den staatlichen rechtlichen Institutionen; sie macht die soziale Substanz aus. Aber die Bildung derselben Körperschaft setzt auch eine sozial-ökonomische Bedingung voraus. Was ist aber die sozial-ökonomische Bedingung einer Nation? Am Anfang von „Was ist der Dritte Stand?“ verweist Sieyès darauf: „Was ist für das Bestehen und Gedeihen einer Nation erforderlich? Am Eigeninteresse ausgerichtete Arbeiten und öffentliche Funktionen.“45 Weiterhin werden die privaten, also am Eigeninteresse ausgerichteten Arbeiten, in vier Kategorien unterteilt: erstens die Landwirtschaft, zweitens Handwerk und Industrie, drittens Handel und viertens die freien Künste. Neben den privaten Arbeiten gibt es auch vier Funktionen: die Armee, das Gericht, die Kirche und die Verwaltung. Durch die privaten Arbeiten und öffentlichen Funktionen werden die individuellen Bedürfnisse befriedigt. Hiermit wird die Existenz der Nation erst möglich. In diesem Sinn ist die sozial-ökonomische Bedingung nicht nur für eine Nation existenziell sondern auch eine Voraussetzung der formalen Bedingung. Daher nennt Foucault sie die „substantielle Bedingung“. Daraus, dass Sieyès die Nation durch eine sozial-ökonomische Analyse konzipiert und die genannten Arbeiten und Funktionen als die Voraussetzung der Nationsbildung betrachtet, folgt die Umdeutung des Nationsbegriffs. Hiermit wird die Nation nicht mehr als Gemeinwesen angesehen, das erst aufgrund von Gesetzen und anderen staatlichen Institutionen existiert, vor deren Gründung es nur die Menschenmenge oder – mit dem Wort von Hobbes – „multitude“ gebe, die als die Summe der Individuen vorgestellt wird und politisch weder Bedeutung noch Handlungsfähigkeit hat. Die Nation definiert Sieyès hingegen als „eine zu bestimmten sozialen Zwecken organisierte und vereinigte Gemeinschaft“.46 Die Nation wird demnach als ein vor den Gesetzen bereits vorhandenes Kollektiv aufgefasst, das politisch imstande ist, aktiv Gesetze zu schaffen. Insofern sind für die Nationsbildung die innerhalb der Gesellschaft ausdifferenzierte arbeitsteilige Produktion und die öffentlichen Ämter / Aufgaben entscheidender als die politisch43 Sieyès,
Was ist der Dritte Stand?, S. 124. S. 259. 45 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 121. 46 Fehrenbach, S. 92. 44 Foucault,
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt37
rechtlichen Institutionen, die in der bestehenden Rechtsordnung von der Struktur der Privilegien bestimmt waren. Beachtlich ist, dass die Analyse von Sieyès, die eine Unterscheidung der sozialen Elemente einer Nation von den rechtlichen Elementen vornahm, nicht erst 1788 / 89 erschien; sie kann vielmehr auf sein in den 1770er Jahren entstandenes Werk zurückgeführt werden, in dem er bereits das Prinzip der Arbeitsteilung ausführlich dargestellt hat.47 Seit jener Zeit war er überzeugt: „Es ist die Arbeit, die den Reichtum schafft.“48 Demnach kann in einer Gesellschaft die Effizienz der Produktion durch die Arbeitsteilung und die Mitwirkung an unterschiedlichen Tätigkeiten maximiert werden. Dies würde sowohl privaten Interessen als auch dem allgemeinen Wohlstand der Gesellschaft dienen. Voraussetzung dafür ist aber die angemessene gesamtgesellschaftliche Organisation der Arbeit ohne wirtschaftliche Privilegierung irgendeiner sozialen Schicht. Daher sagt er: „Die allgemeine Arbeit ist mithin das Fundament der Gesellschaft, und die gesellschaftliche Ordnung ist nichts anderes als die bestmögliche Ordnung der Arbeit.“49 Es ist nicht schwer zu bemerken, dass sich die ökonomische Analyse der Relation von Arbeitsteilung und allgemeinem Wohlstand in den früheren Schriften von Sieyès in seinen Broschüren aus den Jahren 1788 / 89 wiederfindet.50 In jenen früheren Schriften hatte er bereits begonnen, seine ökonomische Perspektive in den politischen Bereich zu verschieben, um den Nationsbegriff umzuformen. 2. Der Dritte Stand als Nation und Exklusion der Privilegierten Aus der Analyse, in der Sieyès die soziale Bedingung der Nation der rechtlichen überordnet, folgt als theoretische Konsequenz das doppelseitige Postulat: die Gleichsetzung des Dritten Standes mit der Nation und der 47 Dazu ist der Zusammenhang von Sieyès und Adam Smith zu beachten. Sieyès hat behauptet, er habe das Prinzip der Arbeitsteilung noch früher entwickelt als Smith. „Ich bin seit 1770 weiter gegangen als Smith, ich habe die Arbeitsteilung nicht nur innerhalb eines Gewerbes, d. h. unter derselben Leitung stehend, als sicheres Mittel betrachtet, um die Kosten zu senken und den Gewinn zu steigern; ich habe darüber hinaus die Verteilung der großen Berufs- und Gewerbezweige als das wahre Prinzip des gesellschaftlichen Fortschritts behandelt.“ Vgl. Sieyès, Travail ne favorise la liberté qu’en devenant représentatif, S. 62. Hier zit. Lembcke / Weber, Revolution und Konstitution, S. 42. Hafen zeigte jedoch, „Adam Smith formulierte seine Ideen zur Arbeitsteilung bereits in den 60er Jahren.“Hafen, S. 55 Fn. 25. 48 Sieyès, Briefen an die Ökonomisten, S. 97. 49 Ebd., S. 98. 50 Sewell, S. 80.
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Ausschluss der Privilegierten. Zunächst einmal ist in der Analyse zu fragen, wer bzw. welcher Stand sich der Aufgabe widmet, die Bedürfnisbefriedigung zu erfüllen. Sieyès akzentuiert, dass im Gegensatz zu den 200.000 Privilegierten die 26 Millionen Menschen des Dritten Standes die privaten Arbeiten für die Existenz der Nation leisteten. In öffentlichen Institutionen besetze der Dritte Stand ebenfalls 95 % der Stellen, und zwar die anstrengendsten. Insofern schaffe der Dritte Stand nicht nur selbst die kompletten gesellschaftlichen Verhältnisse von Produktion, Konsum und Tausch, sondern garantiere auch selbständig die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Funktionen. Der Dritte Stand könne somit die substantiellen Bedingungen für die Existenz der Nation allein erfüllen, auch wenn die Geistlichen und Adligen kein Bestandteil der Nation wären. Hierfür verwendet Sieyès zur Darstellung der Stellung des Dritten Standes eine Metapher: „Er [der Dritte Stand, S. Y.] ist der starke und kraftvolle Mann, der an einem Arm noch angekettet ist.“51 Der Dritte Stand trage zwar weit mehr zu Wirtschaft und Steuern bei als die privilegierten Stände, jedoch sei er weder gleichberechtigt noch verhältnismäßig repräsentiert. In diesem Sinn sei der Dritte Stand mit der Nation gleichzusetzen. Denn der Dritte Stand habe alles, was für die Existenz der Nation substantiell sei. Was ihm fehle, sei nur die rechtliche Formalität. Wie Sieyès meint: „Der Dritte Stand umfasst also alles, was zur Nation gehört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was also ist der Dritte Stand? ALLES.“52 Der Dritte Stand habe also alle Potenzen, eine Nation zu sein; nun brauche er nur noch eine Nation werden, indem er sich das Gesetz dazu gibt. In diesem Sinn ist der Dritte Stand mit der Nation identisch. Während er den Dritten Stand mit der Nation gleichsetzt, verurteilt Sieyès die rechtlichen Privilegien, weil sie schädlich für die substantielle Bedingung der Nation seien. Denn sie trügen im Gegensatz zum Dritten Stand nichts zu privaten Arbeiten bei, monopolisierten jedoch die wenigen höchsten Stellen der öffentlichen Institutionen. Durch ihre Vorrechte könnten sie Ehre und Geld erhalten53, ohne sich darum bemühen zu müssen. Mit dem Monopol der öffentlichen Stellen und ihren Vorrechten könnten sie sich der freien Konkurrenz entziehen, was dazu führte, dass es Arbeit und Produktion an Effizienz mangele, und dass begabte Menschen solche Arbeitsstellen nicht erlangen könnten. All dies schade dem Gemeininteresse. Außerdem forderten Privilegierte sogar noch mehr finanzielle Hilfe und Pensionen, für die die Gemeinschaft große Kosten aufbringen müsse.54 Die Gemeininteres51 Sieyès,
Was ist der Dritte Stand?, S. 123. S. 124 f. 53 Sieyès, Versuch über die Privilegien, S. 107. 54 Ebd., S. 108 f. 52 Ebd.,
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt39
sen würden also zugunsten der Privilegien preisgegeben.55 In seinen sozialökonomischen Erörterungen über Arbeitsteilung benutzt Sieyès die Schädlichkeit der Privilegien als Argument. Für ihn sind die rechtlich institutionalisierten Privilegien dem Fortschritt der Gesellschaft überhaupt nicht dienlich, vielmehr haben sie die Untergrabung des Gemeininteresses zur Folge. Die explizite Äußerung von Sieyès dazu lautet: „Jede Gruppe von Bürgern hat ihre Aufgaben, ihre besondere Art von Arbeit, und das alles macht die allgemeine Tätigkeit der Gesellschaft aus. Sucht eine Gruppe sich diesem allgemeinen Gesetz zu entziehen, so gibt sie sich begreiflicherweise nicht damit zufrieden, dass sie nutzlos ist, sondern muss den anderen auch noch unbedingt zur Last fallen.“56 Insofern sei das geltende Recht als eine Institution, als formale Bedingung einer Nation, zweckwidrig. Es verstoße gegen die substantielle Voraussetzung der Existenz der Nation. Aus der Sicht von Sieyès sind die Privilegierten nichts anderes als Parasiten der Gesellschaft: Privilegierte beschäftigten sich nicht mit Produktion und vermehrten den gesellschaftlichen Nutzen nicht, aber festigten durch Gesetze ihre eigenen Rechte zur Ausbeutung der Produktion anderer. Mit der sozial-ökonomischen Kritik an den Privilegien bringt Sieyès die Absurdität des geltenden Rechtssystems zum Ausdruck: Der Dritte Stand erfüllt die substantielle Bedingung einer Nation, hat aber keine gleiche Rechtsstellung; die privilegierten Stände hingegen haben die Rechtsstellung, verfügen aber nicht über die substantielle Voraussetzung. Es schien, als gäbe es in Frankreich zwei verschiedene Nationen: Eine wirkliche und substantielle Nation, der Dritte Stand; sowie eine rechtliche und bloß formale Nation, die Privilegierten. Folglich bezeichnet Sieyès die Privilegierten als „ein eigenes Volk in der großen Nation. Das ist wahrhaftig imperium in imperio.“57 Indem er Privilegierte als eine andere Nation als den Dritten Stand bezeichnet, stellt Sieyès dem Dritten Stand die Privilegierten gegenüber und mobilisiert mit dieser Parole das Volk. Die polemische Strategie der Politisierung des Nationsbegriffs war zwar bereits vor der Revolution vom Adel 55 Sieyès’ Kritik richtet sich gegen das damals weit verbreitete Argument zugunsten der Privilegien, wonach diese durchaus auch dem allgemeinen Interesse dienlich seien, wie dies z. B. bei der militärischen Tradition des Schwertadels oder der tieferen Sorge des Landadels um die Produktivität ihres Landbesitzes der Fall sei. Mit diesem Argument glaubten die Privilegierten jener Zeit die Unterstützung der öffentlichen Meinung erlangen können. Vgl. dazu Sewell, S. 142 f. Um diesen Argument entgegentreten zu können, muss Sieyès die Privilegierten als eine dem Volk entgegengesetzte Schicht bezeichnen, denn nur so war es möglich, die Teilnahme der Privilegierten an der Verfassungsdebatte abzulehnen. 56 Sieyès, Versuch über die Privilegien, S. 107. 57 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 124.
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entwickelt und gebraucht worden;58 die ökonomische Umdeutung des Na tionsbegriffs von Sieyès hatte jedoch zur Folge, dass Privilegierte von der Nation ausgeschlossen werden konnten. Denn nach der neuen Definition kommen die Menschen, die unter einheitlichen Gesetzen und einer politischen Ordnung zusammenleben, nicht selbstverständlich einer Nation gleich. Umgekehrt können und sollen diejenigen, die gemäß dem Recht eine vorrangige Stellung einnehmen, als nicht zur Nation zugehörig erklärt werden, denn in der neuen Ordnung soll es auf die sozialen Funktionen ankommen, die die für die Nationsbildung grundlegenderen Elemente sind. Sieyès hat sogar eine noch radikalere Rhetorik verwendet, nach der Privilegierte als innere Feinde beschrieben werden.59 Dieser Begriff, der die Polemik innerhalb der Nation mit einem Konflikt zwischen zwei Nationen vergleicht, verleiht Sieyès’ theoretischer Exklusion der Privilegierten aus der Nation erhebliche Wirkkraft. Kurzum, aus der Umdeutung des Nationsbegriffs lassen sich die folgenden Konsequenzen ziehen: Nun kann der Dritte Stand behaupten, dass er selbst die Nation, die französische Nation, sei, wogegen Privilegierte von ihr ausgeschlossen werden sollen. Demzufolge ist es konsequent, dass Adlige und Geistliche als die „der Nation nicht zugehörigen“ keine Gelegenheit erhalten sollten, in den Generalständen den Verfassungskonflikt zu entscheiden. Nur die aus dem Dritten Stand bestehende Nation kann mit ihrer verfassungsgebenden Gewalt sich eine Verfassung geben oder über die Verfassung zu entscheiden.
auch vgl. Kohn, S. 197 ff. Überblick über die Ausführungsmittel, S. 61. Vgl. dazu auch: „Ich habe aber gesagt, daß sie dadurch, daß sie die Eigenschaft eines Privilegierten angenommen haben, wirkliche Feinde des Gemeininteresses geworden sind; sie können also nicht den Auftrag erhalten, für das Gemeininteresse zu sorgen. Ich füge hinzu, daß ihnen die Rückkehr in die wahre Nation ja offensteht, sofern sie es nur wollen und sich von ihren ungerechten Vorrechten trennen; andernfalls schließen sie sich mit voller Absicht selbst von der Ausübung der politischen Rechte aus.“ Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 194. Überdies meint Riklin, mit Sieyès’ Ansatz, Privilegierte von der Nation auszuschließen und sie als inneren Feinde zu bezeichnen, sei es zwar gelungen, das Volk zu mobilisieren, aber die Freund-Feind-Kategorisierung von Sieyès habe auch eine Geisteshaltung indirekt geprägt, „die sich später entgegen seiner Absicht und ohne sein Zutun in die Schreckensherrschaft der Guillotine verstieg“. Vgl. Riklin, S. 29. 58 Dazu
59 Sieyès,
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt41
II. Vertragstheorie und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt 1. Die Vertragstheorie von Sieyès Durch die Konzeption der sozialökonomischen Arbeitsteilung verdrängt Sieyès die Privilegierten von der Beteiligung an der Schaffung einer positiven Ordnung des Rechts. Auf der anderen Seite aber liegt es nahe, dass für Sieyès die Bildung einer Nation nicht nur mit der substantiellen Bedingung zusammenhängt, sondern auch mit formalen Bedingungen. Ohne diese sind die Mitglieder der Nation außerstande, ihre Freiheitsrechte und ihr Eigentum zu schützen. Folglich meint Sieyès, die Individuen, die eine Nation bilden, sollen vor dem Recht gleich sein – wenn er auch zugibt, dass die Verschiedenheit der menschlichen Natur unvermeidlich zu Ungleichheit des Reichtums in einer Gesellschaft führe. Für die rechtlichen Verhältnisse aller Gesellschafter skizziert Sieyès ein interessantes Bild: „[…] es ist aber nicht Aufgabe des Gesetzgebers, derartige Vorteile selber zu schaffen, den einen Vorteil zu gewähren und sie den andern zu verweigern … Ich stelle mir das Gesetz als Mittelpunkt einer gewaltigen Kugel vor; zu ihm befinden sich alle Bürger auf der Kugeloberfläche ausnahmslos in derselben Entfernung und nehmen dort gleiche Plätze ein; alle sind sie gleichermaßen vom Gesetz abhängig, alle übertragen sie ihm den Schutz ihrer Freiheit und ihres Eigentums; und diese bei allen gleichen Rechte sind es, was ich die gemeinsamen Bürgerrechte nenne. Die Beziehungen der Einzelpersonen untereinander, ihre gegenseitigen Verhandlungen und Verpflichtungen stehen dauernd unter dem gemeinschaftlichen Schutz des Gesetzes.“60
Dies entspricht der oben erwähnte Analyse: Rechtlich festgeschriebene Vorrechte bringen ausschließlich die Korruption der Privilegierten hervor, welche die substantiellen Bedingungen der Nation unterminiert. Um das Ziel der Gründung eines liberalen Rechtssystems zu erreichen, verwendet Sieyès die im 18. Jahrhundert geläufige Vorstellung des Gesellschaftsvertrags, mit dem sich sein System auf den Willen des Einzelnen stützt. Nach Sieyès’ Vorstellung des Gesellschaftsvertrags wird die Bildung der politischen Gesellschaft in drei Phasen gegliedert. In der ersten Phase herr60 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 188 f. Dementsprechend expliziert Sieyès wenig später, dass der Eintritt in den neuen Gesellschaftszustand nicht die Rechte und Freiheit der Menschen schmälern, sondern ihr Glück sogar noch vermehren wird, weil sie vor Hindernissen und Gefahren geschützt sein werden. Siehe Sieyès, Einleitung zur Verfassung, S. 246. In diesem Sinn kommt Sieyès Locke nahe, nach dem die politische Gesellschaft vor allem dem Zweck dient, jedem Individuum Freiheit und Eigentum gleichermaßen zu gewähren. Diese Ansicht über dem Zweck der Gesellschaft war bereits seit den 1770er Jahren vorhanden und kulminierte 1788 / 89. Dazu vgl. Sewell, S. 76 f.; Asbach, S. 123.
42 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
sche der Naturzustand, worin sich die Einzelnen im sozial-ökonomischen Sinn durch ihren Willen vereinigen und miteinander ein politisches Kollektiv, eine Nation, konstituieren: „Für die erste Epoche ist eine mehr oder weniger beträchtliche Anzahl von Individuen anzunehmen, die sich vereinigen möchten. Schon allein durch diese Tatsache bilden sie eine Nation: sie haben alle Rechte einer solchen; es geht nur noch darum, sie auszuüben. Diese erste Epoche ist gekennzeichnet durch das Spiel der Einzelwillen. Sie erst schaffen die gesellschaftliche Vereinigung; sie sind der Ursprung aller öffentlichen Gewalt.“61
Wenn eine nationale Gemeinschaft zustande kommt, hat sie einen gemeinschaftlichen Willen, der handelt, um den Zweck der Vereinigung zu erfüllen. Dies ist eben der Grund, warum die Einzelnen sich vereinigen. Außerdem ist zu beachten, dass Sieyès sorgfältig zu Rousseaus Unterscheidung zwischen volonté générale und volonté de tous auf Distanz geht. Obwohl der Terminus „Gemeinwille“ auch oft in seinen Schriften auftaucht, unterscheidet er sich in Sieyès̕ Konstruktion begrifflich kaum vom „gemeinschaftlichen Willen“ (volonté commune), der nichts anderes ist als die Summe der Willen der Individuen, also die rousseausche volonté de tous.62 Insofern ist der Unterschied zwischen volonté générale und volonté de tous für Sieyès nicht von Bedeutung – genauer, der Wille der Nation ist die Summe aller Einzelwillen. Nach der Vereinigung der Einzelwillen kommt es aber zu einer Schwierigkeit: „Die Gesellschafter sind zu zahlreich und über ein zu weites Gebiet verstreut, als daß sie ihren gemeinschaftlichen Willen einfach selbst ausüben könnten.“63 Dies ist das Hauptproblem, das in der zweiten Phase zu lösen ist. Nun müssen alle Angehörigen der Gemeinschaft also ihre Vollmacht auf einen Teil von ihnen übertragen, um eine Regierung zu bilden, die beauftragt ist, öffentliche Bedürfnisse zu befriedigen. Obwohl in dieser Phase die Regierung die Macht aus der Nation übernimmt, ist die Macht der Regierung absolut nicht unumschränkt, wie Sieyès betont: „1. Die Gemeinschaft begibt sich durchaus nicht ihres Rechtes zu wollen; das ist ihr unveräußerliches Eigentum, sie kann lediglich die Ausübung dieses Rechtes übertragen. 2. Die Körperschaft der Abgeordneten kann selbst nicht die volle 61 Sieyès,
Was ist der Dritte Stand?, S. 165. gewiß ist der erste gemeinschaftliche Wille einer Anzahl von Menschen, die sich nach unsrer Annahme zur politischen Gesellschaft vereinigen, genau die Summe aller Einzelwillen.“ Sieyès, Überblick über die Ausführungsmittel, S. 28 f. Tatsächlich trifft Sieyès niemals explizit die Unterscheidung vom Gemeinwillen und gemeinschaftlichen Willen. Die beiden werden beinahe synonym verwendet. Dazu vgl. Hafen, S. 64 f.; Lembcke / Weber, Revolution und Konstitution, S. 60. 63 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 165. 62 „[…]
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt43 Ausübungsbefugnis dieses Rechtes besitzen. Die Gemeinschaft hat dieser Körperschaft natürlich nur so viel von ihrer umfassenden Gewalt anvertraut, wie zur Aufrechterhaltung der guten Ordnung notwendig ist. Denn in solchen Dingen gibt man nicht mehr als nötig. 3. Es kommt der Körperschaft der Abgeordneten also nicht zu, die Grenzen der ihr anvertrauten Gewalt zu verrücken. Es versteht sich, daß eine solche Befugnis ein Widerspruch in sich selbst wäre.“64
Sobald die Regierung zustande kommt, tritt die Nation in die dritte Phase ein. Diese Phase ist dadurch gekennzeichnet, „daß nun nicht mehr der wirkliche gemeinschaftliche Wille handelt, sondern ein stellvertretender gemeinschaftlicher Wille.“65 D. h., die Körperschaft der Repräsentanten, die Regierung, beginnt im Namen des gemeinschaftlichen Willens der Nation politische Angelegenheiten zu erledigen; die Nation hört aber auf, unmittelbar zu handeln. Insofern nimmt Sieyès Rousseaus Modell des Gesellschaftsvertrags auf, nach dem die Nation nur dadurch entsteht, dass alle Individuen miteinander einen Gesellschaftsvertrag abschließen. Wenn eine Nation vorhanden ist, kann nur die Nation das alleinige Subjekt zur Schaffung der politischen Ordnung sein; sofern die Nation als eine Gemeinschaft aufgrund des Gesellschaftsvertrags konstituiert wird, besteht ein Gemeinwille, von dem sich alle positiven Gesetze und Regierungsgewalten herleiten.66 Also kann ausschließlich die Nation der einzige legitime Träger der Souveränität sein, nicht der Monarch oder der Adel. Dementsprechend wird die Regierung bloß zum Repräsentanten und Beauftragten der Nation und verfügt nur über beschränkte Macht, weil die Nation lediglich Teile ihrer Rechte der Regierung überträgt und diese nicht etwa vollständig abtritt.67 Die Regierung ist also kein Zweck, sondern nur das Mittel zum Vollzug von öffentlichen Erfordernissen. Im Anschluss daran negiert Sieyès zugleich die damals übliche Ansicht, die den Gesellschaftsvertrag auf den mittelalterlichen Herrschaftsvertrag zurückführt, der zwischen ständischen Trägern gewohnheitsrechtlicher Rechtsansprüche und dem Fürsten abgeschlossen wurde. In der Tat handelt es sich bei der Vertragstheorie von Sieyès weder um den Herrschaftsvertrag im mittelalterlichen Sinn noch um den einstufigen Herrschaftsvertrag bei Hobbes, bei dem der Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag zusammenfallen, oder den doppelten Vertrag mit Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag im Sinne Pufendorfs. Im Gegensatz dazu akzentuiert Sieyès das Prinzip der Volkssouveränität und warnt zugleich vor den Gefahren der Selbstbindung der Nation, die die Verwechselung des Gesellschaftsvertrags mit dem Herrschaftsvertrag zur Folge 64 Ebd.
65 Ebd.,
S. 166. Überblick über die Ausführungsmittel, S. 57. 67 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 166. 66 Sieyès,
44 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
haben könnte.68 Es steht außer Frage, dass die theoretische Konstruktion von Sieyès die seit dem 17. Jahrhundert entwickelte neuzeitliche Vertragstheorie als die Basis der Begründung politischer und rechtlicher Ordnung nutzt. Offensichtlich ist auch die Verbindung von theoretischer Argumentation und politischer Praxis. Asbach meint dazu: „Die Art und Weise, in der Sieyes dieses handlungsorientierende und -begründende Wissen methodisch und inhaltlich bestimmt, belegt den politisch-praktischen Gehalt historischer und theoretischer Erkenntnis.“69 Der revolutionäre Charakter, der von vornherein zur Vertragstheorie gehört, besteht darin, dass die historisch überkommene hierarchische Ordnung aufgehoben wird, indem die Bestimmung der Grundlage von Recht und Staat auf die Idee des Naturzustandes statt auf die historisch-empirische Faktizität zurückgeführt wird. Demzufolge wird die politische und rechtliche Ordnung ausschließlich durch die Übereinstimmung einzelner Willen legitimiert. Bei der Einbeziehung der Argumentation der Vertragstheorie in seinen revolutionären Diskurs stellt Sieyès sich auf den Standpunkt, dass „man zwischen der Vergangenheit und der Zukunft einen Trennungsstrich ziehen“ muss.70 Folglich ist es nicht erstaunlich, dass Sieyès sich mit der Ansicht auseinandersetzt, nach der man die Gesetze für eine Nation in vergangenen Zeiten suchen solle. Die überlieferten Gesetze und Ordnung sind, so Sieyès, eher die Trümmer aus der Zeit des finsteren mittelalterlichen Feudalismus.71 In der aufgeklärten Neuzeit soll man also die politische Ordnung nicht durch Nachahmung der mittelalterlichen Ordnung konstituieren; man soll auch nicht die Auffassung der Konservativen akzeptieren, wonach es bereits eine Verfassung in Frankreich gebe, die es lediglich zu restaurieren, erneuern und reformieren gelte, weshalb eine neue Verfassung unnötig sei.72 Diese im Prinzip auf der Seite des Ancien Régime stehende und daher zu bloßen Reformen tendierende Ansicht beabsichtigt noch die Bewahrung der ständisch-hierarchischen Herrschaftsordnung und ist daher für Sieyès bloß ein Vorwand der Privilegierten. 68 So Sieyès: „Der Sozialvertrag ist nur so zu verstehen, daß er die Gesellschafter untereinander bindet. Eine falsche und gefährliche Vorstellung ist es, einen Vertrag zwischen dem Volk und seiner Regierung anzunehmen. Die Nation schließt mit ihrem Beauftragten keinen Vertrag, sie überträgt nur die Ausübung ihrer Gewalten.“ Ebd., S. 150. 69 Asbach, S. 118. In diesem Aufsatz zeigt Asbach auch noch, dass Sieyès für die revolutionäre Praxis nicht nur aufgeklärt-philosophische Reflexionen rezipiert, sondern auch ihre theoretischen Konzepte transformiert. 70 Sieyès, Überblick über die Ausführungsmittel, S. 85. 71 Sieyès, Versuch über die Privilegien, S. 22, 38; Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 150. 72 Vgl. Zweig, S. 221 ff.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt45
Eben an dieser Stelle steht Sieyès der zu seiner Zeit weitverbreiteten Auffassung von Montesquieu und Voltaire entgegen, dass Frankreich die Verfassung sowie Mechanismen Englands nachahmen solle. Sieyès gibt zwar zu, dass die englische Verfassung in der Zeit, als sie entstand, sicherlich ein eminentes Werk war; er hält jedoch die englische Verfassung und ihre Einrichtungen, besonders das Oberhaus (House of Lords), nicht für ein Werk der Aufklärung, sondern vielmehr für das Ergebnis eines Zufalls und der Umstände, das der Denkweise des mittelalterlichen Aberglaubens entspreche.73 Sieyès hebt daher hervor, dass keine Nation Frankreich als Vorbild einer guten Verfassung und politischen Ordnung dienen könne. Umgekehrt solle sich die französische Nation mit Rücksicht auf ihren eigenen Gesellschaftszustand und die Wissenschaft der Aufklärungszeit eine passende Verfassung geben. Während Sieyès angesichts des Charakters der Vertragstheorie – nämlich Enthistorisierung und Dekontextualisierung – prinzipiell ausschließt, dass die überkommenen Gesetze und Einrichtungen in der Neuzeit bestehen bleiben können, ist Sieyès’ Gedankengang darüber hinaus auch von einem anderen Element der Vertragstheorie geprägt, das sich auch in Rousseaus Gedanken zeigt: Das Recht und andere staatliche Einrichtungen lassen sich eher durch die Zustimmung des Volkes, also den Volkswillen, als durch Geschichtlichkeit legitimieren. An dieser Stelle verneint Sieyès, dass die Nation an das traditionelle Recht oder an irgendwelche bestehenden Gesetze gebunden ist. Sieyès’ Akzentuierung der Ungebundenheit der Nation hing unmittelbar mit der politischen Lage seiner Zeit zusammen. In dem Kontext vor dem Zusammentritt der Generalstände war der entscheidendste und gravierendste Streitfall, dass die Privilegierten bei der Notabelnversammlung den Anspruch auf die zwei Wahlreglemente der Generalstände für „verfassungswidrig“ erklärten. Denn auf der legalen Ebene waren die Ansprüche des Dritten Standes schwerlich zu rechtfertigen, weil die Konservativen der privilegierten Stände behaupteten, es gebe schon eine historische entstandene Konstitution sowie Grundgesetze der französischen Nation. In dieser Situation wurde eine neue Konzeption für die theoretische Überwindung des Rechtediskurses benötigt. Hierzu bediente sich Sieyès also seiner einflussreichen Unterscheidung zwischen der verfassunggebenden Gewalt und der konstituierten Gewalt. Sieyès’ theoretische Strategie ist, eine vorstaatliche und überrechtliche Quelle vorzustellen, aus der rechtliche und politische Einrichtungen hervorgehen. Hiermit vermag er zu demonstrieren, dass politische Organisationen und Grundgesetze lediglich menschliche Erzeugnisse 73 Sieyès,
Was ist der Dritte Stand?, S. 161.
46 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
sind, die dann beseitigt werden können, wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen oder, schlimmer noch, diesem entgegenstehen. 2. Die Trennung der verfassunggebenden Gewalt von konstituierten Gewalten Im oben zitierten Absatz über den Gesellschaftsvertrag zeigt Sieyès auch, dass die politische Verfassung einer Gesellschaft in der zweiten Phase der Gesellschaftsgründung zustande kommt. Nach seiner Definition bestimmt sie die Organisation und Verfahrensregeln, nach denen eine Körperschaft zu einem bestimmten öffentlichen Zweck gegeben wird. Außerdem enthält eine Verfassung auch eine Reihe von politischen Vorkehrungen, die verhindern sollen, dass die Regierung mit der öffentlichen Gewalt dem Volk schadet. Also bezieht sich eine Verfassung eher auf die Regierung als auf das Volk. Weiterhin unterteilt Sieyès positive Verfassungsgesetze in zwei Kategorien: „die einen regeln Organisation und Aufgaben der gesetzgebenden Körperschaft; die anderen bestimmen Organisation und Aufgaben der ausführenden Körperschaft. Die einen – diejenigen Gesetze, welche die Gesetzgebungskörperschaft errichten – beruhen auf dem Nationalwillen, der jeder Verfassung vorgeben ist […] Die anderen Gesetze bedürfen ebenso der Beschließung durch einen besonderen stellvertretenden Willen.“74 Die beiden Arten der Verfassungsgesetze sind abhängig von der Nation, so Sieyès. Hier betont Sieyès auch, dass die Verfassungsgesetze wegen ihrer Verbindung mit der Organisation und Befugnis der Regierung zwar als Grundgesetze bezeichnet werden, der Begriff „Grundgesetz“ jedoch nicht in dem Sinn zu verstehen sei, dass auch die Nation ihm unterworfen sein solle. Die beiden Arten der Grundgesetze sind im Gegenteil „das Werk der verfassunggebenden Gewalt, nicht aber der von der Verfassung gesetzten Gewalt.“75 Die Regierung ist folglich der Verfassung untergeordnet und als die „konstituierten Gewalten“ definiert, die als die von der Verfassung geregelte Körperschaft die Verfassung weder antasten noch ändern dürfen. Dies ist bei dem ordentlichen gesetzgebenden Organ auch keine Ausnahme. Im Gegensatz zur Regierung, der von der Verfassung gestalteten Gewalt, ist die Nation die Quelle aller positiven Gesetze. D. h., alle Gesetze, inklusive der die Organisation und die Befugnisse der Regierung bestimmenden Verfassung, leiten sich von der Nation her. Der Wille der Nation ist also nicht die Gewalt, die von der Verfassung konstituiert wird und daher unter der Verfassung steht. Vielmehr ist er die ursprüngliche, nämlich die verfassunggebende Gewalt, die allen staatlichen Institutionen vorangeht. Daraus 74 Ebd., 75 Ebd.
S. 167.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt47
zieht Sieyès die Konsequenz, dass vor und über der Nation lediglich das Naturrecht steht. Die positive Verfassung aber kann selbstverständlich den Willen der Nation nicht einschränken: „Nicht nur dass die Nation keiner Verfassung unterworfen ist, sie kann und darf es auch nicht sein, was soviel bedeutet, als dass sie es eben nicht ist.“76 Außerdem veräußert die Nation nach der Schaffung der Verfassung ihre Rechte nicht. Die geschaffene Verfassung kann daher auch nicht die Nation hindern, ihren Willen später wiederum durchzusetzen. Der Wille der Nation wird in diesem Sinn vorgestellt als etwas, das positiven Gesetzen und Organisationsformen gegenübersteht und über alle Formen hinausgeht, während jede Form und positive Verfassung als bindend für die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt betrachtet wird. Dafür stellt Sieyès fest, dass die Nation sich nicht auf irgendeine Verfassungsform beschränken solle. Ansonsten riskiere die Nation, die Freiheit zur Ausübung der Souveränität zu verlieren – „denn die Tyrannei bedürfte nur eines Augenblicks des Erfolgs, um die Bevölkerung unter dem Vorwand einer Verfassung einer solchen Form zu unterwerfen […]“77 Bei Sieyès ist die Nation anders konzipiert als bei anderen Vertragstheoretikern, die den Naturzustand als einen vorstaatlichen Zustand auffassen, der nach Abschluss des Gesellschaftsvertrag beendet ist. Nach Sieyès’ Vorstellung bleibt die Nation jedoch vollständig und dauernd auf einer vorrechtlichen Stufe stehen und wird mithin als eine immer im Naturzustand stehende Größe betrachtet. Dies ändert sich auch nicht, wenn die Verfassung in Kraft tritt. Der Wille der Nation steht ewig vor und über dem bestehenden Recht, er ist das höchste Gesetz. Als der Souverän kann die Nation jederzeit auf jede Art und Weise ihren Willen durchsetzen. Die verfassunggebende Gewalt der Nation wird demzufolge in die Position gerückt, wo sie zwar außerhalb der Verfassung steht, aber immer in der Lage ist, in die bestehende Verfassung nach Belieben einzugreifen. Genau aus diesem Grund ist Zweig der Überzeugung, dass zwischen der fürstlichen Souveränität und der Volkssouveränität, bzw. der verfassunggebenden Gewalt im Sinn von Sieyès eine Analogie bestehe, weil beiden die Transzendenz über das Recht zukomme – sie seien also potestas legibus soluta.78 Hier ist auch zu beachten: Obwohl Sieyès den Terminus „verfassunggebende Gewalt“ gebraucht, gemäß deren Bestimmung der Wille der Nation 76 Ebd., 77 Ebd.
S. 168.
78 Zweig, S. 134 f. Das Verständnis, das die Souveränität als potestas legibus soluta auffasst, entwickelt eine von der fürstlichen Souveränität bis zur Volkssouveränität, von Bodin über Rousseau bis Sieyès laufende lineare Ideengeschichte. Nach der linearen Souveränitätsgeschichte steht die Souveränität dem Prinzip des Rechtsstaats gegenüber. D. h., hier wird die Souveränität als der Kern des Absolutismus betrachtet; die Verfassung als der Kern des Rechtsstaats.
48 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
im Augenblick der Verfassunggebung wirkt und mithin alle Gesetze und Institutionen transzendiert, beschränkt sich die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt nicht bloß auf den Fall der Verfassungsgebung. Neben der Verfassunggebung spricht Sieyès der Nation auch die Kompetenz sowohl zur Verfassungsänderung als auch zur Entscheidung über jede Verfassungsdebatte zu. Für ihn geht es in diesen beiden Fällen um die Umwandlung der verfassungsrechtlichen Ordnung. Deshalb kann keine von der Verfassung konstituierte Institution die Instanz sein, eine Verfassungsdebatte zu entscheiden, weil die von der Verfassung gesetzten Gewalten im Prinzip nicht über die Verfassung entscheiden dürfen. Nur die Nation darf in einer Verfassungsdebatte die Entscheidung treffen, „weil sie notwendigerweise an keine bestimmte Form gebunden ist. Selbst wenn die Nation ihre regelmäßigen Generalstände hätte, stünde es dieser durch die Verfassung begründeten Körperschaft nicht zu, eine Streitigkeit über ihre eigene Verfassung zu entscheiden. Sonst geriete man in einen Teufelskreis, in eine Folge von Behauptungen, die das zu Beweisende voraussetzen.“79 Wie oben erwähnt, steht nach dem System von Sieyès die Unterscheidung zwischen verfassunggebender Gewalt und konstituierten Gewalten im unmittelbaren Zusammenhang mit der Rolle der Generalstände im verfassungsrechtlichen Konflikt. wenn die Behauptung der privilegierten Stände richtig wäre, dass Frankreich eine Verfassung mit zwei Wahlreglementen hätte, dann dürften aus Sicht von Sieyès auch die Generalstände als gewöhnliche Vertreter und konstituierte Gewalt nicht die Verfassungsdebatte entscheiden dürfen. Ansonsten wäre die Nation gewissermaßen durch die Generalstände ersetzt. Die Entscheidungskompetenz über die Verfassung steht immer nur der Nation, dem Souverän, zu. Sofern die Nation will, hat sie immer das Recht, sich selbst eine neue Verfassung zu geben oder die Verfassung zu revidieren, ohne dabei durch bestehendes Recht eingeschränkt zu werden. Aus diesem Grund ruft Sieyès den Dritten Stand auf, die traditionellen Reglemente und Generalstände zu ignorieren und selbst als eine Nation, die an keine Formen und Bedingungen gebunden ist, eine positive Verfassung herbeizuführen. Auf der theoretischen Ebene ist es selbstverständlich, dass die Nation als der Souverän durch ihren Gemeinwillen Gesetze verabschieden kann und soll. Aber es stellen sich auch praktische Fragen: Ist es möglich, dass sich das Volk irgendwo und irgendwann versammelt, um unmittelbar eine Verfassungsgebung vorzunehmen? Wie und inwiefern wirkt der Nationswillen in Sieyès’ Konstruktion, wenn die direkte Ausübung der verfassunggebenden Gewalt in einem großen Territorialstaat nicht zu verwirklichen ist? Können Abgeordnete gewählt werden, um den Nationswillen zu repräsentie79 Sieyès,
Was ist der Dritte Stand?, S. 170.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt49
ren? Hierbei geht es um die Praxis der modernen repräsentativen Demokratie.80 Dies ist im Folgenden weiter zu erläutern.
III. Repräsentation der Nation und die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt Mit dem Argument des Gesellschaftsvertrags gibt Sieyès der gesamten Nation als Souverän den Vorrang vor positiven Gesetzen und der Regierung. Mit Recht ist Sieyès’ Konzeption der Volkssouveränität als rousseasch charakterisiert. Dennoch gibt es zwischen den beiden einen entscheidenden Unterschied: Sieyès rezipiert Rousseaus republikanische Vorstellung, bzw. die der unmittelbaren Demokratie nicht, auch wenn er die Vertragstheorie Rousseaus aufnimmt. Für ihn kann die Ausübung der Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft nur durch Repräsentation möglich sein. Man sollte nicht außer Acht lassen, dass der Begriff der Repräsentation nicht erst im späten 18. Jahrhundert vorkommt, sondern bereits im Ancien Régime. Im Prozess der Transformation dieses Begriffs ist Sieyès’ Verbindung der Repräsentation mit der Demokratie zweifellos von entscheidender Bedeutung. Um die Bedeutung der Idee von Sieyès darzustellen, muss man zuerst die Praxis der Repräsentation im Ancien Régime näher betrachten. 1. Die Vorstellung von Repräsentation im Ancien Régime Vor der Revolution wird die repräsentative Funktion in erster Linie von zwei Organen ausgeübt: 1. dem Monarchen als Repräsentant der gesamten Nation; 2. den Generalständen als regionale und körperschaftliche Stellvertreter. a) Der König als Repräsentant der Nation Wie Baker zeigt, übt der König in der Vorstellung des Ancien Régime vielseitige repräsentative Funktionen aus, von denen die fundamentalste ist, dass die Einheit des Staats in der Person des Königs verkörpert wird. Der König repräsentiert selbst das Königsreich als Ganzes (Royaume) und nicht das Volk im Sinne der Menschenmenge. So führt Baker aus: „[T]he king 80 Die Verfassung von 1791 begründete die „Demokratie“ im Sinn des allgemeinen Wahlrechts nicht, weil das Regime in Wirklichkeit nur eine bürgerliche Demokratie war. Hier wird unter dem Wort „Demokratie“ vorläufig das Regime verstanden, dessen Souveränität dem Volk zukommt, nicht dem Monarchen. Nach dieser Definition ist Frankreich nach der Revolution demokratisch, obwohl die Stelle des Königs noch weiter besteht. Vgl. Hartmann, S. 61 f.
50 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
represents the whole, not in the sense that he is authorized by the body of the nation to act on its behalf, but precisely because the nation exists as a body only in the individual person of the monarch, which constitutes the source and principle of its unity.“81 In diesem Sinn hat der König als ein staatliches Organ bzw. Amt die Funktion, die Gemeinschaft zu integrieren. Die Menge einer Gesellschaft wird demnach durch den König in die Einheit des Gemeinwesens integriert, d. h. die Einheit der Nation als politische Größe existiert nur dann, wenn sie durch die Person des Königs repräsentiert wird. Dieser Repräsentationsvorstellung des Monarchen entsprechend ist der König als der Repräsentant der Gesamtheit, der nicht das Partikularinteresse irgendeiner Körperschaft oder von Ständen innerhalb des Staates, sondern vielmehr das allgemeine Interesse repräsentiert, freilich zur Erhaltung und Sicherung des Gemeinwohls (bien commun) verpflichtet.82 Diese Idee, dass eine einzige Person die Gemeinschaft repräsentiert, bringt Lud wig XV. in seiner Behauptung in der séance de la flagellation über die Souveränität deutlich zum Ausdruck: „Man darf nicht vergessen, dass ausschließlich in meiner Person die souveräne Macht verkörpert ist, […] dass die öffentliche Ordnung durch mich garantiert wird und alle Rechte und Interessen der Nation notwendig mit den meinen vereinigt sind.“83 b) Generalstände als Repräsentanten der Partikularinteressen Parallel zur Krone, deren repräsentative Eigenschaft Jouvenel mit dem Terminus „représentation in toto“ bezeichnet, war im Ancien Régime die Repräsentationsvorstellung der Stände und Provinzkorporationen die „représentation singulariter“.84 Im Ancien Régime war diese Vorstellung eng mit der politischen Praxis der Generalstände verbunden. Dem Wesen nach dienten die Generalstände nicht der Gesetzgebung, sondern dem Zweck, die Sonderinteressen und Ansprüche jedes Standes wiederzugeben, wenn der König sie einberief, um über Steuererhebung oder relevante Gesetzgebung zu beraten und die Zustimmung einzuholen.85 Zur traditionellen Idee der „représentation singulariter“ gehören zwei wesentliche Merkmale der Generalstände: Zum ersten, die Generalstände wurden nur dann einberufen, wenn der König es für nötig hielt. Dabei übergaben die Wähler jeder Kommune oder Körperschaft ihre Beschwerdehefte auch Krause, S. 11. Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 65 ff. 83 Rémontrance du parlement de Paris au XVIIIe siècle, ed. Jules Flammermont, Bd. 2, Paris, 1888, S. 558. Zit. nach Krause, S. 13. 84 Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 91 f. 85 Ebd., S. 96. 81 Dazu 82 Vgl.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt51
(Cahiers de Doléances) den gewählten Abgeordneten, die in den Generalständen gemäß diesen Beschwerdeheften entsprechende Ansprüche erhoben. Die Generalstände als Überbringer der cahiers sind also bloß das Mittel, durch das der König die Meinungen und Einstellungen verschiedener Interessen erfahren konnte.86 Von daher wurde den Abgeordneten der Stände nichts weiter übertragen als das „mandat impératif“. Was die Abgeordneten tun konnten, war nur im Rahmen der Beschwerdehefte die Meinungen der Repräsentierten zu ermitteln. Sie durften also nicht unabhängig von den lokalen Meinungen, die sie vertraten, selbstständig bei Gesetzgebung oder politischen Entscheidungen mitwirken. Die durch „mandat impératif“ durchgeführte Repräsentation war freilich ein Repräsentativmodus, nach dem die Repräsentanten auf den Willen der Repräsentierten festgelegt waren. Zum zweiten besaßen Generalstände – dem ersten Merkmal entsprechend – nicht den Repräsentativcharakter des Königs, sie galten daher nicht als ein neben dem König stehendes Repräsentativorgan der Nation. Sie fungierten nur als ein Organ der politischen Entscheidungshilfe. Ihnen steht nur die Kompetenz zur unmittelbaren Mitwirkung der Stände auf der Ebene der Regierungsentscheidung zu. Denn nach der traditionellen Vorstellung, dass die drei Stände Frankreich zusammen stützen, sollte der König sein Volk um Rat in Bezug auf entscheidende Angelegenheiten fragen, um seine Politik durch die Unterstützung des Volkes zu legitimieren. Insofern repräsentierten die Generalstände als die Summe der Vielheit des Volkes eher die Summe der Interessen bestimmter Kommunen oder Körperschaften.87 In diesem Sinne unterscheidet sich diese „Repräsentation des Volkes“ erheblich von der Repräsentationsvorstellung im modernen Sinn, in der das Repräsentierte tatsächlich die Nation als Ganzes ist. Vom 16. Jahrhundert bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die im Ancien Régime vorhandene Gegenüberstellung zwischen „re présentation in toto“ und „représentation singulariter“ allmählich in die Richtung der Verstärkung der Rolle des Monarchen in dem Maße, in dem die administrative und ökonomische Dominanz der Zentralregierung zunahm. Parallel dazu wurden die Generalstände zu einem bloßen Erfüllungsgehilfen, mit dem der absolute Monarch und sein Hof ihre Entscheidungen legitimierten. Die ständische Repräsentation war also seitdem geschwächt. 86 Baker,
Representation Redefined, S. 226. Schmitt weist darauf hin, dass die repräsentative Eigenart der Generalstände, die die Summe der Sonderinteressen vertraten, vor allem in der Generalversammlung deutlich wurde, in der die Vertreter der drei Stände zusammentraten. Die Generalversammlung hatte deshalb eine zeremonielle Bedeutung: Hier vertraten die Generalstände das französische Volk und erzielten eine Übereinstimmung mit dem Monarchen. Siehe Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 95, und Krause, S. 18 f. 87 E.
52 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
Aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sahen sich die Parlamente als Nachfolger der Generalstände und als dem König gegenüberstehende Repräsentanten der Nation. In der Repräsentationsvorstellung der Monarchie ist die Person des Monarchen gegenüber der Nation primär. D. h., die Einheit der Nation existiert nur in der heiligen Person des Königs. Das Verhältnis zwischen König und Nation war aber in der Parlamentsideologie umgekehrt, nach der die Nation als eine geschichtliche Einheit der fürstlichen Souveränität vorausgeht. Der König sollte folglich an die mit der Nation verflochtene Rechts- und Verfassungstradition gebunden sein. Die Parlamente stellten hingegen fest, dass sie selbst als der Hüter der Grundgesetze und Rechtsordnung der Nation, als der Repräsentant der Nation, neben dem Monarchen stehen.88 Die Neuartigkeit der Parlamentsideologie, auch wenn ihre Einstellung in Wahrheit konservativ war, bestand darin, dass sie von der in den Generalständen implizierten Idee der „représentation singulariter“ abwich. Parlamente identifizierten sich also wie der Monarch als Repräsentanten mit der Gesamtheit und dem Gemeinwohl der Nation. Diese Vorstellung der nationalen Repräsentation fasste die Nation als eine unteilbare Gesamtheit und eigenständige politische Einheit auf, aus der der Repräsentant hervorgeht. Wenig später übernahm die Konstituante diese Vorstellung.89 Sie wurde bei Sieyès systematisch konzipiert und radikalisiert. 2. Der Begriff der nationalen Repräsentation bei Sieyès Im Vorfeld der Generalstände von 1788 fungierte der von Sieyès weiterentwickelte Begriff der nationalen Repräsentation als ein Kampfmittel gegen die parlamentarische Forderung, in der Auseinandersetzung um die Steuerreform mit der Zentralregierung an die Generalstände zu appellieren. Anders als die Parlamentsideologie, laut der die historische Rechtstradition die Nation begleite und gegen die daher nicht zu verstoßen sei, liegt der Kern der Repräsentativkonzeption von Sieyès darin, dass die Nation, da Verfassung und positive Gesetze aus dem Nationswillen hervorginge, auch beliebig eine neue Verfassung erschaffen könne; da die Nation nicht anwesend sei, müsse die Verfassungsgebung durch die Repräsentanten der Nation vorgenommen werden. 88 Die Repräsentativvorstellung der Parlamentsideologie beschreibt zutreffend Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 103 ff.; Baker, Representation Redefined, S. 228 ff. 89 Deswegen stellt E. Schmitt die interessante Behauptung auf: „[N]icht die Juristenkreise der Parlamente übernahmen das Vokabular der Aufklärung, sie prägten es weitgehend selbst und verbreiteten es, wodurch sie zur Aufklärung beitrugen.“ Siehe Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, S. 108 Fn. 65.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt53
a) Moderne Gesellschaft und die Notwendigkeit der Repräsentation Beachtlich ist, dass die repräsentative Demokratie von Sieyès offensichtlich im Gegensatz zu Rousseaus unmittelbarer Demokratie und seiner republikanischen Neigung steht. Rousseau verlangt, dass jedes Individuum im staatlichen Zustand ebenso frei bleiben kann, wie es im vorstaatlichen Zustand war. Dann sind für Rousseau die Rechte zur Partizipation in politischen Angelegenheiten erforderlich, ansonsten würde die Freiheit verlorengehen und jedes Individuum in die Heteronomie geraten. Davon ausgehend fordert Rousseau, das Volk solle sich nach der Gründung von Staat und Gesetzen regelmäßig versammeln, um zu vermeiden, dass die Regierung entartet und die Souveränität der Nation unterdrückt. Zugleich verneint Rousseau definitiv die indirekte politische Partizipation des Volkes durch Repräsentation – wie es bei Engländern der Fall ist. Rousseaus unmittelbare Demokratie kommt eher der antiken Vorstellung nahe – mit Constants Worten: der „Freiheit der Alten“ zur Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten.90 Aber im modernen Territorialstaat mit großer Bevölkerung und großem Territorium lässt sich der Anspruch auf unmittelbare Demokratie nicht befriedigen. Dessen ist sich Sieyès sicher91, so dass er sein Argument der Arbeitsteilung umfassend erweitert und darauf sein Postulat der politischen Repräsentation stützt. Zunächst unterscheidet er die Eigenart des modernen Volkes von der des alten. Dazu sagt er: „Die neueren europäischen Völker gleichen den alten Völkern recht wenig […] man kümmert sich viel mehr um Konsum und Produktion als um die Glückseligkeit. Deshalb gründen sich die politischen Systeme heute ausschließlich auf die Arbeit; die der Produktion dienenden Fähigkeiten des Menschen sind alles; die moralischen Fähigkeiten weiß man kaum noch zu nutzen, obgleich sie die reichsten Quellen der wahrsten Freuden werden könnten. Wir sind also gezwungen, im größten Teil der Menschen nichts als Arbeitsmaschinen zu sehen.“92
Nach der Ansicht von Sieyès fällt im modernen Leben die politische Partizipation nicht so sehr ins Gewicht wie in der Antike. In der Neuzeit kümmert man sich als „Arbeitsmaschine“ eher um private Angelegenheiten, vornehmlich Produktion und Konsum. Außer dem subjektiven Faktor ist die politische Partizipation des Individuums auch durch objektive soziale Faktoren bedingt: „Zunächst besitzt die weitaus größte Zahl unserer Mitbürger weder Bildung noch genug Muße, um sich unmittelbar mit den Gesetzen zu befassen, die für FrankConstant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen. Was ist der Dritte Stand?, S. 165. 92 Sieyès, Rede des Abbé Sieyes über die Frage des königlichen Vétos, S. 266. 90 Vgl.
91 Sieyès,
54 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès reich gelten sollen, ihnen ist also daran gelegen, Stellvertreter zu benennen; und weil dies die Meinung der großen Mehrheit ist, müssen sich die aufgeklärten Leute wie alle anderen darein fügen.“93
Aufgrund solcher subjektiven und objektiven Faktoren ist Rousseaus Vorstellung hinsichtlich der regelmäßigen Versammlung und unmittelbaren Demokratie in einer neuzeitlichen Gesellschaft nicht mehr möglich. Daher stellt Sieyès den repräsentativen Ersatz auf, der eine doppelte Wirkung hat: Einerseits wird die neuzeitliche Demokratie nun auf indirekte Art und Weise möglich; andererseits ermächtigt es die von den Abgeordneten des Dritten Standes gebildete Nationalversammlung im Namen der Nation die Verfassung auszuarbeiten.94 b) Merkmale des Repräsentationsbegriffs bei Sieyès aa) Unitarische und nationale Repräsentation In Sieyès’ Erörterung über den Drei-Phasen-Prozess der politischen Gesellschaft zeigt sich, dass die Repräsentation sich in der zweiten Phase ergibt, indem die Nation der repräsentativen Körperschaft, der Regierung, die Vollmacht überträgt. Danach wird die Macht indirekt durch die Regierung, nicht mehr unmittelbar von der Nation, ausgeübt. Aber die indirekte Ausübung des Willens der Nation bedeutet nicht, dass er nicht mehr besteht. Sieyès zufolge leiten sich alle Rechtsnormen, sowohl die Verfassung als auch die Gesetze, aus dem Willen der Nation ab. Der Repräsentant, der Gesetze schafft, muss nur vom Willen der Nation beauftragt sein. Und weil die Nation und der gemeinschaftliche Willen eins sind, kann auch nur ein einziges Repräsentativorgan des Nationalwillens gegeben sein. Somit sind die nationalen Repräsentanten unteilbar und untrennbar. Sieyès verurteilt die Generalstände eben deshalb, weil sie nicht die gesamte Nation, sondern nur die Stände und daher Sonderinteressen vertreten. Wenn der Wille der Nation in drei verschiedene Teile, bzw. drei Stände getrennt wäre, dann wäre kein Gemeinwille vorhanden: „Solange ihr drei Stände und drei Stellvertretungen habt, kann dieser Wille [Gemeinwille, S. Y.] nicht ungeteilt sein. […] Aber eine Nation, eine Repräsentation und ein gemeinschaftlicher Wille wird daraus niemals werden.“95 Aufgrund dieser Vorstellung verweigert Sieyès grundsätzlich die nach Ständen gewählte Repräsentation und das Wahlreglement in den Generalständen („vote par ordre“). Bei dieser Sicht auf die nationale Repräsentation ist es nur konse93 Ebd.,
S. 267. Hofmann, Repräsentation, S. 408 f. 95 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 181. 94 Vgl.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt55
quent, dass Sieyès an die Stelle der Generalstände die „assemblée nationale“ setzt, in der die Abgeordneten des Dritten Standes unter Ausschluss von Geistlichen und Adligen allein die volonté nationale vertreten, um für die Nation eine Verfassung zu schaffen.96 Die Vorstellung, die Repräsentation sei unbedingt einheitlich und unteilbar, kennt nicht nur keine Klassen und Stände, sondern verneint auch die Möglichkeit, dass irgendeine Kraft die Vollmacht der nationalen Repräsentanten unter Kontrolle bringen könnte. Wenn die nationalen Repräsentanten die Verfassunggebung oder Gesetzgebung wahrnehmen, kann es keine ihnen entgegenstehende Gewalt geben, weder das königliche Veto noch irgendeine negative Gewalt.97 Sieyès lehnt konsequent das königliche Vetorecht gegen den Beschluss der Legislative ab.98 bb) Freies Mandat Parallel zu diesem unitarischen, unteilbaren Charakter besteht die andere Besonderheit des nationalen Repräsentationsbegriffs bei Sieyès darin, dass die nationale Repräsentation von der Vorstellung des „mandat impératif“ abweicht. Seine Auffassung widerspricht der beherrschenden Ansicht zu seiner Zeit, nach der Repräsentanten, da sie in Bailliagen oder Gemeindebezirken gewählt werden, nur die Interessen ihrer Wähler und Wahlbezirke vertreten und deren Willen befolgen sollen. Dagegen sagt Sieyès: Ein Abgeordneter ist zwar in einem einzelnen Bailliage gewählt, jedoch ist er „von einem Bailliage im Namen sämtlicher Bailliagen bestellt; er ist Abgeordneter für die gesamte Nation; alle Bürger sind seine Auftraggeber.“99 Er vertritt die Stimme der Nation und gibt angesichts der Gemeininteressen der Nation Gesetze. Wenn er umgekehrt nur den Willen seiner Wähler berücksichtigt, dann herrscht „ein Chaos von örtlichen Gewohnheiten, Verboten und Sonderbestimmungen!“100 96 Ebd., S. 180, 184. Aus diesem Grund versteht Deusen die Nation in Sieyès’ Konstruktion als „a body of people“. Nach ihm steht dieses „personality“ Konzept immer im Zentrum der Konstruktion von Sieyès. Vgl. Deusen, S. 74. 97 Sieyès, in: Politische Schriften, S. 237. In Bezug auf das königliche Veto vertraten die Gegner von Sieyès in der verfassunggebenden Nationalversammlung zwei Auffassungen: 1., wie beim englischen Vorbild der konstitutionellen Monarchie sei dem König die Prärogative zum absoluten Vetorecht und zur Auflösung des Parlaments zuzusprechen; 2., das Vetorecht wurde nur als ein aufschiebendes Veto, ein „Appell ans Volk“ aufgefasst. Zum historischen Kontext der Debatte vgl. Sieyès, in: Ausgewählte Schriften, S. 239 f.; Hafen, S. 172 ff.; Winkler, Geschichte des Westens, S. 326 ff. 98 Vgl. Sieyès, Rede über die Frage des königlichen Véto. 99 Ebd., S. 267. 100 Ebd. S. 265.
56 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
In der Rede von Sieyès ist hervorgehoben, dass Franzosen in der Tat die Praxis der unmittelbaren Demokratie verweigern, wenn sie ihre Stellvertreter wählen.101 Hier wiederholt Sieyès sein Postulat, dass die Demokratie, d. h. die unmittelbare Demokratie, in einem großen Staat wie Frankreich unmöglich sei. Zugleich solle Frankreich auch kein demokratischer Staat sein. Sein Argument dafür ist: Wenn Frankreich durch die unmittelbare Demokratie oder durch das mandat impératif von Bailliagen einen „Appell an das Volk“ vornähme, sei Frankreich nicht mehr ein einziges Ganzes; an die Stelle des Nationalwillens träte nur die Summe des Willens der Einwohner der Bailliagen. Sieyès äußert somit beharrlich: „Das Volk oder die Nation kann nur eine Stimme haben, nämlich die der nationalen Gesetzgebungskörperschaft […]. In einem Land, das keine Demokratie ist (und Frankreich dürfte schwerlich eine sein) kann das Volk – ich wiederhole es – nicht anders als durch Stellvertreter sprechen und handeln.“102 An dieser Stelle stellt Sieyès die Inkompatibilität von Repräsentation und volonté générale in Rousseaus System vom Kopf auf die Füße. Nun bleibt Frankreich geeinigt und behält den unitarischen Nationalwillen insofern, als die Einheit der Nation durch die unitarische Repräsentation zum Ausdruck kommt; der volonté générale muss ausschließlich durch Repräsentation unmittelbar mediatisiert werden. cc) Unterscheidung zwischen Legislativorgan als außerordentlichem Repräsentanten und verfassunggebende Versammlung als außerordentlichem Repräsentanten Kehren wir zur Problematik der Verfassunggebung zurück. Für Sieyès steht fest, dass die verfassunggebende Gewalt nur durch Repräsentanten der Nation auszuüben ist, weil sich die Nation in der Wirklichkeit nicht versammeln kann. Aber es bleibt noch die Frage: Wer kann nun eigentlich die verfassunggebende Gewalt ausüben anstatt der Generalstände üblicherweise als Repräsentanten der Nation bezeichnet wurden? Sieyès unterteilt Repräsentanten in zwei Kategorien: den ordentlichen und den außerordentlichen. Der erste ist zuständig dafür, die gemäß der Verfassung konstituierten Kompetenzen auszuüben.103 Im System von Sieyès ist aber maßgeblich, dass die verfassunggebende Gewalt nur durch die außer101 Unter der „Demokratie“ versteht Sieyès die unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung: „Diese unmittelbare Mitwirkung kennzeichnet die wahre Demokratie. Die mittelbare Mitwirkung kennzeichnet die repräsentative Regierungsform.“ Ebd. S. 266. Diese Auffassung der Demokratie stammt ohne Zweifel von Rousseau. 102 Ebd. S. 269. 103 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 170.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt57
ordentlichen Repräsentanten auszuüben ist. Die verfassunggebende Gewalt muss streng von der gesetzgebenden Gewalt getrennt werden. Die gesetzgebende Gewalt steht ordentlichen Repräsentanten zu; die verfassunggebende Gewalt aber außerordentlichen Repräsentanten. Dadurch entzieht Sieyès die verfassunggebende Gewalt den ordentlichen Befugnissen der Regierung, die als konstituierte Gewalt nicht in den Bereich verfassunggebende Gewalt übergreifen darf. Sieyès zufolge versammeln sich die außerordentlichen Repräsentanten nur in bestimmten Fällen, haben eine befristete Amtszeit und lediglich die Aufgabe, über die Verfassungsform oder Verfassungskonflikte zu entscheiden. Aber wenn sie sich versammeln, sollen sie über dieselbe Gewalt verfügen, die die versammelte und anwesende Nation hat. Sie kommen der Substanz der Nation gleich und seien daher nicht an die Form der Verfassung gebunden. In diesem Sinn betont Sieyès die Ungebundenheit der Vollmacht solcher Repräsentanten: „Sie vertreten die Stelle der Nation, die selbst über die Verfassung bestimmt. Sie brauchen nur zu wollen wie die Individuen im Naturzustand; auf welche Weise sie auch bestellt worden sind, wie sie sich auch versammeln und beraten, ihr gemeinschaftlicher Wille wird immer als der Wille der Nation gelten, sofern nur unverkennbar feststeht […], daß sie aufgrund eines außerordentlichen Auftrags der Bevölkerung handeln.“104
Es liegt nahe, dass es beim Unterschied zwischen ordentlichen Repräsentanten und außerordentlichen Repräsentanten, den Sieyès hier darlegt, vor allem um das gemäß der Rechtsordnung einberufene konstituierte Organ, die Generalstände, geht. Parallel dazu, dass Sieyès der Nation die verfassunggebende Gewalt zuspricht, hebt er hervor: Selbst wenn die veralteten Grundgesetze einer Verfassung gleichkämen – wie die Parlamentsideologie behauptete –, könnte die Generalstände doch nur als ein gesetzgebendes Organ, als ordentliche Repräsentanten dienen.105 Über den Verfassungskonflikt in Bezug auf die Verfassung, zu der jeder Stand eine unterschiedliche Meinung vertritt, kann nur der Nationalwille als letzte Instanz entscheiden. Nun gab es in Frankreich jedoch eigentlich keine Verfassung im Sinn des 104 Ebd.,
S. 170 f. die Generalstände wären, wenn sie tagen würden, nicht berechtigt, irgend etwas über die Verfassung zu entscheiden.“ Ebd., S. 172. Dazu auch S. 184: „Man wird nicht leugnen, daß die Kammer des Dritten Standes bei den kommenden Generalständen nicht sonderlich befugt ist, eine außerordentliche Stellvertretung des Königreich einzuberufen. So besteht ihre Aufgabe vor allem darin, die Allgemeinheit der Bürger über die falsche Verfassung Frankreichs zu unterrichten. Sie muß laut und deutlich darüber Klage führen, daß die aus mehreren Ständen bestehenden Generalstände nur eine schlecht geordnete Körperschaft bilden können, die unfähig ist, ihre nationale Aufgaben zu erfüllen […].“ 105 „Selbst
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modernen Konstitutionalismus, so dass es notwendig wurde, die Generalstände durch außerordentliche Repräsentanten zu ersetzen. Und es versteht sich von selbst, dass allein die Stellvertreter des Dritten Standes die außerordentliche Stellvertretung, die assemblée nationale ausmachen können, weil nur sie die Nation sind.
IV. Die revolutionäre Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt bei Sieyès Hier ist zunächst die Theorie der verfassunggebenden Gewalt bei Sieyès von 1788 / 89 kurz zusammenzufassen. Sieyès trennt den pouvoir constituant vom pouvoir constitué: Der erstere ist die Gewalt zur Schaffung der Verfassung und kommt ausschließlich dem Volk als Ganzen zu; der letztere ist die Gewalt der Regierung und aus dieser Verfassung abgeleitet. Die dem Volk innewohnende verfassungsgebende Gewalt steht also immer über der Verfassung und entscheidet über Form und Inhalt der Verfassung. Mithilfe der Lehre der verfassunggebenden Gewalt setzt Sieyès einerseits die Nation als Ganzes mit dem Dritten Stand gleich, dessen Repräsentanten daher berechtigt sind, im Namen der Nation über Gesetze und sogar Verfassungsrechte zu entscheiden. Andererseits schließt Sieyès die Vertreter der ersten beiden Stände in den Generalständen von der Entscheidung über die Verfassung aus, weil sie in seiner Konstruktion nur die Repräsentanten von Sonderinteressen und lediglich mit der konstituierten Gewalt beauftragt sind. Solche Vertreter der Privilegierten sollen also überhaupt nicht berechtigt sein, in die Kompetenz einzugreifen, die der verfassunggebenden Gewalt des Gesamtvolkes zusteht.106 Es steht außer Frage, dass die Überlegungen zur verfassunggebenden Gewalt bei Sieyès den sozialen Prämissen entspringen, die für den Besitzindividualismus charakteristisch sind.107 Seine Gedanken setzen somit voraus, 106 Zu beachten ist, dass Sieyès das Volk in zwei Gruppen unterteilt, nämlich aktive und passive Bürger. Die ersteren sind die Bürger, die zur Ausübung der politischen Rechte und Pflichte berechtigt sind. Nach Hafen können aktive Bürger nur „jene werden, die das Gemeinwesen unterstützen und die mit Steuern, mit Dienst in der Miliz oder mit der Übernahme von Ämtern und Funktionen zum öffentlichen Wohl beitragen […].“ Siehe Hafen, S. 91. Die passiven können zwar den Schutz von Person, Eigentum und Freiheitsrechte in Anspruch nehmen, haben aber kein Wahlrecht. Dazu gehören die Frauen, Kinder, Ausländer und diejenigen, die „nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen“. Siehe Sieyès, Einleitung zur Verfassung, S. 251. Insofern werden Verfassunggebung und Verfassungsänderung praktisch den außerordentlichen Repräsentanten übertragen, die von den wahlberechtigten Aktivbürgern gewählt werden, nicht aber von allen Bürgern. 107 Vgl. Macpherson, S. 295 ff.
B. System von Sieyès und der Begriff der verfassunggebenden Gewalt59
dass eine politische Gesellschaft aus Individuen besteht, die gleichberechtigt sein sollen. Grundlage dafür ist freilich seine Analyse der Nation, die die sozial-ökonomische Materie für entscheidender als die rechtliche Form einer Nation betrachtet. Wenn das politische System aber nicht der sozialökonomischen Basis entspricht, wird das System zum Hindernis der neuen Ordnung. Das ist im Vorfeld der Französischen Revolution der Fall. Währenddessen gilt der konservative Rechtediskurs der Privilegierten als Vorwand für die Blockierung der bürgerlich-liberalen Forderungen. Um die rechtliche Blockade zu durchbrechen, muss Sieyès sich auf eine über den überkommenen Gewohnheitsrechten stehende Gewalt, die verfassunggebende Gewalt, stützen, wodurch der gesetzwidrige Akt der Verfassunggebung legitimiert wird.108 Dafür ist die Theorie von Sieyès politisch von Bedeutung. Wenn der Begriff der verfassunggebenden Gewalt bei Sieyès dem Zweck dient, die überlieferte Rechtsordnung zu destruieren, dann liegt dessen revolutionäre Eigenschaft nahe. D. h., der Begriff der verfassunggebenden Gewalt impliziert die Tendenz, die bestehende Verfassung ins Wanken zu bringen – wie Sieyès geäußert hat: „Man muß sich die Nationen […] als im Naturzustand befindlich vorstellen. Die Ausübung ihres Willens ist frei und unabhängig von allen gesetzlichen Formen.“109 Weil der Wille der Nation im Naturzustand steht, kann er von keiner konstituierten Gewalt – inklusive der Judikative – kontrolliert werden, solange er tätig wird. Die Ausübung des Willens der Nation kann sogar permanent erfolgen, denn er ist auch nach der Herbeiführung einer Verfassung nicht erschöpft.110 108 Beyme führt also aus: „Formell gesehen war die französische Nationalversammlung von 1789 keine verfassunggebende Versammlung, obwohl manche cahiers ihre Abgeordneten zu Beschlüssen ermächtigten, die auf einen Wandel der Verfassung tendierten. […] Die Nationalversammlung wurde weitgehend als Vertretung des Volkes anerkannt, aber formell gesehen hatte sie in dieser Zusamensetzung keinen Verfassungsauftrag. Sie hatte den pouvoir constituant – unter Umgehung der Rechte der beiden anderen Stände – usurpiert. Die Erklärung, der dritte Stand sei mit der Nation identisch, stellte einen Staatstreich dar, der nur von der stillschweigenden Anerkennung der Mehrheit – wenigstens in Paris – legitimiert wurde.“ Beyme, S. 32 f. 109 Sieyès, Was ist der Dritte Stand?, S. 168. 110 „Permanent“ bedeutet nicht, dass die Repräsentanten der verfassunggebenden Gewalt als unkontrollierbare Herrscher agieren und jeweils in den verfassungsrechtlichen Normalzustand eingreifen dürfen, in dem die von der Verfassung abgeleiteten Kompetenzen funktionieren. Tatsächlich beschränkt Sieyès die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt auf die Sonderaufgabe zur Verfassunggebung. Diese Ausübung wird auch auf einen begrenzten Zeitraum terminiert. Wenn diese Aufgabe erledigt ist, nehmen die außerordentlichen Repräsentanten nicht mehr an der ordentlichen Politik teil. In diesem Sinn ist die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt bloß ein „Ausnahmefall“.
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Diese Ansicht Sieyès’bleibt mindestens bis 1795 unverändert.111 Die Idee von Sieyès, dass die außerordentlichen Repräsentanten die unumschränkte verfassunggebende Gewalt ausüben, wird aufgenommen und verwirklicht, als 1791 und 1793 jeweils eine neue Verfassung konstituiert wird. Währenddessen wird die Verfassungsgebung durch die vorläufig einberufene außerordentliche, verfassunggebende Versammlung vorgenommen.
C. Zäsur: Gemäßigte Betätigung des pouvoir constituant nach 1794 Die Terrorherrschaft der Jakobiner war für Sieyès eine Zäsur. Die verfassungspolitische Entwicklung zwischen 1792 und 1794 bewies, dass die Gefahr der Verfassungsverletzung nicht nur von der Exekutive ausgehen konnte, sondern auch von der Legislative. Gewöhnlich hatte man die Exekutive als die einzige Gewalt betrachtet, die zur Machtkonzentration und daher zum Despotismus geneigt hatte. Die Grand Terreur aber hatte nun gezeigt, dass die Legislative selbst auch zur Despotie entarten konnte. Diese schrecklichen Erfahrungen berührten Sieyès offenbar tief. Daher bezog er eine modifizierte Stellung, wenn er 1795 zur politischen Bühne zurückkehrte. In diesem Jahr hielt er im Nationalkonvent zwei Thermidor-Reden für seinen neuen Verfassungsentwurf, in denen seine Neuorientierung sich am deutlichsten äußerte – allerdings wurden sein Entwurf und Verfassungsmodell schließlich abgelehnt und nicht in die Wirklichkeit umgesetzt.112 Wie Thiele mit Recht gezeigt hat, legt Sieyès nach 1794 zuallererst Gewicht auf die Absicherung gegen eine ungezügelte Herrschaft der Legislative.113 Seine Überlegungen gehen zunächst davon aus, die von radikalen Demokraten vertretene Vorstellung der unbeschränkten Volkssouveränität in Frage zu stellen. Sieyès führt solche Vorstellungen auf den üblichen „monarchischen Irrglauben“ der Franzosen zurück, nach dem das Volk das absolute und unumschränkte Attribut des souveränen Monarchen übernehme und daher die Volkssouveränität sogar die Fürstensouveränität noch übertreffe.114 111 In der Zweiten Thermidorrede, die Sieyès 1795 hält, nimmt er jedoch die Trennung der verfassunggebenden Gewalt von der Gesetzgebung als konstituierter Gewalt nicht ebenso ernst wie zuvor. Nun kann die gesetzgebende Versammlung, die er zuvor lediglich als eine der konstituierten Gewalten betrachtet hatte und die nur Verfassungsänderungen vornehmen konnte, auch einen Teil der verfassunggebenden Gewalt ausüben. Siehe Sieyès, Ausgewählte Schriften, S. 80. 112 Hafen, S. 200. 113 Thiele, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, S. 24 ff.; Robbers, S. 244 f. 114 Sieyès, Erste Thermidorrede, S. 316 f.
C. Zäsur: Gemäßigte Betätigung des pouvoir constituant nach 179461
Daran übt Sieyès heftige Kritik und betont wiederholt, dass die Volkssouveränität überhaupt nicht unbegrenzt sei. Dementsprechend kann das Repräsentativorgan, auch wenn es die Volkssouveränität vertritt, keine unbeschränkten Vollmachten haben. Umgekehrt muss die Regierung einschließlich aller Repräsentativorgane einem System der Gewaltenteilung unterstellt werden, um die Machtkonzentration in einer Hand zu vermeiden, sei es die Exekutive oder Legislative, sonst würde eine „totale Vergemeinschaftung [ré-total] statt einer Vergemeinschaftung des Nutzens unter dem Recht [république] erscheinen“.115 Auf die Bändigung der Legislative zielend, schlägt Sieyès in seinem Verfassungsentwurf ein komplexes Modell der Gewaltenteilung vor. Bemerkenswert ist, dass er das Modell des Gleichgewichts des parlamentarischen Zweikammersystems, das sich in England als Vorbild findet, ausdrücklich zurückweist, weil die Gefahr der gegenseitigen Blockierung der Gewalten bestehe, wenn zwei Kammern mit derselben Funktion beauftragt sind.116 Im Gegensatz dazu befürwortet Sieyès das Modell des Zusammenwirkens für eine organisierte Einheit. Der Kernpunkt dieses Modells ist die Idee, statt eines Zweikammersystems ein einziges Organ mit der Aufgabe zur Gesetzgebung einzurichten, aber das Vorschlagsrecht von der Entscheidungskompetenz der Legislative zu trennen. Demnach wird der legislative Prozess zwar in zwei Stufen aufgeteilt, aber die Einheitlichkeit der Gesetzgebung bleibt bestehen, ohne dass die Gefahr einer wechselseitigen Blockade aufgrund des Vetorechts besteht.117 Damit verbunden ist der Vorschlag zur Gründung eines Organs mit Prüfungsrecht, der Verfassungsjury (jury constitutionnaire). Ihr werden nach Sieyès’Äußerung drei Aufgaben zugedacht.118 Die Verfassungsjury sollte erstens ein Kassationsgericht mit der Befugnis sein, die verfassungsversetzenden und kompetenzüberschreitenden Akte der gesetzgebenden Körper115 Ebd.,
S. 317. S. 318. 117 Dazu vgl. ebd., S. 318 f. 118 „Ich möchte der Verfassungsjury drei Aufgaben übertragen: (1) dass sie zuverlässig über die [Rechtmäßigkeit der] Verfassungsakte wacht; (2) dass sie sich kühlen Kopfes aller Pläne zur Verbesserung der Verfassung annimmt; und schließlich (3) dass sie im Falle gravierender Ungerechtigkeiten die bürgerliche Freiheit auf der Grundlage von Billigkeitserwägungen bewahrt, wenn das Gesetz seine übliche Rechtsschutzfunktion nicht entfaltet. Anders ausgedrückt betrachte ich die Verfassungsjury (1) als ein Kassationsgericht innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung; (2) als Ausschuss für Reformvorschläge der Verfassungsgesetze, die im Laufe der Zeit erforderlich werden können; schließlich (3) als Ergänzung der lückenhaften Rechtslage durch Billigkeitsrechtsprechung. Diese verschiedenen Gesichtspunkte dürfen näherer Erläuterung.“ Sieyès, Zweite Thermidorrede, S. 334. 116 Ebd.,
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schaften sowie Primärversammlungen (Assemblées primaires) zu prüfen.119 Zweitens sollte sie durch Billigkeitsrechtsprechung die lückenhafte Gesetzeslage ergänzen, sofern das Gesetz seine übliche Rechtsschutzfunktion nicht erfüllen kann, d. h., das positive Gesetz in Verstoß gegen die materielle Gerechtigkeit gerät.120 Schließlich könnte sich die Verfassungsjury drittens als eine Institution mit Beratungs- und Vorschlagsrecht an Verfassungsänderungsverfahren beteiligen.121 Es ist unverkennbar, dass die ersten zwei Befugnisse der Verfassungsjury vor allem dazu dienen, die gesetzgebende Gewalt zu kontrollieren. Die oben genannten Vorschläge zielen darauf, einer Machtkonzentration der Legislative und der Rückkehr der parlamentarischen Diktatur vorzubeugen. Es genügt, von der Kontrolle der Legislative zu reden. Von Interesse ist hier vor allem das, was Sieyèsʼ Vorstellung der verfassunggebenden Gewalt in dieser Periode angeht. Bemerkenswert ist, dass Sieyès trotz seines Versuches zur Beschränkung der legislativen Gewalt nach wie vor daran festhält, dass die verfassungsändernde Gewalt identisch mit der verfassunggebenden Gewalt sei. In seiner zweiten Thermidor-Rede am 5. August 1795 nimmt Sieyès eine mittlere Position zwischen Stabilität und Verbesserung der Verfassung ein. Er stellt einerseits fest, dass die Verfassung eines Volkes, da es kein allwissender und allmächtiger Demiurg sei, bloß ein unvollkommenes Werk sei. Sie sei also ständig zu erneuern, zu verbessern und dem Wandel der Zeit anzupassen. Trotzdem ignoriert Sieyès andererseits die Kontinuität der Verfassung nicht; dagegen lehnt er nachdrücklich die periodische Totalrevision der Verfassung ab.122 In diesem Zusammenhang übt er Kritik an der Mehrheitsmeinung im Nationalkonvent: 119 Ebd., S. 336 f. Dazu vgl. auch Thiele, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, S. 31 ff.; Robbers, S. 245 f. 120 Sieyès, Zweite Thermidorrede, S. 341 f. 121 Ebd., S. 339 f. 122 Sieyès verzichtet auf die periodische totale Erneuerung der Verfassung, obwohl er auch die Verfassungsrevision nicht ablehnt. Hierzu führt er aus: „Diese Fähigkeit der unabgeschlossenen Vervollkommung entspricht ihrem wahren Wesen, nicht hingegen das Prinzip einer periodisch erfolgenden totalen Erneuerung. Sobald eine Verfassung einmal auf eine verlässliche Grundlage gestellt ist, sollte sie nicht mehr einer vollständigen Erneuerung ausgesetzt werden. Es wäre unsinnig, in der Verfassung feste Zeitpunkte [der Revision] zu bestimmen und diese dann feierlich als Boten ihrer baldigen Zerstörung zu verkünden. […] Aus diesen Überlegungen folgt zwingend, dass wir unsere Verfassung, wie bereits hervorgehoben, lieber am Prinzip einer kontinuierlichen Verbesserung orientieren sollten, durch das sie den Bedürfnissen jeder Epoche genügen kann, als sie einer Totalrevision bzw. Destruktion zu unterwerfen, die sie der Willkür der Ereignisse preisgibt.“ Ebd., S. 339.
C. Zäsur: Gemäßigte Betätigung des pouvoir constituant nach 179463 „Mit Recht würdet ihr ein Vorhaben ablehnen, das die verfassunggebende Gewalt auf Dauer stellt. Das wäre gleichbedeutend mit dem Zustand der Verfassungslosigkeit, denn durch die permanente Instabilität würden die Empfindungen der Liebe und Verehrung aufgezehrt, durch die insbesondere die freien Völker an die Verfassung gebunden sind – denn derartige Empfindungen setzen Beständigkeit voraus. […] Einerseits würden die Vorteile einer Verfassung durch eine dauerhafte verfassunggebende Gewalt oder auch nur durch ein permanentes Vorschlagsrecht geschwächt oder gar vernichtet. Wenn ihr andererseits jedoch jegliche Verbesserungen verhindert, bringt ihr uns um den Erkenntniszuwachs, den die Zeit bringt. Es könnte sich dann das Unglück ereignen, dass in einer neuen Verfassung ein Versäumnis nicht mehr zu korrigieren wäre und uns in Ermangelung der Mittel der Gefahr aussetzte, die Freiheit und die unserer Nachkommen gegen die Intrigen der Feinde zu verteidigen.“ [meine Hervorhebung; S. Y.]123
In diesem Zitat finden sich zwei maßgebliche Punkte: zum ersten, die Möglichkeit der Verfassungsänderung scheidet trotz der Aufrechterhaltung der Verfassung nicht vollständig aus; zum zweiten, die Verfassungsänderung ist ebenfalls der Kategorie der verfassunggebenden Gewalt zugeordnet. Aber mit Rücksicht auf die Furcht vor der dauerhaften verfassunggebenden Gewalt im Nationalkonvent gibt Sieyès im Weiteren einen Rat für eine gemäßigte Art und Weise der Betätigung der verfassunggebenden Gewalt: „[…] der Prozess der Verfassunggebung [ist] zwischen den Primärversammlungen, der Verfassungsjury und der gesetzgebenden Versammlung auf geteilt“.124 Wie im Fall der Gesetzgebung erschwert Sieyès durch die Aufteilung des Verfahrens die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt, um sie unschädlich zu machen. Diese theoretische Einsicht findet sich in seinem bei der zweiten Thermidor-Rede vorgetragenen Verfassungsentwurf: „In jedem zehnten Jahr […] ab dem Jahr 1800 wird die Verfassungsjury ihre Sammlung bzw. ihren Entwurf zur Verbesserung der Verfassung veröffentlichen. Diese Sammlung wird gewiss die beste Auswahl aus den allgemeinen Vorschlägen der vergangenen Jahre sein […]. Mindestens drei Monate bevor es an die Primärversammlung geht, wird diese Sammlung den beiden gesetzgebenden Gremien vorgelegt und allgemein bekannt gemacht werden.[…] Die Auseinandersetzung damit obliegt den Primärversammlungen, die alljährlich zur Wahl der Volksvertreter zusammentreten. Sie müssen mit Ja oder Nein darüber abstimmen, ob sie einen Teil der verfassunggebenden Gewalt für einen begrenzten Zeitraum an die gegenwärtige Legislative abtreten wollen. Lehnt die Mehrheit die ab, so ist [der Prozess der Revision] für die nächsten zehn Jahre unterbrochen; stimmt sie hingegen zu, so wird die mit der verfassunggebenden Gewalt betraute Legislative sich darauf beschränken, über die gesammelten Reformvorschläge zu befinden, ohne sie abändern oder austauschen zu können. Es steht ihr jedoch frei, diese vollständig oder teilweise zu verwerfen, sie unterliegt dabei aber der Begründungspflicht.“125 123 Ebd.,
S. 340. S. 339. 125 Ebd., S. 340 f. 124 Ebd.,
64 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
In dieser Äußerung von Sieyès wird die Abtrennung der verfassunggebenden Gewalt von den konstituierten Gewalten wiederholt betont. Demnach sind nur Primärversammlungen die Quelle der verfassunggebenden Gewalt. Wenn sie den Vorschlägen der Verfassungsrevision zustimmen, wird die verfassunggebende Gewalt für eine gewisse Zeit auf die legislative Gewalt übertragen; sie wird ermächtigt, über die unveränderbaren Vorschläge zu entscheiden. Die Verfassungsjury ist aber dagegen nicht mit der verfassunggebenden Gewalt befugt, sondern nur mit dem Vorschlagsrecht, obwohl sie dadurch auch zur Teilnahme am Verfahren der Verfassungsänderung befähigt ist. Also stellt Sieyès fest: „Meiner Meinung nach sollte die Verfassungsjury nicht das Recht zur eigenmächtigen Verfassungsänderung haben; denn das hieße, ihr die verfassunggebende Gewalt anzuvertrauen.“126 Unschwer ist in Sieyèsʼ Rede zu erkennen, dass die verfassunggebende Gewalt nicht vom Verfassungssystem verdrängt wird. Sie könnte daher intrakonstitutional und in verfassungsändernder Weise tätig werden. Insofern impliziert seine Lehre, dass die notwendigen Bedingungen der beschränkten Verfassungsänderung in seinen Gedanken fehlen, denn die verfassunggebende Gewalt ist nach seiner Definition jedenfalls ungebunden. Aus dem entscheidenden Argument von Sieyès, die verfassunggebenden Gewalt sei nicht der verfassungsändernden Gewalt übergeordnet, sondern vielmehr mit ihr gleichbedeutend, ist die logische Konsequenz zu ziehen, dass die Verfassungsänderung nicht von einer anderen konstituierten Gewalt wie der Judikative kontrolliert wird. Der Beschluss der Verfassungsänderung ist überhaupt nicht zu verwerfen, d. h. kein Organ kann im Rahmen der Verfassung nachträglich den Änderungsantrag für nichtig erklären, weil dieser als abgeleitet aus der verfassunggebenden Gewalt betrachtet werden soll.127 Aus diesem Grund liegt in Sieyèsʼ Konstruktion keine Institution vor, die den beschlossenen Verfassungsänderungsantrag materiell überprüfen dürfte. Auch die von Sieyès vorgeschlagene Verfassungsjury ist außerstande, diesen zu prüfen, weil dieser „Hüter der Verfassung“ lediglich für Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zuständig ist. Sieyès versucht die verfassunggebende Gewalt zu mäßigen, indem er Bedingungen und Voraussetzungen ihrer Betätigung in hohem Maße er126 Ebd.,
S. 339. Sieyèsʼ Verfassungsentwurf könnte zwar die vorläufig mit der verfassunggebenden Gewalt betraute Legislative, und zwar der Rat der Alten, die von Primärversammlungen beschlossenen Reformvorschläge vollständig oder teilweise verwerfen. Darunter kann man dennoch m. E. lediglich eine Bedingung des ganzen Verfahrens der Verfassungsänderung verstehen. Aufgrund dieser Bedingung wird die Verfassungsänderung komplizierter. Das bedeutet aber nicht, dass ein konstituiertes Organ den Änderungsantrag nachträglich prüfen kann. 127 Nach
C. Zäsur: Gemäßigte Betätigung des pouvoir constituant nach 179465
schwert. Allerdings geht es dabei nur um die formalen Bedingungen des verfassungsändernden Verfahrens. Würden diese formalen Bedingungen erfüllt, wäre der Inhalt der Verfassungsänderung unbeschränkt, und kein Organ könnte den Änderungsantrag zurücknehmen. Es steht zwar außer Zweifel, dass für Sieyès der Nationalwille dem Naturrecht unterstellt sein muss. Dazu kommt aber eine weitere Frage, nämlich auf welche Rechtsnorm sich die Judikative – angenommen, dass sie auch das materielle Prüfungsrecht hätte – berufen kann, wenn das Naturrecht sowie Freiheitsrechte nicht ins positive Recht umgesetzt sind. Unter diesem Umstand besteht in der Normenhierarchie keine der Verfassung überlegene Norm, aufgrund deren die Judikative einen Änderungsantrag für „verfassungswidrig“ und nichtig erklären könnte, sofern er auf dem Weg des verfassungsmäßigen Verfahrens beschlossen wurde. Kurzum: Da die verfassungsändernde und verfassunggebende Gewalt nach Sieyès dieselbe sind, ist der Beschluss der Verfassungsänderung nichts anderes als die Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt. Aber unter der Voraussetzung, dass Sieyès der verfassunggebenden Gewalt den intrakonstitutionellen Spielraum einräumt, ist es sehr schwer, die materielle Grenze der Verfassungsänderung zu ziehen. Man kann also sagen, dass Sieyèsʼ Lehre eine Hintertür für die „legale Revolution“ offen hält. D. h., eine durch die Verfassungsänderung zu vollziehende Totalrevision der Verfassung ist wahrscheinlich. Die permanent revolutionäre Eigenschaft der verfassunggebenden Gewalt wird also gemäßigt, bleibt aber noch in Sieyèsʼ Schriften nach 1795 enthalten. Diese theoretische Hintertür wird erst geschlossen, als Schmitt die Lehre der verfassunggebenden Gewalt umformt und ins Gegenteil verkehrt.128
128 Wittekindt hat gezeigt, dass seit der Französischen Revolution stets die Auffassung überwiegt, Verfassungsgeber seien nicht hochrangiger als verfassungsändernde Organe, ebenso wenig die verfassunggebende Gewalt als verfassungsändernde Gewalt. Demgemäß seien die verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt zu verstehen als unterschiedliche Erscheinungsformen derselben Befugnis, die sich aus der einheitlichen unteilbaren Volkssouveränität herleite. Aus dieser Auffassung ist die Konsequenz zu ziehen, dass die verfassungsändernde Gewalt im Rahmen der Verfassung materiell schrankenlos ist. Diese Auffassung bleibt sogar nach der Gründung der V. Republik noch vorherrschend. Vgl. Wittekindt, S. 123 ff. Wittekindt verweist aber zugleich darauf, dass in der jüngeren Zeit auch französische Rechtswissenschaftler versuchen, die Lehre der beschränkten Verfassungsänderung zu entwickeln. Bemerkenswert ist, dass dieser jüngere Versuch deutlich von Schmitts Lehre geprägt ist. Ebd., S. 134 f.
66 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
D. Exkurs: Arendts Auseinandersetzung mit der Absolutheit der Nation Die Auswirkung des pouvoir constituant ist janusköpfig. Auf der positiven Seite kann die verfassunggebende Gewalt eine Verfassung konstituieren. Wenn Sieyès sie auf der anderen Seite aber der Nation zuspricht und als die permanente über der Verfassung stehende Gewalt betrachtet, dann mag es sein, dass sie jeweils die gültige Verfassung verändern, reformieren oder (total-)revidieren kann. Daraus lässt sich die Konsequenz ziehen, dass die Stabilität der Verfassung nicht zu garantieren ist. An dieser Stelle ist Arendts Interpretation von Sieyès lehrreich. Hannah Arendt hält Sieyès – im Vergleich zu seinen Zeitgenossen – für den beredsamsten und intensivsten Theoretiker, der mit der Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué das Volk als das Subjekt der Verfassunggebung so definiert, dass die Nation selbst nicht mehr an Gesetze gebunden ist, sondern vielmehr als die „Quelle der Gesetze“ selber die Eingrenzung der Kompetenz der Regierung bewirken kann. Laut Arendt versucht Sieyès unter Berufung auf den der Verfassung übergeordneten pouvoir constituant das Problem der Legitimation der Revolution – die Legitimität des neuetabilierten Machtapparats, des pouvoir constititué, und die Legalität der neuen Verfassung – zu lösen, ohne sich dabei an ein höherrangiges Recht anzulehnen.129 Trotz der erheblichen Nachwirkung der Lehre von Sieyès meint Arendt, dass die Französische Revolution, anders als die amerikanische Revolution, dem Erbe des fürstlichen Absolutismus entspringe, der die königliche Macht als absolute Macht, potestas legibus soluta, auffasse. Nach Arendt wird die weltliche Macht durch die Säkularisierung von der kirchlichen Autorität getrennt. Dadurch verliert der moderne politische Bereich aber auch die transzendente Autorität. Was ist Autorität? Für Arendt bezieht sich Autorität auf eine Macht, eine besondere Form des Zwangs, die Gehorsam einfordert, ohne Gewalt zu brauchen. D. h., Autorität verleiht der politischen Herrschaft die Legitimität, welche das freiwillige Gehorchen der Beherrschten bewirkt.130 Aufgrund der Autorität unterwirft man sich freiwillig der Herrschaft weltlicher Institutionen. In der Antike war der Autoritätsverlust unvorstellbar. In der Neuzeit aber ist das transzendente religiöse Gebot außer Kraft gesetzt, so dass die Suche nach einem Ersatz für die religiöse Autorität zwingend erforderlich wird, denn ansonsten wäre die Legitimität der 129 Vgl.
Arendt, Über die Revolution, S. 211 f. Was ist Autorität, S. 159 f.
130 Arendt,
D. Exkurs: Arendts Auseinandersetzung mit der Absolutheit der Nation67
politischen Herrschaft in Frage gestellt. In Europa wurde, so Arendt, das Problem dadurch gelöst, dass ein absoluter Monarch „in die Fußstapfen des Pontifikats von Papst und Bischof getreten war“.131 Die weltliche Macht tritt nun an die Stelle des religiösen Gebots, daher vereinen sich Macht und Autorität in der Person des Königs. Denn aus der Halbgöttlichkeit des absoluten Monarchen ergibt sich, dass „er auf Erden einen göttlichen Ursprung verkörpert, in dem Gesetz und Macht zusammenfallen.“132 Indem Autorität und Macht sich durch das sakrale Attribut des Monarchen, den unsterb lichen Körper, auf die Person des Königs konzentrieren, ist das Problem gelöst, das sich daraus ergibt, dass man die weltlichen politischen Institu tionen unter Berufung auf eine höherrangige Legalität wie das Gottesrecht oder Naturrecht legitimieren muss – wie Arendt gezeigt hat: „dass alle positiven, von Menschen erlassenen Gesetze ihrerseits nochmals eines sie transzendierenden Ursprungs bedürfen, der als ein ‚höheres Gesetz‘ ihnen allererst Legalität verleihen kann.“133 Weil es transzendenten Normen in der neuzeitlichen Welt an solch einer Kraft mangelt, muss man nach einem Ersatz suchen, sonst können sich weltliche Gesetze und andere politischen Institutionen nicht rechtfertigen. Während sich Autorität und Macht auf die Person des absoluten Monarchen konzentrieren, wird sein Wille zur ursprünglichen Quelle der Legitimation der Gesetze. Nur sein Wille kann positive Gesetze legitimieren. Der Vorstellung des Absolutismus zufolge, so Arendt, sei es ebenso selbstverständlich, dass der Monarch Gesetze schaffe, wie der Gott als Demiurg alle Gesetze schaffe. Dadurch werde das Problem des Autoritätsverlustes im fürstlichen Absolutismus „scheinbar“ gelöst oder, genauer gesagt, verschleiert. Interessant ist, dass nach Arendts Auffassung der Absolutismus im Verlauf der Französischen Revolution nicht vernichtet wird. Vielmehr beerbt die Französische Revolution den Absolutismus. So wie im Falle der absoluten Monarchie, bei der der König an die Stelle von Papst und Bischof tritt, ist in der Französischen Revolution nichts anderes geschehen, als dass die Nation „in die Fußstapfen des (absoluten) Monarchen“ folgte.134 Nachdem der König durch die Revolution gestürzt worden war, wurde die Struktur der absoluten Souveränität – Gesetze gehen aus der Souveränität hervor – nicht beseitigt. Die Lücke, die der König hinterließ, bleibt. Sie ist nun durch ein neues Absolutes zu ergänzen. Die Nation als das politische Kollektiv wird dann zum Surrogat des absoluten Monarchen. Insofern betrachtet Arendt die Französische Revolution als eine Ersetzung, bei der die ver131 Arendt,
Über die Revolution, S. 207. S. 204. 133 Ebd., S. 210. 134 Ebd., S. 202. 132 Ebd.,
68 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
göttlichte Nation als eine juristische Person an die Stelle des sakralen Monarchen tritt. Trotzdem bleibt die Struktur der absoluten Souveränität unverändert. Im Verlauf dieser Ersetzung spielt für Arendt die Theorie des pouvoir constituant der Nation von Sieyès eine entscheidende Rolle. Aus Arendts Sicht versucht Sieyès mit dem Begriff des pouvoir constituant den circulus vitiosus (positive Gesetze bedürfen immer eines höheren Gesetzes, das ihnen Legalität verleiht) zu lösen, indem er die Nation über die positiven Gesetzen stellt; jedoch löst der Ausweg von Sieyès das Problem des Autoritätsverlustes nicht vollkommen, was unmittelbar die Instabilität der Verfassung zur Folge hat. Wenn Autorität und Macht sich in der Absolutheit des Willens der Nation zusammenfügen,135 der somit zur Quelle der Gesetze werden „muss“ – wie dies in der Französischen Revolution geschehen ist –, so haben Gesetze nicht mehr die Autorität, die Stabilität und Kontinuität von Gesetzen, zumal der Verfassung, zu sichern. Daraus ergibt sich, dass sich die Verfassung bei jedem Wechsel des souveränen Willens komplett wandelt.136 Schließlich beweist die historische Praxis, dass der Versuch, die Gesetze auf den gemeinsamen Nationswillen zu stützen, seinen intendierten Zweck nicht erreichen kann, sondern nur dazu führt, dass die bestehenden Gesetze um der Revolution selbst willen beseitigt werden. „In der Praxis stellte sich, wie wir bereits bemerkten, heraus, daß es noch nicht einmal das Volk oder der Allgemeinwille, sondern der revolutionäre Prozeß als solcher war, der schließlich als Quelle allen Rechts unablässig neue Gesetze, Verordnungen und Erlasse produzierte, die meist bereits überholt waren, wenn sie erlassen wurden, weggefegt von dem von dem ‚Höheren Recht der Revolution‘, die sie doch gerade geboren hatte.“137
Im Gegensatz zum französischen Fall findet Arendt in der Amerikanischen Revolution ein ganz anderes Paradigma, in dem Autorität und Macht sich voneinander unterscheiden. Durch ihre Interpretation der revolutionären Erfahrungen Amerikas stellt Arendt eine Analogie zwischen der Gründung der Vereinigten Staaten und der Roms herauf. In den Institutionen Amerikas wird die Gründung der Vereinigten Staaten zwar zum Inbegriff des Prinzips 135 Zu beachten ist, dass Schmitt genau die Auffassung vertritt, dass die Autorität und Macht auf die verfassunggebende Gewalt konzentriert sein sollen. Siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 Fn. 1. 136 Wie Arendt geäußert hat: „Man könnte die Verfassungsgeschichte Frankreichs, wo noch in den Revolutionsjahren eine Verfassung auf die andere folgte …, als eine nicht abreißen wollende Kette von Demonstrationen zitieren, die immer wieder bewiesen, was ja eigentlich von Anfang an hätte klar sein müssen, daß nämlich der sogenannte Wille eines Kollektivs (wenn man darunter mehr als eine legale Fiktion versteht) sich von Tag zu Tag, ja von Minute zu Minute ändert, und dass ein Gebilde, das man auf dem Nationalwillen errichtet, auf Sand gebaut ist.“ Siehe Arendt, Über die Revolution, S. 211 f. 137 Ebd., S. 237.
D. Exkurs: Arendts Auseinandersetzung mit der Absolutheit der Nation69
der Volkssouveränität, jedoch fließt die Autorität nicht von oben nach unten bzw. stammt nicht von der verabsolutierten, aber fiktionalen Nation. Arendt spricht der Verfassung der Vereinigten Staaten eine Autorität zu, die auf den Gründungsakt des Staates zurückgeht. Für sie bezieht sich der Gründungsakt der Vereinigten Staaten nicht bloß auf die Schaffung einer geschriebenen Verfassung, sondern vielmehr auf die rechtliche Normierung der vor der Gründung des Staates existierenden Grundordnung, die durch Charta und Verträge in der kolonialen Zeit gestaltet war. Sie sagt also: „Wichtiger war vielleicht noch, daß das Gründen selbst, nämlich die Kolonisation des amerikanischen Kontinents, der Unabhängigkeitserklärung vorausgegangen war, so daß die Einsetzung der Verfassung, die sich ja weitgehend an bereits bestehende Charta und Verträge anschloß und sich auf sie stützte, mehr der Bestätigung und Legalisierung eines schon existierenden politischen Gemeinwesens gleichkam als der Schaffung eines neuen.“138
Der Gründungsakt und die Verfassunggebung hängen folglich nicht davon ab, stets die Gewalt außerhalb des Verfassungsrechts zur Legitimation der neuen Verfassung heranzuziehen, sondern von den Erfahrungen der Selbstverwaltung während der Kolonialzeit, die sich auf die wechselseitige Übereinstimmung der Bevölkerung in den Kolonien stützten. Durch diese auf Wechselseitigkeit beruhenden und Gleichheit voraussetzenden „Verträge“ etabliert die amerikanische Verfassunggebung als ein Akt der Neugründung nicht nur eine neue Machtstruktur, sondern verleiht ihr auch die weltliche Autorität, mithilfe derer die Verfassung zu etwas grundsätzlichem wird, die selbst das höchste Legislativorgan oder das Volk nicht brechen können. Arendt stellt also fest, dass das Verdienst der amerikanischen Revolution darin bestehe, die Regierung auf Grundlage der Herrschaft der Gesetze zu gründen, wodurch der circulus vitiosus, der den pouvoir constituant immer wieder zu Eingriffen in die Verfassung zwingt, vermieden wird. Darüber hinaus werde, so Arendt, mithilfe nachgeahmter römischer Institutionen die Autorität der Verfassung von der Macht des Volks, die die Legislative vertritt, getrennt und durch den Obersten Gerichtshof verkörpert.139 Die Autorität der Verfassung werde vom (bei Arendt als der amerikanische „Senat“ aufgefassten) Obersten Gerichtshof formell bei der Auslegung der Verfassung verstärkt, weil sie „in Wahrheit durch Interpretation ständig neu formuliert und dadurch lebendig erhalten wird.“140 In diesem Zusammenhang seien der Institution der Rechtsprechung die Funktionen sowohl zur Bewahrung wie auch zur allmählichen Wandlung der Verfassung erteilt. Dies be138 Arendt, Was ist Autorität, S. 199. Zum Zusammenhang der Verfassunggebung der Vereinigten Staaten mit den Erfahrungen der Selbstverwaltung auf der Grundlage der Charta in der kolonialen Zeit auch Arendt, Über die Revolution, S. 216 ff. 139 Arendt, Über die Revolution, S. 256 ff. 140 Ebd., S. 258.
70 1. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Emmanuel Sieyès
deute aber nicht Abweichung von der Verfassung, sondern vielmehr die Erweiterung der Prinzipien, die im Moment des Gründungsakts festgelegten worden waren. Denn der Oberste Gerichtshof beziehe „seine eigene Autorität bzw. seine Befugnisse aus der Verfassung, die in einem Schriftstück niedergelegt ist“. Daher könne er zwar mit seiner Befugnis zur Interpreta tion die Elastizität der Verfassung bewahren, basiere seine Auslegung jedoch auf dem Geist und den Prinzipien der Verfassung. Das Auslegen sei also die Erinnerung an die im Gründungsakt verwurzelte Autorität der Verfassung. Im Rekurs darauf ließen sich solche Prinzipien der Verfassung – mit Arendts Worten – ständig vermehren und nicht von einer abermaligen Betätigung der Volkssouveränität bzw. des pouvoir constituant vollständig ersetzen oder beseitigen. Die Dauer und Stabilität der Verfassung kann somit garantiert werden. Die Frage, ob Arendts Interpretation des Einflusses der Französischen Revolution auf die folgenden Zeitalter angemessen ist141, sei hier dahingestellt. Hervorzuheben ist, dass Arendt die revolutionäre und verfassungszerstörende Kraft des pouvoir constituant kritisch sieht und dass ihre Erörterung der verfassunggebenden Gewalt von dem theoretischen Motiv geprägt ist, diese überlegene, aber potenziell verfassungszerstörende Kraft aufzuhalten oder wenigstens abzuschwächen. Einige taiwanische Wissenschaftler haben Arendts Motiv zwar Beachtung geschenkt, lassen aber die Tatsache außer Acht, dass nicht nur Arendt diese destruktive Kraft beobachtet hat, sondern auch Carl Schmitt, der sie bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts explizierte. Gleichermaßen hat er neben der Thematisierung der verfassunggebenden Gewalt auch die folgende Problematik in Betracht gezogen: Wenn die Volkssouveränität die einzige Quelle der Legitimität der politischen Institutionen ist, wie kann es unter der Voraussetzung der geltenden Verfassung möglich sein, die Stabilität der Weimarer Verfassung zu bewahren?
141 Beispielsweise vertritt Scheuerman die Meinung, dass Arendt einer „fiction of the unambiguously („bad“) French Revolution“ das „myth of the („good“) American Revolution“ gegenüberstelle. In dieser Dichotomie sei die Erbschaft der Französischen Revolution für den modernen Konstitutionalismus ignoriert, während die amerikanische Revolution unverhältnismäßig verherrlicht sei. Vgl. Scheuerman, S. 261–271.
Zweiter Teil
Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre Nur wenige Ereignisse waren so dramatisch wie die Französische Revolution. Dass die demokratische Revolution anfangs eine kodifizierte liberale Verfassung zwecks Gewährleistung der Grundrechte anstrebte, dann aber rapide zur schrankenlosen Herrschaft des Terrors mutierte und schließlich ihre eigenen Kinder fraß, ist auffällig und führt zur polarisierenden Bewertungen der Revolution. In Deutschland wurden die „Ideen des Jahres 1789“ angesichts des sie begleitenden Terrors einerseits häufig in Zweifel gezogen, andererseits fanden die revolutionäre Parole „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ und die Lehre des pouvoir constituant sowie der Volkssouveränität aber auch hier viele Anhänger. In Deutschland wurde die Lehre der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und der Volkssouveränität zwar erst 1919 in die Tat umgesetzt, inspirierte aber auch schon davor die demokratische Forderung nach Selbstgesetzgebung.1 Bereits Ende des 18. Jahrhunderts war Sieyès’ Lehre in 1 Die Entwicklung der Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Deutschland kann in die folgenden Phasen eingeteilt werden: Nach 1793 lösten die Lehre sowie die Praxis der demokratischen Verfassunggebung aufgrund der radikalisierten Revolution und Terrorherrschaft umfassende Reflexion und Kritik in Deutschland aus. Deutsche politische und konstitutionelle Lehren scheuten sich infolgedessen vor der radikalisierten Volkssouveränität und setzten ihr die Idee des Rechtsstaates entgegen. Später, in der Zeit der Restauration, war der deutsche Frühkonstitutionalismus von der monarchischen Restauration der Bourbonen geprägt. Der Frühkonstitutionalismus rezeptierte den revolutionären Begriff der verfassunggebenden Gewalt und verband ihn mit der Legitimität des Monarchen. D. h., der Monarch könne aus dieser Sicht auch der Träger der verfassunggebenden Gewalt sein. Auffallend ist, dass weder der Frühkonstitutionalismus noch die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Monarchen die vom Volk durchgeführte Verfassunggebung anerkennen; stattdessen schrieben sie die Entstehung der Verfassung vor allem dem Oktroi des Monarchen oder teilweise der Vereinbarung zwischen Monarch und Ständen zu.
72
2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
Deutschland bekannt.2 Ein Beweis ist Oelsners zweibändige Werkausgabe von 1796. Veröffentlicht wurden vor Schmitt auch mehrere Sieyès-Studien, die am Ende des 19. Jahrhunderts erschienen. Diese behandeln entweder die Repräsentationslehre Sieyès’, der dort als der Urheber der Kombination von Rousseaus unmittelbarer Demokratie mit dem freien Mandat ausgewiesen ist3; oder sie fokussieren sich auf Sieyès’ Lehre des pouvoir constituant und pouvoir constitué.4 Zu dieser zweiten Kategorie gehört auch Schmitts Rezeption von Sieyès’ Lehre. Aber im Gegensatz zu früheren Interpreten übernahm er Sieyès’ revolutionäre Rhetorik nicht nur, sondern stellte sie „vom Kopf auf die Füße“, um die revolutionäre Dynamik nach Möglichkeit zu bremsen. Es ist aber oft übersehen worden, dass Schmitt nicht von vornherein Sieyès’ Lehre in dieser umgekehrten Weise verwendete, wie er es in der 1928 veröffentlichten Verfassungslehre getan hat. Tatsächlich fing er schon 1921 an, Sieyès’ Lehre zu behandeln. Er verwendete zu dieser Zeit den Begriff des Abbès als ein Mittel, um einen Begriff der Diktatur zu analysieren, der seit der Französischen Revolution auftaucht und der sich von der klassischen Bedeutung dieses Begriffs unterscheidet. An dieser Stelle hat Sieyès’ Lehre für Schmitt noch mit der Revolution oder revolutionären Intention zu tun. Zu jener Zeit geht es Schmitts Schriften also noch nicht um die Umformung der Lehre von Sieyès. Von daher ist es angemessen, Schmitts Verwendung von Sieyès’ Lehre und Begriffen in zwei Phasen zu teilen: In eine Rezeptions- und in eine Umdeutungsphase. Im vorliegenden Kapitel werden Schmitts Rezeption der Konzeption Sieyès’ und seine damit entwickelte Typologie der Diktatur näher betrachtet.
Während der Revolutionsbewegung von 1848 berief man sich wiederum auf die Idee der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, um die Mitwirkung der Fürsten auszuschließen und sich durch Volksvertretung eine Verfassung zu geben. Die erstmals vom Volk gewählte „constituierende Naionalversammlung“ tagte in der Frankfurter Paulskirche und beschloss eine Reichsverfassung ohne Volksabstimmung oder Ratifikation durch die deutschen Einzelstaaten. Die Verfassung trat schließlich nicht in Kraft. Dies ergab sich daraus, dass deutsche Einzelstaaten sich nicht am Prozess der Verfassunggebung beteiligten, dass die von der Nationalversammlung gebildete provisorische deutsche Regierung wegen des Fortbestehens der Einzelstaaten keine effektiven Machtmittel innehatte und dass diese nicht von ausländischen Mächten anerkannt wurde. Die Nationalversammlung löste sich später auf. Vom Scheitern der Revolution im Jahr 1850 bis zur Revolution im Jahr 1918 war die Lehre der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in Deutschland bedeutungslos. Dazu Vgl. Boehl, S. 67 ff.; Möller, S. 21 ff. 2 Thiele, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, S. 7. 3 Vgl. Gierke, S. 204 Fn. 225, S. 223 Fn. 38; Redslob, S. 103 ff., 136 ff.; Loewenstein, Volk und Parlament, S. 10 ff. 4 Dazu zählen Jellinek und Zweig. Vgl. Jellinek, S. 144 f., 500 f., 522 ff.; Zweig, S. 116 ff. Zu ihrer Rezeption der Lehre des pouvoir constituant vgl. Möller, S. 23 ff.
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre73
I. Die Unterscheidung zwischen Souveränität und kommissarischer Diktatur In seiner 1921 erschienenen Monographie Die Diktatur5 versucht Schmitt, das Wort „Diktatur“, das im politischen Sprachgebrauch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in vieldeutiger und verwirrender Weise benutzt worden war, neu und eindeutig zu definieren.6 Dabei unterscheidet er zwei Arten der Diktatur: die kommissarische Diktatur auf der Grundlage einer konstituierten Gewalt und die auf der verfassunggebenden Gewalt des Volks beruhende souveräne Diktatur. Ideengeschichtlich betrachtet war die Französische Revolution der Wendepunkt, an dem sich die Verwendung des Diktaturbegriffs wandelte. Davor wurde unter der Diktatur eine altrömische Institution verstanden; seit der Revolution wurden aber drei in der Antike verschiedene Herrschaftsformen „Tyrannis“, „Despotie“ und „Diktatur“ unterschiedslos gebraucht. Folglich erhielt die Diktatur eine negative Bedeutung7 und wurde durch die verwirrende Vielfalt der Interpretationen zu einem bloßen politischen Schlagwort. Schmitt verweist deshalb zunächst auf die Unklarheit der in der Literatur anzutreffenden Vorstellungen des Begriffs und stellt fest, dass weder die bürgerliche noch die sozialistische sowie marxistische Literatur in der Lage sei, ihm eine definitive und angemessene Bestimmung zu geben.8 Außerdem wurde in der politischen Wirklichkeit der Begriff „Diktatur“ seit der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1919 auch oft als Kampfbegriff gegen das „Bündnis Ebert-Groener“ gebraucht aus Angst vor der „persönlichen Spitze“.9 Vom unklaren Sprachgebrauch ausgehend versucht Schmitt den staatsrechtlichen und staatstheoretischen Kern der Diktatur zu redefinieren und ferner eine Typologie der Diktatur zu erstellen.
5 Schmitts Untersuchung über die Diktatur fängt nicht erst 1921 an. In einem Artikel, der 1916 erscheint, stellt Schmitt dem im Art. 68 der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs vorgeschriebenen Belagerungszustand die Diktatur gegenüber, aber die Differenzierung der kommissarischen von souveränen Diktatur ist dabei noch nicht entwickelt. Trotzdem deutet das damalige Ergebnis der Untersuchung schon den Gegensatz zwischen zwei Arten Diktatur an. Dazu vgl. Schmitt, Diktatur und Belagerungszustand; und auch Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 2 f. 6 Schmitt, Die Diktatur, XI. 7 Sieht Nolte, S. 900 ff.; Irmscher, S. 284. 8 Schmitt, Die Diktatur, XII ff. 9 Zum Streit um die präsidiale Diktaturgewalt aus Art. 48 in der verfassunggebenden Nationalversammlung vgl. Kurz, Demokratische Diktatur?, S. 30 ff. Darin zeigt Kurz, dass vor allem die USPD und ein Teil der MSPD anstrebten, die Notstandsgewalt des Reichspräsidenten so weit wie möglich zu beschränken.
74
2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
1. Auffassungen von der Diktatur bis zur Renaissance „Diktatur ist“, so definiert Schmitt, „die Ausübung einer von rechtl. Schranken befreiten staatl. Gewalt zum Zweck der Überwindung eines abnormen Zustands, insbes. Krieg u. Aufruhr.“10 Die Diktatur bedeutet dann den „Ausnahmezustand“, einen Zustand außerhalb der Rechtsnormen, dessen Rechtfertigung darin liegt, dass Rechtsnormen vorübergehend zu ignorieren und zu suspendieren sind, um einen Normalzustand zur Überwindung des die Rechtsverwirklichung störenden Notfalls herbeizuführen.11 Die Diktatur als eine Institution stammt nicht aus der modernen Zeit, obwohl Napoleon öfters als der Prototyp des Diktators angesehen wird. Historisch war die Diktatur eine zeitlich begrenzte und außerordentliche Institution der römischen Republik, die zum Schutz des republikanischen Systems vor inneren und äußeren Bedrohungen diente.12 Der Diktator hatte zwar das königliche Imperium, unterschied sich aber vom König hinsichtlich der Souveränität in der Frühneuzeit. Die Diktatur der altrömischen Republik blieb bis Sulla und Caesar gleich. Anders als in früheren Fällen wurde Sulla zum Diktator ohne bestimmte Amtsdauer ernannt; Caesars Amtsdauer wurde schließlich auf Lebenszeit verlängert. Von da an verlor die Diktatur ihre spezifische republikanische Bedeutung, wenn auch der Name blieb. Die späten Diktaturen Sullas und Caesars wurden daher meistens klar von jenen der früheren Zeiten unterschieden: „die der Freiheit dienende der jungen Republik und die tyrannische der Spätzeit“.13 Aus der auffälligen Verschiedenheit der beiden Arten von Diktatur lässt sich die Konsequenz ziehen, dass die Diktatur oft als eine für die römische Republik charakteristische Einrichtung aufgefasst und damit positiv bewertet wird. Laut Schmitt bringt Machiavelli diese Verschiedenheit deutlich zum Ausdruck. Für Machiavelli ist die Diktatur weder Tyrannis noch eine Form der absoluten Herrschaft. Die Diktatur gilt nur als ein Mittel, bzw. ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, um die Freiheit zu wahren.14 Als eine exekutive Institution hat der Diktator die Machtvollkommenheit, ohne Beratung zu handeln und selbständig über die Mittel zur Abwehr 10 Schmitt,
Diktatur (1926), S. 33. Die Diktatur, XVI f. 12 Über die Amtsdauer, Befugnisse und Funktionen des Diktators in der altrömischen Republik vgl. ebd., S. 2 Fn. 1; Irmscher, S. 274 ff. 13 Nolte, S. 901. 14 In Discorsi I 34. stellt Machiavelli fest: „Man sieht ja auch, daß der Diktator dem Staat immer Nutzen brachte, solange er verfassungsgemäß eingesetzt worden war und sich nicht aus eigener Machtvollkommenheit aufgeworfen hatte. […] Man sieht dies am Beispiel Roms. Hier brachten lange Zeit hindurch die Diktatoren dem Staat nur Nutzen.“ Machiavelli, S. 95. 11 Schmitt,
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre75
einer Gefahr zu entscheiden. Es kommt aber darauf an, dass die auf gesetzlichem Weg erteilte diktatorische Gewalt keine gesetzgeberischen Befugnisse besitzt.15 In diesem Sinn sieht Schmitt in Machiavellis Schrift die Diktatur als „ein verfassungsmäßiges Institut der Republik“.16 Ein absoluter Fürst ist deshalb überhaupt kein Diktator. Der erstere ist Souverän; der letztere ist zwar ein außerordentliches, aber verfassungsmäßiges Staatsorgan. Die Gewalt, die einem Diktator zur Verfügung steht, ist immer eine andere als die des Souveräns. 2. Souveränität im modernen Staat und Ausnahmezustand Machiavellis Ansicht, dass die Diktatur eine verfassungsmäßige Institution und vom Souverän unterschieden sei, brachte das in der folgenden Zeit immer wieder erwähnte Problem über das Verhältnis von Souveränität und Diktatur hervor. Mit der Entstehung des modernen Staats und des Begriffs der Souveränität wurde es immer relevanter und unumgänglicher, das Verhältnis der beiden zueinander zu klären. Nach Schmitt ist dasselbe Problem auch ausschlaggebend zur Verdeutlichung des Merkmals der verfassungsmäßigen Diktatur, die er „kommissarische Diktatur“ nennt. Hierfür erörtert Schmitt zunächst die Entstehung des modernen Staats, um dann das Verhältnis zwischen dem Souverän und dem Diktator als Kommissar darzustellen. Schmitt geht von der Lehre der Staatsraison aus, die im Mittelpunkt des modernen Staates sowie des Begriffs der fürstlichen Souveränität steht. Der moderne Staat entsteht aus Krieg und Notfall. Aus den Kriegen und Bürgerkriegen, die in der Frühneuzeit, vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert oft ausbrachen, ergab sich eine neue Vorstellung der politischen Ordnung. Demnach war Ordnung nicht vorgefunden, sondern erst herzustellen. Daraus folgte der Wechsel der Rolle des Staates. Der Hauptzweck des Staates bestand nun nicht mehr darin, das bestehende Recht und die Ordnung zu wahren, sondern Chaos und Unordnung zu überwinden, um öffentliche Ordnung und Sicherheit hervorzubringen. Erst in diesem Zusammenhang tauchte in der Frühneuzeit das politische Denken über den Ausnahmezustand auf, dem zufolge das Gesetz auf der Grundlage der Interessen des Staates oder des Gemeinwohls suspendiert oder aufgehoben werden konnte, wenn eine Krise oder ein Notfall eintrat.17 15 „Doch er konnte nichts tun, was dem Staat hätte schaden können; er konnte zum Beispiel nicht dem Senat oder dem Volk seine Machtbefugnisse nehmen, er konnte die alten Einrichtungen des Staates nicht abschaffen und neue einführen.“ Ebd. 16 Schmitt, Die Diktatur, S. 7. Dazu auch vgl. Münkler, Republik, Demokratie und Diktatur, S. 89 f. 17 Dazu vgl. Münkler, Im Namen des Staates, S. 187 ff.
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
Laut Schmitt zieht bereits Jean Bodin das Primat des Notfalles vor den Rechtsnormen in Betracht. Die üblichen Interpretationen von Bodins Souveränitätslehre stellen in erster Linie heraus, dass der Souverän de jure das Recht zur Gesetzgebung hat. D. h., Gesetze gelten nur deshalb, weil der Souverän sie erlässt oder anerkennt.18 In diesem Sinn wird Bodins Definition der Souveränität oft mit der lateinischen Formulierung „princeps legibus solutus“ ausgelegt und folglich als der Gegensatz zum Prinzip des Rechtsstaates bezeichnet. Anderes als übliche Interpretationen, die Bodin als den Urheber des Souveränitätsbegriffs und seine Definition als ihren Urtyp ansehen, besteht die Besonderheit der Souveränität für Schmitt eher darin, dass der Souverän darüber entscheide, wann der Notfall vorliege und ob dann die geltenden Gesetze zu suspendieren seien. Als den Kern der Souveränität entnimmt Schmitt dem Kap. X des 1. Buches in der République Bodins den Fall: Der König dürfte im Notstand – „si la necessité est urgente“ – ohne die Zustimmung der Stände im Ausnahmezustand allein Entscheidungen treffen.19 Für Schmitt ist das wesentliche Merkmal des Souveränitätsbegriffs bei Bodin, dass nur der einheitliche und unteilbare Souverän entscheiden könne, wann man in Gesetze eingreifen bzw. diese suspendieren könne. Nur der Souverän habe das unkontrollierbare und unbeschränkte Recht, selbst darüber zu entscheiden, wann im Interesse des Volkes das Gesetz zu suspendieren, abzuändern oder sogar aufzuheben sei. Dadurch reduziert er die Beziehung zwischen Fürst und Ständen auf ein „Entweder-Oder“. D. h., entweder der Fürst oder Stände können über Interesse des Volkes und das Gemeinwohl entscheiden. Wenn ein Fürst, bevor er eine solche Entscheidung trifft, die Zustimmung vom Senat oder von den Ständen erhalten muss, dann bedeutet das, dass seine Macht abgeleitet und er daher nicht souverän ist.20 Schmitt begreift den Machtkampf zwischen Fürst und Ständen sowie die Entstehungsgeschichte des fürstlichen Absolutismus vor allem hinsichtlich der Entscheidungsbefugnis des Fürsten im Notfall. Er zeigt weiter, dass die Theoretiker der „Arcana imperii“ im 17. Jahrhundert wie z. B. Clapmarius diese Befugnis noch ein Stück weiter ausdehnen. Nach Clapmarius nimmt 18 Vgl. Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 46 ff. Hermann Heller, der Zeitgenosse Schmitts, hat die Gesetzgebung als das wesentliche Merkmal der Souveränität betont und dadurch Schmitts Interpretation kritisiert. Siehe Heller, Die Souveränität, S. 91 f. 19 Schmitt, Politische Theologie, S. 15; Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch IV–VI, S. 84. Dazu auch Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 13 ff. Quaritsch weist aber Schmitts Interpretation Bodins zurück: „Den Ausnahmezustand als Rechtsbegriff, im modernen Sinne, kannte Bodin nicht. Juristisch deutliche Ansätze für ein mit der necessitas Reipublicae begründetes Notrecht (Ius dominationis) wurden erst in der deutschen Arkan-Literatur des frühen 17. Jh. entwickelt (Clapmarius, Besold); das hatte Schmitt in der ‚Diktatur‘ selbst beschrieben.“ 20 Schmitt, Politische Theologie, S. 15 f.
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre77
der Souverän neben den ordentlichen auch noch die außerordentlichen Souveränitätsrechte in Besitz, gemäß denen der Fürst im Notstand, vor allem im Krieg und bei Aufruhr, positivrechtlich unbegrenzte Machtbefugnisse zur Bewältigung des Notstandes hat. Selbst wenn das Ausnahmerecht sich theoretisch nur auf den außerordentlichen Fall beschränkt, besteht der von Ständekämpfen gequälte Staat eigentlich in einem fortdauernden Ausnahmezustand. Insofern handhabt der Souverän in einem solchen Staat die Ausnahmerechte freilich fortdauernd. Darum behauptet Schmitt: „Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht daher den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zustand eintreten soll und darüber, was alsdann nach Lage der Sache erforderlich ist.“21 Die Lehre der Staatsraison begründet also de jure den „Rechtsdurchbruch“ des Fürsten und ermöglicht ihm, die aus dem Mittelalter überlieferte Rechtsbindung und die auf wohlerworbenen Rechten beruhende Ämterhierarchie aufheben zu können.22 Hiermit ist der Fürst imstande, die mittelalterliche Feudalordnung abzubauen; die Staatsgewalt konzentriert sich demensprechend allmählich in den Händen des souveränen Fürsten.23 In diesem Sinn hängen die Entstehung des früh21 Schmitt, Die Diktatur, S. 18. Diese Argumentation wird später auf den berühmten Kernsatz am Anfang der Politischen Theologie übertragen. Schmitt bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Darstellung des Souveränitätsbegriffs in der Politischen Theologie auf der Diktatur beruhe (S. 16). Dies beweist den unübersehbaren Zusammenhang zwischen den zwei Schriften. M. E. ist Schmitts Definition der Souveränität in der Politischen Theologie nur unter der Voraussetzung der Diktatur zu verstehen. D. h., der Souverän mit der unteilbaren und unkontrollierbaren Befugnis, über den Ausnahmezustand zu entscheiden, bestand nur im Fürstenstaat. Schmitt betont aber, dass die seit dem 19. Jahrhundert entwickelte rechtsstaatliche Lehre die souveräne Befugnis zur Entscheidung durch Rechtsnormen streng zu fesseln versuchte, bis hin zu der Vorgabe, dass keine Einzelpersonen materiell „souverän“ sein dürften. Deshalb verweist Schmitt darauf, dass sowohl die Bestimmungen der Weimarer Verfassung als auch die Rechtslehre der Weimarer Zeit der Tendenz der rechtsstaatlichen Entwicklung entsprechen. Demnach liegt gemäß der Weimarer Verfassung kein Staatsorgan als Souverän vor. Schmitts Stellungnahme bleibt, anders als McCormick meint, in den beiden Schriften gleich. Hierzu kommt eine weitere Frage, ob der Reichspräsident in der Weimarer Republik der „Souverän“ ist. Vgl. McCormick, S. 133 ff. Offensichtlich hat Schmitt schon darauf geantwortet: „In der geltenden deutschen Verfassung von 1919 wird nach Artikel 48 der Ausnahmezustand vom Reichspräsidenten erklärt, aber unter der Kontrolle des Reichstags, der jederzeit die Aufhebung verlangen kann. […] Regelung des Artikels 48, der vielmehr eine grenzenlose Machtvollkommenheit verleiht und daher, wenn ohne Kontrolle darüber entschieden würde, wie die Ausnahmebefugnisse des Artikels 14 der Charte von 1815 den Monarchen zum Souverän machte.“ Schmitt, Politische Theologie, S. 17 f. Dazu auch Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 236 f.; Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 26 f. 22 Schmitt, Die Diktatur, S. 17 f. Dazu auch Schmitt, Verfassungslehre, S. 49 f. 23 Dahingegen versuchten laut Schmitt die Monarchomachen als Verteidiger der Ständeinteressen fürstliche Gewalten mit rechtsstaatlichen Argumenten zu begren-
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
neuzeitlichen Staates und des fürstlichen Absolutismus eng mit dem Ausnahmezustand zusammen. Insofern ist Schmitts berühmter Satz: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, adäquat. 3. Souverän und Diktator als Kommissar Im Anschluss an die Bestimmung der Souveränität folgt gleich die Frage, wie das Verhältnis zwischen Souverän und Diktatur ist. In der altrömischen Republik wurde die Diktatur auf das königliche Imperium bezogen. Daher bezeichnet Schmitt den Diktator auch als „eine Art König“.24 Aber wie betrachtete man diese republikanische Einrichtung in jener Zeit, in der die Theorie der Souveränität allmählich ausformuliert wurde, und wie konnte man sie an die aktuellen Umstände anpassen? Für die Antwort darauf greift Schmitt wieder auf Bodins Lehre zurück. Bodin definiert die Souveränität als eine absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt (I, 8).25 Die erste wesentliche Bestimmung der Souveränität ist die Absolutheit. D. h., die Souveränität ist daran zu erkennen, ob sie sich aus einer anderen Gewalt ableitet. Über der Souveränität besteht keine höhere weltliche Gewalt; eine abgeleitete Gewalt ist keine Souveränität. Im Notstand kann der Fürst einem außerordentlichen Kommissar Aufgaben übertragen, für welche dem Kommissar absolute Gewalt erteilt wird. Trotzdem ist diese Gewalt offensichtlich vom Fürsten abgeleitet. Es zeigt sich dann, dass ein Kommissar bloß Untertan ist, selbst wenn seine Gewalt rechtlich unbegrenzt ist. Andererseits weist Bodin darauf hin, dass auch die Gewalt römischer Diktatoren keine zeitlich unbegrenzte war, anders als die des Souveräns. Der Diktator war kein ordentlicher Beamter, sondern nur mit einer außerordentlichen und vorübergehenden Kommission wie Kriegführung oder Unterdrückung eines Aufstandes etc. bestellt. War die Aufgabe erledigt, so erlosch auch die Macht des Diktators. Schmitt stellt daraufhin fest: „Selbst wenn in einem Staat ein einzelner Mann oder eine einzelne Behörde unbegrenzte Befugnisse erhält und keine Rechtsmittel gegen ihre Maßnahmen gegeben sind, so ist das doch keine souveräne Macht, wenn sie zen, nach denen sich das Gesetz immer aus dem Willen des Volkes ableite und der König als Exekutivorgan abhängig vom Gesetz sei. Allerdings konnten die Monarchomachen auch nicht verneinen, dass die Aufgabe des Königs das Volksinteresse ist. Es ist aber die Frage, wer eigentlich den Inhalt von Gemeinwohl oder Volksinteressen entscheiden kann. Nach Schmitt geben weder die Monarchomachen noch die von der ständischen Stellungnahme ausgehenden Theoretiker eine eindeutige Antwort auf diese unumgängliche Frage. Schmitt, Die Diktatur, S. 19 ff. 24 Ebd., S. 2, 28. 25 Vgl. Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I–III, S. 205 ff.
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nicht dauernd ist, denn sie leitet sich von einem Andern ab […]“26. Nach seiner Bestimmung der Souveränität unterscheidet Bodin den Diktator ganz deutlich vom Souverän und betont, weder in der Republik noch in der Monarchie sei ein so mächtiger Magistrat wie der Diktator Souverän.27 In der Diktatur sieht Bodin nur eine Kommission. Im Gegensatz zum Beamten, dessen Geschäfte und Zuständigkeiten gesetzlich festgelegt sind, ist der Kommissar von seinem Auftraggeber mit bestimmten Aufgaben beauftragt. Als ein Kommissar ist der Diktator nur ein abhängiger Stellvertreter des Auftraggebers; seine Tätigkeit, formal oder inhaltlich, hängt immer vom Willen des Souveräns ab. Er kann deshalb nur „das tun, was der Vertretene tun würde, wenn er selbst zur Stelle sein könnte“28. Ebenso wesentlich ist für den Diktator seine Vollmacht, deren Bedeutung darin besteht, dass der Diktator je nach Sachlage erforderliche Maßnahmen durchführen kann, falls die normale Staatlichkeit ins Wanken geriete, z. B. bei einem Angriff von außen oder inneren Unruhen. Dabei darf er zwar im konkreten Fall ohne Rücksicht auf bestehende Rechte handeln, kann aber Gesetze nicht aufheben. Denn der Diktator als ein konstituiertes Organ kann nur das tun, was für seine Zwecke notwendig ist, also für die Wiederherstellung des Normalzustandes.29 Er hat also niemals Recht, die „Verfassung“ zu geben, was das andersgeartete Wesen der kommissarischen Diktatur gegenüber der souveränen Diktatur bezeichnet. Laut Schmitt blieb der deutliche Unterschied zwischen Souveränität und Diktatur bis zur Französischen Revolution unverändert; davor wurde unter einem Diktator immer ein der fürstlichen Souveränität untergeordneter Stellvertreter verstanden.30 In der Zeit des fürstlichen Absolutismus war der 26 Schmitt,
Die Diktatur, S. 27. Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I–III, S. 205. 28 Schmitt, Die Diktatur, S. 139. 29 Nach der vormodernen Auffassung ist nur Gott der Schöpfer der politischen Ordnung und in diesem Sinn das Subjekt der „verfassunggebenden Gewalt“. In diesem Sinn war der Diktator zu dieser Zeit ein konstituiertes Organ. Darauf weist Schmitt in der „Verfassungslehre“ wieder hin. Siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 77. 30 Wenn aber die fürstliche Souveränität ihre alle Evidenz verlor, konnten Denker sich nicht auf die Legitimität im überlieferten Sinn berufen, sondern nur auf die demokratische Legitimität. Nach Schmitt erweist sich dieser Wandel der Legitimitätsquelle deutlich in Donoso Cortes’ Formulierung, wenn er den Begriff Diktatur statt monarchischer Herrschaft verwendet: „Seit 1848 wird die Staatsrechtslehre positiv und verbirgt gewöhnlich hinter diesem Wort ihre Verlegenheit, oder aber sie gründet in den verschiedensten Umschreibungen alle Gewalt auf den pouvoir constituant des Volkes, das heißt: an die Stelle des monarchistischen tritt der demokratische Legitimitätsgedanke. Es ist daher ein Vorgang von unermeßlicher Bedeutung, daß einer der größten Repräsentanten dezisionistischen Denkens und ein katholischer 27 Ebd.;
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Unterschied zwischen Fürst und Kommissar-Diktator so deutlich, dass die meisten Theoretiker ihn klar erkannten. Für sie galt der Diktator nur als ein zeitweiliger und widerruflicher Kommissar, dem der Fürst mit einer Aufgabe betraute. Der Souverän konnte aber auch beliebig die von ihm erteilte Vollmacht widerrufen, wenn er es für notwendig hielt. Als ein Beispiel der kommissarischen Diktatur führt Schmitt Wallenstein an, den der Kaiser in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zum militärischen Diktator ernannte, aber schließlich abberief.
II. Souveräne Diktatur 1. Der Übergang zur souveränen Diktatur Aus der vorigen Erörterung geht hervor, dass Schmitt die seit der Entstehung des modernen Souveränitätsbegriffs auftretende Diktatur eine kommissarische Diktatur nennt, bei der eine konstituierte, also verfassungsmäßige Institution vorübergehend ohne Rücksicht auf den bestehenden Rechtszustand alle erforderlichen Maßnahmen durchführt, um die Existenz der ganzen Rechtsordnung in einem vordringlichen Notfall zu bewahren. Nach der Französischen Revolution wandelte sich das Verständnis von Diktatur von Grund auf. Nun entstand eine neue Form der Diktatur, die nicht die bestehende Verfassung schützen, sondern eine neue herbeiführen wollte. Die Wandlung trat nicht plötzlich auf, sondern ergab sich aus dem Übergang von der fürstlichen Souveränität zur Volkssouveränität. Nach Schmitt sind Mably und Rousseau für diese theoretische Entwicklung entscheidend. Mably ist davon überzeugt, dass jeder Inhaber der Exekutivgewalt aufgrund von Machtstreben in andere Gewalten eingreifen wird. Notwendig ist also die regelmäßige Kontrolle der Regierung, die eine Art Reformationskommissar mit von der Legislative übertragenen Vollmachten durchführt, um Machtanhäufung der Regierung, d. h. des Exekutivorgans, zu vermeiden. Auch wenn Mably die Diktatur noch als ein außerordentliches Mittel unter außerordentlichen Umständen versteht, ist sein Diktator „eine Art Reformationskommissar mit unbegrenzten Vollmachten gegenüber der gesamten Staatsphilosoph, der sich mit großartigem Radikalismus des metaphysischen Kernes aller Politik bewußt war, Donoso Cortes, im Anblick der Revolution von 1848 zu der Erkenntnis kam, daß die Epoche des Royalismus zu Ende ist. Es gibt keinen Royalismus mehr, weil es keine Könige mehr gibt. Es gibt daher auch keine Legitimität im überlieferten Sinne. Demnach bleibt für ihn nur ein Resultat: die Diktatur.“ Schmitt, Politische Theologie, S. 55. „Sobald Donoso Cortes erkannte, daß die Zeit der Monarchie zu Ende ist, weil es keine Könige mehr gibt und keiner den Mut haben würde, anders als durch den Willen des Volkes König zu sein, führte er seinen Dezisionismus zu Ende, das heißt, er verlangte eine politische Diktatur.“ Ebd., S. 69.
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konstituierten staatlichen Organisation“, der dann auftritt, wenn „die Gesetze sich allmählich abnutzen und die Korruption allzu groß wird“.31 In Mablys Auffassung ist daher der Übergang zum neuen Begriff der Diktatur angedeutet. Hier ist der Reformationskommissar als ein Diktator schon mehr als eine konstituierte Institution im Sinn der kommissarischen Diktatur. Wie Schmitt meint, führt diese Vorstellung „zu einer absoluten Vollmacht, vor der alle bestehenden Zuständigkeiten verschwinden“.32 Gegenüber der Diktatur besteht dann keine konstituierte Garantie als mögliche Kontrolle mehr. Für Schmitt unternimmt Rousseau den entscheidenden Schritt zur souveränen Diktatur, wenn auch noch nicht den letzten. Bei Rousseau müssen alle Individuen, die einen Staat bilden wollen, einstimmig den Gesellschaftsvertrag abschließen, um zu sichern, dass sie im Staat ebenso frei wie im Naturzustand sind und dem Staat keine Freiheiten preisgegeben werden. Anders als die von Pufendorf aufgestellte Lehre des Doppelvertrags, die Einigungsvertrag und Unterwerfungsvertrag kombiniert33, und anders als Hobbes̕ Unterwerfungsvertrag ist Rousseaus Contrat social bloß ein einfacher Einigungsvertrag.34 Durch den einfachen Gesellschaftsvertrag veräußern alle individuellen Beteiligten ihre Rechte vollständig an die Gemeinschaft und unterwerfen sich dieser aus dem Vertrag entstehenden Gemeinschaft, dem gemeinsamen „Ich“, so dass alle von der Herrschaft der Anderen befreit und daher frei sind. Rousseau stellt den vom gemeinsamen „Ich“ getragenen Gemeinwillen als den vernünftigen, absoluten richtigen Willen hin, der sich immer auf das Gemeinwohl richtet; demgegenüber sind die Willen der Einzelnen, sofern sie dem Gemeinwillen nicht entsprechen, die unvernünftigen, vom Begehren beherrschten und also unfreien Willen, bei denen es nur um die privaten Interessen der Individuen oder einzelnen Gruppen geht. Mit dem Gemeinwohl, dem entscheidenden Element seines ganzen Systems, kehrt Rousseau das Verhältnis von Fürst und Volk um und setzt die Volkssouveränität an die Stelle der fürstlichen Souveränität. Das Volk, genauer: der aus dem Einigungsvertrag entstehende Gemeinwille wird zum Souverän; sein Befehl ist also das Gesetz. Hinzu kommt, dass sein Befehl das gute Gesetz, die loi de raison, sein muss. Derjenige, der gegenüber dem Gesetz ungehorsam ist, d. h., sich nicht dem Gemeinwillen unterwirft, muss dann ein Mensch sein, der im Gegensatz zur Vernunft steht. 31 Schmitt,
Die Diktatur, S. 116. S. 116. 33 Gierke, S. 89. 34 Vgl. Rousseau (1995), Vom Gesellschaftsvertrag, S. 72 ff.; Schmitt, Die Diktatur, S. 126. 32 Ebd.,
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Rousseau akzentuiert, so Schmitt, die Unmittelbarkeit des Gemeinwillens so sehr, dass die vollkommene souveräne Diktatur in Rousseaus Lehre noch nicht vorkommt, obwohl sie die Lehre der souveränen Diktatur bereits vorbereitet und darum das Vorspiel des neuen Diktaturbegriffs ist. Rousseau kommt es darauf an, dass der Gemeinwille nicht repräsentiert werden kann; denn jede durch Repräsentation ausgeübte Gesetzgebung erfordert Gehorsam gegenüber den von Anderen gegebenen Gesetzen. An dieser Stelle widerspricht die Repräsentation Rousseaus dem Anspruch auf Autonomie. Im Gegensatz zur Legislative kann aber die Exekutive durch Repräsentation ausgeübt werden.35 Man kann daher einen Einzelnen oder eine kleine Gruppe mit der Aufgabe betrauen, das Gesetz zu vollziehen, woraus sich die Regierung ergibt. Der Zweck der Regierung besteht also darin, das Gesetz dem Gemeinwillen entsprechend durchzuführen. Wie Schmitt formulierte: „In der Exekutive soll es Repräsentanten geben, aber die Exekutive ist nur der willenlose Arm des Gesetzes und ihrem Wesen nach ebenfalls nur commission.“36 In dieser Hinsicht erweise sich die ganze Regierung, einschließlich des Königs, als Kommissar des Volkes.37 Dies ist für Rousseaus Auffassung der Diktatur wesentlich. Auch Rousseau fasst die Diktatur in traditioneller Weise auf: In außerordentlichen Fällen sind außerordentliche Maßnahmen für das öffentliche Interesse nötig. Hierfür ist ein Diktator erforderlich, der ausnahmsweise und für kurze Zeit die vom Gemeinwillen abgeleiteten Gesetze sowie die gesetzgebende Gewalt suspendiert, womit die Existenz der Republik geschützt und ihr Untergang vermieden werden könne. Jedenfalls ist in Rousseaus System unübersehbar, dass der Diktator, wie andere Ämter als Deputierte des Volkes, sich nur auf die Exekutive beschränkt und nicht in die Legislative eingreifen kann. D. h., der Diktator ist zwar im Notfall in der Lage, kurzzeitig das Gesetz außer Kraft zu setzen; jedoch kann er nichts an dem volonté générale ändern. Er kann, wie Schmitt es formuliert, „Gesetze zum Schweigen bringen, aber nicht reden machen usw.“38 Denn die Gesetzgebung kommt immer dem Volk zu und wird von ihm unmittelbar ausgeübt. 35 Rousseau
(1995), Vom Gesellschaftsvertrag, S. 118 ff. Die Diktatur, S. 127. 37 Ebd. Dazu äußert Schmitt auch: „Nichts beweist den Staatsabsolutismus Rousseaus so sehr wie diese, alle seine Vorstellungen beherrschende Verwandlung der gesamten staatlichen Organtätigkeit in ein beliebig widerrufliches, unbedingt abhängiges, kommissarisches Funktionieren.“ 38 Rousseau unterscheidet zwei Arten von Diktatur. Bei der ersten wird die Tätigkeit der Regierung auf eine oder zwei Personen konzentriert, wenn eine Gefahr für den Staat droht. Währenddessen endet die Geltung des Gesetzes nicht. Die andere ist die „eigentliche Diktatur“ (Schmitt). Dabei bringt ein oberster Machthaber alle Gesetze zum Schweigen. Schmitt betont, die beiden Arten von Diktatur seien exekutive Institutionen, die nicht in die Legislative eingreifen dürften. Darum unter36 Schmitt,
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre83
Neben dem Diktator steht der législateur als eine außergewöhnliche und rätselhafte Figur in Rousseaus System. Rousseau sieht einerseits in dem volonté générale die Grundlage der Gesetze, hebt andererseits aber hervor, es müsse einen Legislator geben, der dem Volk Gesetze gebe. Er ist eine außerhalb und vor der Verfassung stehende Person, die den Staat montiert und funktionieren lässt, jedoch keine legislativen Befugnisse innerhalb der Verfassung hat. Insofern ist der Legislator nicht ein auf der Verfassung beruhender, also verfassungsmäßiger Kommissar; ganz anders als der Diktator, bei dem es sich um „eine verfassungsmäßig vorgesehene Suspension des bestehenden Rechtszustandes“ handelt.39 Aber aus dem außerhalb der Verfassung stehenden Legislator folgt eine Konfusion in Rousseaus System. Die Aufgabe des Legislators ist nur eine Art Gesetzesinitiative: Er entwirft das Gesetz, aber nur der volonté générale kann es billigen. Folglich ist eine Volksabstimmung, nämlich ein Referendum zur Billigung der Gesetzesini tiative dieses Legislators notwendig, denn die letzte Instanz des Gesetzes ist immer nur das souveräne Volk. Rousseau ist sich zugleich bewusst, dass beim Referendum nicht unbedingt ein positives Ergebnis herauskommen muss. Es könnte sein, dass das Volk die Initiative ablehnt und damit eine gute Verfassung verhindert. Aus diesem Grund muss der Legislator an die göttliche Autorität appellieren, um zu garantieren, dass das Volk seinen guten und weisen Gesetzen zustimmen wird.40 Darum sagt Schmitt, der Legislator sei für Rousseau weder etwas Verfassungsmäßiges noch der über der Verfassung stehende Souverän; seine Stellung sei auch nicht mit der Volkssouveränität oder dem zu konstituierenden Staat begründet. Trotzdem habe er das Recht, einem Volk eine Verfassung zu geben. Was aber der Legislator eigentlich ist, das definiert Rousseau nicht genauer. Der Diktaturbegriff bei Rousseau geht, wie oben erörtert, nicht über die Vorstellung der kommissarischen Diktatur hinaus.41 Bisher steht dem Diktator noch keine gesetzgebende Befugnis zur Verfügung. In Rousseaus Entwurf ist die souveräne Diktatur zwar noch nicht vollendet, dennoch kann man darin schon einen Schritt hin zur souveränen Diktatur sehen. Wenn scheiden sich die Diktaturen in Rousseaus Auffassung noch von der souveränen Diktatur. Ebd., S. 124–125. Dieser Abschnitt ist in der Übersetzung UTB-Aufgabe aber nicht enthalten. Vgl. Rousseau (1996), Vom Gesellschaftsvertrag, S. 376. 39 Schmitt, Die Diktatur, S. 127. 40 Ebd., S. 128; Rousseau (1995), Vom Gesellschaftsvertrag, S. 103 f. 41 Es ist deshalb fraglich, ob Mehrings Feststellung, Rousseau sei für Schmitt der „Vordenker der souveränen Diktatur“, zutreffend ist. Vgl. Mehring, Vordenker der souveränen Diktatur ?, S. 137 f. Man sollte nicht übersehen, dass die souveräne Diktatur den Begriff des pouvoir constituant voraussetzet. Münkler weist also mit Recht darauf hin: „Schmitt selbst führt diesen Übergang auf Sieyes zurück“. Siehe Münkler, Republik, Demokratie und Diktatur, S. 92 Fn. 66.
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nämlich die Figur des Legislators mit der des Diktators verbunden wird, so kommt der souveräne Diktator zum Vorschein. Wie Schmitt schreibt: „Der Legislator steht außerhalb des Staates, aber im Recht, der Diktator außerhalb des Rechts, aber im Staat. Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassunggebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden.“42
2. Souveräne Diktatur und pouvoir constituant Selbst wenn die Lehre von Mably und Rousseau einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Konzeptes der souveränen Diktatur haben, stellen sie, wie Schmitt gezeigt hat, die Diktatur eben noch als eine verfassungsmäßige Einrichtung hin, die nicht in Gesetzgebung und Verfassunggebung eingreift. Ihre Lehre ist also noch der kommissarischen Diktatur zuzuordnen. In ihrer Bestimmung bleibt der Unterschied zwischen Souveränität und Diktatur noch deutlich: Der Diktator ist nur ein Kommissar zum Vollzug des Gesetzes, ohne Gesetze geben zu können. Diese der kommissarischen Diktatur eigentümliche Konstruktion aber verändert sich, wenn die Volkssouveränität an die Stelle der fürstlichen Souveränität tritt. Dazu ist Schmitt der Auffassung, dass in der Demokratie, in der der Souverän nicht ein Einzelner, sondern die Gesamtheit des Volkes ist, keine feste und inhaltlich deutliche Abhängigkeit der Diktatur von einem Fürsten mehr bestehe. Daraus entstehe ein neues Verhältnis zwischen dem Volk und seinem Repräsentanten als Kommissar. Hierfür führt Schmitt Bodins Konzept als Beispiel an: „Bodin hatte ja schon bemerkt, daß es einen großen Unterschied macht, ob für den Kommissar der Wille eines Fürsten oder der eines Volkes, eines einzelnen oder vieler tausend Menschen maßgebend ist.“43 Die Veränderung des Verhältnisses ist für die Entstehung der souveränen Diktatur ausschlaggebend. An welcher Stelle tritt nun die entscheidende Umdeutung des Diktaturbegriffs auf? Schmitt zufolge bringt die am Vorabend der Französischen Revolution von Sieyès aufgestellte Lehre des pouvoir constituant die moderne Konstruktion der Repräsentation hervor. Daraus entstehe die souveräne Diktatur. Sieyès übernimmt einerseits Rousseaus Argument, dass das Recht sich vom Volk bzw. vom volonté générale ableite. Er spricht also dem Volk den pouvoir constituant gegenüber dem pouvoir constitué anderer Staatsorgane zu. Der pouvoir constituant ist diejenige Gewalt, die vor der Verfassung besteht 42 Schmitt, 43 Ebd.,
Die Diktatur, S. 128. S. 139 f.
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre85
und die Verfassung sowie alle konstituierten Organe erzeugt. Die Wendung von Sieyès, die Nation sei immer im Naturzustand, bedeutet nun, dass das Volk nicht an die bestehende Verfassung gebunden ist und immer neue Formen der Verfassung sowie neue Organe konstituieren kann. In diesem Sinn hat der Inhalt des Willens des Volkes „immer denselben rechtlichen Wert wie der Inhalt einer Verfassungsbestimmung.“44 Andererseits aber entfällt bei Sieyès das andere maßgebende Argument Rousseaus: Der Gemeinwille des Volkes sei nicht zu repräsentieren, sondern nur unmittelbar auszuüben. Bei Sieyès kann und muss der pouvoir constituant durch Repräsentation ausgeübt werden. Die Repräsentanten des Volkes vertreten den öffentlichen und gemeinsamen Willen der Nation, die immer über den privaten Willen der Einzelnen erhaben ist, und bringen ihn zum Ausdruck. In diesem Sinn setzt Sieyès die Repräsentanten des Volkes dem Inhaber eines mandat impératif gegenüber. Dann sind die gewählten Repräsentanten nicht mehr an inhaltliche Vorgaben und den Willen bestimmter Wähler gebunden. Aber wie Schmitt betont, ist der Wille des Volkes immer undeutlich und sein Inhalt unbestimmt: „Der Wille kann unklar sein. Er muß es sogar sein, wenn der pouvoir constituant wirklich unkonstituierbar ist.“45 Das freie Mandat der Abgeordneten und die Unbestimmtheit des Volkswillens haben zur Folge, dass die Repräsentanten zwar formal noch abhängig vom Volk sind, aber der Inhalt des Volkswillens erst durch die Auslegung der Repräsentanten entsteht. Schließlich verändert sich die Rolle der Repräsentanten des Volkes und ihre Kommission grundsätzlich: „Die im Namen des pouvoir constituant handelnden Repräsentanten sind demnach formal unbedingt abhängige Kommissare, deren Auftrag aber inhaltlich nicht zu begrenzen ist.“46 Insofern könnten sie nicht nur im Namen des Volkes eine Verfassung entwerfen, sondern auf dieselbe Weise auch exekutive Maßnahmen treffen, weil der Volkswille und der Inhalt ihres Auftrags erst durch ihre Auslegung wahrgenommen werden. Die verfassungsgesetzgebenden Abgeordneten nehmen daher sowohl die legislative wie auch die exekutive Gewalt in die Hand und sind somit vom Prinzip der Gewaltteilung befreit.47 44 Ebd.,
S. 142 f. S. 143. 46 Ebd., S. 144. 47 Breuer weist zwar zu Recht darauf hin: „Gewiß erfuhr diese [demokratische, S. Y.] Tradition insofern eine Umdeutung, als ihre liberale Komponente, der ganze Komplex der repräsentativen Regierung, stark abgeschwächt wurde. Dies geschah jedoch nicht zugunsten vormoderner Formen fürstlicher bzw. monarchischer Souveränität, sondern zugunsten der mit der modernen Nation gleichgesetzten Volkssouveränität, die auf Konzentration aller Macht in einer einzigen, die Repräsentation des Ganzen prätendierenden Instanz drängte und sich dabei immer entschiedener aller Hemmungen und Gegengewichte, ja selbst aller diskursiven Vermittlungen entledigte. Hält man sich vor Augen, daß diese Entwicklung in gewisser Weise 45 Ebd.,
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Es kann der Fall eintreten, dass nach einer Revolution die Ausübung des pouvoir constituant verhindert wird. Dann ist es erforderlich, mit staatlichen Gewalten ohne rechtliche Schranken alles zu beseitigen, was das Inkrafttreten der neuen Verfassung verhindert. Andererseits kann die vor und durch die Revolution bestehende Unordnung als Hindernis des pouvoir constituant aufgefasst werden. Demnach kann auch die bestehende Ordnung als ein zu beseitigendes Hindernis bezeichnet werden.48 Für diese beide Fälle dient die begrifflich neugefasste Diktatur, die sich auf den vor der Verfassung existierenden, also innerhalb der Rechtsordnung unbeschränkten pouvoir constituant beruft, um eine neue Verfassung herbeizuführen – im Gegensatz zur kommissarischen Diktatur, die von einer bestehenden Verfassung oder einem konstituierten Organ autorisiert wird. Diese diktatorische Macht, die nicht von der bestehenden Verfassung, sondern der verfassunggebenden Gewalt des immer vorhandenen Volkes abgeleitet wird, übt tatsächlich schon einen Teil der Souveränität aus, daher ist sie souverän und auch rechtlich unumschränkt. Damit ist die Diktatur endgültig umgedeutet. Diese seit der Französischen Revolution auftretende neue Diktatur ist nicht mehr eine verfassungsmäßige Einrichtung, die auf die Überwindung der innerlichen oder äußerlichen Krise zielt, sondern eine revolutionäre und auch verfassunggebende Aktion, nämlich die souveräne Diktatur, die im Namen des Volkes die äußeren Bedingungen schafft, um das Inkrafttreten einer neuen Verfassung zu ermöglichen. Bis dahin ist die verfassunggebende Nationalversammlung die einzige den Staat vertretende Behörde, deren Gewalt vom Recht sowie dem Prinzip der Gewaltenteilung entbunden ist, weil noch keine Verfassung vorliegt. Im Fall der souveränen Diktatur zeigt sich die Differenz zwischen Souveränität und Diktatur nicht so eindeutig. Wie oben erwähnt, können die die souveräne Diktatur ausübenden Repräsentanten selbst den Inhalt des Volkswillens und dessen Auftrag interpretieren, so dass sie die Verfassung und schon von Sieyes selbst antizipiert wurde, der nicht bloßder geistige Kopf der Verfassung von 1791 war, vielmehr auch der Urheber des Verfassungsprojekts von 1799, das auf die Etablierung eines autoritären, wenngleich immer noch durch ein ausgetüfteltes System der Gewaltenteilung temperierten Systems zielte[…]“. Siehe Breuer, Carl Schmitt im Kontext, S. 78. Jedoch ist seine Auffassung zweifelhaft, wenn er behauptet, dass Schmitt bereit sei, die Herrschaft auf der Basis der Volkssouveränität ohne alle Hemmungen, d. h. irgendeine Form der Diktatur zu begründen. Man soll nicht übersehen, dass der Schutz gegen die souveräne Diktatur im Rahmen der Weimarer Verfassung Schmitts theoretisches Motiv in den 1920er Jahren ist. 48 „[…]wenn die bestehende Ordnung als das Hindernis der freien Ausübung des pouvoir constituant aufgefaßt wird, so daß immer neue Revolutionen und immer von neuem ein Appell an den pouvoir constituant möglich ist.“ Schmitt, Die Diktatur, S. 145.
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die von ihnen erlassenen Maßnahmen als aus dem Volkswillen abgeleitet betrachten können. Insofern üben sie im Namen des Volkes einen Teil der Souveränität aus. Trotzdem stellt Schmitt fest: das Wesen der souveränen Diktatur, wie das der kommissarischen Diktatur, ist eine Kommission. Der Unterschied zwischen den beiden ist: „Der kommissarische Diktator ist der unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitué, die souveräne Diktatur die unbedingte Aktionskommission eines pouvoir constituant.“49 D. h. obwohl der souveräne Diktator in seiner Kommission vorläufig einen Teil der Souveränität ausübt, ist er kein Souverän.50 Demzufolge ist die souveräne Diktatur, da sie eine Kommission ist, überhaupt nicht zeitlich unbeschränkt. Sobald die Aufgabe der Verfassunggebung erledigt ist, erlischt die diktatorische Gewalt.51 An dieser Stelle zeigt sich, dass die Diktatur, sowohl die kommissarische wie auch die souveräne, lediglich eine vom Souverän beauftragte Kommission ist. Zu beachten ist, dass die Ausübung des pouvoir constituant die Vorstellung einer wahren, idealen Verfassung voraussetzt.52 Die Beseitigung der bestehenden Verfassung bedeutet daher, dass diese Verfassung einen unrichtigen, der wahren Verfassung nicht entsprechenden Ausnahmezustand darstellt; sie muss deshalb überwunden werden, um eine richtige Verfassung herbeizuführen. Schmitt war sich der verfassungssprengenden Kraft des pouvoir constituant und der daraus resultierenden Weiterentwicklung der souveränen Diktatur bewusst und hat sie zu hemmen versucht. Darauf ist weiter unten einzugehen. Als Beispiel der souveränen Diktatur führt Schmitt in der Französischen Revolution den Nationalkonvent von 1792 an. Als die Verfassung von 1793 entworfen und durch die Volksabstimmung bestätigt wurde, hätte der Auftrag des Nationalkonvents und dessen Befugnisse enden sollen. Aber wegen der Revolutionskriege und der Gegenrevolution, die die Existenz der neuen Verfassung bedrohten, erklärte der Nationalkonvent die provisorische Regierung zur revolutionären Regierung bis zum Frieden, und beschloss, die Verfassung von 1793 suspendieren zu lassen. Sie trat nie wieder in Kraft. Schmitt meint nun, die Suspendierung der schon angenommenen Verfassung sei eigentlich ein Fall von souveräner Diktatur. Der Nationalkonvent höre nach der Suspension der Verfassung auf, ein konstituiertes Organ zu sein. Er sehe sich infolgedessen ganz bewusst als „revolutionär“ an und handle unter Berufung auf den pouvoir constituant des Volkes. Unter dieser Voraussetzung seien die Gewaltteilung und die rechtliche KompetenzabgrenS. 146. Dazu auch Schwab, S. 36. Verfassungslehre, S. 59 f. 51 Schmitt, Die Diktatur, S. 238. 52 Ebd., S. 145. 49 Ebd.,
50 Schmitt,
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zung staatlicher Organe beseitigt, die Exekutive und Legislative im Nationalkonvent vereint. Die Aufhebung der Trennung der Gewalten wurde gemäß der damaligen Vorstellung nicht nur als Diktatur bezeichnet, sondern auch als Absolutismus, Despotismus oder Tyrannei, weil die Unterscheidung dieser Begriffe noch fehlte.53 Weiterhin führt Schmitt aus, dass das Subjekt der souveränen Diktatur inzwischen in Wirklichkeit der Nationalkonvent sei; das Comité de salut public sei dagegen als einen Ausschuss des Konvents bloß mit exekutiven Befugnissen beauftragt. Es sei keine Diktatur, weil es nicht legislative und exekutive Befugnisse auf sich vereinige.54 Diese rechtliche Lage bleibe unverändert, obwohl der Wohlfahrtsausschuss politisch tatsächlich die Macht übernommen habe. In Deutschland ist das wichtigste Beispiel die verfassunggebende Nationalversammlung von 1919. Dabei wurde unter Berufung auf die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes die Weimarer Reichsverfassung herbeigeführt. Weil noch ein Verfassungsgesetz fehlte, als sich die Nationalversammlung vertagte, konnte sie „ohne irgendeine andere Begrenzung als diejenige, die sie sich selbst auferlegt, alle nach Lage der Sache erforderlich erscheinenden Maßnahmen treffen, wie das zum charakteristischen Inhalt der Diktatur gehört.“55 Zusammenfassend sind die zwei verschiedenen und gegensätzlichen Modi der Diktatur laut Schmitt nur ein Mittel zum Überwindung des Ausnahmezustandes, der sich sowohl in einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit als auch in einer als anormal empfundenen bestehenden Verfassung manifestieren kann. In diesem Sinne ist die Diktatur immer bloß der Übergang zur normalen ordentlichen Rechtsordnung. Genau dazu dient die souveräne Diktatur, indem sie mit der faktischen Staatsgewalt den rechtlosen Ausnahmezustand beseitigt. Der wesentliche Unterschied besteht nur darin, dass die kommissarische Diktatur als eine verfassungsmäßige Institution nur den in der geltenden Verfassung vorausgesetzten Normalzustand bezwecken kann und darf, aber die souveräne Diktatur dagegen als ein Mittel der verfassunggebenden Gewalt eine neue, als den Normalzustand hingestellte Verfassungsordnung herbeizuführen versucht. Schmitts Typologie der Diktatur ist entwickelt anhand der altrömischen Republik einerseits und der Französischen Revolution andererseits. Im Zentrum der Differenzierung der beiden Modi steht Sieyès’ Lehre des pouvoir constituant.56 Ihn interpretiert Schmitt als die Voraussetzung nicht nur der 53 Ebd.,
S. 149 f. S. 151 f. 55 Schmitt, Verfassungslehre, S. 59. 56 Manche Untersuchungen weisen mit Recht darauf hin, dass Schmitts Versuch, den Begriff der Diktatur an den pouvoir constituant zu knüpfen, tatsächlich nicht originell ist. Tatsächlich stammt er indirekt über die Monographie Egon Zweigs von 54 Ebd.,
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre89
Revolution, sondern auch der souveränen Diktatur.57 Ohne Sieyès̕ Konzeption des povouir constituant wäre es also unmöglich, dass die Repräsentanten des Volkes einen Teil der Souveränität handhaben und damit für das Volk als den Souverän eine Verfassung schaffen. Auf die Grundlage von Sieyès stützen sich alle Formen der revolutionären Diktatur, einschließlich der Diktatur des Proletariats. Am Ende der „Diktatur“ macht Schmitt darauf aufmerksam, dass der Aufstieg der proletarischen Klasse die Entstehung einer neuen proletarischen Diktatur zur Folge habe, und stellt zugleich fest, die Diktatur des Proletariats stehe im Zusammenhang mit der souveränen Diktatur, genauer: setze die souveräne Diktatur voraus. Hier erwähnt Schmitt nur kurz, dass die Diktatur des Nationalkonvents im Jahr 1793 das Vorbild für den Begriff der Diktatur des Proletariats von Marx und Engels war.58 Beide Konzepte gelten als Mommsen her, da Zweig auch – gestützt auf Mommsens Konzeption – die Diktatur von Sulla und Cäsar mit der Verfassungsgesetzgebung verbindet. Mommsen unterteilt in seinem Römischen Staatsrecht schon die Diktatur der römischen Republik in zwei Arten. Die Diktatur der frühen und mittleren Republik bezeichnet er als Teil der regulären Magistraturen; das Decemvirat, Sulla und Cäsar sowie das Triumvirat ordnet er dagegen dem Typus der „außerordentlichen“, nämlich der „konstituierenden“ Diktatur zu. Insofern hat Schmitt diese Unterscheidung der Diktatur rezipiert und, wie Quaritsch meint, „keine neue Unterscheidung“ hervorgebracht. Vgl. Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 6 f.; Nippel, Carl Schmitts „kommissarische“ und „souveräne Diktatur“, S. 130 ff.; Zweig, S. 14. Außerdem gibt Mommsen zwar zu, dass die außerordentliche konstituierende Gewalt einen relevanten Einfluß auf die folgende Zeit hat, übt aber auch Kritik an dieser Einrichtung, die ein „Aushülfsmittel […]“ ist, „das für den Staat immer ein Unheil ist, und häufig ein schlimmeres als das, dem es steuern soll“. Siehe Mommsen, Bd. 2. I, S. 702. Zur Darstellung der Diktatur von Sulla und Cäsar als „konstituierende“ Diktatur vgl. ebd., S. 725 ff. 57 Einige Untersuchungen versuchen zu zeigen, dass es sich bei Sieyès’ liberaldemokratischer Lehre des pouvoir constituant überhaupt nicht um rechtlich ungebundene Volkssouveränität handle. Seine Lehre habe deshalb nichts mit der auf der Volkssouveränität beruhenden Diktatur wie der jakobinischen zu tun. Vgl. Thiele, Advokative Volkssouveränität, S. 211 ff.; Merkel, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, S. 178 ff., 198 f. Der Versuch solcher Untersuchungen, Sieyès von Schmitts Interpretation zu trennen, verkennt aber, dass nach Schmitt Sieyès’ Lehre nur die notwendige Bedingung der souveränen Diktatur ist. Ohne die in Sieyès’ Lehre auftretende Kombinierung des pouvoir constituant mit der Repräsentation ist es theoretisch unmöglich, dass Abgeordnete im Namen des abwesenden Volkes auslegen, was der Inhalt des Willens des Volkes ist. Wenn dies der Fall ist, dann haben sie freilich de jure unbeschränkte Gewalt, bevor die herbeizuführende Verfassung in Kraft tritt. Insofern ist es für Schmitt nicht von Bedeutung, ob Sieyés selbst für Diktatur steht oder nicht. 58 „Der Begriff der Diktatur allerdings, wie er in der Forderung der Diktatur des Proletariats liegt, ist in seiner theoretischen Besonderheit bereits vorhanden. Die von Marx und Engels übernommene Vorstellung verwertete natürlich zunächst nur das
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Entwurf einer Diktatur, die eine Revolution anstrebt. Diese Feststellung wiederholt er aber Jahre später im Artikel eines Staatslexikons. Dort zählt Schmitt zwei Möglichkeiten der souveränen Diktatur auf. Aber anders als die Darstellung in der vergangenen Schrift ist die souveräne Diktatur hier nicht nur als der Fall bezeichnet, der nach der Revolution und durch die Nationalversammlung erst auftaucht, sondern sie kann auch aus dem Versuch zur Machtübernahme der revolutionären Partei entstehen: „Souveräne D. kann aber auch darin liegen, daß eine revolutionäre Partei unter Berufung auf den wahren Willen des Volkes die staatl. Macht an sich reißt u. ausübt, u. zwar provisorisch, d. h. bis zur Herstellung des Zustands, in welchem das Volk seinen Willen frei ausüben kann, wobei sie allerdings selber darüber entscheidet, wann dieser Zustand eingetreten ist.“59
Schmitt führt hier aus, der marxistische Sozialismus bezeichne „die Eroberung u. Ausübung der staatl. Macht durch eine bestimmte Klasse, das Proletariat, im Ggstz zur Bourgeoisie“ als die Methode zur Erreichung seines Zwecks.60 Die Anhänger des Marxismus sehen in dem Staat einen Machtapparat, den jede Klasse zur Unterdrückung anderer Klassen gebrauchen kann. Als eine Klasse kann auch das Proletariat den Machtapparat besitzen, wie es die Jakobiner taten, und damit die kommunistische Gesellschaft herbeiführen. Die Diktatur des Proletariats, „die hauptsächlich auf eine Analogie mit der revolutionären D. der Jakobiner von 1793 zurückzuführen ist, wurde von den russ. Bolschewisten aufgegriffen, um die gewaltsame Eroberung der staatl. Macht, die Zertrümmerung der alten ‚Staatsmaschinerie‘ u. die Verletzung der demokrat. u. rechtsstaatl. Prinzipien zu rechtfertigen.“ In der marxistischen Auffassung ist, laut Schmitt, die gedamals allgemein gebrauchte politische Schlagwort, das seit 1830 auf die verschiedensten Personen und Abstraktionen angewandt wurde, indem man von der Diktatur Lafayettes, Cavaignacs, Napoleons III. ebenso sprach, wie von der Diktatur der Regierung, der Straße, der Presse, des Kapitals, der Bureaukratie. Aber eine von Babeuf und Buonarotti zu Blanqui fortgehende Tradition hat auch eine deutliche Vorstellung von 1793 auf das Jahr 1848 übermittelt, und zwar nicht nur als Summe politischer Erfahrungen und Methoden. Wie der Begriff sich im systematischen Zusammenhang mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts und im politischen Zusammenhang mit den Erfahrungen des Weltkrieges entwickelt hat, muß einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben. Es darf jedoch hier schon bemerkt werden, daß, von einer allgemeinen Staatslehre aus betrachtet, die Diktatur des mit dem Volk identifizierten Proletariats als Übergang zu einem ökonomischen Zustand, in welchem der Staat ‚abstirbt‘, den Begriff einer souveränen Diktatur voraussetzt, wie er der Theorie und der Praxis des Nationalkonvents zugrunde liegt. Auch für die Staatstheorie dieses Übergangs zur Staatslosigkeit gilt das, was Engels in der Ansprache an den Bund der Kommunisten im März 1850 für seine Praxis verlangte: es ist dasselbe ‚wie in Frankreich 1793‘.“ Siehe Schmitt, Die Diktatur, S. 204 f. 59 Schmitt, Diktatur (1926), S. 35. 60 Ebd., S. 36.
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waltsame Eroberung der staatlichen Macht lediglich der Übergang, durch den die Endphase der kommunistischen Gesellschaft zu erreichen ist. Vor der Endphase sind aber nur wenige Avantgarden in der Lage, die dialektische Entwicklung der Geschichte und den wahren Willen des Volkes wahrzunehmen, den es selbst in der kommunistischen Gesellschaft erst richtig erkennt. Die Avantgarden sind demnach verpflichtet, die Vollkommenheit der kommunistischen Gesellschaft dadurch zu verwirklichen, dass sie die Macht an sich reißen und dann einen neuen Staat gründen. So gesehen antizipiert der Marxismus die Endphase der kommunistischen Gesellschaft und die entsprechende Verfassung, die als der echte Normalzustand vorgestellt ist. Dahingegen wird die bürgerlich-liberale Verfassung, einschließlich der Weimarer Verfassung, bloß als ein Hindernis auf dem Weg zur idealen kommunistischen Gesellschaft bezeichnet, das, gestützt auf den wahren Volkswillen, beseitigt werden soll.61 Nach dieser Auffassung ist die kommunistische Diktatur überhaupt kein Gegensatz zur Demokratie, weil sie sich eben auf die demokratische Legitimität stützt und an den wahren Willen des Volkes appelliert, obwohl sie im Widerspruch zur Herrschaft der Mehrheit, dem Parlamentarismus und der daran angelehnten liberalen Demokratie steht. Sonst könnte das revolutionäre Ziel des Marxismus sich nicht legitimieren.62 Hier wird also deutlich, dass die vom Marxismus so genannte Diktatur des Proletariats nicht das Endziel ist, sondern nur das Mittel zu einer neuen Verfassung, die sich von der bürgerlich-liberalen Verfassung unterscheidet. Die Legitimität dieses Mittels entspringt eben dem Volk bzw. dem pouvoir constituant des Volkes. Nur auf dieser Grundlage können sich die revolu tionären Akte des Marxismus rechtfertigen. Hierbei identifizieren sich die marxistischen Revolutionäre mit dem Volk, nämlich dem Proletariat, und schöpfen dadurch ihre Kraft aus dem demokratischen Prinzip. Insofern ist 61 Schmitt, Die Diktatur, S. XIII f.; ders., Diktatur (1926), S. 36. Schmitt erwähnt ausführlich im dritten Kapitel seiner Abhandlung „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ die metaphysische Grundlage des Marxismus. Hier betont Schmitt: „Was hier von Hegels Philosophie gesagt wird, daß sie eine Seite hat, deren praktische Konsequenz zu einer rationalistischen Diktatur führen könnte, gilt auch für den Marxismus, und zwar ist die Art Evidenz, auf die sich die metaphysische Sicherheit seiner Diktatur gründet, ganz im Rahmen Hegelischer Geschichtskonstruktion geblieben.“ Hier ist aber nicht der Ort, auf die von Schmitt genannte rationalistische Diktatur und ihren Zusammenhang mit der marxistischen Diktatur einzugehen. Näheres dazu vgl. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 63 ff. 62 In diesem Sinn hebt Schmitt immer hervor: „Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zur Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur.“ Siehe ebd., S. 41. Dazu auch Schmitt, Verfassungslehre, S. 237. Zu Schmitts Kritik am Parlamentarismus vgl. Becker, S. 20 ff.
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der Unterschied zwischen Jakobinern und Marxisten abhängig davon, wer jeweils als „das Volk“ anerkannt wird: Auf der Seite der Jakobiner wird das Bürgertum als das Volk anerkannt, auf der Seite der Marxisten aber ausschließlich das Proletariat. Allerdings ist ihre Diktatur, die souveräne Diktatur, gleichermaßen auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes angewiesen und hat gleiche Eigenschaften.63
III. Befugnis zur Verfassungsänderung und Möglichkeit zur „Revolution in Permanenz“ 1. Die Möglichkeit legaler Revolution nach 1923 In Schmitts 1921 erschienener Monographie über die Diktatur untersucht er nur aus wissenschaftlichem Interesse die souveräne Diktatur64 und auch die kommissarische Diktatur. Er beabsichtigte lediglich eine staatsrechtliche Typologie aufzustellen, um die verschiedenen Fälle der Diktatur zu unterscheiden. Aber diese relevante Unterscheidung wird in seinen später erschienenen Schriften wiederholt, um verschiedene der Weimarer Verfassung widersprechende Fälle zu analysieren. Das rein wissenschaftliche Interesse verändert sich zur politischen Stellungnahme. Schmitt begnügt sich nicht mit der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern will auch mit seinem Denken vor der Gefahr der souveränen Diktatur und den weitergehenden revolutionären Kräften warnen. Es liegt nahe, dass der Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes nicht nur die Novemberrevolution und die Weimarer Verfassung unterstützt, sondern auch von radikalen revolutionären Parteien gebraucht werden kann, um die Errungenschaften der ersten liberalen Demokratie umzustürzen. Die Weimarer Republik entstand nicht im Frieden. Diejenigen, die die Entstehungsgeschichte der Weimarer Verfassung kennen, müssen einräumen, dass die Weimarer Verfassung selbst ein Erzeugnis mit hochgradigem Kompromisscharakter ist, insbesondere zwischen Liberalismus und Sozialismus.65 Schon vor der Einberufung der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1919 war die Entscheidung über die Frage „parlamentarische Herrschaft oder Rätedemokratie“ gefallen. Um die wahrscheinliche politische Konse63 Deshalb wendet Schmitts linker Schüler, Otto Kirchheimer, dessen Typologie und Terminologie an, um damit die bolschewistische Diktatur als souveräne Diktatur zu bezeichnen. Vgl. Kirchheimer, S. 604 f. 64 Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 7. 65 Zum Kompromisscharakter der Weimarer Verfassung vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 53 ff., 63 f.; Bracher, S. 19 ff.; Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 78 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 90 f.
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quenz einer sich zuspitzenden Revolution zu vermeiden (beispielsweise Gewaltherrschaft, Bürgerkrieg und Chaos, wie es in Russland geschah), hatten die Mehrheitssozialdemokraten (SPD) keine andere Wahl als einen Klassenkompromiss mit dem gemäßigten Teil des Bürgertums und dem liberal-parlamentarischen System zu schließen.66 In einer solchen, von mangelnder politischer Homogenität geprägten Gesellschaft konnte diese Verfassung nicht die Erwartungen der verschiedenen Interessen erfüllen. Von Anfang an musste die Weimarer Verfassung deswegen für ihre Selbstbehauptung gegen bewaffnete Links- und Rechtsradikale kämpfen.67 Die junge Republik geriet folglich vielfach in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand. Der Krisenhöhepunkt war das Jahr 1923. Als sich die wirtschaftliche Krise der Weimarer Republik in diesem Jahr zuspitzte, war die Zeit scheinbar reif für den Versuch von Links- und Rechtsradikalen, die Macht an sich zu reißen.68 Es liegt nahe, dass diese radikalen Kräfte, sei es von links oder von rechts, eine Diktatur zur Veränderung der gesamten Rechtsordnung sowie der Verfassung bzw. die souveräne Diktatur anstrebten. Wegen der Berufung auf den „wahren Volkswillen“ von links und rechts stand Deutschland ein Bürgerkrieg bevor.69 66 Zu beachten sind die im April 1919 gegründete Münchener Räteregierung und der chaotische, bürgerkriegsähnliche Zustand. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1113 ff. Nach der Reichsintervention in Bayern und der Niederlage der kommunistischen Räterepublik wurde Bayern in den folgenden Jahren zur rechtsorientierten und konservativen „Ordnungszelle“ gegen den Marxismus. Inzwischen wurde Schmitt nach München versetzt, und zwar am 1. April zur Stadtkommandantur. Er war Augenzeuge der blutigen Tage. Über seine Erlebnisse in dieser Zeit vgl. Mehring, S. 106 ff., 114 ff. Überzeugend ist, dass Schmitts Erlebnisse für seine etatistische Grundhaltung und für seinen Wunsch nach Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit prägend waren. Zum Zusammenhang zwischen seinen Erlebnissen und seiner Position vgl. Quaritsch, Positionen und Begriffe, S. 36 ff. 67 Sowohl die linksradikalen verfassungsfeindlichen Parteien wie z. B. der Spartakusbund und dann die KPD wie auch die rechtsradikalen vor allem in Bayern (z. B. von Kahr, Kapp, Ludendorff) zielten eigentlich auf Revolution, d. h., die umfassende Umgestaltung der Verfassung. Obwohl Rechtextreme auch als „Gegenrevolutionäre“ bezeichnet werden, beabsichtigen sie nicht, die Ergebnisse der Revolution rückgängig zu machen, also eine Restauration vorzunehmen. Vgl. dazu Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 4 ff. Über den Unterschied von Schmitt zu den „Gegenrevolutionären“ im Kontext der ersten Jahren der Republik siehe Breuer, Carl Schmitt im Kontext, S. 45 f. 68 Winkler, Weimar 1918–1933, S. 220. 69 Als Nachweis gilt Reichskanzler Stresemanns Äußerung während des Konflikts zwischen dem Reich und Sachsen, wo es heißt, „falls die Regierung in Sachsen nicht durchgreife, die Gefahr bestände, daß sich die in Sachsen bedrohten Kreise an Bayern mit der Bitte um Hilfe wenden. Daß dies den Bürgerkrieg und damit den Zerfall des Reichs bedeute, brauchte er nicht besonders auszuführen.“ Zitiert nach ebd., S. 225.
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Nachdem die Extremisten unterdrückt worden waren und die Weimarer Republik in eine relativ stabile Periode eingetreten war, veränderten radikale Parteien ihren jeweiligen revolutionären Kurs. Sie verzichteten zwar auf den Versuch zum gewaltsamen Umsturz der Weimarer Republik. Dies bedeutet aber nicht, dass radikale Parteien ihren revolutionären Kurs aufhoben. Im April 1924 tagte in Frankfurt der 9. Parteitag der damals noch illegalen KPD (das Parteiverbot galt bis zum 1. Mai 1924, das landesrechtliche Parteiverbot, insbesondere in Bayern, aber bis zum Februar 1925)70. Dabei wurde eine neue Taktik beschlossen, die auf der Komintern-Linie der „relativen Stabilisierung des Kapitalismus“ lag – auch wenn das Ziel der KPD die „soziale Revolution“ blieb. In den mittleren Jahren der Weimarer Republik verzichte die KPD darum auf den gewalttätigen Umsturz und versuchte durch die Beteiligung am Parlament schrittweise die relativ stabile staatliche Ordnung zu untergraben.71 Andererseits gab auch die NSDAP den in ihrer revolutionären Epoche gehaltenen Kurs zur Anwendung der Gewalt gegen Staatseinrichtungen auf und verfuhr unter der Führung Hitlers nach einer Legalitätsstrategie.72 Diese Veränderung der politischen Richtung der extremen Parteien nach Aufhebung der Parteienverbote 1924 / 25 führte zu innenpolitischer Stabilität. „Seit 1925 fanden“ aus diesem Grund „Eingriffe in den Bestand der verfassungsfeindlichen Parteien der Rechten wie der Linken nicht mehr statt. Dagegen blieben die extremen Parteien mannigfachen beschränkenden Maßnahmen ausgesetzt.“73 Allerdings blieb das letzte Ziel dieser verfassungsfeindlichen Parteien unverändert die Beseitigung der Weimarer Verfassung. Die verfassunggebende Gewalt hörte zwar auf, tätig zu sein, aber die verfassungsverletzenden Kräfte kamen nun innerhalb der Verfassung und in der „verfassungsgesetzmäßigen“ Weise zum Tragen. Schmitt sah in der Befugnis zur Verfassungsänderung aus Art. 76 der Weimarer Verfassung eine Gewalt, kraft deren der Reichstag mit der für die Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheit die Verfassung nach seinem Wunsch verändern könnte. Hierfür bestand aber keine materielle Beschränkung. Nach der herrschenden Lehrmeinung konnte die Macht des Reichstags ebenso unbeschränkt sein wie die der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1919, die die souveräne Diktatur ausgeübt hatte. Es war daher sogar vorstellbar, dass der Reichstag einmal die souveräne Diktatur handhaben oder eine totale Verfassungsumgestaltung vollziehen konnte, wenn eine verfassungsfeindliche Partei über die verfassungsändernde Mehr70 Huber,
Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 154 f. ebd., S. 154, 262. 72 Ebd., S. 288. 73 Ebd., S. 154 f. 71 Vgl.
A. Souveräne Diktatur und Schmitts Interpretation von Sieyès’ Lehre95
heit verfügte. Daher sollte die verfassungsändernde Befugnis des Reichstags umgrenzt werden, da ihr Missbrauch Verfassungsverletzungen oder sogar eine legale Revolution zur Folge haben konnte. Diese Gefahr war Schmitt schon bewusst. In einem Gutachten warnte er davor, dass eine revolutionäre Partei im Reichstag „mit diesem Antrag ein[en] Akt revolutionärer Gewalt und ein[en] Verfassungsbruch beabsichtigt“.74 Um solche negativen Ergebnisse der Legislative zu vermeiden, war es für ihn unumgänglich, die Frage zu stellen, wie und inwiefern die parlamentarische Befugnis zur Verfassungsänderung unbeschränkt ist. 2. Herrschende Meinungen über die Verfassungsänderung gemäß dem Art. 76 der Weimarer Verfassung a) Das Erbe: Behandlung des Art. 78 der kaiserlichen Verfassung in der alten Staatsrechtswissenschaft Nach Schmitt hängt die Frage, warum die legale Revolution in der Weimarer Republik möglich ist, aufs engste mit der Rechts- und Staatsvorstellung des seit der kaiserlichen Zeit entwickelten Rechtspositivismus zusammen.75 Im Rahmen der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit war die vorherrschende Richtung noch stark von der juristischen Methode und Rechtsdogmatik der Kaiserzeit geprägt, die Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geprägt hatten.76 Selbst wenn nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung eine andere Staatsform in Deutschland in Kraft war, blieb die unter der Monarchie aufgestellte Staatsrechtslehre nach wie vor einflussreich und überwiegend. Außerdem hat die Kontinuität der alten und neuen Verfassung, vornehmlich im Bezug auf die Vorschrift zur Verfassungsänderung, die Konsequenz, dass die in der alten Reichsverfassung entstandene Verfassungsinterpretation des Rechtspositivismus in der Weimarer Zeit bestehen bleiben konnte und weiter als die herrschende Meinung galt. Als eine Minderheitsmeinung ist Schmitts Auffassung über das Thema der Verfassungsänderung nicht nur eine Auseinandersetzung mit herrschenden Meinungen in der Verfassungsdebatte, sondern sie kann auch als eine Konse74 Schmitt,
Unabhängigkeit der Richter, S. 14. den führenden Vertretern des Rechtspositivismus in der Weimarer Zeit gehören vor allem Anschütz, Thoma und Hans Kelsen, der Vertreter der Wiener Schule. Zu Ihrer Behandlung des Problems der Grenzen der Verfassungsänderung vgl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 19 ff. In Bezug auf den Streit um die Grenze der verfassungsändernden Gewalt setzte Schmitt sich kaum mit Kelsen auseinander. Siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 110. 76 Zur juristischen Methode und Staatslehre von Gerber sowie Laband und ihre Prägungen auf die Rechtspositivisten der Weimarer Zeit vgl. Caldwell, S. 13 ff. 75 Zu
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quenz des Methodenstreits mit dem Rechtspositivismus gedeutet werden.77 Also ist zunächst auf die Verfassungswirklichkeit der kaiserlichen Zeit und die im damaligen Kontext entstandene Staatsrechtslehre einzugehen. Grundzug des Verfassungsrechts im 19. Jahrhundert ist der Konstitutionalismus. Die Niederschlagung der Märzrevolution von 1848 hatte zur Folge, dass die Staatsform der deutschen Länder zumeist die Monarchie blieb und die Dynamik der demokratischen Entwicklung gebremst wurde. Dabei stand zwar das monarchische Prinzip fest, begegnete aber zugleich der Konkurrenz der Volkssouveränität. Monarchische Regierungen mussten folglich dem Anspruch des Volkes auf politische Mitwirkung nachgeben. Dafür gilt die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs vom 1871 (KRV) als treffendes Beispiel. Die KRV beruhte wesenhaft auf der Vereinbarung zwischen der Obrigkeit und der Volksvertretung, so dass sie rechtswissenschaftlich als ein Vertrag zwischen mehreren Fürsten und Reichsstädten einerseits sowie zwischen diesen und der Nation andererseits verstanden wurde.78 Sie erkannte also teilweise die Volkssouveränität an und räumte der Volksvertretung, bzw. dem Reichstag, substantielle Mitwirkungsrechte ein. Hiermit wurde der Dualismus des monarchischen und demokratischen Prinzips begründet. In diesem Sinn kann diese Verfassung als Kompromiss zwischen zwei einander entgegengesetzten Prinzipien der Souveränität aufgefasst werden. Den Kompromisscharakter der konstitutionellen Monarchie der deutschen Staaten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, begleitete eine juristische Lehre, die den Staat als eine fiktive juristische Person und seinen Willen als Gesetz hinstellte. Demzufolge sei weder der Fürst noch das Volk das Subjekt der Souveränität, sondern der Staat als juristische Person, zu der der Fürst und das Volk bloß als Organe gehören.79 Deswegen müsse die fürstliche Macht auch dem konstitutionell verfassten Staat unterworfen und an das Recht gebunden sein. Grundsätzlich aber ist der Begriff der juristischen Person nur ein Ausweg, durch den das entscheidende Problem im 19. Jahrhundert, nämlich das „Entweder-Oder“ von Fürstensouveränität und Volkssouveränität, dahingestellt blieb. Insofern war die deutsche konstitu 77 Zum juristischen Methodenstreit in der Weimarer Zeit vgl. Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit; Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre. 78 Schmitt, Verfassungslehre, S. 64 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 9 ff., 11 ff. 79 „Es war dies ein Weg, die Antinomie von Fürsten- und Volkssouveränität durch die neutralisierende Staatssouveränität aufzulösen und den Staat zum Träger des Herrschaftswillens, also der Staatsgewalt, zu machen. Fürst, Minister und Beamte wurden dadurch ebenso zu Organen dieser juristischen Person wie die Kammern der Landstände oder der Staatsrat.“ Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. II, S. 368.
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tionelle Monarchie im 19. Jahrhundert bloß ein Zwischenzustand zwischen Monarchie und Demokratie.80 Die politische und verfassungsrechtliche Realität im 19. Jahrhundert determinierte nicht nur die Methode des Rechtspositivismus, sondern auch seine politische Neigung. Seine rechtswissenschaftliche Methode fokussierte sich auf das formell geschlossene System des positiv gesetzten Rechts und bezeichnete es als den wahren Gegenstand der Disziplin. Dadurch definierte sich die Rechtswissenschaft als eine von ethischen, politischen, historischen und anderen Disziplinen isolierte Wissenschaft, die sich überhaupt nicht mit „politischem und staatsphilosophischem Raisonnement“ vermischte. Diese „gereinigte“ wissenschaftliche Jurisprudenz implizierte die Distanzierung von politischen Dingen und hielt an der politisch neutralen Haltung des Rechtspositivismus fest. Folglich ist es nicht erstaunlich, dass für Rechtspositivisten die Verfassung, solange sie galt, nur mit rechtlichen, aber nicht mit politischen Fragen zu tun hatte. Damit korrespondierte, dass Konflikte über das Legitimitätsprinzip aus rechtspositivistischer Sicht nur im Zusammenhang mit unwissenschaftlichen, politischen Bekenntnissen standen, die im staatsrechtlichen Bereich aber beiseitegeschoben werden sollten. Folgerichtig bleibt die Frage dahingestellt, ob ein über dem positiven Rechtssystem, insbesondere den Verfassungsgesetzen, stehendes Legitimitätsprinzip gegeben war.81 Hofmann weist mit Recht darauf hin, dass die rechtspositivistische Abstraktion vom Politischen, in der sich die Staatswirklichkeit im 19. Jahrhundert widerspiegelte, dazu diente, die theoretische Neutralisierung des unversöhnlichen Widerstreits von monarchischer und demokratischer Legitimität zu erreichen. Dadurch, die Legalität aller staatlichen Akte an die Stelle der Legitimität der Staatsgewalt, die Staatssouveränität anstelle der Volks- oder Fürstensouveränität zu setzen, war eine Kompromisslösung gefunden. Verstärkt sich die Tendenz zur Formalisierung des Staatsrechts noch weiter entwickelt, läuft dies darauf hinaus, dass der Rechtspositivismus politisch völlig wertneutral wird und nur noch an einer inhaltsentleerten Legalität festhält.82 So wie die KRV als ein Vertrag zwischen Monarch und Volk hingestellt wurde, spiegelte sich der damalige Dualismus der Staatswirklichkeit in den 80 Schmitt, Verfassungslehre, S. 114, 288 ff. Näher vgl. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie. 81 Exemplarisch ist Georg Meyers Satz: „Legitim heißt eine Staatsgewalt, welche dem bestehenden Rechte gemäß; illegitim eine Staatsgewalt, welche gegen das bestehende Recht zur Herrschaft gelangen ist. […] Die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt ist aber nicht durch den rechtmäßigen Erwerb, sondern nur durch den tatsächlichen Besitz derselben bedingt.“ Siehe Meyer / Anschütz, S. 26. Dazu auch Jellinek, S. 185. 82 Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 30 f.
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Regelungen zur Verfassungsänderung. Gemäß dem Art. 78 der KRV war die Verfassungsänderungskompetenz auf den Reichstag als Volksvertretungsorgan und den Bundesrat als Vertretung der Landesfürsten verteilt. Das verfassungsändernde Gesetz bedurfte einer einfachen Mehrheit im Reichstag und einer qualifizierten Mehrheit im Bundesrat (14 Stimmen).83 Die vorherrschende Meinung zur Kaiserzeit war, dass die Verfassung lediglich formell erschwerte Bedingungen zur Abänderung, aber keine Höherrangigkeit gegenüber dem einfachen Gesetz sowie dem Gesetzgeber hat. Die typische Formulierung für dieses Verfassungsverständnis findet sich bei Laband: „Die in der Verfassung enthaltenen Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingungen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen kommt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren Willen im Staat als den des Souveräns, und in diesem Willen wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfassung wie der Gesetze. Die Verfassung ist keine mythische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich.“84
Hier zeigt sich, dass die formell erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung bei Laband das grundlegende und auch einzige Merkmal einer Verfassung ist, durch das die Verfassung sich von einfachen Gesetzen unterscheiden kann, da sie wie andere Gesetze aus dem Willen des Staats, der juristischen Person, hervorgeht.85 Insofern ist die Verfassung lediglich eine Art Gesetz mit formeller Besonderheit hinsichtlich ihrer Abänderbarkeit. Auf die Frage, ob die Verfassungsänderung inhaltlich beschränkt ist, findet sich bei Laband keine klare Antwort. Er hob nur wiederholt die formellen Bedingungen, also die erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung, hervor. Dahingegen wurde dieselbe Frage von Georg Meyer verneint. Er äußerte explizit: Durch die gemäß dem Art. 78 beschlossenen verfassungsändernden Gesetze kann jede bestehende Verfassungsbestimmung verändert werden.86 83 Der Wortlaut „Veränderungen
des Art. 78 lautet: der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben. Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.“ 84 Siehe Laband, S. 39. 85 Siehe auch Meyer / Anschütz, S. 644, 743. 86 Vgl. ebd., S. 691 f.; Er äußerte sogar: „Es kann demnach durch verfassungsänderndes Reichsgesetz […] die bestehende Machtverteilung zwischen den obersten Reichsorganen abgeändert, z. B. durch Verstärkung der kaiserlichen Gewalt das Reich in eine Einherrschaft verwandelt, durch Schwächung der Stellung des Bundesrates der unitarische Charakter des Reiches schärfer betont, durch Vergrößerung der Macht des Reichstags die Reichsverfassung unter Zurückdrängung ihrer föderalistischen und monarchischen Grundgedanken demokratisiert werden […].“
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Aufgrund der erschwerten Abänderbarkeit der Verfassung war es aus Sicht der vorherrschenden Lehrmeinung auch zulässig, unter Beachtung des Art. 78 im Einzelfall Gesetze zu erlassen, die im Widerspruch zur Verfassungsbestimmung standen, aber nicht den Verfassungstext veränderten. Solche „materiell verfassungswidrigen“87 Gesetze wurden mit verfassungsändernden Gesetzen gleichgesetzt. Folglich: „Auch der Reichsverfassung gegenüber gilt daher der Grundsatz lex posterior derogat priori“, sofern die vorgeschriebene Bestimmung des Verfahrens im Art. 78 Beachtung findet.88 Von dieser Auffassung her betrachtet war in der Kaiserzeit die Praxis der Verfassungsdurchbrechung zulässig, die später in der Weimarer Zeit übernommen wurde aber auch heftigen Streit auslöste. Zu beachten ist, dass eine materielle Schranke im Verfassungstext der KRV fehlte und die herrschende Lehrmeinung ihre Aufmerksamkeit nur auf die formelle Bedingung der Verfassungsänderung richtete. Es war jedoch unwahrscheinlich, durch verfassungsändernde Gesetze eine „legale Revolution“ zur Demokratie durchzusetzen oder einen vollständigen Verfassungswandel herbeizuführen. Denn strukturell sprach der auf der effektiven Machtbalance beruhende doppelsinnige Verfassungs-„Vertrag“ dem Bundesrat als Vertretung der Fürsten die Macht zu, im Gesetzgebungsprozess gegen verfassungsändernde Gesetze zu votieren.89 Alle verfassungsändernden Gesetze setzen daher die Einigkeit der beiden verfassunggebenden Subjekte voraus. Aus diesem Grund fehlte es der KRV zwar im positiven Text an einer materiellen Schranke, die grundsätzliche Verfassungsordnung war jedoch nicht flexibel.90 b) Inhaltliche Unbeschränktheit und totale Verfassungsänderung Im Art. 76 der Weimarer Verfassung lagen zusammengefasst drei Punkte vor. Zum ersten, die Verfassung konnte im Wege der Gesetzgebung, also 87 Laband, S. 40. Das nach dem vorgesehenen Verfassungsänderungsverfahren beschlossene Gesetz wurde hier zu einer Art Spezialgesetz. Laband meint: „Der Satz, daß Spezialgesetze stets mit der Verfassung im Einklang stehen müssen und niemals mit ihr unvereinbar sein dürfen, ist lediglich ein Postulat der Gesetzgebungspolitik, aber kein Rechtssatz.“ 88 Ebd. In gleicher Richtung zu verfassungsdurchbrechenden Gesetzen auch vgl. Meyer / Anschütz, S. 661 f., 689 f. 89 Die KRV wird als ein „Vertrag“ aufgefasst, den einerseits die Landesfürsten miteinander und andererseits die Landesfürsten mit dem Volk abschließen. Im Bundesrat vertreten die Abgeordneten deshalb ihren eigenen Fürsten. Insofern ist unmöglich, dass jedes der Subjekte des Verfassungsvertrags einseitig die Verfassung ändert oder beseitigt. 90 Scriba, S. 266 ff.
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durch den Reichstag abgeändert werden. (Abs. 1, S. 1) Zweitens, die Verfassungsänderung war durch ein erschwertes Gesetzgebungsverfahren durchzuführen, dem gemäß im Reichstag bei Anwesenheit von zwei Dritteln der Mitglieder die Zustimmung von zwei Dritteln der Anwesenden notwendig war. (Abs. 1, S. 2) Drittens waren dabei auch die Mitwirkungsrechte des Reichsrats und des Volkes sowie eine plebiszitäre Verfassungsänderungskompetenz durch Volksbegehren und Volksentscheid vorgesehen. (Abs. 1, S. 3 und Abs. 2)91 Wie die KRV bestimmte auch die Weimarer Verfassung, dass die Verfassungsänderung „im Wege der Gesetzgebung“ durchzusetzen war. Außerdem lag im Verfassungstext nur die Bestimmung der besonderen Verfahrenserfordernisse, aber keine Vorschrift zum Ausschluss bestimmter Inhalte bei der Verfassungsänderung vor. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die vorherrschende rechtspositivistische Meinung aufgrund der vorherigen Verfassungsänderungspraxis und der Auslegung des Art. 78 der KRV den Art. 76 der Weimarer Verfassung ebenso interpretierte.92 Im Anschluss an die „Gerber-Laband-Linie“ hielt die herrschende Meinung der Weimarer Zeit es also für zulässig, dass die Reichslegislative mit der qualifizierten Mehrheit die Totalrevision der Verfassung vornehmen konnte. Gerhard Anschütz war der typische Vertreter der herrschenden rechtspositivistischen Auffassung über die unbeschränkte Verfassungsänderung, da er die Träger der gesetzgebenden Gewalt mit Trägern der verfassunggebenden gleichstellte.93 Unter Berufung auf die überlieferte Auslegung des Art. 78 der KRV führte er seine Kernargumentation aus: „Die Verfassung 91 Der Wortlaut des Art. 76 der „Die Verfassung kann im Wege
Weimarer Verfassung lautet: der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt.“ 92 Charakteristisch dafür vgl. Meyer / Anschütz, S. 691 f. Huber verweist auch darauf, „daß im Weg der Verfassungsänderung nicht nur die Revision einzelner Verfassungsvorschriften, sondern auch die Aufhebung ihrer tragenden Hauptprinzipien, ja sogar die Abkehr von der Gesamtverfassung statthaft sei. So könne ein verfassungsänderndes Gesetz die Monarchie in eine Republik, den Bundesstaat in einen Einheitsstaat verwandeln.“ Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 419. 93 Anschütz, S. 406, Art. 76 Anm. 3.
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steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben […].“94 „Die durch Art. 76 den hier bezeichneten qualifizierten Mehrheiten des Reichstags, des Reichsrats und des Volkes übertragene verfassungsändernde Gewalt ist gegenständlich unbeschränkt“.95 Nach dieser Auslegung sei die Verfassungsänderung nach Art. 76 prinzipiell gleichrangig mit der Gesetzgebung. Verfassungsgesetz und einfaches Gesetz werden also unterschiedslos als die Willensäußerung der gesetzgebenden Gewalt bezeichnet, die dann durch das vorgesehene Gesetzgebungsverfahren – auch wenn es erschwert ist – „ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite“ abgeändert, aufgehoben und umgestaltet werden könne.96 Eine ähnliche Position zur Frage der Grenze der Verfassungsänderung war auch bei Thoma zu finden, dem zufolge die Reichslegislative „eine unbeschränkte Kompetenz, eine plenitudo potestatis der Verfassungsänderung“ besitze.97 Seine Kernargumentation bezieht sich auf die Ansicht der Urheber der Weimarer Verfassung über die künftige Wandlung der Verfassung. Was die Verfassungsgeber in der Nationalversammlung, laut Thoma, bevorzugten, sei keine steife elastizitätslose „Verfassung“ im Sinne Schmitts, die auf bestimmten Fundamentalsätzen beruhe, sondern vor allem ein offenes System, dessen Fortbildung und Umgestaltung „zur Disposition der Reichslegislative“ gestellt seien.98 Ihre Begründung liege in der Würde freier demokratischer Selbstbestimmung, wie Thoma meint: „Die maßgebenden Persönlichkeiten der Nationalversammlung waren sich vermutlich im klaren darüber, daß man die überwiegende Mehrheit eines freien Volkes durch Verfassungsartikel doch nicht hindern könnte, sich die Verfassung zu geben, die sie haben will, notfalls unter Bruch des geschriebenen Rechts.“99 94 Ebd.,
S. 401. S. 403. 96 Ebd. Anschütz hebt hier auch hervor, dass die Verfassungsänderungen sich auf „die rechtliche Natur des Reichsganzen (Bundesstaat), die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern, die Staats- und Regierungsform des Reichs und der Länder (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus, Volksentscheid, Volksbegehren) und andere prinzipielle Fragen (Grundrechte) beziehen“ können. Aus dieser Sicht stellt Anschütz Schmitts Erwägung der Begrenzung der Verfassungsänderungsbefugnis in Frage. Für ihn ist es unhaltbar, wenn Schmitt behauptet, das Volk könne selbst die Substanz der Verfassung ausmachenden „politischen Entscheidungen“ des Volkes abändern, nicht aber die im Art. 76 vorgesehene Mehrheit der Legislative. Seine Ausführung impliziert also, dass die Volksgesetzgebung lediglich als ein Verfahren im Rahmen der Verfassung zu verstehen ist. Vgl. ebd., S. 404 f. 97 Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, S. 154. 98 Ebd., S. 153 ff. 99 Es zeigt sich offensichtlich, dass Thoma die Verletzung von Grundrechten und Freiheitsrechten durch Faschismus und Bolschewismus im Auge hat. Merkwürdig 95 Ebd.,
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Hinsichtlich der Elastizität des in der Verfassung geregelten Staatslebens halten also die Verfassungsgeber für eine Verfassungsrevision nur die formellen Bedingungen, die Zweidrittmehrheit des Reichstags oder die Mehrheit aktiver Bürgerschaft, für erforderlich. Gemäß dem Wortlaut des Art. 76 kam Thoma schließlich zu dem Schluss, dass die Verfassungskompetenz de lege lata inhaltlich und materiell unbeschränkt sei und die Träger dieser Kompetenz im Bereich der Normativität „souverän“ seien.100 c) Umstrittene Verfassungsdurchbrechung Ebenso schwierig oder noch schwieriger als die Totalrevision der Verfassung war das Problem der in der Weimarer Zeit häufig vorgenommenen Verfassungsdurchbrechungen. Die Verfassungsdurchbrechung wurde von Schmitt so definiert: „Verletzung verfassungsgesetzlicher Bestimmungen für einen oder mehrere bestimmte Einzelfälle, aber als Ausnahme, d. h. unter der Voraussetzung, daß die durchbrochenen Bestimmungen im Übrigen unverändert weitergelten, also weder dauernd aufgehoben noch zeitweilig außer Kraft gesetzt (suspendiert) werden.“101 Bei der Verfassungsdurchbrechung wird der Text der Verfassungsurkunde nicht abgeändert oder aufgehoben, es wird auch keine neue Verfassungsvorschrift hinzugefügt; man schafft lediglich ein einfaches Reichsgesetz, das punktuell von einer im Verfassungstext enthaltenen Norm abweicht. Hinzu gehören auch Ermächtigungsgesetze, die sich dadurch ergeben, dass der Reichstag mit verfassungsändernder Mehrheit der Reichsregierung die Vollaber ist, dass er Möglichkeit, dass die „verfassungsfeindlichen Parteien“ eine ZweiDrittel-Mehrheit im Reichstag erhalten könnten, nicht in Rechnung stellt. Ebd., S. 154. 100 Wie Anschütz übt auch Thoma Kritik an Schmitts Verfassungslehre. Die Kritik umfaßt drei Punkte. Erstens, Schmitts entscheidende Unterscheidung zwischen „Verfassung“ und „Verfassungsgesetz“ ist für Thoma nicht überzeugend, denn die von Schmitt genannte „Verfassung“ kann nicht im Sinne positiven Verfassungsrechts, also nach dem Verfassungstext verstanden werden. Weiterhin erklärte Schmitt nicht, was die grundsätzlichen Prinzipien des sich unmittelbar manifestierenden Volkswillens eigentlich sind; warum, wie und kraft welcher Rechtsnorm sich der souveräne pouvoir constituant bestätigen darf. Die Antwort darauf bliebe er schuldig. Schließlich hebt Thoma hervor, dass aus Schmitts Unterscheidung zwischen „Verfassung“ und „Verfassungsgesetz“ nur die Entwertung der geschriebenen Verfassung folgt, weil sie nur von Schmitt als das betrachtet wird, was das unter Umständen zu sprengende ist. Vgl. Thoma, Die juristische Bedeutung, S. 39 ff. In die gleiche Richtung auf die inhaltliche Unbeschränktheit der Weimarer Verfassung argumentiert Jeselsohn, Begriff, Arten und Grenzen der Verfassungsänderung nach Reichsrecht, S. 60 ff.; Loewenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung, S. 229. 101 Schmitt, Verfassungslehre, S. 99 f.
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macht zum Erlass von gesetzvertretenden Verordnungen übergibt.102 Wesenhaft liegt bei der Verfassungsdurchbrechung eine materielle Verfassungsänderung vor, obwohl der Verfassungstext nach wie vor unverändert bleibt. Verfassungsdurchbrechung ist also keine Verfassungsänderung im eigentlichen Sinn. Ein umstrittenes Beispiel ist, dass der Reichstag 1925 plante, durch ein Reichsgesetz einheitlich und ohne Rücksicht auf die Garantie des Art. 153 der Weimarer Verfassung den Streit um die Fürstenenteignung zwischen Landesregierungen und Fürstenhäusern zu regeln.103 Das war jedoch kein Einzelfall. In der ganzen Weimarer Zeit fanden sich tatsächlich solche Verfassungsdurchbrechungen mindestens zweiundzwanzigmal: 1920–24 sechzehnmal, 1925–1931 sechsmal. Noch weitere 19 Reichsgesetze hatten wohl verfassungsändernden Charakter.104 Zu dieser Zeit war der 102 Das Ermächtigungsgesetz war wesentlich „ein den Regierungen zur Verfügung stehendes Aushilfsmittel in Krisenlagen.“ In der Weimarer Zeit aber galten Ermächtigungsgesetze als „ein ständig verfügbares Mittel zur Überwindung von Störungen des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens.“ In der Praxis sah der Reichstag Ermächtigungsgesetze als verfassungsändernde Gesetze an, für deren Erlass die verfassungsändernde Mehrheit benötigt wurde, „weil die Delegation der gesetzgebenden Gewalt auf die Exekutive das die elementare Grundlage des Verfassungsstaats bildende Prinzip der Gewaltenteilung durchbrach.“ Ein gefährlicher Präzedenzfall war das Ermächtigungsgesetz vom 13. Okt. 1923, in dem „ausdrücklich gesagt [wurde], daß in den Vollmacht-Verordnungen ‚von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen‘ werden dürfe.“ Seither war die Verfassungsabweichung eines Ermächtigungsgesetzes mit der Verfassungsdurchbrechung gerechtfertigt. Wie Huber betont auch Gusy, dass die Praxis des Ermächtigungsgesetzes Kritik an Verfassungsdurchbrechungen zu Folge hatte. Zur Praxis der Ermächtigungsgesetze vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 435 ff.; Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 158 ff. Über die juristische Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Okt. 1923 siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 441. 103 Im Jahr 1925 wurde Schmitt beauftragt, ein Gutachten gegen die Fürstenenteignung zu schreiben. Darin stellte er den Antrag der KPD und der DDP als Verstoß gegen die Verfassung hin. Schmitt stellte darin fest, die rechten und linken Fraktionen im Parlament hätten mit den Anträgen, die die Prinzipien der Verfassung verletzten, das politische Problem zu lösen versucht. Andererseits hob Schmitt hier wiederholt die Affinität des Marxismus zu den Jakobinern hervor. Für ihn ist der Antrag der kommunistischen Partei, in dem in die Judikative eingegriffen und das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verletzt wird, nur dadurch zu begründen, dass die Verfassung durch eine souveräne Diktatur suspendiert wird. Der kommunistische Antrag kann, verfassungsrechtlich gesehen, nur dann plausibel sein, wenn er an die verfassunggebende Gewalt appelliert. Näheres dazu vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 577 ff., 590 ff.; Winkler, Weimar 1918– 1933, S. 312. Zur Entstehungsgeschichte von Schmitts Gutachten siehe Mehring, Carl Schmitt, S. 194 f. 104 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 422 f. Die Zahl der Fälle von Verfassungsdurchbrechungen, die Gusy angibt, weicht geringfügig von Huber ab. Siehe Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 146.
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Fall der Verfassungsdurchbrechung noch häufiger als der der Verfassungsänderung. Die Zulässigkeit der Verfassungsdurchbrechung wurde überwiegend durch die historische Praxis begründet. Da der Wortlaut des Art. 76 Abs. 1 S. 1 der Weimarer Verfassung Ähnlichkeit mit dem Art. 78 der KRV hatte und die Weimarer Verfassung auch keine entgegenstehende Norm und Vorschrift enthielt, vertrat die vorherrschende Meinung unter Berufung auf die überlieferte Rechtsauffassung die Ansicht, dass die Verfassung keine Höherrangigkeit gegenüber von der Reichslegislative beschlossenen Gesetzen besitzt und die Verfassungsdurchbrechungen somit zulässig sind.105 Sie betrachtete diese als „stillschweigende“ Verfassungsänderung106. Die materiell verfassungsändernden Gesetze ohne Abänderung der Verfassungstexte waren insofern zulässig, als die Verfassungsänderung durch das im Art. 76 vorgesehene Verfahren vorgenommen wurden. Aber seit Mitte der 20er Jahre erhob sich zunehmend Widerspruch gegen die Zulässigkeit der Verfassungsdurchbrechung. Aus der Verfassungsdurchbrechung ergab sich folgerichtig, dass der Reichstag, wenn die für die Verfassungsänderung notwendige Zwei-DrittelMehrheit vorhanden war, beliebig materiell verfassungswidrige Gesetze beschließen konnte. Die „stillschweigenden“ verfassungsändernden Gesetze in der Weimarer Zeit beeinträchtigten also umfassend Grundrechte. In der konstitutionellen Monarchie waren Eingriffe in „Freiheit und Eigentum“ vor allem aus Maßnahmen der Exekutive hervorgegangen, die der König ergriffen hatte. Insofern hatte das Volk nur durch Mitwirkung im Gesetzgebungsprozess Gesetze erlassen können, um die exekutive Gewalt zu kontrollieren und Grundrechte vor dem Eingriff durch solche Maßnahmen zu schützen. Die legislative Kontrolle verlor aber in der Weimarer Zeit ihren ursprüng lichen Sinn. Die von der Verfassung bewahrten Grundrechte konnten nun durch den Reichstag mit seiner Befugnis zur Gesetzgebung verletzt werden. Die durch verfassungsändernde Verfahren beschlossenen verfassungsdurchbrechenden Gesetze waren unkontrollierbar. Das Reichsgericht konnte zwar jedes einfache Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen, aber kein verfassungsänderndes, im Verfahren des Art. 76 entstandenes Gesetz.107 Die 105 Ehmke skizziert ausführlich die Weimarer Diskussion um die Verfassungsdurchbrechung. Danach stehen Anschütz, Jeselsohn, W. Jellinek und Graf zu Dohna für Verfassungsdurchbrechungen. Vgl. Ehmke, Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung, S. 388; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 421 f., insbesondere Fn. 13. 106 Anschütz, S. 401 f.; Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, S. 155. 107 Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 16; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 565 f. Zur richterlichen Überprüfbarkeit der Diktaturmaßnahmen vgl. ebd., S. 727 ff.; Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 77 ff.
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Gleichsetzung der Gesetzgebung mit der Verfassungsänderung hätte den „Parlamentsabsolutismus“ zur Folge haben können, wovon seit der Verfassunggebung von 1919 bereits die Rede war. Folglich stellten die meisten Rechtswissenschaftler seit Mitte der 20er Jahren den übermäßigen Missbrauch der Verfassungsdurchbrechung in Frage und stimmten mehr oder minder darin überein, dass eine Grenze dafür gezogen werden sollte.108 3. Schmitts Kritik an der inhaltslosen Legalität und Neutralität Die von der überkommenen Auffassung geprägte vorherrschende Meinung über den Art. 76 der Weimarer Verfassung nahm die Unbeschränktheit der Verfassungsänderungskompetenz des Reichstags hin. Praktisch fehlte bis zum Ende der Weimarer Zeit noch das richterliche Prüfungsrecht zur Kontrolle der durch das Verfahren des Art. 76 durchzusetzenden Verfassungsänderung.109 Die Verfassungsänderungskompetenz des Reichstags war daher außer den Befugnissen des Reichspräsidenten nicht zu hemmen.110 Waren aber Verfassungsrechtsänderungen „jeder Art“ und „ohne Unterschied des 108 In der Endphase war die Mehrheitsmeinung gegen die Verfassungsdurchbrechung. Zur Lehrmeinung gegen Verfassungsdurchbrechung und deren Vertreter siehe Ehmke, Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung, S. 389 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 424 ff. Zu beachten ist der Standpunkt von Thoma. Anders als Anschützs Standpunkt für absolute Unbeschränktheit der Verfassungsänderungskompetenz der Legislative zieht jener eine Grenze der Verfassungsdurchbrechung. Vgl. Thoma, Die juristische Bedeutung, S. 46 f.; Thoma, Grundbegriffe und Grundsätze, S. 156 f. Hier stimmt er teilweise Schmitts Einschätzung der Verfassungsdurchbrechung zu und stellt fest, die Verfassungsdurchbrechung beschränke sich auf anormale Ausnahmesituationen; der Machtmissbrauch der Legislative sollte daher verboten werden. Die Kontrolle des Machtmissbrauchs sei die Kompetenz, die dem Reichspräsident, der Reichsregierung und den Gerichten als den „Hütern der Verfassung“ zukomme. 109 Dazu führt Schmitt an: „Die Entscheidungsgründe jenes Urteils vom 4. November 1925 betonen weiter, daß ein Prüfungsrecht nur gegenüber einfachen Reichsgesetzen in Anspruch genommen wird, nicht für verfassungsändernde, d. h. im Verfahren des Art. 76 RV. entstandene Reichsgesetze. Sobald ein nach Art. 76 zustande gekommenes Reichsgesetz vorliegt, hört nach dieser Begründung jede weitere Prüfungsmöglichkeit auf. Die verfassungsrechtlich sehr bedeutungsvolle Frage nach den Grenzen der Revisions- oder Änderungsbefugnis; die Möglichkeit eines offensichtlichen Mißbrauchs der Bestimmung des Art. 76; die in der Rechtslehre der geltenden Verfassung bereits eingehend erörterte Notwendigkeit einer Unterscheidung innerhalb der Änderungsbefugnis, die unmöglich mit dem summarischen Absolutismus, der in Art. 76 den allmächtigen Souverän und sogar den Träger einer verfassunggebenden Gewalt finden will, erledigt sein kann; alle diese Fragen kommen für ein richterliches Prüfungsrecht, das in solchen engen Grenzen besteht, nicht weiter in Betracht.“ Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 16. 110 Siehe unten B. III. 2.
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Inhalts und der politischen Tragweite“ zulässig, dann konnte jede politische Richtung, sofern sie über die erforderliche Mehrheit verfügte, auf legale Weise die Verfassung beliebig abändern, durchbrechen oder sogar total aufheben. Insofern war die rechtspositivistische Absicht, mittels des Festhaltens an Legalität und positiven verfassungsgesetzlichen Bestimmungen das Legalitätssystem vom Eingriff des Politischen zu befreien, zweckwidrig. Diese politisch neutrale, nur die Probleme formaler Legalität berücksichtigende Einstellung der Rechtspositivisten wird daher von Schmitt als die Ursache der Selbstaufhebung der Weimarer Verfassung kritisiert. Schmitt meint, der Rechtspositivismus sei dem Wesen nach der im 19. Jahrhundert entwickelte Gesetzespositivismus, dessen Besonderheit in der allgemeinen „Vergesetzlichung“ staatlicher Kompetenzen bestehe. D. h. Recht und Staat werden dadurch, dass sie positive und staatliche Gesetze statuieren, zu einem geschlossenen Legalitätssystem und alle staatlichen Tätigkeiten zu berechenbaren Funktionen gemacht. Damit sei der Zweck, willkürliche Ausübung der Staatsmacht zu vermeiden, zu erreichen – mit Schmitts Formulierung, das Gesetz werde „ein technisches Mittel, den Leviathan zu bändigen“.111 Das geschlossene Legalitätssystem auf der Grundlage einer kodifizierten Verfassung habe sich von vornherein gegen die fürstliche Regierung und ihr Beamtentum gerichtet. Es sei aber nach dem Zusammenbruch der dynastischen Legitimität formalisiert worden. Gesetze als solche verlieren daher ihren materiellen Sinn, der im Kampf gegen den fürstlichen Absolutismus deutlich erkennbar gewesen sei. Nun verbleibt nur der formale Charakter von Gesetzen: die durch formale Gesetzgebungsverfahren erzeugten Beschlüsse der Mehrheit im Legislativorgan. In dem Sinn des formalistischen Gesetzbegriffs sei „der Weg offen zu einer absolut „neutralen“, wert- und qualitätsfreien, inhaltlos formalistisch funktionalistischen Legalitätsvorstellung.“112 Daraus folge, dass die Verfassung auch formalisiert und mit den Verfassungsgesetzen in der Verfassungsurkunde gleichgestellt werde. Der wesensmäßige Unterschied zwischen Verfassung und einfachem Gesetz bestehe dann vielmehr in formalen Verfassungsverfahren, aber nicht in ihrer Qualität.113 Wegen dieser Gleichrangigkeit scheint die Verfassung so fragil zu sein, dass der Missbrauch der Befugnis zur Verfassungsänderung, sei es durch 111 Schmitt,
Der Leviathan, S. 99. Legalität und Legitimität (1932), S. 280. Dazu äußert Schmitt auch: „Für die technisch vorgestellte Neutralität ist es entscheidend, daß die Gesetze des Staates von jeder inhaltlich substanzhaften, religiösen oder rechtlichen Wahrheit und Richtigkeit unabhängig werden und nur noch infolge der positiven Bestimmtheit staatlicher Entscheidung als Befehlsnormen gelten.“ Schmitt, Der Leviathan, S. 67 f. 113 Siehe unten B. II. 1. b). 112 Schmitt,
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Totalrevision der Verfassung oder Verfassungsdurchbrechung, nicht verhindert werden kann, wenn die Verfahrenserfordernisse der Verfassungsänderung erfüllt sind. Der formalistischen Auffassung der Legalität entsprechend ist der Prozess der Gesetz- oder Verfassungsgesetzgebung nichts als eine neutrale „Spielregel“, die jedem Inhalt und allen politischen Kräften offen steht. Das neutrale Legalitätssystem, das einmal für die Auflösung politischer Konflikte zwischen gegensätzlichen Wertinhalten nützlich war, wird nun zum Mittel, von dem alle sozialen Kräfte Gebrauch machen können. Alle Wertinhalte sind dem Legalitätssystem gleichgültig und in ihm zulässig. Der in der Verfassungswirklichkeit wahrnehmbare Pluralismus aber dringt, so Schmitt, ins Parlament ein und macht es zu einer Arena114, in der mehrere soziale Größen, Parteien und Interessengruppen, gegeneinander kämpfen, um sich der staatlichen Willensbildung zu bemächtigen. Das Legalitätssystem bietet dann allen Parteien die gleiche Chance, in die Willensbildung einzugreifen. Jeder Versuch, irgendeiner Partei die gleiche Chance zur Handhabung des Legalitätssystems zu entziehen, wird als illegal und verfassungswidrig erklärt, auch wenn diese Partei verfassungsfeindlich ist. Die Wertneutralität des Legalitätssystems kann keine Grenze der Verfassungsänderung ziehen. Solange eine Partei auf legale Weise über die für die Verfassungsänderung erforderliche Mehrheit verfügt, kann sie nach ihrem Wunsch verfassungsändernde Gesetze beschließen, ohne Rücksicht auf die Frage, ob das Gesetz „verfassungsmäßig“ ist. Schmitt hat also nach 1930 mehrmals den „Notschrei“115 gegen die politische Konsequenz aus der Wertneutralität des Rechtspositivismus gegeben. Er sagt: „Diese herrschende Auffassung des Art. 76 nimmt der Weimarer Verfassung ihre politische Substanz und ihren „Boden“ und macht sie zu einem gegenüber jedem Inhalt indifferenten, neutralen Abänderungsverfahren, das namentlich auch der jeweils bestehenden Staatsform gegenüber neutral ist. Allen Parteien muß dann gerechterweise die unbedingt gleiche Chance gegeben werden, sich die Mehrheiten zu verschaffen, die notwendig sind, um mit Hilfe des für Verfassungsänderungen geltenden Verfahrens ihr angestrebtes Ziel – Sowjet-Republik, Nationalsozialistisches Reich, wirtschaftsdemokratischer Gewerkschaftsstaat, berufsständischer Korporationsstaat, Monarchie alten Stils, Aristokratie irgendwelcher Art – und eine andere Verfassung herbeizuführen. Jede Bevorzugung der bestehenden Staatsform oder gar der jeweiligen Regierungsparteien, sei es durch Subventionen für 114 Schmitt stellt eine besondere Definition des Pluralismus auf: „Pluralismus dagegen bezeichnet eine Mehrheit festorganisierter, durch den Staat, d. h. sowohl durch verschiedene Gebiete des staatlichen Lebens, wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder und die autonomen Gebietskörperschaften hindurchgehender, sozialer Machtkomplexe, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein.“ Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 71. 115 Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S. 345.
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
Propaganda, Unterscheidungen bei der Benutzung der Rundfunksender, Amtsblätter, Handhabung der Filmzensur, Beeinträchtigung der parteipolitischen Betätigung oder der Parteizugehörigkeit der Beamten in dem Sinne, daß die jeweilige Regierungspartei den Beamten nur die Zugehörigkeit zur eigenen oder den von ihr parteipolitisch nicht zu weit entfernten Parteien gestattet, Versammlungsverbote gegen extreme Parteien, die Unterscheidung von legalen und revolutionären Parteien nach ihrem Programm, alles das sind im Sinne der konsequent zu Ende gedachten, herrschenden Auffassung des Art. 76 grobe und aufreizende Verfassungswidrigkeiten.“116
Es ist klar, dass Schmitt schon vor 1933 große Sorge um die Unbeschränktheit der im Art. 76 der Weimarer Verfassung vorgesehenen Befugnis zur Verfassungsänderung hatte. Der Weimarer Verfassung fehlten die Vorschriften zur materiellen Beschränkung der Verfassungsänderung. Bedeutet das aber Zulässigkeit von totalen Verfassungsänderungen bis zur Verfassungsaufhebung oder von Verfassungsdurchbrechungen? Einerseits versteht es sich von selbst, dass eine Verfassungsänderung prinzipiell etwas anderes als eine Verfassunggebung ist und keinesfalls mit Verfassunggebung vermischt werden kann. Deswegen geht eine erhebliche oder totale Änderung über die für die Verfassung zulässige Kompetenz hinaus. Wenn die Legislative jedoch beliebig die Verfassung durchbrechen kann, bedeutet das, dass sie eine unkontrollierbare und der Verfassung überlegene Gewalt in Besitz nimmt, was aber das Prinzip des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung aufs Schärfste verletzt. In diesem Fall übertritt der Reichstag seine verfassungsmäßigen Kompetenzen. Sein Handeln kann sich dann nur mit der souveränen Diktatur auf Grundlage der verfassunggebenden Gewalt begründen, wie die verfassunggebende Nationalversammlung sie vor dem Inkrafttreten der Verfassung ausgeübt hat. Nur so kann begründet werden, dass der Reichstag Gesetze beschließt, die gegen die Verfassung verstoßen oder sogar das Prinzip der Gewaltenteilung verletzen. Der Reichstag ist allerdings keine verfassunggebende Nationalversammlung117; er ist auch keineswegs be116 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 113. In seiner Schrift „Legalität und Legitimität“ zitiert Schmitt wieder den im „Hüter der Verfassung“ erschienenen Absatz und warnt vor der „Neutralität bis zum Selbstmord“ der Weimarer Verfassung: „Bei Anschütz dagegen geht die Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst und bietet den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst, sie geht also in ihrer Neutralität bis zum Selbstmord. Voraussetzungs- und bedingungslos wird alles legal, was im Wege des einfachen oder des verfassungsändernden Gesetzes beschlossen wird, und zwar wirklich, wie Anschütz selbst sagt, ‚alles ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite‘.“ Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S. 301 f. 117 Während der Nationalversammlung von 1919 ergingen drei Gesetze, die die Regierung ermächtigten zur Regelung der Folgen des Verlusts Elsaß-Lothringens, der Durchführung von Waffenstillstandsbestimmungen und zu Zwecken der Übergangswirtschaft. Nach Schmitts Theorie verletzte die Ermächtigung der Nationalver-
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte109
rechtigt, eine souveräne Diktatur auszuüben, wenn die Verfassung noch gilt. Wie Schmitt meint: „Wenn die Jakobiner in Leben, Freiheit und Eigentum ihrer politischen Gegner eingriffen, so taten sie das ausdrücklich als ‚revolutionäre Regierung‘, sie suspendierten vorher ausdrücklich die Verfassung; sie stellten ihre politischen Gegner ausdrücklich außerhalb der Verfassung, außerhalb des Gesetzes, ‚hors la loi‘; sie sprachen ausdrücklich von Maßnahmen zum Unterschied von Recht, Gesetz und Richterspruch. Das Deutsche Reich ist heute wieder ein Verfassungsstaat. Was vorher, etwa im November 1918, als revolutionäre Maßnahme möglich war, kommt jetzt rechtlich nicht mehr in Betracht. Solange die Verfassung besteht, darf keine Verfassungspartei revolutionäre Maßnahmen, gleichgültig in welcher Form, treffen. Prinzipiell revolutionäre Parteien können natürlich, ohne sich selbst zu widersprechen, solche Maßnahmen fordern; sie haben sogar ein politisches Interesse daran, weil sie ihre verfassungsauflösende Konsequenz kennen. Parteien dagegen, welche die Weimarer Verfassung ernst nehmen, sind auch politisch gebunden und widersprechen sich selbst, wenn sie heute das nachholen wollen, was sie vor dem Inkrafttreten der Verfassung versäumt zu haben glauben. Heute herrscht nicht mehr der Revolutionszustand der Monate November 1918 bis Februar 1919; es besteht auch nicht mehr die souveräne Diktatur einer Verfassunggebenden Nationalversammlung. Seit fast sieben Jahren gilt in Deutschland die Weimarer Verfassung.“118
Schmitt weist zurecht darauf hin, dass innerhalb einer geltenden Verfassung keine souveräne Diktatur zustande kommen darf, da diese sich auf den Revolutionszustand bezieht. Nimmt man die Weimarer Verfassung noch ernst, dann ist zu fragen, wie die Verfassungsänderung theoretisch zu bestimmen und zu begrenzen ist.
B. Umdeutung des pouvoir constituant und der Kampf gegen revolutionäre Kräfte Der nach 1923 unternommene Versuch der revolutionären Parteien, auf legale Weise die Umwandlung der gesamten Verfassung anzustreben, kann für Schmitt nur durch die souveräne Diktatur begründet werden. Während diese auf eine „Revolution“ zielende souveräne Diktatur drohte, mangelte es aber der formalen Legalität offenkundig an Abwehrkraft gegen die verfassungsmäßige „legale Revolution“119, so dass Verfassungsgesetze die von sammlung zwar das Prinzip der Gewaltenteilung, sie war aber als souveräne Diktatur vor dem Inkrafttreten der Verfassung notwendig und zugelassen, wohingegen der Reichstag als ein verfassungsmäßiges Organ das nicht hätte tun können. 118 Schmitt, Unabhängigkeit der Richter, S. 26 f. 119 Der Begriff „legale Revolution“ entstammt Triepels Artikel in Bezug auf die „nationale Revolution“ der NSDAP im Jahr 1933. Vgl. Heinrich Triepel, Die nationale Revolution und die deutsche Verfassung, in: Deutsche Allgemeine Zeitung,
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
politischen Interessen motivierte Verwandlung von Kompromissen innerhalb der Verfassung zu neuen politischen Grundentscheidungen nicht bändigen konnten. Dies hatte Schmitt vor Augen, als er seine warnenden Schriften in den 1920er Jahren verfasste. Sieyès stand vor dem schwierigen Umstand, dass die Gerichtsbarkeit den Anspruch des Dritten Standes auf verhältnismäßige Repräsentation blockierte. Um diese Blockade aufzuheben, räumte er den Repräsentanten des Dritten Standes die Ausübung der über die Legalität erhobenen verfassunggebenden Gewalt ein. Allerdings unterschied Sieyés Verfassungsänderung nicht von Verfassunggebung, die verfassungsändernde Gewalt nicht von der verfassunggebenden Gewalt. Nicht nur die verfassunggebende Nationalversammlung, sondern auch ein verfassungsänderndes Organ konnte behaupten, dass es eben die verfassunggebende Gewalt ausübte. Wenn aber ein verfassungsmäßiges verfassungsänderndes Organ über den pouvoir constituant des Volkes zu verfügen vermochte, konnte die Stabilität und Kontinuität der Verfassung schwerlich gewährleistet werden. Das Auftreten dieser aus dem verfassungsändernden Organ hervorgehenden Gefahr war in der Weimarer Zeit sogar sehr wahrscheinlich, weil man damals noch nicht der Auffassung war, dass die verfassunggebende Gewalt nicht nur anders als Verfassungsänderungsbefugnis, sondern auch dieser übergeordnet war. Schmitts Theorie richtet sich aber nicht gegen die Blockade, die aus dem bestehenden unzeitgemäßen Recht herrührt, wie das bei Sieyès der Fall war, sondern gegen den Machtmissbrauch des verfassungsändernden (und auch gesetzgebenden) Organs in Form einer umfassenden Verfassungsänderung. Dies ist ein entscheidender Unterschied zwischen Sieyès und Schmitt. Zur Aufrechterhaltung der Weimarer Verfassung musste aber ein theoretisches Arsenal zu Verfügung gestellt werden. Daher wies Schmitt auf das „Superlegale“ der Verfassung hin, um sie vor politischen Eingriffen und Verfassungsänderungen zu bewahren. An die Superlegalität der Verfassung schließt Schmitt die über die verfassungsgesetzliche Legalität erhabene Legitimität des Volkes an. In diesem Sinn konfrontiert Schmitt die revolutionären Parteien, da diese mit legalen Mitteln die von ihnen für legitim gehaltene Revolution zu erreichen suchen. Der Kernpunkt der Legitimitätsvorstellung Schmitts besteht in der verfassunggebenden Gewalt des Volkes.
72. Jg. 1933, Nr. 157, auszugsweise wiederabgedruckt in: Hirsch, S. 116–119. Dieselbe Einschätzung wiederholt Schmitt rückblickend in seinem 1978 erschienenen Artikel „Die legale Weltrevolution“ vgl. Schmitt, Die legale Weltrevolution.
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte111
I. Nationale Homogenität und der Begriff des Politischen Der Ausweg aus dem Problem, dass die verfassungsändernde Kompetenz des „allmächtigen“ Parlaments unbeschränkt ist, ist bei Schmitt in der Theorie der verfassunggebenden Gewalt zu finden. Als die Quelle der Verfassung sowie ihrer Legitimität gibt die verfassunggebende Gewalt im Moment der Verfassunggebung die grundsätzlichen Prinzipien vor, die auch die Befugnis zur Verfassungsänderung nicht überschreitet. Diese Prinzipien leiten sich nach Schmitt vom Volk ab, das als eine politische Einheit existiert. Das bedeutet, dass das Volk eine relativ feststehende und homogene Einstellung zu entscheidenden politischen Problemen hat, worauf die grundsätzlichen Prinzipien der Verfassung für die Gestaltung der politischen Ordnung gegründet sein sollen. Diese Prinzipien müssen sich von politischen Störungen und Herausforderungen frei machen. Insbesondere in dem Fall, dass der Gesellschaft verfassungsfeindliche Kräfte drohen, müssen diese politischen Prinzipien der politischen Einheit verteidigt werden. Je nach Sachlage ist das eventuell sogar dadurch zu verwirklichen, Verfassungsfeinde mit ihrer Intention zur Untergrabung der Verfassung und ihrer grundlegenden Prinzipien zu beseitigen und zu vernichten. So liegt bei Schmitt nahe, dass einer Verfassung eine politische Einheit vorausgeht. In diesem Sinn liegt der Begriff der politischen Einheit Schmitts Verfassungslehre zugrunde. Außerdem erscheint „der Begriff des Politischen“, in dem das Konzept der politischen Einheit zur Darstellung kommt, zur gleichen Zeit wie die „Verfassungslehre“.120 „Der Begriff des Politischen“ ist also für das vorliegende Thema als Antizipation der „Verfassungslehre“ und auch der Schriften in der Endphase der Weimarer Zeit aufzufassen, wie des „Hüter[s] der Verfassung“ und der „Legitimität und Legalität“. Hier ist also zunächst der „Begriff des Politischen“ näher zu betrachten. 1. Das Politische und der nicht überwundene Staatsbezug Böckenförde verweist schon darauf, dass in der kleinen Schrift Schmitts der Begriff des Staats noch im Zentrum steht, auch wenn ihr Titel „Begriff des Politischen“ lautet. Zugleich beobachtet er zu Recht, dass Schmitt noch 120 Böckenförde verweist z. B. darauf, „dass die ‚Verfassungslehre‘ und die erste Fassung des ‚Begriffs des Politischen‘ etwa zu gleicher Zeit entstanden sind. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn sich das Konzept des ‚Begriffs des Politischen‘ in der ‚Verfassungslehre‘ niederschlägt und sie trägt, obwohl das in ihr nicht ausdrücklich näher erklärt wird.“ Siehe Böckenförde, Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, S. 286 f.
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
den Staat als den entscheidenden Träger des Politischen ansieht. Was in seiner Denkweise neu und wichtig wird, ist sein Versuch, den bereits in Frage gestellten Staat seine Überlegenheit und Spezifik wieder gewinnen zu lassen, indem das Wesen des Politischen und das Verhältnis des Staates zum Politischen neu bestimmt werden. Schmitts Überlegung geht von der Frage aus, wie man in einem Zeitalter, wo Staat und Gesellschaft sich gegenseitig durchdringen, den Staat und die Staatlichkeit begreifen kann. Es zeigt sich, dass der Staat, weil die im 19. Jahrhundert noch erkennbare Grenze zwischen Staat und Gesellschaft durch den Zusammenbruch der Monarchie durchbrochen wurde, seine Überlegenheit über die Gesellschaft allmählich verliert. Der Staat wird zu einer Größe, die nur neben anderen sozialen Größen, aber keinesfalls über diesen besteht. Daraus folgt, dass die Gleichsetzung des Staatlichen und Politischen nicht mehr für selbstverständlich gehalten wird. Im 19. Jahrhundert hatte der Staat noch das Monopol des Politischen, daher konnte das Politische auch noch vom Staat her verstanden werden. Vor diesem Hintergrund formuliert Jellinek den Satz: „ ‚Politisch‘ heißt ‚staatlich‘; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht.“121 Wenn aber der Staat seine unabhängige Stellung gegenüber der Gesellschaft verliert und insofern alle sozialen Angelegenheiten zu staatlichen verwandelt werden können, ist Staat nicht mehr die fundamentale Kategorie, von der her das Politische deutlich zu bestimmen ist. Dagegen stellt Schmitt mit der umgekehrten Formulierung das Verhältnis zwischen Staat und dem Politischen dar: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ Der Begriff des Staates sollte also vom Begriff des Politischen her definiert werden. In diesem Sinn besteht die Besonderheit des Staates, anders als alle anderen gesellschaftlichen Teilbereiche, darin, dass der Staat eine politische Einheit ist. Diese Bestimmung impliziert, dass nur wenn das Wesen des Politischen dargestellt ist, erst zu verdeutlichen ist, warum der Staat als eine politische Einheit die maßgebliche Einheit vor anderen sozialen Organisationen ist. Schmitt selber fragte, „aus welchem Grunde die Menschen dazu kommen, neben den religiösen, ökonomischen und anderen Assoziationen auch noch politische Assoziationen zu bilden, und worin der spezifisch politische Zweck dieser Assoziationen besteht.“122 Diese Frage zielt auf das Kriterium des Politischen ab. Schmitt weist darauf hin, dass das Politische ein spezifisches Kriterium hat, das im Unterschied zu denen der anderen Sachgebiete steht. Beispielsweise liegt das Kriterium des Moralischen in der Unterscheidung Gut und Böse, des Ästhe121 Jellinek,
S. 180. Der Begriff des Politischen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1927, S. 14. Im Folgenden: „Begriff des Politischen I“. 122 Schmitt,
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte113
tischen in Schön und Hässlich, des Ökonomischen in Nützlich und Schädlich; das Politische ist hingegen aus der Unterscheidung von Freund und Feind abgeleitet, auf welche sich alle politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen können.123 Der in der Freund-Feind-Formel dargestellte Feind ist mit drei Eigenschaften gekennzeichnet: Zum ersten: Der Unterschied zwischen Freund und Feind ist selbstständig von Gegensätzen anderer Sachgebiete, kann und soll nicht mit anderen Gegensätzen verwechselt und vermischt werden. Der politische Feind ist nur im seinsmäßigen Sinn des Lebens „etwas anderes und Fremdes“, das im extremen Konfliktfall die Existenz der „Ich-Gruppe“ gefährdet. Wenn dies der Fall ist, muss die Existenz der „Ich-Gruppe“ durch den Kampf gegen den politischen Feind bewahrt werden. Insofern hebt Schmitt hervor: „Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. […] Infolgedessen gilt auch umgekehrt: was moralisch Böse, ästhetisch Häßlich oder ökonomisch Schädlich ist, braucht deshalb noch nicht Feind zu sein; was moralisch Gut, ästhetisch Schön und ökonomisch Nützlich ist, wird noch nicht zum Feind in dem spezifischen d. h. politischen Sinn des Wortes.“124
Zweitens, sowohl der Feind als auch der Unterschied zwischen Freund und Feind müssen im Kampf verstanden werden, der, so Schmitt, sich immer auf den bewaffneten Krieg, d. h. die „physische Tötung von Menschen“ beziehe und „nicht Konkurrenz, nicht den ‚rein geistigen‘ der Diskussion, nicht das symbolische ‚Ringen‘ “ bezeichnet, obwohl aus jedem Streit oder jeder Konkurrenz auch eine Feindschaft hervorgehen kann. Schmitt richtet seine Aufmerksamkeit nur auf „die äußerste Realisierung der Feindschaft“, aus der sich der Krieg als die „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ ergibt.125 Dagegen ordnet er dem privaten Bereich die nur im alltäglichen Leben erscheinenden Konflikte zu, die einen anderen Sinn haben als den des Unterschieds zwischen Freund und Feind und daher unpolitisch sind. Zuletzt: Nach dem Begriff des Feinds, der immer in Verbindung mit bewaffnetem Krieg steht, muss der Feind als der öffentliche Feind aufgefasst werden. D. h., „der öffentliche Feind“ ist vor allem als der Feind der ganzen Gemeinschaft zu verstehen, der nur im Kampf einer Gruppe gegen eine andere entsteht.126 Insofern erscheint der Feind in der Form der „Gruppierung“. 123 Schmitt, Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, S. 26. Im Folgenden: „Begriff des Politischen“. 124 Ebd., S. 27 f. 125 Ebd., S. 33. 126 Ebd., S. 29. Schneider macht aufmerksam auch darauf: „Subjekte des politischen sind also nicht einzelne, sondern menschliche Gesamtheiten. Der politische Gegensatz als der äußerste Gegensatz ist nicht eine Gegensatz zwischen einzelnen,
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
Der Feind ist wesenhaft eine Gesamtheit, die einen Krieg zu führen vermag. Im Krieg steht der Feind als eine Gruppe der bekämpften Gruppe, der FreundGruppe, gegenüber und kann sie von außen oder von innen gefährden. Aus dieser Ansicht schließt Schmitt die Möglichkeit aus, dass ein Individuum als „Feind“ bezeichnet werden kann. Hiermit gilt die Freund-Feind-Unterscheidung als ein „Organisationsprinzip“ der Gruppierung, nach dem die zwei gegeneinander kämpfenden Parteien kriegsfähige Gruppen sein sollen. Dass sich die Feindschaft irgendwann zum Krieg radikalisiert und dann die „Ich-Gruppe“ bedroht, bezeichnet Schmitt als eine unumgängliche Tatsache. Er hebt aber auch wiederholt hervor, dass der Krieg nicht unbedingt ausbreche, aber die Wahrscheinlichkeit der „reale[n] Möglichkeit der physischen Tötung“ in der realen Welt immer vorhanden und nicht zu ignorieren sei.127 Da der Kampf immer wahrscheinlich sei, werden das Politische und die politische Entscheidung, nämlich die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, notwendig. Schmitts Konzeption des Politischen ist derart eng mit der Vorstellung von feindlichen Gegensätzen bis hin zum tödlichen Kampf verbunden, dass er feststellt: „Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz und jede konkrete Gegensätzlichkeit ist umso politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte, der Freund-Feindgruppierung, nähert.“128 Aufgrund des Arguments, dass sich das Politische auf den Krieg und daher eben auf die Existenz der Angehörigen sowie der Gemeinschaft, der sie angehören, beziehen müsse, ist das Politische für Schmitt wesentlich die ausschlaggebende Größe, die seinsmäßig über anderen Sachgebieten und nicht neben ihnen steht.129 Außerdem ist die Politik zwischen den als kriegsführenden Subjekte geltenden Staaten auch vorrangig vor der innerstaatlichen Politik. Weil die letztere, die auf die innerstaatliche Tagespolemik insbesondere zwischen gegensätzlichen Parteien bezogen ist, vom bewaffneten Kampf entfernt ist, ist sie „durch die Existenz der alle Gegensätze umfassenden politischen Einheit des Staates“ relativiert.130 Eben aus diesem Grund verneint Schmitt, dass die innerstaatliche Politik das immer mit dem realen Kampf zusammenhängende Politische ersetzen und entscheidende Bedeutung erlangen kann. Er warnt jedoch auch vor, dass die innerstaatlichen Gegensätze sich radikalisieren und zu einer ebenso starken Intensität wie die der außenpolitischen Gegensätze steigern könnten. Wenn dies aber der Fall wäre, d. h., wenn „innerhalb eines Staates die parsondern zwischen Gruppen. […] Subjekte des politischen Konfliktes sind Staaten.“ Siehe Schneider, Ausnahmezustand und Norm, S. 243. 127 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 33 f. 128 Ebd., S. 30. 129 Ebd., S. 39. 130 Ebd., S. 30.
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte115
teipolitischen Gegensätze restlos ‚die‘ politischen Gegensätze“ würden, dann beziehe sich das „Primat der Innenpolitik“ nur auf den Bürgerkrieg.131 Bemerkenswert ist, dass sich Schmitts Konzeption, die das Politische mit dem Krieg so stark verflechtet, nicht eigentlich vom Staat verabschiedet. Umgekehrt rückt Schmitt den Staat indirekt und auf Umwegen in den Mittelpunkt seiner Konzeption. Im ersten Schritt trennt Schmitt die Staatlichkeit vom Politischen ab, aber im zweiten Schritt verbindet er die beiden wieder miteinander.132 Wenn der Krieg als die physische Vernichtung menschlichen Lebens im existentiellen Sinn nicht völlig zu vermeiden ist, wenn das im Krieg wahrnehmbare Verhältnis zwischen Freund und Feind als der grundsätzliche Moment betrachtet wird, dann ist der Staat selbst die grundsätzliche und maßgebende Einheit, weil Schmitt ihn als das primäre Subjekt der Kriegführung hinstellt. Eben von daher bestimmt Schmitt den Staat als die politische Einheit, die nach Innen über andere gesellschaftliche Assoziationen hinaus die Macht zur Kriegführung monopolisieren, nach Außen das jus belli in Besitz nehmen soll. Der Krieg muss, betont Schmitt, vom Inneren eines Staates ausgeschlossen und auf die zwischenstaatliche Ebene beschränkt werden. Demnach kann nur der Staat und nicht irgendeine Gruppe oder Organisation innerhalb eines Staates das Recht und die Fähigkeit haben, Krieg zu führen und Freund und Feind zu unterscheiden.133 Nur in diesem Sinn ist der souveräne Charakter des Staates als einer politischen Einheit verständlich und die Assoziationen innerhalb des Staates sind deshalb politisch sekundär. Wenn der Staat nicht das Monopol des jus belli und des Politischen hat und andere gesellschaftliche Organisationen zu Konkurrenten im politischen Bereich werden, dann steht der Bürgerkrieg bevor. Aufgrund der Kompetenz zur Kriegführung und Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist die politische Einheit souverän; sie ist „notwendig entweder die für die Freund- oder Feindgruppierung maßgebende Einheit und in diesem (nicht in irgendeinem absolutistischen) Sinne souverän, oder sie ist überhaupt nicht vorhanden.“134 Parallel dazu gehört dem Staat immer das jus belli, kraft dessen der Staat sogar „über das Leben von Menschen“ verfügen kann. „Denn das jus belli enthält eine solche Verfügung; es bedeu131 Ebd.,
S. 32. in der Fassung des Begriffs des Politischen von 1927 wie auch der von 1932 gelingt es Schmitt nicht, Abschied vom Staat zu nehmen. In der Weimarer Phase legte Schmitt auf die Staatlichkeit noch Gewicht. Seine Intention geht vielmehr dahin, auf mittelbare Weise den Staat als eine politische Einheit und seine souveräne Stellung zu rechtfertigen. Darauf haben Forschungen bereits verwiesen. Dazu vgl. Schönberger, S. 23 f.; Gerhardt, S. 216 f.; Christian Meier, S. 542, 548. 133 Siehe Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 34. Dazu auch Schneider, Ausnahmezustand und Norm, S. 33 f. 134 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 40. 132 Sowohl
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
tet die doppelte Möglichkeit: von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten.“135 Ausgehend von dem Feind und dem aus der Feindschaft herrührenden Ausnahmezustand, nämlich dem Kriegszustand, versucht Schmitt, ebenso wie Hobbes, die Notwendigkeit des Staates zu rechtfertigen. Aber zwischen den beiden Theoretikern besteht auch eine offenbare Differenz. Wie Strauss gezeigt hat, beabsichtigt Hobbes vor allem den Kriegszustand zwischen den Individuen, den Kampf aller gegen alle, zu beseitigen oder zumindest den blutigen Naturzustand aus dem Innern des Staates zu verbannen. Hier befiehlt der Staat den Individuen zwecks der Selbsterhaltung des Einzelnen zu gehorchen, denn die Sicherung des Lebens ist der letzte Grund des Staates. Hingegen widerspricht Schmitt mit dem Kriegszustand zwischen Freundund Feind-Gruppe nur der Verneinung des Politischen und versucht zu begründen, dass der Staat nicht nur den Gehorsam der Angehörigen, sondern auch ihre Todesbereitschaft für sich in Anspruch nehmen darf. Der Unterschied von Schmitt und Hobbes liegt eigentlich darin, dass sich Schmitts Begriff des Politischen ursprünglich eher auf den zwischenstaatlichen Krieg als auf den innerstaatlichen Bürgerkrieg bezieht.136 Dass Schmitt das Politische überwiegend von der Außenpolitik und der Möglichkeit des Krieges zwischen den Staaten her begreift, ist in der Erstfassung vom Begriff des Politischen von 1927 auffallend.137 Dort stellt Schmitt nicht ausführlich die innerstaatliche Politik dar, sondern betrachtet den Staat einfach als eine den gesellschaftlichen Organisationen überlegene politische Einheit. Er möchte eigentlich begründen: Ein unabhängiges und freies Volk solle mit dem Merkmal gekennzeichnet werden, dass es das jus belli habe, daher in den internationalen Beziehungen nicht auf die Unterscheidung zwischen Freund und Feind verzichten oder das Recht solcher Unterscheidung anderen Staaten übergeben könne.138 Betrachtet man Schmitts Schriften in den 20er Jahren in Bezug auf die internationalen Beziehungen näher, ist unschwer zu erkennen, dass dazu auch der Begriff des Politischen gehört. In der Reihe seiner außenpolitischen Beiträge, die den Versailler Vertrag, die Rheinlandbesetzung und den Völkerbund behandeln, übt Schmitt Kritik S. 46. Auch Schmitt, „Begriff des Politischen I“, S. 15. S. 107. 137 Schönberger, S. 33; Heinrich Meier, S. 29, 33. 138 Im 5. Abschnitt des Begriffs des Politischen kann man bemerken, dass in der ersten Fassung keine Rede von dem „inneren Feind“ und der hors-la-loi-Setzung ist. Erst in der dritten Fassung von 1932 findet sich die Ausführung in Bezug darauf. Dazu vgl. Schmitt, Begriff des Politischen I, S. 15 ff.; Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 46 ff. 135 Ebd.,
136 Strauss,
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte117
an der Einschränkung der Souveränität Deutschlands nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Zum einen wirft er dem Völkerbund eine politische Absicht vor und behauptet, die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wollen eigentlich nicht ihre Souveränität einer völkerrechtlichen Ordnung unterstellen, sondern durch völkerrechtliche Rechtssetzung und internationale Organisation ihre politische, militärische und wirtschaftliche Übermacht behalten.139 Dementsprechend werde die geschwächte Stellung Deutschlands völkerrechtlich festgelegt. Zum anderen stellt Schmitt den Versuch des Völkerbunds, mit Krieg andere Kriege zu verhindern, in Frage. Nach seiner Ansicht sei diese „Kriegsaufhebung“ keineswegs die endgültige Lösung des Krieges. Vielmehr umgekehrt: „Er [der Völkerbund, S. Y.] führt neue Möglichkeiten von Kriegen ein, erlaubt Kriege, fördert Koalitionskriege und beseitigt eine Reihe von Hemmungen des Krieges dadurch, daß er gewisse Kriege legitimiert.“140 Schmitt sieht folglich in Gerechtigkeit und Krieg zwei voneinander getrennte Begriffe und betont, der sogenannte „gerechte Krieg“ diene oft zu einem bestimmten politischen Zweck. Der Sinn des Kriegs bestehe aber nur in der eigenen Existenz eines Volkes. Somit solle ein Volk das eigene jus belli weder in die Hände anderer – wie des Völkerbundes – geben noch scheinbar gerechten Normen oder Verträgen unterstellen, ansonsten werden andere entscheiden, wer der Feind sei und bekämpft werden solle.141 Ein Staat werde, sofern seine Unterscheidung von Freund und Feind an einen Vertrag oder eine Norm gebunden sei, nicht mehr souverän. Er verliere folglich seine politische Existenz und unterwerfe sich selbst der Herrschaft eines anderen Volkes: „der Schutzherr bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam.“142 Darüber hinaus hält Schmitt einen universalen globalen „Staat“ für unmöglich, so dass er der verbreiteten Meinung widerspricht, die im Völker139 Schmitt, in: Positionen und Begriffe, S. 42 f. Im Weiteren führt Schmitt so aus: „Würde durch Artikel 10 der durch die Friedensverträge, insbesondere durch den Vertrag von Versailles geschafftene status quo garantiert, so wäre der Völkerbund wirklich nichts anderes als ein Instrument zum Schutz der Sieger von Versailles und zur Legalisierung ihrer Beute.“ Siehe Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes (1926), S. 97. 140 Schmitt, Begriff des Politischen I, S. 21. Schmitt hebt auch hervor, dass bei derjenigen Verrechtlichung des status quo nur ein unbestimmter Zwischenzustand von Krieg und Frieden geschaffen worden sei, in dem die Siegermächte die Unterscheidung von Krieg und Frieden verwischt haben. Dann können sie nach Belieben entscheiden, ob eine Aktion, von sich selbst oder ihren Gegnern, die internationale Verträge verbrechende Kriegsführung oder zulässige „friedliche“ Maßnahme sei, wie Frankreich es bei der Ruhrbesetzung getan habe. Schmitt, in: Frieden oder Pazifismus?, S. 7; Schmitt, in: Positionen und Begriffe, S. 35 ff. 141 Schmitt, Begriff des Politischen I, S. 17 f. 142 Ebd., S. 18.
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
bund das Ideal zur Gründung des universalen Weltstaates sieht. Denn wenn Schmitt vom Krieg her das Politische bestimmt, ist die Politik immer die Angelegenheit, bei der es um den Gegensatz zwischen Freund und Feind geht. Dies setzt das Vorhandensein des Feindes voraus. Als die kriegsfähige Gruppe monopolisiert der Staat das Politische und ist nach Innen souverän; nach Außen steht er unbedingt anderen politischen Einheiten gegenüber. Aus dieser Sicht ist die Welt des Politischen ein Pluriversum, kein weltliches Universum; in diesem Pluriversum entstehen mehrere Staaten als politische Einheiten.143 Schmitt stellt fest, diese herrschende Meinung verändere nichts daran, dass der Völkerbund wesentlich diejenige Einrichtung sei, die auf der Grundlage des Staates als solches entstehe, denn er „regelt einige ihrer gegenseitigen Beziehungen und garantiert sogar ihre politische Existenz“. Er sei daher nur „zwischenstaatlich“ aber keine solche „internationale“ Organisation, die, „über die Grenzen der Staaten hinweg- und durch ihre Mauern hindurchgehend, die bisherige territoriale Geschlossenheit, Undurchdringlichkeit und Impermeabilität der bestehenden Staaten ignorieren“ kann.144 Nach Schmitts Bestimmung des Politischen könne der Völkerbund dann weder den Staat noch das jus belli des Staates aufheben. Der Völkerbund und das ihm zugrundliegende universale Ideal seien lediglich eine nicht verwirklichbare Vorstellung. Zusammenfassend soll die erste Fassung des Begriffs des Politischen im Rahmen des Kampfs gegen Genf und Versailles verstanden werden. Mittels der mehrfachen Funktion der akzentuierten Unterscheidung zwischen Freund und Feind145 setzt Schmitt sich offenbar mit dem „System von Genf“ auseinander und mit der pazifistischen Hoffnung in Deutschland, „der Völkerbund werde durch seine Organe und Beschlüsse das staatliche jus belli überflüssig machen und einseitiger Gewaltverzicht den Frieden bewahren“146. Von daher ist verständlich, warum Schmitts Versuch der Verabschiedung des 143 Ebd.,
S. 19. S. 20 f. Dagegen setze der Völkerbund, laut Schmitt, Staaten als solche voraus und garantiere den status quo der heutigen staatlichen Grenze. 145 Quaritsch verweist darauf, dass Schmitts Unterscheidung zwischen Freund und Feind außenpolitisch eine dreifache theoretische sowie polemische Funktion enthält: „(1) Im Frieden sind diejenigen Staaten als ‚Feind‘ zu erkennen, die mit den Mitteln des Völkerrechts – z. B. mit dem Versailler Vertrag – und internationalen Organisationen – z. B. mit dem Völkerbund – den unterlegenen Kriegsgegner dauernd niederhalten und eine Revision des ungerechten Friedensvertrages verhindern wollen. (2) Die Bestimmung des Feindes ist Kennzeichen der Souveränität; wer sich den Feind von einer internationalen Organisation vorschreiben läßt, ist nicht mehr souverän. (3) Krieg darf nur gegen den eigenen Feind geführt werden, kriegerischer Feind ist nur, wer uns die Freiheit nehmen oder eine andere Verfassung aufzwingen will.“ Siehe Quaritsch, Positionen und Begriffe, S. 67. 146 Ebd., S. 65. 144 Ebd.,
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte119
Staates halbherzig ist. Denn der Staat bleibt in den Internationalen Beziehungen das unersetzbare Subjekt der Kriegführung. Wenn Schmitt sein Denken an der Außenpolitik orientiert, sieht er notwendig im Staat den Kern des Politischen. An dieser Stelle ist der Begriff des Politischen nur ein theoretisches Mittel zu Rechtfertigung der Notwendigkeit und Unabhängigkeit des Staates. 2. Homogenität des Volkes als die Voraussetzung der Verfassung Nachdem die erste Auflage erschienen war, stieß der an Außenpolitik orientierte Begriff des Politischen bereits auf heftige Kritik. Hermann Heller wies schon 1928 mit Recht darauf hin, dass es sich bei Schmitts Definition des Politischen nur um die Beziehung zwischen Staaten handele: „Gar nicht gesehen ist von Carl Schmitt die Sphäre der innerstaatlichen Einheitsbildung als Politik.“ Aus diesem Grund sieht Schmitt „nur den fertigen politischen Status; dieser ist aber nichts Statisches, sondern ein täglich neu zu Gestaltendes […]“.147 Willensbildung innerhalb einer politischen Einheit steht zu jener Zeit noch nicht im Zentrum des Begriffs des Politischen. Später aber verlagert sich Schmitts Konzeption des Politischen allmählich vom außenpolitischen in den innenpolitischen Bereich, womit er das aktive staatliche Handeln zur Aufrechterhaltung der Homogenität einer politischen Einheit forderte. An dieser Stelle wurde das Politische nicht als ein eigenes neben anderen Sachgebieten bezeichnet, sondern meint „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation“. Alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder anderen Unterscheidungen können sich in diesem Intensitätsmodell gegebenenfalls zum Politischen wandeln, sofern die daraus resultierende Intensität einer Verbindung oder Trennung sich bis zur Freund-Feindgruppierung erheben.148 Das Politische kann aus jedem Sachgebiet Kraft beziehen; alles ist auch potenziell politisch. Das impliziert, dass sich gesellschaftliche Gegensätze gegebenenfalls zum Bürgerkrieg radikalisieren und dadurch diesen grundsätzlichen politischen Sinn erhalten könnten. Anders als in der Außenpolitik, in der der Staat seinen Angehörigen, wenn notwendig, ihr Leben für die Existenz und Unabhängigkeit des Staates zu opfern befiehlt, besteht die Rolle eines Staates innenpolitisch, so Schmitt, vor allem darin, den möglicherweise auszubrechenden Bürgerkrieg zu vermeiden, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung beizubehalten: 147 Heller,
Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 425. Der Begriff des Politischen, S. 29, 33. Dazu auch Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 111. 148 Schmitt,
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„Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizu füh ren, ‚Ruhe, Sicherheit und Ordnung‘ herzustellen und dadurch die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, daß Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann.“149
Dadurch nimmt Schmitt den Kern des modernen Staates wieder in den Blick. Davon ist in Böckenfördes Text „Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“ die Rede. Dort weist Böckenförde mit Recht darauf hin, dass Schmitts grundlegendes Argument, der Staat sei eine politische Einheit, bedeutet: Die politische Einheit „grenzt sich nach außen von anderen politischen Einheiten ab, innerhalb ihrer verbleiben aber alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen unterhalb der Ebene einer Freund-Feind-Gruppierung“.150 Der Zweck des Staates besteht darin, dass er nach Außen Bedrohung oder Angriff äußerer Feinde widerstehen und nach Innen die latente oder offene Bürgerkriegslage, die sich aus verschärften Gegensätzen und Spannungen entwickelt, verhindern soll. In diesem Punkt ist vor allem die staatliche Friedensordnung hervorgehoben, die der Staat als eine Einheit mit Gewaltmitteln zumindest im Innern fortlaufend gewähren sollte. Dies entspricht dem etatistischen Grundzug, der sich durch Schmitts Gedanken von der „Diktatur“ über die „politische Theologie“ bis „Begriff des Politischen“ durchzieht. Ein Jahr nach dem Erscheinen des Begriffs des Politischen wiederholt Schmitt in der Verfassungslehre die Freund- und Feindgruppierung. Hier verweist er zu Recht darauf, dass die Freund- und Feindgruppierung seit dem 19. Jahrhundert vor allem zwischen Nationalstaaten auftritt, was die Grundlage der politischen Ordnung seit dem 19. Jahrhundert bildet. Als die fundamentale politische Einheit ist ein Nationalstaat souverän. Er monopolisiert, wie oben erwähnt, nach Außen und Innen das Recht zur Kriegführung. Aufgrund der nationalen Homogenität in einem Staat reduziert sich die Möglichkeit des Bürgerkriegs. Dadurch wird Frieden abgesichert. So führt Schmitt aus: „Das Nationalitätsprinzip wird auf diese Weise die Voraussetzung des Friedens und die ‚Grundlage des Völkerrechts‘.“151 Außer149 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 46. Dazu auch Schmitt, Hugo Preuss, S. 46 Anm. 1. 150 Böckenförde, Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, S. 285. 151 Schmitt, Verfassungslehre, S. 231. Zu beachten ist, dass Schmitts Definition der Nation weniger von biologischen Elementen abhängt als vom Gefühl einer besonderen Zusammengehörigkeit. Er sagt deutlich: „Nation bedeutet gegenüber dem allgemeinen Begriff Volk ein durch politisches Sonderbewußtsein individualisiertes Volk. Zur Einheit der Nation und zum Bewußtsein dieser Einheit können verschiedene Elemente beitragen: gemeinsame Sprache, gemeinsame geschichtliche Schick-
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dem ist die Demokratie, so Schmitt, in einem Nationalstaat auch auf die homogene Nation als eine faktische Größe angewiesen. Eine Nation mit politischem Bewusstsein ist in der Lage, für sich selbst eine positive Verfassung zur Regelung ihrer politischen Ordnung und Form zu geben.152 Insofern legt die Verfassung auch fest, was für sie der Normalzustand ist. Unter Umständen können innerstaatliche Störer vorkommen, die die Ordnung des Staates gewaltsam bedrohen. In diesem Fall muss der Staat zur innerlichen Befriedung den „inneren Feind“ bestimmen und ihn zu diesem erklären. Schmitt betont, es gebe in jedem Staat irgendeine Form der innerstaatlichen Feinderklärung, die in unterschiedlicher Art und Weise den Feind innerhalb eines Staates bestimmt und erklärt – in einem konstitutionellen Rechtsstaat ist eben diese innerstaatliche Feinderklärung auch unvermeidlich. Was versteht man aber unter dem „innerstaatlichen Feind“? In Zusammenhang mit dem Bezug auf die innerstaatliche Feinderklärung gibt Schmitt durch Lorenz von Steins Ausführungen die Antwort darauf: Im Verfassungsstaat ist die Verfassung „der Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung, die Existenz der staatsbürgerlichen Gesellschaft selber. So wie sie angegriffen wird, muß sich daher der Kampf außerhalb der Verfassung und des Rechts, also mit der Gewalt der Waffen entscheiden.“153 Der innere Feind ist hier unverkennbar als der Verfassungsfeind zu verstehen, der die bestehende Verfassung nicht anerkennt und sie angreift. Dies ist nichts anderes als der kriegerische Konflikt zwischen dem Verfassungsfeind und den anderen, die die Verfassung bewahren. Da die Verfassung die grundsätzliche politische Ordnung einer Gemeinschaft regelt, sind Verfassungsfeinde selbstverständlich die Feinde der Gemeinschaft. Die Verfassungsfeinde, die nicht von grundlegenden Prinzipien der Verfassung überzeugt sind, stellen sich daher den Verfassungsfreunden sale, Traditionen und Erinnerungen. gemeinsame politische Ziele und Hoffnungen. Die Sprache ist dabei ein sehr wichtiger Faktor, aber nicht für sich allein ausschlaggebend. Maßgebend sind Gemeinsamkeit des geschichtlichen Lebens, bewußter Wille zu dieser Gemeinsamkeit, große Ereignisse und Ziele. Echte Revolutionen und siegreiche Kriege können die sprachlichen Gegensätze überwinden und das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit begründen, auch wenn nicht die gleiche Sprache gesprochen wird.“ Selbst wenn Schmitt in erster Linie in dem nationalen Bewusstsein die Homogenität sieht, gibt es möglicherweise auch andere Arten der Freundund Feindgruppierung. Z. B. hat der Bolschewismus den Versuch gemacht, die Unterscheidung zwischen Freund und Feind statt auf Grundlage der Nationalität durch den Begriff der Klasse vorzunehmen. Schmitt ist der Meinung, wenn dieser Versuch verwirklicht werde, entstehe nur eine neue Form der Unterscheidung zwischen Freund und Feind, die Unterscheidung von Bourgeoisie und Proletariat. Die Erscheinung der Freund- und Feindgruppierung werde aber nicht dadurch aufgehoben. 152 Siehe unten B. II. 2. 153 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 47.
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gegenüber. Insofern gewinnt die innerstaatliche Unterscheidung zwischen Freund und Feind den Sinn der Aufrechterhaltung der Verfassung, indem die Verfassungsgegner zu Feinden erklärt und vom Volk ausgeschlossen werden. Im politischen Kontext, dem die zweite Fassung des Begriffs des Politischen in einer Reihe mit Schriften wie Hüter der Verfassung und Legalität und Legitimität angehört154, meint Schmitt mit dem Verfassungsfeind eigentlich die beiden extremen Flügelparteien KPD und NSDAP. Der Begriff des Politischen bildet hier das theoretische Fundament, um das Durchgreifen gegen KPD und NSDAP zu rechtfertigen. Mit der Feinderklärung und dem Ausschluss des innerstaatlichen Feindes wird die heterogene Gruppe definitiv als diejenige markiert, die die Verfassungsordnung gefährdet. Von daher bedroht ein etwaiger Bürgerkrieg die Existenz der politischen Einheit. Schmitt ist also davon überzeugt: Der Zustand politischer Einheit, in dem sich ein Staat befindet, ist, „nicht ein für allemal da, er bedarf vielmehr als ein Zustand im Zusammenleben der Menschen fortlaufender Bewährung und Erhaltung.“155 Ebenso wichtig ist, dass die Homogenität der politischen Einheit für Schmitt immer als die Voraussetzung der Verfassung sowie der Verfassungsordnung gilt.156 Ohne die Homogenität und die daraus folgende Friedensordnung ist die Geltung der Verfassung überhaupt unvorstellbar. Insofern geht der Staat der Verfassung voraus: Nicht die Verfassung konstituiert den Staat; sondern umgekehrt: der Staat verwirklicht den normalen Zustand und bringt die Befolgung der Verfassung hervor.157 Die staatliche Erklärung von Verfassungsfeinden garantiert also einerseits die Homogenität innerhalb der politischen Einheit, und ermöglicht andererseits die Geltung der Verfassung. Sowohl die erste als auch die zweite Fassung des Begriffs des Politischen beschreiben den Staat als den alleinigen Träger des Politischen, obwohl die Orientierung der beiden Auflagen – an der Außenpolitik einerseits und an der Innenpolitik andererseits – unterschiedlich sind. Schmitt geht es nicht „um den Abschied vom Staat und die Zuwendung zu neuen politischen Subjekten, sondern im Gegenteil darum, den Staat auch unter den gewandelten Bedingungen in seiner überlegenen Rolle zu bewahren bzw. ihm sie wiederzugewinnen.“158 Der Staat ist die Entität mit der politischen Fähigkeit, für sich über seine Form und Art, die in der Verfassung festgelegt ist, zu entscheiden. In Anlehnung an den Begriff des Politischen als das theoretische Fundament stellt Schmitt seine Verfassungslehre auf: die Verfassung 154 Pyta,
Schmitts Begriffsbestimmung im politischen Kontext, S. 230. Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, S. 285. 156 Schmitt, Politische Theologie, S. 19. 157 Böckenförde, Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, S. 288. 158 Schönberger, S. 40. Näheres dazu vgl. ebd. S. 38 ff. 155 Böckenförde,
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als eine normative Festlegung des Staatslebens aus dem Volkswillen. Dieselbe Verfassung stützt sich auf eine stabile Grundlage und sollte ernst genommen werden. Um die vom Willen der Nation abgeleitete Verfassung vor einem Umsturz durch die Verfassungsfeinde zu verteidigen, sind Mittel sowohl diesseits wie auch jenseits der Verfassung erforderlich. Dazu gehört Schmitts Monographie „Verfassungslehre“, die hauptsächlich die theoretische Grundlage des Kampfes diesseits der Verfassung beschreibt.
II. Umkehrung der Lehre des pouvoir constituant Als Anknüpfungspunkt der Staatslehre Schmitts an seine verfassungsrechtliche Analyse richtet sich die Verfassungslehre nicht nur auf die geschriebenen Verfassungsgesetze, auf die sich die Betrachtungsweise des damaligen Rechtspositivismus beschränkte, sondern eher auf die faktische Grundlage, auf der die positive Verfassung gelten kann. Dafür wesentlich ist in erster Linie Schmitts vielschichtige Darstellung des Verfassungsbegriffs, die der „Verfassungslehre“ zugrunde liegt. 1. Analyse der Vieldeutigkeit des Verfassungsbegriffs a) Absoluter Verfassungsbegriff Um den Gegenstand seiner „Verfassungslehre“ genauer zu bestimmen, unternimmt es Schmitt zunächst, die vielfältigen Bedeutungen des Wortes „Verfassung“, das je nach Kontext und Wortverwendung verschiedene Bedeutungen enthält, zu analysieren und erklären.159 Seine Behandlung beginnt mit der Trennung des relativen Verfassungsbegriffs, demgemäß die Verfassung als eine Art von Gesetz verstanden wird, von einem absoluten Verfassungsbegriff, in dem die Verfassung eine reale oder ideale Einheit darstellt. Zunächst ist die Verfassung, die ein reales Ganzes bedeutet, auf den Staat als politische Einheit bezogen. Sie bedeutet dann „die konkrete, mit jeder existierenden politischen Einheit von selbst gegebene Daseinsweise“. Auch in diesem Sinn sind dem Wort „Verfassung“ geschichtlich verschiedene Begriffe zuzuordnen. Hierbei kann sich das Wort „Verfassung“ auf den 159 Dass das Wort „Verfassung“ auch eine unpolitische Bedeutung umfassen kann, und dass es, ebenso wie das französische Wort „constitution“, in späterer Zeit erst politische Bedeutung erhielt und zum modernen konstitutionalistischen Verfassungsbegriff wurde, ist Schmitt zweifellos aufgefallen. Er beschränkt folglich von Anfang an den Gegenstand seiner Untersuchung auf die Staatsverfassung. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 3. Zum Wandel des Wortsinns der Verfassung hin zur Moderne vgl. Mohnhaupt, S. 852 ff.; Grimm, Verfassung II, S. 863, 868 ff.
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„konkrete[n] Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates“ im Sinn des griechischen Wortes „Politeia“ beziehen160, oder auf „die besondere Form der Herrschaft“, die dem Staat eigen ist, wie z. B. Monarchie, Aristokratie oder Demokratie.161 Es kann sich außerdem auch auf „das Prinzip des dynamischen Werdens der politischen Einheit, des Vorgangs stets erneuter Bildung und Entstehung dieser Einheit“ beziehen.162 Hier wird die Verfassung als das Grundprinzip verstanden, anhand dessen der Staat stets aufeinander prallende Interessen und Meinungen integriert. Neben den vorigen Verfassungsbegriffen, die den Staat vor allem als ein seinsmäßiges und reales Ganzes bezeichnen, kann die Verfassung im absoluten Sinn auch ein ideelles Ganzes sein. Hier bedeutet die Verfassung „eine grundgesetzliche Regelung, d. h. ein einheitliches, geschlossenes System höchster und letzter Normen“, die durch „Gesamtnormierung des Staatlichen Lebens“ entsteht.163 Dieses einheitliche und normative System gilt in diesem Sinn als die Grundnorm, auf die alle anderen Gesetze und Normen zurückgeführt werden müssen und aufgrund deren sie erst in Geltung sein können. Dieser Verfassungsbegriff äußert sich besonders deutlich in Hans Kelsens berühmter „Reine[r] Rechtslehre“, die den Staat als ein System und eine Einheit von Rechtsnormen darstellt.164 Diesen Verfassungsbegriff lehnt Schmitt ab, dass der Staat nach dieser Auffassung bloß „zu einer auf der Verfassung als Grundnorm beruhenden Rechtsordnung, d. h. einer Einheit von Rechtsnormen“ werde. Dann sei das Verhältnis des Staates zu der Verfassung umgekehrt. Der Staat sei nicht mehr als eine seinsmäßige Einheit mit der Verfassung identisch, sondern „die Verfassung ist der Staat, weil der Staat als etwas normgemäß Sein-Sollendes behandelt wird und man in ihm 160 Schmitt,
Verfassungslehre, S. 4. S. 4 f. 162 Ebd., S. 5 ff. 163 Ebd., S. 7. 164 Ebd., S. 8 ff. Nach Schmitts Ansicht beruht Kelsens Lehre eigentlich auf dem Naturrecht, nicht aber auf positiven Normen. Wenn aber Kelsen zugibt, dass nur positive Normen als wirkliche Rechtsnormen gelten, ergibt sich daraus die Frage, woraus sich die Geltung der Verfassung ableitet, wenn die Verfassung, das Normensystem, als „souverän“ bezeichnet wird. Gegen Kelsen bringt Schmitt den Einwand hervor, dass Kelsens Argument eine Tautologie zugrunde liege: „Bei Kelsen dagegen gelten nur positive Normen, d. h. solche, welche wirklich gelten; sie gelten nicht, weil sie richtigerweise gelten sollen, sondern […] nur deshalb, weil sie positiv sind. Hier […] erscheint die Tautologie einer rohen Tatsächlichkeit: etwas gilt, wenn es gilt und weil es gilt.“ Die Wendung, die Verfassung sei souverän, geht gerade aus dieser Tautologie hervor und bedeutet also für Schmitt nichts anders, als dass die Verfassung aus sich selbst ihre Geltung ableitet. Dieselbe Kritik Schmitts an Kelsen findet sich auch in der „politischen Theologie“ Dazu vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 26 ff. 161 Ebd.,
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nur ein Normensystem, eine ‚Rechts‘-ordnung, sieht, die nicht seinsmäßig existiert, sondern sollensmäßig gilt“. Im Gegensatz zu Kelsen betont Schmitt jedoch, dass nur „etwas konkret Existierendes“ souverän sein und die Verfassung zur Geltung bringen könne.165 Von den soweit gegebenen Bestimmungen des absoluten Verfassungsbegriffes betrachtet ist die Verfassung im absoluten Sinn nicht auf eine positive Verfassung bezogen, sondern auf die überpositive Gesamtordnung des Staates als Ganzes, die nicht auf rechtspositivistische Weise lediglich als eine Art Gesetz aufzufassen ist. Ebenso wenig kann die Verfassung im absoluten Sinn durch das Normensystem ersetzt werden, wie es in Kelsens Theorie zu finden ist denn in dessen Verfassungsbegriff entfällt der Staat gänzlich. Selbstverständlich ist für Schmitt aber, dass die Verfassung, sei es die Verfassung im absoluten Sinn oder die zu erwähnende „positive Verfassung“, ständig das Vorhandensein einer politischen Einheit voraussetzt.166 b) Relativer Verfassungsbegriff Der absolute Verfassungsbegriff gerät jedoch, so Schmitt, in Vergessenheit. In der herrschenden Auffassung seiner Zeit ist der Begriff der Verfassung auf den Begriff des einzelnen Verfassungsgesetzes reduziert. Das Wort „Verfassung“ wird nun „nach äußerlichen und nebensächlichen, sog. formalen Kennzeichen bestimmt“.167 Die Verfassung und das Verfassungsgesetz vermengen sich folglich miteinander. Nach dieser relativierenden, formalen Betrachtungsweise sind alle einzelnen Verfassungsgesetze in einer Verfassung unterschiedslos. Was sie bestimmen, sei es bezüglich der Organisation des Staates oder irgendeines anderen Inhalts, ist dann gleichgültig. Der formale Charakter des Verfassungsbegriffs besteht aus zwei Merkmalen: (1) Die Verfassung wird nur als eine geschriebene Verfassung bezeich165 Schmitt, Verfassungslehre, S. 7. Dazu führt Schmitt aus: „In Wahrheit gilt eine Verfassung, weil sie von einer verfassunggebenden Gewalt (d. h. Macht oder Autorität) ausgeht und durch deren Willen gesetzt ist. Das Wort ‚Wille‘ bezeichnet im Gegensatz zu bloßen Normen eine seinsmäßige Größe als den Ursprung eines Sollens.“ Ebd., S. 9. Insofern ist Voegelins Bemerkung über Schmitt gerecht, wenn er darauf hinweist, dass Schmitt die Gegenüberstellung von Sein und Sollen zu lösen versucht, indem die Geltung des Rechts, nämlich der Verfassung, auf das Sein selbst zurückgeführt wird. Zu Voegelins Bemerkung über Schmitts Kritik an Kelsen vgl. Voegelin, S. 92 f. 166 Hier soll wieder an Böckenfördes Aussage erinnert werden: „Für Carl Schmitt ist es eine nicht weiter begründete Prämisse, daß der Staat der Verfassung voraus liegt.“ Böckenförde, Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, S. 288. 167 Schmitt, Verfassungslehre, S. 11.
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net; (2) Das Verfassungsgesetz und die damit gleichgestellte Verfassung werden durch erschwerte Voraussetzungen und Verfahren zur Abänderung bestimmt. (1) Geschriebene Verfassung: Der formale Charakter besteht nicht nur darin, ob eine schriftliche Urkunde als Verfassung vorliegt. Schmitt betont, dass der Grund dafür, irgendwelche Bestimmungen oder Abmachungen schriftlich zu fixieren, zunächst in zwei Eigenschaften, bessere Beweisbarkeit und größere Stabilität, liegt. Aber ebenso entscheidend ist, dass „die Niederschrift von einer maßgeblichen Stelle“ ausgehen muss, und zwar durch ein als maßgebend anerkanntes Verfahren, „ehe das Geschriebene als authentisch geschrieben gelten kann“.168 Schmitt führt das Erfordernis des anerkannten besonderen Verfahrens auf bürgerliche Forderungen im 19. Jahrhundert zurück. Dabei wurde die Verfassung als eine Vereinbarung zwischen König und Volk, ein geschriebener Vertrag, angesehen. Demzufolge war für die Abänderung der Verfassung, ebenso wie für die Abänderung des geschriebenen Gesetzes, die Mitwirkung der Volksvertretung (Parlament) erforderlich. Daraus ergibt sich schließlich, dass „die Verfassung als ein Gesetz behandelt wird“. D. h., die Abänderung der Verfassung soll nur im Weg der Gesetzgebung vorgenommen werden können. „Verfassung wird also = Gesetz, wenn auch Gesetz besonderer Art“, so Schmitt.169 Andererseits tritt die geschriebene Verfassung geschichtlich als eine geschlossene Verfassungskodifikation hervor, z. B. die von einer verfassunggebenden Versammlung verkündete amerikanische Verfassung, die erste vollständige geschriebene Kodifikation.170 Wenn nun aber der Glauben an die Kodifikation verloren geht, ist das Ergebnis, dass die Verfassung keine systematische Einheit mehr ist und vielmehr als eine Reihe verschiedenartig zusammengesetzter Bestimmungen erscheint. Schmitt stellt ferner fest, solche heterogenen Bestimmungen – insbesondere im Fall der Weimarer Verfassung – werde in die Verfassung hineingeschrieben, nur weil einerseits man sie vor häufiger Abänderung schützen wolle, und andererseits, weil die Parteien, welche den Inhalte der Verfassungskodifikation bestimmen, die Gelegenheit benutzen wollen, um ihre Ansprüche zu Verfassungsgesetzen zu machen. Deswegen taucht diese Gleichung auf: Verfassung = geschriebene Verfassung = eine Reihe geschriebener Verfassungsgesetze. Die Verfassung als eine Einheit wird schließlich bloß als eine Summe von Verfassungsge168 Ebd.,
S. 13. S. 14. 170 Hingegen fehlt eine geschlossene Kodifikation in der englischen Verfassungspraxis, die auf verschiedenartigen Akten beruht, auf Vereinbarungen, Verträgen, einzelnen Gesetzen, Gewohnheiten und Präzedenzfällen. In diesem Sinn hat England einzelne geschriebene Verfassungsgesetze, also formale Verfassungsgesetze, aber keine formale Verfassung als eine Kodifikation. 169 Ebd.,
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setzen angesehen. Der Unterschied zwischen den beiden ist dann nicht mehr wahrnehmbar. (2) Erschwerte Abänderbarkeit: Die von einem Bündel an Verfassungsgesetzen nicht unterschiedene Verfassung ist mit einem anderen formalen Merkmal, nämlich dem besonderen, erschwerten Verfahren für die Verfassungsänderung, gekennzeichnet. Die erschwerte Änderungsbedingung sollte dem Zweck dienen, die Stabilität der Verfassung zu gewährleisten. Die Auffassung, nach der dieses formale Merkmal der den Verfassungsgesetzen eigentümliche Charakter sei, wird üblicherweise von den Rechtspositivisten vor dem ersten Weltkrieg wie z. B. Jellinek vertreten.171 Sofern aber die Bestimmungen zur Verfassungsänderung in eine Verfassung hingeschrieben werden, sind die Voraussetzungen der Verfassungsänderung keineswegs unerfüllbar, sondern nur erschwert. Wie Schmitt zeigt: „Doch entfallen Garantie und Stabilität selbstverständlich, wenn eine Partei oder Parteikoalition über die nötigen Mehrheiten verfügt und irgendwie in der Lage ist, den erschwerten Voraussetzungen zu genügen.“172 Die erschwerte Bedingung der Verfassungsänderung, die durch Verfassungsgesetze bestimmt wird, kann überhaupt die Dauer und Stabilität der Verfassung nicht gewährleisten, wenn die Verfassung als Einheit zu einer Reihe von einzelnen Verfassungsgesetzen relativiert wird. Denn eine jeweilige Mehrheit des Parlaments kann, wie oben erwähnt, irgendein Gesetz zum Verfassungsgesetz erheben, wenn die erschwerten Voraussetzungen erfüllt werden. Schmitt ist aber davon überzeugt, dass Verfassung immer etwas Höheres ist als irgendein einzelnes Verfassungsgesetz und daher einen fundamentalen Sinn hat. Sie sollte nicht durch den Verfassungsartikel über Verfassungsänderungen unbeschränkt verändert werden können; anderenfalls reduzieren die Dauer und Stabilität der Verfassung sich darauf, „daß die Formalitäten eines Verfassungsartikels über Verfassungsänderungen – nach der Weimarer Verfassung des Art. 76 RV. – eingehalten werden müssen.“ Eine solche Reduzierung bedeutet dann nichts anderes, als dass die „Bestimmung über Verfassungsänderungen, für die Weimarer Verfassung also Art. 76, der wesentliche Kern und der einzige Inhalt der Verfassung“ ist.173 Daraus ergibt sich die folgerichtige Konsequenz: 171 Jellinek führt in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ aus: „Das wesentliche rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen liegt ausschließlich in ihrer erhöhten Gesetzeskraft […] daher sind jene Staaten, die keine formellen Unterschiede innerhalb ihrer Gesetze kennen, viel konsequenter, wenn sie die Zusammenfassung einer Reihe von Gesetzesbestimmungen unter dem Namen einer Verfassungsurkunde ablehnen.“ Siehe Jellinek, S. 520. Dabei führt Schmitt auch weitere Beispiele an. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 16. 172 Ebd., S. 18. 173 Ebd., S. 19.
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„Die ganze Verfassung wäre nur ein Provisorium und in Wahrheit nur ein Blankettgesetz, welches gemäß den Bestimmungen über Verfassungsänderungen jeweils ausgefüllt würde. Jedem geltenden Verfassungssatz des heutigen deutschen Verfassungsrechts müßte der Zusatz beigefügt werden: vorbehaltlich einer Änderung im Wege des Art. 76 RV.“174
Eben daraus folgt, dass sogar der Art. 76 der Verfassung keine andere Stellung als alle übrigen Artikel der Weimarer Verfassung hat und daher im Wege des Art. 76 selbst geändert oder aufgehoben werden kann.175 Die Möglichkeit zur Selbstaufhebung des Art. 76 entsteht auch daraus, dass die Verfassung unterschiedslos mit Verfassungsgesetzen verwechselt wird. Schmitt hebt daher hervor, dass sich der Inhalt und substanzielle Rahmen der Verfassungsänderung überhaupt nicht aus dem durch die Verfassungsgesetze geregelten Verfahren definieren, sondern von der Verfassung abhängen. Insofern gehören die Bestimmungen über die Verfassungsänderung auch zu den verfassungsgesetzlichen Bestimmungen. Die Verfassungsänderung darf also nur im Rahmen der Verfassung vorgenommen werden und nicht über sie hinausgehen. Mit den in verschieden geschichtlichen Kontexten hervorgetretenen Begriffen der Staatsverfassung entlarvt er, dass der in seiner Zeit herrschende Verfassungsbegriff des Rechtspositivismus nicht der einzige und selbstverständliche ist, sondern vielmehr, dass dieser Verfassungsbegriff der vor allem im 19. Jahrhundert entstandenen, formalisierten Vorstellung der Verfassung unterliegt. Hiermit ist der Begriff der Verfassung, der sowohl für die Staatslehre als auch für die Verfassungslehre wesentlich ist, verunklart, was zur Umdeutung der Verfassung in eine „Art des Gesetzes“ führt. Es ist also notwendig, eine andere Definition der Verfassung aufzustellen, um die theoretischen und verfassungspolitischen Schwierigkeiten aus dem formalen Verfassungsbegriff heraus zu bewältigen. c) Positiver Verfassungsbegriff Mit der Gegenüberstellung des absoluten und relativen Verfassungsbegriffs deutet Schmitt an, dass die rechtspositivistische Vermengung der beiden Verfassungsbegriffe absurd ist. Nun gibt er einen dritten Begriff der Verfassung an, nämlich den positiven Verfassungsbegriff, den Schmitt zwischen den beiden anderen Verfassungsbegriffen einfügt. Der positive Verfassungsbegriff ist, wie Huber gezeigt hat, der Gegenstand, auf den sich 174 Ebd., S. 19. Ähnliche Warnung findet sich auch in einem ein Jahr später erschienenen Text Schmitts. Vgl. Schmitt, Zehn Jahre Reichsverfassung (1929), S. 38 f. 175 Schmitt, Verfassungslehre, S. 19.
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Schmitts Verfassungstheorie richtet, nicht der absolute Verfassungsbegriff in einer seiner verschiedenen Ausprägungen.176 Was bedeutet nun der positive Verfassungsbegriff in Schmitts System? Zum positiven Verfassungsbegriff verweist er auf zwei Eigentümlichkeiten: (1) Die Verfassung als Ganzes; (2) Verfassung als politischer Entscheidungen. (1) Die Verfassung als Ganzes: Hier bezieht sich die Formulierung „die Verfassung als Ganzes“ nicht auf die Verfassung im absoluten Sinn, also den Gesamtzustand der politischen Einheit. Schmitt stellt immer heraus, dass die Verfassung nicht mit der politischen Einheit vermengt werden soll, wie dies bei Kelsen der Fall ist. Die Verfassung im positiven Sinne, die hier gemeint ist, „entsteht durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt. Der Akt der Verfassunggebung enthält als solcher nicht irgendwelche einzelnen Normierungen, sondern bestimmt durch einmalige Entscheidung das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform.“177 Hier ist klar, dass jede positive Verfassung nur ein Erzeugnis ist, das das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt durch einen Akt der Verfassunggebung konstituiert. Dieser Akt bestimmt zwar die „Form und Art der politischen Einheit“, bildet jedoch nicht die politische Einheit. Umgekehrt setzt der Akt immer das Bestehen der politischen Einheit voraus. Da sich die positive Verfassung von der politischen Einheit als einer faktischen Größe ableitet, ist die positive Verfassung nicht etwas Absolutes, das aus sich selber entsteht; ihre Geltung bezieht sich weder auf ihre normative Richtigkeit noch auf ihre systematische Geschlossenheit. Die positive Verfassung hängt also vom politischen Willen desjenigen ab, der diese Verfassung gibt. Nur im Willen des verfassunggebenden Subjekts besteht der letzte Grund der Geltung rechtlicher Normierung. Andererseits muss die positive Verfassung als ein Ganzes verstanden werden. Obwohl die Verfassung auch „positiv“ ist, soll sie von einzelnen Verfassungsgesetzen unterschieden und nicht in eine Vielheit von einzelnen Verfassungsgesetzen aufgelöst werden. Als ein Ganzes und eine Einheit ist die positive Verfassung im Vergleich zu Verfassungsgesetzen etwas Höherrangiges, nämlich die durch den Akt der Verfassunggebung getroffene „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“, die sich zur einheitlichen Grundlage der Verfassungsgesetze bildet.178 Und auf dieser Grundlage der Verfassung gelten erst die einzelnen Verfassungsgesetze. (2) Verfassung als politische Entscheidung: Wenn Schmitt von der Verfassung als „Entscheidung“ spricht, meint er nicht, dass die Verfassung 176 Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 21. Siehe auch Winterhoff, S. 127. 177 Schmitt, Verfassungslehre, S. 21. 178 Ebd., S. 20.
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einfach „Wille“ oder „Entscheidung“ ist. Die Verfassung ist, so Huber, „nicht ein Entscheidungsvorgang, sondern der durch einen solchen Vorgang entstandene Zustand.“179 Deswegen führt Schmitt aus, dass eine Verfassung „durch einseitige politische Entscheidung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt“ entstehe.180 Sie ist also nicht die Entscheidung selbst, sondern das, was durch die Entscheidung gestaltet wird. Durch die Gesamtentscheidung wird die „Form und Art der politischen Einheit“ bestimmt. Vor der bewussten Entscheidung zur Verfassungsgestaltung trägt jede politische Einheit in sich bereits ein „Minimum politischer Form“ im Sinne des absoluten Verfassungsbegriffs, das vor allem den Zustand des Volks als einer politischen Einheit bezeichnet.181 Der bewusste Akt der Verfassunggebung entscheidet über die für politische Einheit maßgebenden Formprinzipien und legt dadurch die Form und Art der politischen Einheit fest. In diesem Sinn enthält ein geltendes Verfassungsrecht also die grundlegenden politischen Entscheidungen, die im einmaligen Verfassung gebungsakt zustande kommen. Wohl in diesem Sinn definiert Schmitt die „Verfassung als Entscheidung“. Die Verfassung, genauer die positive Verfassung, kann ihre Einheitlichkeit beibehalten und als eine Einheit aufgefasst werden, eben weil sie als politische Entscheidung aus der politischen Einheit entsteht. Nach Schmitt bilden diese politischen Entscheidungen zugleich „die grundlegende Voraussetzung für alle weiteren Normierungen, auch diejenigen der Verfassungsgesetze“.182 Solche Entscheidungen sind daher nicht nur die Grundlage, sondern auch der unüberschreitbare Rahmen, in dem die Gesetze sowie Verfassungsgesetze gefasst sein müssen. Sie machen die Substanz der Verfassung aus. Ihretwegen ist die Verfassung eine Einheit und nicht eine Summe von Verfassungsgesetzen, die mit dem Verfahren der Verfassungsänderung abänderbar sind. Freilich ist es auch möglich, solche grundlegenden Entscheidungen aufzuheben und neue Entscheidungen zu treffen. Aber das hat dann nichts mit einer Verfassungsänderung zu tun, sondern mit Verfassunggebung.
179 Huber,
Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 22. Verfassungslehre, S. 44. 181 Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 23. Deswegen führt Schmitt aus: „Weil jedes Sein konkretes und bestimmt geartetes Sein ist, gehört irgendeine Verfassung zu jeder konkreten politischen Existenz. Aber nicht jede politisch existierende Größe entscheidet in einem bewußten Akt über die Form dieser politischen Existenz und trifft durch eigene, bewußte Bestimmung die Entscheidung über ihre konkrete Art zu sein, wie die amerikanischen Staaten bei ihrer Unabhängigkeitserklärung und die französische Nation im Jahre 1789.“ Siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 23. 182 Ebd., S. 24. 180 Schmitt,
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2. Verfassunggebende Gewalt des Volkes Der erste Schritt von Schmitts Verfassungslehre ist, die entscheidende Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz zu treffen, „eine antipositivistische Unterscheidung also, die uns heute ganz selbstverständlich ist.“183 Wie oben gezeigt ist, bezieht sich die „Verfassung“ in dieser Unterscheidung nicht auf die absolute Verfassung, sondern auf die positive Verfassung, die als grundlegender politischer Entscheidungen erscheint. Zugleich betont Schmitt, dass die Verfassunggebung ein bestimmtes Subjekt voraussetzt, das die verfassunggebende Gewalt innehat. Nur das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt hat das Recht, politische Entscheidungen zu treffen. Schmitt definiert die verfassunggebende Gewalt wie folgt: „Verfassunggebende Gewalt ist der politische Wille, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen, also die Existenz der politischen Einheit im Ganzen zu bestimmen.“184 Nach dieser Definition ist die verfassunggebende Gewalt der politische Wille, auf den die Geltung der Verfassung zurückgeführt werden kann. Hierfür folgt Schmitt der klassischen rechtsphilosophischen Frage, ob ein Gesetz dem Willen oder der Norm entspringt. Gleichzeitig lehnt er grundsätzlich ab, dass die Verfassung sich auf eine höhere Norm beruft, die kraft metaphysischer Richtigkeit gilt. Stattdessen gilt die Verfassung, weil sie aus einer politischen Entscheidung, d. h. aus dem Willen der politischen Einheit hervorgeht. Wie Sieyès vertritt Schmitt diese Auffassung: Da im Gegensatz zur Verfassung die verfassunggebende Gewalt als der Wille zur Gesamtentscheidung etwas Ursprüngliches ist, erschöpft sich die verfassunggebende Gewalt nicht allein im Erlass einer Verfassung. Die verfassunggebende Gewalt, die vor und über der Verfassung besteht, ist auch nicht an die Verfassung gebunden, ebenso wenig davon aufgehoben. Außerdem ist die verfassunggebende Gewalt einheitlich und unteilbar. Sie ist daher nicht nur ein „pouvoir constitué“ neben anderen, sondern der „pouvoir constituant“ und „die umfassende Grundlage aller andern ‚Gewalten‘ “.185 Wie Schmitt selbst näher darstellt: „Auf der verfassunggebenden Gewalt beruhen alle verfassungsmäßig konstituierten Befugnisse und Zuständigkeiten. Sie selbst aber kann sich niemals verfassungsgesetzlich konstituieren. Das Volk, die Nation, bleibt der Urgrund alles politischen Geschehens, die Quelle aller Kraft, die sich in immer neuen Formen 183 Hofmann,
Legitimität gegen Legalität, S. 118 f. Verfassungslehre, S. 75 f. 185 Ebd., S. 77. 184 Schmitt,
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2. Teil: Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Carl Schmitt
äußert, immer neue Formen und Organisationen aus sich herausstellt, selber jedoch niemals ihre politische Existenz einer endgültigen Formierung unter ordnet.“186
Wenn Schmitt ausdrücklich die Lehre der verfassunggebenden Gewalt auf Sieyès zurückführt, erweist es sich, dass Schmitts Definition der verfassunggebenden Gewalt, wie eben wiedergegeben, aus Sieyes rezipiert wurde.187 Allerdings sind auch drei Unterschiede zwischen beiden bemerkbar. Der erste Unterschied entsteht aus Schmitts Absonderung der Verfassung vom Verfassungsgesetz, die bei Sieyès fehlt. Schmitt unterteilt den Verfassungsbegriff in zwei Ebenen, die (positive) Verfassung und das Verfassungsgesetz. Während Schmitt die Verfassung über das Verfassungsgesetz erhebt, verbindet er die Verfassung ausschließlich mit der verfassunggebenden Gewalt. Ein Verfassungsgesetz muss auf der Grundlage der in diesem Willen enthaltenen politischen Gesamtentscheidung gelten. Außerdem leiten sich auch einige Einzelnormen nicht aus der verfassunggebenden Gewalt ab. Sie werden zu Verfassungsgesetzen nur aus einem juristisch-technischen Grund: „Schutz gegen Abänderung durch erschwerte Abänderbarkeit“.188 Aus der grundsätzlichen Unterscheidung folgt, dass Schmitt die Zuständigkeit zur Verfassungsänderung, die für Schmitt unverkennbar die verfassungsgesetzliche Revision bedeutet, nun von der verfassunggebenden Gewalt abtrennt und bloß als eine der konstituierten Gewalten bezeichnet.189 Bei Sieyès ist aber die Verfassungsänderung überhaupt nicht dem „pouvoir constitué“ zugeordnet. Sie kommt immer ausschließlich dem Subjekt des pouvoir constituant zu, so dass ihre Ausübung überhaupt nicht unter Kontrolle der Regierung als konstituierter Gewalt steht. Beim zweiten Unterschied handelt es sich um das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt. Bei Sieyès steht fest, dass einzig die Nation das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sein könne. Hingegen ist Schmitt einer anderen Ansicht. Schmitt stellt Sieyès als den Schöpfer der „Lehre vom Volk (genauer: der Nation) als dem Subjekt der verfassunggebenden Gewalt“ hin190 und zeigt, dass nach dieser Lehre das Volk erstmals als die politisch-aktionsfähige Einheit mit dem Bewusstsein seiner politischen Be186 Ebd.,
S. 79. S. 77 f. 188 Ebd., S. 76. 189 „Durch die Verwechslung von Verfassung und Verfassungsgesetz ist eine Verwechslung von verfassunggebender Gewalt und Zuständigkeit zu verfassungsgesetzlichen Revisionen eingetreten, die häufig dazu führt, daß diese Zuständigkeit als ‚pouvoir constituant‘ neben andere ‚pouvoirs‘ gestellt wird“. Siehe ebd., S. 77. 190 Siehe ebd. Schmitt führt auch aus, dass vor Sieyès nur Gott – nach mittelalterlicher Auffassung – die konstituierende Gewalt (potestas constituens) hat, „sofern überhaupt davon gesprochen wird.“ 187 Ebd.,
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sonderheit bezeichnet wird191; demzufolge kann es erst über die Art und Form der politischen Einheit entscheiden. Dazu hebt Schmitt zugleich den Unterschied zwischen Volk und Nation hervor. Das Volk, das nicht als Nation existiert, ist nur „eine irgendwie ethnisch oder kulturell zusammengehörige, aber nicht notwendig politisch existierende Verbindung von Menschen“, also eine formlose Masse. Hingegen ist die Nation politisch handlungsfähig. Geschichtlich ergibt sich die Nation als politische Einheit aus der Voraussetzung, dass die absolute Monarchie zuerst die politische Geschlossenheit gegenüber anderen politischen Einheiten herbeiführt. In der Französischen Revolution von 1789 wird sich das französische Volk seiner politischen Existenz und Aktionsfähigkeit bewusst; das Volk wird dabei zu einer Nation, die ihr eigenes Schicksal selbst bestimmen will und kann. Unter dieser Voraussetzung, eine bewusst politisch existierende Nation zu sein, ist das Volk dann imstande, die verfassunggebende Gewalt auszuüben und sich eine Verfassung zu geben.192 Selbst wenn Schmitt den Beitrag von Sieyès zum Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes anerkennt, stimmt er nicht zu, dass nur das Volk bzw. die Nation das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sein kann. Sieyès stellt sich nicht die Möglichkeit vor, dass statt der Nation eine Person oder eine Minderheit das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sein kann. Diese Möglichkeit gesteht Schmitt aber zu, wenn auch mit Vorbehalt. Z. B. wurde der König während der Restauration (1815–1830) das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, als die verfassunggebende Gewalt, deren Lehre eigentlich auf dem demokratischen Prinzip beruht, auf die Erbmonarchie übertragen wurde.193 Daneben werden der Sowjetkommunis191 Für Schmitt sind bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung der Akt der Verfassunggebung und das daraus entstehende neue Prinzip noch nicht zu erkennen, wenn auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung „den Beginn einer neuen Epoche“ bedeutet, ebenso wie die Französische Revolution. Der Grund dafür besteht darin, dass „ein neues politisches Gebilde entstand und der Akt der Verfassunggebung mit der politischen Neugründung einer Reihe neuer Staaten zusammenfiel“. Theoretisch fehle, so Schmitt, bei der amerikanischen Verfassunggebung im 18. Jh. auch eine eigentliche Verfassungslehre. Das amerikanische Volk gibt sich also „eine Verfassung, ohne daß der allgemeine, die Gemeinde und Gesellschaft begründende ‚Covenant‘ von jedem anderen Akt der Konstituierung einer neuen politischen Einheit und von dem Akt der freien politischen Entscheidung über die eigene Existenzform unterschieden wurde.“ Im Gegensatz dazu ist die verfassunggebende Gewalt des französischen Volkes deutlich erkennbar, weil 1789 nur eine neue Verfassung als neue Art und Form der politischen Einheit, aber kein neuer Staat entstand. Vgl. ebd., S. 78 f. 192 Vgl. ebd., S. 49 f., 79. 193 Über die Lehre der verfassunggebenden Gewalt des Königs vgl. ebd., S. 80 f. Schmitt hält jedoch die Verbindung der Lehre der verfassunggebenden Gewalt mit dem monarchischen Prinzip für theoretisch schwierig. Denn anders als die Nation,
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mus in Russland und der Faschismus in Italien als Beispiele dafür angeführt, dass eine Minderheit das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sein kann.194 Der letzte Unterschied besteht in der Frage, ob die Verfassung durch einen Gesellschaftsvertrag oder einen Staatsvertrag zwischen Staaten entsteht. Wenn Sieyès und Schmitt die verfassunggebende Gewalt als die letzte Quelle der Verfassung sowie aller Regierungskräfte auffassen, so verneinen sie auch, dass in einem Staat die Verfassung aus einem Vertrag oder einer Vereinbarung hervorgehen kann. Ebenso wie Sieyès stellt Schmitt die verfassunggebende Gewalt als unitarisch, einheitlich und unteilbar hin. In einem Staat soll es nur ein Subjekt der verfassunggebenden Gewalt geben – bei Sieyès nur die Nation; bei Schmitt entweder den König oder das Volk. Daher widersprechen sie beide der üblichen Auffassung, dass die Verfassung ein Vertrag zwischen Fürst und Volk, also ein Herrschaftsvertrag, sei, weil diese Auffassung das Vorhandensein von zwei Parteien dieses Vertrages voraussetzen muss.195 So sagt Schmitt: „Man kann diese zahllosen Abmachungen nicht als Verfassungen eines Staates bezeichnen, wie es überhaupt irreführend ist, auf solche mittelalterlichen Verhältnisse Begriffe des modernen Staatsrechts zu übertragen.“ Darüber hinaus bezeichnet Schmitt die konstitutionelle Monarchie in Deutschland, die aus der Revolution von 1848 resultiert, als einen „Dualismus von königlicher Regierung und Volksvertretung“, der aber bloß ein Zwischenzustand zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien, nämlich Monarchie und Demokratie, bedeutet. Einerseits verzichten die deutschen Staaten nicht grundsätzlich auf das monarchische Prinzip; andererseits muss der Fürst dem Anspruch des Volkes auf politische Partizipation nachgeben. Hier wird daher die grundlegende Entscheidung über den Träger der verfassunggebenden Gewalt, also über die Staatsform, durch den „dilatorischen Kompromiss“ verschleiert und vorübergehend hinausgeschoben.196 Obwohl die Entscheidung vertagt wird, ist die Antwort auf die Frage, ob der Fürst oder das Volk die verfassunggebende Gewalt hat, die ganz frei ist, sich immer neue Formen zu geben, ist die Erbmonarchie an die Erbfolgeordnung einer Familie gebunden und daher keine „formlos Formende“. 194 Über die Minderheit als das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt vgl. ebd., 81 f. Schmitt ist der Auffassung, dass die verfassunggebende Gewalt der Minderheit auf der Verbindung des aristokratischen Elements mit der Berufung auf den Volkswillen beruhe. Dafür entscheidend ist nur, für den wahren und richtigen Ausdruck des Volkswillens die Voraussetzungen zu schaffen. Die Herrschaft von Sowjetkommunismus und Faschismus, die „Elemente einer neuen Art aristokratischer Formen“ enthält, ist „also Diktatur auch in dem Sinne, daß es nur ein Übergang ist und die endgültige Entscheidung über Art und Form der politischen Existenz noch aussteht“. 195 Ebd., S. 44 ff. 196 Ebd., S. 53 ff., 63 f.
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im Konfliktfall noch erkennbar, so Schmitt: „In der politischen und staatsrechtlichen Praxis aber zeigte sich im Konfliktfall ohne weiteres, wer der Träger der Staatsgewalt und der entscheidende Repräsentant der politischen Einheit war, nämlich der König.“197 Schmitt weist die Vermengung der Verfassung mit dem Vertrag zwischen Fürst und Volk zurück, gibt aber zugleich zu, dass die Verfassung durch einen zwischenstaatlichen Vertrag entstehen kann198, während Sieyès nie in Betracht zieht, dass mehrere Staaten, also mehrere Subjekte der verfassunggebenden Gewalt, sich durch einen Staatsvertrag eine neue Verfassung geben und einen Bundesstaat gründen können. Denn die Verfassunggebung in Frankreich ist nur eine innerstaatliche Angelegenheit; die Verfassunggebung steht jedoch während der deutschen Nationsbildung im Zusammenhang mit Verträgen der deutschen Staaten, z. B. den Verträgen bei Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches. Wie Schmitt sagt: „Ein echter Verfassungsvertrag setzt mindestens zwei bereits bestehende und weiterbestehende Parteien dieses Vertrages voraus, von denen jede ein Subjekt einer verfassunggebenden Gewalt in sich enthält, also eine politische Einheit ist.“199 In diesem Sinn ist ein solcher echter Verfassungsvertrag „normalerweise ein Bundesvertrag“, durch den eine neue Verfassung entsteht. Alle Mitgliederstaaten erhalten einen neuen politischen Gesamtzustand und wandeln sich in einen Bundesstaat. 197 Ebd., S. 56. Als Beispiel führt Schmitt den 1862–1866 ausgefochtenen preußischen Konflikt zwischen König und Landtag um das Budgetrecht an, der bewies, dass der Monarch im Konfliktfall, wenn es z. B. eine verfassungsrechtliche Lücke gab, das Recht hatte, die letzte Entscheidung zu treffen. Von Schmitts dieser Auffassung ist Schneider geprägt, so dass er den Begriff der verfassunggebenden Gewalt als einen politischen Kampfbegriff bezeichnet: „Wird den herrschenden Kräften – etwa in Revolutionen – die verfassunggebende Gewalt streitig gemacht, dient die Berufung darauf in erster Linie der politischen Auseinandersetzung. Als politischer ‚Kampfbegriff‘ soll sie Antwort geben auf die Frage nach der inneren ‚Souveränität‘ im Verfassungsstaat.“ Siehe Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, S. 5. Nach Schneider findet sich diese Funktion eines politischen Kampfbegriffes schon bei Sieyès. Siehe ebd., S. 8. 198 Bemerkenswert ist, dass Schmitt den Unterschied zwischen Gesellschaftsvertrag und Staatsvertrag herausstellt. Für ihn ist die politische Einheit immer die Voraussetzung der Verfassung. Aus diesem Grund ist der Gesellschaftsvertrag, durch den sich ein Volk als politische Einheit bildet, nicht mit der positiven Verfassung identisch. Deswegen stellt Schmitt fest: „Der Sozialvertrag wird demnach bei der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes schon vorausgesetzt, wenn man seine Konstruktion überhaupt für notwendig hält. Mit der Verfassung in positivem Sinne […] ist der Sozialvertrag auf keinen Fall identisch“. Siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 61 f. Derselben Meinung ist auch Sieyès. Einzelne Individuen sollen sich erst durch den Gesellschaftsvertrag zur Gemeinschaft mit gemeinschaftlichem Willen machen. Dann kann die Gemeinschaft die Verfassung konstituieren. 199 Ebd., S. 62 f.
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Trotz der oben erwähnten Unterschiede weicht Schmitts Definition der verfassunggebenden Gewalt nicht so weit von der von Sieyès ab, insbesondere im Punkt der Überlegenheit der verfassunggebenden Gewalt über Rechtsformen und Prozeduren. Diese Überlegenheit stellt sich vornehmlich in zwei Eigentümlichkeiten dar: Erstens, die verfassunggebende Gewalt als Quelle, die „immer neue Formen und Organisationen aus sich herausstellt, selber jedoch niemals ihre politische Existenz einer endgültigen Formierung unterordnet“; zweitens, die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt ist keineswegs an geregelte Verfahren gebunden. Aber Schmitt meint auch, wenn das Volk das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt werde – was auch der zentrale Punkt in Schmitts Lehre ist –, ergeben sich besondere Fragen und Schwierigkeiten wegen seiner Eigenart.200 Diese sind unten zu erörtern. Weil Schmitt das Volk als das formlose Formierende begreift, stellt er immer fest, dass das Volk „keine formierte, mit umschriebenen Kompetenzen ausgestattete und in einem geregelten Verfahren Amtsgeschäfte erledigende Instanz ist“.201 Aus dieser Eigenart, selbst nicht formiert oder organisiert zu sein, folgt aber eben die Schwäche, dass der Wille des Volkes unmittelbar zum Ausdruck kommen soll, weil unter Umständen der Wille des Volkes leicht zu verkennen, zu missdeuten oder zu fälschen ist. Diese unmittelbare Äußerung des Volkswillens findet für Schmitt dort statt, wo sich alle aktiven Staatsbürger auf einem Platz versammeln und durch ihre direkte Anwesenheit als Volk handeln. „Erst das wirklich versammelte Volk ist Volk und nur das wirklich versammelte Volk kann das tun, was spezifisch zur Tätigkeit dieses Volkes gehört“.202 Dort äußert das versammelte Volk unmittelbar seinen Willen durch Akklamation, d. h., durch einfachen Zuruf, in der seine Zustimmung oder Ablehnung ausgedrückt wird. Die Akklamation ist für Schmitt die ursprüngliche und „natürliche Form der unmittelbaren Willensäußerung“, „eine natürliche und notwendige Lebensäußerung jedes Volkes“.203 Im modernen Großstaat ist aber die Versammlung aller Aktivbürger nicht mehr möglich, so dass sich die Akklamation zur „öffentlichen Meinung“, der „moderne[n] Art der Akklamation“ verwandelt.204 Allerdings kenne, laut Schmitt, die moderne Art und Weise zur Äußerung der öffentlichen Meinung, die durch ein Verfahren geheimer Einzelabstimmung oder geheimer Wahl vorgenommen werde, die echte Akklamation nicht. In einer geheimen Einzelabstimmung oder Wahl lasse 200 Ebd.,
S. 82 ff. S. 83. 202 Ebd., S. 243 f. 203 Ebd., S. 83 f., 243 f. 204 Ebd., S. 246 f. 201 Ebd.,
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sich nur die Privatmeinung äußern, weil der abstimmende Staatsbürger im Augenblick der Abstimmung isoliert werde, wobei der Staatsbürger, also der citoyen, seinen spezifisch politischen sowie öffentlichen Charakter verliere und auf einen Privatmann reduziert werde. Hieraus zieht Schmitt den Schluss, dass das Ergebnis aus einer geheimen Einzelabstimmung oder Wahl überhaupt keine öffentliche Meinung vertrete, „denn die noch so übereinstimmende Meinung von Millionen Privatleuten ergibt keine öffentliche Meinung, das Ergebnis ist nur eine Summe von Privatmeinungen. Auf diese Weise entsteht kein Gemeinwille, keine volonté générale, sondern nur die Summe aller Einzelwillen, eine volonté de tous.“205 Daher ist Schmitt der Meinung, es gehöre auch zur Unmittelbarkeit des Volkswillens, dass „er unabhängig von jeder vorgeschriebenen Prozedur und jedem vorgeschriebenen Verfahren geäußert werden kann“.206 Allerdings fällt es auf, dass Schmitt einerseits das Volk als die ursprüngliche Kraft sehr hoch schätzt, andererseits die Möglichkeit zur Willensäußerung des Volkes jedoch für begrenzt hält. Nach ihm könne das Volk in der Willensäußerung nur Ja oder Nein sagen, zustimmen oder ablehnen, „und sein Ja oder Nein wird umso einfacher und elementarer, je mehr es sich um eine fundamentale Entscheidung über die eigene Gesamtexistenz handelt“.207 Das impliziert, dass außer Ja und Nein, Zustimmung oder Ablehnung, das Volk nicht in der Lage sei, seinen Willen zu bestimmen und deutlich Ausdruck zu bringen. Der verfassunggebende Wille des Volkes könne sich daher nur so artikulieren, zu einer bestehenden Verfassung Ja oder Nein zu sagen. Aber das gegen die bestehende Verfassung gerichtete Nein sei klarer und entschiedener.208 Dementsprechend bedeutete die Revolution von 1918 die Verneinung des monarchischen Prinzips und Zustimmung zur Republik. Kurzum: Schmitt sieht in der Situation der Revolution die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Nur durch diesen Umstand ist das Nein gegen die bestehende Verfassung am deutlichsten als eine klare politische Entscheidung zu erkennen. Also führt Schmitt aus: „Der Wille des Volkes, sich eine Verfassung zu geben, kann nur durch die Tat bewiesen werden und nicht durch Beobachtung eines normativ geregelten Verfahrens.“209 205 Ebd., S. 245. Hier ist aber zu fragen, ob Schmitts Kritik an dem modernen Abstimmungsverfahren automatisch die vorbehaltlose Anerkennung der Akklamation bedeutet, was m. E. nicht der Fall ist. Was Schmitt meint, ist nur, dass das moderne Verfahren weit vom Urtyp der Demokratie entfernt und mit dem repräsentativen Element vermischt ist. Unübersehbar ist, dass Schmitt auch betont, im modernen Großstaat sei die echte Akklamation unmöglich und auch unbekannt. 206 Ebd., S. 83. 207 Ebd. 208 Ebd., S. 84. 209 Ebd., S. 83.
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Nachdem die grundlegende politische Entscheidung des Volkes gefällt wurde, werden ein Verfahren und eine Organisation nötig sein, um weitere verfassungsgesetzliche Normierungen zu unternehmen. In der modernen Demokratie bildet sich also ein Verfahren der Verfassunggebung vor allem durch eine Nationalversammlung heraus, wobei die Zustimmung des Volkes entweder schon in der Wahl der Nationalversammlung enthalten ist oder durch ein nachfolgendes Referendum bestätigt wird.210 Hierdurch wird die grundlegende politische Entscheidung in der herbeizuführenden Verfassung auf das Volk rekurriert und demokratisch legitimiert. Denn die grundlegende politische Entscheidung leitet sich auf jeden Fall aus dem Volk selbst ab, das ja Träger der verfassunggebenden Gewalt ist; die verfassunggebende Nationalversammlung kann nur auf der Grundlage dieser politischen Entscheidung die verfassungsgesetzlichen Bestimmungen formulieren und normieren. 3. Konkrete politische Entscheidungen in der Weimarer Verfassung Was ist dann die vom deutschen Volk in der Weimarer Verfassung enthaltene getroffene grundlegende politische Entscheidung? Als wesentliche Elemente der Weimarer Verfassung bezeichnet Schmitt die folgenden Entscheidungen: „die Entscheidung für die Demokratie, die das deutsche Volk kraft seiner bewußten politischen Existenz als Volk getroffen hat; sie findet ihren Ausdruck in dem Vorspruch (‚das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben‘) und in Art. 1 Abs. 2: ‚Die Staatsgewalt geht vom Volke aus‘; ferner die Entscheidung für die Republik und gegen die Monarchie in Art. 1 Abs. 1: ‚Das Deutsche Reich ist eine 210 Ebd., S. 85 ff. Hier betont Schmitt auch, dass eine Einberufung der verfassunggebenden Nationalversammlung nicht das einzige demokratische Verfahren zur Verfassunggebung ist. Neben der Nationalversammlung, die nach demokratischen Grundsätzen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts Wahlrechts zum Beschluß der verfassungsgesetzlichen Bestimmungen und zu ihrer Verabschiedung gewählt ist, gibt es noch die folgende, für demokratisch gehaltenen Arten zur Ausführung und Formulierung des verfassunggebenden Volkswillens: (1) Die verfassungsgesetzliche Normierungen entwerfende Versammlung mit nachfolgender Referendum; (2) Besonderheiten beim Verfassungskonvent für eine bundesstaatliche Verfassung, die erst durch eine Verfassungskonvent entworfen und dann vom Volk der einzelnen Gliederländer, nämlich von Konventen der einzelnen Gliederländer, ratifiziert wird; (3) Allgemeine Volksabstimmung (Plebiszit) über eine irgendwie herbeigeführte neue Ordnung und Regelung. Außerdem noch einige Ausnahmen, die auch als demokratisch hingestellt werden. Beispielsweise wurde die französische Verfassung von 1791 von der Nationalversammlung beschlossen, die nicht nach demokratischen Grundsätzen des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden war, sondern dadurch zustande gekommen war, dass sich die Vertreter der Generalstände als verfassunggebende Nationalversammlung konstituiert hatte.
B. Umdeutung des pouvoir constituant und revolutionäre Kräfte139 Republik‘; dann die Entscheidung für die Beibehaltung der Länder, also einer bundesstaatlichen (wenn auch nicht bündischen) Struktur des Reiches (Art. 2); die Entscheidung für eine grundsätzlich parlamentarisch-repräsentative Form der Gesetzgebung und Regierung; schließlich die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat mit seinen Prinzipien: Grundrechte und Gewaltenunterscheidung […]. Dadurch charakterisiert sich das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung als eine konstitutionelle Demokratie, d. h. als ein bürgerlicher Rechtsstaat in der politischen Form einer demokratischen Republik, mit bundesstaatlicher Struktur. Die Bestimmung des Art. 17 RV, nach welcher für alle Landesverfassungen eine parlamentarische Demokratie vorgeschrieben ist, enthält die Bekräftigung jener fundamentalen Gesamtentscheidung für die parlamentarische Demokratie.“211
Zusammenfassend: Demokratie, Republik, Bundesstaat, Parlamentarismus und der Rechtsstaat auf der Grundlage der Gewaltenteilung sowie Grundrechte212 sind die politischen Entscheidungen, die die Substanz der Weimarer Verfassung ausmachen. Nach Schmitts Lehre entstanden sie bereits, als die Nationalversammlung tätig wurde; das Volk hatte daher schon „eine gewisse Gesamtgestalt gefunden, an der auch die Nationalversammlung nichts ändern konnte und nichts geändert hat.“213 Dass die Weimarer Verfassung in Wirklichkeit ein Ergebnis vielfacher Kompromisse ist, ist auch Schmitt aufgefallen. Daher stellt er den oben genannten Entscheidungen einzelne verfassungsgesetzliche Bestimmungen 211 Ebd.,
S. 23 f. bürgerlichen Rechtsstaat liegen Freiheitsrechte zugrunde, die durch zwei Prinzipien zu verteidigen sind: Gewaltteilung und Grundrechte. Im Bezug auf Grundrechte akzentuiert Schmitt: „die Freiheitssphäre des Einzelnen wird als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist.“ Siehe ebd., S. 126 f.; Schmitt, Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), S. 45 f. Zu beachten ist, dass er zugleich betont, dass nicht alle Freiheitsrechte, die in Verfassungsgesetzen vorgesehen werden, zu den Grundrechten zählen. Zu Grundrechten im eigentlichen Sinn vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 165. Die Grundrechte sind nach Schmitt absolut und prinzipiell vor Eingriffen des Staates zu schützen. Der Reichstag kann auch nicht mit der verfassungsändernden Befugnis individuelle Grundrechte aufheben. 213 Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 24. Dazu ergänzt Huber: „Mit der Berufung (nicht erst der Wahl) der Nationalversammlung auf Grund des Beschlusses der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte (16.–19. Dezember 1918) war die Entscheidung für die Demokratie und gegen die Diktatur der Räte gefallen. Die Aufrechterhaltung der bundesstaatlichen Struktur des Reichs war gesichert, als auf der Staatenkonferenz am 26. Januar 1919 die einzelstaatlichen Regierungen die Entsetzung des Staatenausschusses erstritten hatten. Man kann allenfalls sagen, daß die Nationalversammlung eine konstitutive Entscheidung für den Parlamentarismus und für den Rechtsstaat gefällt habe. Aber auch hier waren die Entwicklungslinien schon vorgezeichnet. Es war in allen Teilen die Anknüpfung an das Bestehende so deutlich, daß eigentlich nur die Bestätigung und Bestärkung vorhandener Formen auf einem freien Akt der Versammlung beruht.“ ebd., S. 24 f. 212 Dem
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gegenüber. Für die ersteren besteht Schmitt darauf, dass in der politischen Situation von 1919 bestimmte politische Entscheidungen über grundlegende Prinzipien – über die maßgebliche politische Frage: Monarchie oder Republik? parlamentarische Demokratie oder Rätediktatur? – definitiv gefallen seien, obwohl es heftige Konflikte zwischen gegensätzlichen Kräften gegeben hat. Auch über die damals maßgebliche Alternative – entweder bürgerliche oder sozialistische Gesellschaftsordnung – ist zugunsten der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und für das Prinzip des bürgerlichen Rechtsstaates entschieden worden.214 In den verfassungsgesetzlichen Bestimmungen, insbesondere des zweiten Teils der Verfassung in Bezug auf „Grundrechte und Grundpflichten“, sieht Schmitt hingegen die Vermischung verschiedenartiger politischer, sozialer und religiöser Überzeugungen – mit seinen Worten, „eine Reihe von ganz anders gearteten, unechten Kompromissen“.215 Solche unechten „Scheinkompromisse“ führen dazu, dass die einander widersprechenden Kräfte einen dilatorischen Formelkompromiss finden, um die grundlegende Entscheidung aufzuschieben und sich verschiedene Möglichkeiten und Deutungen offenzuhalten. „Der Kompromiß betrifft also nicht die sachliche Erledigung einer Frage im Wege beiderseitigen sachlichen Nachgebens, sondern die Einigung geht dahin, sich mit einer dilatorischen Formel zu begnügen, die allen Ansprüchen Rechnung trägt.“ Über die politische Form und Prinzipien aber wurden im ersten Teil der Weimarer Verfassung dagegen eindeutige und kompromisslose Entscheidungen getroffen. Sie können also weder im parteiischen und politischen Streit politisiert noch für irgendeine Entwicklungslinie – zumal hin zur Räterepublik und der Diktatur des Proletariats – weiter verändert werden.
III. Begrenzung der Verfassungsänderung und Schutz der Verfassung 1. Verfassunggebung und die Grenze der Verfassungsänderung im Art. 76 Durch die Verknüpfung der Verfassung mit der verfassunggebenden Gewalt des Volks kann Schmitt nun die revolutionäre Bedeutung umkehren, um die Dynamik der verfassungsrechtlichen Wandlung zu bremsen, die zu 214 Schmitt,
Verfassungslehre, S. 30 ff. Schmitts Analyse hinsichtlich der dilatorischen Scheinkompromisse in der Weimarer Verfassung, insbesondere in ihrem zweiten Teil, ebd., S. 31 ff. Im Unterschied zu unechten Kompromissen enthält die Weimarer Verfassung, wie Schmitt betont, aber auch echte Kompromisse „in nicht-prinzipiellen Einzelheiten, durch welche organisatorische und inhaltliche Details im Wege beiderseitigen Nachgebens ihre sachliche Regelung und Ordnung fanden“. 215 Zu
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seiner Zeit in erster Linie unter dem Einfluss radikaler Parteien bewirkt wird. Das Mittel zu diesem Zweck ist in erster Linie die theoretische Begrenzung der Befugnis zur Verfassungsänderung. a) Unterschied zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung Schmitt übernimmt zwar die Definition von Sieyès, die verfassunggebende Gewalt sei aller von der Verfassung konstituierten Gewalt überlegen, dennoch setzt er die verfassunggebende Gewalt nicht mit der Zuständigkeit zur Verfassungsänderung gleich. Nach ihm ist die Verfassungsänderung lediglich eine Kompetenz, die aus Verfassungsgesetzen wie z. B. dem Art. 76 der Weimarer Verfassung abgeleitet und verfassungsgesetzlich geregelt wird. So kann sie „den Rahmen der verfassungsgesetzlichen Regelung, auf der sie beruht, nicht sprengen.“216 Außer Zweifel steht, dass sich Schmitts Abgrenzung der Verfassungsänderung von der verfassunggebenden Gewalt unmittelbar gegen die in seiner Zeit herrschende Auffassung von Anschütz richtet, der sagt: „Er [Art. 78 Abs. 1 der Weimarer Verfassung, S. Y.] bedeutet, daß Verfassungsgesetz und einfaches Gesetz Willensäußerungen einer und derselben Gewalt, der Gesetzgebenden Gewalt, darstellen. Der Gedanken einer besonderen, von der gesetzgebenden verschiedenen und ihr übergeordneten verfassunggebenden Gewalt ist, im Gegensatz zu Nordamerika, dem deutschen Staatsrecht nach wie vor fremd.“217 Nach dieser Definition bestünde dann kein Unterschied zwischen der gesetzgebenden und verfassunggebenden Gewalt. Auch wäre keine materielle Beschränkung der dem ordentlichen gesetzgebenden Organ zugesprochenen Fähigkeit zur Verfassungsänderung vorhanden, sondern nur eine formelle, nämlich das erschwerte Verfahren. Verändert oder aufgehoben werden dürfen verfassungsrechtlichen Bestimmungen, sobald die Zweidrittel-Mehrheit im Parlament die formalen Bedingungen erfüllt. Auf der Grundlage der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zieht Schmitt aber die Grenze der verfassungsgesetzlich geregelten Kompetenz für die Verfassungsänderung. Hierfür unterscheidet er die folgenden Begriffe: (1) Verfassungsvernichtung: „Beseitigung der bestehenden Verfassung (nicht nur eines oder mehrerer Verfassungsgesetze) unter gleichzeitiger Beseitigung der ihr zugrundeliegenden verfassunggebenden Gewalt“. (2) Verfassungsbeseitigung: „Beseitigung der bestehenden Verfassung, aber unter Beibehaltung der zugrundeliegenden verfassunggebenden Gewalt“. 216 Ebd.,
S. 98. S. 401.
217 Anschütz,
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(3) Verfassungsänderung: „Änderung des Textes bisher geltender Verfassungsgesetze; dazu gehört auch die Beseitigung einzelner verfassungsgesetzlicher Bestimmungen und die Aufnahme einzelner neuer verfassungsgesetzlicher Anordnungen“. (4) Verfassungsdurchbrechung: „Verletzung verfassungsgesetzlicher Bestimmungen für einen oder mehrere bestimmte Einzelfälle, aber als Ausnahme, d. h. unter der Voraussetzung, daß die durchbrochenen Bestimmungen im übrigen unverändert weitergelten, also weder dauernd aufgehoben noch zeitweilig außer Kraft gesetzt (suspendiert) werden“. (5) Verfassungssuspension: „vorübergehende Außerkraftsetzung einzelner oder mehrerer verfassungsgesetzlicher Bestimmungen“.218 Schmitts Unterscheidung zwischen (positiver) Verfassung und Verfassungsgesetz führt zu einer zweistufigen Legalität: die Legalität der Verfassungsgesetze contra die den Kern der Weimarer Verfassung ausmachenden grundlegenden Entscheidungen, die er später superlegalité constitutionelle nennt. Er hebt stets hervor, dass die gegenüber Verfassungsgesetzen höhere Verfassung, also die grundlegenden Entscheidungen, einer Änderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen sein soll, weil die „Verfassungsänderung“ eine verfassungsgesetzlich zugeteilte Befugnis ist, die sich nur auf einzelne Verfassungsgesetze bezieht. In diesem Sinn bedeutet für Schmitt die Verfassungsänderung eigentlich, „daß einzelne oder mehrere verfassungsgesetzliche Regelungen durch andere verfassungsgesetzliche Regelungen ersetzt werden können, aber nur unter der Voraussetzung, daß Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt bleiben.“219 So hat die Befugnis zur Verfassungsänderung unverkennbar ihre Grenze: Die Verfassung sowie die grundlegenden Entscheidungen können verändert werden, aber nur dadurch, dass die verfassunggebende Gewalt erneut tätig wird, auf keinen Fall aber durch die verfassungsgesetzlich geregelte Befugnis zur Verfassungsänderung. Verfassungsänderung ist immer etwas anderes als Verfassunggebung; sie dürfen daher keineswegs miteinander verwechselt werden. Daraus zieht Schmitt die Konsequenz, dass Verfassungsänderung weder Verfassungsvernichtung noch Verfassungsbeseitigung ist. Verfassungsänderung ist nicht Verfassungsvernichtung, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht zum Subjekt der verfassunggebenden Gewalt wird, ebenso wenig zu einer mit der Ausführung der verfassunggebenden Gewalt beauftragten verfassunggebenden Nationalversammlung – sonst wäre er der dauerhafte Träger der souveränen Diktatur. Folglich ist es überhaupt nicht zulässig, dass der Gesetzgeber im Weg der Veränderung der 218 Schmitt, 219 Ebd.,
Verfassungslehre, S. 99 f. S. 103.
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Verfassungsgesetze eine demokratische Verfassung, wie die Weimarer Verfassung, in eine monarchische verwandelt und dadurch das bestehende Subjekt der verfassunggebenden Gewalt aufhebt.220 Unterschieden werden soll ebenfalls die Verfassungsänderung von der Verfassungsbeseitigung. Dass die als Fundamentalprinzipien geltenden grundlegenden Entscheidungen veränderbar sind, bedeutet nichts anders als die Beseitigung der bestehenden Verfassung als Ganzes und geht über die Befugnis zur Revision der Verfassungsgesetze hinaus. Hierfür führt Schmitt Beispiele an: „Das demokratische Wahlrecht z. B. könnte nicht nach Art. 76 durch ein Rätesystem ersetzt werden; die föderalistischen Elemente […] können nicht einfach nach Art. 76 beseitigt werden, so daß das Deutsche Reich durch ein ‚verfassungsänderndes Gesetz‘ mit einem Schlag in einen unitarischen Staat verwandelt wäre. […] Es könnte auch nicht die Stellung des Reichspräsidenten etwa durch eine ‚Revision‘ der Art. 1 Abs. 1 oder 41 RV. usw. in die eines Monarchen verwandelt werden.“221 b) Verfassungsdurchbrechung und apokryphe Souveränitätsakte Auch an den aufgrund der inhaltlich unbeschränkten Befugnis nach Art. 76 zustande kommenden häufigen Verfassungsdurchbrechungen, die in der Weimarer Zeit die Grundrechte erheblich verletzten222, übte Schmitt heftige Kritik mithilfe des grundsätzlichen Unterschieds zwischen Verfassung und Verfassungsgesetzen. Bei Verfassungsdurchbrechungen handelt es sich für Schmitt um eine nur im Einzelfall von den Verfassungsgesetzen abweichende Anordnung, bei der die verfassungsgesetzliche Normierung unverändert weiter geltend bleibt. Verfassungsdurchbrechungen sind daher im Wesentlichen Maßnahmen, deren Notwendigkeit sich aus einer unvorhergesehenen abnormen Situation ergibt, stellen aber keine Normen, daher keine Gesetze oder Verfassungsge220 Ebd., S. 103 f. Ergänzend dazu führt Schmitt aus: „Die Wiederherstellung des monarchischen Prinzips könnte nur durch eine Verfassungsvernichtung erreicht werden. Das Verfahren des Art. 76 RV. kommt in diesem Zusammenhang gar nicht in Frage. Mit Hilfe des Art. 76 kann der Satz des Art. 1 Abs. 1 RV: ‚Das Deutsche Reich ist eine Republik‘ nicht etwa in den Satz: ‚Das Deutsche Reich ist eine erbliche Monarchie nach der Erbfolgeordnung der Familie Hohenzollern‘ verwandelt werden.“ 221 Ebd., S. 104 f. 222 Vgl. den Hinweis von Stolleis: „Zunächst mochte es überraschen, daß die als Schutzwälle gegen den Absolutismus entwickelten Grundrechte auch gegen ein vom Volk gewähltes Parlament und eine demokratisch legitimierte Verwaltung bedeutungsvoll sein sollten.“ Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 111.
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setze, dar.223 Hierzu beruft sich Schmitt auf seine in den Schriften „Diktatur“ und „politische Theologie“ entwickelte Definition der Souveränität, wonach derjenige, der im Ausnahmezustand unabhängig und unumschränkt solche Durchbrechungen und Maßnahmen vornähme, um die politische Existenz des Ganzen zu gewährleisten, der Souverän ist. Damit stellt Schmitt die Frage, ob die Legislative, obwohl sie für Verfassungsänderungen zuständig ist, laut der Weimarer Verfassung das Recht hat, Souveränitätsakte, nämlich Durchbrechungen von Verfassungsgesetzen, zu unternehmen. Laut Schmitt versucht die Lehre des Rechtsstaates die Ausübung der Souveränität in geschriebenen Gesetzen zu erfassen und zu umgrenzen, so dass kein Subjekt innerhalb der Verfassung souverän sein soll. Stattdessen werden nur die verfassungsgesetzlichen Normierungen als souverän bezeichnet. Parallel dazu werden aber die Durchbrechungen der Verfassungsgesetze, die das Parlament durch die verfassungsgesetzlich geregelten Verfahren unternimmt, als Respektierung der Verfassung angesehen und daher als zulässig und erträglich anerkannt.224 Die Verfassungsdurchbrechungen auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Befugnis zur Verfassungsänderung nennt Schmitt „apokryphe Souveränitätsakte“ und betont, sie stützten sich auf die Fiktion, dass nur die Verfassung souverän sei.225 223 Schmitt betont, der Gesetzgeber kann als Gesetzgeber nur Gesetze geben, nicht durchbrechen. Denn Gesetze zu durchbrechen, ist im Wesentlichen eine Maßnahme. Dieser Unterschied zwischen Rechtsnormen und Maßnahmen beruht auf dem Charakter der Rechtsnorm, den Schmitt nicht nur als die grundsätzlichste Eigenschaft der Gesetze, sondern auch die Substanz des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs hinstellt. Ohne diese Eigenschaft ist der Gesetzgeber „in keiner denkbaren Weise an sein Gesetz gebunden; die ‚Bindung an das Gesetz‘ ist für diejenigen, die beliebig ‚Gesetze‘ machen können, eine bedeutungslose Redensart.“ Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 107, 139 ff.; Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 249; Schmitt, Unabhängigkeit der Richter, S. 18. 224 Cristi verwechselt also offenbar die kommissarische Diktatur des Reichspräsidenten mit apokryphen Souveränitätsakten, die der Reichstag vornahm, wenn er behauptet: „He [d. i., Schmitt, S. Y.] now feels that he too can point out, without misgivings, what he calls ‚apocryphal acts of sovereignty.‘ These sovereign actions set in motion the activity of constituent power in the daily ordeal of constitutional business. They take place, for instance, when particular constitutional norms are violated.“ Daher sagt er weiter: „But ‚these acts of inevitable sovereignty‘ are better justified when they are seen as grounded on the constituent power of the people.“ Siehe Cristi, S. 191 f. Schmitt aber hebt immer hervor, dass die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt und das Bestehen der geltenden Verfassung völlig inkompatibel sind. Insofern sind die souveränen Akte des Reichtags nur apokryph. 225 Schmitt, Verfassungslehre, S. 107 f. Dagegen betont er, dass nach der Verfassung nur der Reichspräsident mit Ausnahmerechten für Verfassungsdurchbrechungen befugt ist. Trotzdem ist auch er nicht im Sinne der Diktaturgewalt souverän. Siehe unten B. III. 2. b).
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Darüber hinaus macht Schmitt darauf aufmerksam, dass die Zulässigkeit der apokryphen Souveränitätsakte des Parlaments im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Vorstellung entstanden ist, dass im Kampf zwischen König und Volk das Volk dem Parlament vertraut und beide miteinander identifiziert wurden. Insofern ist „es konsequent, daß die Volksvertretung, so lange sie sich widerspruchslos mit dem Volke identifizieren kann, solche Souveränitätsakte vornimmt.“226 Nur unter dieser Voraussetzung, der widerspruchslosen Identifizierung des Parlaments mit dem Volk, können erst die apokryphen Souveränitätsakte des Parlaments als vom Willen des Volkes hergeleitet und deshalb als erträglich betrachtet werden. Aber trotzdem ist der einfache Gesetzgeber weder Souverän noch Träger der verfassunggebenden Gewalt; er kann auch nicht unter Berufung auf die politische Notwendigkeit rücksichtslos Verfassungsgesetze im Weg eines verfassungsändernden Gesetzes durchbrechen.227 Deswegen warnt Schmitt davor, dass die apokryphen Souveränitätsakte, auch wenn sie in gewissem Maße erträglich und daher verfassungsgesetzliche Durchbrechungen sowie Einzelmaßnahmen zulässig seien, keine Fundamentalprinzipien der Verfassung verletzten dürfen, die in jedem Fall der unüberschreitbare Rahmen des verfassungsändernden Gesetzgebers ist.228 In der zweiten Hälfte der 20er Jahre zielte die oben erwähnte Lehre Schmitts von der Begrenzung der Verfassungsänderung vor allem darauf ab, die Weiterentwicklung der politischen Ordnung nach Links abzuwenden. Aber in der Krisenzeit, den letzten Jahren der Weimarer Republik, hatte Schmitt noch deutlicher als zuvor die verfassungsfeindliche Gefahr der 226 Ebd.,
S. 143, 150. ist nicht außer Acht zu lassen, dass Schmitt das Volk als pouvoir constituant und das Volk als pouvoir constituté unterscheidet. Das erstere ist das souveräne Volk, „das sich eine Verfassung gibt und Akte der verfassunggebenden Gewalt setzt“. Das letztere, in direktdemokratischen Verfahren erschienene Volk ist das Volk „innerhalb der Verfassung in Ausübung verfassungsgesetzlich geregelter Befugnisse“ und bezieht sich daher lediglich auf „Zuständigkeiten im Rahmen der gegebenen Verfassung“, wie z. B. den Volksentscheid nach Art. 73 der Weimarer Verfassung. Das im Art. 73 genannte Volk ist für Schmitt nur ein außerordentlicher Gesetzgeber. Schmitt hebt folglich hervor: „Es wäre deshalb unzulässig, während der Geltung der Weimarer Verfassung irgendeine Durchbrechung der Verfassungsgesetze einfach durch einen Volksentscheid nach Art. 73 RV. zu sanktionieren.“ Dazu vgl. ebd., S. 98, 239 ff.; Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, S. 32, 47 ff. 228 Dafür führt Schmitt einige Beispiele an. U. a. betont Schmitt besonders die Verfassungswidrigkeit der Beseitigung der als der Kern des Rechtsstaats geltenden Grundrechte: „aber ein in dem Verfahren des Art. 76 zustandegekommenes Gesetz, welches die persönliche Freiheit oder ein anderes anerkanntes Grundrecht überhaupt beseitigen und unberechenbare Eingriffe in das Ermessen einer Behörde stellen würde, wäre verfassungswidrig, weil es das Grundrecht vernichtet.“ Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 109, 177 f. 227 Es
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„legalen Revolution“ vor Augen, nicht nur vonseiten der radikalen Linken, sondern auch von der radikalen Rechten, als – insbesondere im Jahr 1932 – die verfassungsfeindlichen Radikalen erstmals die Mehrheit im Parlament gewannen und sogar zu erwarten war, dass diese in absehbarer Zeit eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit gewinnen könnten. In dieser politischen Lage war die Möglichkeit nicht ausgeschlossen: „Wer 51 v. H. beherrscht, würde die restlichen 49 v. H. auf legale Weise illegal machen können. Er dürfte auf legale Weise die Tür der Legalität, durch die er eingetreten ist, hinter sich schließen und den parteipolitischen Gegner, der dann vielleicht mit den Stiefeln gegen die verschlossene Tür tritt, als einen gemeinen Verbrecher behandeln.“229 Der absolute und formalistische Anspruch an die Legalität, wie er sich bei Rechtspositivisten findet, wird letztlich die unvermeidliche Konsequenz zeitigen, die Legalität selbst legal zu beseitigen. Schmitt stellte daher zur „legalen Revolution“ der NSDAP fest: „Wenn eine Verfassung die Möglichkeit von Verfassungsrevisionen vorsieht, so will sie damit nicht etwa eine legale Methode zur Beseitigung ihrer eigenen Legalität, noch weniger das legitime Mittel zur Zerstörung ihrer Legitimität liefern.“230 Hierfür bedarf es der superlegalité constitutionelle, die sich über Verfassungsgesetze und die verfassungsändernde Befugnis erhebt; die konstitutionelle Superlegalität ist gewiss in der verfassunggebenden Gewalt des Volkes verwurzelt. Insbesondere in Bezug auf die dem Prinzip des Rechtsstaats zugrunde liegenden Grundrechte, die, so Schmitt, überhaupt nicht zu vernichten sind: „[E]in in dem Verfahren des Art. 76 zustandegekommenes Gesetz, welches die persönliche Freiheit oder ein anderes anerkanntes Grundrecht überhaupt beseitigen und unberechenbare Eingriffe in das Ermessen einer Behörde stellen würde, wäre verfassungswidrig, weil es das Grundrecht vernichtet.“231 Nun äußert sich die Umdeutung der verfassunggebenden Gewalt deutlich. Schmitt erkennt einerseits die Legitimität der Novemberrevolution auf der Grundlage der verfassunggebenden Gewalt des Volkes an, die durch die verfassunggebende Nationalversammlung tätig wird und mithilfe ihrer souveränen Diktatur die Weimarer Verfassung in Kraft setzt; andererseits versucht er auch zu verhindern, dass verfassungsfeindliche Parteien unter Berufung auf den „wahren“ Willen des Volkes das für Verfassungsänderung zuständige Parlament zum Träger der souveränen Diktatur transformieren, um die bestehende Verfassungsordnung vor umfassenden Revisionen zu bewahren. Insofern gilt der Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als das ge229 Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S. 286. Dazu auch vgl. Muth, Carl Schmitt in der Deutschen Innenpolitik des Sommers 1932, S. 87 f., 95 ff. 230 Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S. 311. 231 Schmitt, Verfassungslehre, S. 177. Über das Prinzip des Rechtsstaats als eine grundlegende politische Entscheidung siehe oben B. II. 3.
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eignete Mittel dafür, die Grenze der verfassungsmäßigen Kompetenzen zu ziehen. Wohl aufgrund seiner Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung weist man auf Schmitts Einfluss auf die „Ewigkeitsklauseln“ des Grundgesetzes hin und erklärt ihn infolgedessen zum „Vater der Verfassungsväter“.232 2. Kommissarische Diktatur des Reichspräsidenten und Hüter der Verfassung Neben der Theoretisierung der Grenze der parlamentarischen Verfassungsänderungsbefugnis mithilfe des Unterschieds zwischen Verfassung und Verfassungsgesetzen sieht Schmitt in dem Reichspräsidenten auch eine Instanz zur Kontrolle der Verfassungsänderungsbefugnis. Bedeutet dies aber, dass Schmitt die Macht der Exekutive zu erweitern intendiert und dadurch dem Hitler-Regime eine theoretische Basis bietet? Die Antwort darauf steht im engen Zusammenhang mit Schmitts Interpretation der Rolle und der Kompetenz des Reichspräsidenten, die in der Weimarer Verfassung geregelt werden. Hierfür sollen die Kompetenzen des Reichspräsidenten, die auf zwei Zustände – auf den Normalzustand und den Ausnahmezustand – orientiert sind, unterschiedlich behandelt werden. a) Wahrende Gewalt und Gegengewicht zum Parlament Im Anschluss an die Vorstellung des Vaters der Verfassung, Hugo Preuß, hebt Schmitt in erster Linie die Rolle des Reichspräsidenten im Normalzustand als die neutrale überparteiliche Gegengewalt zum Reichstag hervor. In dem Verfassungsentwurf von Preuß wurde der Reichspräsident mit Rücksicht auf den „Parlamentsabsolutismus“ als ein Mechanismus zur Kontrolle des Reichstags hingestellt. Damit war zwar sichergestellt, dass die kommende Verfassung eine parlamentarische sein musste, jedoch wurde zugleich ein vom Volk unmittelbar gewählter Reichspräsident bestellt. Diese dualistische Verfassung, die den Parlamentarismus mit dem Präsidialsystem kombiniert, wurde als „echter Parlamentarismus“ ausgewiesen.233 Der Charakter dieses 232 Mehrere Forschungen verweisen bereits auf den Einfluss der Lehre Schmitts auf das Grundgesetz von Bundesrepublik. Vgl. Mußgnug, S. 517 ff.; Schlink, S. 160 f.; Lietzmann, S. 114 f. Dazu auch Laak, S. 157 ff. 233 Bei Preuß heißt es: „Der echte Parlamentarismus setzt nämlich zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane voraus … In der parlamentarischen Monarchie steht die Krone neben dem Parlament. In der parlamentarischen Demokratie, in der alle politische Gewalt vom Volkswillen ausgeht, erhält der Präsident die ebenbürtige Stellung neben der vom Volke unmittelbar gewählten Volksvertretung nur, wenn er nicht von dieser selbst, sondern unmittelbar vom Volke gewählt wird …“ Zitiert nach Wolfgang J. Mommsen, S. 376 Fn. 60.
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Parlamentarismus – der auch „semipräsidiales Regierungssystem“ heißen kann – bestand darin, dass Reichspräsident und Reichstag in einem gleichgewichtigen Verhältnis blieben. Normalerweise war die Regierung, die die vom Reichspräsidenten ernannten Reichskanzler und Minister bildeten, für ihre Amtsführung an das Vertrauen des Reichtages gebunden. Wenn aber große politische Konflikte zwischen Reichsregierung und Reichstag eintraten, verfügte der plebiszitär legitimierte Reichspräsident über vom Reichstag unabhängige Befugnisse zur Lösung des Konflikts zwischen Exekutive und Legislative, indem er das Parlament auflöste, was einen „Appell an das Volk“ bedeutete.234 Außerdem stellte Preuß heraus, dass ein aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgehendes Staatoberhaupt sich dem parteilichen Widerstreit enthebe und „ein gewisses Zentrum, einen ruhenden Pol in der Verfassung“ bilden könne.235 Schmitt übernimmt diese Vorstellung und schließt eine ausgeweitete verfassungsrechtliche Auslegung an, der zufolge der Reichspräsident eine „neutrale, vermittelnde, regulierende und wahrende“ Rolle einnimmt:236 (1) Der Reichspräsident als neutrale Gewalt: Wie oben gezeigt, repräsentiert der vom Volk direkt gewählte Reichspräsident als Staatsoberhaupt den Staat als Ganzes, wohingegen das Parlament die politische Gliederung des Volkes widerspiegeln soll. Der Reichspräsident fungiert also als eine überparteiliche neutrale Gewalt.237 (2) Der Reichspräsident als vermittelnde Gewalt: Die Gültigkeit aller Anordnungen des Reichspräsidenten bedarf der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Demzufolge sollte der Reichspräsident als nominelles Staatsoberhaupt keine politische Verantwortung tragen. Trotzdem könne er, so Schmitt, vermittelnden Einfluss zur Schlichtung von Konflikten zwischen Staatsorganen nehmen, um dem Staat „ein reibungsloses Funktionieren“ zu ermöglichen.238 234 Hugo
Preuß, S. 388 f., 416 ff. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 138. 236 Ebd., S. 135. 237 Schmitts Interpretation des Reichspräsidenten als der neutralen Gewalt wurde von den meisten Rechtswissenschaftlern anerkannt und wurde zur vorherrschenden Auffassung. Vgl. Anschütz / Thoma, Bd. I, S. 501 f.; Anschütz, S. 255. 238 Schmitt führt dazu an: „der Reichspräsident als Träger einer Art neutraler Gewalt zwischen den zahlreichen Organen und Faktoren, welche die Weimarer Verfassung kennt: Reichsregierung, Reichstag, Reichsrat, Landesregierungen […] d. h., einer zwischen den verschiedenen Gesetzgebungs- und Regierungsgewalten vermittelnden, selbständigen Gewalt, die, ohne die Führung an sich zu reißen, die Gegensätze ausgleicht und auf diese Weise der komplizierten Maschine eines modernen Staates ein reibungsloses Funktionieren ermöglicht.“ Schmitt, in: Staat, Grossraum, Nomos, S. 26 f. Dazu auch Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 138 ff. 235 Siehe
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(3) Der Reichspräsident als die wahrende Gewalt: Dies ist die umstrittenste Argumentation Schmitts. Da es der Weimarer Verfassung am richter lichen Prüfungsrecht zur Kontrolle der Verfassungsänderungsbefugnis gemäß Art. 76 fehlt, akzentuiert Schmitt besonders die Kontrolle des Reichstags durch den Reichspräsidenten. Er meint, dass die Gerichtsbarkeit, deren Entscheidungen unbedingt an die Gesetze gebunden sind, außerstande sei, in kritischen politischen Konflikten wider die Legislative eine politische Entscheidung zu treffen. Außerdem solle dies in einer Demokratie auch nicht von einer undemokratisch entstandenen „noblesse de robe“ vorgenommen werden, sondern durch demokratische Mechanismen mittels eines „Appells an das Volk“.239 Wenn der Gerichtshof aber mit dem Eingreifen in das Politische belastet werde, folge daraus nur die Politisierung der Judikative, was schließlich die Autorität der Gerichte untergrabe.240 In diesem Zusammenhang fungieren die Befugnisse des vom ganzen deutschen Volk gewählten Reichspräsidenten, vornehmlich die Auflösung des Reichstags (Art. 25) und der Volksentscheid über ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz (Art. 73), als die effektive Institution zur Kontrolle des Parlaments. Durch diese Befugnisse kann das Volk unmittelbar eine klare politische Entscheidung treffen, wenn der Reichstag wegen parteilicher Gegensätze unfähig zur politischen Willensbildung ist oder sich kritische Konflikte zwischen den obersten Reichsinstanzen ereignen. Schmitt stellt also fest: „Dadurch, daß sie den Reichspräsidenten zum Mittelpunkt eines Systems plebiszitärer wie auch parteipolitisch neutraler Einrichtungen und Befugnisse macht, sucht die geltende Reichsverfassung gerade aus demokratischen Prinzipien heraus ein Gegengewicht gegen den Pluralismus sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen zu bilden und die Einheit des Volkes als eines politischen Ganzen zu wahren.“241
Mit dem Hinweis darauf, dass nach der Weimarer Verfassung der Reichspräsident die Rolle eines Gegengewichtes zum Parlament zu spielen hat, hat nach Schmitt der Reichspräsident die Aufgabe, der Stabilität der Verfassungsordnung vor Handlungsunfähigkeit oder möglichem Befugnismissbrauch des Parlaments zu schützen. In diesem Sinn kennzeichnet er den Reichspräsidenten als die wahrende Gewalt und den „Hüter der Verfas sung“.242 Allerdings ist zu betonen, dass Schmitt nicht die Ausdehnung der 239 Schmitt,
Zehn Jahre Reichsverfassung (1929), S. 37 f. Legalität und Legitimität (1932), S. 342. 241 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 159. 242 Im Gegensatz zu Schmitt bezeichnet Kelsen nicht den Reichspräsidenten sondern die Gerichtsbarkeit als den Hüter der Verfassung. Er verweist darauf, dass Schmitt mithilfe Constants Begriff des „pouvoir neutre“, der in der parlamentari240 Schmitt,
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Macht des Reichspräsidenten sowie der Exekutive rechtfertigt, wenn er den Reichspräsidenten als den Hüter der Verfassung entwirft. Tatsächlich überschreitet seine Auslegung der Rolle des Reichspräsidenten nicht den Rahmen der Weimarer Verfassung, denn es ist sicher, dass der Verfassunggeber bewusst den Reichspräsidenten als einen Teil der Gewaltenteilung und einen Mechanismus zur Lösung ernsthafter politischer Konflikte einsetzte. Genau in diesem Sinn nennt Schmitt ihn den Hüter der Verfassung. b) Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten aus Art. 48 aa) Kommissarische Diktatur oder souveräne Diktatur? Im Notfall trug der Reichspräsident eine andere Aufgabe: die Diktatur des Reichspräsidenten, also der gemäß dem Art. 48 der Weimarer Verfassung verhängte Ausnahmezustand. Die Diktatur des Reichspräsidenten spielt in Schmitts Theorie eine maßgebliche Rolle als außerordentliche Abhilfe gegen die Instabilität der Verfassung. Zu fragen ist aber, ob Schmitt in der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten einen Angelpunkt zur kommissarischen und souveränen Diktatur bzw. eine Möglichkeit zum Übergang von der Weimarer Verfassung zu einer völlig neuen Verfassung sieht. Wie die anderen geschichtlich zustande gekommenen Fälle der kommissarischen Diktatur diente auch die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor äußeren oder inneren Gefahren. Dafür konnte er, sofern die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört oder gefährdet wurde, nötige Maßnahmen treffen und erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Der Art. 2 Satz 2 führte eine Beschränkung dieser Kompetenz an: „Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“243 schen Monarchie des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, die Rolle eines demokratischen Staatsoberhaupts vor allem darin sieht, durch die Kompetenz des Reichspräsidenten das Parlament zu beschränken. Ferner warnt er davor, dass sich daraus aber die Erweiterung der exekutiven Macht und somit ein möglicher Umsturz der Verfassung ergeben könnten, wenn der Reichspräsident von seinen Befugnissen zur Kontrolle der Legislative Gebrauch macht. Kelsen, S. 6 ff. Zu Kelsens Kritik an Schmitts in Bezug auf den Hüter der Verfassung auch vgl. Dyzenhaus, Legality and Legi timacy, S. 108 ff. 243 Der Wortlaut des Art. 48 enthält 5 Absätze: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der
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Nach der ursprünglichen Absicht in der verfassunggebenden Nationalversammlung zielte die Anwendung des Ausnahmerechts aus Art. 48 als ein militärisches Mittel ursprünglich vor allem auf militärische und polizeiliche Notstände, wie Kriege oder innere Unruhen, die die Voraussetzungen der Geltung der Verfassung stören. In diesem Sinn galt die Diktaturgewalt aus Art. 48 bloß als eine „Reservekompetenz“, die nur in außerordentlichen Notfällen gehandhabt werden sollte.244 Allerdings war das Ausmaß der Handhabung der Ausnahmebefugnisse schon wegen des bürgerkriegsähnlichen und katastrophalen wirtschaftlichen Zustandes von 1920–1923 unvermeidlich ausgedehnt worden. Der theoretische Grund der Ausdehnung der Diktaturgewalt besteht vor allem darin, dass die vorherrschende Lehrmeinung noch von der Praxis des Ersten Weltkriegs sowie der überlieferten Auslegung des preußischen Be lagerungszustandsgesetzes ausging. Demnach war es zulässig, dass der Reichspräsident Verordnungen mit Gesetzeskraft bzw. „gesetzvertretende Notverordnungen“ auf Grundlage der Diktaturgewalt erlassen durfte.245 Folglich wurden seit der Zeit Eberts schon vielfach Maßnahmen legislativer statt exekutiver Art getroffen, um die wirtschaftliche und finanzielle Notsituation zu überwinden. Zwei Entwicklungen waren dann nicht reversibel: zum einen die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Art. 48 auf die wirtschaftliche und finanzielle Krisensituation; zum anderen die Anerkennung der Notverordnung als eine Art Gesetzgebung. Denn die im Notfall getroffenen Maßnahmen ließen sich teilweise nach Rückkehr zum Normalzustand nicht aufheben, sondern blieben als Dauerregelung bestehen.246 Aus der verschwimmenden Differenz zwischen exekutivem Akt und genereller Rechtsnorm ergab es sich, dass das verfassungsmäßige Prinzip der Gewalöffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.“ 244 Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 46 ff. 245 Zur herrschenden Auslegung des Art. 48 Abs. 2 und ihrer Rezeption des vorrepublikanischen Ausnahmezustandes vgl. Kurz, Demokratische Diktatur?, S. 55 ff. Zu den Vertretern der Lehre von der Zulässigkeit gesetzvertretender Diktaturverordnung vgl. Huber, Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatstheorie der Weimarer Zeit, S. 201 Fn. 18. 246 Hierzu Näheres vgl. ebd., S. 199 ff.; Boldt, S. 292 ff.
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tenteilung sowie des Gesetzesvorbehalts, der die Grundrechte vor dem willkürlichen Eingriff der Exekutive schützte, verletzt wurde. In diesem Fall konnte der Inhaber der vollziehenden Gewalt durch die Außerkraftsetzung der Grundrechte Verordnungen erlassen, ohne an eine gesetzliche Ermächtigung des Reichstags gebunden zu sein. Außerdem war auch die Frage umstritten, ob die präsidiale Ausnahmegewalt in die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zwischen Ländern und dem Reich eingreifen durfte, so in Sachsen im Jahr 1923.247 Die Präzedenzfälle weckten die Vorstellung, dass die präsidiale Ausnahmegewalt nahezu „unbeschränkt“ zu sein schien.248 In diesem Kontext trat daher die verfassungsrechtliche Debatte, ob und inwieweit die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten unbeschränkt ist, in den Vordergrund. Allerdings blieb bis 1922 der Versuch, eine systematische Lehre der Begrenzung der präsidialen Ausnahmegewalt zu entwickeln, ohne Erfolg. Erst Grau stellt eine vollständige verfassungsrechtliche Lehre der Einschränkung der Ausnahmegewalt auf.249 Entgegen Graus „Unantastbarkeitslehre“ vertraten Jacobi und Schmitt die „Durchbrechungslehre“, die 1926 auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Jena vorgetragen wurde. Hiermit will Schmitt einerseits die Reichweite der Notverordnungen verengen, andererseits aber dem Reichspräsidenten weiten Spielraum dafür zuweisen, nach konkreter Sachlage auf Notfälle zu reagieren. Mithilfe seiner früher aufgestellten begrifflichen Unterscheidung von Souveränität, kommissarischer Diktatur und souveräner Diktatur versucht Schmitt zunächst 247 In Sachsen hatte 1923 die kommunistische Partei die Gelegenheit, in die SPDRegierung einzutreten. Zugleich beschloss die Kommunistische Internationale in Moskau einen Umsturzversuch, den „Deutschen Oktober“, in Deutschland durchzuführen. Aus Furcht davor entschied die Reichsregierung, unter Berufung auf Art. 48 Abs. 2 die sächsische Landesregierung abzusetzen und einen Reichskommissar mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. Näheres dazu vgl. Winkler, Weimar 1918–1933, S. 213 ff. Ob diese Anwendung des Art. 48 zum Eingriff in die Landeshoheit verfassungswidrig war, war damals strittig. Dieser Präzedenzfall wurde später zum Vorbild für den „Preußenschlag“. 248 Vgl. Kurz, Demokratische Diktatur?, S. 77 ff., 167 ff.; Boldt, S. 292 ff. 249 Nach Richard Graus „Unantastbarkeitslehre“ ist die Verfassung durch die Befugnisse des Reichspräsidenten zur Handhabung des Ausnahmerechts aus Art. 48 unantastbar. Der Reichspräsident dürfe gesetzvertretende Notverordnungen erlassen, aber gemäß Abs. 2 lediglich in jene Gesetze eingreifen, welche die aufgezählten sieben Grundrechte betreffen (Art. 48 Abs. 2 Satz 2). Dies bedeute für die Unantastbarkeitslehre nur die aus der Juristenregel Enumeratio ergo limitatio entstandene Ausnahme. Außer dieser Ausnahme sei es dem Reichspräsident nicht gestattet, in die restlichen Bestimmungen der Verfassung einzugreifen. Insofern erkannt Grau die Rechtssetzung der Exekutive durch Diktaturmaßnahmen an, deren Reichweite aber streng auf die sieben Grundrechte beschränkt wurde. Näheres dazu vgl. Grau, Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten.
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die Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten sowie ihre Grenze darzustellen. Es liegt für Schmitt nahe, dass die Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten als eine verfassungsmäßige Einrichtung von Anfang an von der Souveränität unterschieden ist, die wegen der Eigenschaft „legibus solutus“ absolut und nicht durch die Verfassung begrenzt ist. Der Reichspräsident ist dagegen bloß ein Verfassungsorgan, dessen Ausnahmebefugnisse sich aus der Verfassung ableiten und die Geltung der Verfassung zur Voraussetzung haben.250 Diese Gewalt scheint zwar sehr groß zu sein, dennoch ist sie nicht unbeschränkt, sondern muss unter der Kontrolle des Reichstags stehen. Der Reichspräsident darf keineswegs wie ein Fürst selbst über den Ausnahmezustand entscheiden. Zum anderen kann der Reichspräsident ebensowenig mit der verfassunggebenden Nationalversammlung als Trägerin der souveränen Diktatur gleichgestellt werden, die auf dem pouvoir constituant beruht und daher die bereits geltende Verfassung zum großen Teil umgestalten oder sogar beseitigen kann.251 Die kommissarische Diktatur ist ganz anderer Art, so dass Schmitt behauptet: „Trotz aller Wendungen wie ‚schrankenlose Gewalt‘ oder ‚plein pouvoir‘, die für die Befugnisse des Reichspräsidenten aus Art. 48 Abs. 2 gebraucht worden sind, wäre es doch unmöglich, daß er auf Grund dieser Verfassungsbestimmung, wenn auch nur in Verbindung mit der gegenzeichnenden Reichsregierung, eine souveräne Diktatur ausübt.“252 Als eine konstituierte Gewalt muss die Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten im Rahmen der Verfassung beschränkt werden, „in der Weise, daß sowohl Voraussetzung wie Inhalt der diktatorischen Befugnisse tatbestandsmäßig umschrieben und aufgezählt werden.“253 Es fragt sich aber, was der Inhalt der diktatorischen Befugnisse ist und wie weit diese Befugnisse ausgeübt werden. Im Gegensatz zur Unantastbarkeitslehre stellt Schmitt fest: Das Ausnahmerecht aus Art. 48 Abs. 2 schließe eigentlich zwei unterschiedliche Befugnisse ein: zum einen die Befugnis, die nötigen und vorläufigen Maßnahmen zu treffen (Verfassungsdurchbrechung), und zum anderen die Befugnis, die sieben Grundrechte durch Notverordnungen außer Kraft zu setzen (Verfassungssuspension). Schmitt stellt zuerst Graus grundsätzliches Argument „Unantastbarkeit der Verfassung“ in Frage, weil es für ihn die grundlegende Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetzen nicht in Rechnung stellt. Schmitt akzentuiert 250 Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 236 f.; Schmitt, Politische Theologie, S. 17 f. 251 Zweifelhaft ist also die Andeutung von Maus, dass Schmitt Volkssouveränität mit der verfassunggebenden Gewalt identifiziere und sie eher durch den Reichspräsidenten ausdrücken lasse. Vgl. Maus, Zur Transformation des Volkssouveränitätsprinzips, S. 114 f. 252 Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 237 f. 253 Ebd., S. 239.
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ferner, es sei nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, dass die Staatsgewalt während des Ausnahmezustandes über rechtliche Beschränkungen hinweggehe, um die Verfassung als Ganzes aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck sei der Reichspräsident nötigenfalls berechtigt, Verfassungsgesetze – aber keinesfalls die Verfassung selber – zu durchbrechen oder zu suspendieren.254 Die Verfassung sei in diesem Sinn selbstverständlich unantastbar, aber einzelne verfassungsgesetzliche Bestimmungen seien es nicht unbedingt. Aus dieser Sicht begründen sich die Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten aus Art. 48 Abs. 2 zur zeitweiligen Durchbrechung oder Außerkraftsetzung von verfassungsgesetzlichen Bestimmungen. Gemäß dem Art. 48 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Verfassung ist dem Reichspräsidenten die Befugnis für verfassungsachtende Verfassungsdurchbrechung erteilt, d. h., der Präsident kann ausnahmeweise mit bestimmten Maßnahmen die Verletzung einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung für einen oder mehrere bestimmte Einzelfälle vornehmen, wobei das verletzte Verfassungsgesetz nicht außer Kraft tritt, sondern unverändert weiter gilt. Die Durchbrechung beschränkt sich dann nicht auf die im Art. 48 Abs. Satz 2 aufgezählten sieben Grundrechte. Art. 48 Abs. Satz 2 aber bezeichnet für Schmitt eine andere, von Satz 1 unterschiedliche Befugnis. Laut ihr sei es zulässig, dass der Präsident zeitweilig zur Aufrechterhaltung der Verfassung sowie der öffentlichen Ordnung die verfassungsgesetzlichen Bestimmungen über die aufgezählten sieben Grundrechte suspendieren, d. h. außer Kraft setzen darf. Zu beachten ist, dass Schmitt wiederholt betont, dass die Suspension nicht die Durchbrechung im Einzelfall ist, „denn es wird keine geltende gesetzliche Bestimmung verletzt, vielmehr die Geltung aufgehoben“.255 Aus der Unterteilung der Ausnahmebefugnis in Durchbrechung und Suspension ist die Konsequenz zu ziehen, dass es logischerweise nicht zu billigen ist, von der Aufzählung der Grundrechte (Art. 48 Abs. 2 Satz 2) eine Einschränkung des Spielraums dieser Maßnahme (Art. 48 Abs. 2 Satz 1) herzuleiten, denn es handelt sich um zwei verschiedene Dinge. Im Vergleich zur Unantastbarkeitslehre erweitert Schmitts Auslegung offensichtlich die Ausnahmebefugnisse aus Art. 48256; der Reichspräsident kann zwecks des Schutzes 254 Schmitt, Verfassungslehre, S. 26 f. Huber ist auch derselben Auffassung: „Zur ‚öffentlichen Ordnung‘ im Sinn des Art. 48 Abs. 2 gehörte vor allem die ‚Verfassung‘, nämlich die Grundordnung […]“ vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 702 ff. 255 Schmitt, Verfassungslehre, S. 109 ff.; Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 227 ff. 256 Hierzu führt Schmitt zwei praxisbezogene Beispiele in Bezug auf Art. 129 und 153 an, um das Ergebnis aus verschiedenen Lehrmeinungen näher zu erklären: „Eine Verordnung z. B., welche allgemein im Interesse von Sparmaßnahmen den Abbau von Beamten ohne Rücksicht auf Art. 129 RV. für zulässig erklärt, ist verfassungswidrig, weil sie eine Außerkraftsetzung enthält, und Art. 129 nicht zu den
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der Verfassung als Ganzes durch politische Entscheidungen und erforderliche Maßnahmen verfassungsgesetzliche Schranken durchbrechen. Eben mit demselben Argument rechtfertigt Schmitt die Reichsexekution gegen Thüringen und Sachsen zwischen 1922 und 1923, bei der Reichspräsident Ebert die Landesregierung suspendierte und andere Personen mit der Geschäftsführung betraute257 – es ist daher verständlich, weshalb Schmitt 1932 auf der Seite des Reichs für den Preußenschlag plädierte. Trotz der teilweise theoretischen Ausweitung der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten ist die Tatsache keinesfalls zu ignorieren, dass Schmitt in diesen Ausnahmebefugnissen nur die kommissarische Diktatur sieht, die als eine verfassungsmäßige Einrichtung unüberschreitbare Grenzen durch die Verfassung haben muss. Im Allgemeinen, so Schmitt, gibt es drei Beschränkungen der präsidialen Diktaturgewalt: (1) Die Verfassung ist als Ganzes nicht nur der Zweck aller Maßnahmen des Art. 48, sondern auch ihre Voraussetzung. Wie oben erwähnt wurde, leiten sich Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten aus der Verfassung ab und sind demnach verfassungsmäßig, so dass es verfassungswidrig wäre, wenn die Verfassungsänderung nicht durch das Verfahren gemäß Art. 76, sondern mit der präsidialen Ausnahmebefugnis durchgesetzt würde.258 Außerdem richtet sich die präsidiale Diktaturgewalt als außergewöhnliche Befugnis immer auf die außerordentliche Situation und dient daher zur Wiederherstellung des normalen Zustandes, nämlich der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Was unter der normalen Situation zu verstehen ist, hängt unbedingt von der Verfassung und den suspendierbaren Rechten gehört. Wohl aber kann der Reichspräsident nach Art. 48 Ab. 2 Satz 1 im konkreten Falle Reichs-, Landes- und Gemeindebeamten die Ausübung ihres Amtes untersagen und andere Personen mit der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte betrauen. Das ist ein Eingriff in den Art. 129, aber keine Außerkraftsetzung. Entsprechendes gilt für alle übrigen nicht aufgezählten grundrechtlichen Bestimmungen, z. B. auch den vielumstrittenen Art. 159.“ Siehe Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 228. 257 Ebd., S. 245. 258 „Die Befugnis des Reichspräsidenten beruht auf einer Verfassungsbestimmung. Mit Hilfe einer solchen Befugnis auf einem anderen als dem in der Verfassung geregelten Weg der Verfassungsänderung, also anders als nach Art. 76, die Verfassung zu ändern, wäre verfassungswidrig. Damit sind keineswegs Maßnahmen des Reichspräsidenten ausgeschlossen, welche in einzelne Verfassungsbestimmungen eingreifen und dadurch Ausnahmen schaffen, ohne die Verfassung aufzuheben. Solche (von E. Jacobi so bezeichneten) Durchbrechungen einzelner Verfassungsartikel sind keine Änderungen der Verfassung, setzen sie nicht außer Kraft und heben sie nicht auf. Sie sind das typische Mittel der Diktatur: durch eine Ausnahme von Verfassungsbestimmungen die Verfassung selbst als Ganzes zu retten.“ Ebd., S. 242.
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grundlegenden politischen Entscheidungen ab.259 Weil die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Voraussetzung der präsidialen Ausnahmebefugnis ist, soll der Reichspräsident auch nicht mit seiner Ausnahmebefugnis den Normalzustand gefährden und keineswegs die Verfassung als Ganzes beseitigen. (2) Der Reichspräsident darf nicht mit Maßnahmen in das „organisatorische Minimum“ der Weimarer Verfassung eingreifen260, das die fundamentalen Organisationsprinzipien des Reichsaufbaus sowie die Hauptorgane des Reichsverfassungssystems einschließt. Z. B. kann der Reichspräsident nicht aufgrund dieses Artikels seine Amtszeit verlängern oder das verfassungsmäßige Institut des Reichspräsidenten verändern. Weiterhin sieht der Art. 48 Abs. 3 auf der Grundlage der Gewaltenteilung die parlamentarische Kontrolle der Diktaturgewalt vor: Der Reichstag kann die Maßnahmen aus Art. 48 Abs. 2 außer Kraft setzen. Außerdem ist gemäß Art. 50 für die Geltung solcher Maßnahmen die Gegenzeichnung durch den Reichskanzler erforderlich. Es bedarf also des Vertrauens des Reichtages, wenn der Reichspräsident erforderliche Maßnahmen nach Art. 48 trifft. Die Kontrollbefugnisse des Reichstags stellt Schmitt noch als die entscheidende „eigentliche Grenze der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten“ hin261, daher hebt er auch hervor, dass der Reichspräsident nicht einmal unter Berufung auf Art. 48 in die Rechtsstellung des Reichtags eingreifen oder die parlamentarischen Kontrollbefugnisse irgendwie verhindern darf, indem er z. B. die Neuwahl des Reichstags verhindert oder die Frist bis zur Neuwahl verlängert. (3) Die letzte Beschränkung beruht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung: anders als der einfache Gesetzgeber, der Reichstag, darf der Reichspräsident als gesetzvollziehendes Organ nur zeitweilige Maßnahmen treffen, aber nicht allgemeine dauerhafte Gesetze erlassen.262 Auch die Verfassungssuspension ist befristet. Danach muss das vorübergehend aufgehobene Grundrecht wieder gelten. Umgekehrt ist die Befugnis zur Schaffung genereller Rechtnormen, wie Gesetzgebung oder verfassungsgesetzliche Revision, dem Parlament zugewiesen, das aber nicht unan259 Ebd., S. 242 ff. Aus diesem Grund widerspricht Schmitt Gustav von Kahr, der 1923 in den Verdacht des Staatsstreichs geriet: „In der Form, wie die Zeitungsberichte eine Äußerung von Kahrs aus seiner Vernehmung vor dem Münchener Volksgericht vom 11. März 1924 brachten: nach Art. 48 könne ein Direktorium gebildet werden und es sei ‚wohl möglich‘, auf Grund dieses Artikels die ganze Reichsverfassung außer Kraft zu setzen (‚das wird wohl möglich sein, das ist eine reine Rechtsfrage‘) ist die Auffassung rechtsirrig.“ 260 Ebd., S. 244 ff. 261 Siehe Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 131. 262 Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 247 ff.
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gemessen Verfassungsdurchbrechungen vornehmen darf. Indem er der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten die gesetzgebende Kompetenz vorenthält, beschränkt Schmitts Auslegung bewusst die Ausnahmebefugnisse nach Art. 48 streng auf den Zweck, den normalen, also nicht von der Verfassung abweichenden Zustand wiederherzustellen. Insofern wird deutlich, dass Schmitt in jener Phase in der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten eine Abhilfe sieht gegen den vorübergehenden polizeilichen oder militärischen Notstand, in dem die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört werden. Unter diesem Umstand ist die Geltung oder sogar die Existenz der Verfassung bedroht. In diesem Fall soll eine Einrichtung befugt sein, vorübergehend einzelne Verfassungsgesetze zu durchbrechen oder zu suspendieren, allerdings nur zu dem Zweck, den in der Verfassung als normal vorausgesetzten Zustand und dadurch die Kraft der bestehenden Verfassung wiederherzustellen. Hierfür soll der Reichspräsident imstande sein, von einer vorläufigen, rechtlich unbeschränkten Gewalt Gebrauch zu machen. Es handelt sich aber immer um Behelfsmaßnahmen. Der Erlass genereller dauernder Notverordnungen mit Gesetzeskraft weicht, nach Schmitt, daher von der Konzeption einer solchen Reservekompetenz ab. Die Rechtssetzung soll dem Reichstag als Gesetzgeber vorbehalten bleiben, keinesfalls aber auf den Reichspräsidenten übergehen. Durch die Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetzen wird dem Reichspräsidenten ein weiter Spielraum erteilt, was aber nicht eine das Parlament entmachtende Präsidialherrschaft zur Folge hat.263 Die Beobachtung von Quaritsch wird Schmitt daher eher gerecht: „Schmitts Auslegung des Art. 48 war in der Aussprache der Vereinigung 1924 überwiegend als teils zu eng, teils zu weit abgelehnt worden.“264 bb) Die kommissarische Diktaturgewalt aus Art. 48 in der Endphase der Weimarer Republik In den letzten Jahren der Weimarer Zeit kann man einen erstaunlichen Umschwung in der Auffassung Schmitts wahrnehmen. Weil seit 1928 eine stabile parlamentarische Mehrheit wegen der Stärkung der radikalen Parteien nicht mehr gegeben war, geriet der Reichstag in eine dauerhafte Funk tionsunfähigkeit. Wegen des Streits um die kredit- und haushaltsrechtlichen Notverordnungen 1930 / 31265 ging die expansive Auslegung der Notverord263 Diese Stellungnahme vertritt insbesondere Ulrich K. Preuß. Vgl. Preuß, Die Bändigung oder die Entfesselung des Politischen?, S. 154 ff. 264 Quaritsch, Souveränität im Ausnahmezustand, S. 2. 265 Zum geschichtlichen und politischen Kontext vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 800 ff., 803 ff. Zum verfassungsrechtlichen Hintergrund
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nung so weit, dass beim Scheitern des Haushaltsgesetzes „der Reichspräsident befugt sei, das verfassungsrechtlich erforderliche formelle Reichsgesetz durch die Feststellung des Haushaltsplans im Weg der Diktaturverordnung zu ersetzen.“266 Nach Schmitts Auslegung in dieser Phase kann und soll der Reichspräsident gesetzvertretende Notverordnungen erlassen, wenn der Reichstag aufgrund des zentrifugalen „Pluralismus“ der Parteipolitik keine notwendige Mehrheit bildet und somit unfähig ist, seine Kompetenz zur Gesetzgebung durchzusetzen. Mehr oder weniger geht diese Auslegung so weit, dass sie nicht über den Zweifel erhaben ist, ob sie die ursprüngliche Intention der Verfassunggeber übertrifft.267 Was aber unter diesen Umständen nicht nur bei Schmitt, sondern auch anderen Rechtswissenschaftlern in Betracht gezogen werden muss, ist die Sackgasse, in der die kompromisslose Parteipolitik ein normales Funktionieren des Gesetzgebungsstaates erschwerte oder sogar unmöglich machte. Wenn das eventuelle Weitertreiben der Verfassungslähmung zum Zusammenbruch der Verfassungsordnung sowie des ganzen Verfassungssystems führen könnte, war der Ausweg nur die Verschiebung der Zuständigkeit der Gesetzgebung hin zum Reichspräsidenten.268 Die Extension der präsidialen Diktaturgewalt dient unter Preisgabe eines Teils der Verfassungsgesetze, insbesondere im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich, nur dem Zweck, die Verfassung als Ganzes aufrechtzuerhalten. Für diese Entwicklung war Ebert das Vorbild. Gewiss in diesem Sinn fasst Schmitt die Stellung des Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung auf, vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, 711 ff.; Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 72 ff. 266 Huber, Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatstheorie der Weimarer Zeit, S. 200. Hierzu hebt Huber hervor: „Die lange im Mittelpunkt der staatsrecht lichen Diskussion stehende Frage, ob die Befugnis der Diktaturgewalt zur Außerkraftsetzung der in Art. 48 Abs. 2 ausdrücklich genannten sieben Grundrechte limitativ gemeint sei oder ob im Notstandsfall darüber hinaus auch Eingriffe in andere Grundrechte staathaft seien, verlor durch die These [von Anschütz, S. Y.], daß die ‚diktatorische Verordnungsgewalt … [sic] sich grundsätzlich auf das ganze Vorbehaltsgebiet der einfachen Gesetzgebung‘ erstreckt, ihre praktische Bedeutung.“ 267 Wie Gusy ausführt: „In den Verfassungsberatungen war das Staatsoberhaupt überwiegend von seiner ‚negativen‘ Bedeutung als Gegengewicht gegen das Parlament her konzipiert worden. Das positive Bild vom Reichspräsidenten blieb ebenso schillernd wie unklar.“ Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 99. 268 Deswegen führt Schmitt aus: „Die geltende Reichsverfassung gibt einem mehrheits- und handlungsfähigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten, deren ein Parlament bedarf, um sich als den maßgebenden Faktor der staatlichen Willensbildung durchzusetzen. Ist das zum Schauplatz des pluralistischen Systeme gewordene Parlament dazu nicht imstande, so hat es nicht das Recht, zu verlangen, daß auch alle andern verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden.“ Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 131.
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denn er kann das normale Funktionieren des Regierungssystems und der Verfassungsordnung gewährleisten. Dass der Reichspräsident bei der Handlungsunfähigkeit des Parlaments durch die Diktaturgewalt in die Befugnis zur Gesetzgebung eingreifen und wirtschaftliche und finanzielle Notverordnungen anstelle der Gesetze des Parlaments erlassen darf, ist zu der Zeit die vorherrschende Lehrmeinung269, wie sich bei Anschütz erweist: „Die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 2 sind auch gegeben im Falle des Auftretens von Störungen des Staats-, insbesondere des parlamentarischen Apparats, die ein normales, die Staatsnotwendigkeiten sicherndes Funktionieren der Gesetzgebungs- und Regierungstätigkeit verhindern oder gefährden (Obstruktion, Unmöglichkeit notwendiger Mehrheitsbildungen, sonstiges Versagen des parlamentarischen Regierungssystems).“270
Nun hielt Schmitt entgegen seiner früheren Meinung auch die gesetzvertretenden Notverordnungen für tolerierbar. Trotzdem bestand er ausdrücklich darauf, das gesetzvertretende Notverordnungsrecht sei nicht in der ursprünglichen Diktaturgewalt enthalten, sondern im Laufe der zehnjährigen Praxis hinzugetreten, die auf der Grundlage des „rechtstheoretischen Irrtums“ überzeugend werde.271 Diese Entwicklung und ihre Konsequenzen seien nicht mehr umzukehren. Nichtsdestoweniger stellt Schmitt die Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten auch nicht als grenzenlos und unkontrolliert hin. Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen der außerordentlichen Befugnisse können und müssen aus den Normen und Gesichtspunkten der geltenden Verfassung entwickelt werden. Die eigentliche Sicherung gegen den präsidialen Missbrauch der Notverordnung liegt, wie gesagt, in der parlamentarischen Kontrolle: „Einem mehrheits- und handlungsfähigen Reichstag wird es nicht schwer fallen, durch das Verlangen der Außerkraftsetzung und nötigenfalls durch einen ausdrücklichen Mißtrauensbeschluß seine Auffassung gegenüber Reichspräsident und Reichsregierung zur Geltung zu bringen. Die geltende Reichsverfassung gibt einem mehrheits- und handlungsfähigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten, deren ein Parlament bedarf, um sich als den maßgebenden Faktor der staatlichen Willensbildung durchzusetzen.“272 269 Wenn es um die Überwindung von Haushaltsnotstand und Wirtschaftskrise geht, lehnt kaum ein Rechtswissenschaftler explizit die vorherrschende Auffassung ab. Hierzu vgl. Kurz, Zur Interpretation des Artikels 48. Abs. 2 WRV 1930–1933, S. 403 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 713 Fn. 35. 270 Anschütz, S. 279. Außerdem hielt Anschütz auch den Erlass finanzieller und wirtschaftlicher Notverordnungen für zulässig. Dazu vgl. ebd., S. 288, 441. 271 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 125. 272 Ebd., S. 131. Bis zum Ende der Weimarer Republik ist Schmitt derselben Auffassung. Der Reichspräsident kann mithilfe der präsidialen Ausnahmebefugnisse aus Art. 48, wenn auch bereits als ein außerordentlicher Gesetzgeber gegenüber dem Parlament, „auf legale Weise nur solange tätig werden, als der parlamentarische
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Manche Autoren bezeichnen folglich Schmitts „Hüter der Verfassung“ als eine Wendemarke und meinen, mit diesem Buch verschwimme Schmitts wichtige Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur allmählich, indem Schmitt die diktatorischen Maßnahmen aus Art. 48 und deren Gesetzkraft anerkenne.273 D. h. Schmitt veränderte, solchen Kritikern zufolge, nun seine Auffassung – genauer, seine „eigentliche“ Absicht und Neigung enthüllen sich in diesem Moment – weil erwarte, dass der Reichspräsident mit der plebiszitären Autorität die Machtverhältnisse verändern oder sogar die ganze Weimarer Verfassung beseitigen könne, und nicht lediglich die Krise der Verfassung überwinden werde. Die Kritiker ziehen daraus den Schluss, dass Schmitt dem Reichspräsidenten die souveräne Diktatur zuweise, indem die plebiszitäre Legitimität an die verfassunggebende Gewalt des Volkes angeschlossen werde. Schmitt geht 1931 über seine im Jahr 1924, 1926 sowie 1928 wiederholt gemachten Beschränkungen hinaus: Der Reichstag kann mit seiner verfassungsändernden Befugnis gemäß dem Art. 76 das verfassungsändernde Gesetz beschließen, aber nicht eine Maßnahme treffen, die auf eine Verfassungsdurchbrechung hinausläuft; demgegenüber dürfe der Reichspräsident nur von Fall zu Fall erforderliche Maßnahmen treffen, die zeitweilig verfassungsgesetzliche Bestimmungen durchbrechen oder suspendieren, jedoch dürfe er keine Gesetze auf Dauer schaffen. Man erinnert sich daran, dass wohl aus diesem Grund Schmitt die im Reichstag zustande gekommene Vermengung der Maßnahmen mit verfassungsändernden Gesetzen als souveräne Diktatur betrachtet. Aber man kann auch nicht die Tatsache übersehen, dass 1931 sowohl die seit langem entwickelte Staatspraxis und Rechtsprechung des Reichsgerichts als auch die herrschende Auffassung die Notverordnung Gesetzgeber ihn toleriert, das heißt von seinem Recht, Außerkraftsetzung der Maßnahmen zu verlangen, keinen Gebrauch macht und auch der gegenzeichnenden Reichsregierung kein Mißtrauensvotum erteilt.“ Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S. 337. 273 Vgl. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus, S. 127 ff.; Schwab, S. 84 ff.; McCormick, S. 143 ff.; Thiele, Advokative Volkssouveränität, S. 500 ff. Diese Auffassung wird von Maus in typischer Weise formuliert: „Nachdem vorher schon allein die Nivellierung von Gesetz- und Maßnahmenkompetenz als Charakteristikum einer revolutionären Regierung beschrieben war, ist nun die Verbindung von kommissarischer und souveräner Diktatur ausgesprochen und die bestehende Verfassung tatsächlich nur noch ein ‚Provisorium und Precarium‘ in der Hand des Reichspräsidenten. Der ‚Hüter‘ der Verfassung wird zugleich ihr überlegener Souverän. […] Ein durch die begrenzte Vollmacht, wie sie nur einem souveränen Diktator im Auftrag eines pouvoir constituant zu einer neuen Verfassunggebung zukommt, zu dem alleinigen Zweck, den bürgerlichen Kernbestand der bestehenden Verfassung zu restaurieren. So ist ‚eine radikale Revolution intendiert, in der doch buchstäblich nichts geschehen darf‘.“
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aus Art. 48 als „gesetzvertretend“ anerkannten.274 Wenn diese Auslegung in den vorausgegangenen zehn Jahren praktisch und theoretisch als zulässig betrachtet wurde, dann ist zu fragen, wie Schmitt dies ausführt, ob es überzeugend und konsequent ist, den Gesetzesvorbehalt bloß im finanzrechtlichen Bereich beizubehalten. Davon abgesehen soll auch die Differenz zwischen den präsidialen Notverordnungen gemäß Art. 48 und den gemäß Art. 76 durch die verfassungsändernde Befugnis des Reichstages gegebenen verfassungsändernden Gesetzen noch einmal in Rechnung gestellt werden. Zum einen durfte der Reichspräsident gemäß Art. 48 nur die Maßnahmen treffen, die sich auf das einfache Gesetz beschränken und keine „verfassungsverändernd-gesetzvertretenden“.275 Zum anderen muss das „organisatorische Minimum“, das Schmitt zuvor als die Kontrolle präsidialer Diktaturgewalt betrachtete, respektiert werden. D. h. der Reichstag kann auch noch mit einfacher Mehrheit die Diktaturmaßnahmen außer Kraft setzen. Hingegen ist das vom Reichstag gemäß Art. 76 gegebene verfassungsändernde Gesetz durchaus unkontrollierbar: Selbstverständlich ist es verfassungsmäßig unmöglich, dass die Exekutive das verfassungsändernde Gesetz aufheben darf. Insofern ist der Reichstag eigentlich derjenige, der am ehesten mit verfassungsmäßigen Mitteln die Verfassung verändern kann. Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten ist aber verschieden von der im Verfahren des Art. 76 zustande kommenden Verfassungsdurchbrechung; ebensowenig kann die präsidiale Diktaturgewalt mit der souveränen Diktatur identifiziert werden. Ob Schmitt wirklich die Absicht hat, zugunsten einer Verfassungsreform oder sogar eines Staatsstreichs der Ausdehnung der präsidialen Diktaturgewalt zuzustimmen, ist fraglich. Sicherlich spielt Schmitts Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetzen in Hinsicht auf die politische Situation in der Endphase der Weimarer Republik eine ausschlaggebende Rolle für seine Auslegung präsidialer Diktaturgewalt. Grimm weist mit Recht darauf hin: „Auf dieser Differenz beruht die Möglichkeit, einzelne Vorschriften des Verfassungsrechts [d. h., die Verfassungsgesetze, S. Y.] außer acht zu lassen, ohne daß darin notwendig ein Bruch der Verfassung liegt.“276 Denn 274 Schmitt,
Der Hüter der Verfassung, S. 120 f. Einschränkung der Notverordnung findet sich in der Formulierung von Anschütz: „Die auf Grund des Abs. 2 erlassenen Verordnungen dürfen alles verbieten und gebieten, wofür ein einfaches (nicht verfassungsänderndes) Reichsgesetz erforderlich und ausreichend ist. Oder anders ausgedrückt: die diktatorische Verordnungsgewalt erstreckt sich grundsätzlich auf das ganze Vorbehaltensgebiet der einfachen (nicht verfassungsändernden) Gesetzgebung.“ Anschütz, S. 284. Schmitt betrachtet die Einschränkung der Notverordnung als „selbstverständlich“. Siehe die Bemerkung in Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 121. 276 Grimm, Verfassungserfüllung – Verfassungsbewahrung – Verfassungsauflösung, S. 193. 275 Die
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die Verfassung als Ganzes, einschließlich des Verfassungssystems und der Substanz der Verfassung, ist jedenfalls höherrangig als die Verfassungsgesetze. Allerdings ist fraglich, ob Grimms Vorwurf Schmitt gerecht wird, wenn er ausführt: „Das Ziel war nicht die Außerachtlassung einzelner Verfassungsnormen im Interesse der Rettung der Verfassung insgesamt, sondern eine andersartige Verfassung, für die der Notstand nur als Vehikel diente.“277 Dabei kommt es, wie Gusy zeigt, auf die innere Absicht an.278 Gewiss war Schmitt 1932 an dem sogenannten „Staatsnotstandsplan“ beteiligt.279 Im Anschluss daran plädierte er für das Ignorieren von destruktiven Misstrauensvoten der negativen Mehrheit aus NSDAP und KPD, für die Auflösung des Parlaments und für die Verschiebung der notwenigen Neuwahl über die verfassungsmäßige Frist von 60 Tagen hinaus. Es mag hier der Verdacht aufkommen, dass Schmitt in diesem Moment von seiner früheren Äußerung über das „organisatorische Minimum“ abwich. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass die verfassungsfeindlichen Parteien NSDAP und KPD seit dem 31. Juli gut die Hälfte der Sitze im Reichstag besaßen und daher destruktive Misstrauensvoten in der folgenden Zeit absehbar nicht zu vermeiden waren. Auch ist zu beachten, dass Schmitts Vorschlag über die Lösung einer solchen politischen Krise sich an bereits vorhandene Präzedenzfälle anlehnte.280 Anders als Papen wollte Schmitt nur auf der Grundlage der rechtlichen und politischen Präzedenzfälle sowie der verfassungsrechtlichen Auslegung die Lähmung des parlamentarischen Systems bewältigen, statt eine Verfassungsbeseitigung oder eine umfassende Verfassungsreform durchzusetzen.281 277 Ebd., S. 196. Wie Grimm hat Muth die ähnliche Einschätzung, dass Schmitt, mit Konservativ-Revolutionären verbündet, die „Weiterentwicklung der Verfassung“ in Richtung auf einen „Neuen Staat“ fordere. Vgl. Muth, Carl Schmitt in der Deutschen Innenpolitik des Sommers 1932, S. 125 ff. 278 „Der Schutz der in der WRV angelegten Staatsform hing nicht mehr davon ab, daß von Art. 48 Abs. 2 WRV Gebrauch gemacht wurde; sondern davon, in welcher Absicht dies geschah.“ Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, S. 91. 279 Zu seiner Mitwirkung beim Staatsnotstandsplan vgl. Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise; Noack, S. 137 ff.; Pyta, Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront, S. 180 ff.; Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan; Seiberth, Legalität oder Legitimität?; Mehring, Carl Schmitt, S. 288 ff. Zum historischen Kontext des Staatsnotstandsplans vgl. Kolb / Pyta, Die Staatsnotstandsplanung. 280 Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise, S. 41 f. 281 September 1932 beauftragte Papen Schmitt mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Aber in Schmitts Tagebuch zeigt es sich, dass Schmitt innerlich widerwillig und zögerlich diese Arbeit machte. Er notierte also ins Tagebuch: „Donnerstag, 29.9.1932 […] eine Stunde am Schreibtisch, aber verzweifelt und müde, lächerlich, daß ich eine Verfassung machen soll, dann wieder hoffnungsvoller.“ Kurz danach notierte er: „Dienstag, 4.10.1932 […] fleißig am Schreibtisch, werde mit der Arbeit einfach nicht fertig. In den Zeitungen steht, daß die Regierung einen Verfas-
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C. Zusammenfassung Im Mittelpunkt von Schmitts Lehre steht die Absonderung der verfassunggebenden Gewalt von den konstituierten Gewalten, die sich als das grundsätzliche Element durch seine Schriften und relevante Begriffe in der Weimarer Zeit hindurchzieht. Im Gegensatz zu Sieyès aber ist Schmitts Zielsetzung nicht eine demokratische Revolution. Die Lehre Schmitts bewegt sich in einem Kontext, in dem die Demokratie bereits konstituiert war, wobei jedoch diese neugegründete Demokratie fragil und ihre Verfassung zu gewährleisten war. Wichtig ist für ihn also, die Entwicklung aufzuhalten, dass die Häufung von legalen Verfassungsänderungen zur Umgestaltung der demokratischen Verfassung führt. In Verbindung mit der verfassunggebenden Gewalt erweist sich die Verfassung als die Summe der politischen Gesamtentscheidungen des Volkes, deren Kernbestandteile keine konstituierte Gewalt, weder der zur Verfassungsänderung befugte Reichstag noch der Reichspräsident mit kommissarischer Diktatur, vernichten oder beseitigen darf. Im Normalzustand dürfen einzelne Verfassungsgesetze verändert werden, aber die Veränderung geht keinesfalls über diesen Rahmen hinaus. Der Reichspräsident ist dementsprechend bloß eine sekundäre Gewalt, d. h., er leitet nicht aktiv die politische Führung, vielmehr fungiert er sowohl als ein Gegengewicht zum Reichstag, das sich bei dem Appell an das Volk durch Plebiszit und Reichstagsauflösung zeigt, wie auch als Reserveorgan, das im Ausnahmezustand die kommissarische Diktatur zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausübt, indem einzelne verfassungsgesetzliche Bestimmungen vorübergehend durchbrochen werden. Für Schmitt ist der Reichspräsident also nicht in der Lage, die Aufhebung der Verfassung zu veranlassen. Dagegen spielt er unter Umständen die Rolle als „Hüter der Verfassung“, der das reibungslose Funktionieren der sungsentwurf fertig hat. Ich weiß nichts davon, komme mir lächerlich vor. Wenn nicht der gute Ott wäre, würde ich einfach mit großer Wucht abspringen.“ Er verspürte daher eine Erleichterung, als ihm die Stornierung seiner Aufgabe mitgeteilt wurde: „Mittwoch, 2.11.1932 […] um 5 kam Ott, sah nicht gut aus, er erzählte von Leipzig. Er soll für später die Verfassung machen, in Ruhe und ohne Gayl und das Reichsministerium des Innern.“ Siehe Schmitt, Tagebücher 1930–1934. Eine kurze Analyse darüber siehe Pyta / Seiberth, S. 603 f. Bei Vorträgen am 4.11.1932 und 23.11.1932 wies Schmitt deutlich Papens Pläne zu einer Verfassungsreform durch Verfassungsgesetzgebung zurück und stellte die Methode der Interpretationsmöglichkeiten heraus, in denen nach der damaligen Konstellation den zutreffenden Ausweg für Verfassungsprobleme anbieten konnten. Dazu vgl. Schmitt, in: Staat, Grossraum, Nomos, S. 55 ff. und S. 71 ff. Mehrings Auffassung wird also m. E. Schmitt gerecht: „Zwar stand Schmitt Schleicher politisch in manchen Fragen näher als Papen. So teilte er dessen Vorbehalte gegen umfassende Verfassungsreformen und Option für den Staatsnotstand in der Krisenlage von 1932.“ Mehring, Carl Schmitt, S. 301. Ähnliche Einschätzung hat auch Berthold, vgl. Berthold, S. 67 ff.
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Staatsorgane ermöglicht und die Machtbegrenzung gegen die Legislative vollzieht. Sowohl die Beschränkung der Verfassungsänderung wie auch die Befugnisse des Reichspräsidenten, von der Schmitt zum Aufhalten der Änderung der Weimarer Verfassung Gebrauch macht – sicherlich nur bis zum Erlass des Ermächtigungsgesetzes vom 25. März 1933 –, dienen theoretisch in Anlehnung an den Begriff der verfassunggebenden Gewalt dazu, die aus ihr abgeleitete Verfassung zu schützen. Hiermit gewinnt ein und derselbe Begriff einen umgekehrten politischen Sinn als bei Sieyès. Nun kann die verfassunggebende Gewalt nicht nur den Umsturz einer vorhandenen Verfassungsordnung legitimieren, sondern auch die auf der Verfassung beruhende Legalität stützen.282
282 Es steht außer Zweifel, dass Schmitt in dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 eine Revolution sieht, die aber nicht durch die Diktatur des Reichspräsidenten vollzogen wurde. Schmitt steht in diesem Moment auf der Seite des Rechtspositivismus und behauptete, der Erlass des Ermächtigungsgesetzes sei eine legale Revolution, eine formell durch die parlamentarische Befugnis zur Verfassungsänderung aus Art. 76 der Weimarer Verfassung verwirklichte nationale Revolution. Das sei die Konsequenz aus der herrschenden Auslegung: „Nach der herrschenden, insbes. von Anschütz vertretenen Auslegung des Art. 76 hat die Befugnis zur Verfassungsänderung überhaupt keine Grenzen. Auf das Problem der Grenzen des Art. 76 braucht deshalb hier nicht eingegangen zu werden. Gegenüber einem Akt der verfassungsgesetzgebenden Gewalt ist übrigens bisher von keiner Seite ein Nachprüfungsrecht in Anspruch genommen worden.“ Siehe Schmitt, Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, S. 456. Dazu auch vgl. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 7 f. Der Umschwung der Stellungnahme Schmitts liegt darin, dass sich die realen Machtverhältnisse völlig veränderten. Dazu vgl. Noack, S. 167 ff.
Dritter Teil
Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan A. Verfassungsreform in Taiwan nach dem Ausnahmezustand In Taiwan, einem von Samuel Huntington zur „dritten Welle“ der Demokratisierung zugeordneten Land, begann die Demokratisierung im Jahr 1987 mit der Aufhebung des „scheinbar ewigen“ Ausnahmezustandes.1 Huntington untergliedert die dritte Demokratisierungswelle in fünf Modelle, von denen der Regimewandel Taiwans zum „direkten Übergang“ zählt. Die Besonderheit dieser Art und Weise der Demokratisierung besteht darin, dass die ehemals herrschende autoritäre Gruppe oder Partei – in Taiwan war das die KMT (Kuomintang, Chinesische Nationalpartei) – zwar ihr Monopol der Macht aufgibt, aber umgehend und spontan die Reform zur Gründung einer neuen politischen Ordnung in die Wege leitete. Dadurch stellt sie sicher, dass sie nicht aus dem politischen Bereich verdrängt wurde.2 In Taiwan äußerte sich die Reform der politischen Ordnung in einer Reihe von Verfassungsänderungen, die zur Umgestaltung des Verfassungssystems führten. Das Besondere ist es jedoch, dass diese Umgestaltung nicht durch eine einmalige Verfassungsänderung, sondern durch insgesamt sieben Verfassungsänderungen (zwischen 1991 und 2005) durchgeführt wurde. Die allmähliche und „inkrementale“ Verfassungsreform führte dazu, dass zu jener Zeit häufige Verfassungsänderungen ein „ordentliches“ Phänomen zu sein schienen.3 1 Vgl. Huntington, S. 23. Tatsächlich sollte die Aufhebung des Ausnahmezustands im Jahr 1987 nur als Anfangspunkt der Liberalisierung bezeichnet werden. Die Demokratisierung in Taiwan erfolgte erst später. Wenn man aber Liberalisierung als eine wichtige Ursache der Demokratisierung sieht, ist diese Aussage auch nicht falsch. Dazu auch Mattlin, S. 14 ff. 2 Huntington, S. 43, 124 ff. Dadurch kann, laut Huntington, das ehemalige autoritäre Regime die Verfassungsreform zu seinen Gunsten steuern. Daraus folgt sogar, dass seine Herrschaft wiederum durch die Reform legitimiert wird. Eben deshalb konnte die KMT nach der Demokratisierung und Verfassungsreform bis 2000 weiter regieren. 3 Shaw, „Constitutional Amendment“ and „Quasi Constitutional-Making“, S. 1; Yeh, S. 33 ff.
166 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
Wenn man jedoch zustimmt, dass jede wichtige Verfassungsänderung, die eine Umwandlung der Verfassungsordnung beabsichtigt, keine Kleinigkeit und etwas Außerordentliches ist, so ist es ohne weiteres nachvollziehbar, dass die kritische Debatte über die Grenzen der Verfassungsänderung zu jener Zeit sehr heftig geführt wurden. Im folgenden ist auf die Verfassungsdebatte und die durch sie ausgelösten Diskussionen einzugehen. Hierfür muss aber zunächst generell der Ablauf und Kontext der Verfassungsänderungen umrissen werden.
I. Sechs Verfassungsänderungen nach dem Ausnahmezustand (1991–2000): Zur Verstärkung des repräsentativen Charakters der Regierung Die Verfassung Taiwans bzw. die „Verfassung der ROC [Republic of China, Republik China]“ wurde 1946 unter der Herrschaft des von Chiang KaiShek geführten Regimes auf dem chinesischen Festland erarbeitet. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg floh das Chiang-Regime nach Taiwan und setzte dort den Bestand der Verfassung fort. Allerdings galt die demokratische Verfassung de facto bis 1991 nicht. Denn nach dem Inkrafttreten der Verfassung am 25. Dezember 1947 beschloss die 1. Nationalversammlung4, die für Verfassungsänderungen zuständig ist, bereits 1948 angesichts des sich verschärfenden Bürgerkriegs eine Verfassungsänderung und ergänzte die Verfassung durch Zusatzartikel, die „Vorläufige Bestimmungen während der Phase der Mobilmachung zur Niederwerfung der [kommunistischen] Rebellion“ im Folgenden als „Vorläufige Bestimmungen“ bezeichnet). In demselben Jahr traten diese Vorläufigen Bestimmungen in Kraft. Demgemäß verhängte Präsident Kai-Shek Chiang im Dezember 1948 den Ausnahmezustand. Auf der Grundlage der durch die verfassungsändernde Befugnis erlassenen Vorläufigen Bestimmungen wurden verfassungsrechtliche Bestimmungen suspendiert. Rechtswissenschaftlich gesehen waren die im Wege der Verfassungsänderung beschlossenen Vorläufigen Bestimmungen im wesentlichen eine Verfassungs4 Die Verfassung von 1947 hat die Theorie Yat-Sens Sun zur Grundlage. Demgemäß bestehen zwei volksvertretende Organe, die Nationalversammlung und das Parlament (Legislativ-Yuan). Laut Sun sind beide zwar vom Volk gewählt, aber prinzipiell vertritt die Nationalversammlung unmittelbar die Volkssouveränität und das Parlament ist – anders als in westlichen Konzepten – an sich eine der Gewalten der Regierung. Demnach ist die Nationalversammlung verfassungsmäßig befugt, Präsidenten zu wählen, die Verfassung abzuändern und Anträge der Verfassungsänderung vom Parlament zu beschließen; sie versammelt sich nur während ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben. Insofern kann man die Gewalt, die der Nationalversammlung zur Verfügung steht, als die permanente existierende verfassunggebende Gewalt ansehen. Über die Grundzüge der Verfassung von 1947 vgl. Yao, S. 17 ff.
A. Verfassungsreform in Taiwan nach dem Ausnahmezustand167
durchbrechung5, so wie es beim Ermächtigungsgesetz von 1933 in Deutschland der Fall gewesen war. Aus politischer Sicht bestand das Resultat somit darin, dass die Verfassung nur auf dem Papier bestand. Denn einerseits ruhte die staatliche Macht entgegen dem Prinzip der Gewaltenteilung ausschließlich in den Händen des Präsidenten, andererseits wurden die in der Verfassung festgelegten Grundrechte aufgrund der uneingeschränkten exekutiven Befugnis zum Erlass von Verordnungen im hohen Maße verletzt.6 Zugleich wurde die Neuwahl der Volksvertretungsorgane auf Ebene der Zentralregierung unbefristet verschoben. Erst 1991 wurde das 1947 auf dem Festland gewählte „ewige Parlament“ – zwischendurch gab es keine Neuwahl – aufgelöst und Neuwahlen angesetzt.7 Verfassungsrechtlich betrachtet wurde weder das rechtsstaatliche Prinzip, Grundrechte von Individuen durch die Verfassung gegen willkürliche Eingriffe der Regierung zu verteidigen, noch das demokratische Prinzip, die Bürger durch Repräsentativinstitutionen an politischen Angelegenheiten teilnehmen zu lassen, in der Periode der Vorläufigen Bestimmungen verwirklicht. Dieser Zustand begann sich erst nach Aufhebung des Ausnahmezustandes im Jahr 1987 zu ändern, als die KMT-Regierung allmählich die autoritär-staatliche Kontrolle über die Gesellschaft lockerte. Zugleich reagierte sie auf die Forderungen der oppositionellen Partei Taiwans (Demokratische Fortschrittspartei; im Folgenden als DPP (Democratic Progressive Party) bezeichnet) und anderer gesellschaftlicher Kräfte nach Demokratisierung des politischen Systems und fasste eine schon längst überfällige Verfassungsreform ins Auge. Zwischen 1991 und 2000 initiierte die KMT-Regierung unter der Führung von Präsident Teng-Hui Lee insgesamt sechs Verfassungsänderungen, die vor allem zwei Ziele verfolgten: Erstens, Aufhebung der Vorläufigen Bestimmungen und Verstärkung des demokratischen bzw. repräsentativen Charakters der Regierung; zweitens, „Lokalisierung“ der Verfassung, d. h., die Anpassung der auf dem Festland erlassenen Verfassung an die Wirklichkeit Taiwans.8 Als regierende Partei beschloss die KMT damals, die materielle Verfassungsreform in folgender Art und Weise 5 Siehe
unten B. I. den Vorläufigen Bestimmungen durfte der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments den Ausnahmezustand verhängen und Notverordnungen erlassen. Die Vorläufigen Bestimmungen wurden zwischen 1960 und 1972 vier Mal auf dem Weg der Verfassungsänderung abgeändert. Dadurch verstärkte sich die Macht des Präsidenten immer mehr: Präsident und Vizepräsident konnten sich von der Beschränkung der einmaligen Wiederwahl befreien; der Präsident durfte selbst über die Dauer der Vorläufigen Bestimmungen entscheiden; der Präsident durfte in die Kompetenz und Organisation der Zentralregierung eingreifen. Vgl. Yao, S. 20 ff.; ChiaYin Chang, S. 133; Hsueh, Politics and Legal Development, S. 64 ff. 7 Siehe Yao, S. 29 ff.; Hsueh, Politics and Legal Development, S. 68 ff. 8 Mattlin, S. 56 f. 6 Gemäß
168 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
zu vollziehen: Abänderung der Verfassung von 1947 statt Herbeiführung einer neuen Verfassung; Ergänzung durch Zusatzartikel statt Abänderung der ursprünglichen Verfassungstexts. Zusammengefasst wurden seit dem Aussetzen der Vorläufigen Bestimmungen im Jahr 1991 bis zur sechsten Verfassungsänderung die folgenden Zielsetzungen verfolgten: Auflösung des „ewigen Parlaments“ und erneute Festlegung der Bestimmungen bezüglich der Wahl der Volksvertretung in Taiwan (1991); Direktwahl des Präsidenten (1994) und Übergang des Regierungssystems vom Parlamentarismus zu einem Semipräsidialsystem (1997). Ein weiteres Ziel der Verfassungsänderung bestand darin, die Verfassung von 1947 zu „lokalisieren“. Der unzeitgemäße Aufbau des Staates wurde dafür geändert. Das Hoheitsgebiet der ROC umfasste de facto nach 1949 nicht mehr das gesamte Festland, sondern nur noch Taiwan. Das Verfassungssystem und der Staatsaufbau, die eigentlich für das gesamte chinesische Festland gedacht waren und sowohl die nationale als auch die provinzielle Administration mit einschloss, erwiesen sich jedoch für die Insel Taiwan als unverhältnismäßig kompliziert und überdimensioniert. Daraufhin wurde die provinzielle Administration und ihre Befugnisse durch die vierte Verfassungsänderung im Jahr 1997 reduziert – auch wenn sie bislang offiziell noch bestehen bleibt. Schließlich wurde die Nationalversammlung erst geschwächt (2000) und später ganz abgeschafft (2005).9
II. Unabhängigkeitsbewegung, Staatsgründung und das Thema der Verfassunggebung Parallel zur politischen Liberalisierung wurde die Nationsbildung gegen Ende der 90er Jahre zu einem maßgeblichen Thema, das die Wandlung der nationalstaatlichen Identität und Unabhängigkeitsbewegung in Taiwan begleitete. Gerade aus diesem Themenfeld ergab sich der Anspruch darauf, sich eine neue Verfassung zu geben. Nach der Flucht der KMT nach Taiwan bestand das KMT-Regime nach wie vor auf der sogenannten „Ein-ChinaPolitik“ und behauptete weiterhin, es gebe nur eine einzige legitime Regierung China, und diese bestehe auch weiterhin einzig und alleine in der Regierung der ROC. Laut dieser Interpretation verfügt die von der kommunistischen Partei gründete Volksrepublik China (im Folgenden als PRC (People‘s Republic of China) bezeichnet) über keinerlei legitime Hoheitsgewalt. Taiwan sei demnach eine Provinz Chinas, die weder über Staatlichkeit noch über Souveränität verfüge und sich nicht von China trennen dürfe. 9 Zu den entscheidenden Aufgaben der einzelnen Verfassungsänderungen siehe Shin-Min Chen, The Records on Amending to the Constitution in Taiwan; Yeh, S. 33 ff.; Chia-Yin Chang, S. 133 ff.
A. Verfassungsreform in Taiwan nach dem Ausnahmezustand169
Neben der von der KMT supponierten Idee des chinesischen Nationalstaates entstand in Taiwan eine weitere Strömung, die sich für die Unabhängigkeit Taiwans von China bzw. für die verfassungsrechtliche Abtrennung Taiwans vom chinesischen Festland einsetzt. Laut den Unabhängigkeitsbefürwortern sei die ROC ebenso wie die PRC ein von Chinesen gegründetes Regime, das auf Basis der chinesisch-nationalen Identität beruhe. Da sich Taiwan nach der langen politischen Spaltung de facto bereits zu einer anderen Nation als China entwickelt habe, sollte Taiwan einen eigenen Staat gründen. In diesem Sinn bedeutet die Unabhängigkeit Taiwans nicht nur die Trennung Taiwans von der PRC, sondern auch von der ROC, d. h. die verfassungsrechtliche Bestätigung des Status quo. In den 80er Jahren begannen sich die oppositionellen Gruppen gegen das KMT-Regime zusammenzuschließen und bildeten schließlich 1986 entgegen dem bestehenden Parteienverbot die DPP, bis heute die größte oppositionelle Partei. Während der Parteibildung inkorporierte die DPP zahlreiche unterstützende Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung, sodass sie von vornherein überwiegend für die Unabhängigkeit von Taiwan eintrat.10 In ihrem Parteiprogramm wurde in einem Artikel explizit ihr Streben nach „Gründung einer souveränen und unabhängigen Republik Taiwan“ zum Ausdruck gebracht.11 Des Weiteren bezeichnete die DPP sich selbst in der Anfangsphase als die „Partei der Eingeborenen“ Taiwans, wogegen die KMT-Regierung als das „Regime der Zuwanderer“ tituliert wurde, um sie zu diskreditieren. In der Phase der Parteiengründung zeichnete die DPP das Bild einer KMT-Regierung, die aus Privilegierten Chinas bestehe und ein Kolonialsystem auf Taiwan errichtet habe. Indem die DPP den Anspruch auf Demokratie mit der Selbstbehauptung der taiwanischen Bevölkerung verband, stellte sie die Behauptung auf, die Demokratisierung Taiwans sei nur durch die Machtabgabe des zugewanderten Regimes und die Gründung eines taiwanischen Staats zu verwirklichen. Als Wahlstrategie verwendete die DPP bei den Wahlen der 90er Jahre die politischen Forderungen nach Autonomie der taiwanischen Einheimischen und Verfassunggebung für eine unabhängige Republik Taiwan, um die Wähler für die Unabhängigkeit zu mobilisieren. Aus diesem Grund wurde die DPP in der öffentlichen Meinung als identisch mit der Unabhängigkeitsbewegung wahrgenommen. Aufgrund ihres Einsatzes zugunsten der Unabhängigkeit Taiwans stand die DPP im Widerspruch zur Verfassung der ROC, sodass sie in den 90er 10 Von den Anfängen bis 1991 gab es in der DPP oft Konflikte über die Richtung innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung. Der Historiker Yi-Shen Chen bezeichnet daher diesen Zeitraum als die Zeit der Verstärkung der Unabhängigkeitsidee. Dazu vgl. Yi-Shen Chen, S. 99; Teh-Fu Huang, S. 118 ff. 11 Siehe Democratic Progressive Party, Party Platform of Democratic Progressive Party.
170 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
Jahren beständig eine neue Verfassung forderte, um den Zweck der Staatsgründung zu erreichen. Wie der oben genannte Artikel des Parteiprogramms der DPP zeigt, wurde die durch ein Verfassungsreferendum herbeizuführende Verfassung auf der Seite der DPP zu einem notwenigen Moment der Staatsgründung erklärt.12 Verfassunggebung und Staatsgründung waren von diesem Standpunkt gesehen zwei Seiten derselben Medaille. Im Gegensatz zur DPP beharrte die KMT auf die im Weg der Verfassungsänderung durchzuführende Verfassungsreformen, hinter der sich die chinesisch-nationale Identität und ihre Vorstellung von dem „Einen China“ verbargen, obwohl der Alleinvertretungsanspruch der KMT auf das gesamte Festland in Wirklichkeit unrealistisch ist. Aus dieser Ein-China-Vorstellung war es folgerichtig konsequent, dass die KMT die Wiedervereinigung von China und Taiwan nach wie vor als ihr Fernziel betrachtete. Den Akt der Verfassunggebung, der eine Verfassung zum Abschied von der auf dem Festland gegründeten ROC zur Folge haben würde, zog die KMT bzw. die konservative Fraktion der KMT niemals in Rechnung, sondern ging lieber weiter auf dem Weg der Verfassungsänderung. Denn sie konnte dadurch einerseits auf die gesellschaftliche Forderung von demokratischen Reformen reagieren und andererseits verhindern, dass sich Taiwan formell von China lostrennte. Die DPP sah zwar während der ersten Hälfte der 90er Jahre die Verfassunggebung als ihr Endziel an, verfügte jedoch zu jener Zeit nicht über die verfassungsändernde Mehrheit in der verfassungsändernden Nationalversammlung. Dies verunmöglichte somit diese Zielsetzung, und die Öffentlichkeit in Taiwan im Allgemeinen war in ihrer Mehrheit auch nicht für diese Zielsetzung zu gewinnen. Daraufhin sah sich die DPP in einer Zwangslage und beschloss, den Weg der Verfassungsänderungen mit zu tragen und somit Kompromisse über deren Inhalt zusammen mit der KMT gestalten zu können. Die Einstellung der DPP für eine Verfassunggebung wurde in der zweiten Hälfte der 90er Jahre schrittweise gemäßigt. Schließlich gab die DPP hinsichtlich der Verfassunggebung und Staatsgründung nach. Dies ist als Reaktion auf den Kurs der KMT zur Lokalisierung der Verfassung zu verstehen. Vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes war die KMT gewiss eine autoritäre Partei chinesischer Zuwanderer gewesen. Allerdings stützte sie sich nach der Verfassungsreform auf die demokratische Basis und legitimierte ihre Herrschaft von unten. Nach der Präsidentenwahl im Jahr 1996 wurde das Staatsoberhaupt unmittelbar von den Bürgern Taiwans gewählt statt mittelbar durch die auf dem Festland gewählte Nationalversammlung. Darüber hinaus verzichtete der damalige Präsident und Parteivorsitzende der 12 Näheres zur Bewegung für eine Verfassunggebung Taiwans in den 90er Jahren vgl. Yi-Shen Chen, S. 102 ff.; Hsueh, National Identity and the Post-war Controversies, S. 80 ff.
A. Verfassungsreform in Taiwan nach dem Ausnahmezustand171
KMT, Lee Teng-Hui, sichtbar auf den bisherigen Alleinvertretungsanspruch der KMT und äußerte seine Sympathie gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung.13 Deswegen war es nicht mehr von Bedeutung, wenn die DPP die demokratisch legitimierte KMT-Regierung weiter als ein Regime von auswärtigen Zuwanderern kritisierte. Aufgrund des Taiwanisierungs- und Lokalisierungskurses der KMT hinsichtlich der Verfassungsreformen konnte die DPP weder allein den taiwanisch-nationalen Diskurs beherrschen noch die ihm entsprechende Wahlkampfstrategie verwenden. Darum wurden die Unterschiede zwischen den beiden Parteien allmählich geringer und der politische Spielraum der DPP immer enger. Die DPP sah sich gezwungen, den Parteikurs hinsichtlich der Staatsgründung zu verändern. In der Folge argumentierte sie, Taiwan entwickle sich de facto und de jure bereits aufgrund der Demokratisierung zu einem souveränen Staat, auch wenn der offizielle Staatsname weiterhin „Republic of China“ lautet. Darum sei die Verfassunggebung zur Vervollkommnung der Unabhängigkeit nun keine dringliche Aufgabe mehr.14 Darüber hinaus verkündete der Parteitag der DPP 1999 das entscheidende Dokument „Entschluss bezüglich der Zukunft Taiwans“, in dem die DPP den Status quo Taiwans anerkannte und die Verfassunggebung und Staatsgründung nicht mehr thematisierte.15 Von daher wird dieses Dokument als Reaktion auf die Lokalisierungspolitik der KMT betrachtet. Seitdem begann die Linie der DPP zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung zu schwanken.
13 Teng-Hui Lee war der Leiter der lokalen Fraktion innerhalb der KMT. Er wies in seiner Amtszeit die „Ein-China-Politik“, an der die KMT in den 90er Jahren festgehalten hatte, zurück und stellte 1999 beim Interview mit der Deutschen Welle mit der „Zwei-Staaten-Theorie“ die faktische Beziehung zwischen Taiwan und China dar: de facto bestehe kein einiges China, sondern zwei verschiedene souveräne Staaten, die PRC auf dem Festland und die ROC auf der Insel Taiwan. Nach seiner Amtszeit wurde er aus der KMT ausgeschlossen. Danach gründeten er und seine Anhänger eine neue Partei, der Taiwanischen Union für Solidarität (Taiwan Solidarity Union, TSU), die entgegen der Linie der KMT für die formale Unabhängigkeit Taiwans eintritt. Zu der die Zwei-Staaten-Theorie betreffenden verfassungsrechtlichen Problematik vgl. Hwang, A Constitutional Analysis of the Two-State Theory. 14 Tseng / Peng, S. 27 f. 15 Der 1. Artikel des „Entschlusses“ lautet: „Taiwan is a sovereign and independent country. Any change in the independent status quo must be decided by all the residents of Taiwan by means of plebiscite.“ Dieser Äußerung ist folgende Erklärung angeschlossen: „Taiwan, although named the Republic of China under its current constitution, is not subject to the jurisdiction of the People’s Republic of China.“ Für die englische Fassung siehe Democratic Progressive Party, Resolution Regard ing Taiwan’s Future.
172 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
III. Die letzte Verfassungsänderung von 2005 und die Verfassungsdebatte 1999 veröffentlichte der Präsidentschaftskandidat der DPP, Shui-Bian Chen, sein Wahlprogramm für die Wahl im folgenden Jahr. Darin legte er sich auf das Nahziel einer weitergehenden Verfassungsreform fest, die durch eine Verfassungsänderung herbeizuführen sei, und definierte die neue Verfassunggebung als ein Fernziel.16 Obwohl Chen letztendlich die Wahl gewann, wurde sein Programm zur Verfassunggebung von einem Großteil der moderaten Wähler nicht mitgetragen. Sie waren zwar einer Verfassungsänderung nicht abgeneigt, um weitergehende politische Reformen umzusetzen, lehnten aber gleichzeitig eine Verfassunggebung ab, die als mit der Staatsgründung und Unabhängigkeit verbunden verstanden wurde. Die Moderaten verhielten sich zumeist neutral. Darum ließ Shui-Bian Chen die Frage, ob der Weg einer Verfassungsänderung oder der Verfassunggebung beschritten werden sollte, in seiner ersten Amtszeit offen und schob diese schwerwiegende Entscheidung für unbestimmte Zeit auf. Allerdings trat das Thema der Verfassunggebung 2003, gegen Ende der ersten Amtszeit Chens, wieder in den Vordergrund und wurde Gegenstand einer Kontroverse. Dies ergab sich daraus, dass die entschieden für die Unabhängigkeit eintretende Partei, Taiwan Solidarity Union (TSU), ein Verfassungsreferendum für eine Verfassung Taiwans betrieb. Angesichts der Wiederwahl des Präsidenten und der Parlamentswahl 2004 mussten die DPP und Chen auf das Programm der TSU reagieren, um die Unterstützung der Befürworter der Unabhängigkeit Taiwans für sich zu gewinnen. Darum kündigte Chen später an, dass die DPP-Regierung im Falle eines Wahlsieges 2006 ein Referendum zur Verfassunggebung abhalten wolle, statt die Verfassungsreform in der bisherigen Weise der Verfassungsänderung durchzuführen. Er betonte zugleich ausdrücklich, die direktdemokratische Verfassunggebung sei ein entscheidender Punkt und unabdingbar für die Vertiefung der Demokratie und Verwirklichung der Volkssouveränität.17 Folglich stand die Idee der Verfassunggebung nicht nur in direktem Zusammenhang mit der Unabhängigkeitsbewegung, sondern knüpfte auch an die Idee der direkten Demokratie an. Diese Annahme basierte auf der Vorstellung, dass die direkte Demokratie bzw. das Referendum über die neue Verfassung als identisch mit der voll16 Zu seinem Wahlprogramm vgl. Shui-Bian Chen, The White Paper of Constitutional Politics. Sein Programm zur Verfassungsreform schloss die folgenden Punkte ein: Referendum zur Entscheidung über den zukünftigen politischen Zustand Taiwans, DreiGewaltenteilung wie in westlichen Ländern, Übergang vom Semipräsidialsystem zum Präsidialsystem, Vorantreiben der Verfassunggebung. 17 Tseng / Peng, S. 31.
A. Verfassungsreform in Taiwan nach dem Ausnahmezustand173
kommenen Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität gesehen wurde. In logischer Konsequenz wurde hieraus das Argument abgeleitet, dass derjenige, der das Verfassungsreferendum ablehne, sich gegen die Ausübung der Volkssouveränität stelle und sich somit der Demokratie entgegenstelle, weil das Volk als Souverän jeweils nach seinem Willen die Verfassung revidieren oder eine neue Verfassung entwerfen könne. Als Reaktion auf diesen „direktdemokratischen“ Diskurs stimmte die KMT zwar der Notwendigkeit direktdemokratischer Institutionen zu, betonte aber, dass ebenjenes Referendum lediglich zur Verfassungsänderung und keineswegs zu einer Verfassunggebung dienen solle. Wie schon früher zeigte sich zu dieser Zeit der Unterschied zwischen den Stellungnahmen beider Parteien in dem Gegensatz von Verfassungsänderung und Verfassunggebung. Die KMT wollte zuerst die verfassungsrechtlichen Zusatzartikel bezüglich der Verfahren des Referendums in die Verfassung einfügen und dann ein Referendum über die Verfassungsänderung abhalten lassen. Die DPP wollte dagegen die verfassungsmäßigen Verfahren der Verfassungsänderung in der geltenden Verfassung beiseitelassen und den Entwurf einer neuen Verfassung vorlegen, über den das Volk in einem Verfassungsreferendum abstimmen sollte. DPP und KMT waren sich einig über die Notwendigkeit einer Verfassungsreform und dass diese anhand einer Volksabstimmung bestätigt werden sollte. Es bestanden aber unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Frage, ob es sich dabei um eine Verfassunggebung oder eine Verfassungsänderung handeln sollte. Folglich gewann die Debatte über Verfassunggebung oder Verfassungsänderung wieder an Aktualität. Nach der erneuten Wiederwahl zum Präsidenten verzichtete Chen unter dem Druck moderater Wähler im Innern und aufgrund der massiven Einwände Chinas sowie der USA auf die Verfassunggebung.18 In seiner Rede zum Amtsantritt äußerte er, dass ein verfassungsänderndes Referendum das Referendum bezüglich der Verfassunggebung ersetzen sollte. Zugleich kündigte er an, dass die kommende Verfassungsreform in seiner Amtsperiode inhaltlich nicht das Staatsterritorium und den politischen Zustand Taiwans umfassen werde und formell nach den bisherigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Verfassungsänderung durchzuführen war, da es innerhalb der taiwanischen Gesellschaft noch keinen gemeinsamen Konsens über den zukünftigen politischen Status gebe. Trotz des Umschwungs der Verfassungspolitik von Chen setzte sich die Verfassungsdebatte in der Gesellschaft weiter fort. Sie wurde sogar noch heftiger, denn in der Kombination von Volksabstimmung und Verfassungsänderung wurde die Volkssouveränität als der Legalität der Verfassung entgegengesetzt dargestellt. Daraus folgte die Fragestellung, ob die unmit18 Vgl.
ebd., S. 34 ff.; Yi-Shen Chen, S. 109.
174 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
telbare Willensäußerung des Volkes unbedingt an die Verfassung gebunden sein soll und daher als eine Art und Weise der Verfassungsänderung auch eine Grenze hat. Diese Debatte dauerte bis zur letzten Verfassungsänderung im Juni 2005 an. Danach verlor sie an Intensität.19
B. Debatte zwischen der Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität Die Hauptfragestellung, die während den Debatten über die Verfassung und die implementierten Verfassungsänderungen Taiwans von 1991 bis 2005 aufgeworfen wurde, bezieht sich in erster Linie auf die fundamentale Frage, ob es eine Grenze der Verfassung gibt. In Taiwan ist keine verfassungsrechtliche Bestimmung gegeben, die wie die „Ewigkeitsklausel“ im deutschen Grundgesetz ausdrücklich eine Grenze der Verfassungsänderung vorschreibt. Die Gerichtsbarkeit bzw. Verfassungsrichter hatten bis 2000 auch kein richterliches Prüfungsrecht zur Nachprüfung von Verfassungsänderungsanträgen der Nationalversammlung (sie konnten aber die Verfassungsmäßigkeit und Gültigkeit von Parlamentsgesetzen überprüfen). Bis dahin war die Befugnis zu Verfassungsänderungen somit sowohl gemäß der Verfassung wie auch in der Praxis unumschränkt. Dann ist nicht erstaunlich, dass die Vorläufigen Bestimmungen auf dem Weg der Verfassungsänderung entstanden und danach viermal entgegen dem konstitutionalistischen Prinzip revidiert wurden. Unter diesen Voraussetzungen wurde die Frage nach der Grenze der Verfassungsänderung in der Zeit aufgeworfen, in der die Verfassungsordnung in hohem Maße umgestaltet wurde. Der taiwanische Politologe Carl K. Y. Shaw verweist darauf, dass die Demokratisierung und die über zehn Jahre dauernde Verfassungsreform Taiwans durch zwei miteinander kollidierende Positionen beeinflusst werden.20 Mithilfe der Analyse des amerikanischen Rechtswissenschaftlers Frank Michelman zeigt Shaw, dass die beiden Standpunkte auf zwei unterschiedliche Kernprinzipien, nämlich „Konstitutionalismus“ und „nationale Demokratie“, zurückgeführt werden können. Das Prinzip „Konstitutionalismus“ geht aus dem Ideal „government of the people by law“ hervor. Dieses Prinzip ziele laut Shaw darauf ab, dass das Volk kraft der Gesetze eine andauernde unüber19 Nach der letzten Verfassungsänderung wurde das Referendum verfassungsrechtlich festgelegt. Allerdings läuft die neue Bestimmung darauf hinaus, dass weitere Verfassungsänderungen praktisch unmöglich werden. Denn bei jeder Verfassungsänderung wäre die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Diese Bedingung ist nahezu unmöglich zu erfüllen. 20 Shaw, National Democracy in Taiwan, S. 13 ff.
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität175
schreitbare Grenze der subjektiven Rechte der Individuen ziehe. Zudem lassen sich politische Kräfte und Überzeugungen durch Gesetze begrenzen und dürfen nicht in Gesetze und Freiheitsrechte eingreifen. Im Gegensatz dazu stehe das andere Prinzip, die „nationale Demokratie“, bei der es sich um das Ideal „government of the people by the people“ handelt. Dafür komme es darauf an, dass sich die Individuen zu einem Volk mit politischer Handlungsfähigkeit organisieren. Dadurch vermag es für sich selbst Gesetze zu schaffen und ihnen Kraft zu verleihen. Es handelt sich also vor allem um die Selbstbestimmung des Volkes. Daraus zieht Shaw den Schluss, dass sich die Diskurse in der Verfassungsdebatte Taiwans hinsichtlich der Umgestaltung der Verfassung aus diesen beiden Kernprinzipien ableiten lassen. In diesem Zusammenhang weist er zwar mit Recht darauf hin, dass diejenigen, die für die durch grenzenlose Verfassungsänderung zu vollziehende Verfassungsreform sind, sich auf die verfassunggebende Gewalt berufen, um ihre Argumentation zu rechtfertigen. Dennoch übersieht er zugleich, dass sich der von ihm erwähnte, am „Konstitutionalismus“ orientierte Diskurs eben an die Konzeption der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, und zwar im Sinn Schmitts, anlehnt, um eine umfassende Verfassungsänderung zu blockieren. Hier ist zuerst auf die Rezeption von Schmitts Theorie der Begrenzung der Verfassungsänderung im taiwanischen wissenschaftlichen Diskurs einzugehen.
I. Schmitts Theorie über die Grenze der Verfassungsänderung und Konstitutionalismus In Taiwan war der Diskurs des Konstitutionalismus bereits vor der Aufhebung der Vorläufigen Bestimmungen von 1991 aufgekommen. Zu dieser Zeit diente er zur Beschränkung der Regierungsgewalt, wurde im späteren Verlauf dann aber zu ganz anderen Zwecken benutzt. Wie bereits oben erwähnt wurde, waren die Vorläufigen Bestimmungen im Wege der Verfassungsänderung entstanden und danach zwischen den 1950er und 1970er Jahren vier Mal abgeändert worden. Das Wesen der Vorläufigen Bestimmungen war ein durch das Verfahren der Verfassungsänderung zustande kommendes Gesetz, das den Verfassungstext von 1947 durchbrach und die darin vorgeschriebenen rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien aufs Äußerste missachtete. Diese Praxis der Verfassungsänderung, sei es das Erlassen der Vorläufigen Bestimmungen oder ihre nachträglichen geringfügigen Revisionen, verlieh vor dem Außerkrafttreten der Vorläufigen Bestimmungen nur dem autoritären Regime der KMT eine rechtliche Legitimation und hatte keine demokratische Bedeutung.21 Folglich zogen Juristen seit den 21 Hsueh,
An Initial Historical Inquiry, S. 74 f.
176 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
80er Jahren die Verfassungsmäßigkeit der Vorläufigen Bestimmungen in Zweifel und bemängelten diese als einen Fall der Verfassungsdurchbrechung.22 Daneben beriefen sich auch Rechtswissenschaftler auf die Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung, um die Aufhebung des verfassungsdurchbrechenden Gesetzes und die Rückkehr zum originalen Verfassungstext zu fordern.23 Ihre Argumentation stützte sich v. a. auf zwei Punkte: (1) die Vorläufigen Bestimmungen als Resultat der Verfassungsdurchbrechung aufzuheben; (2) zum originalen Verfassungstext von 1947 zurückzukehren und die grundlegenden Prinzipien der Verfassung wie z. B. die Grund- und Bürgerrechte und den Parlamentarismus ernst zu nehmen.24 Hierbei wurde der Unterschied zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz als grundsätzlich und maßgebend hervorgehoben. Daraus entwickelte sich das konsequente Argument, dass die verfassungsändernde Nationalversammlung zwar zur Abänderung der Verfassungsgesetze befugt sei, aber als ein konstituiertes Organ keineswegs über die grundlegenden Prinzipien der Verfassung, nämlich das Prinzip des Rechtsstaates und des Parlamentarismus, hinausgehen könne. Die Vorläufigen Bestimmungen seien daher nicht verfassungsmäßig und möglichst schnell aufzuheben, damit die durch die Verfassungsdurchbrechung „eingefrorenen“ Bestimmungen in der Verfassung wieder in Kraft treten können. Hierbei ist unverkennbar, dass diese Argumentation zu jener Zeit vor allem darauf abzielte, gegen das autoritärdiktatorische Regime vorzugehen, um die in der Verfassung festgehaltenen rechtsstaatlichen Prinzipien zu verteidigen. In diesem Zusammenhang stellte sich der Diskurs über die Rückkehr zur ursprünglichen Verfassungsordnung als „Diskurs des Konstitutionalismus“ dar. Es fällt auf, dass sich dieser Diskurs der Schmittschen Konzeptionen und Begriffe bediente – auch wenn sein Name nicht genannt wurde –, die in den 50er Jahren schon als das Paradigma der Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung in Taiwan eingeführt gewesen waren.25 22 Vgl. Yao, S. 35 ff., 184 ff.; Tzong-Li Hsu, The Legal Issue of Temporary Provisions. 23 Vgl. Hsueh, An Initial Historical Inquiry, S. 79 ff.; Shaw, National Democracy in Taiwan, S. 17 f. 24 Die bekanntesten Vertreter der Auffassung sind Hong-Hsi Lee und Fu Hu. Zu ihrer Ansicht vgl. Lee, A Clarification on Constitution about the Basic Concepts; Hu, The Democratization Politics and Constitutional Institutions. Insbesondere Hong-Hsi Lee, dessen Argumentation in sehr enger Anlehnung an Schmitts System kritisiert, dass die Nationalversammlung die Grenze der Verfassungsänderung überschritt und gegen die verfassunggebende Gewalt des Volks verstieß. 25 Vgl. oben Einleitung Fn. 7 und 8. Interessant ist, dass ein anderer Rechtswissenschaftler, der der Lehre der Grenze der Verfassungsänderung widerspricht, auch Hsus Einschätzung über die Wirkungsgeschichte von Schmitts Lehre in Taiwan zustimmt. Deswegen meint er, die Befürworter der Grenze der Verfassungsänderung
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität177
Bis zu Beginn der Verfassungsänderung blieb die politische Absicht des Diskurses des Konstitutionalismus, mittels der Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung die Grundrechte und das Regierungssystem zu verteidigen, unverändert.26 Bemerkenswert ist aber, dass der konstitutionalistische Diskurs in der folgenden Zeit von der konservativen Fraktion der KMT aufgegriffen und zu einem anderen Zweck gebraucht wurde. In Bezug auf die Umgestaltung des Verfassungssystems hielt die KMT immer an der Linie „Verfassungsänderung statt Verfassunggebung“ fest, denn sie befürchtete, dass ihre Ein-China-Politik und die Existenz der ROC durch die Verfassunggebung hätte ins Wanken geraten können. Aus diesem Grund behaupteten die KMT und ihre Anhänger einerseits, die Verfassung sollte abgeändert werden, ohne sie zu beseitigen, um somit ihre Kontinuität und Stabilität zu gewährleisten.27 Zum anderen zogen sie auch eine Grenze der Verfassungsänderungen, innerhalb deren die in der Verfassung von 1947 vorliegenden Bestimmungen über das Territorium, die staatliche Flagge und den amtlichen Namen des Staates als grundlegende und unveränderbare Prinzipien bezeichnet wurden. Die KMT war davon überzeugt, dass diese Prinzipien die grundlegenden politischen Entscheidungen seien, die das chinesische Volk im Jahr 1947 mit seiner verfassunggebenden Gewalt getroffen habe und daher nicht durch irgendeine verfassungsändernde Institution – sei es eine mittelbare oder unmittelbare – zu ändern seien. Hierzu weist Shaw zurecht darauf hin, dass die KMT die Position für eine Verfassungsänderung nicht einnahm, um die Substanz des Konstitutionalismus, d. h. die Grundrechte und Gewaltenteilung zu schützen, sondern vielmehr, seien „mehr oder weniger deutsch“, „lehnen sich mittelbar oder unmittelbar an die deutsche Lehre (seit Carl Schmitt) oder die verfassungsrechtliche Bestimmung (Grundgesetz Art. 79. Abs. 3) an“. Siehe Hwang, Rethinking the Theory of Substantive Limitations on Constitutional Amendments, S. 184 ff., 217. 26 Am Vorabend der zweiten Verfassungsänderung veröffentlichten mehrere Akademiker einen Appell, Dieser umfasste zwei Punkte: (1) Die Verfassung und die Verfassungsreform sollen sich vom parteilichen Machtkampf abtrennen; (2) Rückkehr zum Parlamentarismus statt der Weiterentwicklung zum Semipräsidialsystem. Vgl. Wen, Perspectives on the Eve of Constitutional Amendment on the Struggle Between Powers and Constitutional Institutions. 27 Yeong-Chin Su ist der Meinung, Verfassungsänderungen können „nicht nur die Kontinuität des Verfassungssystems und die Ordnung garantieren, sondern auch helfen, die Autorität der Verfassung zu konsolidieren und das Verfassungsbewusstsein des Volkes zu verstärken.“ Hingegen begreift er die Verfassunggebung als nichts anderes als Verfassungsvernichtung. Ihm zufolge könne daraus folgen, dass entweder eine neue, aber widersprüchliche Verfassung entstehe, weil sich verschiedene gesellschaftliche Kräfte in kurzer Zeit in eine verfassunggebende Versammlung integrieren und miteinander einen Kompromiss schließen müssen, oder dass die Integration scheitert und die Gesellschaft wegen des fehlenden Kompromisses weiter im Konflikt bleibt. Vgl. Su, Toward Constitutionalism, S. 48 f.
178 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
um die Intention zum Entwurf einer neuen Verfassung und das hieraus möglicherweise folgende Resultat, nämlich dass die Unabhängigkeit Taiwans verfassungsrechtlich bestätigt würde, zu blockieren.28 So gesehen nahm der konstitutionalistische Diskurs in jener Zeit diesen Sinn an und wurde zu einem politischen Kampfmittel, mit dem die KMT versuchte, die ihren Überzeugungen bezüglicher nationaler Identität entsprechenden Bestimmungen in der Verfassung von 1947 vor Veränderungen zu schützen. Diese diskursive Strategie der KMT kann man deutlich am Beispiel des Rechtwissenschaftlers Yeong-Chin Su wahrnehmen. Su geht von folgendem Argument aus: Die ROC bestehe zwar momentan nur auf der Insel Taiwan, aber die Kontinuität des Nationalstaates bleibe unverändert. Insofern sei Taiwan nur Teil eines Nationalstaats, wie die BRD und die DDR nur zwei Teile eines einzigen Nationalstaats waren. Er vertritt die Meinung, die 1947 in Kraft getretene Verfassung der ROC schreibe das Territorium vor. Obwohl sie nun aus politischen Gründen im größten Teil des Territoriums nicht gelte, könne die taiwanische Bevölkerung keinesfalls auf dem Weg der Verfassungsänderung das Festland vom Territorium der ROC und die Bevölkerung auf dem Festland aus der ROC ausschließen. Sowohl die Kontinuität des Staates als auch die nationale Identität seien unbedingte, aus der verfassunggebenden Gewalt der chinesischen Nation abgeleitete Voraussetzungen und somit die Grenze der Verfassungsänderung. Im Rahmen der Verfassung liege somit keine verfassungsmäßige Institution vor, mit der irgendein Staatsorgan die Kontinuität des Staates aufheben und einen neuen Staat gründen könne. Diese Voraussetzungen werden auch in den durch die formelle Verfassungsänderung von 1991 herbeigeführten Zusatzartikeln erneut wiederholt. Dies spiegelte sich im Wortlaut der Präambel der Zusatzartikel wider: „Um die Erfordernisse der Nation vor der nationalen Vereinigung erfüllen zu können, werden die folgenden Artikel zur Verfassung der Republik China hinzugefügt[…]“.29 Diese Präambel erklärt die Wiedervereinigung Chinas als grundlegendes Prinzip. Hieraus zieht Su den Schluss, dass eine Verfassungsänderung zur Unabhängigkeit Taiwans, verfassungsrechtlich gesehen, keineswegs verfassungsmäßig sei. Niemand dürfe und solle mithilfe der formellen Verfassungsänderung den Weg der materiellen Verfassunggebung beschreiten.30 28 Shaw,
National Democracy in Taiwan, S. 20. meet the requisites of the nation prior to national unification, the following articles of the ROC Constitution are added or amended to the ROC Constitution […]“.Die englische Version ist verfügbar unter: (zugegriffen am 23.11.2013). 30 Vgl. Su, Toward the Constitutionalism of a New Century, S. 157 ff. Für unser Thema ist hier entscheidend, dass er ausdrücklich die Lehre der verfassunggebenden Gewalt auf Schmitt zurückführt, wenn er die Wiedervereinigung als das grundlegen29 „To
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität179
Angesichts ihrer politischen Überzeugungen verwendete die KMT den formalistisch-konstitutionalistischen Diskurs, um alles, was die nationale Identität betrifft, und das damit verbundene Verfassungssystem als unveränderbare Grundlagen zu begreifen, die alle politischen Kräfte weder kritisieren noch berühren könnten. Ein solcher Diskurs hatte zur Folge, dass während der Demokratisierung und der Lokalisierung der Verfassung in den 90er Jahren die politischen Symbole (Nationalflagge, Staatsname) oder die Verfassung von 1947 selbst nicht zur öffentlichen Diskussion standen. Weder solche politischen Symbole noch die Verfassung konnten sich somit durch gesellschaftliche Kommunikation auf einen gemeinsamen Konsens stützen und dadurch vom Großteil der taiwanischen Bevölkerung anerkannt werden. Die chinesisch-nationale Identität war in der vorherigen Zeit lediglich eine Vorstellung gewesen, die das autoritäre Regime durch staatliche Gewalt zwanghaft aufgebaut und aufrechterhalten hatte. Nach der politischen Demokratisierung war diese „offizielle“ Identität in der Gesellschaft, die sich nie der Hoheit Chinas unterworfen hatte, nicht mehr unproblematisch. Es war unvermeidlich, dass diese von der Wirklichkeit so weit entfernte Verfassung, auch wenn sie seitdem vielmals revidiert wurde, stets in Frage gestellt wurde, wie dies auch bei der letzten Verfassungsänderung der Fall war.31
II. Die Konzeption der verfassunggebenden Gewalt von Sieyès und die Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung Im Gegensatz zum konstitutionalistischen Diskurs, der sich auf Schmitts Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung berief, rechtfertigten sowohl die DPP – nachdem ihr politischer Kurs von Verfassunggebung zu Verfassungsänderung übergangen war – als auch die „lokale Fraktion“ in der KMT in Anlehnung an das Prinzip der nationalen Souveränität eine de Prinzip und die Grenze der Verfassungsänderung auffasst. Zugleich gibt er hier auch zu, dass aus der Ansicht der Lehre der verfassunggebenden Gewalt das taiwanische Volk eine neue Verfassung entwerfen darf, weil die verfassunggebende Gewalt nicht an die Verfassung gebunden ist. Dementsprechend sind Verfassungsänderungen beschränkt. Allerdings war Verfassunggebung im politischen Kontext Taiwans nie wahrscheinlich. Die regierende KMT, die über die Mehrheit im verfassungsändernden Organ verfügte, schloss von Anfang an die Möglichkeit der Verfassunggebung aus. Zugleich konnte sie auch entscheiden, welche Themen zur Diskussion standen und veränderbar waren. 31 Shaw verweist deshalb darauf, dass der konstitutionalistische Diskurs der KMT zu einer Bevorzugung des unklaren de jure-Zustands des Staates führt, weil sie auf diese Weise die kritische Frage des staatlichen Zustands Taiwans umgehen können. In diesem Sinn wird die Politik der KMT als konservativ und undemokratisch kritisiert. Vgl. Shaw, National Democracy in Taiwan, S. 20.
180 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
umfassende Verfassungsänderung. Nach ihrer Darstellung der Verhältnisse in China und Taiwan gebe es nicht eine Nation bzw. die chinesische Nation, die sich momentan in zwei unterschiedliche Staaten gespalten hat und sich irgendwann wieder vereinigen könnte, sondern bereits zwei verschiedene Nationen. „China“ beziehe sich nur auf die von der kommunistischen Partei beherrschte PRC. Deswegen sollte Taiwan auf den bestehenden Staat „Republic of China“ und die Verfassung der ROC verzichten, weil diese beiden von Chinesen und nicht von den Taiwanern konstituiert worden seien. Die „Republic of China“ sei eine Illusion, die heutzutage nur noch auf dem Papier, d. h. in der Verfassung der „ROC“ stehe. Die Wiedervereinigung mit dem Festland sei der Verrat und die Preisgabe des Willens und des Selbstbestimmungsrechtes des taiwanischen Volkes. Dementsprechend müsse Taiwan einen neuen Staat sowie eine neue Verfassung konstituieren. Die Beziehung zwischen China und Taiwan sei daher kein Analogon zu der zwischen BRD und DDR, weil die letzteren zwar zwei Staaten waren, aber zur selben gespaltenen deutschen Nation gehörten. Taiwan dahingegen sei eine andere Nation als China. Aber weil die damals noch starke konservative Fraktion in der KMT die Verfassunggebung blockierte, wurde die Umgestaltung der Verfassung Taiwans von vorherein nur auf dem Weg der Verfassungsänderungen vollzogen.32 Seit der ersten Verfassungsänderung von 1991 wurde de jure bestätigt, 32 Neben der Nivellierung des Unterschiedes zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung forderten auch andere Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung eine Verfassunggebung, obwohl dieser Anspruch in der Praxis nicht von Bedeutung war. Die Stellungnahme zum Entwurf einer gänzlich neuen Verfassung fällt beim Juristen Ching-Hsiung Hsu auf, der auch Verfassunggebung von Verfassungsänderung streng unterscheidet. Denn sie leiten sich offensichtlich von hierarchisch unterschiedlichen Gewalten ab. Davon ausgehend zieht Hsu aber einen umgekehrten Schluss gegen den formell-konstitutionalistischen Diskurs der KMT. Laut ihm solle die umfassende Änderung der Verfassung als ein Akt zur Verfassunggebung betrachtet werden, was nur das alte Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, also das chinesische Volk, durchführen kann. Hsu stellt dann fest, dass die umfassende Verfassungsänderung ohne die Beauftragung vom chinesischen Volk verfassungswidrig ist. Allerdings hat das chinesische Volk die verfassunggebende Gewalt nach 1949 schon mehrfach ausgeübt und die Verfassung der ROC, die „gestorbene“ Verfassung, bereits aufgehoben. Ching-Hsiung Hsu führt dazu aus: „Jede Verfassung muss Lebenskraft haben. Nur die Verfassung, die mit der ihre Lebenskraft verleihenden verfassunggebenden Gewalt zusammen existiert, hat substanziellen Sinn und ist eine vitale Verfassung. […] Allerdings verliert die Verfassung der ROC von 1946 [sic!] bereits Lebenskraft. Sie ist nur eine überkommene Urkunde, weil ihre verfassunggebende Gewalt sie aufgegeben und in einem anderen souveränen Staat vier Verfassungen geschöpft hat.“ Siehe Ching-Hsiung Hsu, S. 47. Andererseits, da die chinesische Nation mit ihrer verfassunggebenden Gewalt eine neue Verfassung konstituiert hat, sei bewiesen, dass das chinesische und taiwanische Volk bereits zu unterschiedlichen Nationen und also zwei voneinander unabhängige Subjekte der verfassungge-
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität181
dass sich das Hoheitsgebiet der ROC nur auf Taiwan beschränkte. Dementsprechend hörte die taiwanische Regierung nicht nur auf, die „PRC“ als eine rebellierende Gruppe zu bezeichnen, sondern erkannte staatsrechtlich auch deren Herrschaft über das Festland an. Trotzdem blieben bei jeder Verfassungsänderung sowohl die nationale Identität als auch der zukünftige politische Status Taiwans auf der Seite der KMT noch als ein Tabu bestehen, das von Verfassungsänderungen ausgenommen wurde. Zu diesem politischen Zweck machte die KMT vom formalistisch-konstitutionalistischen Diskurs und der Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung Gebrauch. Dieser mit der chinesisch-nationalen Identität zusammenhängende Diskurs war jedoch für diejenigen, die die Meinung vertraten, dass Taiwaner wegen ihrer eigenen nationalen Identität nicht mehr zur chinesischen Nation gehören und sich Taiwan somit de jure von China weitergehend distanzieren müsse, lediglich eine undemokratische Rhetorik hinter einen juristischen Fassade. Um die Blockadestrategie der KMT zu umgehen, stellten sie in Frage, dass die Befugnis zur Verfassungsänderung eine unüberschreitbare Grenze haben musste. Dementsprechend war jeder einzelne Verfassungsartikel oder sogar die Grundlage der Verfassung (z. B. Regierungssystem, Grund- und Freiheitsrechte sowie der Name des Staates) durch verfassungsmäßige Verfahren in einer Verfassungsänderung abänderbar. Daher wurde die Verfassunggebung nicht mehr so deutlich von Verfassungsänderungen unterschieden. Diese Position zur Relativierung des Unterschieds zwischen Verfassungsänderung und Verfassunggebung nannte Shaw „quasi constitution-making“.33 Für sie war die Lehre von Sieyès unverkennbar von erheblicher Relevanz, obwohl sie selbst das nicht deutlich erkannten.34 Sie übernahmen in erster Linie das Kernargument, dass der Wille des Volkes, welcher der Verfassung vorausgehe und also der Ursprung der Verfassung sei, nicht benden Gewalt geworden seien. Das taiwanische Volk habe dann freilich das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben, und solle sie schaffen. Folglich soll das taiwanische Volk es nicht auf dem Weg von Verfassungsänderungen der alten toten Verfassung bewenden lassen, sondern muss eine Verfassunggebung durchführen. Vgl. ebd. In dieser Richtung auch Tsi-Yang Chen, Constitution-making or Constitutionamending?. Die Befürworter einer Verfassunggebung stellten nicht nur die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Sieyès heraus, sondern auch die Lehre der Grenze der Verfassungsänderung. Sie hatten deshalb einerseits eingeräumt, dass eine Grenze für Verfassungsänderung vorhanden sein und nicht durchbrochen werden soll. Andererseits lehnten sie sich auch an die Lehre von Sieyès an und sehen im Akt zur Verfassunggebung die Lösung des Problems der taiwanesischen Verfassungspolitik. 33 Shaw, „Constitutional Amendment“ and „Quasi Constitutional-Making“, S. 5. Dazu auch Shaw, Intellectual History of Western Republicanism, S. 409. 34 Shaw verweist deshalb darauf, dass beim Schlüsselwort der „nationalen Souveränität“, das sich in der öffentlichen Meinung Taiwans oft findet, es sich inhaltlich tatsächlich um den Begriff der verfassunggebenden Gewalt von Sieyès handelt. Siehe Shaw, National Democracy in Taiwan, S. 5 ff.
182 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
an die Verfassung gebunden sein solle. Sie waren dann davon überzeugt, dass das Volk mit seiner verfassunggebenden Gewalt die bestehende Verfassung nicht nur beseitigen, sondern auch umfassend revidieren könne, falls dies ihrem Wunsch entspreche. Demnach dürfe die verfassunggebende Gewalt permanent in die Verfassung eingreifen, weil jene Gewalt trotz der Schaffung der Verfassung weder veräußert noch erschöpft sei. Auf dieser Basis begründeten die Anhänger des „quasi constitution-making“ die Umgestaltung der Verfassungsordnung oder den Austausch staatlicher Symbole. In diesem Sinn bezeichnet Shaw die „nationale Souveränität“ als das Prinzip dieses Diskurses. Zu beachten ist dabei, dass Volkssouveränität und verfassunggebende Gewalt zwar der Verfassung gegenüberstellt wurden, es aber hierbei überhaupt nicht um die Tyrannei der Mehrheit ging. D. h. der erwähnte Diskurs der „nationalen Souveränität“ strebte nicht die Ersetzung des Prinzips des Rechtsstaats durch eine unbeschränkte Volkssouveränität an. Ebenso wichtig war für diesen der Schutz der individuellen Grundrechte.35 Aber er hob eher die Selbstbestimmung des Gemeinwesens, bzw. des Volkes und die Elastizität der Verfassung als die Kontinuität der Verfassung hervor, da für ihn die dauerhafte Kraft der Verfassung angewiesen war auf die demokratische Legitimation, an die aber die Verfassung von 1947 fehlte. In Taiwan war Hwang Jau-Yuan der erste, der die Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung theoretisch in Zweifel zog.36 Der Kern seiner Argumentation ist die nationale Souveränität. Laut Hwang äußert sich das Prinzip der nationalen Souveränität vor allem darin, dass das Volk das dauerhafte und ununterbrochene Recht habe, nicht nur über wesentliche Politikinhalte der Regierung, sondern auch über das Verfassungssystem und den staatlichen Status sowie nationale Identität zu entscheiden. Das überlegene Recht des Volkes, politische Entscheidungen zu treffen, bleibe auch nach der Verfassunggebung unverändert. Deshalb sei das Volk immer imstande, seine Souveränität zur Veränderung oder Verbesserung der das 35 Deswegen ist es nicht unangemessen, mit der Gegenüberstellung von Rechtsstaat und radikaler Volkssouveränität, von der in Habermas̕ Werk die Rede ist, die gegensätzlichen Diskurse in dieser Verfassungsdebatte aufzufassen. Die Vertreter der „Quasi-Verfassunggebung“ zielen nicht darauf ab, die konstitutionalistischen Prinzipien – vornehmlich die Gewaltenteilung und Grundrechte – aufzuheben, sondern auf die rechtliche Festlegung der Eigenstaatlichkeit Taiwans und die Umformung des Regierungssystems zum Präsidialsystem wie in den USA. Zu Habermas̕ Versuch zur Koordinierung von Rechtsstaat und Volkssouveränität vgl. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, S. 610 ff. 36 Shaw hat die seit 2000 thematisierte Gleichsetzung von Verfassunggebung und Verfassungsänderung nicht auf Hwangs Stellungnahme zurückgeführt. Aber es ist offensichtlich, dass die Relativierung auf der Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung beruht. Insofern beginnt der Diskurs der „Quasi-Verfassungsänderung“ schon vor 2004.
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität183
staatliche System regelnden Verfassung auszuüben. Die Beschränkung der Verfassungsänderung stehe daher grundsätzlich im Widerspruch zum Prinzip der nationalen Souveränität. In diesem Sinn impliziere die Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung vielmehr einen Zweifel am demokratischen Prinzip. Hwang meint, die Unklarheit der Grenze der Verfassungsänderung könne dazu führen, dass die in der Vergangenheit begangenen Fehler in der Verfassung zu einem unüberwindlichen Hindernis werden, das die demokratische Weiterentwicklung einer Gesellschaft behindere und den Willen nachfolgender Generationen binde. Als Beispiel geht Hwang der Fragestellung nach, ob die schwarze Sklaverei, falls sie in die amerikanische Verfassung eingefügt und mit einer „Ewigkeitsklausel“ versehen worden wäre, ebenfalls zu einem grundlegenden Prinzip der Verfassung und somit unveränderbar geworden wäre.37 Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob die Organisation des Staates unbedingt jenseits der Verfassungsänderungsbefugnis liegt und unveränderbar sein sollte. Die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sei, so Hwang, vor allem angesichts der Machtübernahme der NSDAP eingefügt und daher in einem besonderen Kontext verwurzelt. Hingegen sei die Unabänderlichkeit der Organisation des Staates für die meisten Staaten nicht bedeutsam und erforderlich.38 Konsequent lehnt Hwang erstens ab, dass Gerichte in der Lage sein sollen, durch Auslegung der Verfassung die „implizierte“ Grenze der Verfassungsänderung zu definieren, oder die Grenzen mithilfe von verfassungsändernden Organen auf dem Weg der Verfassungsänderung zu erweitern. Des Weiteren betont er, dass die durch ein Referendum durchzuführenden Verfassungsänderungen keinesfalls an jede verfassungsrechtliche Bestimmung gebunden seien. Denn das Referendum bringe als das demokratischste Verfahren der Verfassungsänderung die höchste Legitimität des Volkes zum Ausdruck und sei daher nicht beschränkt. Auch der Wille des vergangenen Souveräns bilde keine Schranke für den Willen des nachfolgenden Souveräns: „Vom Prinzip der nationalen Souveränität her soll jede Generation das Recht haben, über ihre Bill of Rights, Staatsorganisation, Zielsetzung des Staates sowie den zukünftigen staatlichen Zustand und die Nationalidentität zu entscheiden.“39 37 Hwang, Rethinking the Theory of Substantive Limitations on Constitutional Amendments, S. 224 ff. In dieselbe Richtung geht auch Ta-Chun Chen, A Clarification on Constitution about the Basic Concepts. 38 Hwang, Rethinking the Theory of Substantive Limitations on Constitutional Amendments, S. 218 f. Hwang kritisiert an dieser Stelle in einer Fußnote auch, dass die Rechtswissenschaftler Taiwans oft am Beispiel der BRD und DDR Souveränität und politischen Zustand Taiwans darstellen. Er betont, dass die Situation Taiwans aber anders ist. 39 Ebd., S. 233 f.
184 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
Nach dem Jahr 2000 geht die Rechtswissenschaftlerin Chang Wen-Chen in Hinblick auf die „Quasi-Verfassunggebung“ noch ein Stück weiter. Zunächst betont sie, dass sowohl Verfassunggebung als auch Verfassungsänderung angewiesen seien auf das Kriterium, ob die neu entstehenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen im Vergleich zu den alten das demokratische Prinzip verstärken können. Je demokratischer eine neue verfassungsrechtliche Bestimmung sei, desto höhere „normative Qualität“ habe sie. Für Chang ist die demokratische „normative Qualität“ das maßgebende Kriterium, mit dem eine Verfassungsänderung oder eine neue Verfassung zu legitimieren ist. Hinzu kommt ihre Kritik an der Konzeption der verfassung gebenden Gewalt von Sieyès. Chang nimmt vorbehaltlos Arendts Interpretation auf und stellt Arendt und Sieyès einander gegenüber. Sie weist das entscheidende Argument von Sieyès zurück, dass die verfassunggebende Gewalt der Nation immer im „Naturzustand“ stehe. Denn die verfassunggebende Gewalt sei, laut Chang, eine rein faktische Gewalt und an keine Normen gebunden. Daher sei es konsequent, dass das Zustandekommen jeder Verfassung, auch einer undemokratischen, sich auf die verfassung gebende Gewalt stützen könne. Chang meint daher, ein Akt zur Verfassunggebung ist normativ legitim, nicht nur weil er sich aus dem Willen der Mehrheit ableitet, sondern vor allem weil er auf der demokratischen Basis beruhe, die aus öffentlicher Diskussion und Deliberation entstehe. Wenn diese Basis fehle, seien der Akt der Verfassunggebung und eine daraus hervorgehende Verfassung auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass man an die faktische verfassunggebende Gewalt appelliere.40 Hingegen könne eine Verfassungsänderung legitim sein, wenn sie eine höhere „normative Qualität“ habe. In Anlehnung an Bruce Ackermans Theorie und historische Interpretation verweist Chang darauf, dass in der Philadelphia Convention von 1787 die Abgeordneten aller Teilstaaten tatsächlich nur mit einer Verfassungsänderung, genauer mit Verbesserung der Konföderationsartikel, beauftragt gewesen seien. Aber diese verfassungsändernde Konvention wich schließlich von ihrem Auftrag ab und wurde zu einer verfassunggebenden Versammlung. Chang meint: Der Akt zur Verfassunggebung in der Philadelphia Convention sei in diesem Sinn zwar „illegal“ gewesen, ihm fehle es dennoch keineswegs an Legitimität. Denn die demokratische Basis sei durch die umfassende Deliberation des Volkes im Vorgang der Verfassunggebung gestärkt worden. Die Illegalität der verfassunggebenden Versammlung sei durch die stärkere demokratische Qualität des verfassunggebenden Akts ausgeglichen. Mithilfe der Argumentation bei Arendt und Ackerman zieht Chang den interessanten Schluss, dass der Unterschied zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung weder absolut noch unbedingt be40 Wen-Chen
Chang, S. 8 f.
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität185
deutsam sei. Es komme auf die demokratische „normative Qualität“ an, nicht aber auf die formelle Unterscheidung zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung. Eine Verfassungsänderung dürfe somit inhaltlich unbegrenzt sein, wenn sie in diesem Prozess den demokratisch-republikanischen Grundsatz bestärke. Es sei daher für die Verfassungsreform in Taiwan nebensächlich, Verfassungsänderung von Verfassunggebung zu unterscheiden und dadurch eine Grenze der Verfassungsänderung zu ziehen, insbesondere wenn eine Verfassungsänderung in direktdemokratischer Weise durchgeführt würde: „Wenn die im Prozess der Verfassungsänderung resultierende normative Qualität etwa gleich der im früheren Prozess der Verfassunggebung resultierenden normativen Qualität ist oder diese noch übertrifft, ist es normativ keineswegs unzulässig, dass der geänderte verfassungsrechtliche Inhalt an die Stelle des Inhalts der bestehenden Verfassung tritt oder sogar über ihn hinausgeht. Aus dieser Perspektive ist die Verfassungsänderung nicht begrenzt und beschränkt. M. a. W., die Debatte über den Unterschied zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung oder über die materielle Verfassungsänderung sollte richtigerweise mit Rücksicht auf die normative Qualität geführt werden.“41
Auffallend ist, dass diejenigen, die für die Relativierung von Verfassunggebung und Verfassungsänderung eintreten, wiederholt den Vorrang der nationalen Souveränität vor verfassungsrechtlichen Bestimmungen herausstellen, aber kaum ihren Blick auf die Lehre von Sieyès richten. Sie irren sich sogar in ihm. Wenn ihre Zielsetzung ist, dem formellen konstitutionalistischen Diskurs der KMT mit dem Begriff der nationalen Souveränität zu widersprechen, ist es unverständlich, warum die Lehre von Sieyès für diese Autoren nur eine winzige Rolle spielt. Nach Ansicht von Sieyès kommen nicht nur das Recht zur Schaffung einer neuen Verfassung, sondern auch das Recht zur Revision der geltenden Verfassung ebenso wie Entscheidungen über Verfassungsstreitigkeiten dem Subjekt der verfassunggebenden Gewalt zu.42 Er weist zwar im Hinblick auf die Situation 1788 / 89 auf die Kopplung der ordentlichen gesetzgebenden Befugnis mit der verfassunggebenden Gewalt hin und räumt die letztere nur einem außerordentlichen Repräsentativorgan ein.43 Tagt aber das unmittelbar die verfassunggebende 41 Ebd.,
S. 12. der Rechtswisssenschaftler Chien-Liang Lee ausführt: „Das grundsätzliche Argument jener Wissenschaftler, die für grenzlose Verfassungsänderungen eintreten, ist, dass die Volkssouveränität absolut sei, und dass der pouvoir constituant und pouvoir constitué wesentlich keinen Unterschied haben […]“. Seine Äußerung bestätigt direkt die Affinität von Befürwortern der unbeschränkten Verfassungsänderung zu Sieyès. Siehe Lee, S. 41. 43 Sieyès unterscheidet die außerordentliche verfassunggebenden Gewalt und ordentliche gesetzgebende Befugnis und spricht verschiedenen Repräsentativorganen die beide Gewalt. In der Verfassungsgeschichte Taiwans sieht das System der Ver42 Wie
186 3. Teil: Rezeption der Lehre der verfassunggebenden Gewalt in Taiwan
Gewalt repräsentierende Repräsentativorgan – gleichgültig, ob zum Zweck der Verfassunggebung oder Verfassungsänderung –, so unterwirft sich ein solches verfassungsänderndes Organ keinen Rechtsnormen, und ihm ist freilich keine Grenze der Verfassungsänderung gesetzt. Insofern ist die Unterscheidung zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung sinnlos, weil die Handhabung verfassungsändernder Institutionen immer identisch mit der Betätigung der verfassunggebenden Gewalt ist. Fehlt die Grenze, so könnte eine Verfassungsänderung auch eine „Quasi-Verfassunggebung“ sein. In diesem Sinn ist die Distanz zwischen Sieyès und den Autoren, die für die Quasi-Verfassunggebung plädieren, in der Wirklichkeit viel näher als sie selbst einsehen.44 Fraglich ist, warum sich die Befürworter der Quasi-Verfassunggebung von Sieyès distanzieren, auch wenn ihre Position der seinen sehr ähnlich ist. Der Grund besteht vor allem darin, dass durch die Umdeutung Schmitts seine verfassungsschützender Gebrauch der Unterscheidung zwischen der verfassunggebenden Gewalt und den konstituierten Gewalten heutzutage so einflussreich ist, dass man sich zuerst, wenn die Rede von dieser Unterscheidung ist, an das Argument erinnert, dass die Befugnis der Verfassungsänderung als eine konstituierte Gewalt die Kernprinzipien der Verfassung nicht ins Wanken bringen darf. Zugleich ist aber nicht zu berücksichtigen, dass die Verfassungsänderungsbefugnis im System von Sieyès vielmehr dem Subjekt der verfassunggebenden Gewalt zukommt. Wenn Rechtswissenschaftler mit Schmitts Brille die Lehre von Sieyès betrachten, kommen sie konsequenterweise zu dem Schluss, dass bei Sieyès die Verfassungsänderungsbefugnis ebenfalls begrenzt sei und nur im Moment der Verfassunggefassung von 1947 ähnlich aus wie die Idee von Sieyès: Die von der ordentlichen Regierung getrennte Nationalversammlung repräsentiert unmittelbar das Volk und übt die verfassunggebende Gewalt zur Verfassungsrevision aus. Nach 2004 ist die ordentliche Legislative zuständig für Verfassungsänderung. Allerdings akzentuierten die Befürworter der Theorie der grenzlosen Verfassungsänderung einen besonderen Moment, in dem die verfassunggebende Gewalt die bestehenden Verfassungsordnung durchbrechen sollte. Auf welche Art und Weise diesen „konstitutionellen Moment“ zu verwirklichen, ist für sie nicht so wichtig. Ihre Auffassung entspricht zwar der Idee der Repräsentation von Sieyès nicht, aber der entscheidende Charakter der verfassunggebenden Gewalt, Ungebundenheit und Unkontrollierbarkeit, ist für die beiden immer der Mittelpunkt. 44 Die Befürworter der unbeschränkten Verfassungsänderung bzw. der „QuasiVerfassunggebung“ betonen offensichtlich eher die direktdemokratischen Mittel. Das ist eine unverkennbare Differenz zur Auffassung von Sieyès, nach der die verfassunggebende Gewalt des Volkes nur mittelbar ausgeübt werden kann. Allerdings gehen sie eben davon aus, dass die Befugnis zur Verfassungsänderung nicht beschränkt ist. Es wäre jedoch auch noch zu fragen, ob die Gefahr der Tyrannei der Mehrheit zu vermeiden wäre, wenn sich die verfassunggebende Gewalt durch eine verfassungsändernde Institution äußern könnte.
B. Grenze der Verfassungsänderung und nationalen Souveränität187
bung tätig würde. Aus diesem Grund wurde die demokratische Bedeutung der Lehre Sieyès’ im Kampf gegen den konservativen Rechtsdiskurs außer Acht gelassen. Ebenfalls wurde die Ähnlichkeit zwischen der eigenen Argumentation und der von Sieyès übersehen. Allerdings ist die Konzeption der verfassunggebenden Gewalt bei Sieyès von Schmitt unterschieden, auch wenn sie beide denselben Begriff verwenden. Wenn aber die Befürworter der Quasi-Verfassunggebung die Lehre von Sieyès und ihre Affinität zu ihm nicht richtig verstehen, so haben sie auch die negativen Folgen der Lehre von Sieyès nicht vor Augen und übersehen, dass ihre Theorie auch dieselben negativen Folgen haben könnte.
Schlusswort Taiwanische Autoren traten während der Verfassungsänderungen in den 90er Jahren aus unterschiedlichen politischen Gründen für die Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung oder für die Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung ein. Manche Befürworter der Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung bezeichneten die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die die nationale Identität betreffen, als die Kernprinzipien der Verfassung, um zu vermeiden, dass sie durch Verfassungsänderungen ins Wanken geraten würden. Wirkungsgeschichtlich betrachtet ist es angemessen zu sagen, dass Schmitts verfassungsschützende Lehre im Zentrum ihrer Argumentation steht, da seine Lehre in Taiwan bereits in den 50er Jahren bekannt war und als das relevante Paradigma zur Begrenzung der Verfassungsänderung bezeichnet wurde. Die Gegner, also die Befürworter der Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung, wollten die rechtlichen Schranken durchbrechen und dadurch dem taiwanischen Volk einen größeren Spielraum für die Entscheidung über das eigene politische Schicksal eröffnen. Hier ist noch einmal zu wiederholen, dass sich die Verfassungsdebatten in Taiwan zu jener Zeit auf die Grenze der Verfassungsänderung konzentrierten, weil eine erneute Verfassunggebung in der politischen Wirklichkeit unwahrscheinlich war. In diesem Zusammenhang beriefen sich die Befürworter der Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung zwar nicht unmittelbar auf die revolutionäre Lehre von Sieyès, sondern hielten sogar Distanz zu ihm, jedoch existiert sicherlich eine theoretische Affinität ihrer Argumentation zu Sieyès.1 Die einander entgegengesetzten Konzeptionen der verfassunggebenden Gewalt, die in verschiedenen geschichtlichen Momenten erscheint, wirkten gleichzeitig in der taiwanischen Debatte um die Verfassungsänderung, weil unterschiedliche politische Kräfte hierdurch die Verfassung in die jeweils erwünschte Richtung zu treiben versuchten. Hinter der theoretischen Rezeption stehen eigentlich nicht nur wissenschaftliche Interessen, sondern auch politische Motive und Überzeugungen. Die Wirkungsgeschichte des Konzepts des pouvoir constituant von Europa bis Taiwan wurde dargestellt. Welche Lektionen sind aus der Lehre der verfassunggebenden Gewalt von Sieyès und Schmitt noch relevant, wenn 1 Zu der Einführung der Lehre von Sieyès und Schmitt in der Zeit vor den Verfassungsänderungen siehe die Einleitung der vorliegenden Arbeit.
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man eine angemessene Haltung zur Frage der Verfassungspolitik in Taiwan einnehmen will? Zuerst einmal steht fest, dass die Begrenzung der Verfassungsänderung auf jeden Fall erforderlich ist. Die geschichtliche Erfahrung zeigt in vielen Beispielen die Verletzlichkeit der die subjektiven Rechte schützenden Verfassung. Wie man im System von Sieyès sehen kann, hat das Konzept der verfassunggebenden Gewalt einen revolutionären und verfassungsumstürzenden Charakter, den das zu Verfassungsänderungen befugte Organ in die Wirklichkeit umsetzen kann. Die Lehre des pouvoir constituant bedeutet zwar den Auftritt der Volkssouveränität auf der geschichtlichen Bühne, bei dem das Volk politisch handlungsfähig ist, selbst die politische Ordnung und ihre Regelungen zu bestimmen. Das Volk selber übt jedoch in Wahrheit nur selten unmittelbar seine Souveränität aus. Am Anfang der Entwicklung der Lehre des pouvoir constituant hebt Sieyès bereits hervor, dass die verfassunggebende Gewalt des Volkes lediglich durch Repräsentanten ausgeübt werden kann – sowohl bei Verfassunggebung wie auch bei Verfassungsänderung. Insofern ist es nie völlig auszuschließen, dass das demokratisch gewählte verfassungsändernde Organ mit der Begründung, es repräsentiere das Volk und übe die Volkssouveränität aus, umfassend und beliebig die Verfassung revidiert. In diesem Fall tut das verfassungsändernde Organ nichts anderes als die verfassunggebende Gewalt des Volkes zu „usurpieren“ und diese Usurpation zu „legalisieren“, was nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch in Taiwan geschah. Solange die Möglichkeit besteht, dass die Verfassung als grundlegende Regelung des staatlichen Lebens von irgendeinem Staatsorgan erschüttert oder sogar zerstört werden kann, sollte unter der Begrenzung der Verfassungsänderung nicht ein Joch der Volkssouveränität verstanden werden, sondern eine schützende Institution der Errungenschaften der Volkssouveränität. Hierfür wäre ein Beispiel aus Taiwan anzuführen: Bei der Verfassungsänderung von 1999 beschloss das verfassungsändernde Organ, die Nationalversammlung, eine Verfassungsänderung zur Verlängerung ihrer Amtszeit und Ausdehnung ihrer Zuständigkeit. Es ist nicht erstaunlich, dass der Beschluss damals heftige Kritik auslöste. Daraufhin fällten Verfassungsrichter ein Urteil und erklärte die Änderung für verfassungswidrig, mit der Begründung: „The National Assembly is a body installed with, and by the authority of, the Constitution and powers are also bestowed upon it by the Constitution. […] Any amendment that alters the existing constitutional provisions concerning the fundamental nature of governing norms and order and, hence, the foundation of the Constitution’s very existence destroys the integrity and fabric of the Constitution itself.“2 In dieser Auslegung wer2 Vgl. Die englische Fassung der Verfassungsauslegung von Verfassungsrichtern, Nr. 499. Verfügbar unter: (zugegriffen am 1.11.2013). Diese Auslegung zieht erst in der juristischen Praxis die Grenze der Verfassungsänderung. 3 Nach ihm umfassen die grundlegenden Prinzipien der Verfassung der ROC aus der verfassunggebenden Gewalt heraus die folgenden: das demokratisch-republikanische Prinzip, das Prinzip der nationalen Souveränität und das Prinzip des Rechtsstaates sowie der Gewaltenteilung. Das Regierungssystem und Einzelheiten über die Organisation und Symbole des Staates stehen nicht in der Reihe der grundlegenden Prinzipien. Vgl. Yen, National Sovereignty and the Constitutional State, S. 39 ff. Diese Auffassung entspricht dem genannten Urteil der taiwanischen Verfassungsrichter. Derselben Auffassung ist außerdem auch Chia-Yin Chang, S. 151 ff. 4 Vgl. Yen, National Sovereignty and the Constitutional State, S. 20.
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Grenze der Verfassungsänderung beseitigen könnte. Es mag sein, dass die Begrenzung der Veränderbarkeit einer Verfassung zur Starrheit dieser Verfassung führt, woraus folgt, dass es der Verfassung an Elastizität mangelt, sich an den Wandel der sozialen Gegebenheiten anzupassen. Um das zu vermeiden, kann die Ausdehnung der Grenze der Verfassungsänderung verkleinert werden. Die oben erwähnte Verfassungsauslegung der taiwanischen Verfassungsrichter bestimmt z. B. lediglich das demokratisch-republikanische Prinzip, die Volkssouveränität sowie das rechtsstaatliche Prinzip als den unantastbaren Kern der Verfassung. Dabei werden nicht zu viele gesellschaftliche Werten und Überzeugungen als etwas Unveränderliches im Fall einer Verfassungsänderung eingeschlossen. Diese Auslegung soll demnach nicht auf die Preisgabe der Elastizität der Verfassung hinauslaufen. Räumt man dennoch ein, dass eine Verfassung einige unveränderbare Prinzipien als Kern hat, der für die Gewährleistung dieser Verfassungsordnung grundsätzlich ist, dann ist die Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung zweifelhaft. Denn ihre Argumentation kann zur Folge haben, „das Kind mit dem Bad auszuschütten“, d. h. nur zu bestimmten politischen Zwecken unterschiedslos jede Verfassungsänderung für zulässig zu halten und auf die Notwendigkeit der minimalen Grenze der Verfassungsänderung zu verzichten. Die Gefahr, dass das verfassungsändernde Organ problematische Verfassungsänderungen beschließt, ist allerdings in Taiwan vielfach aufgetreten. Kann man einfach die Lehre der Begrenzung der Verfassungsänderung verneinen, ohne das Risiko zu bedenken? Darüber hinaus stellt sich in Hinblick auf die verfassunggebende Gewalt die Frage, ob die nationale und staatliche Identität diesseits der Grenze der Verfassungsänderung steht, d. h. ob die vollkommene Unabhängigkeit Taiwans von China oder die Vereinigung mit China – das bedeutet der Verzicht auf die Eigenstaatlichkeit Taiwans – auf dem Weg der Verfassungsänderung zu verwirklichen ist. Logisch gesehen: Wenn die Verfassung aus dem Subjekt der verfassunggebenden Gewalt abgeleitet ist, so ist es konsequent, dass die Verfassung die nationale und staatliche Identität voraussetzt. Die nationale und staatliche Identität kann also durch die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt erneut bestätigt, aber nicht durch das Verfahren der Verfassungsänderung im Rahmen der Verfassung ersetzt werden, weil die Kontinuität der Nation bzw. des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt nicht vom verfassungsändernden Organ entschieden werden soll und sollte. Im Moment herrscht die gemäßigte Meinung vor, die dazu neigt, dass Taiwan nach der Verfassungsänderung von 1991 ein souveräner Staat mit dem Namen „Republic of China“ sei. In dieser Sichtweise ist die Verfassungsänderung von 1991 ein Wendepunkt. Davor sei die Verfassung von 1947 materiell durch eine „legale Revolution“ der KMT aufgehoben worden, indem die KMT die Vorläufigen Bestimmungen an die Stelle der Verfassung
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gesetzt hatte. Die Geltung der Verfassung von 1947 war deshalb seit dem Inkrafttreten der Vorläufigen Bestimmungen schon ausgesetzt. Insofern solle die Verfassung von 1947 keine Beschränkung der nachkommenden Revisionen des Verfassungsrechts sein. Andererseits wähle das taiwanesische Volk erstmals auf demokratischer Grundlage die Volksvertreter zur Verfassungsänderung und sei in der Lage, über die Verfassung zu entscheiden. Von daher gesehen solle das im Wesentlichen als die Betätigung der verfassunggebenden Gewalt betrachtet werden, auch wenn sie sich durch die Form und Verfahren der Verfassungsänderung äußere. Chueh-An Yen beschreibt diese Ansicht so: „Zutreffend ist vielmehr die Theorie, die in der Vergangenheit als ‚Unabhängigkeit-B‘ bezeichnete wurde, nach der Taiwan bereits unabhängig sei aber ‚Republic of China‘ genannt werde, weil es gezwungen sei, die Verfassung der ROC zu übernehmen.“5 Kurzum: Die genannte gemäßigte Ansicht erkennt zwar die Geltung der bestehenden Verfassung an, führt aber sie auf die verfassunggebende Gewalt des taiwanesischen Volkes zurück und nicht auf die des chinesischen Volkes. Trotzdem kann diese Ansicht nicht darauf antworten, warum die Bestätigung der verfassunggebenden Gewalt 1991 in Form der Verfassungsänderung erschien, wenn man in der Verfassungsänderung von 1991 einen Akt der materiellen Verfassunggebung sieht. Diese gemäßigte Antwort ist in Wirklichkeit lediglich ein vorübergehender Kompromiss zwischen vollkommener Unabhängigkeit und Vereinigung. Soll aber man im Moment durch eine Verfassungsänderung eine klare Entscheidung anstatt des Kompromisses treffen? In Taiwan, einer Gesellschaft mit ausgeprägter Divergenz der nationalstaatlichen Identität, fehlt der Bevölkerung offensichtlich noch die politische Homogenität, mit der sich eine politische Nation, das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, bilden kann. Die Lehre der verfassunggebenden Gewalt setzt aber voraus, dass ein handlungsfähiges Subjekt vorhanden ist. Das Vorhandensein des Subjekts ist also die Grenzfrage, die die Lehre der verfassunggebenden Gewalt nicht behandeln kann. Unter dieser Voraussetzung ist es nicht zweckdienlich, wenn man mithilfe des Begriffs der nationalen Souveränität oder verfassunggebenden Gewalt die Problematik der nationalen Identität zu lösen versucht. Dies ist auch unangemessen, weil die nationale Identität nicht durch eine direkte oder indirekte demokratische Verfassungsänderung, d. h. durch eine Revision des politischen Systems umgebildet werden kann. Die Konflikte bezüglich der nationalen Identität lassen sich dadurch ebenfalls nicht beilegen. Wegen des mangelnden grundsätzlichen Konsenses könnten die Unzufriedenen die Entscheidung über die nationale Identität so interpre5 Vgl. Yen, Constitutional System and the Difficult Situation from Terms, S. 155. In dieselbe Richtung geht Tsi-Yang Chen, S. 164 ff.; Chia-Yin Chang, S. 145 ff.
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tieren, dass sie der Mehrheit, die ja die Macht zur Verfassungsänderung innehat, schutzlos ausgeliefert sei. Hierdurch könnte noch heftigere Konflikte ausgelöst werden. Was man nun tun kann, ist daher wahrscheinlich zu warten, dass die taiwanische Bevölkerung ein politisches Bewusstsein formt und sich als eine Nation bildet. Dann könnte sich die neue Nation eine völlig neue Verfassung geben. Das ist aber eine politische Frage, keine rechtliche.
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Sachverzeichnis Akklamation 136, 137 Fn. 205 Ausnahmezustand 74, 75–78, 87–89, 144 – in Taiwan 165, 166 f. – in Weimarer Verfassung 147, 150 f., 153 f., 163 Autorität 66 f., 69, 98, 125 Fn. 165, 131 – der Nation 68 – des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) 69 f. Constitution (ancien régime) 22, 23 f., 29, 31, 33 Demokratie ‒ repräsentative ~ 53 ‒ unmittelbare ~ 53 f., 56 Diktatur 62, 72, 73 f., 80 f., 88, 120 – als Kommission 78 f., 87 – des Proletariats 89–92 – des Reichspräsidenten 73 Fn. 9, 144 Fn. 224, 150–162 – Jakobiner-~ 17, 87 f., 89 Fn. 58 – kommissarische ~ 73, 75, 78 f., 81, 83 f., 87 f., 91, 147, 163 – souveräne ~ 16, 73, 82–90, 92–94, 103 Fn. 103, 108 f., 142, 146 – und Demokratie 79 Fn. 30, 84, 91 – und Grundrechtssuspension 74, 109, 150, 152 Fn. 249, 153 f., 154, 156, 158 Fn. 266 – und Souverän 75, 77 Fn. 21, 78–80, 82 Fn. 38 DPP (Democratic Progressive Party) 167 – und Lehre der grenzenlosen Verfassungsänderung 179–182
– und Unabhängigkeitsbewegung 169–171 – und Verfassungsänderung 172–174 Einheit, politische 52, 111 – und Homogenität 119–123 – und Staat 111 f., 114 f., 116–120 – und verfassunggebende Gewalt 129, 131, 132 f. Entscheidung, politische 17 f., 65, 92, 110, 138 – als Grundprinzip der Verfassung 101 Fn. 96, 129 f., 131 f., 133 Fn. 191, 134, 142 f., 155 f, 163, 177 f., 185, 190, 192 – in der ROC-Verfassung 189 f. – in der Weimarer Verfassung 138– 140, 146 Fn. 231 Ermächtigungsgesetz 18, 102, 103 Fn. 102, 164 Fn. 282, 167 Freund-Feind-Unterscheidung 113 f., 137 f. – und Homogenität siehe politische Einheit und Homogenität – und Staat 115–118 Generalstände 19–23, 24, 30, 33 Fn. 37, 45, 48, 50–52, 54–58 Gewaltenteilung 61, 86, 103 Fn. 102, 103, 108, 109 Fn. 117, 139, 150, 152, 156, 167, 177, 182 Fn. 35, 190 Fn. 3 Identität, nationale – als Grundentscheidung in der ROC-Verfassung 177–1179, 181–183, 191–193
208 Sachverzeichnis – und Verfassungsdebatte in Taiwan 168–171, 188, 192 f. jury constitutioinnaire (Sieyès) 61–64 KMT (Kuomintang, Chinesische Nationalpartei) 161, 169–171, 173, 179, 185, 191 – und Lehre der beschränkten Verfassungsänderung bis 1995 175–177 – und Lehre der beschränkten Verfassungsänderung nach 1996 177–179, 180 f. – und Verfassungsänderung von 1991 167 f. Kompromiss 96 f., 134, 170, 177 Fn. 27 – in Weimarer Verfassung 92 f., 110, 139 f. Konstituierte Gewalt (Schmitt) 84, 131 f., 141, 163 – und kommissarische Diktatur 73, 79, 80 f., 86, 153 Konstitutionalismus 58, 70 Fn. 141, 96, 174 f. – und Lehre der beschränkten Verfassungsänderung 175–178 Legislator (législateur) 83 f. Lois fondamentales 22–29, 35 Mandat – freies ~ 55 f., 72 – imperatives ~ 51, 55 f., 85 Maßnahme und Gesetz 143–145, 151 f., 160 f. Meinung, öffentliche siehe Akklamation Nation (Sieyès) 32, 34, 36 f., 41, 43, 45 f., 66–69, 85 – und Dritte Stand 37–40 – und Naturzustand 42, 46 f., 85
– und Repräsentation 52–56, 58 f. Nationalversammlung – in Taiwan 166, 168, 170, 174, 176, 186 Fn. 43, 189 – von 1919 73, 88, 92, 94, 108 Fn. 117, 139 Fn. 213, 146, 151 Neutralität – des Legalitätssystems 105–109 – des Rechtspositivismus 97, 106 f. Notverordnung, gesetzvertretende 151–153, 157–161 Parlement (ancien régime) 19–22, 24, 26 f., 28 Fn. 27, 29–31, 33 f., 52 Pluralismus 107, 149, 158 Pouvoir constituant (Sieyès) 13 f., 34, 45–49, 56–60, 62–65, 66, 68–70, 89, 131–135, 189 – und Verfassungsänderung 48 f. Pouvoir constitué (Sieyès) 13 Fn. 5, 15, 34, 45–48, 56 f., 58 f., 60 Fn. 111, 64, 131–135 Privilegien 21, 28, 31, 34 f., 38 f. Prüfungsrecht 61, 65, 105, 149, 164 Fn. 282, 174 Quasi-Verfassunggebung 16 Fn. 11, 181 f., 184, 186 f. Referendum 12, 83, 138, 170, 183 – in Taiwan 2006 172–174 Reichspräsident 77 Fn. 21, 100 Fn. 91, 143 – als Gegengewicht zum Parlament 105, 147 f., 163 – als Hüter der Verfassung 105 Fn. 108, 148–150, 163 f. – als neutrale Gewalt 148 f. – Ausnahmerechte des ~ siehe Diktatur des Reichspräsidenten Reichstag 77 Fn. 21, 94 f., 147 f., 156, 163 f.
Sachverzeichnis209 – als konstituierte Gewalt 109 Fn. 117 – als Repräsentant des Volkes 96, 98 – Kontrollbefugnis des ~ 151 Fn. 243, 152 f. – Verfassungsänderungskompetenz des ~ 100–102, 108, 139 Fn. 212, 149, 160 f. – Verfassungsdurchbrechung des ~ 102–105 Revolution – amerikanische ~ 13 Fn. 5, 66, 68 f., 70 Fn. 141 – französische ~ 11, 13, 15 Fn. 10, 16, 18 f., 27, 59, 65 Fn. 128, 66–70, 71–73, 79 f., 84, 86–88, 133 – in Deutschland von 1848 72 Fn. 1, 80 Fn. 30, 96, 134 – legale ~ 65, 95, 99, 109, 146, 164 Fn. 282, 191 – Novemberrevolution 1918/19 71, 92, 105, 140, 146 Souveränität – Staatssouveränität 96 Fn. 79 – und Ausnahmezustand 76–78 – und Diktatur siehe Diktatur und Souverän Souveränitätsakte, apokryphe 143–145 Staatsnotstandsplan 162 Superlégalité constitutionnelle 110, 142, 146 Totalrevision der Verfassung siehe legale Revolution Unabhängigkeitsbewegung, taiwanische 168 f., 171 f., 180 Fn. 32, 191 f. – und Lehre der unbeschränkten Verfassungsänderung 178 f. Verfasste Gewalt (Schmitt) siehe konstituierte Gewalt (Schmitt)
Verfassung (Schmitt) – absolute ~ 123–125, 129, 130 f. – als Grundentscheidung siehe politische Entscheidung – positive ~ 121, 128–130, 131 f., 135 Fn. 198, 142 – relative ~ 125–128 – Unantastbarkeit der ~ 152–154, 191 – und Verfassungsgesetz 102 Fn. 100, 106 f., 129 f., 131 f., 139, 141–143, 146 f., 153–155, 157, 161 f., 176 Verfassung der ROC von 1947 166–168, 175–179, 180 Fn. 32, 182, 185 Fn. 43, 191 f. Verfassunggebende Gewalt (Schmitt) 71 f., 92, 110 f., 125 Fn. 165, 129 f., 131–138, 140–143, 145 f., 153 Fn. 251, 160 f. – Subjekt der ~ 133 f. Verfassungsänderung 12 f., 15, 48, 63–65, 110 f., 127, 132, 141–144, 146 f., 155, 163–171 – gemäß dem Art. 76 der Weimarer Verfassung 94, 99–105, 107–109, 128, 141, 149 – gemäß dem Art. 78 der kaiserlichen Verfassung 98 f., 100, 104 – Grenze der ~ 15, 16 Fn. 11, 65, 95 Fn. 75, 101, 107, 174, 177 f., 181 Fn. 32, 183, 185 f., 188, 190 f. – in Taiwan vor 1991 siehe Vorläufigen Bestimmungen als Verfassungsdurchbrechung – in Taiwan 1991–2000 12, 167 f., 191 – in Taiwan 2005 12, 168, 172–174 – Lehre der beschränkten ~ 14 f., 65 Fn. 128, 145, 147, 175–179 – Lehre der unbeschränkten ~ 14, 17, 64 f., 179–187, 188, 191 Verfassungsbeseitigung 141–143, 162 Verfassungsdurchbrechung 16 Fn. 11, 18, 99, 102–105, 107 f., 142, 143–145, 153 f., 157, 160 f.
210 Sachverzeichnis – vorläufige Bestimmungen als ~ 175 f. Verfassungsfeind 93 Fn. 67, 94, 111, 121–123, 145 f., 162 Verfassungssuspension 142, 153, 156 Verfassungsvernichtung 141 f., 143 Fn. 220, 177 Fn. 27
Volk (Schmitt) – als das formlose Formierende 136 – als politische Einheit 133 – über der Verfassung 131 f. Volksentscheid 100, 145 Fn. 227, 149 volonté générale 42, 55 f., 82–84, 137