Konturen von Ordnung: Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahrhundert 9783110633870, 9783110630084

Over many decades, Anselm Doering-Manteuffel has greatly influenced thinking about contemporary German history, giving a

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German Pages 468 [467] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber
I. Die Ordnung der Zeitgeschichte
Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts
Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts
Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts
Soziale Demokratie als transnationales Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert
Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative
II. Suchbewegungen in der Moderne. Fortschrittsskepsis, Antihistorismus und die Krise des Liberalismus
Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik
Weimar als Modell: Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts
Die Ordnung der Zeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem
Antifaschismus und Emigration: Transfers und Verflechtungen im beginnenden Ost-West Konflikt
III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms
Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘: Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt
Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft
Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre
Nach dem Boom: Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970
Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“
Nachweis der Erstveröffentlichungsorte
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 9783110633870, 9783110630084

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Anselm Doering-Manteuffel Konturen von Ordnung

Ordnungssysteme

Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Band 54

Anselm Doering-Manteuffel

Konturen von Ordnung

Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahrhundert Herausgegeben von Julia Angster, Eckart Conze, Fernando Esposito und Silke Mende

ISBN 978-3-11-063008-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063387-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063030-5 ISSN 2190-1813 Library of Congress Control Number: 2018968075 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

VII

I. Die Ordnung der Zeitgeschichte 3

Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts

33

Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts 67 Soziale Demokratie als transnationales Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert 100 Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative

126

II. Suchbewegungen in der Moderne. Fortschrittsskepsis, Antihistorismus und die Krise des Liberalismus Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts 157 Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer 191 Republik Weimar als Modell: Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts 222 Die Ordnung der Zeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem Antifaschismus und Emigration: Transfers und Verflechtungen im beginnenden Ost-West Konflikt 259

239

VI

Inhalt

III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘: Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt 281 Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft

306

Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre 357 Nach dem Boom: Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970 392 Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“ 424

Nachweis der Erstveröffentlichungsorte

443

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber Bloß keine Festschrift, darauf bestand Anselm Doering-Manteuffel wiederholt – zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Das gründet nicht allein in dem von ihm vielfach zum Ausdruck gebrachten und inzwischen von vielen anderen geteilten Unbehagen gegenüber dieser Textgattung im Allgemeinen, sondern entspringt auch der – berechtigten – Überzeugung, dass es noch zu früh sei für eine Coda zu seinem wissenschaftlichen Œuvre. Doch da der langjährige Direktor des Tübinger Seminars für Zeitgeschichte am 19. Januar 2019 siebzig Jahre alt geworden ist, möchten und können wir ihn nicht ungewürdigt davonkommen lassen. Keine Festschrift also, aber eine Werkschau, die einen Einblick in sein wissenschaftliches Denken und Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten gewährt. Wie wenige andere hat Anselm Doering-Manteuffel die deutsche Zeitgeschichtsschreibung des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts geprägt sowie durch seine Interpretamente angeregt, bereichert und vorangebracht. Historismus und Antihistorismus, Westernisierung und „Nach dem Boom“ sind nur drei prägnante Deutungsangebote, welche auch die vorliegende Sammlung ausgewählter Aufsätze bestimmen. Der Geehrte hat nicht allein das Fach, auch durch seine engagierte Mitarbeit in vielen Gremien und Institutionen, mitgeprägt, sondern gleichfalls eine Vielzahl von Schülerinnen und Schülern. Sprechen für den Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel seine wissenschaftlichen Beiträge, so wird der akademische Lehrer, seine Wirkung und besondere Ausstrahlung, in ihnen allenfalls in Ansätzen erkennbar. Deshalb möchte dieses Vorwort zumindest in einigen Sätzen auch seinen Denkstil und Habitus aufscheinen lassen, indem es einen kursorischen Blick in die Danksagungen von Arbeiten wirft, die er in den vergangenen drei Jahrzehnten inspiriert und begleitet hat. Dadurch sollen exemplarisch zudem auch andere Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen, die den Tübinger Denkraum ebenfalls prägten, wenngleich sie nicht für den vorliegenden Band verantwortlich zeichnen. Denn Vorworte sind nicht nur ergiebig, um Auskunft über Netzwerke, Machtstrukturen und strategische Interessen im wissenschaftlichen Feld zu geben, sie lassen auch weichere Faktoren zu Tage treten, denen wissenschaftsgeschichtlich für gewöhnlich geringere Relevanz zugeschrieben wird: Welches Arbeitsklima und welche Debattenkultur, welcher Ton und welche Atmosphäre herrschen an einem Institut?¹ Mit dem Seminar für Zeitgeschichte und insbesondere dem dort beheimateten Oberseminar, so der basso continuo, prägte Anselm Doering-Manteuffel eine  Jan Plamper, Danke, danke, danke, in: Die Zeit, 31 vom 24. Juli 2008, URL: https://www.zeit.de/ 2008/31/PS-Danksagung/komplettansicht, zuletzt eingesehen am 03.01. 2019.

VIII

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

akademische Atmosphäre von Seltenheitswert: einen „Freiraum“ (Günther 2004, Goller 2012), der von Anfang an bestimmt war von einer „persönlich freundlichen und wissenschaftlich anregenden Atmosphäre“ (Sauer 1999) und in dem sich „intellektuelle Herausforderungen mit einer menschlichen Atmosphäre ideal verbanden.“ (Metzler 1997). Es handelte sich vor allem um einen „weitestgehend von Allüren freien Raum“, in dem alle Beteiligten ihr „wissenschaftliches Instrumentarium gegenseitig schärfen konnten“ (Reichherzer 2012). Das ist in einem von Wettbewerb und Eitelkeiten geprägten System alles andere als selbstverständlich.Viele der Schülerinnen und Schüler verbanden – und verbinden – über Generationen hinweg enge Freundschaften: Das Oberseminar bot nicht nur „fachlichen und freundschaftlichen Rückhalt“ (Eichenberg 2011), sondern sorgte manchmal gar für „Freude und Vergnügen“ (Esposito 2011). Das gründete nicht zuletzt in der Art und Weise, wie Anselm Doering-Manteuffel wissenschaftlich anregte und akademisch betreute: „Seine wissenschaftliche Neugier und seine große Offenheit“ waren und sind uns „Vorbild und Richtschnur“ (Gerstung 2016). Wiederholt ist zudem von „großer Freiheit“ (Etzemüller 2001, Mende 2011), „Laissez-faire-Politik“ (Eichenberg 2011) oder „freier Hand“ (Kruip 1999) die Rede. Offenbar verabreichte er vielen die richtige „Dosis von Freiheit, Vertrauen und Ratschlägen“ (Reichherzer 2012). Als akademischer Lehrer hat er sowohl „fordernd motiviert“ (E. Conze 1995) als auch weitgehend auf ein „intellektuelles Gängelband“ (V. Conze 2003) verzichtet und dennoch „auf subtile Art“ überzeugt (Esposito 2011). Er zeigte „unerschütterliches Vertrauen“ (Angster 2012) und fand die richtige Mischung von „zuversichtlicher Distanz und engagiertem Interesse“ (Angster 2003); er sorgte dafür, „dass man weder sich selbst noch das, was man tut, zu ernst nimmt“ (Mende 2011). Anselm DoeringManteuffel ist also jemand, der „den Denkstil zu prägen vermag, obgleich er dieses gar nicht beabsichtigt“ (Esposito 2011) – ein „unprätentiöser“ „Meister der flachen Hierarchien“ (Leendertz 2006). In seinen eigenen Forschungen spiegelt sich diese geistige Liberalität auf vielfältige Weise wider. Thesen werden nicht in der Abgeschiedenheit der Studierstube, sondern vielmehr im steten Gespräch und engagierten Austausch entwickelt. In den Diskussionen galt das an sich Selbstverständliche, in der Realität aber keineswegs immer Übliche: Es zählt das Argument und nicht die akademische Stellung seines Urhebers. Von größter Bedeutung ist indes die Bereitschaft, die eigene Perspektive zu hinterfragen wie auch den eigenen Standort zu kontextualisieren. Es gehört zu den markantesten Strukturmerkmalen im Denken von Anselm Doering-Manteuffel, dass die Historisierung des Historikers bei sich selbst zu beginnen habe. Vielleicht gründet auch darin seine Affinität zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit selbst erlebten und beobachteten

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

IX

Phänomenen: Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung also. Dies hat sicher auch mit seinem akademischen Werdegang zu tun: Auf seine Marburger Studienjahre zwischen 1969 und 1975 ist Anselm Doering-Manteuffel immer wieder zurückgekommen. Die Erfahrung einer gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften ideologisierten Universität, durchzogen von tiefen Gräben und scharfen Konflikten, die mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung kaum noch etwas zu tun hatten, hat ihn einerseits abgestoßen, andererseits jedoch früh sein Interesse an den Zusammenhängen von Ideologie und Sozialkultur – nicht nur im Mikrokosmos einer Universität – geweckt. Das brachte ihn mit Ernst Nolte in Verbindung, der nach dem Erfolg seines Buches „Der Faschismus in seiner Epoche“² 1965 einem Ruf an die Philipps-Universität gefolgt war. In der Perspektive einer Ideologiegeschichte der Moderne fiel in die Marburger Zeit DoeringManteuffels Noltes Arbeit an seiner Studie „Deutschland und der Kalte Krieg“, die 1974 erschien.³ Von ihr gingen wichtige Impulse auf Doering-Manteuffel aus, der Nolte Mitte der 1970er Jahre nach Berlin folgte. Die 1980 am Friedrich-MeineckeInstitut abgeschlossene Dissertation über die Haltung der deutschen Katholiken zur Wehrfrage in der Ära Adenauer, die im Jahr darauf unter dem Titel „Katholizismus und Wiederbewaffnung“ publiziert wurde,⁴ war zum einen ein auch programmatisch wichtiger Beitrag zu einer nicht in der Kirchengeschichte beziehungsweise den theologischen Fakultäten angesiedelten Kirchlichen Zeitgeschichte. Mit ihr war eine Entwicklung angestoßen, die wenige Jahre später zur Begründung der sich programmatisch von konfessionellen Limitierungen, auch institutionellen, lösenden und zugleich einer simplen Säkularismusthese widersprechenden Veröffentlichungsreihe „Konfession und Gesellschaft“ (seit 1988) führte. An dieser Reihe wirkte Doering-Manteuffel als Gründungsherausgeber und – immer wieder – als Autor mit.⁵ Die Dissertation war aber zum anderen ein wichtiger, nicht zuletzt ideenhistorisch akzentuierter Beitrag zu der sich seit den 1970er Jahren herausbildenden historischen Bundesrepublikforschung. Die Entwicklungen, die die Studie aufgriff, lagen in den Jahren, in denen sie entstand, gerade einmal etwa zwei Jahrzehnte zurück. Sie waren, wie es Doering-Manteuffel fast vier Jahrzehnte

 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus. München 1963.  Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg. München 1974.  Anselm Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1948 – 1955. Mainz 1981.  Zum konzeptionellen Profil der Kirchlichen Zeitgeschichte s. vor allem: Anselm Doering-Manteuffel/Kurt Nowak (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden. Stuttgart 1996.

X

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

später nennen würde, Vorgeschichte der Gegenwart,⁶ auch wenn der Strukturbruch der 1970er Jahre die Ära Adenauer als eine weit entfernte Zeit erscheinen ließ. Gegenwartsnahe Entwicklungen, das war der entscheidende Punkt, lassen sich historisieren. Aus geradezu zeitgenössischer Nähe kann dennoch analytische Distanz entstehen, wie es auch das einflussreiche zweite Buch „Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer“ (1983) demonstrierte, das auf dieser Grundlage zur Historisierung der jungen Bundesrepublik beitrug.⁷ Innovativ war an dieser Bundesrepublikgeschichtsschreibung, dass sie die westdeutsche Geschichte nicht primär in eine nationalhistorische Perspektive stellte, sondern konsequent in das internationale und transnationale Bezugssystem des Ost-West-Konflikts. Was Doering-Manteuffel hier, zunächst gerichtet auf die Zeit nach 1945, zu interessieren begann, waren, wie es auch der in diesem Band abgedruckte Aufsatz „Im Kampf für Frieden und Freiheit“ deutlich werden lässt, die Konkurrenz von Ordnungsentwürfen sowie die Logik des Ost-West-Gegensatzes jenseits der bloßen Machtpolitik und des sozioökonomischen Antagonismus.⁸ Der Wechsel an die Universität Erlangen-Nürnberg 1983 bot die Möglichkeit, sich weiter auf dem Feld einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte zu bewegen. Michael Stürmer und Horst Möller prägten in den 1980er Jahren die Neuere Geschichte an der fränkischen Universität. Beide standen für die Nähe von Geschichte und Politik, auch für eine politische Historie, einschließlich der Nähe zur Macht. Von intellektueller oder wissenschaftlicher Provinzialität konnte keine Rede sein. Nicht zuletzt wirkte die Omnipräsenz der „deutschen Frage“ im politischen und akademischen Diskurs der Jahre vor 1989 hinein in das Habilitationsprojekt, in dem es um die Rolle und die Gestalt Deutschlands in Europa im 19. Jahrhundert ging und um die britische Europa- und Deutschlandpolitik – Europapolitik als Deutschlandpolitik – nach dem Wiener Kongress und angesichts der Revolution von 1848. Außenpolitik, darauf zielte die Untersuchung konzeptionell, ließ sich nicht nur diplomatiegeschichtlich analysieren – „Männer und Mächte“ – sondern als Geschichte eines von Ordnungsvorstellungen geleiteten politischen Handelns. Und solche Ordnungsvorstellungen, auch außenpolitische, wiederum speisten sich aus sozialen Dynamiken, im englischen Falle dem Aufstieg der bürgerlichen Mittelschichten und dem Bedeutungsgewinn ihrer Interessen. Die 1991 veröffentlichte

 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen 2016.  Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949 – 1963. Darmstadt 1983.  Vgl. dazu auch Anselm Doering-Manteuffel, Ernst Noltes „Deutschland und der Kalte Krieg“ im zeitgenössischen Kontext der frühen siebziger Jahre, in: Nipperdey, Thomas u. a. (Hrsg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Berlin 1993, S. 315 – 345.

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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Habilitationsschrift,⁹ der zwei Jahre später in der Reihe „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ (EDG) der wichtige Band über „Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815– 1871“ folgte,¹⁰ war aber nicht nur ein Beitrag zu einer sich erneuernden Politikgeschichte, sondern sie gehörte, damit zusammenhängend, auch zu jener Entwicklung, die in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft der Internationalen Geschichte den Boden bereitete, die seit 1996 in der Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“, zu deren Gründungsherausgebern Doering-Manteuffel gehörte, ihr wohl wichtigstes Forum fand. Nicht zuletzt ging es darum, „die internationale Geschichte aus der Verengung auf eine Beziehungsgeschichte diplomatischer Eliten herauszuführen“ und theorieaffin und methodenbewusst einem „umfassenden Verständnis von internationaler Geschichte“ Rechnung zu tragen. Doering-Manteuffels eigene Überlegungen in diesem Kontext richteten sich insbesondere auf eine Perspektivierung internationaler Geschichte als Systemgeschichte. In die konzeptionelle Auseinandersetzung mit den Entwicklungsbedingungen und der Dynamik internationaler Systeme, geleitet von der Frage nach Strukturen und Handlungsmustern, flossen Überlegungen aus den Studien zum Kalten Krieg und zur europäischen Politik des 19. Jahrhunderts ein.¹¹ Die Systemperspektive überwand die traditionelle, weithin national beziehungsweise nationalhistoriographisch verengte Außenpolitikgeschichte, ohne Außenpolitik als geschichtswissenschaftliches Untersuchungsfeld zu diskreditieren. Das eröffnete zugleich Möglichkeiten, soziopolitischen und sozialkulturellen Wandel in einzelnen Gesellschaften mit inter- und transnationalen Dynamiken zu korrelieren. Für die seit der Berufung an die Universität Würzburg 1988 Gestalt annehmende Westernisierungsforschung war das eine entscheidende Voraussetzung. Nach nur drei Jahren in Würzburg wurde Anselm Doering-Manteuffel 1991 als Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an die Universität Tübingen berufen. Dieses umfasste neben seinem eigenen Lehrstuhl für Zeitgeschichte eine Professur für westeuropäische Geschichte und eine Professur für amerikanische Geschichte und war mit einer eigenständigen Seminarbibliothek ausgestattet. An diesem Ort, im Hegelbau an der Wilhelmstraße in Tübingen, dem, wie er es formulierte, „letzten Monument der klassischen Moderne“ aus bröselndem Beton, mit Linoleumböden und Spanholzmöbeln, entwickelte er seine Themenfelder und Forschungsansätze weiter. In den alltäglichen Diskussionen in der Kaffeeküche, vor allem aber im

 Anselm Doering-Manteuffel,Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815 – 1856. Göttingen u. a. 1991.  Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815 – 1871. München 1993.  Vgl. dazu den Beitrag Internationale Geschichte als Systemgeschichte, in diesem Band, S. 67– 99.

XII

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

Oberseminar des Lehrstuhls, begann zudem ein Gesprächskontext, der seine ‚Schülerinnen und Schüler‘ alle sehr geprägt hat. Dieses Oberseminar versammelte wöchentlich von 1991 bis 2016 im sogenannten „Quellenraum“ die Hilfskräfte, Doktorandinnen und Doktoranden, die AssistentInnen und Postdocs. Hier fand eine intensive Diskussion über Texte statt, ohne Semesterplan und Scheinerwerb. Es war eine kontinuierliche intellektuelle Suchbewegung innerhalb einer sehr stabilen Gruppe. Die Folge waren gemeinsame Begrifflichkeiten, eine offene Diskussionskultur unter Gleichen und eine gemeinsame Vorstellung davon, wie Geschichtswissenschaft aussehen sollte und könnte. In diesem Kontext entstanden die Forschungsprojekte und -themen, die Anselm Doering-Manteuffel über die Jahre beschäftigt haben. Das Interesse am Staatensystem, an den politischen Konfliktlagen der Adenauer-Ära und die programmatische Einordnung der Zeitgeschichtsschreibung in die allgemeine Geschichtswissenschaft, die um 1990 noch nicht selbstverständlich war, hatte er aus Würzburg mitgebracht. Dort war, im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des Mauerfalls, auch die Idee entstanden, die grundlegenden Ordnungsvorstellungen des Westens zu historisieren. Daraus wurde in den frühen 1990er Jahren in Tübingen das Projekt zur „Westernisierung“ der Bundesrepublik Deutschland.¹² Das Ende des Kalten Krieges öffnete den Blick für die Bedeutung der handlungsleitenden Ideen für die Politik auch des Westens; zugleich wurde im Kontext der deutschen Einheit deutlich, wie weit sich die beiden deutschen Gesellschaften auseinanderentwickelt hatten. Die Bundesrepublik, so die Annahme des Projekts, hatte sich in der Nachkriegszeit unter dem Einfluss der amerikanischen Deutschlandpolitik, insbesondere der ‚Kulturdiplomatie‘, zu einem ‚westlichen‘ Land entwickelt; eine Entwicklung, die für die Stabilität der jungen Demokratie von zentraler Bedeutung war. In diesem Projekt kamen zwei für das historische Denken und Arbeiten von Anselm Doering-Manteuffel wesentliche Ansätze zum Ausdruck: Zum einen war dies die Frage nach den ideengeschichtlichen Prägefaktoren für die politische und gesellschaftliche Ordnung und Praxis, ein Ansatz, der sich als eine Gesellschaftsgeschichte der handlungsleitenden Ideen bezeichnen lässt.¹³ Hier wurde die alte Trennung der Geistesgeschichte von

 Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999; Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band, S. 357– 391.  Lutz Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogrammes, in: Raphael, Lutz/Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München 2006, S. 11– 27.

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

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den Feldern der Politik- und Sozialgeschichte aufgehoben. Anders formuliert war dies die konsequente Hineinnahme kulturgeschichtlicher Perspektiven und Methoden in die Geschichtsschreibung zu „harten Themen“ – ein Ansatz, um den zu der Zeit in der westdeutschen Sozialgeschichte noch erbittert gestritten wurde. Zum anderen fragte dieses Forschungsprojekt der frühen 1990er Jahre bereits ganz selbstverständlich nach transnationalen Bezügen: Westernisierung meinte den Kontakt mit und die Übernahme und Anverwandlung von Ideen, Praktiken und Institutionen aus einer anderen Gesellschaft in die westdeutsche: eine transatlantische Transfergeschichte, die sich auch für den Einbau des Transferierten in den indigenen Kontext interessierte. Schon in den Arbeiten dieser frühen Tübinger Phase wird die ganz grundlegende Bereitschaft Anselm Doering-Manteuffels deutlich, den eigenen Standpunkt, die eigene Perspektive als Historiker konsequent zu historisieren. Und schließlich resultierten aus diesem Projekt auch die Überzeugung, dass die Zäsuren und Kontinuitätslinien nicht unbedingt den politischen Entwicklungen folgten, und das Interesse an der Analyse solcher tieferliegenden, strukturellen und ideellen seismischen Verschiebungen. Themenfelder, an denen diese Perspektive weiterentwickelt wurde, sind etwa der Antihistorismus oder die Beschleunigung der Alltagswelt im frühen 20. Jahrhundert.¹⁴ Das nächste große Forschungsfeld, das diese Perspektive konsequent weiterverfolgte, war jedoch zugleich der erneute und jetzt programmatische Schritt in die gegenwartsnahe Zeitgeschichte: das Projekt „Nach dem Boom“, das Anselm Doering-Manteuffel gemeinsam mit Lutz Raphael durchführte.¹⁵ Es untersuchte den tiefgreifenden Strukturbruch, den die westlichen Industriegesellschaften seit den 1970er Jahren durchliefen, den Weg von der keynesianisch gesteuerten Industriegesellschaft zur postindustriellen, post-fordistischen Dienstleistungsgesellschaft und zum ‚neoliberalen‘ Wettbewerbsstaat. Die Wurzeln dieser Kooperation liegen in den langjährigen, sehr fruchtbaren und für alle Beteiligten prägenden Debatten mit den zeithistorischen Lehrstühlen von Lutz Raphael, Ulrich Herbert und Hans-Günter Hockerts. Die alljährlichen gemeinsamen Workshops führten zu einem vertrauensvollen und eingespielten Gesprächskontext zwischen ursprünglich recht verschiedenen methodischen und

 Anselm Doering-Manteuffel, Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in diesem Band, S. 191– 221; Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 157– 190.  Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3. Aufl., Göttingen 2012; Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart; Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in diesem Band, S. 392– 423.

XIV

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

inhaltlichen Zugriffen auf die Zeitgeschichte, die sich im Lauf der Zeit in gewissem Maße auch annäherten. Dieser beförderte auch die Öffnung für das neue Themenfeld und das Interesse an stärker strukturgeschichtlichen Fragen. Die Beschäftigung mit dem Ende der Industriemoderne schärfte die Aufmerksamkeit für die grundlegenden Zäsuren des langen Jahrhunderts und deren tiefere Ursachen. Die Perspektive Anselm Doering-Manteuffels auf das 20. Jahrhundert ist durch die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert geprägt. So liegt der postulierte Epochenbruch seit den 1970er Jahren eben darin, dass die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ordnungsvorstellungen der „Hochmoderne“, die strukturellen und ideellen Grundlagen der westlichen Industriegesellschaften, hier ihre Prägekraft verlieren. Diese Fragen nach den großen, handlungsleitenden Strukturen und Ideen beeinflussen seinen Blick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Ansatz der Zeitbögen setzt dies konsequent um, indem hier Brüche, Überlappungen und Kontinuitäten der deutschen Geschichte zum ordnungsstiftenden Prinzip einer Geschichtsschreibung der langen Strecke gemacht werden.¹⁶ Die nationale, deutsche, Geschichte wird dabei in ihren transnationalen, europäischen und atlantischen Kontext eingebettet. Die Reihe „Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit“, die er entwickelt hat und bis heute mit herausgibt, bildet diesen Ansatz sehr gut ab. Die Verbindung von Strukturgeschichte und Ideengeschichte einerseits, und von nationaler und transnationaler Perspektive andererseits, lässt sich vielleicht als Leitmotiv dieses Werks bezeichnen. Die in diesem Band versammelten Aufsätze sollen dies abbilden. Es ist eine repräsentative Auswahl für die von Anselm Doering-Manteuffel bearbeiteten Themen, die zugleich ein Licht wirft auf sein geschichtswissenschaftliches (Selbst‐) Verständnis wie auch auf die drei Zeitbögen, die seine deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts konturieren. In Teil I Die Ordnung der Zeitgeschichte finden sich Aufsätze, die das Jahrhundert in seiner Gänze in den Blick nehmen. Zeitgeschichte ist für Anselm Doering-Manteuffel immer mehr als ‚nur‘ das 20. Jahrhundert oder gar allein die Zeit nach 1945, sie ist stets auch vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Dies zeigt nicht zuletzt ein Aufsatz zum europäischen Staatensystem, der zudem sein kontinuierliches Interesse an der Internationalen Geschichte unterstreicht. Der zweite Teil Suchbewegungen in der Moderne widmet sich dem Zeitbogen von 1890 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die fortwährenden Auseinandersetzungen mit dem Fortschritt und dem Liberalismus werden zur bestimmenden Konfliktlinie, welche die deutsche Geschichte auch über den Zivilisationsbruch hinaus strukturieren.

 Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 33 – 66.

Vorwort der Herausgeberinnen und Herausgeber

XV

Die schrittweise und keineswegs unumstrittene Etablierung des westlich-liberalen Ordnungsmodells in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seine Neujustierung oder gar seine erneute Infragestellung zu seinem Ende hin sind Gegenstand des dritten Teils Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms. Dass sich eine Einordnung dieser jüngsten Entwicklungen einer abschließenden Bewertung entzieht, betont Anselm Doering-Manteuffel in seinen Beiträgen immer wieder. Dies macht zugleich die charakteristische Herausforderung, aber auch den besonderen Reiz einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte aus, die, so sein oft wiederholtes Bonmot, bis zur „Tagesschau von gestern“ reicht. Der älteste in dieser Sammlung enthaltene Aufsatz zu den Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft stammt aus dem Jahr 1995, der jüngste hingegen ist 2018 erschienen und handelt von Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative. Wir haben eine formale Vereinheitlichung vorgenommen und die Aufsätze durch eine eigenständige Bibliographie ergänzt. Auf eine Aktualisierung der Literatur haben wir in Absprache mit dem Autor in allen Fällen verzichtet. Offensichtliche Errata wurden stillschweigend behoben, ansonsten sind die Beiträge aber in ihrer ursprünglichen Fassung belassen worden. Last but not least ist an dieser Stelle Dank abzustatten. Martin Rethmeier vom Verlag Oldenbourg/De Gruyter hat die Idee dieser Werkschau von Anfang an begrüßt und sich für ihre Umsetzung eingesetzt. Ebenfalls bei Oldenbourg/ De Gruyter hat Rabea Rittgerodt das Vorhaben geduldig und engagiert begleitet. Jörg Baberowski und Lutz Raphael waren mehr als offen für die Aufnahme des Bandes in die 1998 von Anselm Doering-Manteuffel mitbegründete Reihe „Ordnungssysteme“. Ohne unsere Hilfskräfte hätte dieser Band nicht entstehen können: Daher gilt unser großer Dank Marius Huber und Frank Kell aus Mannheim, Fabian Fehl und Michael Kubacki aus Marburg sowie insbesondere Philipp Körtgen und Christian Leroy aus Tübingen. Eigentlich müssten alle Schülerinnen und Schüler von Anselm DoeringManteuffel Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes sein, in dem sich ihrer aller Dank an den akademischen Lehrer und Mentor ausdrückt und zugleich der gemeinsame Glückwunsch zu seinem 70. Geburtstag. In diesem Bewusstsein und als Vertreterinnen und Vertreter eines viel größeren Personenkreises haben wir als Herausgeberinnen und Herausgeber das Buch geplant und auf den Weg gebracht und widmen es Anselm Doering-Manteuffel zum 19. Januar 2019. Mannheim, Marburg, Tübingen und München, Januar 2019 Julia Angster – Eckart Conze – Fernando Esposito – Silke Mende

I. Die Ordnung der Zeitgeschichte

Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts Thomas Etzemüller hat in seinem geschichtstheoretischen Aufsatz „Ich sehe das, was Du nicht siehst“ fast apodiktisch festgestellt, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein spezifischer Ordnungsdiskurs auszumachen sei.¹ Diese Aussage erscheint unmittelbar einleuchtend, zumal dann, wenn man die Betonung darauf legt, dieser spezifische Ordnungsdiskurs sei erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Damit ist zugleich ein historischer Ausgangspunkt benannt, an dem unsere Reflexion über Konturen von ‚Ordnung‘ im 20. Jahrhundert einsetzen kann. Sie wird von der Überlegung geleitet, ob oder inwieweit dieser Ordnungsdiskurs das ganze Jahrhundert durchzieht. Es geht um die Frage, was mit „Konturen von ‚Ordnung‘“ in verschiedenen Phasen zwischen 1880/90 und der Gegenwart gemeint sein könnte. Wissen wir, welche Semantik dem Begriff jeweils zugrunde liegt, wenn etwa 1924 oder 1941 oder 1956 oder 1972 oder 1985 von ‚Ordnung‘ gesprochen wurde? Sind wir in der Lage, verschiedene Semantiken angemessen zu erfassen? In einem ersten Schritt möchte ich drei Zeitschichten mit einem je unterschiedlichen Verständnis von ‚Ordnung‘ gegeneinander abgrenzen. Im zweiten Schritt gilt es dann, die spezifische Eigenart, Ähnlichkeiten und Unterschiede, in solchen Ordnungsvorstellungen näher zu beschreiben. Entscheidend ist der Sachverhalt, dass sich die Zeitschichten deutlich überlagern. Zäsuren im Ordnungsdiskurs des 20. Jahrhunderts sind als ideengeschichtliche Phänomene bestenfalls mittelbar an konkrete Daten der politischen Geschichte gekoppelt und mit dem Blick auf Einschnitte wie 1917/18, 1945 oder 1989/91 kaum zu erfassen. Veränderungen von Ideenwelten vollziehen sich langsam. Die Übergänge sind fließend. So schließt das Ordnungsdenken und social engineering ² der 1920er bis 50er/60er Jahre, wie Thomas Etzemüller einleitend gekennzeichnet hat, Charakteristika sowohl der ersten als auch der zweiten Zeitschicht des Jahrhunderts in sich, ohne dass darin ein Widerspruch zu sehen ist. Vielmehr sollten wir die Überlappungen von Zeitschichten als Phasen des Suchens auffassen, in denen

 Thomas Etzemüller, „Ich sehe das, was Du nicht siehst“. Wie entsteht historische Erkenntnis?, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2007, S. 27– 68, bes. S. 47– 51.  Zu Kontext und Begriffsbestimmung, auch dem etwas sperrigen Gebrauch des Singulars, vgl. Thomas Etzemüller, Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: Etzemüller, Thomas (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 11– 40. https://doi.org/10.1515/9783110633870-001

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sich etwas verändert. Social engineering wäre dann als Antwort auf neue Herausforderungen aufzufassen, und es bleibt offen, ob diese Antwort ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Wichtiger erscheinen die unzweideutigen Anzeichen kommender Umbrüche, wenn in einer Phase des Überlagerns zweier Zeitschichten, von denen die ältere zunehmend an Verbindlichkeit für gesellschaftliches und politökonomisches Handeln verliert, während die jüngere gerade erst ihre Gestaltungsprinzipien, ihre Begriffe herausbildet. Die scheinbare Widersprüchlichkeit bestimmter Entwicklungen lenkt den Blick auf solche Umbrüche. Hier hat die historische Analyse anzusetzen. Es gehört zu den Fiktionen einer dekadologisch denkenden Geschichtskultur, dass man klare Konturen eines Jahrzehnts ausmachen könne und dann ebenso klare, bloß andere Konturen im nächsten, wieder andere im dann folgenden Jahrzehnt und immer so fort. Solches Vorgehen mag viel Bedeutsames ans Licht bringen, aber was kann es erklären? Wo die Gewohnheiten der Menschen scheinbar unverändert sind, wo Wirtschaft, Handel und Gewerbe verfahren, wie sie schon vor einem oder zwei Jahrzehnten verfuhren, wo die Politik sich im gewohnten Gleis bewegt, mag dennoch vieles bereits im Wandel begriffen sein. Wandel erkennt, wer auf die Sprache, auf die Begriffe der Zeitgenossen, auf die Bildwelten in der Kunst und im Alltag sowie auf die unauffällig neuen, anderen Ideen zur Erklärung von Wirklichkeit achtet. Sie zeigen seismographisch kommende Umbrüche an oder lassen sich aus der historischen Rückschau als Anzeichen eines in Gang befindlichen Umbruchs deuten. Reiht man jedoch die 1920er und die 30er Jahre als „Zwischenkriegszeit“ aneinander, wie wir es auch mit den 50er und 60er Jahren als Zeit des „Nachkriegsbooms“, mit den 70er und 80er Jahren als „Krise“ zu tun gewohnt sind, richtet sich die Frage vornehmlich auf die Eigenart des jeweiligen Jahrzehnts. Dann wird bald von dem ‚langen‘ oder ‚kurzen‘ Jahrzehnt X gesprochen, aber die zugrundeliegende geschichtliche Entwicklung, in die ein solches Jahrzehnt einbezogen war, verbleibt außerhalb der Reflexion. Geht man hingegen von der Multiperspektivität historischer Wahrnehmung und Analyse aus, helfen der dekadologische Blick durch die Jahrzehnte und die Konzentration auf die Abfolge von Ereignissen, Gegebenheiten, Wahrnehmungsformen nicht weiter, sondern es wird erforderlich, einen problemgeschichtlichen Ansatz zu wählen.³ Die Frage nach der ‚Ordnung der Moderne‘ und dem historischen Ort des social engineering in der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet ein solches Problem. Das ist der Grund, warum in diesem Band⁴ nicht so sehr  Vgl. hierzu die wegweisende Argumentation von Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932. Göttingen 2001.  Etzemüller, Thomas (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009.

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Gewissheiten ausgebreitet werden können, sondern Sachverhalte dargelegt, Zusammenhänge, Widersprüche und Gemeinsamkeiten angedeutet werden, die das Problem möglichst tiefenscharf ausleuchten und im Zuge der weiteren wissenschaftlichen Diskussion dazu beitragen, es auch zu klassifizieren. Die Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts sind folglich vor diesem Hintergrund zu skizzieren. Die erste Zeitschicht ist gekennzeichnet von der Erschöpfung des liberalen Paradigmas aus dem 19. Jahrhundert und des klassischen liberalen Fortschrittsverständnisses.⁵ Sie ist gleichermaßen gekennzeichnet durch den allmählichen Übergang in ein eher statisches Verständnis von zukünftiger Ordnung. Hier treffen wir auf das ideengeschichtliche Phänomen des „Antihistorismus“.⁶ Es bildete den Subtext einer äußerlich zunächst vom liberalen Fortschritt geprägten Epoche. Aber dieses klassische Fortschrittsverständnis gehörte der zu Ende gehenden älteren Epoche an, der antihistoristische Subtext hingegen der beginnenden neuen. Beides überlagerte sich über mehrere Jahrzehnte. Gleichwohl, die zuerst anwachsende, dann wieder nachlassende Dominanz antihistoristischer Ordnungsentwürfe für die Gestaltung der Zukunft bildete das markante Kennzeichen dieser Zeitschicht.⁷ Ihre Dauer umfasst die Jahrzehnte von etwa 1880 über die Schwelle von 1914/18 bis in die 1940er Jahre.Vereinzelte Ausläufer waren noch um 1960 anzutreffen.⁸ Die zweite Zeitschicht bildet die Überwindung und intellektuelle Bekämpfung des Antihistorismus. Hier tritt uns ein anderer – wenn man so will: ein neuer – Begriff von Fortschritt entgegen, der ‚Ordnung‘ jetzt durch ‚geplanten Fortschritt‘ zu gestalten beansprucht. Diese zweite Zeitschicht ist gekennzeichnet von einem strukturalistischen Subtext in den zeitgenössischen Vorstellungen von sozialer Ordnung. Sie ist obendrein gekennzeichnet von der zunehmenden Verschmelzung sozialwissenschaftlicher Diagnosen aus den USA der 1930er und 40er Jahre, als die amerikanische Soziologie in starkem Maß von europäischen Emigranten

 Zur Dialektik von Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften und der Zerstörung des zeitgenössischen Fortschrittsglaubens vgl. Detlev J. K. Peukert, Das Janusgesicht der Moderne, in: Deutsches Institut für Fernstudien (Hrsg.), Funkkolleg Jahrhundertwende 1880 – 1930. Die Entstehung der modernen Gesellschaft. Studienbegleitbrief 0. Weinheim u. a. 1988, S. 60 – 72, bes. S. 66, 70.  Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne. Göttingen 1996.  Siehe: Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 157– 190.  Vgl. George Steiner, Acts of Constant Questioning, in: The Times Literary Supplement, 27. Juni 2008, S. 8 f., über das Buch von Daniel Morat,Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920 – 1960. Göttingen 2007.

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beeinflusst wurde und diese, sofern sie nach Europa zurückkehrten, ihr neu gewonnenes, gewissermaßen atlantisches Verständnis von gesellschaftlicher Struktur, von Ordnung und Zukunft im Gewand der Modernisierungstheorie zur Geltung brachten.⁹ Die strukturalistisch und modernisierungstheoretisch grundierte Vorstellung von Ordnung und Fortschritt war rückgebunden an den amerikanischen New Deal und kam mit dem Marshall-Plan sowie der damit verkoppelten Westernisierung sozialistisch-demokratischer Ordnungskonzepte nach Westeuropa.¹⁰ Diese zweite Zeitschicht erstreckte sich von der Mitte der 30er bis in die mittleren 70er Jahre. Der Höhepunkt ihres spezifischen Verständnisses von Ordnung wurde nach 1960 erreicht. Aber auch hier betrug die Überlagerung mit der vom Antihistorismus geprägten Zeitschicht zwei, wenn nicht sogar drei Jahrzehnte – von den 30er bis zu den 50er Jahren. Hier sehe ich den Ort des von Thomas Etzemüller und seiner Arbeitsgruppe postulierten ‚Ordnungsdenkens‘ einer technokratischen Planung und des daran gekoppelten social engineering. In diesen Jahrzehnten der Überlagerung wurden, wie Etzemüller schreibt, „in der Figur des Experten die Sprache der Transparenz und die Sprache der Dezision gekoppelt“.¹¹ Erst danach, seit den 60er Jahren, verbreitete sich der neue Fortschrittsbegriff in die Gesellschaft hinein. Der Aspekt der Planung und des Expertentums wurde relativiert, wo nicht überformt, von zunehmender Individualisierung in den westlichen Gesellschaften und der Lebensstilrevolution seit etwa 1970. Daran perlte die „Sprache der Dezision“ schließlich wirkungslos ab.¹²

 Vgl. Donald Fleming/Bernhard Bailyn, The Intellectual Migration. Europe and America, 1930 – 1960. Cambridge, MA 1969; Peter M. Rutkoff/William B. Scott, New School. A History of the New School for Social Research. New York, NY 1986; Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research. Frankfurt am Main u. a. 1987; Hans van der Loo/Willem van Reden, Modernisierung. Projekt und Paradox. München 1992; Andreas Langenohl, Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie. Frankfurt am Main u. a. 2007; François Dosse, Geschichte des Strukturalismus. 2 Bde. Frankfurt am Main 1999; Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1984.  Steve Fraser/Gary Gerstle (Hrsg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930 – 1980. Princeton, NJ 1989.  Etzemüller, Social engineering, S. 26.  Vgl. hierzu Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, S. 398 – 406, sowie die übrigen Beiträge zum Thema „Planung“ in diesem Heft 3 von „Geschichte und Gesellschaft“; die Gegenpositionen zum Antihistorismus in der westdeutschen Ideengeschichte behandeln: Clemens Albrecht, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main u. a. 1999; Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006.

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Das verweist auf die dritte Zeitschicht, innerhalb derer Strukturalismus und Modernisierungstheorie zurückgedrängt und marginalisiert wurden. Hier tritt uns anstelle von ‚Struktur‘ nun das ‚Netzwerk‘ als Ordnungsmodell entgegen.¹³ Aus der – mittels Modernisierungstheorie – konkret planbaren, in einen stabilen Rahmen eingefügten Moderne, welche die ‚Zukunft‘ fest im Griff hatte, entstand innerhalb der netzwerklichen Beziehungen die „flüchtige Moderne“, von der mit Zygmunt Bauman gegenwärtig immer wieder die Rede ist.¹⁴ Deren Anfänge reichen zurück bis zur Wende von den 1950er zu den 60er Jahren, als die Theoriebildung der Poststrukturalisten allmählich einsetzte. Der Bedeutungsanstieg begann in den 80er Jahren.¹⁵ Den Höhepunkt erreichte sie zwischen 1995 und etwa 2005. Diese Phase ist gegenwärtig noch dominant oder war es bis gestern – das können wir als Zeitgenossen noch nicht erkennen.¹⁶ Sie ist oder war gekennzeichnet vom offenen, fluiden Subtext der Konturen von Ordnung, weshalb hier ‚Struktur‘ – und aus den vorhandenen Strukturen heraus geplante und gestaltete – ‚Zukunft‘ keine wichtige Rolle spielten. Der Fortschrittsbegriff verwandelte sich in die ‚Zielvereinbarung‘ zwischen Topmanagern und shareholders, zwischen Ministerien und öffentlichen Institutionen, zwischen Hochschulrektoren und Professorenschaft. Ein gigantischer Marktplatz entstand, hinter dessen Rummel und Raffsucht die ‚Ordnung‘ der Institutionen und Ordnungsvorstellungen in der Gesellschaft mehr und mehr verschwanden. Zielvereinbarungen haben mit Zukunft nicht viel zu tun, sondern mit größtmöglicher Nutzung der verfügbaren Ressourcen in der Gegenwart. Mit dem Begriff ‚Fortschritt‘ verschwand im Verlauf der 90er Jahre die Idee von Zukunft aus der öffentlichen Wahrnehmung. Nichts anderes galt als die Gegenwart, in der die Weltgesellschaft, getrieben vom Fi Vgl. statt weiterer Nachweise Jens Beckert, Soziologische Netzwerkanalyse, in: Kaesler, Dirk (Hrsg.), Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne. München 2005, S. 286 – 312; Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001; sowie Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008, S. 80 – 84 (von der „Struktur“ zum „Netzwerk“).  Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003.  Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz u. a. 1986; Jean-François Lyotard, Die Moderne redigieren. Bern 1988; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1988.  Der Zusammenbruch des internationalen Finanzmarkts im Verlauf des Jahres 2008 hat augenscheinlich die Phase des „digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus“ beendet, deren Geltung in der Epoche ‚nach dem Boom‘ eingesetzt hatte und seit 1980/90 dominierend geworden war. Inwieweit an die Stelle der auch ideologisch beschworenen „Flüchtigkeit“ – der Beschleunigung, des permanenten Wandels, des Aufbrechens gewachsener Strukturen zum Nutzen allein des Investors und der Gewinnmaximierung der shareholder – eine neue Form von Festigkeit, Gemeinsinn und rahmengebender Staatsverantwortung treten wird, ist völlig offen; vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 84– 89.

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nanzmarkt-Kapitalismus, jauchzend und jammernd Achterbahn fuhr. 2008 war es mit dieser Gegenwart vorbei, und wenn sich die Rauchschwaden der finanzkapitalistischen Implosion verzogen haben, wird der Blick in eine neue, andere Zukunft gehen. Ob mit dieser ‚Zukunft‘ eine erneuerte Ordnungsidee von ‚Fortschritt‘ verbunden sein könnte, vermag heute noch niemand zu erkennen. Die Überlagerung dieser dritten mit der vorangegangenen zweiten Zeitschicht macht wiederum etwa zwei Jahrzehnte aus, von den 60er bis zu den 80er Jahren. Überlagerungen kommen nicht zuletzt dadurch zustande, dass Menschen, die als junge Erwachsene in einer bestimmten Zeit, intellektuell, politisch und habituell geprägt worden sind, an den Prägungen auch dann noch festhalten, wenn diese im Diskurs keine Bedeutung mehr haben. Überzeugte Kritiker des liberalen, im 19. Jahrhundert wurzelnden Fortschrittsdenkens, die im geistigen Klima der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ihre Prägungen erfuhren, blieben das auch über die Schwelle von 1945 hinaus.¹⁷ Kritische Wahrnehmungen von Moderne und Modernismus seit den 1920er Jahren korrespondierten mit dem Dadaismus, und dieser wiederum korrespondierte mit der kulturellen Strömung der Postmoderne nach 1980.¹⁸ Adepten der Modernisierungstheorie hielten und halten bis heute an ihren Auffassungen fest und sprechen mit Blick auf die poststrukturalistische Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit von Niedergang, Krise, unvollendeter Entwicklung.¹⁹ Und es mag sein, dass Adepten der offenen, fluiden Vorannahme von Ordnung – die Ideologen des Wandels ohne Interesse an der Zukunft – auch dann noch an ihren Auffassungen festhalten, wenn die Ideologie der marktradikalen ‚Offenheit‘ und ‚Freiheit’ als Kardinalprinzip von Ordnung schon tief in der Geschichte versunken ist.  Vgl. Volker Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer. Frankfurt am Main 1994; Jerry Z. Muller, The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton, NJ 1987. Mullers Titel nimmt Bezug auf die Kampfschrift eines Renegaten des Stalinismus: Richard Crossman (Hrsg.), The God That Failed. London 1950. In beiderlei Hinsicht, in der Enttäuschung über das Scheitern des kulturkritischen Konservatismus vor 1930 sowie der Enttäuschung, ja dem Hass nach der Erfahrung mit dem Stalinismus, die die Hinwendung zur liberalen Demokratie westlicher Ordnung nach sich zogen, beobachten wir ein intellektuelles Ringen um die Abkehr von Positionen, die für die jeweiligen Autoren als junge Erwachsene prägend geworden waren. Spiegelbildlich gab es bei anderen das Verharren in den einmal und für immer eingenommenen Positionen.  Richard Sheppard, Modernism – Dada – Postmodernism. Evanston, IL 2000; Mark A. Pegrum, Challenging Modernity. Dada between Modern and Postmodern. New York, NY u. a. 2000.  Vgl. z. B. Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977– 1990. Leipzig 1990; Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge. Frankfurt am Main 2001; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5. Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949 – 1990. München 2008.

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Halten wir einige charakteristische Elemente als Merkmale zum Verständnis der drei Zeitschichten in aller Kürze fest: (1) Für die Zeit von 1880/90 bis etwa 1950 beobachten wir eine verbreitete Negation des liberalen Fortschrittsbegriffs in fast allen europäischen Ländern, besonders ausgeprägt dort, wo sich einerseits Faschismus und Nationalsozialismus, andererseits Bolschewismus und Stalinismus ausbreiteten. Im deutschsprachigen Mitteleuropa wurden ‚Gesetz‘ und ‚ewige Ordnung‘ in einer Semantik beschworen, die ein ahistorisches Verständnis von Fortschritt in sich schließt. Hans Freyers Rede von den ‚haltenden Mächten‘ drückte (am Ende dieser Phase) das Bedürfnis aus, in einer Zeit verstärkten Wandels, zumal wenn die Entwicklung in eine zu missbilligende Richtung verlief, Konturen einer verbindlichen Ordnung zu erkennen, die zwar nicht ‚ewig‘, nicht außerhalb der Geschichte stehend, aber gleichwohl dauerhaft gültig sein sollte. Wo immer nach 1945/50 der Fortschritt im westlich-liberalen Verständnis zur Norm von Ordnung wurde, galt es, ihn mit den ‚haltenden Mächten‘ zu vermitteln.²⁰ Ganz ähnlich, aber direkt konträr im Verständnis von Geschichte und Ordnung hatte im Inflationsjahr 1923 der liberale Theologe und Kulturprotestant Adolf von Harnack die Frage gestellt: „Was kostet der Fortschritt in der Geschichte?“²¹ (2) Beginnend um 1930, in Ausläufern gültig bis etwa 1980, lassen sich Ordnungsvorstellungen beobachten, die an Begriffe wie ‚Struktur‘ und, axiomatisch damit verbunden, ‚Modernisierung‘ gekoppelt sind. Diese Ordnungsvorstellungen wurden als Entwicklung gedacht, weshalb hier der ‚Fortschritt‘ einen prominenten, ideologisch unverzichtbaren Platz einnahm. Die ‚Modernisierung‘ bestehender ‚Strukturen‘ vollzog sich innerhalb eines verbindlichen politischen und sozialen Rahmens, konkret: Sie war an die Existenz des Nationalstaats, der nationalen Gesellschaft und der nationalstaatlich verantwortlichen Regierung gebunden. Modernisierung im transnationalen Raum war damals wie heute als

 Hans Ren, Der Fortschritt und die haltenden Mächte (1952), in: Hans Ren, Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie. Weinheim 1987, S. 73 – 83. Die Kontinuitätslinie von Wilhelm Heinrich Rieht zu Hans Freyer, wenn es um kritische, abwehrende Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen von Industrialisierung, Urbanisierung und Moderne (‚Fortschritt‘) ging, betont Muller, The Other God That Failed, S. 146, 316 – 360; die Kraft dieser Kontinuitätslinie bis ins Zentrum geschichtswissenschaftlicher Urteilsbildung in der BRD während der 1950er und 60er Jahre akzentuiert Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001, S. 50 – 65 und passim.  Adolf von Harnack, „Was kostet der Fortschritt in der Geschichte?“, Elmau, 22. März 1923, zit. n. Anselm Doering-Manteuffel, Der Kulturbürger und die Demokratie, in: Nowak, Kurt u. a. (Hrsg.), Adolf von Harnack. Christentum,Wissenschaft und Gesellschaft. Göttingen 2003, S. 237– 255, hier S. 248 sowie Anm. 46.

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politisches Projekt nur schwer vorstellbar. Der Entwicklungsgedanke dominierte, und das hieß, dass die Zukunft als machbar, als gestaltbar betrachtet wurde. Soweit hier Entwicklung als ‚Fortschritt‘ postuliert wurde, schloss dieser allerdings den ideologischen Gehalt des liberalen Fortschrittsbegriffs aus dem 19. Jahrhundert auch weiterhin nicht unbedingt in sich. ‚Modernisierung‘ als Entwicklung und Fortschritt stand vielmehr in direktem Zusammenhang mit der planerischen Energie von Sozialexperten, die auf Ordnungsmodelle jenseits der politischen Systeme fixiert waren. Sie prägten eine Epoche im 20. Jahrhundert, welche die Staaten und Gesellschaften von den USA über Europa bis in die Sowjetunion erfasste. Es war die Epoche der ‚entfernten Verwandtschaft‘ von New Deal und Faschismus. Es war die Epoche der technischen Gigantomanie seitens der Tennessy Valley Authority und der Hydroprojekte des Stalinismus, sodann der Modernisierung als Optimierung von Gesellschaft im Sinne der Eugenik (die über die Euthanasie bis zum Genozid reichen konnte, aber nicht musste) und schließlich der konkurrierenden Weltraumprojekte in der Zeit des Ost-West-Konflikts. Es war die Epoche, um die es in diesem Buch geht, als Ordnungsdenken und social engineering sich systemübergreifend zur Vision einer ‚Ordnung der Moderne‘ verdichtet hatten. Sie plante den Fortschritt, ohne einen Gedanken an den einzelnen Menschen, das Individuum, zu verschwenden. Das Individuum verschwand in der Gesellschaft, und die Gesellschaft war geformt durch den festen Rahmen des nationalen Staats. (3) Dieser Rahmen verlor zwischen 1970/80 und der Gegenwart an Verbindlichkeit. Das feste politische und soziale Bezugssystem wurde virtuell. Wo sich nationale Kompetenzen auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft verschoben, wo Sicherheit und Militärtechnik international, Wirtschaftsproduktion und Konzernbildung transnational und schließlich Kommunikation und Finanztransfer digital und global organisiert wurden, ließen sich Konturen von Ordnung immer schwerer erkennen. Als im Verlauf dieser Entwicklung 1989/90 der Ostblock zusammensank, wurden die weitgehend fertig ausgebildeten Kräfte der Globalisierung freigesetzt. Sie entfalteten eine Dynamik der Veränderung, welche die scheinbar noch im Gestern, im festen Rahmen einer staatlich gebundenen Modernisierung verharrenden Gesellschaften der europäisch-atlantischen Industrieländer erst jetzt voll erfasste. Doch vorhanden waren diese neuen Konturen von Ordnung schon längst.²² Ihre Kennzeichen waren die Negation von ‚Struktur‘ als Verkörperung des Festen und Starren, des weiteren Bewegung und Beschleunigung in einem Ausmaß, dass Beschleunigung selbst zur Norm von Ordnung wurde. Es handelte sich hier um Rastlosigkeit in der Gegenwart, die aus der

 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom.

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Eigendynamik des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus hervorging. Es ging um Vorteil, Gewinn, Mehrwert im Hier und Heute. Das Zeitfenster namens ‚Zukunft‘ erfasste zum Schluss gerade noch ein Vierteljahr, innerhalb dessen Gewinn und Verlust zu berechnen waren. Die Norm der gegenwartsbezogenen Ordnung zerstörte Gemeinschaftsleben, Existenzhoffnungen und den Gedanken an die vor den Menschen liegende Zeit. „Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als die High-Tech-Daten oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen außerhalb des Arbeitsplatzes am meisten berührt“, urteilte der amerikanische Soziologe Richard Sennett.²³ Betrachten wir nun im zweiten Schritt die drei Zeitschichten noch etwas näher im Hinblick auf ihre historischen Bezüge. (1) Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen sich die Ideale liberaler bürgerlicher Ordnung in den europäischen Gesellschaften zu erschöpfen.²⁴ Die englische Wahlrechtsreform in den 1860er Jahren oder das Ende der Utopie von der ‚klassenlosen Bürgergesellschaft‘ im Deutschen Bund, ebenfalls in den 1860er Jahren,²⁵ zeigten an, dass sich ein Wahrnehmungswandel vollzog, dessen materiellen Kern die Industrialisierung und die Entstehung des Proletariats bildeten. Die Industrialisierung wiederum war mit technischen und technisch-wissenschaftlichen Veränderungen, Erfindungen, Neuerungen verbunden, die Zug um Zug die Spielräume des homo faber und die Gestaltungsmöglichkeiten des homo oeconomicus erweiterten. Materieller Wandel und, damit verbunden, infrastruktureller Wandel in Form von Urbanisierung, Ausweitung städtischer Industrieareale, Arbeitsmigration vom Land in die Stadt, von Ost nach West, vollzogen sich mit atemverschlagender Geschwindigkeit. Die Zeitgenossen rieben sich die Augen und erkannten von Jahr zu Jahr aufs neue die Welt nicht mehr wieder, in der sie lebten.²⁶ Daraus entstand in Mitteleuropa der so genannte Kulturpessimismus, der die Entwicklung der Moderne zwar durchaus mit vollzog, aber das, was da geschah,

 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Berlin 2006, S. 29.  Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001.  Vgl. Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780 – 1867. Stuttgart 1993; Lothar Gall, Liberalismus und bürgerliche Gesellschaft. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 220, 1975, S. 324– 356.  Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Berlin 2000; vgl. Gunther Mai, Europa 1918 – 1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart u. a. 2001.

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mit Ekel und Abscheu kommentierte.²⁷ Künstlerische Avantgarde, Lebensreformbewegungen, völkisch-rassischer Utopismus waren nicht sämtlich reaktionär. Sie wollten nicht zurück in eine soeben vergangene Zeit. Sie waren vielmehr je unterschiedliche – avantgardistische bis utopistische – Antworten auf den Strukturwandel in der Gegenwart seit 1880/90. Parallel dazu hatte sich der Liberalismus als sozialkulturelles Ordnungsmodell des Bürgertums im mittleren 19. Jahrhundert (1830 – 1870/80) so ausdifferenziert, dass seine negativen Seiten immer stärker hervorstachen. Die Eigenart der liberalen Ideologie bestand in der Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung, welche die ‚Neue Zeit‘ seit der Aufklärung im eigentlichen Sinne charakterisiere.²⁸ Das Ideologem „kontinuierliche Entwicklung in der Neuen Zeit“ schloss Rationalität, den Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt und die Idee des Fortschritts in sich.²⁹ Im 19. Jahrhundert lernten die bürgerlichen Liberalen Europas, den Fortschritt zu sehen als ein stetiges Voranschreiten zum Höheren und Besseren, zu mehr Wissen, mehr Reflexion, mehr Kompetenz mit dem Zweck der Weltbemächtigung. Der Fortschritt vollzog sich kontinuierlich, überschaubar, unaufhaltsam. Es war ein Fortschritt mit humanem Maß, zum Nutzen der Menschheit. Das humane Projekt des Liberalismus und dessen Fortschrittsverständnis, das wir auch beim jungen Marx antreffen, war optimistisch.³⁰ Das Fortschrittsdenken war an eine Auffassung von Verlauf und Entwicklung gebunden, die nicht nur die moderne Geschichtswissenschaft entstehen ließ, sondern vor allem den Glauben an die Geschichtlichkeit der Welt und des Lebens mit sich brachte. Dem aufklärerisch-liberalen Fortschrittsdenken war der Glaube axiomatisch eingeschrieben, „daß alles, was ist, geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist“.³¹ Dies ist das ideengeschichtliche Phänomen des Historismus. Mit der Überzeugung, dass alles und jedes geschichtlich vermittelt ist, negierte der Historismus, einerseits, die übergeschichtliche, übermenschliche

 Vgl. Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt am Main 1982; Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Bern u. a. 1963.  Vgl. Leonhard, Liberalismus; Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. 3 Bde. München 1988.  Reinhart Koselleck, ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, S. 300 – 348.  Reinhart Koselleck, Art. ‚Fortschritt‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 2004, Bd. 2, S. 351– 423; Ernst Nolte, Marxismus und industrielle Revolution. Stuttgart 1983.  Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 17– 40, hier S. 33.

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Geltung des Göttlichen, des Numinosen. Es negierte die Nicht-Zeitlichkeit des Heiligen. Andererseits aber förderte dieser Historismus als ein Teilelement des Liberalismus den kulturellen Trend, das je Eigene, Einzelne in der Vergangenheit aufzuspüren, zusammenzutragen und aufzuschreiben. Er legitimierte den Faktenpositivismus in den Humanwissenschaften, der jedes Detail ausfindig machte, ohne sagen zu können, warum er das tat und wozu es gut sein sollte. Und zum Dritten förderte der Historismus als Spielart des Liberalismus die Konzentration auf das Individuum, auf den einzelnen Menschen, den einzelnen Staat, die einzelne Nation, die dann jeweils – mit einem Diktum Leopold von Rankes – „unmittelbar zu Gott“ gesehen wurden.³² Wenn Friedrich Nietzsche die Beliebigkeit in der Sammelleidenschaft der Wissenschaften lächerlich machte und zugleich verkündete, „Gott ist tot“, dann benannte er die beiden aus seiner Sicht katastrophalen Auswirkungen von Historismus und, unmittelbar damit verbunden, bürgerlichem Liberalismus. „Gott ist tot“ hieß ja nicht, dass es keinen Gott mehr gebe, ganz im Gegenteil! Es besagte vielmehr, dass die herrschende Ideologie der ‚Neuen Zeit‘, des kontinuierlichen Verlaufs als Fortschritt, des geschichtlich Vermitteltseins von allem und jedem letztendlich das Göttliche zerstöre, weil sie den Menschen den existentiell unverzichtbaren Bezug auf das Überzeitliche, Unbegreifliche unmöglich mache.³³ Mit Nietzsche begann die ideengeschichtliche Strömung des sogenannten Antihistorismus. Sie verstärkte sich und nahm Fahrt auf, als sich Nietzsches Kritik an der alles relativierenden Weltsicht mit den aktuellen Eindrücken der Zeitgenossen verzahnte. Das setzte zwischen 1890 und 1900 ein. In diesem Jahrzehnt erreichte die Hochindustrialisierung den Zenit. Sie konfrontierte die Zeitgenossen, insbesondere die Schicht des gebildeten Stadtbürgertums, mit permanentem Wandel in immer schnellerem Tempo und mit Auswirkungen, die sie nicht mochten. Industrieareale entstanden am Rande der Städte; eine neue Schicht, das Industrieproletariat, breitete sich aus, und die Wohnquartiere des Proletariats wuchsen unübersehbar an; der Straßenbau und die Einrichtung von Trambahnlinien förderten Mobilität, erzeugten aber zugleich den Eindruck von Rastlosigkeit

 Vgl. ibid., S. 29 f.  Das ging tendenziell gegen Theologen wie Adolf von Harnack, der damals mit der Darstellung des ‚historischen Jesus‘ rang; vgl. Otto Gerhard Oexle, „Historismus“. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 41– 72, bes. S. 55 f.; Kurt Nowak, Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: Nowak, Kurt/Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker. Göttingen 2001, S. 189 – 237.

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und Unruhe.³⁴ Alles zusammengenommen bedeutete dies, dass die Welt, aus der die Zeitgenossen stammten, von Tag zu Tag immer weiter abgeräumt wurde. Die neue Welt, die ihnen völlig fremd war, bestand aus „grauer Städte Mauern“,³⁵ aus fremden, bedrohlich wirkenden Menschen, als welche das Proletariat wahrgenommen wurde, aus Tempo, Lärm und Unrast. Ein Gefühl der Entankerung machte sich breit und das Bedürfnis, aus dem rasenden Zug der Zeit auszusteigen.³⁶ Daraus ging die Suche nach Verbindlichkeit hervor, nach Ankerplätzen im Hier und Jetzt, kurz: die Suche nach Ordnung. Der Antihistorismus war vor 1914 fertig ausgebildet, und mit ihm auch das Spektrum der Argumente gegen den Liberalismus, den liberalen Optimismus, den optimistischen Glauben an einen Fortschritt mit humanem Maß. Der Weltkrieg bestätigte die Feindschaft gegenüber dem liberalen und dem historistischen Weltbild, weil hier ein ‚Fortschritt‘ körperlich erfahrbar wurde, dessen Grauen alles bis dahin Vorstellbare überstieg. Dennoch war all das Fortschritt: technischindustrieller Fortschritt in der Waffenproduktion, Fortschritt in der Organisation einer Volkswirtschaft, Fortschritt in der Logistik, Fortschritt in Medizin, Chemie und Physik. Im deutschsprachigen Mitteleuropa floss diese kulturgeschichtliche „Enttäuschung des Krieges“³⁷ vom liberalen Ordnungssystem der bürgerlichen Welt dann noch mit der politischen Feindschaft gegen die Siegermächte und den Versailler Frieden zusammen, weil diese die Zukunft einer liberalen Welt postulierten und zu repräsentieren vorgaben. Deshalb zweigt hier der Antihistorismus im deutschsprachigen Mitteleuropa vom Antihistorismus als ideengeschichtlicher Erscheinung in ganz Europa ab. Doch als Subtext in den Vorstellungen von Ordnung innerhalb der europäischen Nationalkulturen blieb der Antihistorismus in den 1920er Jahren virulent,³⁸ und daraus erklärt sich auch die beträchtliche Resonanz in ganz Europa, einschließlich Englands, auf die politisch-gesellschaftlichen Ausprägungen von Antihisto-

 Vgl. zur deutschen Entwicklung als biographische Fallstudie Friedrich Lenger,Werner Sombart 1863 – 1941. Eine Biographie. München 1994; sowie Diethart Kerbs/Jürgen Routicar (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933. Wuppertal 1998.  Winfried Mogge, Wandervogel, Freideutsche Jugend und Bünde. Zum Jugendbild der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Koebner, Thomas/Janz, Rolf-Peter/Trommler, Frank (Hrsg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main 1985, S. 174– 198.  Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main 2005.  Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Essay I. Die Enttäuschung des Krieges (1915), in: Sigmund Freud, Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main 1974, S. 33 – 48.  Das Phänomen ist im europäischen Zusammenhang noch nicht systematisch erforscht worden; vgl. aber Robert Wohl, The Generation of 1914. London 1980.

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rismus im italienischen Faschismus, in der völkischen Bewegung Österreichs und Deutschlands, im eugenischen Rassismus und im Sozialdarwinismus.³⁹ Was dann kam, in den 1920er Jahren, wird seit Hermann Heimpel als „antihistoristische Revolution“ bezeichnet.⁴⁰ Diese „Revolution“ räumte das liberale Weltbild und das liberale Fortschrittsverständnis ab, und zwar auf Dauer. In Deutschland verschwand nicht nur das Wort ‚liberal‘ aus allen Parteinamen der Weimarer Republik, sondern es begann eine Abwehr gegen den liberalen Gedanken der Entwicklung, des historischen Prozesses, zu grassieren. Diese Abwehr erfasste politische Lager und sozialkulturelle Milieus von rechts bis links.⁴¹ Die Abkehr vom historistischen Weltbild revolutionierte auch die Wissenschaften – insbesondere Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft, ebenso die Kulturwissenschaft, aber auch die Physik. Hier akzentuierte das Phänomen der ‚Deutschen Physik‘ die feindliche Abgrenzung zur ‚liberalistischen‘ internationalen Physik, die im wissenschaftlichen Weltbild der aufklärerisch-liberalen Tradition verwurzelt blieb und obendrein als ‚jüdisch‘ denunziert wurde.⁴² Diese Entwicklung soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Vielmehr möchte ich mit ein paar Stichworten die Kennzeichen des Antihistorismus verallgemeinernd akzentuieren, um vor allem auch die Dauerhaftigkeit des Weltbilds über die Schwelle von 1945 hinaus sichtbar zu machen.Wer antihistoristisch dachte, setzte sich in die Lage, zentrale Kategorien des bürgerlich liberalen Ordnungssystems auf der Ebene von Zivilrecht, Staatsrecht und Völkerrecht zu negieren. Die bedeutendste Einzelpersönlichkeit war hier Carl Schmitt, aber der Trend selbst hatte eine Gefolgschaft, die nach Tausenden zählte.⁴³ Kategorien bürgerlich-liberaler  Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler. Houndmills u. a. 2007.  Hermann Heimpel, Geschichte und Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5, 1957, S. 1– 17; Kurt Nowak, Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Gütersloh 1987, S. 133 – 171.  Siehe: Anselm Doering-Manteuffel, Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in diesem Band, S. 191– 221.  Vgl. Knut Wolfgang Nörr/Bertram Schefold/Friedrich Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1994; Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus. München 1994; Gabriele Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der internationalen Community 1900 – 1960. Göttingen 2000.  Zu Schmitt vgl. Jan-Werner Müller, A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought. New Haven, CT u. a. 2003.

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Ordnung waren ‚Staat‘ und ‚Nation‘ respektive ‚Nationalstaat‘. In der Negation des liberalen Weltbilds und gleichzeitiger Zurückweisung der ‚liberalistischen‘ Friedensordnung von Versailles ließ sich der aktuelle, in der Geschichte der ‚Neuen Zeit‘ verankerte Begriff ‚Nation‘ ersetzen durch einen anderen Begriff, ja eine andere Kategorie, die über das Geschichtliche hinauswies und ‚ewig‘ war – nämlich ‚Volk‘. ‚Volk‘ als Gegenbegriff zu ‚Nation‘ war überzeitlich, ebenso wie der Gegenbegriff zu ‚Staat‘ – nämlich ‚Raum‘. Mit ‚Volk und Raum‘ hatten Juristen und andere Intellektuelle in Deutschland und Österreich nach 1919 Instrumente an der Hand, um die im Versailler Vertrag, Art. 80 (Verbot der Vereinigung mit Österreich), festgelegten Begrenzungen des deutschen Staats und der deutschen Nation einfach zu überspielen. Die Kriterien des ‚liberalistischen‘ Ordnungsdenkens galten für sie nicht.Wenn sie dagegen verstießen, brauchten sie das gar nicht als Rechtsbruch zu empfinden. Sie konnten sich vielmehr suggerieren, an einer neuen Ordnung zu bauen, weil die alte ihre Gültigkeit verloren hatte. ‚Neue Ordnung‘, ‚ewige Ordnung‘, das ‚Gesetz der Ahnen‘ und anderes mehr: Wenn man das Schriftgut aus der Zwischenkriegszeit durchmustert, stößt man andauernd auf solche Ausdrücke und die damit verbundenen Vorstellungen. Das war nicht nationalsozialistisch. Die Nationalsozialisten hatten das nicht erfunden, sondern sie waren Mitläufer und Nutznießer eines älteren, breiten kulturellen Trends, den sie dann mit ihren spezifischen Ideologemen – Rasse, Kampf, Vernichtung – verbanden. Wie wir sahen, hatte schon um 1900 die Abscheu vor Beschleunigung und Wandel zugenommen und sich nach der Erfahrung des Krieges seit 1920 revolutionär verstärkt. Es begann eine Suche nach dem, was Hans Freyer nach dem Kriege „haltende Mächte“ genannt hat, und an dieser Suche beteiligte sich eine große Zahl, wenn nicht die Mehrzahl von Intellektuellen in Wissenschaft und Kulturbetrieb der deutschsprachigen Länder. Die Einfachheit des antihistoristischen Weltbilds und seine suggestive Kraft der Abgrenzung gegen die „Feinde des Deutschtums“ sicherten ihm Anhängerschaft bis in die 1960er Jahre hinein.⁴⁴ An zwei Beispielen soll zum Abschluss dieses ersten Punkts die Nutzung des antihistoristischen Weltbilds durch Hitler und den Nationalsozialismus illustriert werden. Das erste Beispiel bringt eine Vorstellung von Geschichte auf den Punkt, in der der historische Prozess, die Kategorie Entwicklung, keine Bedeutung mehr hat. Zur Eröffnung des Landtagswahlkampfs in Lippe am 4. Januar 1933 musste die NSDAP gegen den Verlust von Stimmen in den vorangegangenen Wahlen argumentieren, zumal die Presse der bürgerlichen Parteien von Wahlmüdigkeit und

 Hier liegt, nicht zuletzt, die Bedeutung der Studie von Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. Bonn 1996.

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vom Rückgang der NS-Bewegung schrieb. „Auch die Drohung mit der Wahlmüdigkeit kann uns nicht schrecken“, sagte Hitler in Detmold. „Es ist letzten Endes gleichgültig, wie viele Prozent des deutschen Volkes Geschichte machen. Wesentlich ist nur, dass die Letzten, die in Deutschland Geschichte machen, wir sind!“⁴⁵ Das zweite Beispiel betrifft die Kategorie ‚Fortschritt‘, die Hitler keineswegs negierte. Er betrachtete den Fortschritt allerdings im binären Bezug des Sozialdarwinismus als Bestandteil von Kampf, als Sieg im Kampf. Anders ausgedrückt, ging es bei Hitler um Fortschritt durch Zerstörung. 1928 sagte er in einer Rede, Fortschritt sei nur möglich durch Niederwerfung „alles Morschen, alles Schwächlichen, alles Kranken“.⁴⁶ Das konnte materiell und ideell aufgefasst und sowohl auf kranke, behinderte Menschen als auch auf Gesellschaftsordnungen, etwa des westlichen, demokratischen, ‚liberalistischen‘ Typs, bezogen werden. Aber die Aussage war unmissverständlich: Wenn alles Gestrige (= „Morsche“), Kranke, Schwache beseitigt ist, dann ist der Fortschritt erreicht – dann ist der Fortschritt zum Zustand geworden. Beides zusammen, das Stillstellen der geschichtlichen Entwicklung in einer ‚ewigen‘, ‚tausendjährigen‘ Ordnung und das Verständnis von Fortschritt als letztgültigem Kampf und Zerstörung, lässt „Ordnung durch Terror“ zu einer denkbaren Praxis werden.⁴⁷ Es bleibt festzuhalten und muss noch einmal betont werden, dass sowohl die Ablehnung des liberalen Fortschrittsgedankens als auch die antihistoristische Negation der Kategorie Entwicklung einen Grundzug des europäischen Ordnungsdenkens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bildeten. In Deutschland und Österreich galt das besonders markant, aber Faschismus und Nationalsozialismus waren weder die Erfinder noch die Protagonisten, sondern bloß die Nutznießer. Die Konturen von Ordnung in der ersten Zeitschicht des 20. Jahrhunderts ergaben sich aus dem Nachlassen und dem Verbindlichkeitsverlust des bürgerlichen Liberalismus der vorindustriellen Epoche einerseits und der Abwehr gegen die Vorstellung kontinuierlicher geschichtlicher Entwicklung durch permanenten Wandel und dauernde Beschleunigung andererseits, zumal beide im Ersten Weltkrieg vollständig delegitimiert worden waren. (2) Die zweite Zeitschicht des 20. Jahrhunderts erstreckte sich von 1930 bis 1975/80. Sie setzte mit dem Umbruch der Nachkriegsordnung in der Welt-

 Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932– 1945. 2 Bde. München 1965, hier Bd. I/ 1, S. 176.  Adolf Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen. 6 Bde. München 1992 – 2003, hier Bd. II/2, S. 757. Vgl. Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. 2. Aufl. Paderborn u. a. 1999, S. 56 – 64.  Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium. Bonn 2006.

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wirtschaftskrise 1929/30 ein. Damals scheiterten die internationale politischrechtliche Ordnung von 1919 und die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit. Beide waren nach einem Verständnis konzipiert, das – gemäß der Vision des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson – eine dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker und den Grundsätzen liberaler Politik verpflichtete Staatenwelt hervorbringen sollte.⁴⁸ Das Völkerrecht folgte den Grundsätzen der Rechtsförmigkeit und Gleichberechtigung in den Staatenbeziehungen. Wirtschaft und Finanzen waren international nach dem kapitalistischen Prinzip der Marktwirtschaft organisiert.⁴⁹ Die industrielle Produktion befand sich überwiegend auf dem technischen Stand der Zeit vor 1918, aber der Fordismus als neues Ordnungsprinzip hatte begonnen sich auszubreiten. Fordismus hieß: gleichförmige Fließbandproduktion von Massenware mit Arbeitskräften eines geringen Ausbildungsgrades. Hohe Bezahlung, um das extrem stark beanspruchte Arbeitstier Mensch am Fließband zu halten. Fordismus hieß obendrein, Massenware in den anonymen Käufermarkt hinein zu produzieren, und das bedeutete, die Gesellschaft hin zum Modell der Konsumgesellschaft zu öffnen.⁵⁰ Das alles hatte in den 1920er Jahren eingesetzt, breitete sich in den 30er Jahren in den USA aus, während es in Europa nur in ersten Ansätzen zur Geltung kam und vom Krieg stillgestellt wurde. Der Durchbruch in Westeuropa erfolgte dann um 1960.⁵¹ Mit dem Begriff ‚Fordismus‘ verbinden sich Bestimmungsmerkmale der Konturen von Ordnung innerhalb dieser zweiten Zeitschicht des 20. Jahrhunderts. Sie lassen sich zum einen mit dem Begriffspaar ‚Fortschritt und Planung‘ bezeichnen und zum andern mit ‚Struktur und Modernisierung‘. Kennzeichnend  Thomas J. Knock, To End All Wars. Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order. Princeton, NJ 1992; Manfred F. Boemeke/Gerald Feldman/Elisabeth Glaser (Hrsg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years. Washington D.C. u. a. 1998; Zara Steiner, The Lights that Failed. European International History 1919 – 1933. Oxford 2005.  Zur Rekonstruktion in den wichtigen kontinentaleuropäischen Ländern, die am Krieg teilgenommen und nicht vom Zerfall der östlichen Kaiserreiche erfasst worden waren, vgl. das nach wie vor gültige Werk von Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I. Princeton, NJ 1988.  Stiftung Bauhaus Dessau/RWTH Aachen (Hrsg.), Zukunft aus Amerika. Fordismus in der Zwischenkriegszeit. Dessau u. a. 1995; Meg Jacobs, Pocketbook Politics. Economic Citizenship in Twentieth-Century America. Princeton, NJ u. a. 2005; Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe. Cambridge, MA u. a. 2005.  Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000; Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1992; vgl. Christoph Deutschmann, Anglo-amerikanischer Consumerism und die Diskussion über Lebensstile in Deutschland, in: Berghahn,Volker R./Vitols, Sigurt (Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 154– 165.

Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts

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war die Vorstellung kontinuierlicher Entwicklung innerhalb eines festen, verbindlichen Rahmens, der durch den nationalen Staat, seine Gesellschaft und sein Industriesystem umschrieben wurde. Betrachten wir zunächst den ersten Aspekt, Fortschritt und Planung. Im Begriff ‚Fortschritt‘ seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise waren und blieben die Kennzeichen aus dem europäischen bürgerlich-liberalen 19. Jahrhundert ausgeblendet. Fortschritt brauchte nicht als Ausdruck von Geschichtlichkeit betrachtet zu werden. Fortschritt galt nicht als ideelles Muster, dem ein humanes Maß und eine optimistische Weltsicht eingeschrieben waren. Angesichts der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und des Fehlschlags einer liberalen Nachkriegsordnung war der Fortschritt jetzt zu einer technischen Möglichkeit geworden. In der Wirtschaftskrise seit 1930 wurde aus der technischen Möglichkeit eine wirtschaftliche Notwendigkeit, die in hohem Maß wissenschaftlich-technische Dynamik im Sinne dieses Fortschritts erzeugte. Entscheidend war die Verkopplung mit ‚Planung‘ als dem Zentralbegriff rationalen Expertentums, denn Planung wurde zum Axiom aller politischen und wissenschaftlichen Bürokratien, sobald sie sich der Modernisierung als Grundprinzip von Fortschritt verschrieben, ganz ungeachtet deren liberaler, nicht- oder antiliberaler Ausrichtung.⁵² Deshalb befanden sich Fordismus und Fortschrittsdenken nicht im Widerspruch zur antihistoristischen Idee von ‚ewiger Ordnung‘ und deren nationalsozialistischer oder stalinistischer Umsetzung in den Gewaltexzessen des Zweiten Weltkriegs.⁵³ Ebensowenig war ein fordistisch grundiertes Fortschrittsdenken an eine bestimmte politische Ordnung gebunden. Es konnte in einem parlamentarisch-demokratischen und sozialkulturell liberalen Umfeld genauso vorherrschen wie im faschistischen, nationalsozialistischen oder stalinistischen Umfeld. Das axiomatische Verständnis von Fortschritt und Planung begründete die „entfernte Verwandtschaft“⁵⁴ von Industriesystemen nach 1930 und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für etwa zwei Jahrzehnte zum Konstitutivum in den Gesellschaften der ‚freien Welt‘.

 Vgl. Harold Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880. London u. a. 1989, bes. die Kapitel 4– 6; Lutz Raphael, Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918 – 1945), in: Hardtwig, Wolfgang (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. München 2003, S. 327– 346; Klaus Gestwa, Technik als Kultur der Zukunft. Der Kult um die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, S. 37– 73.  Baberowski/Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror.  Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933 – 1939. München 2005.

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Fixieren wir diese Aspekte: Das Verständnis von Fortschritt innerhalb der zweiten Zeitschicht benannte eine Norm für das technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Handeln im Industriesystem. Die Norm war unabhängig von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verfasstheit. Fortschritt wirkte als technokratisches Projekt und trug das bürokratische Mantra ‚Planung‘ in sich. Er wurde darüber zur Bestimmung des Experten, der die Entwicklung einer Gesellschaft, eines politischen Gemeinwesens beeinflusste, wenn nicht steuerte. Die Wissenschaft von der Steuerung sozialtechnischer Prozesse, die Kybernetik, bildete den Inhalt jener Hülle mit dem Etikett ‚Fortschritt‘, und der so verstandene Fortschritt konstituierte Ordnung.⁵⁵ Nun zum zweiten Aspekt, Struktur und Modernisierung. Die skizzierte Ordnung wurde zeitgenössisch begriffen als komplexes soziales System, das beherrschbar und steuerbar war, sofern und solange es als struktureller Zusammenhang, als ‚Struktur‘, begriffen wurde und nicht als Konfiguration individueller Gruppen, Milieus oder Interessen. Eine gesellschaftliche Ordnung als Struktur zu betrachten, war, wie schon angedeutet, an die Voraussetzung gebunden, dass ein Rahmen gegeben war, innerhalb dessen der strukturelle Zusammenhang wirksam werden konnte. Diesen Rahmen boten entweder ein Staat oder ein Staatenbündnis, aber auch eine Wirtschaftskonföderation. In den 1930er und 40er Jahren existierte ein solcher Rahmen in Gestalt der USA⁵⁶ oder, wie kurzfristig auch immer, der nationalsozialistischen europäischen Großraumordnung Westeuropas. Ansatzweise galt das auch für die Sowjetunion. In den 1950er Jahren bildeten die Folgeprodukte dieser Konfiguration den prägenden, strukturbildenden Rahmen der Nachkriegszeit. Das waren zum einen die USA im westlichen Bündnis des Nordatlantikpakts und des Internationalen Währungsfonds (NATO und IMF). Zum andern war es die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als Resultat sowohl des Marshall-Plans als auch der französischbelgischen und deutschen Ansätze zur Begründung eines westeuropäischen Wirtschaftsgroßraums während des Zweiten Weltkriegs. Zum Dritten dienten der

 Pierre Bertaux, Denkmaschinen, Kybernetik und Planung, in: Jungk, Robert/Mundt, Hans Josef (Hrsg.), Der Griff nach der Zukunft. Planen und Freiheit. München 1964, S. 70 – 84; Loren R. Graham/Kenneth Sayre/Hans M. Schäfer, Kybernetik, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. 6 Bde. Freiburg im Breisgau u. a. 1969, Bd. 3, S. 1266 – 1300; Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949 – 1974. Göttingen 2005, S. 197– 214.  Alan Brinkley, The New Deal and the Idea of the State, in: Fraser/Gerstle, The Rise and Fall of the New Deal Order, S. 85 – 121.

Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts

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Warschauer Pakt und der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als Rahmenordnung sowjetischen Typs für Fortschritt, Planung und Modernisierung.⁵⁷ Der Zusammenhang zwischen Ordnung und Struktur, zwischen Ordnungsvorstellungen und Strukturalismus verweist auf das normative Element, das die zweite Zeitschicht charakterisierte. Wenn Fortschritt nicht mehr als Entwicklung mit humanem Maß gedacht wurde, aber doch wieder – gegen das antihistoristische Konstrukt von Gesetz und ewiger Ordnung – als ein Prozess infolge menschlichen, an eine konkrete Zeit gebundenen Handelns, dann war er offen für unterschiedliche, auch entgegengesetzte weltanschauliche Begründungen. Deswegen gehört die Kategorie Modernisierung in diesen Zusammenhang. Sie bildete spätestens dann das normative Element dieser Zeitschicht, seit sie als maßgebliche Sozialtheorie das Handeln der Experten legitimierte. In den vom Antihistorismus geprägten Jahrzehnten hatten sich Expertenkultur und Handlungsmuster aus den ideologischen Annahmen einer zu schaffenden Ordnung legitimiert – als rassereine Siedlergesellschaft im Osten, als homogene Nationalität im Vielvölkerreich Sowjetunion, als eugenisch optimierte Bevölkerung in Schweden oder anderswo. Damals hatten Experten mit einem Selbstverständnis gearbeitet, welches Gestaltung und Entwicklung dahin verstand, ein ideologisch konstruiertes Ziel als Endziel zu erreichen. Jetzt, in der strukturalistischen Phase, war die Zukunft wieder offen für das gestalterische Tun der Experten, und das Ziel, dem sie zustrebten, bedeutete nicht gleichzeitig das Ende des zu gestaltenden Prozesses, sondern einen optimalen Zustand, der, wenn er einmal erreicht sein würde, neue Perspektiven auf weitere Optimierung eröffnen mochte. Gleichzeitig aber – und hier sehe ich den ideengeschichtlichen Ort der Modernisierungstheorie – war das gestalterische Tun kompatibel mit unterschiedlichen, ja feindlichen weltanschaulichen Orientierungen. Die Modernisierungstheorie entsprach der ideologischen Rivalität im OstWest-Konflikt, weil sie einerseits nach der Überwindung des Antihistorismus am Ende des Zweiten Weltkriegs jetzt erneut Prozesshaftigkeit als potentiell unendliche Geschichte zu denken erlaubte und damit die Zukunft als permanent gestaltbar, auch umgestaltbar erscheinen ließ – als offenen Prozess, nicht als ‚ewigen‘ Endzustand. Andererseits war die Modernisierungstheorie offen für

 Alan S. Milward, The Reconstruction of Western Europe 1945 – 1951. London 1984; Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1945 – 1952. Cambridge 1987; John Gillingham, Coal, Steel, and the Rebirth of Europe 1945 – 1955. The Germans and French from Ruhr Conflict to Economic Community. Cambridge 1991; Harold James, Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914– 2001. München 2004, Kap. 8 über den Sozialismus in Osteuropa.

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I. Die Ordnung der Zeitgeschichte

weltanschauliche Positionen aus dem jeweils gegnerischen Lager.⁵⁸ In den freien Gesellschaften des westlichen Lagers kam das naturgemäß stärker zur Geltung als in den verriegelten Gesellschaften des sowjetischen Blocks. Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘ wirkte gleichwohl von 1948 bis 1990 eine Rivalität als treibende Kraft, eine Rivalität um den angemessenen Weg in die sozialkulturell, machtpolitisch und technisch-wissenschaftlich fortschrittliche Moderne,⁵⁹ um Überlegenheit in der Modernisierung.⁶⁰ Mithin waren in der Entwicklung der zweiten Zeitschicht die Zukunft wieder offen und der Fortschritt potentiell unendlich. Die damit verknüpfte Vorstellung von Prozesshaftigkeit bedurfte des festen, verbindlichen Rahmens, um ‚Ordnung‘ denkbar sein zu lassen. Deshalb sehe ich die Bestimmungsmerkmale von Ordnung in dieser Zeitschicht – Fortschritt und Planung, Struktur und Steuerung und, alles in allem, ‚Modernisierung‘ – an die Geltung des festen Rahmens gebunden, den nach dem Zweiten Weltkrieg das Blocksystem im Ost-West-Konflikt geboten hat, bevor im Zuge der Entspannungspolitik blockübergreifend die ‚Zusammenarbeit‘ in Europa den Vorrang erhielt und in der „Strategic Defense Initiative“ sich das Modernisierungspotential der USA als uneinholbar überlegen erwies.⁶¹ Bezieht man diese Diagnose auf das Thema unseres Bandes, auf Ordnungsdenken und social engineering in bestimmten Phasen des 20. Jahrhunderts, fällt Licht nicht zuletzt auf die Übergänge zwischen dem Rekurs auf stabile Ordnungen (‚Rahmen‘) einerseits und auf Modernisierung und Modernisierungstheorie andererseits (‚Fortschritt‘ und ‚offene Zukunft‘). Denn vielfach versuchten Experten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Kontingenz freizusetzen, das Geschehen aber zugleich steuernd im Griff zu behalten. Sie propagierten dies als Notwendigkeit vor dem Hintergrund des Rationalitätsdiskurses im späten 19. Jahrhundert. Deshalb wollten sie ihre Ordnungsziele graduell an die sich permanent wandelnde Gesellschaft anpassen, indem sie in bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichen den Wandel bewusst dynamisierten, während sie ihn in anderen Teilbereichen völlig ignorierten. Man darf das als den Versuch deuten, zwischen ‚Fortschritt‘ und ‚Struktur‘ zu ver-

 Wolfgang Zapp (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt am Main u. a. 1991, insbesondere Plenum 5 und Plenum 7.  Siehe Anselm Doering-Manteuffel, Im Kampf um ‚Friedenʻ und ‚Freiheitʻ. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt in diesem Band, S. 281– 305.  Vgl. als Fallstudie Karsten Werth, Ersatzkrieg im Weltraum. Das US-Raumfahrtprogramm in der Öffentlichkeit der 1960er Jahre. Frankfurt am Main u. a. 2006.  Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998; John Lewis Gaddis, We Now Know. Rethinking Cold War History. Oxford 1997.

Konturen von ‚Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts

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mitteln.⁶² Viele Erscheinungsformen des mit dem social engineering verkoppelten Ordnungsdenkens sind hier anzusiedeln. So gesehen, ließen sie sich verstehen als Handlungs- und Deutungsmuster einer kontrollierten, aber nicht zum Stillstand gebrachten Veränderungsdynamik, die der Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung dienen sollte, anstatt durch Gewaltexzesse ‚neue‘ und ‚ewige‘ Ordnung herstellen zu wollen. Sofern man Modernisierung verstehen kann als geplanten und gesteuerten Fortschritt zur Optimierung und Adjustierung vorhandener Strukturen, bindet man diese Diagnose an die Dauer der von Zygmunt Bauman so genannten ‚schweren Moderne‘. Man bindet sie an die Industriestruktur mit montanindustriellem Schwerpunkt, an die gesellschaftliche Dominanz der Arbeiterkultur des ‚Malochers‘ in der maschinell-manuellen Fertigung sowie an die Geltung des Fordismus als Produktionsregime.⁶³ Das endete im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren. (3) Die dritte Zeitschicht des 20. Jahrhunderts deutete sich in den 1960er Jahren an und wurde seit Mitte der 1970er allmählich als etwas anderes, neues, als ‚Krise‘ wahrgenommen. Um 1980 war sichtbar geworden, dass der feste politische und soziale Rahmen für Expertenkultur, Wirtschaft und Regierung seine Bindekraft verlor. Sozialökonomische Strukturen und die Verbindlichkeit strukturalistischer Theorie erodierten. Im Gegenzug begann die Konjunktur des Poststrukturalismus. Schon seit den 60er Jahren entwickelte sich die Theorie der Poststrukturalisten aus der frühen Einsicht, dass Strukturoptimierung durch geplanten Fortschritt kein Ordnungskonzept auf Dauer sein würde.⁶⁴ Bald nach 1970 brachen die materiellen Grundlagen für die Haltbarkeit des fordistischen Produktionsregimes nacheinander weg. 1971 kündigte die Regierung der Vereinigten Staaten das System von Bretton Woods aus dem Jahr 1944 mit den festen Wechselkursen des Dollar. 1973 folgte die erste Verteuerung des Erdöls, die in sich eine Reaktion nicht nur auf das Ende von Bretton Woods war, sondern ebenso auf den israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg von 1967, den künftige Historiker wohl als eines der wichtigsten Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als ein Ereignis mit strukturwandelnder Wirkung, einschätzen dürften. 1975 begann die Arbeitslosigkeit infolge von Produktions- und Absatzkrisen bei Kohle und Stahl, im Schiffsbau und in der Textilindustrie deutlich anzusteigen. Es waren die Branchen des fordistischen Produktionstyps.

 Vgl. Peter Vogt, Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne. Weilerswist 2002.  Bauman, Flüchtige Moderne, S. 67 ff., 70, 136 ff. und passim.  Statt weiterer Nachweise vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 72– 76.

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Im Verlauf der 80er Jahre kamen dann Politikmodelle zum Durchbruch, die die seit 1947/48 beschworenen Konturen von Ordnung aus der zweiten Zeitschicht beiseite schoben. Das geschah durch den ideologischen Widerruf bis dahin gültiger Ordnungsvorstellungen und durch wirtschaftspolitische Maßnahmen. Am bekanntesten wurde der Wechsel des politischen Stils in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, als 1979 Margaret Thatcher und 1980 Ronald Reagan die Regierung übernahmen. Beide standen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Denkschulen nahe, die schon seit der frühen Nachkriegszeit jede wirtschaftstheoretische Stärkung staatlicher Kompetenz, des staatlichen Rahmens und der sozial- wie auch der politökonomischen Strukturen im Kontext des fordistischen Produktionsregimes und keynesianisch inspirierter Globalsteuerung furios bekämpften.⁶⁵ Beide zogen alsbald breite Zustimmung aus Wirtschafts- und Finanzkreisen und breite Ablehnung aus der intellektuellen Öffentlichkeit und den Sozialwissenschaften auf sich. Insbesondere Margaret Thatchers Rhetorik schürte Abneigung bis zum Hass, auch wenn die Politik der britischen Regierung weit weniger Wandel bewirkte, als die Premierministerin beschwor. Die Abneigung insbesondere aus den Sozialwissenschaften bündelte sich in der Wiedergabe von Äußerungen, die infolge von Verkürzung als Kriegserklärung an die soziale Ordnung und die Ordnungskonzeption des Strukturalismus verstanden werden mussten. Bekannt ist das Diktum Zygmunt Baumans, des marxistischen Soziologen mit biographischem Hintergrund aus dem Polen der Nachkriegszeit, der ohne Quellennachweis die „unrühmliche Floskel“ Margaret Thatchers zitiert: „There is no such thing as society.“ Das war, sagt Bauman, „zugleich eine scharfsichtige Beobachtung zum Wandel des Kapitalismus, war Absichtserklärung und selbsterfüllende Prophezeiung: Auf diesen Schlachtruf folgte der Abbau schützender normativer Netzwerke, wodurch sich die Umsetzung dieser Programmatik beschleunigte. No society – keine Gesellschaft, das bedeutet das Ende der Utopie und der Dystopie zugleich.“⁶⁶ Was Bauman hier angreift, erschließt sich ohne Kenntnis des argumentativen Kontextes scheinbar spontan: Thatcher argumentierte gegen den Sozialstaat, und sie schien die Sozialbindung von Eigentum zu widerrufen, indem sie für die Freisetzung des individuellen Gewinnstrebens auf Kosten der anderen, der Gesellschaft, plädierte. Aber die Premierministerin hatte gar nicht dem schieren Egoismus des Einzelnen, der Gier und dem Gewinnstreben der Profiteure im neuen Finanzmarkt-Kapitalismus das Wort geredet, sondern an einen Gedanken des christlich-demokratischen, ursprünglich im Katholizismus verankerten Sub-

 Ibid., S. 15 – 56.  Bauman, Flüchtige Moderne, S. 79.

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sidiaritätsprinzips erinnert, das zeitgleich der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl als „Hilfe zur Selbsthilfe“ bezeichnete. Thatcher appellierte an die primäre soziale Verantwortung der Familie, die sie als Keimzelle der Nation auffasste. In einem Interview mit ‚Womanʼs Own Magazine‘ führte sie 1987 aus: „I think we’ve been through a period where too many people have been given to understand that if they have a problem, it’s the government’s job to cope with it. ‚I have a problem, get a grant.‘ ‚I’m homeless, the government must house me.‘ They’re casting their problem on society. And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look for themselves first. It’s our duty to look after ourselves and then, also to look after our neighbour. People have got the entitlements too much in mind, without the obligations. There is no such thing as entitlement, unless someone has first met an obligation.“⁶⁷

Doch neben den Politikmodellen kamen in den 1980er Jahren auch die technischen Konzepte zum Durchbruch, die eine Delegitimation des strukturalistischen Denkstils materiell stützten. Die Negation von Strukturen und die Abkehr vom Denken in Strukturen respektive strukturellen Bindungen erfolgte durch die Digitalisierung der Kommunikation, Information und Produktion. Wo der Mikrochip als neuer Grundstoff der Industrieproduktion die alten, schweren Grundstoffe wie Kohle, Öl, Eisenerz und anderes ablöste, kam auch die ‚schwere Moderne‘ an ihr Ende. Der Wandel im industriellen Bereich brachte 1989 die sozialistischen Volkswirtschaften zum Einsturz, weil sie es seit 1973/75 nicht geschafft hatten, auf den beginnenden Strukturbruch angemessen zu reagieren. Nachdem im Wandel des Industriesystems der materielle Sinn des bisherigen festen Rahmens langsam in Vergessenheit geriet, verschwand der politische Sinn mit dem Zerfall des Ostblocks fast über Nacht. Zur selben Zeit und stimuliert durch die politischen Ereignisse seit 1989/90 wurde die Struktur westlicher Industriegesellschaften durch die technische Entwicklung und die alsbald damit verkoppelte neue Wirtschaftsideologie lockerer. Die Rhetorik der neuen Ideologie kreiste um Begriffe wie Freiheit oder Freizügigkeit. Parallel zum Verschwinden des festen Rahmens der politischen Blöcke verstärkte sich im Innern von Gesellschaft und Wirtschaft international die seit den 80er Jahren in Gang befindliche Entriegelung vormals fester Strukturen. Dazu

 Margaret Thatcher, Interview mit Douglas Keay, in: Womanʼs Own Magazine, 23.09.1987, URL: https://www.margaretthatcher.org/document/106689, zuletzt eingesehen am 07.11.18. Ich danke Dominik Geppert (Berlin) für den Hinweis auf diese Quelle. Vgl. auch Dominik Geppert, Maggie Thatchers Roßkur – Ein Rezept für Deutschland? Berlin 2003; Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 47– 52.

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gehörte die Entriegelung des internationalen Finanzsystems. Dazu gehörte ebenso die Entriegelung von Lebensformen und Lebensstilen, die in der Zeit der ‚schweren Moderne‘ seit dem Ersten Weltkrieg oder den 30er Jahren geprägt worden waren. Von Mittelengland und Wales über Nordfrankreich, Lothringen, Saarland, Luxemburg, Belgien bis ins Ruhrgebiet verschwand nicht nur die Montanindustrie als das materielle Symbol der ‚schweren Moderne‘, sondern mit ihr auch die Industriekultur des Montanzeitalters.⁶⁸ Familienzusammenhang, Vereinsleben und kollegiale Bindungen veränderten sich infolge von Arbeitslosigkeit des Familienvaters, neuer Ausbildungschancen der Kinder – sofern sie denn die Chance erhielten, die ihnen in der Hochphase des sozialplanerischen Strukturdenkens in Aussicht gestellt worden war.⁶⁹ Der Arbeitsplatz des Sohnes oder der Tochter musste nicht mehr statisch gebunden sein an das Industriewerk oder das Kontor, in deren Nähe die Menschen wohnten. Dieses eine Beispiel mag den beschleunigten Prozess von Individualisierung zeigen, der – nachdem die ‚neuen sozialen Bewegungen‘ schon längst einen kulturellen Wandel in der Wohlstandsgesellschaft angezeigt hatten – die Menschen in ihre ‚Freiheit‘ geradezu hineinstieß.⁷⁰ Auf die Negation von ‚Struktur‘, die sich ab 1980 abzeichnete, reagierten Intellektuelle mit Kaskaden von Theorien: Risikogesellschaft, reflexive Moderne, flüchtige Moderne. Wichtig sind der eingangs erwähnte Begriff und das Theoriegerüst der ‚Netzwerkgesellschaft‘. Es wurde durch Manuel Castells in der Auseinandersetzung mit der technischen Entwicklung des Internet zu einem soziologischen Modell zusammengefügt.⁷¹ Die Gesellschaft wurde als Netzwerk gesehen und nicht mehr als festgefügte Struktur. Die Ursachen waren vielfältig. Im Zuge des wirtschaftlichen Wandels und der politischen Rhetorik von Freiheit und Selbstverantwortung wuchsen die Spielräume für jeden kreativen Menschen. Zugleich wurden die sozialen Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität unterspült. Staatliche Sicherungssysteme wurden abgebaut, und die Verantwortung für die Gesellschaftspolitik, die der Staat gerade erst im Zuge von Planung und Modernisierung an sich gezogen hatte, wurde

 Zum Verschwinden der Industriekultur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem „Abschied vom Malocher“ siehe Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in diesem Band, S. 392– 423.  „There is no such thing as entitlement“, würde Thatcher hier kommentiert haben.  Vgl. Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 2007; Sennett, Der flexible Mensch; vgl. auch Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt am Main 1994; Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 45 – 56, S. 84– 89.  Vgl. ibid., S. 80 – 84.

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privatisiert. Darin liegt denn auch das politische Problem. Es ging nicht so sehr darum, Leistungspflichten der öffentlichen Hand und Leistungsansprüche der Menschen zu verringern, weil sie nicht mehr finanzierbar waren; diese Notwendigkeit war gesellschaftlich bald unumstritten. Es ging vielmehr um den Widerruf einer Verpflichtung, die sich die Politik selbst auferlegt hatte, und die jetzt, gestützt durch wirtschaftsideologische Meinungstrends, dem Gewinninteresse des Investors geopfert wurde.⁷² Das politische Problem war folglich nicht zuletzt ein ethisches, denn die Leistungspflicht des Staats aus dem Geist der Sozialplanung und Modernisierung war oftmals in der Politik der 60er Jahre mit dem Gedanken der Sozialbindung des Eigentums verwoben. Diese Sozialbindung wurde nun seitens der Politik widerrufen, und im gleichen Atemzug wurde die materielle Substanz solcher Maßnahmen privatem Gewinnstreben zugänglich gemacht. Die moralische Belastung solcher Politik trieb sozialwissenschaftliche Beobachter auf die Suche nach einem ‚dritten Weg‘.⁷³ Einige Bemerkungen zum Schluss: Für unsere Überlegungen über die Konturen von Ordnung im 20. Jahrhundert scheint mir durchgängig die Frage nach ‚Fortschritt‘ und ‚Zukunft‘ besonders wichtig zu sein. Vergleichbar der Zeit um 1900 waren die Jahrzehnte von 1990 bis 2008 von einem Geschehen geprägt, das sich immer weiter beschleunigte und viele Menschen dahin brachte, aus dem rasenden Zug der Zeit aussteigen zu wollen. Verweigerung gegenüber dem technischen oder institutionellen Wandel war eine Reaktion, Flucht in übergeschichtliche Sinnwelten eine andere, die – damals wie heute – von der Esoterik bis zum Fundamentalismus reichen. Neu hinzu kommt der Abmarsch in die virtuelle Welt, dessen sozialpsychologische Auswirkungen in der Breite der Gesellschaft noch gar nicht genauer zu erkennen sind. Bei alledem fällt auf, dass in Zeiten des beschleunigten Wandels niemand von ‚Fortschritt‘ sprechen will. Der Wandel vollzieht sich vielmehr so rasant, dass die Semantiken des Fortschrittsbegriffs – die klassisch liberale des kontinuierlichen Fortschritts mit humanem Maß und die strukturalistische, wonach geplanter Fortschritt Modernisierung ermögliche – keine Bedeutung mehr haben. Der Fortschritt ist nicht abgeschafft, sondern wird schlicht nicht mehr beachtet. Kehrt man zur Theoriegeschichte des Liberalismus und Historismus zurück, wird man Anhaltspunkte für die These finden, dass Fortschritt und Entwicklung innerhalb der dritten Zeitschicht des 20. Jahrhunderts wiederum zeitweise nicht zusam Vgl. Keith Dixon, Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus. Konstanz 2000.  Vgl. Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt am Main 1999; Anthony Giddens (Hrsg.), The Global Third Way Debate. Cambridge 2001; sowie insgesamt Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 76 – 79 und passim.

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mengesehen wurden. Über den Fortschritt brauchte man offenbar solange nicht nachzudenken, wie die Entwicklung so schnell verlief, dass dahinter keine Zukunft zu erkennen war. Wo immer im hastigen Voranschreiten nicht nach ‚Fortschritt‘ gefragt wird, fehlt eine rational begründete Idee von Zukunft. Dann wird die ‚Ordnung‘ offen für konkurrierende Sinnwelten, die sich der intellektuellen Debatte entziehen.

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Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts Seit der Wende zum 21. Jahrhundert wirken die Prozesse der europäischen Währungsintegration und der Globalisierung auch auf die Geschichtswissenschaft ein. Wahrnehmungshorizonte verschieben sich, Epochengrenzen und politische Zäsuren werden auf ihre Gültigkeit überprüft. So steht insbesondere die Zeithistorie vor der Herausforderung, ihren Blick auf das 20. Jahrhundert mit den Veränderungen der Gegenwart in Einklang zu bringen. Die Geschichte Europas wird zunehmend in ihren Verflechtungen und weit weniger als Addition paralleler nationaler Entwicklungen beschrieben. Die historische Analyse der Dekolonisierung rückt die soziopolitischen und kulturellen Verschränkungen zwischen Ländern der ehemals „Ersten“ und „Dritten Welt“ ins Zentrum, anstatt auf die „Modernisierung“ der früheren Kolonialvölker abzuheben. Die These einer „Provinzialisierung Europas“¹ respektive der westlichen Ordnungsidee, für die „Europa“ steht, verweist auf den Anspruch außereuropäischer Historiker, die Hierarchie der Weltregionen neu zu bestimmen. Von diesen Forschungstrends kann die Sicht auf die Geschichte der Nationalstaaten in Europa nicht unbeeinflusst bleiben. Nach wie vor stellt diese Geschichte den Rahmen für die zeithistorische Urteilsbildung dar, auch weil die Weltkriege und deren Folgen im „Zeitalter der Extreme“² aus den Machtansprüchen rivalisierender National- und Hegemonialinteressen entstanden. Gleichwohl, das Zeitalter der Nationalstaaten ist vorbei und mit ihm eine kulturhistorische Epoche, in der die Geschichtswissenschaft die Vergangenheit ganz überwiegend im Horizont der Geschichte des eigenen Landes aufgehoben sah. Wirtschaft, Handel, Diplomatie oder kulturelle Verflechtungen wurden von den jeweiligen nationalen Gegebenheiten her beurteilt, und im fachwissenschaftlichen Diskurs hatte die Frage nach übergeordneten Veränderungen und den transnationalen Triebkräften des Wandels in verschiedenen nationalen Gesellschaften lange Zeit nur geringe Bedeutung. Merkdaten und Zäsuren blieben rückgebunden an die Politikgeschichte des einzelnen Staates. In Schul- und Handbüchern zur deutschen Geschichte markieren sie festgefügte, voneinander klar unterscheidbare Zeitabschnitte. Je nach Bedarf können diese als scheinbar eigenständige historische Epochen aus dem geschichtlichen Kontinuum heraus Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton, NJ u. a. 2000.  Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. https://doi.org/10.1515/9783110633870-002

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gelöst und gesondert betrachtet werden. Die wilhelminische Epoche, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg, die Besatzungszeit und die Jahrzehnte der Zweistaatlichkeit erscheinen dann als Zeitabschnitte, die chronologisch gereiht sind, ohne dass Kontinuitäten, strukturelle und generationelle Verflechtungen zwischen ihnen sichtbar gemacht werden müssten.³

Die transnationale Dimension von Nationalgeschichte und das Postulat dreier Zeitbögen Wie lässt sich nun die Nationalgeschichte fassen, ohne dass die Grenzen des Landes zu Grenzen der Erkenntnis werden? Wie lässt sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Brüchen und Zäsuren so in den Blick nehmen, dass auch dauerhafte Grundkonstellationen und Kontinuitätslinien sichtbar werden? Historische Basisprozesse im 20. Jahrhundert wie der beschleunigte soziale Wandel, die Dynamik technischer Modernisierung oder die Entstehung ideeller Ordnungsentwürfe mit dem Anspruch, solch tiefgreifende Veränderungen zu steuern, weisen eine transnationale Dimension auf. In diese sind die unterschiedlichen nationalen Entwicklungen eingelagert. Die Basisprozesse vollziehen sich im europäischen und europäisch-atlantischen Horizont; erst davor werden die Konturen der deutschen Geschichte in ihren transnationalen Bindungen und ihren nationalen Besonderheiten sichtbar. Strukturelle Grundmuster und ideelle Ordnungsentwürfe, die das Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft transnational formatieren, bilden sich allmählich, anfangs ganz unauffällig, heraus und bleiben, wenn sie Dominanz gewonnen haben, für einige Jahrzehnte gültig. Sie formen Zeitbögen, welche die Zäsuren des Jahrhunderts überwölben

 Das vielleicht prominenteste Beispiel ist die über lange Jahre praktizierte „Verinselung“ des Dritten Reichs, weil sie eine Voraussetzung bildete für das vergangenheitspolitische Schweigen in der Nachkriegszeit. Doch auch die Unterteilung des 20. Jahrhunderts in eine „Zeitgeschichte vor 1945“ und eine „Zeitgeschichte nach 1945“ diente nicht zuletzt dem Zweck, den Wiederaufbau in Westdeutschland und die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte in hellem Licht, ohne „lange Schatten“, beschreiben zu können. SBZ und DDR wurden und blieben bis 1989 weitgehend abgespalten. Vgl. Martin Broszat, Eine Insel in der Geschichte? Der Historiker in der Spannung zwischen Verstehen und Bewerten der Hitler-Zeit, in: Broszat, Martin, Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. München 1988. S. 208 – 216, hier S. 215; Anselm Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41, 1993, S. 1– 29; Peter Graf Kielmansegg, Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Berlin 1989.

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und Bezüge zwischen den Geschehnissen vor und nach einer Zäsur herstellen können. Diese Zeitbögen ermöglichen die sinnhafte Verbindung zwischen Ereignissen und Basisprozessen. Das 20. Jahrhundert war von drei großen Konflikten geprägt, die sich jeweils als Machtkampf um die Durchsetzung von soziopolitischen und wirtschaftlichen Ordnungsformen verstehen lassen. Die Konkurrenz der jeweiligen Ordnungskonzepte war darin so grundsätzlich, dass die Zeitgenossen eine Konvergenz der konfligierenden Modelle ausschlossen. Diese drei Konflikte waren der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg. Der Erste Weltkrieg bildete einen Machtkonflikt zwischen den monarchischen Staaten des deutschsprachigen Mitteleuropa einerseits und Großbritannien andererseits. Großbritannien ist hier in einem ökonomischen und kulturellen Verständnis gemeint, sowohl als British Empire als auch als angloatlantischer Partner der USA. Frankreich war im Ersten Weltkrieg militärischer Gegner der Deutschen und das Schlachtfeld der Westfront, weit weniger aber der Träger einer alternativen politisch-kulturellen Ordnungsidee. Für Russland galt ähnliches, zumal das Zarenreich vorzeitig kollabierte und die Bolschewiki nach der Revolution 1917 umgehend Frieden erstrebten. Daher ging es 1914 bis 1918 im Kern um einen deutsch-englischen Machtkampf. Hier entstanden die Blaupausen des angloatlantischen Hegemonialkonzepts, das für das 20. Jahrhundert bestimmend werden sollte. Der Vertrag von Versailles eröffnete freilich den Verlierern beträchtlichen Handlungsspielraum. Er bot dem Deutschen Reich die Möglichkeit, sich wirtschaftlich, politisch und ideologisch neu zu festigen. So konnte die Republik von Weimar den westlichen Demokratien als potentieller Partner begegnen, um innerhalb des siegreichen Ordnungssystems die nationalen Interessen wahrzunehmen, aber das Deutsche Reich konnte die Siegermächte auch als erklärter Feind aus einer Position der Stärke bedrohen, wie es nach 1933 der Fall war. Der Zweite Weltkrieg, ja überhaupt die Zeit des Dritten Reichs, war von deutscher Seite ein Kampf gegen den atlantisch dominierten liberalen Westen – ein Kampf, der mittels Unterwerfung und Ausbeutung Osteuropas sowie der Errichtung eines „europäischen Großraums“ siegreich bestanden werden sollte. Der damit verbundene rassenideologische Vernichtungskrieg galt der Schaffung eines antiwestlichen Imperiums der völkischen Homogenität, das als „Lebensraum“ im Kampf gegen die bolschewistische Sowjetunion zu erobern war. Von angloamerikanischer Seite wurde dieser Krieg mit dem Ziel geführt, den Gegner bis zur bedingungslosen Kapitulation niederzukämpfen, um den Fehler von 1918, einen bloßen Waffenstillstand, nicht zu wiederholen. Erst dann würde eine tragfähige Neuordnung in Mitteleuropa aus der alleinigen Souveränität der Sieger vorgenommen werden können. Solange dieses Ziel nicht erreicht war, musste das „Problem Stalin“ in der Anti-Hitler-Koalition heruntergespielt und die Macht-

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ausweitung der UdSSR in Ostmitteleuropa geduldet werden. Nach 1945 erfolgte die Neuordnung des westlichen Deutschlands sowie Westeuropas gemäß dem hegemonialen Konzept der USA, das seit 1942 in Washington mit Hilfe europäischer Emigranten entwickelt und teilweise auch mit den Briten abgestimmt worden war. Der Marshall-Plan von 1947 bildete das wichtigste Instrument, um das atlantische Ordnungsmodell im Zuge des materiellen Wiederaufbaus zur Geltung zu bringen und es gegen das sowjetische Imperium zu homogenisieren. Der Kalte Krieg sah die eine Hälfte Deutschlands auf der Seite des amerikanisch dominierten liberalen Westens und die andere Hälfte auf der Seite des antiliberalen Blocks der staatssozialistischen Diktaturen. Jenseits des „Eisernen Vorhangs“ wurde die Feindschaft zum Westen ideologisch als Kampf gegen den „Imperialismus“ umdefiniert und propagandistisch weitergeführt. Nach vier Jahrzehnten der Blockrivalität und eines scheinbaren Gleichgewichts der Abschreckung brach der Ostblock schließlich aus wirtschaftlichen Gründen zusammen, nachdem die ideologische Bindekraft des Sozialismus in seiner marxistisch-leninistischen Spielart schon seit mehr als einem Jahrzehnt erschöpft gewesen war. Dreimal – 1918, 1945, 1989/90 – triumphierte das Ordnungsmodell des liberalen Westens über einen Gegner, der den Anspruch erhoben hatte, es niederzuringen. Durch jeden Krieg und Sieg veränderte sich dieses Ordnungsmodell innerhalb seines ideellen Rahmens, während der Rahmen selbst – Freiheit der Wirtschaft und Freiheit der staatsbürgerlichen Selbstbestimmung, kurz: Marktwirtschaft und Demokratie – normativ gültig blieb. Weder der Erste Weltkrieg noch der Zweite Weltkrieg noch der Zusammenbruch des Ostblocks mit dem Ende des Kalten Kriegs waren bloße Zäsuren in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern sie wirkten auch als Katalysatoren bereits in Gang befindlicher Veränderungen. Der Kampf um die Durchsetzung oder Überwindung des angloatlantischen Modells erweist sich mithin als ein Ringen um die Verwirklichung dieser spezifischen Form von liberaler Ordnung als hegemoniales Prinzip. Das wurde mit dem Ersten Weltkrieg zum Grundkonflikt der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und blieb es bis zum Mauerfall. In diesen Grundkonflikt war die Geschichte des Kommunismus eingelagert, dessen säkulare Bedeutung auch aus den Spielarten des Antikommunismus und nicht allein aus der Geschichte der KPD oder der DDR zu erschließen ist. Insofern lenkt die Konzentration auf das Ringen um die normative Geltung von sozialökonomischen und kulturellen Ordnungsmustern den Blick auf Steuerungselemente in den euroatlantischen Industriegesellschaften von der Hochindustrialisierung bis zum digitalen Finanzmarktkapitalismus. Solche Steuerungselemente lassen sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen Ländern des nordatlantischen Wirtschaftsraums finden. Vor diesem Hintergrund

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wird es möglich, die spezifisch deutsche Form der Teilhabe am oder der Gegnerschaft zum westlich-liberalen Ordnungsmodell herauszuarbeiten. Der hier vorgeschlagene Ansatz einer Gesellschaftsgeschichte handlungssteuernder Ideen erlaubt es, das Augenmerk auf Vorstellungen und Ordnungskonzepte zu richten, die im sozialen und politischen Geschehen formende Wirkung entfalten. Als heuristisches Instrument dient das Postulat dreier Zeitbögen, welche die Konflikte und Zäsuren des 20. Jahrhunderts überwölben. Zeitbögen werden verstanden als Zeitspannen von jeweils mehreren Jahrzehnten, die sich überlappen können, aber durch markant unterschiedliche Vorstellungen von der Ordnung in Gesellschaft und Staat gekennzeichnet sind. Solche Ordnungsvorstellungen beeinflussten das Handeln in Politik, Wirtschaft und Kultur tiefgreifend, sie waren transnational wirksam und differierten zugleich in der Intensität ihrer nationalen Ausprägungen. Das analytische Potential der drei Zeitbögen besteht darin, dass sie es erlauben, die Mehrdimensionalität des historischen Geschehens sichtbar zu machen. Die markanten Zäsuren der Politik- und Staatengeschichte bleiben präsent, erhalten indes nicht den Stellenwert, als würden allein sie den geschichtlichen Verlauf strukturieren. Zäsuren und Kontinuitäten lassen sich so dem überwölbenden Geschehen zuordnen, so dass sich der sinnhafte Zusammenhang einer Zeitspanne erkennen lässt, in deren Verlauf zum Beispiel die Revolution 1918, die „Stunde Null“ 1945 oder die Öffnung der Berliner Mauer 1989 einen Bruch oder einen Neuanfang zu signalisieren scheinen, obwohl sie zugleich Folgen und Katalysatoren längerfristiger Entwicklungen sind. Der erste Zeitbogen umspannt die Jahrzehnte von der Hochindustrialisierung bis in den Zweiten Weltkrieg, der zweite setzt bereits um 1930 ein und reicht bis in die 1970er Jahre, während der dritte Zeitbogen in den frühen 1970er Jahren beginnt und in die Gegenwart führt.

Fortschrittsskepsis und der „Untergang des liberalen Individuums“:⁴ Die Kulturrevolution des Antiliberalismus, 1890 bis zum Zweiten Weltkrieg Der erste Zeitbogen ankert in den Jahren der Hochindustrialisierung. Um 1890 hatte die Industrialisierung ein solches Tempo erreicht, dass sich die Menschen in

 Vgl. Marcus Llanque, Der Untergang des liberalen Individuums. Zum Fin de siècle des liberalen Denkens in Weimar, in: Fischer, Karsten (Hrsg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende. Frankfurt am Main 1999, S. 164– 183.

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den Städten vom fortwährenden Wandel, vom Anschwellen des Verkehrs, von der Entstehung der Massenquartiere für die zuwandernde Arbeitsbevölkerung bedrängt und bedroht fühlten. Wer in der Landwirtschaft der kargen Agrarregionen kein Auskommen mehr fand, wanderte in die Industriezentren. Um 1900 lebten etwa 50 Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reichs nicht mehr am Ort ihrer Geburt. Entfremdungsängste griffen um sich. In anderen, wirtschaftlich stabileren Landregionen änderte sich hingegen wenig, so dass die Kontraste zwischen dem verharrenden Gestern und dem wirbelnden Heute immer spannungsreicher wurden. Tradition und Moderne prallten mit ungekannter Heftigkeit aufeinander. Die Veränderung der Lebensbedingungen im Takt der Maschinen erzeugte einerseits Unsicherheit und rief andererseits begeisterte Zustimmung hervor. Ein euphorischer Fortschrittsglaube und die Überzeugung vom Segen der Technik und der Wissenschaften gehörten ebenso ins Bild wie der wachsende Kulturpessimismus, der vom Argwohn beherrscht war, dass ein ungebremster Fortschritt zerstörerisch wirken müsse. Die expressionistische Malerei seit 1900 gab diesem Lebensgefühl voller Widersprüche bildhaften Ausdruck. Je stärker die Unsicherheit ob des permanenten Wandels wuchs, desto vehementer wurden die abwehrenden Reaktionen auf den Zeittrend des Fortschrittsglaubens und auf die wirtschaftlich-technische Moderne. Deren Protagonisten empfanden sich als Avantgarde. Es war die Avantgarde einer antiliberalen Kulturrevolution. Eingebunden in das Meinungsklima der Jahrhundertwende, das in den Naturwissenschaften und der Technik von einem optimistischen Fortschrittsverständnis geprägt und in den Geisteswissenschaften noch überwiegend vom Wert der individuellen Selbstbestimmung, von der Freiheit des Subjekts und des personalen „Ich“, bestimmt war, begann sich Skepsis auszubreiten. Eine intellektuelle Strömung entstand, die angesichts von rastlosem Wandel und ständiger Beschleunigung die Stillstellung des Zeitlaufs postulierte und die Bedingungen des modernen „Seins“ in der „Zeit“ neu zu erkennen versuchte.⁵ Sie bestritt die Überzeugung des liberalen Denkens im 19. Jahrhundert, dass es einen kontinuierlichen Fortschritt mit humanem Maß gebe, der im historischen Prozess angelegt sei und die Entwicklung der Gesellschaft zu ihrem eigenen Nutzen bestimme. Mit der Fortschrittsskepsis breitete sich ein anderes Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Denn die Vorstellung vom kontinuierlichen Fortschritt schloss auch die weitere Vorstellung ein, dass alles und jedes geschichtlich bedingt sei, dass Wissen und Handeln von der Idee des Geworden-

 Die durchschlagende Wirkung und breite Rezeption, national wie international, von Heideggers „Sein und Zeit“ zeigt, dass hier die Herausforderungen der Gegenwart erfasst und wie in einer Programmschrift dargelegt waren; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. 18. Aufl. Tübingen 2001.

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seins gesteuert würden, dass also das „Leben“ immer „Geschichte“ sei und nur als solche begriffen werden könne. Das war das Weltbild des Historismus. Es bildete die Grundlage für das gesellschaftliche und politische Selbstverständnis des bürgerlichen Liberalismus seit dem 19. Jahrhundert. Historistisches Geschichtsdenken und liberales Fortschrittsdenken gehörten axiomatisch zusammen.⁶ Die Krise des Bürgertums und des Liberalismus an der Jahrhundertwende war ein europäisches Phänomen. Versuche, sie zu meistern, galten in den Mittelklassen nicht zuletzt dem Projekt der Sozialreform und bündelten sich bei den linksradikalen Intellektuellen und Arbeiterführern im Willen zu sozialistischer Revolution. Während des Krieges trieben die Entwicklungen auseinander, und es entstanden die ideologischen Gegensätze zwischen liberalen und radikal antiliberalen Positionen einerseits sowie zwischen demokratisch-sozialen und antidemokratisch-sozialistischen Bestrebungen andererseits. Der Erste Weltkrieg wirkte als Katalysator, indem er die gesellschaftliche Transformation beschleunigte und intensivierte. Der Krieg markierte eine tiefe Zäsur und war zugleich ein funktionaler Bestandteil des längerfristigen Geschehens im ersten Zeitbogen. Deutschland trat mit dem stolzen Bewusstsein in den Krieg ein, die führende Kultur- und Wissenschaftsnation Europas, ja der Welt zu sein. Zwischen 1901 und 1914 gingen die meisten Nobelpreise an deutsche Wissenschaftler und Künstler. Die Industrieproduktion des Reichs war über die britische hinausgewachsen und konnte nur an die Leistungsfähigkeit der USA nicht heranreichen. Im Bewusstsein dieser Stärke und ungeachtet des völkerrechtswidrigen Einmarschs deutscher Armeen nach Belgien, beschwor die deutsche Propaganda den herausragenden Rang des Reichs als Kulturnation. In nationalistischer Aufwallung verfassten bürgerliche Wissenschaftler und Künstler einen „Aufruf an die Kulturwelt“, in dem sie das politische System der wilhelminischen Militärmonarchie als Grundvoraussetzung für Deutschlands Rang beschrieben: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt; […] Deutsches Heer und deutsches Volk sind eines.“⁷  Zum Problem des Antihistorismus, in dem sich die Abkehr vom liberalen Weltbild bündelte,vgl. Otto Gerhard Oexle, „Historismus“. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Oexle, Otto Gerhard, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne. Göttingen 1996, S. 41– 72; Wolfgang Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Hardtwig, Wolfgang, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters. Göttingen 2005, S. 77– 102; Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 157– 190.  Jürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1996, S. 158.

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Das war eine Absage an die Ordnungsprinzipien der zivilen Staatsbürgergesellschaft und liberalen Selbstbestimmung. Exakt an diesem Punkt setzte der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen an, der 1915 in einer nüchternen Diagnose der deutschen Staats- und Gesellschaftsverfassung herausarbeitete, dass ein modernes Industrie- und Wirtschaftssystem nur dann eine Chance auf Weltgeltung haben könne, wenn es wirtschaftliche Freiheit und staatsbürgerliche Selbstbestimmung gewährleiste, so wie es in Großbritannien der Fall sei. Hier wurde ein Topos des sozialkulturellen und machtpolitischen Gegensatzes zwischen den angloatlantischen Mächten und Deutschland formuliert, dessen epistemologische Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Er beschrieb den korporativen Zusammenschluss von Staat, Unternehmertum und agrarischem Grundbesitz sowie das politische System eines machtlosen Parlamentarismus in der Militärmonarchie als Hindernisse für die kontinuierliche Modernisierung der deutschen Industrienation.⁸ Am Ende des Krieges wurde der Gegensatz zwischen den angloatlantischen Mächten und den deutschen Widersachern eines liberalen Reformkurses in die staatliche Neuordnung des Deutschen Reichs eingesenkt. Waffenstillstand, Revolution und Nationalversammlung brachten die Weimarer Republik hervor, die an der westeuropäischen Tradition staatsbürgerlicher Selbstbestimmung und der Paulskirchenverfassung von 1848 orientiert war. Die westliche Verfasstheit der Republik war einerseits Ausdruck des Reformstrebens linksliberaler und sozialdemokratischer Kräfte, die vor 1914 und seit 1916/17 die Umgestaltung der politischen Ordnung des Kaiserreichs zu einer parlamentarischen Monarchie gefordert hatten, aber immer in der Minderheit geblieben waren. Sie war andererseits eine Antwort auf die amerikanische Kriegspropaganda. Präsident Woodrow Wilson hatte 1917 das Leitmotiv für den Kriegseintritt der USA formuliert, „[t]he world must be made safe for democracy“, womit den nichtdemokratischen Monarchien Europas, zuvörderst den Hohenzollern und Habsburgern, die Verantwortung für jede Gefährdung von Sicherheit im Staatensystem zugewiesen wurde.⁹ Sobald sich aber die amerikanische Vision der Demokratisierung als Voraussetzung dauerhaften Friedens mit dem Versailler Vertrag verschränkte, der im Artikel 231 dem Deutschen Reich die alleinige Verantwortung für den Krieg zuschrieb, verschmolzen „Weimar“ und „Versailles“ zu einem Gesamtentwurf. Das „System“ der Republik, hieß es jetzt, also die Verkopplung von „Weimar und Versailles“ zur Staatsräson, sei den Deutschen von den westlichen Siegern aufgezwungen wor In Transfer und Verflechtung zitiert als: Thorstein Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution (1915). New Brunswick, NJ 1990.  Thomas J. Knock, To End all Wars. Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order. Princeton, NJ 1992, S. 121.

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den. Darauf konzentrierte sich der revisionistische Hass des erbitterten Nachkriegsnationalismus von rechts bis links. Kriegsende und Revolution stärkten die demokratischen Kräfte der Linksliberalen, der Sozialdemokraten und eines Teils der Zentrumskatholiken, verhalfen gleichzeitig auch den fundamental antiliberalen Strömungen zum Durchbruch – der radikalen Linken in Gestalt des Kommunismus und der radikalen Rechten in Gestalt des terroristischen Rechtsextremismus und des völkischen Antirationalismus, woraus dann der Nationalsozialismus entstand. Die Revolution und die Ausbreitung des Kommunismus mobilisierten in weiten Teilen der Gesellschaft die alteingewurzelte Angst vor der Bedrohung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse und sozialkulturellen Privilegien. Die kommunistische Herausforderung ging einher mit der grundsätzlichen Negation gesellschaftlicher Freiheit. Beides zusammen bildete einen Angriff auf den Geltungsanspruch von Individualität und Selbstbestimmung. Die Angst vor dem Verlust von Besitz und Freiheit erfasste die alten Eliten ebenso wie das Bürgertum und das Kleinbürgertum. Sie rief Aggressionen hervor und verstärkte das Sekuritätsbedürfnis in der Mittel- und Oberschicht, das nun der neue parlamentarisch-demokratische Staat befriedigen sollte. Indem aber die an liberalen Ordnungsmustern orientierte Republik weder in der Anfangs- noch in der Endphase ein Gefühl von Sicherheit vermitteln und die politischen Aggressionen bändigen konnte, ließ sich die Angst der „Bourgeoisie“ vor dem Kommunismus politisch instrumentalisieren. Das nutzte der Nationalsozialismus während der Hyperinflation 1923 zunächst vergeblich und dann in der Weltwirtschaftskrise 1930/32 erfolgreich, um seinem Ziel näherzukommen und die liberale Ordnung der Republik zu beseitigen. Darin profitierte er von dem längerfristigen politischen und kulturellen Basisgeschehen, das vor 1914 angelegt und durch den Weltkrieg verschärft worden war. Der Gegensatz zwischen liberalen und antiliberalen Vorstellungen über die Ordnung von Gesellschaft und Staat, den die Kriegspropaganda aller Seiten ins Grundsätzliche vertieft hatte, wurde nach der Erfahrung von Zusammenbruch und Revolution zu einem Bestandteil des Staatsverständnisses der Weimarer Republik. Es war kein Zufall, dass der konservative Kulturpessimist Oswald Spengler kaum gegen den Kommunismus und schon gar nicht gegen den Sozialismus zu Felde zog, sondern gegen das „innere England“, weil er vor allem dort einen gegnerischen, dem Individualismus und der Marktgesellschaft verpflichteten Ordnungsanspruch verwirklicht sah. „[D]as innere England, den kapitalistisch-parlamentarischen Liberalismus“, gelte es in Deutschland aus der Gesellschaftsordnung zu entfernen, schrieb er 1922.¹⁰

 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus. München 1922, S. 65 f.

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Hier deutete sich die ideologische Abschottung gegen den europäisch-westlichen Universalismus an, die sowohl nationalistisch aufgeladen als auch mit völkischem Gedankengut vermischt war. Dem „inneren England“ korrespondierte der „innere Feind“, der viele Varianten hatte; seine wichtigste war das Judentum. Die Juden waren nahezu überall in Europa die „Fremden im Innern“.¹¹ Der Zerfall der Vielvölkerreiche Habsburg und Russland hatte viele von ihnen zur Abwanderung nach Westen veranlasst. Das stimulierte den Antisemitismus und wuchs sich aus zur Krise des europäischen Judentums. Diese wiederum verbreitete sich parallel zur Krise des europäischen Liberalismus. Doch nur im deutschsprachigen Mitteleuropa und einigen angrenzenden Ländern, die 1919 aus der Donaumonarchie hervorgingen, wies der politische Antisemitismus auch die völkische Vernichtungsdrohung auf. Es war der Deutsche und Österreicher Adolf Hitler, der sie seit 1920 zum Kernelement der nationalsozialistischen Propaganda machte und darin den antiwestlichen Anti-Universalismus mit dem frühen Antibolschewismus verkoppelte. Das Judentum, hieß es, verkörpere die beiden Hauptfeinde: den westlichen Universalismus und den östlichen Kommunismus.¹² Die Kriegsnationen Europas hatten 1914 die Büchse der Pandora geöffnet. 1920, in der Neuordnungskrise Mittel- und Osteuropas, zeichnete sich die Gefahr ethnischer Gewalttätigkeit ab. Aufgehoben in dunkler Zukunft, blieb der Holocaust unvorstellbar, aber der Weg dorthin begann hier. In den zwanziger Jahren zog die Kulturrevolution des Antiliberalismus zahlreiche Intellektuelle an, die politisch nicht nur nach rechts orientiert waren, sondern auch nach links gravitierten. In der Theologie und Philosophie, aber auch in der gestaltenden Kunst wurzelte sich diese ideelle Strömung rasch ein. Ihren Protagonisten ging es darum, über einen Ordnungsentwurf zu reflektieren, der die Abwehrreaktion auf Beschleunigung, Umwälzung der Lebensbedingungen und den materiellen Wandel seit der Hochindustrialisierung intellektuell systematisierte sowie die Erfahrung des Krieges verarbeitete. Der Krieg hatte die lange vor 1914 verbreitete Skepsis gegenüber dem Fortschrittsdenken und dem Individualismus der Bürgergesellschaft in grauenhafter Weise bestätigt, seit das Zusammenspiel von technischem Fortschritt und mörderischem Maschinenkrieg sowie die Entindividualisierung des Soldaten im anonymen Massenheer zu kon-

 Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Göttingen 2004, S. 299 – 332, hier S. 315 f.  Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf. Bd. 1. Eine Abrechnung. 49. Aufl. München 1939, S. 311– 362, hier S. 361. In der Rede vom 13.8.1920, „Warum sind wir Antisemiten?“, wird die Vernichtungsdrohung, wie später in „Mein Kampf“ (S. 358), schon angedeutet: „Entfernung der Juden aus unserem Volk.“ Adolf Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905 – 1924. Hrsg. von Eberhard Jäckel/Axel Kuhn. Stuttgart 1980, S. 185 – 204, hier S. 204.

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kreter Anschauung geworden war. Der einzelne Mensch, das selbstbestimmte Individuum, hatte keine Geltung mehr, die Kategorie des Subjekts wurde beiseite geschoben. Der Begriff „liberal“ als Bezeichnung für politische Parteien und gesellschaftspolitische Programmatik verschwand nach dem Ersten Weltkrieg aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Die Axiome des liberalen Weltbilds hatten ihre Anziehungskraft verloren. Die Abkehr von der Kategorie des Subjekts bereitete den Boden für andere Gesellschaftsgestaltungen nach 1930, in denen der zweite Zeitbogen ankert. Doch die Anfänge lagen in den frühen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Seit der Individualismus als Bezugsgröße für gesellschaftliches Ordnungsdenken in den Hintergrund geriet, trat der Liberalismus international vornehmlich als Sozialliberalismus in Erscheinung, auch in der Weimarer Republik. Die Avantgarde der antiliberalen Kulturrevolution kehrte dem „Westen“ und dem mit ihm verbundenen universalistischen Anspruch den Rücken zu. Sie ignorierte die Geltung westlicher, mithin europäischer liberaler Normen im staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Rahmen. Sie wandte sich ab vom Denken in den Kategorien des historischen Verlaufs und leugnete den Handlungszusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die im liberalen Selbstverständnis verankerte Weltsicht, dass alles und jedes geschichtlich bedingt ist und das Leben überhaupt nur als Geschichte begriffen werden könne, wurde jetzt durch eine andere Auffassung von Geschichte verdrängt. Darin war die Zeitdimension aufgelöst, und die Vorstellung vom kontinuierlichen historischen Verlauf, vom Entwicklungszusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft verlor ihre Bedeutung. Die intellektuelle Avantgarde versetzte sich so in die Lage, die Welt neu zu denken. Das bündelte sich in der Ablehnung des liberalen Fortschrittsbegriffs. Seine schneidende Schärfe erhielt dieses Denken dadurch, dass es ein anderes Verständnis von Zeit, Gesellschaft und staatlicher Ordnung hervorbrachte. Was hier erfolgte, war nicht weniger als der Widerruf der modernen Idee von Gesellschaft und Staat in der Tradition der Aufklärung. Wer den historischen Verlauf, die Geschichte als Bedingung jeglichen Fortschritts, negierte, konnte Vergangenheit und Zukunft als statische Einheiten auffassen, als mythische Vorzeit der Ahnen etwa, wo alles unwandelbar seinen Platz hatte, oder als kommende Ordnung, die gleichfalls unwandelbar gültig sein würde. Adolf Hitler, der sich die Impulse des Zeitgeists rasch anverwandelte, hatte das antihistoristische Geschichtsdenken frühzeitig in seine Weltanschauung integriert und nutzte es mit einfachen Formeln in seiner Propaganda. Im Januar 1933, noch bevor die Machtübernahme absehbar wurde, beschrieb er in diesem Sinne die ideologische Vision des Nationalsozialismus: „Und wenn wir auch einige Prozente verlieren. Wesentlich ist, daß die letzten Prozente, die in Deutsch-

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land die Geschichte machen, wir sind.“ Das war die Idee der „ewigen Ordnung“ im „Tausendjährigen Reich“.¹³ Mythos und Utopie wurden im Verlauf der zwanziger Jahre zu Kernbestandteilen des antiliberalen Arguments, rechts wie links. In Deutschland dominierte die rechte Spielart dieser Kulturrevolution. Die Ideologie der radikalen Abkehr vom Weltbild der Aufklärung breitete sich früh im Kulturbetrieb und an den Universitäten aus. Anthropologie, die spätere Rassenkunde, sowie Volkstumsund Kulturbodenforschung oder die filmische Aufbereitung mythischen Geschehens wie im Zweiteiler „Die Nibelungen“ erschlossen neue Welten. Scheinrational in den Wissenschaften, raunend und sagenumwoben in den Künsten, bildete das alles die programmatische Antithese zum Hier und Heute des verachteten „liberalistischen Systems“ der Republik von Weimar. Weitreichende Wirkung hatte die antiliberale Kulturrevolution insbesondere im Rechtsdenken. Tagespolitisches Interesse und ideologisches Programm durchdrangen sich, wenn es darum ging, die Verfassung und Gesetze der Republik zu ignorieren. In dem von völkischen Auffassungen durchsäuerten Weltbild des Antiliberalismus wurden nach 1920 die zentralen Begriffe staatlicher Ordnung – Gesellschaft, Nation und Staat –, die verbindliche Kategorien des westlichen Rationalismus waren, nicht weiter beachtet. An ihre Stelle traten Volk und Raum. Als Bestandteile der völkischen Ideologie waren sie historisch undefinierbar und entzogen sich rationaler Bestimmung. Wer Volk und Raum zu Kernelementen juristischer Begriffsbildung machte, wanderte aus dem europäischen Rechtsdenken aus. Darüber ergab sich ein Freiraum für eine neue, fundamental andere Gestaltung von politischer und sozialer Ordnung. Hier erfolgte die Abwendung vom positiven Recht als einer konkreten Schöpfung des Menschen und die Hinwendung zu einer scheinbar objektiven Ordnung der Lebenswirklichkeit, die immer schon vor allen Normen gegeben war. In dieser „Lebens“-Ordnung herrschte die Normativität des Ideologischen. Wenn es 1936 in einer SS-Zeitschrift hieß, die Nationalsozialisten lebten in einer „Gemeinschaft, deren Grenze das Blut ist“,¹⁴ dann war dies eine gegen den westlichen Rationalismus gerichtete Behauptung, dass die bestehenden Staatsgrenzen und die völkerrechtlichen Verträge, die sie festlegten, keine Bedeutung hatten. Es gab sie nicht. So war es aus dieser Sicht auch kein Rechtsbruch, Grenzen zu verletzen oder den völkischen „Großraum“ zu organisieren.

 Wahlrede in Detmold, 4.1.1933, in: Hitler, Adolf, Reden, Schriften, Anordnungen. Bd. 5. Von der Reichspräsidentenwahl bis zur Machtergreifung. April 1932 – Januar 1933. Teil 2. Oktober 1932 – Januar 1933. Hrsg. von Christian Hartmann/Klaus A. Lankheit. München 1998, S. 331.  Raimund Schnabel, Ewig ist das Blut, in: SS-Leitheft, 25. 3.1936, S. 13.

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Dieses System der blanken Willkür wurde im Nationalsozialismus vorherrschend. Es wies keine Verkopplung mehr mit dem europäischen Rechtsdenken auf. Es wähnte sich autonom und war doch nur kulturell völlig isoliert. In diesem Denken wuchsen die SS-Juristen heran, die sich zusammen mit gleichgesinnten Akademikern aus den technischen, natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen seit 1933 als Elite des neuen Staats verstanden. Sie meinten den Eintritt in eine neue Zeit, in einen neuen Seinszustand des deutschen Volkes vorzubereiten. Sie wirkten als Vollzugspersonal der antiliberalen Kulturrevolution. Das alles hatte sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Republik herausgebildet, aber es war anfangs keineswegs repräsentativ für die Republik. Der Staat von Weimar als politisches System nach dem Muster des westlichen Parlamentarismus und als freiheitlicher Rechtsstaat mit einer korporativen Wirtschaftsordnung besaß die realistische Chance, sich im Kreis der europäischen Demokratien zu etablieren. Zwar hatte das politische System seine Schwächen, und dem politischen Personal fehlte es an Erfahrung mit der parlamentarischen Demokratie. Aber erst das Zusammentreffen tiefwurzelnder Modernisierungskrisen mit der Weltwirtschaftskrise und dem Willen der präsidialen Regierungen seit 1930, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen, ebnete den Weg in den Führerstaat und ermöglichte den Durchbruch des revolutionären Antiliberalismus zur Staatsidee. Der Nationalsozialismus war Nutznießer dieser Entwicklung, aber er brachte sie nicht hervor. Von früh an nahm er allerdings die Inhalte der antiliberalen Zeitstimmung in sich auf und verknüpfte sie mit seinem eigentlichen Kern, dem rassenideologischen Antisemitismus. Die Feindschaft gegen den liberalen Westen blieb darin immer ein leitendes Motiv, das dem Antikommunismus trotz aller Aggressivität gegen den Bolschewismus vorgeordnet war. In den Monaten der flüchtigen Kriegserfolge gegen England, im Herbst 1940, hieß es ganz beiläufig in der Wochenzeitung „Das Reich“, zu der Propagandaminister Joseph Goebbels die Leitartikel beisteuerte: „Das Dritte Reich löste das Zeitalter des Liberalismus ab.“ Das klang nicht nur wie eine Selbstverständlichkeit, sondern es wurde auch als solche empfunden.¹⁵

Gemeinschaft, Gleichheit, Konsens: Vom totalitären Zwang zu freiheitlicher Integration, 1930 bis 1970/75 Der zweite Zeitbogen wurzelt in der Weltwirtschaftskrise. Seine Spannweite reicht bis zum Ende des Wirtschaftsbooms in den 1970er Jahren. Charakteristisch für

 Graf von Stosch, Der Stadt-Gesamtplan als Bauherr, in: Das Reich, 29.9.1940, S. 10.

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diesen Zeitbogen mit seinen Verankerungen beiderseits des Atlantiks ist zunächst der säkulare Kampf zwischen der dezidiert nicht-liberalen, vom Anspruch her totalitären Ordnung einer erzwungenen sozialen Homogenität um den Preis tödlicher Ausgrenzung, wie sie der Nationalsozialismus verkörperte, und einer sozialliberalen Ordnung der freiheitlichen Integration von Gesellschaft, wie sie im amerikanischen New Deal Gestalt gewann. Im Zweiten Weltkrieg standen sich beide Ordnungskonzepte in Todfeindschaft gegenüber – weitaus radikaler als 1914– 1918 das Deutsche Reich in der Rivalität mit England –, auch wenn dies vor dem Hintergrund des Vernichtungskampfs im Osten, der antibolschewistischen Propaganda und der Shoah nur schemenhaft deutlich wurde. Die bedingungslose Kapitulation bildete eine einschneidende Zäsur in der Mitte des 20. Jahrhunderts und wirkte zugleich als Katalysator einer neuen Konfliktkonstellation, die sich seit längerem abzeichnete. Die nihilistische Utopie des Nationalsozialismus war beseitigt. Der Untergang des Reichs erforderte die staatliche und gesellschaftliche Neuordnung. Der Weg war frei für die Vorherrschaft der Sieger in Deutschland und Europa. Im Westen wurde das amerikanische, im Osten das sowjetische Modell zur Geltung gebracht. Die westliche Ordnungsidee mit ihrer axiomatischen Verbindung von Marktwirtschaft, Freiheit des Individuums und parlamentarischer Demokratie stand jetzt in Konfrontation zur östlichen Ordnungsidee der planwirtschaftlichen Vergesellschaftung, Negation persönlicher Freiheit und Einparteiendiktatur. In der Geschichte des gegen „den Westen“ gerichteten deutschen Antiliberalismus verkörperten SBZ und DDR sowohl Tradition als auch Neuausrichtung, indem sie diktatorische Herrschaft gegen die „Freiheit“ zu verbinden versuchten mit gesellschaftlichem „Fortschritt“ nach sozialistischem Verständnis. Dieses Modell scheiterte schon im Juni-Aufstand 1953, wurde aber als Staats- und Gesellschaftsordnung mit Gewalt aufrechterhalten. Es erwies sich als nahezu reformunfähig und verurteilte das Gemeinwesen zu einer 35jährigen Stagnation in der Ausgestaltung der sozialistischen Fortschrittsidee. Kennzeichen des zweiten Zeitbogens war das Bemühen, zum Zwecke soziopolitischer Stabilisierung eine relative Gleichheit der Lebensbedingungen und innere Homogenität zu erreichen, um die Zerrissenheit der von der Weltwirtschaftskrise und später vom Krieg belasteten Gesellschaft zu überwinden. Gemeinschaft, Gleichheit, Konsens waren die Begriffe, mit denen das Basisgeschehen zu charakterisieren ist. Individualismus und die Kategorie des Subjekts blieben nachrangig. Vorrang hatte der soziale Konsens. Während der Weltwirtschaftskrise verlor das in der westlichen Marktgesellschaft wie auch im deutschen Korporativismus autonom agierende Subjekt viel von seiner früheren Bedeutung, sei es als Konzern, sei es als Unternehmer. Die Gesellschaft trat geradezu programmatisch an die vordere Stelle. Das galt auf beiden Seiten des Atlantiks. Diese

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Verschiebung der normativen Orientierung äußerte sich auch im Gebrauch des Begriffs „Freiheit“. Anstelle der Selbstbestimmung des Einzelnen ging es jetzt entweder, auf der amerikanischen Seite, um die Freiheit der Person im festen Rahmen des nationalen Staats oder aber, auf der deutschen, nationalsozialistischen Seite, um den totalen Entzug der Freiheit. In seiner ökonomischen Dimension betraf dieser Sachverhalt die Einbindung der Wirtschaft in staatliche Rahmenplanung sowie die Steuerung gesellschaftlicher und sozialökonomischer Integration durch den Staat. Darin unterscheidet sich die Entwicklung innerhalb dieses Zeitbogens grosso modo von den Entwicklungen zuvor und danach. Bei all dem war nicht zu übersehen, dass sich das Dritte Reich an den Vereinigten Staaten orientierte. Damit setzte sich eine Entwicklung fort, die in den 1920er Jahren begonnen hatte. Das betraf die Modernisierung der Industrieproduktion, die Verbesserung technischer Prozesse und die Arbeitsorganisation. Einige Unternehmen führten die Fließbandproduktion nach dem Vorbild des Autobauers Ford ein oder prüften die kybernetische Steuerung des Arbeitszusammenhangs von Maschine und Mensch im Sinne des Taylorismus. Beides, Fordismus und Taylorismus, war in den zwanziger Jahren breit diskutiert worden. Wegen seiner technischen und industriellen Modernität galt Amerika den Nationalsozialisten ebenso als Vorbild wie den Bolschewiki in der stalinistischen Sowjetunion. Gegen die UdSSR grenzte sich das Dritte Reich indessen scharf ab. Auf der Pariser Weltausstellung 1937 rivalisierten die beiden Systeme in der direkten Gegenüberstellung des deutschen und des sowjetischen Pavillons miteinander und ließen darin ihren Wettkampf mit den USA in aller Deutlichkeit erkennen. Die deutsch-sowjetische Rivalität war zwangsläufig auch ideologisch bestimmt. Während die Sowjetunion sich selbst paralysierte, als Stalin den Terror der Säuberungen von 1936 bis 1938 ins Werk setzte mit dem Ziel, jede Form von Eigenständigkeit im Denken und Handeln der Bolschewiki auszurotten, versuchte der Nationalsozialismus zur selben Zeit, in der deutschen Gesellschaft die Verkopplung von Individualität und Freiheit als Axiom des Liberalismus zu beseitigen. Das geschah allerdings ungeachtet der Vorgänge in der Sowjetunion in einer offenen, klar artikulierten Konkurrenz mit den USA. Im Kern ging es um die Vorstellungen von sozialer Integration und nationaler Homogenität, die in den 1930er Jahren gerade in jenen Ländern besonders virulent waren, die wie Amerika und Deutschland von der Weltwirtschaftskrise besonders hart getroffen wurden. Die Ordnungsidee des New Deal war angesichts der Massenarbeitslosigkeit darauf gerichtet, das Zusammenspiel von kapitalistischer Wirtschaft und politischer Demokratie als Bedingung gesellschaftlicher Freiheit sicherzustellen und zu diesem Zweck die Handlungsspielräume des ökonomischen Subjekts und des individuellen Interesses zugunsten der Allgemeinheit deutlich zu beschneiden.

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Die Ordnungsidee des Nationalsozialismus bekämpfte dagegen die Reste der „liberalistischen Epoche“ durch Beseitigung und Unterdrückung von Freiheit und Individualität in der Gesellschaft. Hier wie dort geriet die Bedeutung des „Ich“ darüber in den Hintergrund oder wurde vollständig negiert. Die politische Feindschaft zwischen Hitlers Deutschland und Roosevelts Amerika vertiefte sich seit 1937 zusehends. Der letzte Schlagabtausch erfolgte 1941, als Roosevelt Amerika zum „Arsenal der Demokratie“ erklärte und damit den demokratischen Gegnern der Achsenmächte, Großbritannien in erster Linie, seine Unterstützung zusagte. In der Regierungserklärung vom 6. Januar 1941 definierte Roosevelt die Verteidigung der Freiheit als Staatsräson der USA. Die Merkmale der freien Gesellschaft fasste er in den berühmten „vier Freiheiten“ zusammen, einer zeitgemäßen Variante der Grundsätze des europäisch-atlantischen Liberalismus seit dem 19. Jahrhundert: Meinungsfreiheit, Freiheit des Glaubens, Freiheit von Not und Freiheit von Angst, womit in universalen Begriffen die Antithese zum Terrorregime der NS-Diktatur formuliert worden war.¹⁶ Hitlers Antwort erfolgte in seiner Kriegserklärung an die USA vor dem Reichstag am 11. Dezember 1941. Hier trieb er die nihilistische Utopie der völkischen Gedankenwelt auf die Spitze, indem er über das Konstrukt des „letzten Feindes“ die Gegner miteinander verknüpfte, das bolschewistische Russland und die demokratischen USA: „Wir wissen, welche Kraft hinter Roosevelt steht. Es ist jener ewige Jude, der seine Zeit als gekommen erachtet, um das auch an uns zu vollstrecken, was wir in Sowjet-Rußland alle schaudernd sehen und erleben mußten.“¹⁷ Der „ewige Jude“ als Verkörperung des feindlichen Universalismus: Im Dezember 1941 wandelte sich der europäische Krieg endgültig zum Weltkrieg, der Vernichtungskrieg ging seinem Höhepunkt entgegen. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 stand unmittelbar bevor, der ethnische Terror wurde zur industriellen Form des Völkermords gesteigert und die Verfolgung der Juden auf ganz Europa ausgeweitet. Hinter allem standen Hitlers Wille und Himmlers Befehlsgewalt. Auschwitz wurde zum Inbegriff des Menschheitsverbrechens. Adolf Eichmann steuerte die Logistik der Vernichtungsmaschinerie. Beide Namen ste-

 Fireside Chat on National Security, 29.12.1940. The Annual Message to the Congress, 6.1.1941, in: Roosevelt, Franklin D., The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt. War – and Aid to Democracies. Bd. 9. New York, NY 1941, S. 633 – 644, hier S. 640 u. S. 663 – 672, hier S. 672.  Reichstagsrede Hitlers zur Kriegserklärung an die USA, 11.12.1941, in: Domarus, Max (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932– 1945. Bd. 2/2 Untergang 1941– 1945. 2. Aufl. München 1965, S. 1793 – 1811, hier S. 1808; vgl. auch Michael Jeismann, Der letzte Feind. Die Nation, die Juden und der negative Universalismus, in: Alter, Peter u. a. (Hrsg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. München 1999, S. 173 – 190.

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hen emblematisch für den Holocaust. Sie verweisen zugleich über die Zäsur von 1945 hinaus auf die Suche nach Formen des strafenden Umgangs mit einem Verbrechen, das mit der Verurteilung Einzelner kaum gesühnt werden kann. Hitlers Rede vom „inneren Feind“ und die Vernichtungsdrohung schon in den frühen zwanziger Jahren markierten die Anfänge. Anlässlich des Jahrestages der Machtübernahme am 30. Januar 1939 wiederholte er diese Drohung ein weiteres Mal vor dem Reichstag, mithin vor der nationalen und internationalen Öffentlichkeit.¹⁸ Hier wurden der Wille zum Krieg und der Wille zur Beseitigung der Juden unlösbar miteinander verknüpft. Hitler suchte den Krieg, um „Lebensraum“ im Osten zu gewinnen für die Stärkung und Ausbreitung des deutschen Volkes, denn allein das bildete in seiner Vision vom Kampf der Rassen und Völker die Voraussetzung dafür, im Ringen mit dem mächtigsten, dem angloamerikanischen Gegner, siegreich bestehen zu können. Die Konstruktion des Juden als universaler Feind, als „internationales Finanzjudentum“ ebenso wie als „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“, diente zur Rechtfertigung der nihilistischen Utopie. Im kommenden Krieg würde es – in Hitlers Gedankenwelt: musste es – um den finalen, diesmal siegreichen Kampf gegen die „Welt von Feinden“ gehen. Das kam aus dem Ersten Weltkrieg und ist nur aus der Erfahrung des vergeblichen Ringens an der Westfront insbesondere mit den britisch-amerikanischen Kräften zu verstehen.¹⁹ Nach den Massenerschießungen der ersten Phase brannten seit 1942 die Öfen der Krematorien. Das Geschehen wurde verheimlicht, aber in seinen Umrissen war es in Deutschland bekannt. Die Alliierten waren informiert. Die Dimension des Holocaust aber überstieg das Vorstellungsvermögen der Zeitgenossen und wurde erst aus größerer Distanz fassbar. So bildete die bedingungslose Kapitulation 1945 eine tiefe Zäsur, aber keinen Schlusspunkt, und die Versuche, das Ausmaß des Verbrechens sichtbar zu machen, blieben Bestandteile des gesamten Zeitbogens. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die Nachfolgeprozesse bis 1949 stellten den Mord an den europäischen Juden noch gar nicht in den Mittelpunkt, sondern näherten sich ihm nur an – am deutlichsten im „Fall 9“ von 1947/48 und dann 1958 im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess. Erst der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 deckte die bürokratische Präzision der Deportation der Juden in die Vernichtungslager auf. Zwei Jahre später, von 1963 bis 1965, konfrontierte der Frankfurter Auschwitz-Prozess die deutsche Öffentlichkeit mit der industriellen Menschenvernichtung. Das Verfahren gegen Eichmann, vor  Vgl. Reichstagsrede Hitlers in der Krolloper, 30.1.1939, in: Hitler, Hitler. Bd. 2, S. 1047– 1067, hier S. 1058.  Vgl. Brendan Simms, Against a ‚world of enemies‘. The impact of the First World War on the development of Hitler’s ideology, in: International Affairs 90, 2014, S. 317– 336.

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allem aber der Auschwitz-Prozess wirkten irritierend auf die westdeutsche Gesellschaft ein, als diese sich eben im Wohlstand einzurichten begann. Die Berichterstattung in den Medien über die Verbrechen in Auschwitz stimulierte das antifaschistische Engagement der Studentenbewegung. Die Prozesse der 1960er Jahre standen mithin im Spannungsbogen von traditionellem Antisemitismus über die Vernichtungsdrohung und den Holocaust bis in die Atmosphäre der Nachkriegszeit. Die westdeutsche Gesellschaft, die sich bis zum Beginn der 1960er Jahre Schritt für Schritt dem Ordnungsprinzip des liberalen Konsenses öffnete, musste die „Unfähigkeit zu trauern“²⁰ überwinden und lernen, sich als Haftungsgemeinschaft zu begreifen. Die allmähliche Akzeptanz der bitteren eigenen Geschichte ist ohne äußeren Erwartungsdruck nicht denkbar. Seit 1960 zeigten sich erste Wirkungen des alliierten Einflusses auf die ideelle Neuordnung in Deutschland, dessen Grundlagen von 1943/44 an in Washington erarbeitet worden waren. Als die USA 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten, wurde der Auslandsgeheimdienst „Office of Strategic Services“ (OSS) mit einer eigenen Forschungsabteilung, der „Research and Analysis Branch“ (R&A), geschaffen. In der Mitteleuropa-Sektion arbeiteten zahlreiche Emigranten, die, weil sie jüdisch waren, aus Deutschland und Österreich hatten fliehen müssen. Sie standen mit amerikanischen Intellektuellen und weiteren deutschen Emigranten an den Ostküsten-Universitäten in enger Verbindung.²¹ Ausgebildet als Juristen, Staatswissenschaftler, Philosophen oder Historiker, waren sie überwiegend sozialdemokratisch oder marxistisch orientiert und in der Weimarer Republik mehrheitlich als Wissenschaftler oder in Anwaltsberufen tätig gewesen. Dass Kapitalismus und Faschismus sich gegenseitig bedingten, hatten sie aus den Faschismustheorien der europäischen Linken übernommen. Die früheste Studie über Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, die Franz Neumann – bis zu seiner Emigration 1933 Gewerkschaftsanwalt in Berlin – 1942 publizierte und die ihn sogleich für eine Leitungsfunktion bei R&A qualifiziert hatte, war noch ganz aus dem Geist linkssozialistischer Fa Vgl. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967.  Im Auftrag von R&A waren zeitweilig Felix Gilbert, John Herz, Hajo Holborn, Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse, Franz Neumann und Carl Schorske tätig. Von amerikanischer Seite kamen H. Stuart Hughes, Leonard Krieger, William L. Langer, Barrington Moore und Hans J. Morgenthau hinzu. In engem Kontakt zur R&A-Gruppe des OSS befanden sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, das schon kurz vor der NS-Machtübernahme nach New York verlegt worden war, zudem Ernst Fraenkel sowie, aus dem Kreis der New School of Social Research, Hannah Arendt und Leo Strauss. Zum Gesamtzusammenhang und der umfangreichen Forschungsliteratur vgl. Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburg 2010.

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schismustheorie geschrieben.²² In den USA lernten die Emigranten, dass der Kapitalismus keineswegs zwangsläufig zu autoritärer Herrschaft und Gewalt führen muss, sondern mit demokratischem Konfliktaustrag und freier Gesellschaft vereinbar war. Ihre Auffassungen wandelten sich darüber zu einer zwar kapitalismuskritischen, aber nunmehr prononciert demokratisch-sozialen Einstellung, die sich im intellektuellen Klima der Regierungsbehörden leicht mit dem linksliberalen demokratischen Denken des New Deal, der Vorstellung von Homogenität und Konsens in der offenen Gesellschaft, verbinden konnte. Sie formulierten Grundsätze für die Neuordnung nach dem Sieg über Hitler-Deutschland. Eines der einflussreichsten Konzepte für die Anklage im geplanten Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher, die Denkschrift über „Führerprinzip und strafrechtliche Verantwortung“, wurde 1945 im Gedankenaustausch zwischen den deutschen und amerikanischen Intellektuellen innerhalb der R&A Branch des OSS verfasst.²³ Zuvor schon, 1943/44, waren in enger Abstimmung mit dem personell ähnlich besetzten „Office for War Information“ (OWI) Studien über Entnazifizierung und reeducation entstanden sowie die später sehr wirkungsvollen Expertisen über die historischen Bedingungen für Deutschlands Weg in die Diktatur, in denen die frühen Thesen von Thorstein Veblen über das politische System des Kaiserreichs und dessen Eliten systematisiert wurden. Kontakte bestanden auch zum Kreis der „New York Intellectuals“, in dem sich die Söhne von Emigranten sammelten, die seit der Jahrhundertwende vor den Repressionen des Zarismus und den Judenpogromen aus Russland geflohen waren. Geboren zwischen 1900 und 1920 engagierten sich die „New York Intellectuals“ publizistisch, um ihr Verständnis von Kommunismus in den USA zur Geltung zu bringen. Auch wenn sie mit der kurzlebigen amerikanischen kommunistischen Partei keine direkte Berührung hatten, beobachteten sie die Modernisierung in der Sowjetunion im Zuge von Kollektivierung und Industrialisierung mit wachem Interesse und standen, wie zahlreiche europäische Intellektuelle auch, dem Stalinismus der frühen dreißiger Jahre wohlwollend

 Vgl. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944. Erw. Ausg. Frankfurt am Main 1984; Ernst Nolte (Hrsg.), Theorien über den Faschismus. Köln u. a. 1967. Zu Franz Neumann vgl. Ibid., S. 63 f.  Vgl. Otto Kirchheimer/John Herz, Leadership Principle and Criminal Responsibility (1945), wieder abgedruckt in: Laudani, Raffaele (Hrsg.), Secret Reports on Nazi Germany. The Frankfurt School Contribution to the War Effort. Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer. Princeton, NJ u. a. 2013, S. 464– 474; eine deutsche Fassung mit dem Titel: Führerprinzip und strafrechtliche Verantwortung, in: Söllner, Alfons (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 1. Frankfurt am Main 1986, S. 173 – 183; vgl. auch Franz Neumann, The War Crimes Trials, in: World Politics 2, 1949, S. 135– 147.

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gegenüber. Als radikale Antifaschisten erhofften sie sich vom Bolschewismus insbesondere die Überwindung der Regime von Mussolini und Hitler. Der Große Terror in den Jahren der Säuberungen irritierte sie zwar, aber erst der Hitler-StalinPakt – Stalins Verrat am kommunistischen Antifaschismus – bewirkte den Bruch, weil er die idealistische Projektion auf Stalins Sowjetunion mit einem Federstrich zunichte machte. Während des Krieges bewegten sie sich, zu Antistalinisten geworden, am linken Rand des New Deal-Diskurses im Magnetfeld des Kriegs- und des Außenministeriums. Als sich 1946/47 der Kalte Krieg abzuzeichnen begann, verlagerte sich ihr Engagement im Zuge des Marshall-Plans nach Europa, wo sie als „anticommunist left“ den Propagandakrieg gegen den Stalinismus organisierten und die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien gegen den Kommunismus zu immunisieren versuchten. Mit dem Schlachtruf „Freiheit“ führten sie einen giftigen, intellektuell aber höchst anspruchsvollen Meinungskrieg gegen die östliche Propaganda, die den kommunistischen Block unter sowjetischer Führung als Vorkämpfer für „Frieden“ im Ringen mit dem westlichen „Imperialismus“ inszenierte. Indem dieser prononciert linke und demokratische Antisowjetismus das Gesellschaftsbild des liberalen Konsenses propagierte, war er dem politisch dumpfen Antikommunismus und dem – infolge des Krieges – ausgeprägt antirussischen Meinungsklima in der Bundesrepublik überlegen, bestärkte aber zugleich deren Frontstellung gegen den Osten.²⁴ Auch an der Vorbereitung des Europäischen Wiederaufbauprogramms (ERP) waren Emigranten beteiligt, so dass deren Denkansätze, insbesondere die kritische Herleitung des Nationalsozialismus aus der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland, zusammen mit dem Gesellschaftsmodell des New Deal in die Ideologie des Marshall-Plans einfließen konnten. Der Zweck des ERP bestand darin, einerseits den kommunistischen Einfluss aus Ostmitteleuropa und der SBZ abzuwehren und andererseits einen Gesamtplan für die Gestaltung Europas nach amerikanischen Vorstellungen zu entwerfen. Das New Deal-Konzept des liberalen und sozialen Konsenses und die historisch-politischen Analysen der deutschen Emigranten bei R&A sowie die linksdemokratischen Vorstellungen der „anticommunist left“ beeinflussten sich darin gegenseitig. Als europäisch-atlantischer

 Aus dem Kreis der „New York Intellectuals“ waren in Westeuropa besonders prominent und einflussreich Arthur Koestler, James Burnham, Sidney Hook, Irving Kristol und Melvin Lasky. Vgl. Alan M. Wald, The New York Intellectuals. The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s. Chapel Hill, NC u. a. 1987; Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the struggle for the mind of postwar Europe. New York, NY 1989; Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998.

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Hybrid aus den 1930er und frühen 1940er Jahren spielte diese Ideenkonfiguration in den amerikanischen Neuordnungsplänen eine nicht unbeträchtliche Rolle. Sie konnte auch deshalb hegemonial werden, weil sie von den Europäern, den Deutschen zumal, nicht primär als „amerikanisch“, sondern als allgemein westlich, freiheitlich und modern empfunden wurde. Im Europäischen Wiederaufbauprogramm galten Marktwirtschaft und politische Demokratie als normative Vorgaben für jedes Land, das daran partizipieren wollte. Richtschnur war die Wirtschaftstheorie des Keynesianismus, die dem Staat die Aufgabe fiskalpolitischer Globalsteuerung übertrug und unternehmerischen Wettbewerb in diesen Rahmen einband. Der Staat gab den Ton an. Politische und soziale Homogenität waren das Ziel. Der Marshall-Plan reflektierte neben der hegemonialen Absicht der USA auch die bittere Erfahrung des gescheiterten Friedens von Versailles, der noch keine 30 Jahre zurücklag. Damals war den europäischen Nationen – Kriegsgegner oder rivalisierende Alliierte, die sie waren – die politische Autonomie bei der Neuordnung überlassen worden. Solche Autonomie wurde jetzt deutlich relativiert, und damit entstand eine neue Art der Staatenordnung. Die Westeuropäer hatten nach Vorgaben zu handeln, die für alle verbindlich waren – ganz gleich, ob sie im Krieg Alliierte oder Gegner gewesen waren. Auch (West)Deutschland wurde von Anbeginn in den Neuaufbau einbezogen. Das war der Anstoß zur westeuropäischen Integration. Einen nationalen Sonderweg konnte es weder für die Deutschen noch für Frankreich, Italien oder die Beneluxländer geben. Das Wiederaufbauprogramm der Alliierten förderte in Westdeutschland den Übergang zur Marktwirtschaft, es stabilisierte die wiedererstehende Parteiendemokratie und flankierte die an westlichen Maßstäben orientierten Medien in den Funkhäusern und Zeitungsredaktionen. Die Absicht der Deutschen ging dahin, am Weimarer Parlamentarismus anzuknüpfen, die tradierte Verwaltung aufrechtzuerhalten und eine entweder sozialistische oder liberale Wirtschaftsordnung neu zu begründen. Das in der nationalen Tradition wurzelnde Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wurde als bürgerliches Projekt verwirklicht, da insbesondere die Amerikaner jeder Form von Sozialisierungen und sozialistisch-demokratischer Wirtschaftsordnung eine Abfuhr erteilten. In den Kriegsjahren hatten deutsche Ökonomen die Vorstellung von einer „ordoliberalen“ Marktwirtschaft entwickelt, in der der freiheitliche Staat und die demokratische Gesellschaft den ordo der liberalen Wirtschaft verkörperten. Die Soziale Marktwirtschaft wurde mit Unterstützung der westlichen Besatzungsmächte als ein deutsches Konzept zur Geltung gebracht, sie war aber zugleich eingebunden in den atlantischen Traditionsstrang der freiheitlichen sozialen Integration. Der Wiederaufbau im geteilten Deutschland musste angesichts der Verheerungen des Krieges eine möglichst weitreichende Gleichheit der Lebensbedin-

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gungen anstreben. Deshalb lag es nahe, manche Konzepte der 1930er Jahre zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise wieder aufzugreifen. Die gewohnte Orientierung an Gleichheit, Gemeinschaft und Homogenität als sozialem Ordnungsmodell bot eine solche Handlungsoption an. Die Integrationsaufgabe war im Westen und im Osten gleich. Die Startbedingungen unterschieden sich indessen deutlich, weil die westlichen Alliierten auch schon in den ersten Jahren der restriktiven Besatzungspolitik mehr Soforthilfe für die darbende Bevölkerung bereitstellen konnten als die Sowjetische Militäradministration. 1947, mit dem offen erkennbaren Beginn des Kalten Krieges, gingen die Entwicklungen scharf auseinander. Im Westen begann der Marshall-Plan. Die Währungsreform vom Juni 1948 markierte in der Alltagswahrnehmung der Menschen einen Neustart mit dem klaren Signal, dass Gleichheit herrsche, weil alle Bürger mit einem „Kopfgeld“ von 40 D-Mark finanziell gleichgestellt waren. In der SBZ wurde der erste Zweijahresplan eingeführt, der ebenfalls Gleichheit versprach und den Übergang zum „Aufbau des Sozialismus“ einleitete. In der DDR erfolgte dieser Aufbau als Kombination aus linkssozialistischkommunistischer Sozial- und Wirtschaftspolitik der Weimarer Zeit und gewissen Anleihen aus der Sowjetunion. Diese äußerten sich vor allem in der Durchsetzung der stalinistischen Parteidiktatur, die den Staat völlig in sich aufnahm und ihn sich zunutze machte. Als SED-Staat gewann die DDR ihr politisch-ideologisches und gesellschaftliches Profil durch die Negation jedweder „Freiheit“. Die Feindschaft zum liberalen Ordnungsentwurf der Demokratie formierte sich hier aufs Neue. Für die Bevölkerung lief dies oft genug auf die bloße Fortsetzung des autoritären und diktatorischen Musters der zurückliegenden Jahrzehnte hinaus. Gesellschaftliche Homogenität wurde in der DDR durch Slogans des permanenten Kampfes aller Bruderländer der Sowjetunion für den „Frieden“ beschworen und real durch die konsequente Nivellierung der sozialen Unterschiede herbeigeführt. Das Industrieproletariat verschwand durch sozialen Aufstieg, das Bürgertum durch Marginalisierung und systematische Ausgrenzung, bis das kompakte System des Kleinbürgertums entstanden war, das die DDR fortan prägte. So bildete sich deren spezifische Form sozialer und staatlicher Homogenität in Gestalt der „Fürsorgediktatur“²⁵ heraus, in der es keine Freiheit zur Selbstbestimmung gab. Die Bürger der DDR existierten als „Politiknehmer“²⁶ ohne staatsbürgerliche Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess. Integration bedeutete die Einbindung in  Vgl. Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20, 1998, S. 33 – 46.  Vgl. Manfred G. Schmidt, Grundlagen der Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Hockerts, Hans Günther (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 1. Grundlagen der Sozialpolitik. Baden-Baden 2001, S. 685 – 798, hier S. 764.

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ein hermetisch sozialgesichertes System, nichts sonst. Die Kategorie des „gesellschaftlichen Fortschritts“, die in der Rhetorik der SED eine so große Rolle spielte, degenerierte von früh an zum bloßen Etikett, obwohl sie einen der wesentlichen Unterschiede des SED-Staats zur NS-Diktatur markierte. Der Wiederaufbau im Westen wurde nach wenigen Jahren strenger Kontrolle mehr und mehr der Bundesregierung überlassen. Die Politik der liberalen Integration, in der sich atlantische und deutsche Einflüsse mischten, zog von rechts wie links eifernde Proteste nach dem Muster der antiliberalen Kulturrevolution in der Zwischenkriegszeit auf sich. Sie wurde überdies dahin kritisiert, „restaurativen“ Leitlinien verpflichtet zu sein.²⁷ Die westliche Republik gewann ihr Profil als ein antitotalitärer, von den Eliten in Schule, Hochschule, Rechtswesen und Kirchen durchaus noch obrigkeitlich geformter Verfassungsstaat mit politischer Demokratie, dem anfangs ein breites öffentliches Bewusstsein für die „freiheitliche Grundordnung“ fehlte. Die spezifische Form der „Vergangenheitspolitik“²⁸ in den 1950er Jahren ermöglichte es Ministerialbeamten und Wehrmachtsoffizieren, sich beruflich in die neue Ordnung einzugliedern, ohne eine allzu schroffe Abkehr von ihren Überzeugungen im Dritten Reich vollziehen zu müssen. Die Einübung in Formen der kritischen staatsbürgerlichen Selbstbestimmung blieb auf Gruppen der außerparlamentarischen Opposition gegen Westintegration und Wiederbewaffnung und auf Bildungseinrichtungen wie die Brücke- und Amerikahäuser, die Maisons de France und die staatlichen Institutionen der politischen Bildung beschränkt. „Liberal“ wurde das geistige Klima erst im Verlauf der sechziger Jahre. Soziale Liberalisierung, ideelle Westernisierung und die kulturelle Sensibilisierung, um „Auschwitz“ wahrzunehmen, bildeten sich erst ganz allmählich heraus. Die Grundlagen jedoch wurden in den späten 1940er und den 1950er Jahren gelegt. Die Republik profitierte vom Wirtschaftsaufschwung, der sich im Verlauf der fünfziger Jahre zum „Wirtschaftswunder“ steigerte. Das war der „Boom“, den alle westeuropäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten. In diesem optimistischen Zeitklima emanzipierte sich die westdeutsche Gesellschaft von den Traditionen einer habituellen verstockten Unfreiheit, die oftmals noch tief im Familienleben und im öffentlichen Verhalten verwurzelt war. Es begann eine Zeit der Reformen, in der die „Definition des Sozialen durch die Demokratie“²⁹ er-

 Vgl. Walter Dirks, Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte 5, 1950, S. 942– 954.  Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996.  Hans F. Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hockerts (Hrsg.), Sozialpolitik S. 333 – 684, hier S. 529.

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folgte. Jetzt entfaltete sich die soziale Demokratie als gesellschaftliches Projekt. Es war nur konsequent, dass davon bei den Wahlen in Ländern und Bund die SPD profitierte und dass schon bald von Sozialdemokratisierung gesprochen wurde. In diesem Prozess kam die wirtschaftliche Leittheorie zur Geltung, die schon seit dem Marshall-Plan eine maßgebliche Rolle spielte. Der Keynesianismus schrieb dem Staat die Aufgabe zu, die politischen Rahmenbedingungen für die Marktwirtschaft zu bestimmen. Die Idee der „Globalsteuerung“ erlaubte für einige Jahre sogar die Vision, dass der Staat durch wissenschaftliche und politische Expertise befähigt sei, die Einflussfaktoren auf die Wirtschaft im Vorhinein zu berechnen und die gesamtwirtschaftliche Produktivität zum Besten des Gemeinwesens zu steuern. Darüber verbanden sich Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften mit den Expertenkulturen der kybernetischen Planung zu einem Syndrom korporativer Allmacht, das nicht mehr nur als Demokratie, als Verwirklichung der Gesellschaft der Gleichen, wahrgenommen wurde, sondern auch als Machtgefüge zur Einschränkung des Pluralismus in der offenen Gesellschaft. Damit hatte sich der Ordnungsentwurf der sozialen Integration, der Gleichheit und Homogenität, erschöpft. Hervorgegangen aus der Großen Krise der dreißiger Jahre war er infolge der Kriegseinwirkungen wirksam geblieben, und er prägte auch die Jahrzehnte des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders. Mit dem Ende des Booms kam auch das Ende des liberalen Konsenses.

Vom Kollektiv zum Individuum: Der Neoliberalismus als konservatives Projekt, 1975/80 bis zur Gegenwart Der dritte Zeitbogen wurzelt in den frühen 1970er Jahren. Seine Spannweite reicht bis zur Gegenwart. Aus pragmatischen Gründen kann man ein vorläufiges Ende im Umfeld der Jahrhundertwende postulieren, weil es einen historisch beglaubigten Schlusspunkt noch nicht gibt. Die Entwicklungen im Westen und im Osten waren zunehmend deutlicher aufeinander bezogen und schienen 1990/91 für einen historischen Moment zu verschmelzen. Damals erfolgte der Durchbruch westlicher „Freiheit“ zum scheinbar allein gültigen Ordnungsmodell. Es wurde allerdings bald erkennbar, dass es sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts um ein neuartiges Modell von „Freiheit“ handelte. Diese Transformation der „Freiheit“ bildete das Basisgeschehen des dritten Zeitbogens. Seit 1970/75, seit den Jahren der Entspannungspolitik mit dem SALT I-Vertrag und der Schlussakte der KSZE, hatten sich die gegenseitigen Abhängigkeiten in Ost und West so weit fortentwickelt, dass nationale Entwicklungen stärker als zuvor im Funktionszusammenhang mit der Dynamik des betreffenden Lagers standen. Die nationalen Eigenheiten blieben auch in der gegenwartsnahen Zeit-

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geschichte deutlich zu erkennen, lassen sich aber nur in ihren Verflechtungen angemessen verstehen. Das Zeitalter der Nationalstaaten erreichte eine späte, eindrucksvolle Hochphase, als die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs mit den besiegten Deutschen im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ den Frieden schlossen, der 1945 ausgeblieben war. Trotz der Entstehung neuer Staaten mit ausgeprägtem Nationalbewusstsein in Osteuropa, ging nach 1990 die souveräne Autonomie des klassischen Nationalstaats zurück und verlor ihre Konturen im Morgennebel der heraufziehenden Globalisierung. Das Ende des Kalten Krieges markierte auch in dieser Hinsicht eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es wirkte zugleich als Katalysator jener Entwicklungen, die sich seit den 1970er Jahren angebahnt hatten und im Verlauf der 1990er Jahre zum Durchbruch kamen. In der modernen Industriegesellschaft deutete sich ein Strukturwandel an, der bis zur Jahrhundertwende geradezu revolutionäre Qualität gewann. Die industrielle Revolution des digitalen Zeitalters stand vor der Tür. Einschneidende Transformationsprozesse gingen ihr voraus und machten sie möglich. So wurden im Verlauf der siebziger Jahre krass gegenläufige sozioökonomische, sozialpolitische und kulturelle Bewegungen erkennbar. Die hohe Dynamik des Reformjahrzehnts der Sechziger wirkte weiter. Die Jahre von 1969 bis 1975 brachten die größte Beschleunigung sozialstaatlicher Expansion. Zur selben Zeit nahm die Strukturkrise der Traditionsindustrien – Kohle und Stahl, Schiffsbau, Textil – bedrohliche Ausmaße an. Die Energiepreise zogen nach dem Ölpreisschock von 1973 scharf an, zu einem Zeitpunkt, als dem Weltwährungssystem soeben die stabilisierende Kraft des US-Dollars als Leitwährung entzogen worden war. Im System der festen Wechselkurse zum Dollar hatte sich der Boom entfaltet, das Handlungskonzept der staatlichen Globalsteuerung wurde in diesem Rahmen zur Norm. Es sah in konjunkturell schlechten Zeiten die Verschuldung des Staates zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung vor, um durch Konsumanreize die Konjunktur wieder in Gang zu bringen. In den 1970er Jahren funktionierte das Instrument der staatlichen Konjunkturspritzen aber nicht mehr. Die Staatsverschuldung nahm zu, die Arbeitslosenzahlen wuchsen unaufhaltsam, die Wirtschaftsleistung ging zurück und die Verbraucherpreise zogen drastisch an. Die Inflation der 1970er Jahre, die Großbritannien am heftigsten, dann die USA und schließlich die Bundesrepublik erfasste, ließ die Handlungsmodelle der Vergangenheit obsolet werden.³⁰ Die Reformen zum Ausbau der sozialen Siche In Großbritannien lag die Inflation 1974/75 bei 24 % und 1980 noch einmal bei etwa 20 %, in den USA bei 12 respektive 14 %. In der Bundesrepublik betrug sie 1975, als die Arbeitslosigkeit erstmals seit Beginn des Wirtschaftswunders 1 Million Menschen erfasste, 8 %.Vgl. Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. München u. a. 2006, S. 512– 517.

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rung, der Infrastruktur und des Bildungssystems, die in diesen Jahren vorgenommen wurden, rechneten allerdings immer noch mit den sprudelnden Steuern des Booms, als diese schon zu versiegen begannen. In der DDR ebnete der soeben an die Spitze der SED berufene Erich Honecker den Weg in Richtung auf eine sozialistische Variante der Konsumgesellschaft. Doch die rapide anwachsende Verschuldung im westlichen Ausland führte den SED-Staat bereits 1982 an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. In den 1970er Jahren erhielten zwei Wirtschaftswissenschaftler den Nobelpreis, die scharfe Gegner von John Maynard Keynes und seiner Theorie des deficit spending waren. Friedrich August von Hayek war schon in der Nachkriegszeit für die Unabhängigkeit der Wirtschaft von steuernden Einflüssen des Staates eingetreten und erhielt 1974 den Preis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Geld- und Konjunkturtheorie. Milton Friedman wurde 1976 für seine Konzeption des Monetarismus ausgezeichnet, der eine Steuerung der Geldmenge durch den Finanzmarkt vorsah und staatliche Globalsteuerung als unwirksam und preistreibend ablehnte. Mit anderen Worten, in diesen Jahren wurde die Funktion des Staates im Wirtschaftsgeschehen neu definiert. Die monetaristische Theorie hielt Einzug in die Führungsetagen der großen Bankhäuser und Staatsbanken. Die alte Linie wurde jetzt „Sozialismus“ genannt und die neue Linie als Option auf „Freiheit“, auf die Freiheit des Marktes vom Staat, beschworen. Die Semantik beider Begriffe veränderte sich grundlegend. An die Stelle des positiv gewerteten sozialen und liberalen Konsenses trat der negativ konnotierte „Sozialismus“. Die Idee der Selbstbestimmung im Rahmen solchen Konsenses, die man im amerikanischen New Deal seit 1933 und im westdeutschen Wiederaufbau seit 1948/49 als „Freiheit“ bezeichnet hatte, wurde durch die gänzlich andere Idee der Unabhängigkeit des Finanzmarkts vom Staat als radikal neue Ordnung von „Freiheit“ ersetzt. 1976 führte die CDU/CSU ihren Wahlkampf zur Bundestagswahl bereits mit der Parole „Freiheit oder Sozialismus“.³¹ Der Konsensliberalismus aus der Epoche des Booms war zum Merkmal des Ancien Régime geworden. Es kam hinzu, dass die wachsende kulturelle Pluralisierung das gesellschaftliche Klima des Konsenses in dessen späten Jahren mehr und mehr beeinflusste. Die Aufbruchstimmung, die in der Hochphase des Booms die Jugendkultur in Bewegung gebracht hatte, kulminierte in der Studentenbewegung. „1968“ bedeutete Protest gegen die Herrschaftsformen in Politik und Wirtschaft und die Emanzipation von den Verkrustungen im gesellschaftlichen Alltag. Die

 Vgl. Martin H. Geyer, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 6. 1974– 1982 Bundesrepublik Deutschland. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten. Baden-Baden 2008, S. 39 – 42.

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studentischen Parolen gegen das „Establishment“ richteten sich gegen das Syndrom von Autorität, das seit der frühen Nachkriegszeit den Erziehungsstil und Habitus der Wiederaufbaugesellschaft prägte. Das hatte viel mit dem Verdrängen und Beschweigen der NS-Vergangenheit zu tun und war, wie angedeutet, von der Berichterstattung über den Judenmord während des Auschwitz-Prozesses nicht unberührt geblieben. Insgesamt aber richtete sich der Aufbruchsgeist gegen die Konformität der Gesellschaft im liberalen Konsens. Von der amerikanischen Westküste über Paris und West-Berlin war die „Freiheit“ aus der Sphäre des Politischen in die Alltagskultur hineingewachsen. Sie beflügelte auch die Jugend in den Bruderländern der UdSSR, insbesondere in Prag. Im Osten wurde der Jugendprotest allerdings unterdrückt, so dass dort die Hoffnung auf Emanzipation und Selbstbestimmung als neue Form von sozialistischem „Fortschritt“ erstarb. Die Grundströmung intellektuellen Dissenses gegenüber der verkrusteten Parteiherrschaft wuchs sich aus in politische Opposition, und die subversive Kraft der verschiedenen Dissidentengruppen in der DDR, Polen und der ČSSR gewann angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs immer größere Attraktivität. Im Westen trieb die Jugendkultur die Pluralisierung einer Gesellschaft voran, die im Wohlstand Sicherheit und im Massenkonsum Zufriedenheit gefunden hatte. Alltagskultur und Konsum wurden vielfältiger. Ein neuer Individualismus in der Konsumentenkultur brach sich Bahn. Es war ein Anspruch auf Freiheit des Einzelnen nach Maßgabe des privaten Interesses. Auch hier begann sich das Verständnis von „Freiheit“ zu wandeln. Die Freiheit des Konsenses im Rahmen von parlamentarischer Demokratie und sozialer Marktwirtschaft trat zurück hinter den Anspruch des konsumistischen Individuums auf seine eigene Freizügigkeit im Rahmen einer freiheitlichen Ordnung, die ganz selbstverständlich als dauerhaft gültig betrachtet wurde. Nach 1970 diffundierte der Aufbruchsgeist in die Neuen sozialen Bewegungen des Umweltschutzes und des Protests gegen den Bau von Atomkraftwerken. Während sich der gewalttätige Seitenstrang in den Anti-AKW-Kohorten und der Terrorismus der RAF ganz diffus gegen den Staat als vorgebliche Verkörperung von kapitalistischer Macht und „faschistischer“ Gewalt wandte, nahmen die Umwelt- und später die Friedensbewegung den „Fortschritt“ der technischen Planung und des ökonomischen Wachstums ins Visier, der 1971 mit der alarmierenden Programmschrift des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ als zerstörerische Gefährdung des Planeten Erde beschrieben wurde. Der „Fortschritt“ schien zu einer globalen Bedrohung und die „Freiheit“ im festgefügten Rahmen des staatlich verbürgten Konsenses zum beengenden Korsett geworden zu sein.

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Die beiden Transformationsprozesse des sozialökonomischen Wandels und der kulturellen Pluralisierung standen in dialektischem Bezug zur Entwicklung des Staatensystems im Ost-West-Konflikt. Die Entspannungspolitik um 1970 relativierte nicht zuletzt den scharfen ideologischen Gegensatz zwischen der „freien Welt“ des Westens und dem „Friedenslager“ des Ostens. Der Eiserne Vorhang wurde durchlässiger. Die Oppositionsbewegungen des sozialistischen Lagers konnten ein größeres Maß an Bekanntheit im Westen erlangen. Die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa legte 1975 vertraglich fest, dass Nachrichten über systemkritische Strömungen in den östlichen Ländern nicht unterdrückt werden dürften, und damit wurde den Oppositionsbewegungen der Resonanzraum der westlichen Medien zugänglich gemacht. Unüberhörbar breiteten sich seit 1976, seit der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR, Protest und Krise in den osteuropäischen Ländern und der UdSSR aus. In den 1980er Jahren beschleunigte sich der Niedergang, bis das Zusammentreffen von Wirtschaftskrise und Bürgerprotest an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts das Ende herbeiführte. Die westliche „Freiheit“ hatte mit der Schlussakte der KSZE den vermutlich entscheidenden Erfolg errungen. Der Zeitpunkt dürfte nicht zufällig mit dem dynamischen Wandel zusammenfallen, der im Transformationsgeschehen seit 1970/75 zu beobachten war. Im Westen bewirkten der industriewirtschaftliche Umbruch und die sozialkulturelle Pluralisierung, dass die Homogenität der Wiederaufbaugesellschaft mit ihrer Chancengleichheit im Wohlstand und ihrer Konsenskultur bis zum Ende der 1970er Jahre an Bedeutung verlor. Der Umschwung im Meinungsklima war also längst in Gang gekommen, als die Regierungen einiger westlicher Länder – USA, Großbritannien, Bundesrepublik – um 1980 mit veränderten Handlungsperspektiven reagierten. Der Wandel in der Politik vom Primat des sozialen Konsenses zum Primat des Subjektivismus, ergänzt in der Sozialkultur durch Pluralisierung und den Umschlag vom Kollektiv zum Individuum, brachte das veränderte, in den Wirtschaftswissenschaften und im Finanzmarkt schon etablierte Verständnis von „Freiheit“ als Norm für einen neuen „Fortschritt“ zur Geltung. Politische Rhetorik und Regierungshandeln nahmen es auf. In Deutschland war von einer „geistig-moralischen Wende“ die Rede, in England hieß es, dass es „so etwas wie Gesellschaft“ gar nicht gebe, und am Ende des dritten Zeitbogens hatte das politökonomische Paradigma in der „Ich-AG“ zumindest propagandistisch seine Erfüllung gefunden.³²

 Zur „geistig-moralischen Wende“ siehe Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982– 1990. München 2006, S. 49 – 55; Judt, Geschichte Europas, S. 610, zitiert Margaret Thatchers Interview mit der Zeitschrift „Woman’s Own“ vom 23.9.1987, wo sie betonte, dass es „so etwas wie

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Strukturwandel und Neuausrichtung des politischen Denkens schufen keine neue, wohl aber eine in ihren Wertvorstellungen und Orientierungsmustern deutlich veränderte Welt. Der Sozialstaat wurde nicht beschädigt, insgesamt aber durch Kurskorrekturen den Umständen angepasst. Damit blieb ein wichtiger Teil des materiellen Fundaments der Konsensgesellschaft unangetastet. Das galt selbst für Großbritannien, wo Premierministerin Margaret Thatcher eine radikale Rhetorik gegen den „Sozialismus“ pflegte, und es galt ebenso für die Bundesrepublik in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl. Das neue Handlungsmuster breitete sich zunächst langsam aus. Es bestand in der Politik der Deregulierung von Wirtschaftsunternehmen und Konzernen in öffentlicher Hand, der Privatisierung von Institutionen im staatlichen Besitz oder der Öffnung von Monopolbetrieben wie Telekommunikation, Post oder Bahn für private Investoren. Die mit der Deregulierung einhergehende Verkopplung von langfristig bedeutsamen Korrekturen an der Infrastruktur mit dem kurzfristigen Gewinninteresse des Investors zahlte sich oft nicht aus, aber sie lag im Trend, der die Hinwendung zum Primat des freien Marktes, den Vorrang des privaten vor dem öffentlichen Interesse und des Subjekts vor der Gemeinschaft erforderte. Die neue Orientierung wurde mit kulturellen Wertzuschreibungen verbunden, die konservativen Zuschnitts waren. Sie wiesen der Familie und einer in sie eingebundenen Lebensweise vorrangige Bedeutung zu. Trotzdem nahm der Individualismus je länger, je mehr den vordersten Rang unter den gesellschaftlichen Werten ein, und die Familie wurde in einen funktionalen Bezug zum vorrangigen Recht des Individualinteresses gebracht. Dieser implizite Widerspruch zum konservativen Leitbild der Familiengemeinschaft und des Generationenzusammenhangs charakterisierte die neue Entwicklung. Aus der politischen Rhetorik zur Bedeutung der Familie ging denn auch eine fiskalische Familienpolitik hervor, die mit dem Instrumentarium des Wohlfahrtsstaates arbeitete und deren kompensatorischer Charakter frühzeitig kritisiert wurde. Hatte sich der Liberalismus nach Jahrzehnten des Konsenses nun zu einer Ordnungskraft der Individualität und Subjektivität verändert? Hatte sich der Liberalismus gar selbst erneuert? Vieles spricht dafür, solche Hypothesen nicht allzu stark zu akzentuieren. Es waren – mit der Ausnahme Frankreichs – konservative Regierungen, die sich in den 1980er Jahren den Konzepten der Deregulierung und Privatisierung verschrieben. Der „Neoliberalismus“, von dem seit dem Übergang von den achtziger in die neunziger Jahre gesprochen wurde, war ein politisches Projekt, das dem Markt den Vorrang vor dem Staat einräumte. Sein

Gesellschaft“ nicht gebe; zur „Ich-AG“ vgl. Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 – 2005. München 2013, S. 530.

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Kennzeichen bestand darin, dass die Gesellschaft sowie die Bindung persönlicher Interessen an das Gemeinwesen nachrangig wurden. Mit dem Neoliberalismus der ordoliberalen Denkschule deutscher Ökonomen am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das nicht viel gemein. Es handelte sich vielmehr um ein atlantisch inspiriertes Modell der politischen Ökonomie, das die „Gesellschaft“ als Handlungsfeld insbesondere dann wahrnahm, wenn sie dem „Markt“ im Wege stand. Das Individuum wurde als Marktteilnehmer verstanden. Der Wert des „Ich“ war an der Wettbewerbsfähigkeit sowie am Mehrwert zu bemessen, den es erwirtschaftete. In dieser Vorstellung hatte „so etwas wie Gesellschaft“ tatsächlich keinen Platz und auch der Staat nur insofern, als er die gesetzlichen und fiskalischen Voraussetzungen schaffen musste, damit die Funktionsfähigkeit des Marktes gewährleistet blieb. Der Zusammenbruch des Ostblocks wirkte verstärkend auf diese Prozesse ein. Im Niedergang der Wirtschaft und im Verfall der Infrastruktur zerfiel auch die Zukunftsperspektive der staatssozialistischen Länder. Den industriellen Strukturwandel vermochten sie nicht mitzuvollziehen, als im Westen der Übergang zur Automatisierung erfolgt war und die Bedeutung der Elektronik kontinuierlich anstieg. In den achtziger Jahren hatte der Mikrochip als Grundstoff der industriellen Fertigung die traditionellen Grundstoffe Kohle, Erdöl und Eisenerz abgelöst. Obwohl die DDR seit dem Ende der 1970er Jahre hohe Summen in den Ausbau der Mikroelektronik steckte, war sie zu keinem Zeitpunkt in der Lage, Anschluss an die Entwicklung im Westen zu finden, weil ihr der Zugang zu den Zentren westlicher Elektronik versperrt blieb. Im Winter 1989/90 war der östliche Teil Deutschlands, wie die übrigen Staaten des Ostblocks auch, zum Entwicklungsland geworden. Zum dritten Mal im 20. Jahrhundert hatte der „Westen“ über ein rivalisierendes Ordnungsmodell den Sieg davon getragen, und wiederum durchlief er darin selbst einen Wandel, indem das Handlungsmuster des Konsenses gegen das neue Handlungsmuster des Subjektivismus im freien Wettbewerb ausgetauscht wurde. So gerüstet, standen die Kräfte westlicher Marktgesellschaften zum Wiederaufbau im Osten bereit, wo technischer Fortschritt und die Ökonomie des Finanzmarkts zum Versprechen einer besseren Zukunft werden sollten. Digitalisierung und Deregulierung, Investition und Rendite beherrschten den Diskurs der Neustrukturierung. Dass damit die ostdeutsche Gesellschaft in ihrer unter Zwang erzeugten, immerzu kontrollierten Homogenität von innen heraus aufgesprengt wurde – eine Gesellschaft, der es seit den 1930er Jahren an jeglicher Erfahrung mit Selbstbestimmung, demokratischem Konsens und Konkurrenzwirtschaft fehlte –, sollte zu einer Belastung zunächst im nationalen Rahmen Deutschlands werden. Im Grunde aber war es so, dass der Zusammenbruch des Ostblocks den 1990 gültigen Ordnungsvorstellungen des Westens eine zerfallene Welt öffnete,

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die nicht nur Europa und die Sowjetunion umfasste, sondern auch das längst im Wandel befindliche China. Die Welt war zum „Westen“ geworden. Was Wunder, dass der amerikanische Präsident George Bush 1990 mit deutlichen Anklängen an Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt die Vision einer „neuen Weltordnung“ der Freiheit beschwor.³³ Bevor diese Vision mit den Twin Towers 2001 in sich zusammenfiel, verging ein Jahrzehnt der technischen Modernisierung, welche die globale Ökonomie des Finanzmarkts erst richtig zum Blühen und Glühen brachte.Von 1995 an war das world wide web verfügbar, und in der digitalen Kommunikation konnten nicht nur Nachrichten und Informationen in Echtzeit um den Globus geschickt werden, sondern auch Zahlen, Summen und virtuelles Kapital. Der Warenaustausch fiel hinter den Datenaustausch zurück. Die wirtschaftliche Wertschöpfung erfolgte an den Bildschirmen des Finanzmarkts, und darin eingebunden war dann die Wertschöpfung an den Fertigungsstraßen der Industrie. Für einen Moment schien die deutsche Entwicklung im politischen und kulturellen Raum des globalen Marktgeschehens aufzugehen. Dass dies aber nur in Grenzen der Fall sein würde, war nicht nur der singulären Aufgabe geschuldet, die Vereinigung der beiden Teilstaaten zu bewältigen. Vielmehr kam die Bindekraft der nationalkulturellen Tradition korporativer Gesellschaftspolitik gerade dann zur Geltung, als es parallel zum Einigungsprozess Europas darum ging, die EU in der Weltökonomie zu verankern. In keinem europäischen Land löste sich die kulturelle Substanz der nationalen Tradition einfach auf. Überall fanden Integrationsprozesse neuen Typs statt, in denen viel Altes erhalten blieb, in denen sich aber zugleich die Transformationsdynamik des Finanzmarktkapitalismus niederschlug und den gesellschaftlichen Wandel vorantrieb. Wie das „SchröderBlair-Papier“ vom Juni 1999 – „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“³⁴ – zeigte, erfasste die Wirkung des neuen Handlungsmusters inzwischen nicht mehr nur die konservativen, sondern auch die sozialdemokratischen Parteien Europas. Diese Neuausrichtung bedeutete eine Abkehr von der sozialdemokratischen Tradition der Staatsorientierung. Das entsprach der Entwicklung bei den Konservativen in den 1980er Jahren. Die programmatischen Unterschiede zwischen rechts und links, zwischen konservativ und sozialistisch, verflüssigten sich

 Vgl. George Bush, Address before a Joint Session of the Congress on the Persian Gulf Crisis, 11.9.1990, online unter: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-before-joint-sessi on-the-congress-the-persian-gulf-crisis-and-the-federal-budget, zuletzt eingesehen am 02.03. 2019.  Die Verfasser waren Bodo Hombach und Peter Mandelson. Vgl. Franz Walter, Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie. Frankfurt am Main 2010, S. 48 ff.

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ebenso wie die stabilen Gewissheiten über die Ordnung der Arbeitswelt, der sozialen Milieus und den Ort des Einzelnen in der Gesellschaft. Das „neoliberale“ Erscheinungsbild der Volksparteien brachte die traditionell liberalen Parteien an den Rand des Ruins. War das das Ende des Liberalismus in seiner für das 20. Jahrhundert charakteristischen atlantischen Spielart, das Ende des „Westens“ als Verkörperung des liberalen Zusammenspiels von Marktwirtschaft und Demokratie? Wo stand das vereinte Deutschland am (vorläufigen) Ende des dritten Zeitbogens in der Geschichte des 20. Jahrhunderts? Die Antwort darauf bleibt in der Zukunft aufgehoben, doch eines ist zur Gewissheit geworden: Der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft haben ihren Platz im atlantischen Ordnungssystem gefunden und sich darin zu entfalten gelernt.

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Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts Internationale Geschichte vollzieht sich in Staatensystemen. Sie formen die Handlungsmuster der Akteure, sie bestimmen die Perspektive und markieren die Grenzen für die Politik eines jeden Landes. Gleichzeitig wirken die Akteure auf die jeweilige Staatsordnung ein, verändern die Strukturprinzipien und führen neue Konstellationen herbei. Ein zentraler Zugang zur internationalen Geschichte ergibt sich daher aus der konsistenten Interpretation von Entwicklungsbedingungen solcher Systeme. Das europäische Mächtesystem hat die Geschichte seit der Frühen Neuzeit stark geprägt. Es war deshalb immer wieder Gegenstand historischer Betrachtung und wird das auch in Zukunft sein: Keine nationale Geschichte kommt ohne die Analyse ihrer internationalen Dimension aus.¹ Dabei gilt es bewußt zu halten, dass das Gefüge der Staatenwelt Europas, welches sich seit der Epoche des Imperialismus, der Zwischenkriegszeit und endgültig nach 1945 zum Weltstaatensystem ausweitete, zu keiner Zeit eine fixe historische Größe darstellte. Es bestand vielmehr aus unterschiedlichen Konfigurationen von Ländern, deren Politik allerdings dadurch gekennzeichnet war, dass die Machtprojektionen ihren Schnittpunkt immer in Europa hatten. Seit 1815 umfaßte das System sowohl unterschiedliche

 Hier sind zuerst die beiden klassischen Texte zu nennen: Leopold von Ranke, Die großen Mächte (1833), in: Ranke, Leopold von, Sämtliche Werke, Bd. 24. Leipzig 1876, S. 1– 40; Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Geschichte. Krefeld 1948. Den ideen- und rechtsgeschichtlichen Zugriff repräsentieren: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Bd. 1. Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus. Göttingen 1972; Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens. Bd. 2. Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege. Göttingen 1982; Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte. 2. Aufl. Baden-Baden 1988. Zwei neuere Darstellungen mit unterschiedlichem Thema und Zugriff repräsentieren die Spannweite der interpretatorischen Möglichkeiten: Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000. New York, NY 1988; Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763 – 1848. Oxford 1994.Vgl. das Urteil von Klaus Hildebrand zu Kennedy: Mars oder Merkur? Das Relative der Macht oder: Vom Aufstieg und Fall großer Reiche, in: Historische Zeitschrift 250, 1990, S. 347– 356, und zu Schroeder, in der Rezension des Buchs, in: Historische Zeitschrift 261, 1995, S. 117– 120. Die gegenwärtige Diskussion über Staatenordnung und Systemgeschichte ist greifbar über den Band von Peter Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit. München 1996. https://doi.org/10.1515/9783110633870-003

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Mächtegruppierungen und Koalitionen als auch verschiedenartige, ja gegensätzliche Organisationsformen in den Staatenbeziehungen. Um die geläufige Rede vom europäischen Staatensystem zu präzisieren, empfiehlt es sich daher, die Epochen seiner Entwicklung zu kategorisieren und auf den Begriff zu bringen. Welche Erscheinungsformen des Systems seit dem Ende der napoleonischen Kriege lassen sich unterscheiden? Durch welche Strukturen und Handlungsmuster sind sie jeweils gekennzeichnet? Wie verläuft der Übergang von einer Erscheinungsform in eine andere? Nach meiner Auffassung weist folgende Unterteilung die größte Erklärungskraft auf: Für die Zeit von 1815 bis 1990/91 lassen sich drei klar gegeneinander abgrenzbare Ausprägungen des Staatensystems erkennen, die zugleich wichtige Epochen der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts markieren. Die Übergänge von einer Epoche in die andere und der damit verbundene Gestaltwandel des Staatensystems vollzogen sich langsam und nahmen durchweg Zeiträume von Jahrzehnten in Anspruch. Gleichwohl läßt sich schematisierend feststellen, dass nach grundstürzenden Umbrüchen in der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur einer jeweils größeren Anzahl von europäischen Ländern ein Zeitraum von etwa vier Jahrzehnten folgte, innerhalb dessen das Staatensystem, seine Organisationsform und die Handlungsmuster der Politik relativ konstant blieben, um dann, nachdem Formen der Erstarrung oder der Verschleiß einer bestimmten Räson in den zwischenstaatlichen Beziehungen schon zuvor spürbar geworden waren, von einer Phase der Veränderung bis hin zur Zerstörung abgelöst zu werden, an deren Ende der Zwang zur politischen Neugestaltung stand. Das Schema der Geschichte des europäischen Staatensystems würde folglich so aussehen: Die erste Phase reichte vom Wiener Kongreß 1814/15 bis an die Schwelle der 1870er Jahre. Sie umfaßte die Epoche der Wiener Ordnung und der europäischen Pentarchie von etwa 1820 bis ins Vorfeld des Krimkriegs, die nach dem Pariser Frieden des Jahres 1856 in einen Zustand der Auflösung geriet, bevor in den 1860er Jahren die Entscheidung zwischen den Alternativen Reform oder Zerstörung fiel. In jenen gut fünf Jahrzehnten war die Politik der Großmächte vom Denken in der Kategorie einer europäischen Gesamtordnung gekennzeichnet, die durch ein multilaterales Vertragssystem konstituiert wurde und die Handlungsspielräume eines Staats an den stillschweigenden Konsens aller anderen band. Die zweite Phase reichte von den 1870er Jahren bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie war charakterisiert von der Existenz autonomer Machtstaaten, die durch kein multilateral angelegtes System in ihrer Souveränität beschränkt wurden. Die Bündnisse, die nach 1870 entstanden, waren aus der aktuellen Interessenlage je eines dieser Machtstaaten konzipiert und allein auf konkrete politische Ziele des betreffenden einzelnen Staates gerichtet. Das änderte sich auch

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nach dem Ersten Weltkrieg nicht grundlegend, weil die Idee einer neuen multilateralen Ordnung – die Idee des Völkerfriedens, institutionalisiert im Völkerbund – mit den Interessen der Akteure im Staatensystem nicht harmonierte und deshalb keine Macht entfalten konnte. In den dreißiger Jahren demonstrierten die aggressivsten Mächte, Deutschland, Italien (und Japan), ihre Nichtachtung des Versuchs zu internationaler Stabilisierung, indem sie den Völkerbund verließen und aus je nationalegoistischem Machtkalkül Krieg vom Zaun zu brechen bestrebt waren. Erst der Zweite Weltkrieg beendete die Epoche des autonomen Machtstaats in Europa und markierte den Übergang in eine neue Ordnung des Staatensystems. Die dritte Phase umfaßt den Zeitraum nach 1945 und ist gegenwärtig – nach allem, was wir als Zeitgenossen erkennen können – noch nicht abgeschlossen. Das europäische Staatensystem war von Anbeginn seit den späten vierziger Jahren in einen globalen Kontext eingebunden, und die Bipolarität bezog Asien und später die sog. Dritte Welt ebenso ein wie Europa. Gleichwohl blieb es, seiner Räson nach, ein Ausdruck europäischer Traditionen, weil die USA, Großbritannien und die UdSSR aus dem europäischen Kontext hervorgewachsen waren und über die asiatischen Akteure, China und Japan, dominierten. Die Strukturen des Nachkriegssystems waren tiefgreifend verändert und wiesen kaum noch Ähnlichkeiten mit denen der zweiten Phase auf. Die Gründe lagen keineswegs nur darin, dass die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR seit 1947 die Blockbildung förderte und die Konsolidierung der Staatenbeziehungen innerhalb der Blöcke vorantrieb. Sie lagen ebensosehr darin, dass die Politik insbesondere im Westen von den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit her konzipiert wurde und darum bemüht war, Entscheidungen, die sich als falsch oder konfliktträchtig erwiesen hatten, nicht ein zweites Mal zu treffen. Sowohl die Gründung der Vereinten Nationen mit den USA, Großbritannien, Frankreich, der UdSSR und China als Ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat, die noch vom Geist der Anti-HitlerKoalition getragen war und die Welt gegen jeglichen neuen Faschismus sicher machen sollte, als auch die Anfänge der europäischen Integration nach der Verkündung des Marshallplans mittels der OEEC sowie die Gründung der NATO erfolgten sämtlich zu einem Zeitpunkt, der vor der Neuorganisation der Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten lag. Die deutsche Teilung und die Festigung der Blöcke innerhalb Europas gingen deshalb in einem vorgegebenen strukturellen Rahmen vor sich, der neuartig war. Da die handelnden Zeitgenossen lediglich die Einflüsse internationaler Politik und die Aktionsmuster aus der vorangegangenen Phase des europäischen Staatensystems selbst erlebt hatten, vollzogen sich die westeuropäische Integration und die Ausgestaltung der europäisch-atlantischen Allianz vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung als präzedenzlose Neuerungen. Ähnliches galt für die Entwicklung im östlichen Block, obwohl hier das Modell des autonomen Machtstaats in der sowjetischen Politik immer erkennbar blieb.

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Versuchen wir nun, diese schematisierende Skizze in drei Schritten soweit zu veranschaulichen, dass die historische Eigenart der einzelnen Epochen des Staatensystems sichtbar gemacht und analysiert werden kann.

Die Phase der Wiener Ordnung und des Europäischen Konzerts 1815 bis 1870 Die Entwicklung vom Wiener Kongreß bis in die 1860er Jahre war von der Dominanz eines politisch-ideologischen Prinzips gekennzeichnet, welches die Struktur der Wiener Ordnung prägte. Die Entwicklung war sodann gekennzeichnet vom Scheitern dieses Prinzips infolge der Revolution um 1848 sowie von den nachfolgenden Versuchen, die zerbrochene Struktur der Wiener Ordnung durch eine neuartige, andersartige zu ersetzen.² Das Prinzip war die prophylaktische Abwehr von „Revolution“. Darunter subsumierten die politischen Akteure in den Kabinetten der europäischen Staaten nach 1815 dasjenige, was mit der von ihnen angestrebten Neuordnung nach der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen nicht vereinbar war.³ Die prophylaktische Abwehr von „Revolution“ war keineswegs ein bloß außenpolitisches Prinzip, sondern sie betraf die Verfaßtheit von Gesellschaft, Staat und Staatensystem im Ganzen, wobei die inneren Verhältnisse in den einzelnen Ländern von England über Preußen bis nach Rußland gleichwohl gravierende Unterschiede aufwiesen. „Revolution“ meinte ungeachtet dessen die neuen Bewegungen, die aus der Gesellschaft heraus entstanden und politische Mitbestimmung des Bürgertums, Freiheitsrechte von der Pressefreiheit bis zum Wahlrecht, freien Handel und die nationale Selbstbestimmung der Völker betrafen.⁴ Die Struktur der Wiener Ordnung war in allen europäischen Ländern sowohl politisch als auch sozial konservativ in dem Sinne, dass der dynastisch-monarchische Staat den Organisationsrahmen für Bevölkerungen bildete, die nicht als Staatsbürger, sondern als  Paul W. Schroeder, The Vienna System and Its Stability. The Problem of Stabilizing a State System in Transformation, in: Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel, S. 107– 122; Anselm Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem. Göttingen u. a. 1991.  Als Überblicksdarstellung und Einführung in die Forschungsdiskussion siehe Anselm DoeringManteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815 – 1871. München 1993. Die gegenwärtig gültige detaillierte Interpretation des Zeitraums bis 1848 bietet Schroeder, The Transformation of European Politics, S. 477– 636.  Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1849. 3. Aufl. München 1993; Günther Heydemann, Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschlandund Italienpolitik 1815 – 1848. Göttingen u. a. 1995.

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„Seelen“ wahrgenommen wurden und wo der einzelne sich als Untertan seines Fürsten, aber nicht als Angehöriger einer Nation zu verstehen gewohnt war. Im Selbstverständnis der herrschenden Schicht in den einzelnen Ländern bestand das System der Mächte nach 1815 aus einer Konfiguration von Monarchien, und die Wiener Ordnung war eine Ordnung monarchischer Staaten, die es gegen die Nationalstaatsbestrebungen insbesondere in den zentraleuropäischen Gesellschaften zu bewahren galt. Als es im Jahre 1848 von Frankreich bis nach Polen und von Dänemark bis nach Italien zur Revolution kam, war das Prinzip der Wiener Ordnung historisch überwunden.⁵ Es dauerte bis in die Jahre des Krimkriegs, bis dieses Faktum auch das Handeln der Mächte beeinflußte. Das Prinzip der Nation begann jetzt dominierend zu werden.⁶ Politik aus eigenstaatlichem Interesse wurde immer weniger mit dem in der Wiener Ordnung sehr bewußt wahrgenommenen europäischen Interesse abgeglichen und insofern multilateral konzipiert, sondern sie wurde zunehmend autonom durchgeführt und zum Nachteil der langsamer oder nach den traditionellen Maßstäben agierenden und der schwächeren Staaten praktiziert. Am Ende der 1860er Jahre war die Wiener Ordnung beseitigt und durch eine Konfiguration vertraglich untereinander nicht multilateral verbundener und insofern autonomer Staaten ersetzt worden. Wie sah die Struktur der Wiener Ordnung aus? Die Staaten Europas hatten in den Jahren zwischen 1814/15 und 1820/22 ein Netzwerk von Verträgen geschaffen, deren bedeutendste die Schlußakte des Wiener Kongresses und die Allianzen der Großmächte aus dem Jahr 1815 waren.⁷ Sowohl die Territorialordnung Europas nach dem Sieg über Napoleon als auch das Prinzip einer Politik gegen „die Revolution“ wurden in diesen Verträgen dergestalt verankert, dass keine Großmacht außerhalb dieses konsensualen Rahmens agieren konnte, ohne nicht Sanktionen der anderen Mächte gewärtigen zu müssen. Gewiß waren die Regelungen fast von Anfang an so flexibel gehalten, dass derart gegenläufige Interessen wie die des staatlich geschlossenen, parlamentarisch verfaßten und wirtschaftlich modernen England und jene der staatenübergreifenden anationalen und vormodernen Habsburger Monarchie innerhalb dieses Rahmens zur Geltung gebracht werden

 Michael Stürmer, Die Geburt eines Dilemmas. Nationalstaat und Massendemokratie im Mächtesystem 1848, in: Merkur 36, 1982, S. 1– 12.  Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40, 1995, S. 190 – 236.  Charles K. Webster, The Foreign Policy of Castlereagh 1815 – 1822. London 1925; Karl Griewank, Der Wiener Kongreß und die Europäische Restauration 1814/15. 2. Aufl. Leipzig 1954; Guilleaume Bertier de Sauvigny, Metternich et la France après le Congrès de Vienne. 3 Bde. Paris 1968 – 74; Enno E. Kraehe, Metternich’s German Policy. Bd. 2. The Congress of Vienna 1814– 1815. Princeton, NJ 1983.

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konnten. Das Ziel galt der Bewahrung des Friedens, indem „der Revolution“ mit der möglichen Folge eines europäischen Krieges vorgebeugt werden sollte. Die Vorstellungen über die richtige Politik zu diesem Zweck waren unterschiedlich, führten auch zu Spannungen innerhalb der Pentarchie, blieben aber der Struktur der Wiener Ordnung klar verhaftet. Eine revolutionäre Krise sollte vermieden werden, entweder durch jeweils rechtzeitige, gemäßigte und sozial konservative Reformmaßnahmen, wie es die Briten forderten, oder durch möglichst umfassende, radikale Unterdrückung der Kräfte der Bewegung, wie sie Metternichs Österreich mit Unterstützung Rußlands und Preußens zu praktizieren bestrebt war. Trotz der Julirevolution von 1830 blieb die gemeinsame Zielsetzung innerhalb der Pentarchie bis in die Jahre der 1848er-Revolution politikbestimmend und wurde dazu genutzt, der Gefahr entgegenzuarbeiten, dass aus der Revolution in den einzelnen europäischen Ländern ein Krieg zwischen den Staaten entstand.⁸ Das Handlungsmuster der Großmächte erwuchs aus der Struktur der Wiener Ordnung. Die netzwerkartige Anlage der europäischen Verträge bezog die außenpolitischen Spielräume der Staaten multilateral aufeinander, indem sie sie an ein gemeinsames europäisches Interesse band. Als Instrument der Großmächtepolitik diente das Europäische Konzert, welches keine förmliche Institution war, sondern nur bei Bedarf installiert wurde. Im Falle einer Krise zwischen zwei Staaten trat es als Botschafter- oder Ministerkonferenz der Pentarchie und, wo nötig, der Konfliktparteien in Aktion, um zum Zwecke der Krisenbewältigung das aktuelle europäische Interesse zu definieren und darüber die Lösung der Krise zu erreichen.⁹ Das Handlungsmuster der Wiener Ordnung war noch weitgehend von der traditionellen Arkanpolitik des absolutistischen Staats geprägt.¹⁰ Im Jahrzehnt nach 1848 traten hier Veränderungen ein, indem Außenpolitik zunehmend mit dem Appell an die Bevölkerung via Presse und, soweit es Vertretungskörperschaften gab, Parlaments- und Wahlkampfreden verbunden wurde. Außenpolitik wurde im Verlauf der 1850er und dann vor allem in den 1860er Jahren zu einer öffentlichen Sache gemacht, und darüber mußte die Öffentlichkeit im jeweiligen

 Hans-Henning Hahn, Internationale Beziehungen und europäische Revolution. Das europäische Staatensystem in der Revolution von 1848. Phil. Habil.schr. Köln 1986; Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem, S. 8 – 31 und S. 74– 91.  Carsten Holbraad, The Concert of Europe. London 1970; Richard B. Elrod, The Concert of Europe. A Fresh Look at an International System, in: World Politics 28, 1976, S. 159 – 174.  Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß. Darmstadt 1976.

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Land ein Bewußtsein ihrer selbst entwickeln.¹¹ Deshalb bewegten sich in Norditalien, im Deutschen Bund, in Preußen und auch in Österreich die nationalen Kräfte in der Gesellschaft und jene Protagonisten von auswärtiger Politik, die erkennbar nationalpolitische Ziele verfolgten, aufeinander zu.¹² Die piemontesische und die preußische Politik nutzten und förderten diese Entwicklung, die österreichische, aber auch die bayerische oder die sächsische taten es nicht, sie konnten es nicht tun. Denn in den Staaten des Deutschen Bundes fanden sie keine übergreifende nationale Öffentlichkeit außer der deutschen, die überwiegend und längst schon zur preußischen Seite hin offen war.¹³ Die Struktur der Wiener Ordnung wurde in den 1850er Jahren beseitigt, nachdem das ideologische Prinzip der europäischen Politik durch 1848 seinen Sinn verloren hatte. Die Entriegelung der multilateralen Ordnung von 1815 erfolgte im Vorfeld und während des Krimkriegs zunächst durch Frankreich,¹⁴ dann aber maßgeblich vorangetrieben durch Großbritannien, den wirtschaftlich fortschrittlichsten und politisch mächtigsten Staat jener Zeit.¹⁵ England benutzte in den Jahren des Krimkriegs das Europäische Konzert, um eine dezidiert nationalegoistische Interessenpolitik gegen die Vorstellungen der verbündeten Mächte Frankreich und Österreich und des neutralen Preußen zu verfolgen. Die Verträge von 1815 wurden zwar durch den Krieg und die Pariser Friedenskonferenz 1856 förmlich nicht revidiert, faktisch aber annulliert. Der Netzwerkcharakter des europäischen Völkerrechts und das daran gebundene Erfordernis einer multilateralen Politik der europäischen Mächte erschienen weiterer Beachtung nicht wert.¹⁶ Nach dem Ende der Wiener Ordnung in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre wurden dann ab 1860 gegenläufige Versuche erkennbar, neue politische Normen im Staatensystem zu etablieren. Bemerkenswert war die englische Absicht, das Konzept des Vertragsnetzwerks zu erneuern, aber in einer spezifischen Richtung zu transformieren. Während der 1860er Jahre erfolgte von London aus der Ver-

 Lothar Gall, Liberalismus und Auswärtige Politik, in: Hildebrand, Klaus/Pommerin, Reiner (Hrsg.), Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hillgruber zum 60. Geburtstag. Köln u. a. 1985, S. 31– 46.  Adolf M. Birke/Günther Heydemann (Hrsg.), Die Herausforderung des europäischen Staatensystems. Nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus. Göttingen u. a. 1989.  Vgl. Dieter Langewiesche, Deutschland und Österreich. Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42, 1991, S. 754– 766.  William E. Echard, Napoleon III. and the Concert of Europe. Baton Rouge, LA u. a. 1983.  Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz.  Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain, and The Crimean War. The Destruction of the European Concert. Ithaca, NY u. a. 1972.

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such, das europäische Staatensystem als ein Handelsvertragssystem zu organisieren und gemäß dem eigenen nationalen Interesse zu steuern.¹⁷ Dem Konzept lag die Idee der Protagonisten des Freihandels, Richard Cobden und John Bright, zugrunde, dass, wenn der Handel ungehindert floriere, die Anlässe zu Konflikten zwischen den Staaten entfallen würden. Politik würde dann nur noch nötig sein in Gestalt von Handelspolitik, so dass ein Netzwerk von Handelsverträgen die prinzipienpolitischen Verträge der Wiener Ordnung adäquat ersetzen könnte. Ein solches Netzwerk von England aus zu organisieren und zu steuern, würde Englands hegemoniale Stellung im Staatensystem sowohl unter handels- als auch unter machtpolitischen Gesichtspunkten festigen. Wir fassen hier einerseits recht deutlich eine Politikvorstellung des autonomen Machtstaats, dessen Interessen und Entscheidungen nicht durch den Zwang zu mulitlateraler Abstimmung beeinträchtigt sein sollten. Andererseits war im angestrebten Handelsvertragssystem der Anspruch der Multilateralität noch vorhanden, weil die von London abgeschlossenen Handelsverträge mit den verschiedenen europäischen Staaten durch entsprechende Verträge dieser Staaten untereinander ergänzt werden sollten. Die britische Hegemonie im Staatensystem sollte durch die vertragliche Verzahnung der Partner untereinander um so stärker stabilisiert werden.¹⁸ Während der Versuch Londons fehlschlug, britische Hegemonie im Mächtesystem und Cobdensche Ideologie miteinander zu verbinden, erwies sich das Vorgehen der kontinentalen Mächte Frankreich und Preußen als erfolgreich, die Frage nach Hegemonie oder Präponderanz im Staatensystem und der Umgliederung der kontinentalen Staaten infolge des Drucks der italienischen und deutschen Nationalbewegungen militärisch zu beantworten, als zukunftsweisend. So wurde dem englischen Interesse in den 1860er Jahren, eine autonome eigenstaatliche Hegemonie mit dem Medium eines Systems von Handelsverträgen auszuüben, schon ab 1859 durch Frankreich und dann durch Preußen seit 1862/64 das Prinzip einer Machtpolitik entgegengesetzt, welche ebenfalls allein dem eigenstaatlichen Interesse verpflichtet, ansonsten aber nicht handelspolitisch, sondern militärisch ausgerichtet sein sollte. Frankreichs Politik von 1858/59, die den Krieg gegen Österreich um Norditalien plante und provozierte, kannte ebenso wie die englische kein „europäisches“ Interesse mehr, sondern nur noch das eigenstaatliche französische. Preußens Politik, welche die Kriege gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 wo nicht plante und provozierte, so doch suchte und herbeiführte, kannte nur das Hegemonialinteresse des preußi Gabriele Metzler, Großbritannien – Weltmacht in Europa. Handelspolitik im Wandel des europäischen Staatensystems 1856 bis 1871. Berlin 1997.  Anselm Doering-Manteuffel, Großbritannien und die Transformation des europäischen Staatensystems 1850 – 1871, in: Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel, S. 153– 170.

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schen Staats gegen Österreich im Deutschen Bund und wurde ansonsten von der monarchisch-adligen Oberschicht aus Furcht vor der revolutionären Qualität der Nationalbewegung angetrieben. In beiden Fällen, im französischen wie im preußischen, baute diese Politik auf der seit 1856 gewonnenen Einsicht auf, dass durch die faktische Annullierung des Vertragswerks von 1815 und der Wiener Ordnung nicht länger mit der Intervention einer europäischen Großmacht gerechnet zu werden brauchte, wenn ein regionaler Staatenkrieg vom Zaun gebrochen wurde, der nicht die Gefahr in sich barg, zum europäischen Konflikt zu eskalieren.¹⁹ Der auf seine militärische Kraft gestützte, wirtschaftlich-industriell und in den Bevölkerungszahlen expandierende nationale Machtstaat sollte die nächste Epoche bestimmen. Die Wiener Ordnung hatte den Krieg in Europa tabuisiert, weil die Kabinette der europäischen Monarchien nach der Erfahrung der Französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons den Zusammenhang von Revolution und europäischem Krieg als unausweichlich annahmen. Die Überwindung dieser ideologischen Annahme durch die Erfahrungen von 1848 – 51 und die Beseitigung der darauf beruhenden zwischenstaatlichen Vertragsregelungen machten den zweckgerichteten knappen Krieg zwischen europäischen Staaten möglich. Die revolutionäre Eskalation dadurch, dass diese Staatenkriege zu Nationenkriegen wurden und der politischen Kontrolle entglitten, war nicht beabsichtigt, konnte sich aber als Konsequenz der gestiegenen Bedeutung nationaler Öffentlichkeit ergeben. Der deutschfranzösische Krieg bietet hierin ein besonders instruktives Beispiel.²⁰ Indem während der 1860er Jahre die militärische Variante eigenstaatlicher Interessenpolitik die Oberhand gewann, konnte sich bis 1870 im europäischen Staatensystem die Konzentration auf Stärke und Drohung als das entscheidende Referenzmerkmal europäischer Großmachtpolitik durchsetzen. Parallel dazu lösten die Staatsbildungen in Italien und Deutschland mit dem Ende der Wiener Ordnung auch die monarchische Struktur des Staatensystems durch die nationalstaatliche ab. Der moderne Nationalstaat in Europa formte sich seit den 1860er Jahren als Machtstaat aus, und dieser Machtstaat agierte autonom in einem – hinsichtlich europäischer multilateraler Völkerrechtsregelungen – weitgehend rechtsfreien Raum. Im europäischen Staatensystem der nun folgenden Phase

 Klaus Hildebrand, Die „Krimkriegssituation“ – Wandel und Dauer einer historischen Konstellation der Staatenwelt, in: Dülffer, Jost u. a. (Hrsg.), Deutschland in Europa. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber. Berlin 1990, S. 37– 51.  Eberhard Kolb, Der Weg aus dem Krieg. Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung 1870/71. München 1990; Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792– 1918. Stuttgart 1992.

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wurden die internationalen Beziehungen nach dem je aktuellen Interessenkalkül der Mächte organisiert. Ein multilaterales Vertragsrechtssystem als verbindlicher Rahmen für alle Akteure galt nur als Hemmnis bei der Kraftentfaltung des einzelnen Staats.

Das Staatensystem im Bann der autonomen nationalen Machtstaaten 1870 bis 1945 Die zweite, mittlere Phase in der Geschichte des europäischen Staatensystems zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ende des 20. Jahrhunderts umfaßte die Epoche von den mitteleuropäischen Nationalstaatsgründungen 1860/70 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Der innere Zusammenhang dieser ereignis- und entwicklungsgeschichtlich so zerrissenen Epoche erschließt sich durch die Analyse der dominierenden politischen Idee in jenem Zeitraum von etwa achtzig Jahren. Das war die Idee des nationalen Staats als Gehäuse und Vehikel der aktiven, dynamischen prosperierenden Nation. Sie hatte in England und Frankreich seit Beginn der 1850er Jahre die Argumentationen in der Politik und die Bewußtseinsbildung in der Öffentlichkeit mehr und mehr beeinflußt und ihren frühen zeittypischen Ausdruck in den beiden ersten Weltausstellungen in London 1851 und Paris 1855 gefunden; die Modernität von Wirtschaft, Gesellschaft und staatlichen Institutionen setzte den Maßstab für den Rang einer Nation in der Konkurrenz der Großmächte.²¹ Das hatte die Entwicklung in Mitteleuropa zwischen 1850 und 1870 mit vorangetrieben, die Nationalstaatsgründungen in Italien und Deutschland befördert und die Habsburger Monarchie als europäische Macht immer weiter in den Hintergrund geschoben. Deren Niedergang resultierte aus dem geringen industriewirtschaftlichen und handelspolitischen Entwicklungspotential und der nicht-nationalen Struktur des Staatswesens.²² Die Idee von Staat und Nation als einer dynamischen Einheit integrierte die traditionellen Machtmittel des Staates – Finanzen und Militär – und die neuen Ressourcen der Kraftentfaltung – Technik, Industrie und Wissenschaft. Das zusammengenommen bildete die Grundlage für die Interaktion der Großmächte. Noch befördert durch die wissenschaftliche und ideologische Zeit-

 Vgl. Utz Haltern, Die Weltausstellung von 1851. Münster 1971.  Vgl. Heinrich Lutz/Helmut Rumpler (Hrsg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und sozialkulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa. München 1982; Helmut Rumpler (Hrsg.), Deutscher Bund und Deutsche Frage 1815 – 1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation. Wien u. a. 1990.

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strömung des Darwinismus entwickelte sich daraus vor der Jahrhundertwende ein Politikverständnis, das um die Kategorien Rivalität und Hegemonie zentriert war.²³ Obwohl es eine allgemeineuropäische Erscheinung bildete, war dieses Politikverständnis gleichwohl nicht in einem Wurzelboden europäischer multilateraler Regelungsmechanismen verankert, sondern konnte sich ungebunden entfalten. So verwundert es kaum, dass die Epoche der beiden Weltkriege vollständig in diesen Problemzusammenhang hineingehört. Bis 1939/45 blieb Europa ein politischer Großraum ohne wirkungsmächtige staatenübergreifende Ordnungsformen, so dass die Idee der bindungsfreien und zugleich dynamischen Einheit von Staat und Nation als ein genuin europäisches Phänomen in ihren verschiedenen nationalen Spielarten frei fluktuieren konnte.²⁴ Die Struktur des Staatensystems war in dieser Epoche durch die Absenz von politisch relevanten Bindungen prinzipieller Natur und multilateralen Charakters gekennzeichnet. Diese „Anarchie“²⁵ in den Staatenbeziehungen ermöglichte jeder europäischen Großmacht ein Höchstmaß an Bewegungsfreiheit und legte den Abschluß von Bündnissen mit einem oder mehreren Staaten nur dann nahe, wenn ein konkretes eigenes nationales Interesse das erforderte. Deshalb gab es in jedem Jahrzehnt der Epoche eine ganze Anzahl von Bündnissen zwischen den verschiedenen Mächten. Ein europäisches Völkerrecht oder eine andere, für alle Staaten verbindliche Norm internationaler Politik zur Konfliktregelung und Krisenstabilisierung hingegen gab es nicht, obwohl die Versuche in dieser Richtung zahlreich waren.²⁶ Spätestens an der Jahrhundertwende ließ sich nicht mehr übersehen, wie risikoträchtig diese Struktur des Staatensystems ohne festes Fundament war. Deshalb wurden, gewissermaßen in dialektischem Bezug zu der „anarchischen“ Struktur, in dieser Epoche seit den späten 1890er Jahren bis ins Vorfeld des Ersten Weltkriegs immer wieder Versuche gemacht, neue Formen von Multilateralität zu etablieren. Sie sollten dazu dienen, die Politik in Krisenfällen steuerbar zu erhalten und Normen der politischen Selbstbeschränkung im Verfolg

 Gollwitzer, Weltpolitisches Denken. Bd. 2, S. 23 – 82; Hans-Ulrich Wehler, Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: Geiss, Immanuel/Wendt, Bernd Jürgen (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Düsseldorf 1973, S. 133 – 142; Hansjoachim W. Koch, Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München 1973; Geoffrey R. Searle, Eugenics and Politics in Britain, 1909 – 1914. Leyden 1976.  Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München 1994, S. 243 – 317.  Werner Näf, Versuche gesamteuropäischer Organisation und Politik in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Näf, Werner (Hrsg.), Staat und Staatsgedanke. Bern 1935, S. 9 – 27.  Gollwitzer, Weltpolitisches Denken. Bd. 2, S. 31– 34 und passim.

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des nationalen Interesses zu installieren, wie sie nach dem Abgang Bismarcks zunehmend deutlich vermißt wurden. Am Beginn standen die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, die auch die USA ins System der europäischen Großmächte hineinbrachten und auf multilaterale Verträge zur Abrüstung, Rüstungsbegrenzung und Friedenssicherung zielten.²⁷ Den Höhepunkt bildete der Völkerbund. Als Produkt des Ersten Weltkriegs war er nicht nur darauf ausgerichtet, politische Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen sollten, mit den Mitteln der Politik einen weiteren mörderischen Krieg wie diesen zu verhindern, sondern er sollte zugleich eine Instanz zur Neubegründung eines international gültigen Wertekanons in der Außen- und Sicherheitspolitik sein.²⁸ Mit dem Konzept des Völkerbundes als einer internationalen politischen Werteinstanz wurde die Ideologie des angloamerikanischen Liberalismus als Ordnungssystem für Wirtschaft, Verfassung und Außenpolitik aller Staaten im Rahmen des Staatensystems zur Geltung gebracht. Die Mächte, die im technischwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß die dominierende Position einnahmen und im Krieg ihren schärfsten Konkurrenten Deutschland aus dem Feld geschlagen hatten, brachten mit dem Medium des Völkerbunds ihre Ordnungsvorstellungen als ein Normangebot in die internationale Politik ein.²⁹ Zwar scheiterte der Völkerbund in dieser Hinsicht, weil die gegenläufigen Kräfte aus der Tradition der europäischen Mächtepolitik seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach 1918 bis 1939 noch überwiegend politisch bestimmend blieben, aber er wies voraus auf den nächsten Schritt zu einer wertgebundenen Neuordnung des Staatensystems, der nach dem Kriegseintritt in den Zweiten Weltkrieg von den USA geplant und später in Gestalt der Vereinten Nationen, insbesondere aber mit dem westlichen Bündnissystem seit 1949/50 realisiert wurde.³⁰ Dass die Struktur des Staatensystems als Addition bindungsfreier nationaler Machtstaaten mit den materiellen Bedürfnissen und Zwängen der Gesellschaften, Volkswirtschaften und Verwaltungen in den einzelnen Ländern nicht überall

 Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Berlin u. a. 1981.  Alfred Pfeil, Der Völkerbund. Literaturbericht und kritische Darstellung seiner Geschichte. Darmstadt 1976.  Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century. Princeton, NJ 1994; Winfried Baumgart,Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles. Darmstadt 1974.  Gottfried Niedhart, Internationale Beziehungen 1917– 1947. Paderborn 1989; Kathleen Burk, The Lineaments of Foreign Policy. The United States and a „New World Order,“ 1919 – 39, in: Journal of American Studies 26, 1992, S. 377– 391.

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zusammenpaßte, zeigte sich auf einer anderen Ebene als der „Großen Politik“. Der zunehmende Bedarf an internationaler Kommunikation und Information, an Austausch von Waren und Wissen erzeugte wiederum seit den 1890er Jahren eine auffällige Ausweitung von multilateralen Aktivitäten. Es entstand ein „gouvernementaler Internationalismus“, der in zahlreichen Konferenzen darauf gerichtet war, die Modernisierungsfolgen der Industrialisierung zu bewältigen. Die Notwendigkeit der Normierung von Maß und Gewicht, die Sicherung grenzübergreifender Kompatibilität im Eisenbahnverkehr und die Gründung internationaler Organisationen wie des Weltpostvereins und der Telegraphenunion veranlaßten eine große Anzahl von Ländern zur Zusammenarbeit.³¹ So bildeten einerseits die Ansätze zu internationaler Vernetzung in machtpolitisch unspektakulären Bereichen und die Versuche, Institutionen zur Stabilisierung und wertbezogenen Fundierung des Staatensystems zu etablieren, ebenso ein Kennzeichen der Epoche bis 1945 wie andererseits die Tradition der autonomen nationalstaatlichen Außenpolitik dominierend blieb. Der Zeitraum von gut vierzig Jahren seit 1871 bis ins Vorfeld des Ersten Weltkriegs war noch vollständig vom Übergewicht der bindungsfreien Machtstaatspolitik über die Neuansätze zur Etablierung multilateraler Institutionen charakterisiert.³² Nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Selbstgewißheit der Kabinette, mit der sie ihre nationalegoistische Politik bis 1914 verfolgt hatten, nicht mehr, aber der Krieg hatte zugleich die nationalen Ressentiments und den Willen zur Revanche für erlittene Entbehrungen und Verluste zumindest unter Franzosen, Briten und Deutschen so stark stimuliert, dass der amerikanische Einfluß selbst dann nicht durchdrang, als Präsident Woodrow Wilson noch ernsthaft den Versuch machte, ihn in der Nachkriegspolitik wirklich zur Geltung zu bringen.³³ Der italienische Faschismus und der Nationalsozialismus entwickelten dann die radikalste Variante des nationalen Machtstaatsgedankens. Sie nutzten die Tradition der autonomen auswärtigen Politik im Staatensystem dazu, um das Völkerrecht des Versailler Vertragswerks mutwillig und provokant zu zerstören, international

 Madeleine Herren, Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865 – 1914. München 2000.  Vgl. nuancierend Klaus Hildebrand, Europäisches Zentrum, überseeische Peripherie und Neue Welt. Über den Wandel des Staatensystems zwischen dem Berliner Kongreß (1878) und dem Pariser Frieden (1919/20), in: Historische Zeitschrift 249, 1989, S. 53 – 94.  Thomas J. Knock, To End All Wars.Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order. New York, NY u. a. 1992; George W. Egerton, Great Britain and the League of Nations. Strategy, Politics, and International Organization, 1914– 1919. London 1979; Klaus Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19. Düsseldorf 1971.

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Erpressung zu betreiben und gezielt den Krieg als Mittel zur Machtausweitung anzustreben.³⁴ Damit sind die Handlungsmuster im Staatensystem während der Zeit von 1871 bis 1945 angesprochen. Die Begrenzung des Zeitraums durch die Daten der deutschen Geschichte erweist sich hier als notwendig, weil die europaweite Wirkungsmacht der Bündnispolitik Bismarcks und die inhärente Problematik des von ihm geschaffenen Bündnissystems den Anfang bildeten. Bismarck hatte als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund in den 1850er Jahren den Zerfall der Wiener Ordnung beobachtet und am Ende des Krimkriegs mit einer Entschiedenheit, die sonst nur noch die britischen Staatsmänner Palmerston und Clarendon aufbrachten, dagegen argumentiert, die Pariser Friedensverhandlungen auch dazu zu nutzen, ein neues europäisches Vertragswerk zu erarbeiten, das die Regelungen des Wiener Kongresses an die Bedingungen der Zeit anpaßte.³⁵ Bismarck wurde zum wichtigsten Repräsentanten des neuen Prinzips in der europäischen Politik – des Prinzips der unbedingten Handlungsautonomie des Einzelstaats –, indem er als preußischer Ministerpräsident von 1862 bis 1871 und dann als Reichskanzler dessen Anwendung zunächst mittels des begrenzten Krieges und dann zum Zweck der Stabilisierung des Großmächtesystems konsequent und mit taktischer Meisterschaft verfolgte.³⁶ Nach der Reichsgründung war das Bündnissystem darauf angelegt, Frankreich in Europa zu isolieren, um dessen Spielräume zu einer Revanchepolitik gegen Deutschland möglichst begrenzt zu halten, und es war weiterhin so konzipiert, dass die anderen Mächte nach Möglichkeit von Koalitionen gegen das Reich abgehalten wurden. Das berühmte Spiel mit den fünf Kugeln³⁷ erinnerte an das Europäische Konzert, welches die Zeitgenossen aus den vier Jahrzehnten vor 1856 noch in Erinnerung haben mochten, aber Bismarcks Bündnissystem war in Wirklichkeit die Negation des historischen Vorbildes.³⁸ Das nämlich war in eine Staatenordnung integriert gewesen, die,

 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action Française, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus. München 1963, S. 287– 299, S. 424– 432; Stanley G. Payne, A History of Fascism 1914– 1945. London 1997, S. 227– 244.  Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt am Main u. a. 1980, S. 127– 172; Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz, S. 289 – 324.  Zur Politik der „Saturiertheit“ siehe Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871– 1918. München 1989, S. 3 – 26; Klaus Hildebrand, Saturiertheit und Prestige. Das Deutsche Reich als Staat im Staatensystem 1871– 1918, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40, 1989, S. 193 – 202.  Vgl. Hildebrand, Das vergangene Reich, S. 79 – 86.  Peter Krüger, Das Problem der Stabilisierung Europas nach 1871. Die Schwierigkeiten des Friedensschlusses und die Friedensregelung als Kriegsgefahr, in: Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel, S. 171– 188.

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völkerrechtlich abgesichert, sämtliche europäischen Mächte auf einer prinzipiell gleichberechtigten Grundlage umfaßte; eben daraus hatte es seine Leistungskraft in den europäischen Krisen von 1830 und 1848 gewonnen. Bismarcks Bündnissystem hingegen kannte durch die Isolierung Frankreichs die Kategorie der prinzipiellen politisch-rechtlichen Gleichheit nicht. Obendrein baute es auf keinem von den europäischen Großmächten gemeinsam erarbeiteten vertragsrechtlichen Fundament auf, sondern war an das Eigeninteresse und die internationale Durchsetzungsfähigkeit eines und nur eines Staats in Europa gebunden. Darin wies es deutliche Ähnlichkeit mit dem britischen System eines europäischen Netzes von Handelsverträgen auf,³⁹ und es brach auch in gleicher Weise zusammen, als der politische Wille nach Bismarcks Entlassung nicht mehr vorhanden war und sich die Interessen aller Großmächte in den 1890er Jahren zu verändern begannen. Die Jahrzehnte des Hochimperialismus von etwa 1890 bis zum Ersten Weltkrieg sind aus der Sicht des europäischen Staatensystems als eine Zeit zu betrachten, in der die machtpolitischen, wirtschaftlich und militärisch definierten Rivalitäten zwischen den Großmächten von Europa nach Übersee verlagert wurden.⁴⁰ Als europäischer Krisenherd blieb der Balkan infolge der chronischen Schwäche des Osmanischen Reichs und als Schnittpunkt der Machtprojektionen des Zarenreichs und der Donaumonarchie von zentraler Bedeutung. Das europäische Staatensystem weitete sich in dieser Zeit zu einem tendenziell globalen System, aber die Handlungsmuster der Großmächtepolitik wurden davon bis 1914 höchstens marginal beeinflußt. Gleichwohl führte diese Ausweitung dazu, dass Interessenkonflikte zwischen den Mächten nun verschiedene Ebenen aufweisen konnten und eine Verständigung auf nur einer Ebene, zum Beispiel der kolonialen, den Konflikt nicht beseitigte. Hinzu kam, dass die Außenpolitik des Deutschen Reichs in der Wilhelminischen Epoche eine Unberechenbarkeit entwickelte, die Bismarck immer zu vermeiden wußte und die jetzt zusätzlich die Funktionsfähigkeit des Staatensystems beeinträchtigte. Die Rivalität des Deutschen Reichs mit Großbritannien, die unter wirtschaftlichen, kolonialen und machtpolitischen Aspekten an Schärfe zunahm, lud sich mit der Flottenrüstung ab der Jahrhundertwende immer stärker militärisch auf.⁴¹ Schon die russische Initiative zur ersten Haager Konferenz stand im Zusammenhang mit der internationalen Rüstungseskalation. Die Initiative zur zweiten Haager Konferenz ging  Metzler, Großbritannien – Weltmacht in Europa.  Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871– 1914. 2. Aufl. München 2000.  Vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 1871– 1945. Stuttgart 1995, S. 213 – 221.

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von den USA aus und verwies auf die bedrohliche Unberechenbarkeit des europäischen Staatensystems.⁴² Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien fühlten sich Universitätsprofessoren der Staats- und Gesellschaftswissenschaften aufgerufen, dem Trend zur Risikopolitik entgegenzuarbeiten. 1911 entstand der „Verband für internationale Verständigung“,⁴³ den, neben anderen, Hermann Cohen, Adolf Harnack, Georg Jellinek, Ernst Troeltsch, Friedrich Naumann und Max Weber unterstützten, auch wenn der eine oder andere – wie etwa Weber – die Wilhelminische Weltmachtpolitik durchaus billigte. Als der Große Krieg dann da war, begann schon im September 1914 in England eine Arbeitsgruppe um den Staatswissenschaftler und Soziologen James Bryce, aus der Erfahrung des Jahrzehnts vor 1914 die Bedingungen für eine neue nationen-übergreifende völkerrechtliche Institution zu durchdenken – Überlegungen, die dann Eingang in das Konzept des Völkerbundes fanden.⁴⁴ Die Ordnung von Versailles sollte den Völkerbund in sich schließen und war insofern darauf angelegt, neue multilaterale Strukturen im Staatensystem zur Geltung zu bringen. Schon bevor die Weigerung des amerikanischen Kongresses, das Pariser Vertragswerk mit der inkorporierten Völkerbundsakte zu ratifizieren, das Projekt der multilateralen Neuordnung zum Scheitern verurteilte, war bereits absehbar geworden, dass es von allen Beteiligten, Siegern wie Besiegten, eine annehmbare und insofern legitime Regelung auch nur des Friedensvertrags nicht geben würde. Obwohl oder gerade weil der Wiener Kongreß mindestens der britischen Delegation als Vorbild diente, wurden bestimmte Entscheidungen anders als im Jahr 1814 getroffen, weil man sich davon ein leichteres Verhandeln versprach. So war Frankreich in Wien als besiegter Staat zu den Verhandlungen zugelassen worden, und die französischen Interessen, von Talleyrand meisterhaft vertreten, hatten damals die Arbeit erheblich kompliziert. Das diente als historisches Argument, um in Versailles einer deutschen Delegation die Teilnahme zu verweigern.⁴⁵ Ohnehin schon durch den Druck divergierender Erwartungen seitens der öffentlichen Meinung in ihren jeweiligen Ländern belastet, versprachen sich die Verhandlungspartner der Ententemächte davon eine Vereinfachung. Sie übersahen dabei, dass ein harter, aber keineswegs knebelnder Friedensvertrag in Deutschland – sobald er der Öffentlichkeit präsentiert wurde, die einen „WilsonVertrag“ erwartete – eben doch als Knebelung aufgefaßt werden und nationale

 Dülffer, Regeln gegen den Krieg?, S. 19 – 38, S. 227– 247.  Roger Chickering, A Voice of Moderation in Imperial Germany. The „Verband für internationale Verständigung“ 1911– 1914, in: Journal of Contemporary History 8, 1973, S. 147– 164.  Thomas Kleinknecht, Imperiale und internationale Ordnung. Eine Untersuchung zum angloamerikanischen Gelehrtenliberalismus am Beispiel von James Bryce (1838 – 1922). Göttingen 1985.  Charles K. Webster, The Congress of Vienna 1814– 1815. London 1919.

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Empörung auslösen könnte. Als diese Entwicklung einsetzte, war durch die Sieger bereits die Grundlage für den Revisionismus des Reichs gelegt und eine der Ursachen für die Instabilität der Nachkriegsordnung geschaffen worden.⁴⁶ So stellten die Friedensverträge schon für sich genommen keine Ausgangsbasis für eine künftige Verständigungspolitik bereit. Vielmehr mußten die späteren Versuche in dieser Richtung zwischen Frankreich und Deutschland in der Ära Briand‐Stresemann gegen die öffentliche Wertung des Versailler Vertrags in beiden Ländern unternommen werden. Nimmt man die Schwäche und Begrenztheit des Völkerbundes nach der amerikanischen Absage noch hinzu, wird erkennbar, dass schon ab 1919 der Spielraum für eine Außenpolitik in der Vorkriegstradition größer und gewissermaßen international auch sanktioniert war, während das gegenläufige Prinzip, die Neubestimmung einer multilateralen politisch-rechtlichen Ordnung, sich innerhalb von wenigen Monaten als Utopie herausgestellt zu haben schien. Doch es handelte sich um keine Utopie, sondern um eine politische Vision, die nicht nur gewisse Anknüpfungspunkte in der Geschichte hatte, sondern recht deutlich auch die Anzeichen hegemonialer Kraft eines neuen global player in sich schloß.⁴⁷ In der Wirtschaftspolitik der zwanziger Jahre wurden durchaus erste Konsequenzen aus diesem Sachverhalt gezogen. Die großen Industriekonzerne in den europäischen Nationalstaaten und zumal in Deutschland erkannten die Herausforderung durch die amerikanische Konkurrenz, die ihnen überlegen war. Sie begannen, durch vertikale und horizontale Konzentration größere Einheiten zu bilden, bemühten sich um Rationalisierung der Produktion und schlossen sich in internationalen Kartellen zusammen.⁴⁸ Gleichwohl überwog in den zwanziger Jahren noch das Selbstverständnis konkurrierender Ordnungssysteme in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, insbesondere auf deutscher Seite blieb der Widerstand gegen eine strukturelle Angleichung der Länder im europäischen und

 Arno J. Mayer, Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918 – 1919. London 1968.  Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt 1985; Peter Krüger, Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik. Die deutsche Außenpolitik und die Verhandlungen über den Kellogg-Pakt in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 22, 1974, S. 227– 257; Herman Hagspiel, Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich? Die deutsch-französische Außenpolitik der zwanziger Jahre im innenpolitischen Kräftefeld beider Länder. Bonn 1987; Melvyn P. Leffler, The Elusive Quest. America’s Pursuit of European Stability and French Security, 1919 – 1933. Chapel Hill, NC 1979.  Karl Heinrich Pohl, Die „Stresemannsche Außenpolitik“ und das westeuropäische Eisenkartell 1926. „Europäische Politik“ oder „Nationales Interesse“?, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 65, 1978, S. 511– 534; Matthias Schulz, Deutschland, der Völkerbund und die Frage der europäischen Wirtschaftsordnung 1925 – 1933. Hamburg 1997.

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atlantischen Rahmen stark. Zwar gab es eine gewisse Bereitschaft zu Wirtschaftsintegration im Umfeld von Reichsaußenminister Gustav Stresemann, aber alle Diskussion über „Paneuropa“ verlief ohne realpolitische Substanz.⁴⁹ Die Gestaltungskraft der Ententemächte bei der Gründung des Völkerbunds wurde als Ausdruck von deren hegemonialem Willen aufgefaßt, welcher zwangsläufig auf der Ebene europäischer Politik zur Geltung kommen würde, sobald die nationalstaatliche Autonomie nicht mehr das oberste Prinzip bildete. Im Kreis der Ententemächte war die Dominanz der USA mindestens in der Wirtschafts- und Handelspolitik nicht zu übersehen, so dass sich hier im tagespolitischen Geschehen die Tendenz einer Hegemonie atlantischer Politik und sozioökonomischer Normen abzeichnete, gegen die allein scharf artikulierter Nationalismus eine Barriere bildete.⁵⁰ Das nationalsozialistische Deutschland transponierte solchen Nationalismus mit dem Zweiten Weltkrieg auf die europäische Ebene, wo er dann endlich am Gegenangriff der Anti-Hitler-Koalition, insbesondere der gegensätzlichen Partner USA und UdSSR, scheiterte.⁵¹ Nach 1918 wuchs indessen zunächst der Antagonismus zwischen Sozialismus und Kapitalismus in die internationale Politik hinein, den es zuvor nur erst als innergesellschaftlichen Konflikt in verschiedenen europäischen Staaten gegeben hatte. Die machtpolitische Dimension der späteren Bipolarität ließ sich noch nicht erkennen. Dessen ungeachtet wurde das bolschewistische Rußland, später die Sowjetunion, wegen des krassen Systemgegensatzes und revolutionären Anspruchs während der zwanziger Jahre nicht ins Staatensystem integriert, wodurch ein weiteres Element des Provisorischen neben den Charakter der Instabilität trat, welcher aus den deutschen Vorbehalten gegen Versailles resultierte. So wirkte die Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg widersprüchlich und unentschieden. Ja, es handelte sich eigentlich um gar keine Neuordnung, denn der Versuch dazu war weitgehend fehlgeschlagen, und die Aktionsmuster der Vergangenheit boten sich an, weil sie in der entscheidenden Hinsicht erprobt waren: nationales Interesse ohne Absprache und Koordination mit den anderen Mächten zur Geltung zu bringen. Wie sehr gleichwohl die Notwendigkeit einer internationalen Politik der Friedenssicherung, Abrüstung und Konfliktbegren-

 Reinhard Frommelt, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925 – 1933. Stuttgart 1977.  Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I. Princeton, NJ 1975, S. 516 – 545; Frank Costigliola, Awkward Dominion. American Political, Economic, and Cultural Relations with Europe, 1919 – 1933. Ithaca, NY u. a. 1984.  Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt. München 1998.

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zung gesehen wurde, zeigte die Gründung zweier Forschungsinstitute in London und Hamburg zur Analyse der Außenpolitik und die damit zusammenhängende Begründung des Faches Politikwissenschaft. Hier ging es um die wissenschaftliche Analyse internationaler Konfliktfelder zur Überwindung der Spannungen im Nachkriegssystem und um Perspektiven auf eine bessere Regelung der Staatenbeziehungen. Kooperation und Multilateralität spielten dabei eine beträchtliche Rolle, und das Interesse von amerikanischer Seite an beiden Instituten sowie die Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung ihrer Arbeit waren groß. Auch das wies voraus auf Entwicklungen in der Zukunft.⁵² In den dreißiger Jahren wurde das Staatensystem von innen heraus angegriffen und schließlich zerstört. Die Mittel, die insbesondere das nationalsozialistische Deutschland und neben ihm Italien und Japan anwandten, bestanden in der Übersteigerung der im Staatensystem selbst angelegten Handlungsmöglichkeiten bis ins Verbrecherische hinein. Die schon erwähnte Politik des Vertragsbruchs, der gezielten Provokation anderer Staaten und des geplanten Krieges erwuchs aus der Möglichkeit bindungsfreier Machtstaatlichkeit. Und die Tatsache, dass die deutsche Politik ab 1933 systematisch internationales Recht verletzte, indem sie die Bestimmungen des Versailler Vertrages brach, ohne Sanktionen der unterzeichneten Großmächte auf sich zu ziehen, wirft zusätzlich ein fahles Licht auf den Zustand des Staatensystems nach dem Ersten Weltkrieg. Letztlich waren es die Erfahrungen aus der Zwischenkriegszeit, die schon früh im Verlauf des Zweiten Weltkriegs dazu führten, dass die Nachkriegsordnung nach diesem erneuten Krieg mit Entschiedenheit als eine wirkliche Neuordnung des Staatensystems antizipiert wurde.

Die Phase der multilateralen Rahmenordnung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart Die dritte Phase in der hier vorgeschlagenen Epocheneinteilung des europäischen Staatensystems seit 1800 begann im Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1941 und 1948 entstand die Nachkriegskonstellation, die bis 1990/91 erhalten blieb. Wiederum erwiesen sich die neuen Strukturen trotz dynamischen inneren Wandels seit den 1970er Jahren über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten als dauerhaft. Die seither  Eine vergleichende Studie zur Geschichte des „Royal Institute of International Affairs“ (London) und des „Instituts für Auswärtige Politik“ (Hamburg und Berlin) wird im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ bearbeitet. Vgl. auch Reinhard Meyers, Die Lehre von den Internationalen Beziehungen. Ein entwicklungsgeschichtlicher Überblick. Königstein im Taunus 1981, S. 37– 44.

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spürbare Transformation entzieht sich als eine unabgeschlossene Periode vorläufig noch dem analytischen Zugriff des Historikers. Indes, der Übergang ins 21. Jahrhundert geschieht noch innerhalb dieser dritten Phase. Zu fragen ist ein weiteres Mal nach dem dominierenden Prinzip und der leitenden Idee im Staatensystem während dieser dritten Phase, bevor es möglich ist, Strukturen und Handlungsmuster zu umreißen. Den Ausgangspunkt bildet das Jahr 1941 mit dem Doppelereignis der Atlantikcharta (14. August 1941) und der Entstehung der Anti-Hitler-Koalition aus den USA, Großbritannien und der Sowjetunion. Die Atlantikcharta schuf ein politisch-ideologisches Fundament, von dem aus zu handeln die USA und Großbritannien entschlossen waren. Sie stellte die aktualisierte Version des US-amerikanischen Wertesystems dar, wie es am Ende des Ersten Weltkriegs in den Vierzehn Punkten Woodrow Wilsons und im Projekt des Völkerbunds seinen Niederschlag gefunden hatte und gleichgewichtig den hegemonialen Anspruch und das ideologische Selbstverständnis in „Americaʼs Mission“ umfaßte. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und dem Kriegseintritt der USA auf dem asiatischen und dem europäischen Kriegsschauplatz geriet die UdSSR in die Rolle des Partners der Westmächte bei den Vorbereitungen zur Neuordnung der Welt nach dem Krieg. Darin sollten wie selbstverständlich die westlich-atlantischen Vorstellungen von „Freiheit“ in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat als Ordnungsprinzip der Nationen zur Geltung kommen. Mit der Gründung der „Vereinten Nationen“ wurde dies, gewissermaßen als ein institutionalisierter Anspruch, im Herbst 1945 auch verwirklicht.⁵³ Die UN traten vor der Entstehung der bipolaren Welt ins Leben, die sie deshalb überwölbten. Die Bipolarität begrenzte indessen ihr realpolitisches Gewicht. Die „eine Welt“ nach der Vorstellung des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt sollte es nicht geben und damit auch nicht die globale Dominanz eines von den USA definierten Ordnungssystems.⁵⁴ Aber die Idee einer multilateral strukturierten „einen Welt“ verschwand nicht völlig aus der internationalen Politik. Indem sie potentiell alle Mächte des Weltstaatensystems integrierte, lebte sie dann wieder auf, wenn der Ost-West-Konflikt die Möglichkeit zu blockübergreifender Kooperation bot. Im Staatensystem nach 1945 erhielt sie einen besonders prägnanten Ausdruck in der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) seit den 1970er Jahren. Diese Form multilateraler Interessenab-

 Thomas J. McCormick, America’s Half-Century. United States Foreign Policy in the Cold War. Baltimore, MD u. a. 1989.  Smith, America’s Mission, S. 113 – 145; John Lewis Gaddis, The United States and the Origins of the Cold War, 1941– 1947. New York u. a. 1972; John Lewis Gaddis, We Now Know. Rethinking Cold War History. Oxford u. a. 1997; Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941– 1955. 9. Aufl. München 2000.

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stimmung zwischen höchst gegensätzlichen Akteuren war die zeitgemäße Variante der Vorstellung von einer Neuordnung der Staatenwelt, wie sie zur Zeit der Anti-Hitler-Koalition im Umkreis von US-Präsident Roosevelt entwickelt worden war. Insofern ist unter dem Gesichtspunkt der Systemgeschichte der internationalen Beziehungen dieser Sachverhalt als der übergeordnete anzusprechen, dem die bipolare Ordnung des Ost-West-Konflikts sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungszeit als auch konzeptionell nachgeordnet war. Dies gilt es zu bedenken, wenn jetzt die Ereignisgeschichte des Ost-West-Konflikts in den Vordergrund gerückt wird. Zum regulativen Prinzip der internationalen Politik seit den späten 1940er Jahren wurde ein in Europa zentriertes Sicherheitssystem unter Einschluß und Führung der USA und UdSSR. Beide Weltmächte der Nachkriegsepoche entwickelten eine Tendenz zu globaler Hegemonie, die an ein jeweils konsistentes sozioökonomisches und politisch-kulturelles Ordnungssystem gebunden war. Diese Systeme schlossen sich gegenseitig völlig aus. Sie zielten auf die Verwirklichung von „Demokratie“ weltweit, worunter im Westen Marktwirtschaft, freier Handel, parlamentarische Demokratie und die formale Gewährleistung der Individualrechte verstanden wurde und im Osten die Befreiung der Staaten und Völker von jeglicher Unterdrückung durch Kapitalismus und Imperialismus unter Führung der Sowjetunion. Die konkurrierenden Hegemonieansprüche wurden von Anbeginn ideologisch überhöht und im Osten mit der Formel des antiimperialistischen Kampfs für „den Frieden“, im Westen mit der dagegen gerichteten Formel des Kampfs der parlamentarisch verfaßten Staaten und Gesellschaften für „die Freiheit“ in der Propaganda des Kalten Krieges zur Geltung gebracht. Die Beharrungskraft dieser ideologischen Grundmuster war enorm, denn nach der Latenzphase des Kalten Krieges während der Entspannungspolitik in den siebziger Jahren lebten sie im machtpolitischen Kampf um die Nachrüstung seit 1980 wieder auf, und der ideologische „Friedens“-Begriff der kommunistischen Propaganda aus den späten vierziger Jahren speiste die Argumente der westeuropäischen Friedensbewegungen der achtziger Jahre, während der ideologische „Freiheits“-Begriff des Westens sowohl gegen die Friedensbewegung als auch gegen die politische Linke in Stellung gebracht wurde: „Freiheit statt Sozialismus“.⁵⁵

 Rüdiger Schlaga, Die Kommunisten in der Friedensbewegung – erfolglos? Die Politik des Weltfriedensrates im Verhältnis zur Außenpolitik der Sowjetunion und zu den unabhängigen Friedensbewegungen im Westen (1950 – 1979). Frankfurt am Main 1991; Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998.

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Die Struktur des Staatensystems in der dritten Phase war vom Aufbau übergreifender Sicherheitssysteme gekennzeichnet. Die Vereinten Nationen als globales Sicherheitssystem, gegründet im Juni und Oktober 1945, führten die Linie des Völkerbunds fort, wiesen aber jetzt den Vereinigten Staaten anstatt den Europäern die dominierende Rolle zu. Spätestens seit der Konferenz von Jalta (Februar 1945) bildete die Sowjetunion dann den Widerpart gegen eine allein von den USA beherrschte Politik der „einen Welt“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Poker mit der Atombombe und die militärisch gar nicht mehr sinnvollen Abwürfe der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki erfolgten während der Potsdamer Konferenz: Die entstehende Bipolarität begleitete den Gründungsprozeß der UNO, und der Sitz der Sowjetunion im Weltsicherheitsrat bedeutete in den Jahren des Kalten Krieges, dass sich die neuen Vormächte der Weltpolitik bei der Ausgestaltung von „Frieden“ und „Freiheit“ gegenseitig blockierten.⁵⁶ Die Entstehung übergreifender Sicherheitssysteme erfolgte deshalb konkurrierend, auf der Basis strikt nur einer der beiden Ordnungsvorstellungen von „Demokratie“; sie führte deshalb zügig zur Blockbildung in West und Ost und war insgesamt an die Initiative der jeweiligen Hegemonialmacht gebunden. Im Westen ging aus der Initiative des Marshallplans (5. Juni 1947) der Anstoß zur wirtschaftlichen und politischen Verflechtung der europäischen Staaten hervor. Die Wiederaufbauhilfe der USA für Europa war an die Voraussetzung gebunden, dass sich die Staaten an einen Tisch setzten und über die Verteilung der Mittel einigten. Das zielte tagespolitisch auf die Hineinnahme der westlichen Besatzungszonen Deutschlands ins europäische Wiederaufbauprogramm, setzte konzeptionell jedoch die Kräfte für die 1950 mit dem Schumanplan begonnene Wirtschaftsintegration Westeuropas frei. Die Befürwortung aller weiteren politischen Schritte zur europäischen Integration seitens der USA gehörte im Gesamtzeitraum der vier Jahrzehnte bis 1990 zu den Strukturelementen des Staatensystems im westlichen Block.⁵⁷ Sicherheit durch Integration: Das war ein wichtiger Aspekt, der die Nachkriegsgeschichte auf der Seite des Westens geprägt hat. Die Erfahrung der Zwi-

 Dülffer, Jalta; Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941– 1991. München 1996; Melvyn P. Leffler, A Preponderance of Power. National Security, the Truman Administration, and the Cold War. Stanford, CA 1992.  Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947– 1952. Cambridge, MA 1987; Charles S. Maier/Günter Bischof (Hrsg.), The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Framework of the European Recovery Program. New York, NY u. a. 1991; Gérard Bossuat, L’Europe occidentale à l’heure américaine. Le plan Marshall et l’unité européenne 1945 – 1952. Brüssel 1992; Geir Lundestad, „Empire“ by Integration. The United States and European Integration 1945 – 1997. Oxford 1998.

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schenkriegszeit, wo weder Wirtschaft und Handel noch die Sicherheitspolitik vom Autonomieanspruch der nationalen Machtstaaten genügend abgelöst, geschweige denn in integrative Strukturen überführt werden konnten, bildete einen wichtigen Antrieb für die anders geartete Zielrichtung des politischen Prozesses nach 1945/50. Hinzu kam, dass die faktische Hegemonialmacht USA nunmehr im westlichen Bündnis auch die Rolle des Seniorpartners übernahm und damit die Konsistenz des Westens als politisch-ökonomisches Bündnis- und Wertesystem ermöglichte. Aus der Erfahrung der Zwischenkriegszeit resultierte auch der von Großbritannien initiierte Nordatlantikpakt vom April 1949, denn er diente zunächst dem Zweck, die USA auf dem europäischen Kontinent zu halten und einen Rückzug über den Atlantik wie 1919 zu verhindern.⁵⁸ Zwar wies die NATO in den Anfängen noch überwiegend Ähnlichkeiten mit traditionellen Militärbündnissen aus der Epoche der autonomen Nationalstaaten auf, aber sie veränderte sich ab 1955 – nach dem Beitritt der soeben in die formelle Souveränität entlassenen Bundesrepublik Deutschland – zunehmend in Richtung auf eine Allianz, in der wichtige Teilbereiche der Sicherheitspolitik aller Partner eng verzahnt waren. So entwickelte sich im Westen eine neue Form von Multilateralität auf der Grundlage der westeuropäischen Integration und der nordatlantischen Allianz. Die nationalen Souveränitätsrechte blieben, wenn man von der Montanunion absieht, vorerst unangetastet. Aber die Bündnisverträge schufen immerhin ein völkerrechtliches Netzwerk, welches für alle Partner bindend und zugleich flexibel genug war, um eine allmähliche Abkehr von der Tradition des autonomen nationalen Machtstaats auch dort möglich zu machen, wo es selbst nach 1945 noch am schwersten fiel: in Frankreich und vor allem in Großbritannien.⁵⁹ Die Multilateralität des westlichen Sicherheitssystems war allerdings perspektivisch auf die überragende Machtposition der USA hingeordnet. „Americaʼs Mission“ wurde nach 1945 zu einer Konstante in den europäisch-atlantischen Beziehungen auf allen Ebenen: Wirtschaft und Handel, Außen- und Sicherheitspolitik, Amerikanisierung der Alltagsnormen und Konsummuster sowie Westernisierung politisch-gesellschaftlicher Wertvorstellungen waren hier eng aufeinander bezogen.⁶⁰ Erst aus dieser Verwobenheit entwickelte die amerikanische

 Vgl. Ennio Di Nolfo (Hrsg.), The Atlantic Pact. 40 Years Later. A Historical Reappraisal. Berlin u. a. 1991.  David Reynolds, Britannia Overruled. British Policy and World Power in the 20th Century. London u. a. 1991; Wilfried Loth, Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1992.  Vgl. Hermann-Josef Rupieper, Transnationale Beziehungen als Teil des internationalen Systems. Die Vereinigten Staaten und Westdeutschland als Modellfall?, in: Krüger (Hrsg.), Das europäische Staatensystem im Wandel, S. 213 – 225.

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Hegemonie im westlichen Lager ihre durchgreifende Wirkung. Deswegen ist die oben eingeführte Formel „Sicherheit durch Integration“ durch eine weitere, damit direkt verknüpfte Formel zu ergänzen: „Hegemonie durch Integration“.⁶¹ Der Aufbau der multilateralen Struktur des Staatensystems im westlichen Block, die Anstöße zu einer Integration der Industrieproduktion und der Volkswirtschaften, schließlich die Anlage einer gesamtwestlichen Sicherheitspolitik mindestens als Option für den Fall einer Krise zwischen den Blöcken resultierte aus dem US-amerikanischen Interesse daran, die Entwicklung in Europa nicht sich selbst zu überlassen und damit neue Abgrenzungsstrategien gegen Amerika zu ermuntern, sondern sie gezielt und im eigenen nationalen Interesse zu steuern. Dieses Interesse der Blockvormacht war das übergeordnete Element über die bündnispolitisch normierten Spielräume für das nationale Interesse der übrigen Allianzpartner und ist als der wichtigste und letztlich entscheidende Faktor anzusprechen, welcher die Struktur des westlichen Blocks im Staatensystem nach 1945 charakterisierte. Das alles hatte, äußerlich betrachtet, seine Entsprechung im östlichen Block. Die Initiativen der Sowjetunion zur Bildung des „Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) im Jahr 1949 und des „Warschauer Pakts“ 1955 können als Reaktionen auf die entsprechenden Vorgänge im Westen betrachtet werden: auf den Marshallplan und die beginnende wirtschaftliche Homogenisierung Westeuropas sowie auf die Konsolidierung der NATO nach der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland. Aber abgesehen von den Unterschieden in der sozialökonomischen und politischen Ordnung des Westens und Ostens hatte der Faktor „Integration“ für den Auf- und Ausbau des östlichen Sicherheitssystems nur nachrangige, vor allem propagandistische Bedeutung. Das Kennzeichen des Staatensystems im Ostblock war der Bilateralismus, die vertraglich geregelte Hinordnung eines jeden osteuropäischen Staats auf die UdSSR als Hegemonialmacht des Blocks. Zwischen 1945 und 1948 vereinbarte die Sowjetunion mit den einzelnen Ländern jeweils zweiseitige Verträge über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. Nach diesem Modell schlossen dann im Frühjahr 1949 die Volksdemokratien untereinander bilaterale Bündnisverträge. Grundlage all dieser Verträge war die formelle Souveränitätswahrung jedes einzelnen Staats. Eine Vernetzung untereinander konnte dadurch nicht entstehen,

 Eckart Conze, Hegemonie durch Integration? Die amerikanische Europapolitik und die Herausforderung durch de Gaulle, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43, 1995, S. 297– 340.

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und die individuelle Hinordnung aller auf die Hegemonialmacht Sowjetunion blieb gewahrt.⁶² So entstand der Ostblock als ein vertikal geschichtetes System der Staatenbeziehungen, nicht als horizontales. Es gab keinen Interessenpluralismus, sondern nur Unterordnung unter hegemonialen Zwang, und selbst der RGW entsprach dieser Zweckbestimmung. Zwar handelte es sich beim RGW – wie später auch beim Warschauer Pakt – um ein multilaterales Organ, aber es gab keine Vereinbarungen zwischen den Teilnehmerstaaten über Struktur und Zwecksetzung. Der RGW diente dazu, Moskaus Führungskompetenz und ökonomische Vormachtstellung im Ostblock gegenüber dem Westen zu demonstrieren und im übrigen die Volkswirtschaften der osteuropäischen Staaten für die Bedarfsdeckung der Sowjetunion heranzuziehen. So wurde auch die DDR bereits 1950 Mitglied im RGW, obwohl sie noch unter Besatzungsrecht stand und bis dahin keine Verträge mit der UdSSR hatte schließen dürfen. Der Ostblock erwies sich demnach als eine ganz traditionelle Allianz von formell souveränen und potentiell autonomen Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa. Das Neuartige am östlichen Bündnissystem war der Stalinismus als Strukturelement zwischenstaatlicher Beziehungen, aber nicht die Allianzstruktur. Die Handlungsmuster im bipolaren System der Epoche von 1945/49 dürften deshalb sehr unterschiedlich gewesen sein. Im Westblock prägten die Orientierungen auf liberale Demokratie und freien Welthandel die Handlungsmuster. Sie waren in den Jahren des Kalten Krieges bis etwa 1961/62 mit der prononciert antikommunistischen Propaganda für die Ordnung westlicher Gesellschaften verbunden. Im Osten wurde die auf das Militärpotential der Sowjetunion gestützte Machtpolitik von der Propaganda für die friedliche Entwicklung des sozialistischen Lagers begleitet. Die nukleare Drohung, die zunächst – 1945 bis 1949 – allein von den USA ausging, bis die Sowjetunion 1949 ihre erste Bombe zündete und seit 1957 auch über Interkontinentalraketen verfügte, beeinflußte indessen die Handlungsmuster in der internationalen Politik gewiß nachhaltiger, als das durch die Bindung an ideologisch überhöhte Wertvorstellungen geschah.⁶³ Die nukleare Drohung machte den gegnerischen Block zu einer Zone, auf die nur um den möglichen Preis des Atomkriegs konkret Einfluß genommen werden konnte. Die Erfahrung mit den Unruhen und Aufständen im Ostblock 1953 und 1956 (DDR – Polen – Ungarn) zeigte den Mächten der westlichen Allianz, dass eine Intervention im  Jens Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939 – 1980. Baden-Baden 1983; Caroline Kennedy-Pipe, Stalin’s Cold War. Soviet Strategies in Europe, 1943 – 1956. New York, NY 1997.  Vgl. Dülffer, Jalta, S. 225 – 237.

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Einflußbereich der Sowjetunion nicht möglich war, und die Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62 brachte im Ergebnis die klare Festlegung des westlichen Einflußbereichs in Westberlin und im gesamten Atlantik, so dass von dieser Grundlage her die konfrontative Kooperation angestrebt werden konnte, die als „Entspannungspolitik“ den Ost-West-Konflikt mindestens ebenso geprägt hat wie der schroffe machtpolitisch-ideologische Konflikt in den Zeiten des Kalten Krieges.⁶⁴ Die Entspannungspolitik⁶⁵ beruhte auf der gegenseitigen Akzeptanz der Einflußzonen, und sie war auf deren Stabilisierung sowie auf die Verlangsamung des Rüstungswettlaufs gerichtet. Deswegen blieb auch in den Jahren der Ost-WestEntspannung vom Ende der sechziger bis zum Ende der siebziger Jahre die ideologische Antithese von „Freiheit“ und „Frieden“ eher im Hintergrund, aber sie wurde nicht beseitigt, sondern bald wieder tatkräftig reaktiviert. Denn zum Entspannungsprozeß gehörten nicht nur die Vereinbarungen über die Begrenzung der strategischen Waffen zwischen den Supermächten (SALT), gehörten nicht nur der Vertrag zwischen den Mächten der Anti-Hitler-Koalition über die Deutschlandfrage respektive Berlin, zwischen der Bundesrepublik und den Ostblockstaaten über Ostpolitik und Gewaltverzicht sowie zwischen BRD und DDR über die innerdeutschen Beziehungen; zentrale Bedeutung hatte vielmehr auch die „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE), deren erstes Ergebnis 1975 in Helsinki formuliert wurde und das Prinzip der Multilateralität auch in den blockübergreifenden Ost-West-Beziehungen zu verankern versuchte.⁶⁶ Mit „Helsinki“ erhielt nun der Westen, um bestimmter wirtschaftlicher Interessen des Ostens willen, das Recht, Verstöße gegen die Menschenrechte in der Sowjetunion und den Volksdemokratien vor die Weltöffentlichkeit zu bringen und der freien Information zugänglich zu machen. Die Dissidentenbewegungen bekamen damit ein schwieriges, aber bedeutungsvolles Instrument in die Hand, um ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Sie konnten im Namen der Freiheit an die Weltöffentlichkeit appellieren.

 Zur Begrifflichkeit, die den „Ost-West-Konflikt“ als Grundstruktur des Staatensystems von 1945/47 bis 1990/91 begreift und die politischen Aggregatzustände „Kalter Krieg“ und „Entspannungspolitik“ als Handlungsformen in diese Struktur einordnet, siehe Werner Link, Der OstWest-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 1980; vgl. Eckart Conze, Konfrontation und Détente. Überlegungen zur historischen Analyse des Ost-West-Konflikts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46, 1998, S. 269 – 282.  Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998.  Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozeß. Von der Zähmung bis zur Auflösung des Ost-WestKonflikts. Darmstadt 1992; Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer internationalen Institution. Frankfurt am Main u. a. 1999.

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Das geschah zu einem Zeitpunkt, als nach langen Verhandlungen der Vietnamkrieg politisch-rechtlich beendet wurde, der den Mythos und die Identität der USA als moralisch qualifizierter Vorkämpfer für die „Freiheit“ so schwer beschädigt hatte. Der Vietnamkrieg bestätigte vielmehr die Propaganda des Ostens, wonach der von den USA repräsentierte Kapitalismus und Imperialismus den Frieden zerstöre und die Politik der USA den Weltfrieden bedrohe. Garant desselben sei allein die Sowjetunion. Sie konnte im Namen des „Friedens“ den im Westen seit den Friedenskampagnen der späten vierziger und fünfziger Jahre verbreiteten Abscheu gegen den kriegerisch-expansionistischen Kapitalismus, welcher mit US-amerikanischer Politik assoziiert werden sollte, aufs neue stimulieren und im Jahrzehnt des Kampfs um den NATO-Doppelbeschluß und die Nachrüstung tatkräftig nutzen.⁶⁷ Die Handlungsmuster im Staatensystem während der dritten Phase blieben von Ambivalenz gekennzeichnet. Sie basierten innerhalb der Blöcke auf der unterschiedlich verankerten Hegemonie der Blockvormacht. Im Westen war diese Hegemonie in ein pluralistisches Beziehungsgefüge eingebunden und durch multilaterale Praxis der internationalen Politik berechenbar; im Osten war die Hegemonialpolitik unberechenbar, durch Multilateralität kaum gemildert, und sie wurde wie in der Breschnew-Doktrin von 1968 auch offen zur Stabilisierung der Vormachtstellung im Block artikuliert. Die Handlungsmuster waren zugleich unter der nuklearen Drohung grundsätzlich darauf ausgerichtet, Konfrontation und Eskalation in beeinflußbarer Dimension zu halten und den Vorrang der Politik vor militärischen Erwägungen sicherzustellen. Entspannungspolitische Kooperation wurde maßgeblich durch die Angst vor der Bombe ermöglicht. Um solche Kooperation nicht dahin wirken zu lassen, dass der strukturelle Systemgegensatz verwässert wurde, behielt die ideologische Konfrontation zwischen „Freiheit“ und „Frieden“ bis 1989 ihre Bedeutung. Die Erosion des Ostblocks erfolgte nicht nur durch wirtschaftliche Erschöpfung,Verkrustung der Apparate und Unfähigkeit zu sozialökonomischen und infrastrukturellen Reformen. Die materielle Delegitimierung wurde von einer ideellen begleitet, deren Antrieb und Einfluß von der westlichen Freiheits-Propaganda gestützt wurde. Diese spiegelte das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften. Die entgegengesetzte FriedensPropaganda des Ostens bewirkte seit den fünfziger Jahren immer wieder, dass in den pluralistischen Gesellschaften des Westens die freiheitlich-westliche Identität kritisch hinterfragt und ihr ideologisches Potential aufgedeckt wurde.  Die Eigenart der multilateralen Rahmenordnung des Staatensystems nach 1945 im westlichen Lager verdeutlicht die Studie von Helga Haftendorn, Das doppelte Mißverständnis. Zur Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 33, 1985, S. 244– 287.

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Hegemonie der Blockvormächte, die zugleich in machtpolitischer Rivalität zueinander standen, Bändigung der Konfrontation durch die nukleare Drohung und die Stimulation des Systemgegensatzes durch ideologische Beeinflussung des gegnerischen Lagers: Diese Faktoren beeinflußten zusammengenommen die Handlungsmuster im Staatensystem seit 1945, und zwar sowohl auf der wirtschafts- und handelspolitischen als auch auf der sicherheitspolitischen und diplomatischen und schließlich auf der politisch-ideellen Ebene. Das Ende des Ost-West-Konflikts⁶⁸ hat, so könnte man denken, das Handlungsmuster im westlichen Lager nachdrücklich bestätigt. Aber dass der in den neunziger Jahren eingeleitete Wandel Zug um Zug auf die internationalen Beziehungen zurückwirkt, läßt sich schwerlich bestreiten. Der Golfkrieg des Jahres 1991 mit einem Mandat der Vereinten Nationen gegen den Irak hat das ebenso gezeigt wie der Kosovokrieg der Nordatlantischen Allianz gegen Serbien 1999. Das Staatensystem in der dritten Phase wird einen weiteren Wandel durchlaufen, bevor eine neue Struktur sichtbar werden könnte.

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Soziale Demokratie als transnationales Ordnungsmodell im 20. Jahrhundert 1. Internationale und transnationale Geschichte Sozialreform und Sozialverfassung in den Industrieländern Europas und den USA gelten gemeinhin nicht als Themen des historiographischen Arbeitsfelds „Internationale Geschichte“. Mit dem Begriff des Internationalen wird die Vorstellung verbunden, dass es hier um die zwischenstaatliche Politik der Regierungen souveräner Nationalstaaten geht, mithin um Kabinettspolitik oder parlamentarisch kontrollierte Außenpolitik. Das Paradigma des souveränen Nationalstaats prägte seit dem 19. Jahrhundert die akademische und publizistische Öffentlichkeit der europäischen Länder. Hier festigte sich das historistische Geschichtsverständnis „Männer machen Geschichte“ zu einem Stereotyp der historischen Analyse, so dass „Geschichte“ mehr oder weniger nur aus machtpolitischem Handeln mittels Außen- und Militärpolitik bestand. Dieses Verständnis prägte die Historiker zumal in den Staaten der rivalisierenden Imperialmächte. Es erreichte seinen Höhepunkt in den 1920er Jahren, als die Ursachen und Ergebnisse des Ersten Weltkriegs der Erklärung bedurften. Längst gab es intellektuell hochrangige Gegenbewegungen – die Impulse zur kulturgeschichtlichen Ausweitung des Blicks auf die Vergangenheit durch die Schule Karl Lamprechts vor dem Ersten Weltkrieg oder die Revolution in der Wahrnehmung von Raum, Zeit und Mensch durch die französische Schule der „Annales“ seit den 1920er/1930er Jahren –, aber die historistische Grundauffassung von der Handlungsautonomie der geschichtsmächtigen Einzelpersönlichkeit und der Autonomie der auswärtigen Politik behielt ihre Geltung. Sie wurde gebraucht und erschien unverzichtbar. Nach 1945 musste es dann nicht nur darum gehen, die Entstehungsbedingungen des Zweiten Weltkriegs in die Nationalgeschichten der Europäer einzuordnen, sondern auch den Ort und das Selbstverständnis der Staaten im neuen Kräfteparallelogramm des Kalten Krieges zu bestimmen. Die Bezugsgröße dieser auf Außenpolitik und Internationale Beziehungen konzentrierten Historiographie war der Staat – der souveräne Einzelstaat in Gestalt seiner Regierungen, seiner Ministerien, seiner „Männer“.¹

 Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. München 1992; Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Göttingen 1996; Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003. https://doi.org/10.1515/9783110633870-004

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Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ging die Bedeutung des Staates zurück, in den Vordergrund trat der Markt. Der Wandel vom Primat der Staaten zum Primat der Märkte vollzog sich seit der Mitte der 1990er Jahre unaufhaltsam bis zum Kollaps des globalen Finanzmarkts 2008. Der Begriff „transnational“ begann seine Karriere.² Anfangs in den Sozialwissenschaften beheimatet, bezeichnete er staatsübergreifende Verflechtungen und Organisationsstrukturen, die sich unterhalb der Handlungsebene von Regierungen entwickelten und immer einflussreicher wurden – Amnesty International (seit 1961) und Greenpeace (seit 1970) seien hier als die prominentesten Beispiele genannt. Nach 1990 löste sich der Begriff aus dem sozialwissenschaftlichen Gehäuse und breitete sich in den Medien und der öffentlichen Sprache aus. An der Wende zum 21. Jahrhundert hatte „transnational“ den Begriff „international“ nahezu überformt und eine neue Bedeutung angenommen, die die wechselseitige Durchdringung multipler Wissenskulturen beschrieb.³

2. Der Begriff „Soziale Demokratie“ Das ist der historische Kontext, in den dieser Beitrag zur internationalen und transnationalen Geschichte von Sozialreform und Sozialer Demokratie eingeordnet ist. Den Gegenstand bildet ein Ordnungsmodell westlicher Industriegesellschaften, welches seit den Jahrzehnten der Hochindustrialisierung gesellschaftliches Handeln, politische Öffentlichkeit und Regierungspolitik beeinflusst und antreibt. Das Nachdenken über die Anpassung der sozialökonomischen und politischen Regularien an die Strukturen des Industriesystems und das Experimentieren mit je unterschiedlichen, aber systemisch eng verwandten Lösungen, um diese Strukturen zum Nutzen der arbeitenden Menschen, die in sie eingebunden waren, zu humanisieren, bildeten die Kennzeichen dieser länderübergreifenden Dynamik. Wie unterschiedlich trotz aller Verwandtschaft diese Reformbewegungen im je eigenen nationalkulturellen Umfeld erschienen, zeigt der Blick auf die Bezeichnungen. Am einfachsten wäre es, wir würden das historische

 Siehe Googlebooks Ngram Viewer für die Zeit von 1950 bis 2000 im englischen und deutschen Sprachraum für das Wort „transnational“.  Jürgen Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 464– 479; Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28, 2002, S. 607– 636; siehe auch Gunilla Budde/ Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien. Göttingen 2006.

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Phänomen epochen- und nationenübergreifend „Sozialliberalismus“ nennen, weil es im Kern darum ging, den klassischen, auf das bürgerliche Individuum ausgerichteten Liberalismus des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts zur Gesellschaft hin, zum Verbund der Vielen, der zahllosen Individuen, zu öffnen. Doch was ist „Liberalismus“ in den USA, was in Frankreich? Was bedeutet „Liberalismus“ in Deutschland, einem Land, welches das bloße Wort nach dem Ersten Weltkrieg regelrecht ausspie und zum Tabu machte? Die gesellschaftspolitische Entwicklung, die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, wurde in den USA progressivism genannt, in England New Liberalism, in Frankreich (neben anderen Bezeichnungen) radicalisme und in Deutschland Sozialreform. ⁴ Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Begrifflichkeit, als die Grenze zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft durch die im Krieg entstandene Massengesellschaft ihre Bedeutung verloren hatte. Jetzt ging es um die politischökonomische Neuordnung von Sozialverfassung in den europäischen Nachkriegsgesellschaften. Im Mittelpunkt stand das Problem, wie Massengesellschaft und repräsentative Demokratie in Übereinstimmung zu bringen seien. Der Begriff social democracy, der die Entwicklung seit den 1920er Jahren bezeichnet, ist allein im Englischen eindeutig, während er im Deutschen verkürzend mit der SPD identifiziert wird und im Französischen das historische Geschehen der Zwischenkriegszeit nicht angemessen erfasst.⁵ Neue Herausforderungen stellten sich mit der Weltwirtschaftskrise von 1930 bis 1933, auf die der amerikanische New Deal die wirkungsvollste Antwort gab. Darin waren Vorstellungen von social democracy und welfare state building miteinander verwoben, die im Zweiten Weltkrieg ihre Ergänzung im englischen Beveridge-Plan erhielten und nach dem Kriegsende mit dem Marshall-Plan und den Anfängen der westeuropäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit die Grundlagen schufen für den Wohlfahrtsstaat und dessen Einbindung in die parlamentarisch-demokratische und liberalsoziale Ordnung der Länder im euro-atlantischen Wirtschaftsraum.⁶ Der Wohl-

 Ronald D. Rotunda, Liberalism as Word and Symbol. Iowa City, IA 1986; James T. Kloppenberg, Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870 – 1920. New York, NY u. a. 1986; Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform. Oxford 1978; Roland Höhne/Ingo Kolboom, Sozialliberalismus in Frankreich, in: Holl, Karl/Trautmann, Günter/Vorländer, Hans (Hrsg.), Sozialer Liberalismus. Göttingen 1986, S. 149 – 170; Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age. Cambridge, MA u. a. 1998, S. 52– 75.  Michael Freeden, European Liberalisms. An Essay in Comparative Political Thought, in: European Journal of Political Theory 7, 2008, S. 9 – 30 und Anm. 27.  Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München 1989.

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fahrtsstaat festigte sich in den zweieinhalb Jahrzehnten des Nachkriegsbooms bis 1973 und wurde nach dessen Ende wiederum durch neue Begriffe und Steuerungsideologien wie neoconservatism in den USA und Großbritannien oder Neoliberalismus im deutschen Sprachraum den veränderten Bedingungen angepasst.⁷ Die Suche nach dem passenden Begriff lässt sowohl die Verschiedenheiten der nationalkulturellen Ausformungen als auch die Verwandtschaften im historischen Geschehen als internationale Geschichte erkennen. Dieser Beitrag verwendet mit dem Begriff Sozialreform ein Wort aus dem deutschen Handlungsfeld, das ohne Schwierigkeit auch auf die britische und amerikanische Entwicklung anwendbar ist. Die Soziale Demokratie hingegen ist ein ins Deutsche übernommener englischer Terminus, der nicht nur die Verflechtungen zwischen Deutschland, den USA und Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar machen kann, sondern auch die Orientierung der westdeutschen Bundesrepublik (und der Mehrzahl der west- und nordeuropäischen Länder) auf ein angloamerikanisch eingefärbtes, wiewohl historisch transnational grundiertes Ordnungsmodell in der zweiten Hälfte.

3. Forschungskonjunkturen im gesellschaftlichen Wandel Die internationale Forschung weist zwei besonders intensive Phasen in der Auseinandersetzung mit den Problemkreisen Sozialreform, Soziale Demokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit auf. Das war zum einen die Zeit der sozialliberalen, von sozialdemokratischen Parteien gestalteten, Prädominanz in Westeuropa, deren Kernphase die Jahre von 1970 bis 1980 bildeten, während die Spanne insgesamt von den mittleren 1960er Jahren bis zur Mitte der 1980er Jahre reichte. Die fachwissenschaftliche Entwicklung verlief als Funktion des gesellschaftlichen Prozesses. In der Geschichtswissenschaft breitete sich die Sozialgeschichte aus; die Institutionalisierung vollzog sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Die westdeutsche Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ entstand 1975. Das Interesse der Historiker galt der Industriegesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, während die Zeit nach 1945 vornehmlich von den Sozialwissenschaften behandelt wurde. In diesen Jahren entstanden Arbeiten zur bürgerlichen Sozialund Interessenpolitik in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg, zur Geschichte der Wohlfahrtsstaaten in Europa seit

 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3. Aufl. Göttingen 2012.

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1920, zu dem Problem des „organisierten“ oder des marktwirtschaftlichen Kapitalismus sowie der Symbiose von Sozialdemokratie und Keynesianismus.⁸ Das war zum andern die Anfangsphase der Globalisierung, die man recht grob an die Jahreszahlen 1995 bis 2005 binden kann. Hier wurde die ideologische Kehrtwende in den Steuerungsideologien vom 20. zum 21. Jahrhundert spürbar, die sich in der Sprache der Politik, in den Interessenbekundungen der Wirtschaft und den Medien ausbreiteten. Staat und Verbände sollten nicht länger als die maßgeblichen Ordnungsfaktoren im Industriesystem gelten, denn die Strukturkrise im industriellen Sektor und die wachsende Arbeitslosigkeit erschien als Folge einer zu engen Verkopplung der Wirtschaft mit dem Staat. Die Verantwortung für Fehlsteuerungen in den Industriestaaten wurde in der Fixierung der Politik auf soziale Sicherheit in der Arbeitsgesellschaft gesehen. Jetzt verschoben sich die Parameter. An die Stelle des Staats sollte der Markt treten. In der Gesellschaft erhielt das Eigeninteresse des Individuums den Vorrang vor der Mitverantwortung des Bürgers in der Gesellschaft. Macht und Herrschaft gingen von den Staaten und Regierungen auf „die Märkte“ über, in denen anonyme Einzelne die staatsfreie Zone des globalen Kapitalismus ausgestalteten. Dieser Wandel verschob auch die gesellschaftliche Orientierung des Staatsbürgers. Es verwundert daher nicht, dass in der historischen Forschung, die seit den 1990er Jahren geleistet wurde, die Auseinandersetzungen mit den Erscheinungsformen des Laisser-faire-Kapitalismus und den sozialen Gegenbewegungen besonders markant ausgefallen ist. Eine Suche setzte ein nach dem Mittelweg zwischen Man-

 Aus der Fülle der Literatur sei an dieser Stelle verwiesen auf Hans Günter Hockerts, Hundert Jahre Sozialversicherung in Deutschland. Ein Bericht über die neuere Forschung, in: Historische Zeitschrift 237, 1983, S. 361– 384; sodann auf einige Werke, die den Zeittrend in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1970er Jahren repräsentieren: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge. Göttingen 1974; Peter Flora/Arnold J. Heidenheimer (Hrsg.), The Development of Welfare States in Europe and America. New Brunswick, NJ u. a. 1981; Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. Frankfurt am Main u. a. 1982; Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Mock (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 – 1950. Stuttgart 1982; Freeden, New Liberalism; Michael Freeden, Liberalism Divided. A Study in British Political Thought 1914– 1939. Oxford 1986; Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I. Princeton, NJ 1975; Rüdiger vom Bruch (Hrsg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. München 1985; Peter A. Hall (Hrsg.), The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations. Princeton, NJ 1989; Kenneth O. Morgan, Socialism and Social Democracy in the British Labour Party, 1945 – 1989, in: Archiv für Sozialgeschichte 29, 1989, S. 245 – 271; Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. 2. Aufl. Frankfurt am Main u. a. 1987; Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge, MA 1990; Michel Albert, Capitalisme contre Capitalisme. Paris 1991.

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chestertum und Wohlfahrtsgesellschaft seit der Hochindustrialisierung, und es galt die Frage, zu welcher Zeit und unter welchen Bedingungen ein solcher Weg eingeschlagen worden war. Die Forschung nahm die Herausforderung der Globalisierung auf und richtete das Augenmerk auf die Analyse von transnational verflochtenen sozialen und ideellen Prozessen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, oder sie erweiterte die seit 1980 praktizierte Methode des historischen Vergleichs zur Analyse der kulturellen Durchdringung, des Angleichens und Unterscheidens. Die geschichtswissenschaftliche Erschließung der Denkwege und ideellen Verflechtungen von nationalen Eliten und transnationalen Expertengruppen bildete die Realität einer Welt ab, in der nicht mehr die statische Ordnung von Staat und Gesellschaft die Norm bildete, sondern die fluide Wirklichkeit im System der digitalen Kommunikation und Ökonomie.⁹

4. Bürgertum und middle classes als Agenten von Sozialreform 1870 bis 1914 In den Anfängen der Sozialreform verbanden sich unterschiedliche Motive und Traditionen, von denen einige in der frühneuzeitlichen Sozialkultur und gemeindlicher Fürsorge in den europäischen Ländern verwurzelt waren, andere sich erst neu herausbildeten angesichts der dynamischen Prozesse von Industrialisierung, Urbanisierung und Arbeitsmigration. Das prägte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in der Wirtschaft und in den Städten die große Zeit bürgerlicher Kraftentfaltung erreicht wurde. Ihrem Selbstverständnis nach war bürgerliche Kultur in ausgeprägter Weise Individualkultur. Selbstbestimmung bildete die Norm, sowohl im politischen Gemeinwesen als auch im Wirtschaftsunternehmen. Die Idee des selbstbestimmten Individuums war doppelt verankert – zum einen in der Theorie des Besitzindividualismus und zum andern im Diskurs über Recht und Verantwortung des citoyen in der politischen Öffentlichkeit. Besitzanspruch  Rodgers, Atlantic Crossings; Friedrich Jaeger, Amerikanischer Liberalismus. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2001; Michael McGerr, A Fierce Discontent. The Rise and Fall of the Progressive Movement. New York, NY 2003; Alan Dawley, Changing the World. American Progressives in War and Revolution. Princeton, NJ u. a. 2003; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880 – 1940. Göttingen 2009; Karl H. Metz, Die Geschichte der sozialen Sicherheit. Stuttgart 2008; Norman Birnbaum, After Progress. American Social Reform and European Socialism in the Twentieth Century. Oxford 2001; Dick Leonard (Hrsg.), Neuausgabe von: Anthony Crosland, The Future of Socialism (1956). London 2006; Howard Brick, Transcending Capitalism. Vision of a New Society in Modern American Thought. Ithaca, NY u. a. 2006.

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und staatsbürgerliche Selbstverpflichtung gehörten zusammen. Mit dem Blick auf das Kommende kann man sagen, dass genau darin der mittlere Weg zwischen dem Laisser-faire-Kapitalismus und dem antikapitalistischen Sozialismus angelegt war: Wirtschaftsfreiheit und Sozialverantwortung bildeten im Ideengebäude des Liberalismus durchaus einen Zusammenhang. Das Problem bestand immer aufs neue darin, sie in angemessener Form zusammenzubringen, um die je aktuellen Probleme auch zu lösen. Staatsbürgerliches Mitspracherecht war an Besitz gebunden. Nur eine kleinere Zahl von begüterten und wirtschaftlich leistungsfähigen Menschen kam in dessen Genuss. Die Dominanz der bürgerlichen Schicht beziehungsweise der middle classes fußte auf dem sozial und rechtlich austarierten System des Besitztumsprivilegs, gewonnen entweder aus der Familientradition oder erworben aus Unternehmergeist. Die Grundsätze der bürgerlichen Geschäftswelt verbanden Ideen der persönlichen Freiheit des Wirtschaftens im Handlungsprinzip des Laisser-faire miteinander: Der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl würde dann erreicht, wenn sich der Unternehmer unbehelligt von jeder Einflussnahme durch kameralistische Gängelung entfalten konnte, wie das im Merkantilismus der Fall gewesen war. Das Laisser-faire-Prinzip fand seine klassische Ausprägung im sogenannten Manchester-Liberalismus, der dann als Gegenbewegung die Frühformen des Sozialismus und den organisierten Kampf für die Rechte der labouring poor hervorbrachte. Die Unzulänglichkeiten des Laisserfaire-Kapitalismus und die inhumanen Auswirkungen des sich selbst überlassenen Gewinnstrebens zeigten sich in allen Ländern des euro-atlantischen Wirtschaftsraums spätestens dann, als die Hochindustrialisierung erreicht war, die großen Eisenhütten, Maschinen- und Textilfabriken die Szene beherrschten und im Zuge der Urbanisierung Massen anonymer Arbeitskräfte aus dem ländlichen Umraum, entfernteren Regionen oder aus Übersee in die industriellen Ballungsräume strömten. Das menschliche Elend in den Industriequartieren rief den Willen zu Abhilfe, Reform, Sozialreform hervor. Die Träger solcher Initiativen waren Repräsentanten der middle classes und des Bürgertums. In den Jahrzehnten der Hochindustrialisierung vor dem Ersten Weltkrieg, von 1880 bis 1914, entstand die Grundform des Sozialliberalismus in England und den USA. Frankreich beließ die Entwicklung zwischen den Polen bloßer Armenfürsorge oder öffentlicher Sicherung für alle Staatsbürger unentschieden. In Deutschland blieb die sozialreformerische Aktivität des Bürgertums an die kommunale Ebene gebunden, nachdem seit 1883 die staatliche Sozialversicherung auf nationaler Ebene eingeführt wurde. Sowohl der amerikanische Progressivismus als auch der englische New Liberalism nahmen Gestalt an als ideenpolitische Konzepte, nicht als politische Bewegungen oder Parteien. Der Sozialliberalismus war zum Zeitpunkt seiner Entstehung eine gesellschaftliche Bewegung. Das En-

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gagement der beteiligten Bürger und der wachsenden Anzahl von Experten wirkte sich daher nicht direkt in ministeriellen Maßnahmen der Sozialpolitik aus. Die materiellen Entscheidungen blieben als Einzelereignisse zunächst auf Gemeinden, Regionen, Industriebetriebe beschränkt. Unter den Beteiligten bildete sich jedoch eine neue, weiterführende Überzeugung aus, die sie medial auch mit Entschiedenheit verbreiteten. Neben dem materiellen Strang der Sozialpolitik kam der ideenpolitische Strang zum Vorschein, und hier entstanden maßgebliche gesellschaftspolitische Grundannahmen des 20. Jahrhunderts.¹⁰ Der neue, progressive Liberalismus brachte ein sozialintegratives Verständnis von Gesellschaft hervor, das jetzt den Vorrang erhielt vor der alleinigen Geltung des Individualismus. Die Axiome des Liberalismus blieben unangetastet, wurden aber erweitert und an die neuen Bedingungen angepasst. Der Glaube an die Vernunft, an die Rationalität menschlichen Handelns und der Glaube an die Freiheit der Einzelperson gehörten untrennbar zusammen. Diese Grundauffassung des aufklärerischen Denkens schloss die Kategorie des Fortschritts in sich, der im optimistischen Weltbild des Liberalismus als stete Vorwärtsentwicklung mit humanem Maß verstanden wurde. Damit war auch der Glaube verbunden, dass die Menschen verbesserungsfähig sind, und das führte zu der Überzeugung von der grundsätzlichen Verbesserungsfähigkeit der sozialen Beziehungen. So wurde die Tradition des individual-liberalen Denkens angesichts der massenhaften Zunahme der Industriearbeiterschaft von der neuen Vorstellung eines Sozialen Liberalismus überformt. Das war eine gemeinsame Entwicklung in den Industrieländern des euro-atlantischen Wirtschaftsraums.¹¹ Sozialreformerisches Engagement entstand in den Städten. Die städtische Sozialpolitik wurde zur Manifestation des Willens, das plurale Gefüge unterschiedlichster Formen menschlicher Existenz aus der Umklammerung durch gierige Wirtschaftsinteressen zu lösen und der Stadt ein eigenes soziales Bewusstsein zu vermitteln. Der Trend ging dahin, die moderne städtische Infrastruktur als öffentliches Eigentum der Kommunen auszugestalten und bestehende Einrichtungen in privatem Eigentum zu kommunalisieren. Die Eigenart dieser Sozialpolitik lag indes in ihrer schichtenspezifischen Ausprägung, die sich – in Europa mehr als in den USA – bis zum Ersten Weltkrieg als unhintergehbar erwies. Bürgerliche Sozialreform galt den Benachteiligten, die der Mittelschicht nicht angehörten, und schuf damit eine klare klassengesellschaftliche Trennlinie. Die Sozialreformer versicherten sich in ihrem Engagement und durch

 Dawley, Changing the World; McGerr, A Fierce Discontent; Freeden, New Liberalism; Ritter, Sozialstaat; Metz, Soziale Sicherheit.  Rodgers, Atlantic Crossings, S. 76 – 111; Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft.

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ihr Engagement gewissermaßen selbst des eigenen materiell und kulturell saturierten Status. Objekt von Sozialreform konnte daher nie die eigene Schicht des bürgerlichen Mittelstands sein. Das Engagement richtete sich im klassenspezifischen Sinn auf das Gemeinwohl der Arbeiterschaft in den Elendsquartieren. Versorgungs- und Ernährungsbedingungen waren zu verbessern, und die Hygiene musste durch öffentliche Bäder, Kliniken, Schlacht- und Milchhöfe gefördert werden. Der Ausbau der städtischen Verkehrssysteme und der Betriebe für Gas, Wasser und Elektrizität kam hinzu.¹² In Deutschland gab es den Begriff des Bürgermeisterliberalismus, der ergänzend verwendet wurde zu dem auch in England gebräuchlichen Terminus Munizipalsozialismus, um die bürgerliche Kommunalpolitik und deren Abkehr vom Laisser-faire der Manchesterliberalen zu beschreiben. Beide Begriffe akzentuierten die Ausrichtung und Begrenzung auf die Kommune deutlich. Das ist für die deutsche Entwicklung besonders folgenreich geworden. Der Grund lag in der Strategie Bismarcks, die Politik der Sozialreform auf die Ebene des Reichs zu ziehen und zu einem gesamtstaatlichen Anliegen zu machen. Die Sozialversicherung mit den Gesetzen zur Kranken-, Unfall- sowie Alters- und Invalidenversicherung wurde seit 1883 eingeführt und diente Bismarck gar nicht so sehr als Waffe im Kampf gegen die Sozialdemokraten, sondern als Gift zur Schwächung des kraftvollen Liberalismus in den Großstädten. 1878/79 hatte der Reichskanzler die Kooperation mit den Liberalen aufgekündigt, die Grundsätze des Freihandels widerrufen und dem Protektionismus den Vorrang eingeräumt. Mit den Reichsgesetzen zur Sozialversicherung wurden die in der Sozialreform engagierten Liberalen auf das kommunale Handlungsfeld begrenzt. Zugleich wurde dem politischen Liberalismus die Möglichkeit zur Annäherung an die Arbeiterfrage verstellt, indem politisch-propagandistisch die Arbeiterschaft mit „Sozialismus“ identifiziert wurde. Nach den Rückschlägen seit 1848 verlor der Liberalismus in Deutschland in den 1880er Jahren endgültig die Chance, maßgeblich die politische Zukunft der Reichsgesellschaft zu gestalten. Die nationale Spielart von Sozialliberalismus entfaltete sich deshalb hierzulande anders als in England und den USA, aber sie blieb dennoch gebunden an die transnationale Entwicklung im nordatlantischen Wirtschaftsraum. Die Politik der Sozialreform wurde in Deutschland in weiten Bezügen zu einer staatlichen Maßnahme.¹³

 Rodgers, Atlantic Crossings, S. 112– 159; Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 249 – 344; Nadine Klopfer, Die Ordnung der Stadt. Raum und Gesellschaft in Montreal (1880 bis 1930). Köln u. a. 2010.  Ritter, Sozialstaat; Wolther von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878 – 1893). Köln u. a. 2002; Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, S. 256 – 260.

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5. Kriegskollektivismus, Massengesellschaft und das Problem der Demokratie 1914 bis 1930 Mit dem Weltkrieg begann eine andere Zeit. Die Vorherrschaft der Mittelklasse endete. Die Wirklichkeit des Krieges ebnete die Unterschiede zwischen den anonymisierten Existenzformen des Frontsoldaten im Maschinenkrieg und des Industriearbeiters in der Kriegsproduktion ein. Als sich abzeichnete, dass der Krieg nicht von kurzer Dauer sein würde, machte der anhaltende Bedarf an Menschen, Rohstoffen, Waffen, Maschinen und Nahrung andere Formen der Wirtschaftsorganisation erforderlich. Die Deutschen mussten die Auswirkungen der alliierten Seeblockade kompensieren, Franzosen und Belgier den Verlust ihrer Schwerindustrie infolge der deutschen Besetzung, und die Briten bedurften der Hilfe des gesamten Empire mit Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Soldaten. Die Notwendigkeiten der Kriegsfinanzierung machten die Vereinigten Staaten weit früher zu einem Alliierten der Ententemächte, als es der förmliche Kriegseintritt im April 1917 anzeigte. Was von der Ideologie des Laisser-faire während der Hochindustrialisierung noch praktisch wirksam geblieben war, geriet weiter in den Hintergrund. Damit veränderten sich auch die Parameter der bürgerlichen Sozialreform. Der englische New Liberalism und der amerikanische Progressivismus verloren ebenso wie die Repräsentanten der Sozialreform im wilhelminischen Deutschland den machtvollen Gegner, dessen Orientierung am Unternehmensgewinn, ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse der Arbeiterschaft, den Vorkämpfern des Sozialliberalismus als Folie gedient hatte, vor der sie ihre Politik projektierten. Der Kriegskollektivismus bestimmte die sozialökonomische Wirklichkeit, und daraus entstand die klassen- und schichtenübergreifende Massengesellschaft. 1918 war das eine überwiegend verarmte, körperlich und seelisch ausgelaugte und politisch verunsicherte soziale Formation. Sie gab den europäischen Industrieländern der frühen 1920er Jahre das Gesicht, bevor der Dreiklang aus Verstädterung, Modernisierung und Konsum das andere, der Zukunft zugewandte Gesicht der späten zwanziger Jahre hervortreten ließ.¹⁴ Im Kriegskollektivismus wurden die Aktionsfelder der bürgerlichen Sozialreform in wachsendem Ausmaß von den Arbeiterparteien, den Gewerkschaften und den Interessenverbänden der konfessionellen Sozialpolitik überformt. Die Grenzen zwischen sozialdemokratischer und bürgerlicher Politik verschoben sich. In den kriegführenden Ländern tauchten neue Vorschläge über die Einbe-

 Rodgers, Atlantic Crossings, S. 290 – 317; Gunther Mai, Europa 1918 – 1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart u. a. 2001; Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914– 1945. München 2011, S. 82– 130.

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ziehung der (sozialistischen) Arbeiterbewegung in die (kapitalistische) Kriegswirtschaft auf, die zur Neubestimmung der politischen Rolle der Arbeiterschaft und zur Entstehung des Korporativismus beitrugen. In Deutschland wurden mit dem „Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst“ vom Dezember 1916 Betriebsräte und Mitbestimmung eingeführt. Dieser Anfang in der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen bildete nach der Sozialversicherung aus den 1880er Jahren das Fundament, auf dem die deutsche Sozialverfassung fortan ruhen sollte. In allen europäischen Ländern begann mit der Regelung der Arbeitsbeziehungen die politische Mitwirkung der Arbeiterschaft als Anfang von innerbetrieblicher Demokratie. Der parlamentarische und regierungspolitische Einfluss der sozialdemokratischen Parteien galt der Ausgestaltung der Sozialversicherung, dem sozialen Wohnungsbau und den Maßnahmen zu gesellschaftlicher Planung und Regulierung der Wirtschaft. Das waren vor 1914 Themen der bürgerlichen Sozialpolitik gewesen, von denen sich die orthodoxen Sozialisten ferngehalten hatten, denn die Bourgeoisie war Klassengegner, nichts sonst. Nach 1918 hatte der Klassengegensatz seine abschottende Bedeutung verloren, und die Repräsentanten der Arbeiterbewegung in den Parteien und Gewerkschaften stellten sich der Verantwortung, den Wiederaufbau und die Neuordnung mit zu gestalten. Deshalb gehörten der Ausbau der Sozialverfassung und die Demokratisierung der Politik grundsätzlich zusammen. Ungeachtet aller nationalkulturellen Unterschiede bildete der sozialliberal grundierte demokratische Internationalismus, den die Parteien der Linken und der Mitte trugen, für die nächsten Jahre eine ideelle Norm. Ihr Einfluss äußerte sich sowohl in der Gesellschaftspolitik – Sozialversicherung, Wohnungsbau, Sozialplanung,Wirtschaftsregulierung – als auch in der Außenpolitik – Völkerbund, Friedensbewegung, Entspannungsbemühungen. Die Zeit der Entfaltung war kurz, weil die Weltwirtschaftskrise seit 1930 die Weiterentwicklung beendete, und die innergesellschaftlichen Widerstände in den verschiedenen Ländern waren groß. Dennoch wurden nach dem Ersten Weltkrieg Weichen gestellt und Maßnahmen ergriffen, an die sich in der westeuropäischen Rekonstruktionsphase nach 1945/ 50 anknüpfen ließ. In den 1920er Jahren musste die Vergangenheit bewältigt werden, aber es wurde auch die Zukunft verhandelt. Die Zeit der Stabilisierung von 1924 bis 1930 hatte Modellcharakter für die europäische Politik der 1950er und 1960er Jahre.¹⁵

 Dawley, Changing the World, S. 1– 39, S. 341– 358; Joseph A. McCartin, Labor’s Great War. The Struggle for Industrial Democracy and the Origins of Modern American Labor Relations 1912– 1921. Chapel Hill, NC u. a. 1997, S. 156 – 172; Freeden, Liberalism Divided, S. 45 – 77; Ritter, Sozialstaat, S. 102– 129; Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the

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Aus diesem Blickwinkel stechen die Schattenseiten des Geschehens in den zwanziger Jahren sogleich ins Auge. Sozialreform wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Politik des Ausbaus und der Ausgestaltung der Sozialverfassung, deren Kennzeichen ihr korporativer Charakter war. Das galt in Deutschland und Frankreich ausgeprägter als in Großbritannien oder gar den USA, doch handelte es sich insgesamt um einen transnationalen Trend. Sowohl in den Bereichen der Sozialversicherung als auch in der Regelung der Arbeitsbeziehungen oder der Modernisierung von Infrastrukturen bildeten sich Bürokratien sowie Gruppen von Experten und Sozialingenieuren heraus, die die Weiterentwicklung der Industriegesellschaft als Modernisierung zu planen und zu steuern beanspruchten. Korporativismus aber erschwerte die Entfaltung demokratischer Politik. Das Ordnungsmodell des Sozialliberalismus beziehungsweise der Sozialen Demokratie wurde davon direkt berührt, denn hier musste es ja nicht zuletzt auch darum gehen, die Rolle des Individuums in der Demokratie zu bestimmen. Das betraf zum einen die Auseinandersetzung um Mitbestimmung und demokratische Praxis in den Arbeitsbeziehungen, die innerbetriebliche Demokratie. Es betraf zum andern die Ordnung der Massengesellschaft im Pluralismus der Gruppeninteressen und politischen Parteien, die repräsentative parlamentarische Demokratie. Norm und Praxis einer Sozialverfassung für die moderne Massengesellschaft, die den Erfordernissen des Industriesystems unter den Bedingungen der Marktwirtschaft entsprach, wurden erprobt im Mächtedreieck der organisierten Vertretungen von Arbeiterparteien, Gewerkschaften, konfessioneller oder freier Verbände einerseits, der staatlichen Bürokratie von der kommunalen bis auf die nationale Ebene andererseits und drittens der Repräsentation der Arbeitgeber.¹⁶ Für das weitere Geschehen in den 1930er und 1940er Jahren wurde es bedeutsam, dass im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg kein funktionsfähiger Weg der Integration von Wirtschafts- und Sozialverfassung und repräsentativer Demokratie gebahnt werden konnte. Sowohl die Protagonisten im Mächtedreieck des Korporativismus als auch die Protagonisten im parlamentarischen System der repräsentativen Demokratie waren nach 1920 von ihrer generationellen Erfahrung

German Inflation, 1914– 1924. New York, NY u. a. 1993; Jost Dülffer/Gottfried Niedhart (Hrsg.), Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters. Essen 2011.  Jaeger, Amerikanischer Liberalismus, S. 202– 265; Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009; Andrea Rehling, Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion. Baden-Baden 2011. – Zur frühen Diagnose der Spannung zwischen Bürokratie und Demokratie durch Max Weber noch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg siehe Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920. 2. Aufl. Tübingen 1974; Kloppenberg, Uncertain Victory, S. 349 – 394, S. 381 ff.

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aus der Zeit vor dem Weltkrieg geprägt, die Klassentrennung, wirtschaftlichen Liberalismus, bürgerlich-individualistisches Engagement in sich schloss, aber nicht die egalitäre Demokratie. Die neue Realität der Fundamentalpolitisierung der Massengesellschaft über politische Parteien, mediale Öffentlichkeit und parlamentarische Repräsentation, mithin die Einübung in die aktive Staatsbürgerrolle, war selbst dort noch nicht zur Gewohnheit geworden, wo der Parlamentarismus traditionell das politische System prägte. Die Spannung zwischen der Entriegelung der Massengesellschaft in sozialökonomischer wie in staatsbürgerlich-politischer Hinsicht und der Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft in korporativer Form dürfte ein wichtiger Grund für die hohe Zahl an Streiks in allen Ländern des euro-atlantischen Wirtschaftsraums gewesen sein, die im letzten Kriegsjahr begannen, zwischen 1919 und 1922 in den westeuropäischen Montanrevieren eskalierten und 1926 im englischen Generalstreik den Höhepunkt erreichten.¹⁷ In den 1920er Jahren spielte die Kategorie des Individualismus in der politischen Öffentlichkeit des demokratischen Staats kaum eine Rolle. Selbstbestimmung und Repräsentation waren in Formen der Gemeinschaftsbildung eingebunden, die mit liberaler Vergesellschaftung entweder gar keine Verwandtschaft aufwiesen, wie das im Faschismus und Nationalsozialismus der Fall war, oder aber Demokratie und Marktwirtschaft mittels politischer Propaganda und ausgefeiltem social engineering ohne Beachtung von Individualinteressen zu stabilisieren versuchten. Das galt für den New Deal. Es stellt sich mithin die Frage, wie es gelingen konnte, nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Orientierung an der Kategorie des liberalen Individuums in einer sozialen Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen. Wie konnte der Weg zur Integration von Wirtschafts- und Sozialverfassung und repräsentativer Demokratie gebahnt werden? Die Erfahrung der nationalsozialistischen Kriegsherrschaft und der Reformversuche des New Deal wiesen die Richtung.

 Der Zusammenhang von Streiks, Korporativismus und Legitimationsdruck der Demokratie wird selten thematisiert. Vgl. hier John N. Horne, Labour at War. France and Britain, 1914– 1918. Oxford 1991; Richard Overy, The Morbid Age. Britain and the Crisis of Civilization, 1919 – 1939. London 2009, S. 50 – 92; McCartin, Labor’s Great War, S. 147– 172; Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. 2. Aufl. Berlin u. a. 1985, S. 393 – 433; Rodgers, Atlantic Crossings, S. 290 ff.

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6. Wirtschaftskrise, New Deal, Korporativismus Die Weltwirtschaftskrise erzeugte die Vorbedingungen für das Kommende. Sie traf im Westen die Vereinigten Staaten am schwersten und in Europa das Deutsche Reich. Daher gingen von diesen beiden Ländern die stärksten Wirkungen aus. Die Folgen indes konnten gegensätzlicher nicht sein. In den USA wurde der New Deal in Gang gesetzt, dessen erste Phase bis 1937 alles in allem wenig erfolgreich verlief. In Deutschland ebnete der wirtschaftliche Zusammenbruch den Nationalsozialisten den Weg zur Macht. Sie beseitigten den liberalen Rechtsstaat und die rechtsstaatliche Bindung der Sozialverfassung. Sie steuerten auf den Krieg los, der scheinbar die Ergebnisse des Versailler Vertrags revidieren sollte, im Kern aber auf die Eroberung eines rassistisch und terroristisch verwalteten Imperiums in Europa zielte. Der Krieg brachte die USA als stärkste Wirtschaftsmacht der Welt ins Spiel und transformierte seit 1939/40 auch die Ideen des New Deal in dessen zweiter Phase. Daraus gingen die Konzepte und Impulse für die Ordnung des nordatlantischen Wirtschaftsraums hervor, die seit 1942/44 geplant und von 1947 an verwirklicht wurden. Die Formen sozialliberaler Ordnung in Westeuropa, die nach 1960 allmählich sichtbar wurden, hatten hier ihren Ursprung.¹⁸ Die Geschichte des New Deal kann auf diesen wenigen Seiten nicht ausgebreitet werden. Zum Verständnis der internationalen Dimension gesellschaftlicher Ordnungspolitik ist es jedoch wichtig, einige Handlungsstränge zu beachten, die die Verschränkungen mit und Kontraste zu europäischen Entwicklungen erkennen lassen. Massenarbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen des Finanzmarkts setzten Energien frei, mittels staatlicher Steuerung Arbeit zu beschaffen durch großangelegte Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur. Das Tennessee Valley Project und die verkehrstechnische Erschließung weiter Räume im Westen und Süden der USA sind bekannte Beispiele aus der amerikanischen Geschichte, die mit dem Bau von Kraftwerken und Verkehrswegen ihre Entsprechung in Deutschland fanden. Die Planungen dazu stammten aus den 1920er Jahren, die Krise ermöglichte jetzt die Verwirklichung. Infrastrukturplanung und Sozialpla-

 Alan Brinkley, The End of Reform. New Deal Liberalism in Recession and War. New York, NY 1996; Steve Fraser/Gary Gerstle (Hrsg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930 – 1980. Princeton, NJ 1989; Michael Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe. Cambridge, MA 1987; Charles S. Maier/Günter Bischof (Hrsg.), The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Framework of the European Recovery Program. New York, NY u. a. 1991; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999; Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe. Cambridge, MA u. a. 2005.

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nung sollten Hand in Hand gehen, indem der Staat die Finanzierung regelte, um die Menschen in Lohn und Brot zu bringen. Die Erfolge fielen bescheiden aus, doch das Entscheidende war der konzeptionelle Zugriff. Merkmal der amerikanischen Entwicklung war es, dass der Individualismus als Kernelement liberalen Ordnungsdenkens zurückgedrängt wurde, indem die unternehmerische Freiheit in einem höheren Maß als je zuvor an die planerischen Reformvorgaben der Bundesregierung in Washington gebunden wurde. Anders gesagt: Um die Grundlagen des freiheitlichen Gemeinwesens – den Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie – zu stabilisieren, wurde ein höheres Maß an staatlicher Steuerung praktiziert. Dies aber widersprach dem Prinzip der umfassenden Selbstbestimmung des Individuums als homo oeconomicus. Deshalb eigneten dem New Deal in der Anfangszeit durchaus radikale Züge, die über die Praxis der Sozialreform aus der Zeit des Progressivismus weit hinausgingen und als „Sozialismus“ bekämpft wurden. Immerhin gelang es, die Sozialversicherung nach europäischem Vorbild als eine gesamtstaatliche Regelung einzuführen. Was in der Ära Roosevelt dann in den Folgejahren praktiziert wurde, war eher eine atlantische Variante von Sozialer Demokratie. Sie band die Handlungsspielräume des Einzelnen an die Erfordernisse des Gemeinwohls und wies der nationalen Regierung die Kompetenz zu, über den Rahmen einerseits von Freiheit, andererseits von Begrenzung zu bestimmen. Mit diesem Profil war der New Deal offen für die Aufnahme der Wirtschaftstheorie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, weil diese dem Staat die Aufgabe fiskalpolitischer Globalsteuerung des Gemeinwesens zuwies. Zum Keynesianismus gehörte die These, dass solche Steuerung in wirtschaftsschwachen Zeiten durch staatliche Kreditaufnahme dazu dienen sollte, die Vollbeschäftigung zu sichern und den Arbeitnehmern ein angemessenes Einkommen zu gewährleisten, anstatt sie in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Der Arbeitnehmer würde dann als Konsument zum Marktteilnehmer und mit seiner Nachfrage die Produktionsfähigkeit der Unternehmen sicherstellen können. Dieses System der nachfrageorientierten Marktwirtschaft setzte die Entschlossenheit des Staates zur Einflussnahme auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen voraus. In der zweiten Phase des New Deal seit 1937/39 wurde der Keynesianismus zur Richtschnur für die Experten in den amerikanischen Planungsstäben. Er löste den Rigorismus der ersten Phase mit den Ansätzen zur staatlichen Kontrolle einzelner Wirtschaftszweige ab und lieferte maßgebliche Grundideen für den Marshall-Plan.¹⁹

 Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933 – 1939. München 2005; Kiran Klaus Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933 – 1995. Göttingen 2003; Brinkley, The End of Reform, S. 15 – 136;

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Im Dritten Reich wurden die Infrastrukturprojekte in einer eigenen Form des Korporativismus verwirklicht, der allein den Staat, die Partei und die Unternehmerschaft erfasste. Die Gewerkschaften wurden sofort entmachtet und unterdrückt, Betriebszellen und Deutsche Arbeitsfront waren autoritär geführte Organisationen. Arbeitsbeziehungen im Sinne innerbetrieblicher Mitbestimmung gab es nicht länger. Im NS-System wurde jede Form von Individualismus und Selbstbestimmung konsequent beseitigt und die Gesellschaft zur Volksgemeinschaft erklärt, die über die ideologische Definition des rassisch und politisch „Gemeinschaftsfremden“ hermetisch verriegelt wurde. Die Sozialpolitik wirkte als Funktion solcher Volksgemeinschaft, indem sie den als gemeinschaftsfremd stigmatisierten Menschen den staatsbürgerlich garantierten Rechtsanspruch auf Teilhabe am Sozialstaat bestritt. Der Nationalsozialismus beseitigte den für jedes freiheitliche Gemeinwesen grundlegenden Zusammenhang von Staatsbürgerschaft und Selbstbestimmung mit einem Strich. Die Sozialpolitik kam dem entmündigten Volksgenossen in dem Maß zugute, wie es die traditionsgebundene Bürokratie im Umgang mit der Willkür von Partei und Staatsministerien zuließ. Dieses System hatte mit der sozialstaatlichen Tradition in Deutschland selbst und den sozialreformerischen, demokratisch-sozialen Fortentwicklungen seit dem Ersten Weltkrieg ideell nichts mehr gemein, auch wenn die soziale Sicherheit im NS-Staat formell aufrechterhalten blieb.²⁰ Nach der bedingungslosen Kapitulation ließ sich daran nicht anknüpfen. Zwar entfalteten die Infrastrukturpolitik des Dritten Reichs und die Formen wirtschaftlich-technischer Modernisierung Wirkungen in die Nachkriegszeit hinein, aber die Bundesrepublik Deutschland bezog sich auf das sozialstaatliche Erbe der Weimarer Republik. Die Bürokratie des Sozialstaats aus der Weimarer Zeit, die auch im Dritten Reich tätig geblieben war, verteidigte das Weimarer Erbe sogleich erfolgreich gegen den Versuch des Alliierten Kontrollrats, die Sozialversicherung in eine einheitliche Grundversicherung zu ändern und damit die Tradition aus den 1880er Jahren für tot zu erklären. Darüber hinaus aber war das westdeutsche Gemeinwesen offen für Einflüsse von Rodgers, Atlantic Crossings, S. 409 – 484; Hogan, The Marshall Plan, S. 1– 25; Albert O. Hirschmann, How the Keynesian Revolution Was Exported from the United States, and Other Comments, in: Hall, The Political Power of Economic Ideas, S. 347– 359; Peter A. Hall, Conclusion. The Politics of Keynesian Ideas, in: ibid., S. 361– 391.  Karl Teppe, Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung, in: Archiv für Sozialgeschichte 17, 1977, S. 192– 250; Ritter, Sozialstaat, S. 130 – 138, akzentuiert überwiegend die Traditionslinien in der Bürokratie, übergeht die Politik des systematischen Rechtsbruchs und marginalisiert die Ausgliederung der Gemeinschaftsfremden. Zur sozialpolitischen Lage in der NS-Volksgemeinschaft siehe Norbert Götz, Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim. Baden-Baden 2001, S. 349 – 417.

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außen. Daraus erklärt sich die große Bedeutung des New Deal-Liberalismus, den der Marshall-Plan transportierte, gerade für die Bundesrepublik, auch wenn das im Anfang mehr als ein Jahrzehnt lang kaum spürbar wurde.²¹

7. Beveridge-Report, Marshall-Plan und die Kontinuität der (west)deutschen Sozialverfassung Ein Merkdatum in der internationalen Geschichte der Sozialreform ist das Jahr 1942, als in London der Beveridge-Plan vorgelegt wurde. Er gilt als Gründungsurkunde des modernen Sozialstaats in Großbritannien.²² Die Nähe zu Keynes kam trotz deutlicher Unterschiede darin zum Ausdruck, dass im Zentrum der Überlegungen eine auf Vollbeschäftigung zielende Wirtschaftspolitik des Staates stand, die mit der Sozialpolitik verkoppelt war. Anders als Keynes sah Beveridge aber nicht die Nachfragesteuerung als Instrument an, um Vollbeschäftigung zu erreichen, sondern die staatlich organisierte Zuweisung von Arbeitsplätzen und Verteilung von Arbeitskräften. Die Neuordnung der Sozialversicherung war vorgesehen als ein einheitliches, umfassendes System einer Volksversicherung, das wiederum Bestandteil war eines Entwurfs für die Neuordnung der Gesellschaft. Politisch stand Beveridge in der Mitte der Gesellschaft. Er gehörte nicht zur Labour-Partei, auch nicht zur gewerkschaftlichen Linken, sondern wäre am treffendsten als Sozialliberaler zu bezeichnen. Um so auffallender war die Tendenz seines Sozialplans, die liberale Tradition aufzukündigen. Wie es seit der Weltwirtschaftskrise transnational zu beobachten war, wurde dem Selbstbestimmungsanspruch des Einzelnen kein Raum zugestanden. Die aufklärerisch-liberale Kategorie des Individualismus spielte keine Rolle. Schärfer noch als der New Deal, dem es in der vergleichsweise radikalen Anfangsphase gerade darum gegangen war, die Funktionsfähigkeit des systemischen Zusammenhangs von Demokratie und Marktwirtschaft sicherzustellen, präsentierte der Beveridge-Plan ein sozialistisch inspiriertes Programm in Gestalt von Lohn- und Preiskontrollen,

 Vgl. die aus nationaler Perspektive argumentierenden Beiträge in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. München 1998, und die euroatlantisch orientierten Texte von Charles S. Maier, Introduction. ‚Issue then is Germany and with it Future of Europe‘, in: Maier/Bischof, The Marshall Plan and Germany, S. 1– 39; sowie Michael Hogan, European Integration and German Reintegration. Marshall Planners and the Search for Recovery and Security in Western Europe, in: ibid., S. 115 – 170.  Der Beveridge-Plan. Sozialversicherung und verwandte Leistungen. Bericht von Sir William Beveridge, dem britischen Parlament überreicht im November 1942. Zürich 1943; José Harris, William Beveridge. A Biography. Oxford 1977.

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Verzicht auf freie Tarifverhandlungen, Verstaatlichungen im Wohnungsbau und Demokratisierung des Erziehungswesens in egalitärem Verständnis. Dem Staat wurde die Aufgabe der Investitionskontrolle zugewiesen, und die allmähliche Vergesellschaftung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln sollte in Angriff genommen werden. Keynesianisch war die Grundannahme, dass ausreichend dimensionierte Sozialleistungen die Kaufkraft gerade dann stabilisieren würden, wenn die Menschen ohne Arbeit waren, weshalb der Sozialpolitik große konjunkturpolitische Bedeutung zukomme.²³ Als 1945 eine Labour-Regierung unter Premierminister Clement Attlee ins Amt kam, setzte diese die Empfehlungen des Beveridge-Reports um, indem sie Verstaatlichungen in den Schlüsselsektoren Bergbau, Stahlindustrie, Schiffs- und Flugzeugbau, Eisenbahnen und Elektrizitätsversorgung einleitete und den Wohnungsbau und das Erziehungswesen unter staatlichen Einfluss stellte. Entscheidend jedoch war die Sozialversicherung, die in der Klassengesellschaft Großbritanniens unter den Anspannungen der Kriegsnation einen Anspruch für jedermann auf Teilhabe an staatlich gewährleisteter sozialer Sicherheit vorsehen sollte. Doch der sozialistische Impuls verlor bald an Durchschlagskraft. 1951 kamen die Konservativen unter Winston Churchill wieder an die Regierung. Bereits im Vorfeld hatten sie zwar den Wohlfahrtsstaat anerkannt und folgten im beginnenden Wirtschaftsaufschwung der frühen 1950er Jahre dem eingeschlagenen Pfad. Doch setzten sie dem Trend zur Egalisierung der Gesellschaft Widerstand entgegen. Durchaus im Einvernehmen mit der Arbeiterbewegung entwickelte sich so die Revision einer zentralen Grundannahme des Beveridge-Reports. Dessen egalisierender Ansatz und die später daran gebundene Idee eines staatlich gewährleisteten Grundeinkommens hob den Unterschied zwischen Arbeitslosigkeit und Armut auf. Das sollte so nicht gelten. Es blieb schließlich dabei, dass Ansprüche an den Sozialstaat durch Arbeit begründet sein mussten; der erste Anspruch des Bürgers war sein Anspruch, Arbeit zu haben. Armut hingegen konnte vom Arbeitnehmerdasein gänzlich unabhängig sein; sie wurde weiterhin über die Sozialhilfe gemildert. In der Sozialversicherung wurde der Grundsatz einheitlicher Zahlungen ersetzt durch gestaffelte Beiträge, die an das persönliche Einkommen gebunden waren und gestaffelte Versicherungsleistungen ermöglichten. So überdauerten nur jene Grundannahmen des Beveridge-Plans die ersten Nachkriegsjahre, die im Kalten Krieg und beginnenden Nachkriegsboom mit der transnationalen Ordnung von Wohlfahrtsstaatlichkeit vereinbar waren.²⁴  José Harris, Einige Aspekte der britischen Sozialpolitik während des Zweiten Weltkriegs, in: Mommsen/Mock, Wohlfahrtsstaat, S. 255 – 270; Ritter, Sozialstaat, S. 145 – 149.  Jürgen C. Heß, Die Sozialpolitik der Regierung Attlee, in: Mommsen/Mock, Wohlfahrtsstaat, S. 306 – 324; Metz, Soziale Sicherheit, S. 98 – 117.

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Die Idee der klassenlosen Gesellschaft verschwand. Die Kategorie der individuellen Selbstbestimmung kam zur Geltung, indem die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der marktwirtschaftlichen Ordnung mit den unterschiedlichen Einkommensgruppen auch in der Sozialversicherung unterschiedliche Lohnansprüche nach sich zog. Nachdem die egalitären, scheinbar sozialistischen Ordnungsideen eliminiert waren, wurde der Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie im Wiederaufbau sichtbar. Jedwede Individualität in der Marktgesellschaft blieb aber eingebunden in den Rahmen des gesellschaftspolitischen liberalen Konsenses, der mit den amerikanischen Einflüssen nach Westeuropa kam und in der Verkopplung des New Deal-Liberalismus mit keynesianischer Wirtschafts- und Finanzpolitik angelegt war. Die neue Festigung der Marktwirtschaft und der demokratischen Ordnung der Gesellschaft gewann seit 1947/48 an Plausibilität aus dem Systemgegensatz zum Kommunismus im entstehenden Ostblock. Sie schuf Sicherheit. Auch deshalb hatten die egalitären oder sozialistischen Neuordnungsvorstellungen in Westeuropa keine Chance. Das galt für Großbritannien ebenso wie für die Länder auf dem Kontinent, in denen die teils sozialistischen, teils kommunistischen Impulse in den vom Krieg verwüsteten Gesellschaften des Jahres 1945/46 aus dem Antifaschismus motiviert waren.²⁵ In Deutschland versuchten die Alliierten im Kontrollrat, ein dem BeveridgePlan ähnliches System der Einheitsversicherung einzuführen. In der Bevölkerung waren Erwartungen auf eine Vergesellschaftung von Grundstoffindustrien regional verbreitet. Die Überzeugung vom axiomatischen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus ließ den Wiederaufbau nach sozialistischen Prinzipien geradezu zwingend erscheinen. Doch aus all dem ist nichts geworden. Die Sozialversicherung blieb in der gegliederten Form erhalten, autonome Krankenkassen und die für Arbeiter und Angestellte getrennt konzipierte Rentenversicherung kennzeichnete weiterhin das deutsche System. Nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR wurde im Osten die Sozialpolitik im egalitären Sinne umgestaltet, während im Westen die Grundsätze der Sozialverfassung aus den zwanziger Jahren ausgestaltet wurden. Den Höhepunkt der national eigenständigen sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik bildete 1957 die Rentenreform, die auf einen Schlag die Altersarmut der Rentner beseitigte und, gekoppelt an die Entwicklung der Löhne, die Höhe der Altersrente „dynamisierte“. Die neue Rentengesetzgebung trug ganz entscheidend zur Ausgestaltung des

 Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941– 1955. München 2000, S. 156 – 179; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009, S. 9 – 18.

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Wohlfahrtsstaats und zur Entstehung der Wohlfahrtsgesellschaft als Konsumgesellschaft bei.²⁶ Wie in Großbritannien und der Bundesrepublik, so war auch in Frankreich, Belgien und den Niederlanden die nationale Eigenentwicklung kein Ausdruck völliger Autonomie in sozialökonomischer Hinsicht, sondern komplementär eingebunden in die internationalen Rahmenbedingungen. Die Auswirkungen des Marshall-Plans im Europäischen Wiederaufbauprogramm seit 1948, die Gründung der Montan-Union 1950/51 und die allmähliche Ausbreitung des makroökonomischen Ordnungsdenkens mit den Kategorien Vollbeschäftigung und Nachfragesteuerung bis 1960/65 banden die Länder in der Periode des Nachkriegsbooms immer enger zusammen.²⁷

8. Konsensliberalismus und Soziale Demokratie Dem Marshall-Plan und der amerikanischen Wiederaufbaupolitik in Westeuropa eigneten moralische Antriebskräfte, die mit der politischen Ökonomie direkt verwoben waren. Die Einflüsse aus dem New Deal-Liberalismus sorgten in ihrer Verbindung mit dem Keynesianismus dafür, dass hier Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zusammengedacht wurden. Um eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen, waren die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die Demokratie – George Marshall hatte von „freien Institutionen“ gesprochen – bestehen konnte. Zweifellos stellte der Marshall-Plan ein hegemoniales Konzept der Amerikaner dar, um in Westeuropa einen homogenen Wirtschaftsraum entstehen zu lassen, dessen innere Ordnung mit der des eigenen Landes ausreichend verwandt sein musste, um für die USA optimale Wirtschaftsbeziehungen zu ermöglichen. Zugleich aber war der Marshall-Plan ein politökonomisches Programm mit dem Ziel, die Fehler aus den Jahren 1918 bis 1920 nicht zu wiederholen. Dazu gehörte die Regelung des Waren- und Währungskreislaufs, aber auch die Einflussnahme auf den Umgang von Siegern und Besiegten in Europa untereinander. Dementsprechend verlangte die amerikani-

 Hans Günter Hockerts, Das Gewicht der Tradition. Die deutsche Nachkriegssozialpolitik und der Beveridge-Plan, in: Hockerts, Hans Günter, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945. Göttingen 2011, S. 43 – 70; Hans Günter Hockerts, Wie die Rente steigen lernte. Die Rentenreform 1957, in: ibid., S. 71– 85; Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957. Stuttgart 1980.  Metz, Soziale Sicherheit, S. 117– 127 (zu Frankreich); Ritter, Sozialstaat, S. 145 – 179; Hartmut Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945 – 1989. München 2011, S. 23 – 175.

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sche Regierung von den Teilnehmern am Wiederaufbauprogramm nicht nur, dass sie sich gemeinschaftlich über die Verteilung der Mittel einigten, sondern auch, dass sie in ihren Ländern das politische System und die Wirtschaftsverfassung nach denselben Prinzipien gestalteten: Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft hatten einen unhintergehbaren Zusammenhang zu bilden.²⁸ Indem nun die Praxis der Demokratie überall dort, wo sie die Weltwirtschaftskrise und den Angriff des Nationalsozialismus überlebt hatte, vom Vorrang des Gesellschaftsdenkens, des liberalen Konsenses bis hin zum egalitären freiheitlichen Sozialismus, vor dem homo oeconomicus geprägt worden war, eignete dem Demokratiekonzept der vom Marshall-Plan geförderten Wiederaufbaupolitik eine soziale Komponente von internationaler Geltung. Im nordatlantischen Wirtschaftsraum passten die europäischen, anfangs sozialistisch durchsäuerten, Vorstellungen vom Wiederaufbau mit dem ursprünglich linken, später linksliberalen Impuls des New Deal gut zusammen. Dennoch war das amerikanische Ordnungsmodell, welches in den 1940er Jahren entstand und 1947 nach Europa transferiert wurde, im Unterschied zu den europäischen Angeboten, von Anbeginn an liberal. Die Eigenart dieses Liberalismus war sein konsensualer, auf gesellschaftlichen Ausgleich gerichteter Zuschnitt. In diesem Liberalismus hatte der Konsens der Individuen und der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den Vorrang vor dem Anspruch auf die Priorität des Ich und die Marktfreiheit des Individuums ohne soziale Rückbindung. Dieser Konsens ließ sich nach innen vertreten, solange es ein entgegengesetztes Außen gab. Der Ost-West-Konflikt bot in Gestalt des kommunistischen Gegners die Chance der Polarisierung, die beide Seiten nutzten. So entstanden das Modell und die Praxis eines Sozialliberalismus in Gestalt der Sozialen Demokratie aus den vielfach verwobenen politischen, wirtschaftlichen und ideellen Entwicklungen der ersten Jahrhunderthälfte nunmehr in den Jahren von 1948 bis 1955. Das war die Inkubationsphase. Es sollte ein Jahrzehnt vergehen, in dem die europäische Demokratie überwiegend von konservativen Kabinetten gelenkt wurde, bevor der „liberale Konsens“ in seiner Verbindung mit dem Keynesianismus das Handeln der Europäer beherrschte. Die langen sechziger Jahre, die von etwa 1957/58 bis 1973/75 dauerten, wurden zur Kernzeit des Ordnungsmodells der Sozialen Demokratie in Westeuropa. Soziale Reformpolitik diente in diesen gut fünfzehn Jahren dazu, der seit 1950 entstandenen Wohlfahrtsgesellschaft in möglichst hohem Maß die Teilhabe am Wohl Hogan, Marshall Plan; Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939 – 1957. 2. Aufl. Göttingen 1991; Wilfried Loth, The Cold War and the social and economic history of the twentieth century, in: Leffler, Melvyn P./Westad, Odd Arne (Hrsg.), The Cambridge History of the Cold War. Bd. 2. Cambridge, MA 2010, S. 503 – 523; Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945 – 1990. München 2004, S. 38 ff., S. 149 – 160.

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stand zu ermöglichen.Wohlfahrt und Wohlstand flossen ineinander und brachten die Konsumgesellschaft des Nachkriegsbooms hervor, deren Sorglosigkeit und Unbeschwertheit zu den Kennzeichen dieser Zeit gehörten. Denn der Internationalismus, der im Ordnungsmodell der Sozialen Demokratie angelegt ist, konnte sich seit 1962/65 in der Zeit der Entspannungspolitik dergestalt bemerkbar machen, dass zwar der kommunistische Gegner weiterhin existierte, aber seiner Bedrohlichkeit beraubt zu sein schien. So lässt sich die These formulieren, dass das Ordnungsmodell der Sozialen Demokratie den Zenit erreichte, als Sozialliberalismus und Entspannungspolitik national, transnational und international politikbestimmend waren – eine kurze Zeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in ihrer Bedeutsamkeit jedoch auch ein markantes Ergebnis der Krisen und Kriege seit 1900.

9. Soziale Demokratie und Internationale Geschichte Fragen wir abschließend nach dem Ertrag, den unser Ansatz zur Klassifikation der Dimensionen von internationaler Geschichte leisten kann. Das Ordnungsmodell „Soziale Demokratie“ prägte die Entwicklung der meisten Länder im europäischatlantischen Wirtschaftsraum. Die Sowjetunion repräsentierte ein Gegenmodell zur Sozialreform in den kapitalistischen Gesellschaften und brachte dieses nach 1945 in allen Staaten des Ostblocks zur Geltung. Die Demokratie grenzt unseren Blick auf die Staaten außerhalb des bolschewistischen Einflusses ein, konfrontiert uns jedoch in den Jahrzehnten von 1922/33 bis 1945 mit dem kapitalistischen Korporativismus der faschistischen Regime. Dennoch, ja gerade deshalb lässt sich die durchgreifende Gestaltungskraft von Sozialreform mit dem Ziel der Sozialen Demokratie nur dann angemessen erfassen, wenn man die transnationale Dynamik beachtet. Die Soziale Demokratie stellt die ordnungspolitische Grundlage des „Westens“ dar, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zu entwickeln begann und nach dem Zweiten Weltkrieg zur Entfaltung gelangte. Entstehung und Wirkung des Marshall-Plans spielen darin eine zentrale Rolle.²⁹ Man wird dessen Bedeutung nicht gerecht, wenn man ihn allein als Instrument der amerikanischen Außenund Außenwirtschaftspolitik betrachtet. Vielmehr gilt es, seine Verkopplung mit dem Ordnungsmodell der Sozialen Demokratie zu beachten, und aus dieser Perspektive tritt die länder- und staatenübergreifende Verflechtung von Internationaler Politik, Sozialpolitik und gesellschaftlicher Entwicklung ins Bild. Als Ralf

 Loth, The Cold War, S. 510 – 513.

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Dahrendorf 1983 vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ sprach, um die Veränderungen im Industriesystem „nach dem Boom“ zu beschreiben, konnte er das nur als Hypothese formulieren.³⁰ Forschungen zur gegenwartsnahen Zeitgeschichte werden dieses Problem erschließen.

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 Ralf Dahrendorf, Am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts, in: Dahrendorf, Ralf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus. Stuttgart 1983, S. 16 – 24; vgl. DoeringManteuffel/Raphael, Nach dem Boom.

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Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative Das 20. Jahrhundert ist uns noch nah. Wir meinen die Geschichte zu kennen. Die letzten Jahre oder Jahrzehnte haben wir selbst erlebt und urteilen darüber aus der persönlichen Erinnerung. Die Zeit vor unserer Erinnerung ist uns von anderen vermittelt worden, oder wir haben sie selbst erforscht. Die Ergebnisse der Forschung betrachten wir als empirisch gesichertes historisches Wissen. Solches Wissen setzt sich fest. Am Ende ist dann oftmals die Überzeugung entstanden: „So war das.“ So und nicht anders. Auf diese Weise wird das eigentliche Problem nahezu unsichtbar, das für kritische Erkenntnis grundlegende Bedeutung hat. Es ist die Frage: Was an der Behauptung „So war das“ bezeichnet die Historie selbst, und was daran ist der Beitrag der Historiker? Dieses Problem, das Zusammenspiel von historischem Prozess und historischer Erklärung, soll hier untersucht werden. Es geht nicht darum, die Tendenzen in der Geschichtsschreibung nach 1945 ein weiteres Mal zu resümieren – das ist oft genug getan worden.¹ Vielmehr geht es um die Frage, auf welche Weise das politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Geschehen früherer Jahrzehnte in der Urteilsbildung der Historiker seinen Niederschlag gefunden hat. Ihre Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen führen Historiker immer zugleich als Zeitgenossen. Der Aktualitätsbezug macht den Reiz zeithistorischer Debatten aus, aber er macht diese Debatten auch flüchtig. Oft genug erweist sich die Einsicht „So war das“ schon nach wenigen Jahren als nicht mehr zutreffend. Das Augenmerk gilt drei Phasen der Zeitgeschichte nach 1945, die aus der deutschen, überwiegend westdeutschen, Perspektive in ihren nationalen, europäischen und am Ende globalen Bezügen betrachtet werden. Am Anfang stand der Primat des Staats für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, mithin auch für die Historiker. Am Ende steht der Primat der globalen Ökonomie als Herausforderung

 Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989; Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29 – 30, 1993, S. 3 – 19; Anselm Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41, 1993, S. 1– 29; Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51, 2003, S. 5 – 28; Klaus Große Kracht, Zwischen Abgrenzung und Tradition. Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Große Kracht, Klaus (Hrsg.), Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. Göttingen 2005, S. 23 – 45; Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003. https://doi.org/10.1515/9783110633870-005

Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative

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an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, mithin auch an die Historiker. Drei Themenfelder in diesem Spannungsbogen lassen sich deutlich herausarbeiten, die als Narrative klassifiziert werden können.² Das ist zuerst das klassische nationalstaatliche Narrativ, das den Zeitgeist der fünfziger und sechziger Jahre prägte. Es ist sodann, zweitens, ein europäisch geweitetes, gleichwohl an die Nationsidee gebundenes Narrativ, das die Frage nach regionaler und nationaler Identität in Europa zur Sprache brachte. Und das ist, drittens, das zeitgenössische Narrativ der Globalisierung, in dem digitale Vernetzung, durchgreifende Ökonomisierung der Staaten- und Gesellschaftswelt und die Transformation staatlicher Souveränität von besonderer Bedeutung sind. Diese Themenfelder sind für sich genommen unspektakulär. Sie werden hier mit dem Blick auf die deutsche Geschichte so dargestellt, dass die nationale Perspektive, wo immer nötig, in die europäisch-atlantische Sichtachse eingepasst werden kann. Auf diese Weise lässt sich umso klarer erkennen, wann und wie tiefgreifend sich die Interpretation der Nationalhistorie innerhalb weniger Jahre gewandelt hat. Zu fragen ist daher: Welches waren die historischen Prozesse seit 1945, die die Nationalgeschichte transformiert haben und wie geht die zeithistorische Forschung mit solchen Transformationsdynamiken um? Bei genauerem Hinsehen liegt doch einiges Erklärungspotential in diesen scheinbar unspektakulären Themenfeldern. Im deutschen 20. Jahrhundert dominieren die beiden Weltkriege. Daher kommt die Zeithistorie nicht umhin, das gesamte Jahrhundert als ihren Gegenstand zu betrachten. Die Geschichte der Weltkriege, die Geschichte von Verantwortung, individueller Schuld und kollektiver Haftung berührt noch immer unsere Gegenwart. Die durchlaufende dunkle Linie darin beschreibt die Entstehung, den Verlauf und die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft. Es mag sein, dass dies aus der Perspektive der Zeitgeschichte des frühen 21. Jahrhunderts von einer jüngeren Generation in unserem Fach anders gesehen werden wird. Für meine Altersgruppe gilt unbestritten, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts ohne das immer erneute Nachdenken über den Nationalsozialismus nicht begriffen werden kann. Das verbindet die durchaus unterschiedlichen zeithistorischen Narrative mal mehr, mal weniger deutlich miteinander.

 Der Begriff „Narrativ“ bezeichnet ein Textschema, das für die Ordnung von Erfahrung und Wissen grundlegend ist. Darin wird ein Zusammenhang von Geschehen und Handlung in eine nach Relevanzgesichtspunkten geordnete und unter einer temporalen Anschauungsform stehende „Geschichte“ überführt. Vgl. Karlheinz Stierle, Art. „Narrativ, Narrativität“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Basel 1984, S. 398 – 401.

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I. Die Ordnung der Zeitgeschichte

1. Der Primat des Staates in nationalhistorischer Tradition Welches waren die historischen Basisprozesse, die dem ersten Narrativ – dem an Politik, Staat, Nationalstaat orientierten Narrativ – zugrunde lagen? Die Bundesrepublik Deutschland beanspruchte sogleich nach ihrer Gründung, in der Kontinuität des Deutschen Reichs zu stehen. Mit dieser „Fortbestandsthese“ sollte der Anspruch gesichert werden, dass es allein der westdeutsche Teilstaat sein würde, der gegenüber den Besatzungsmächten und in der internationalen Politik für Gesamtdeutschland sprach. Dieser Anspruch wurde bereits 1952 und 1953 materiell abgesichert, indem Bonn im Luxemburger Abkommen mit Israel die Verpflichtung zur Restitution jüdischer Vermögenswerte, die sogenannte Wiedergutmachung, übernahm und im Londoner Schuldenabkommen für die deutschen Auslandsschulden seit den 1920er Jahren eintrat. Im Falle einer Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 oder einer staatlichen Einheit im Rahmen der vier Besatzungszonen würde im wiedervereinigten Deutschland dann allein die Ordnung der Bundesrepublik gelten: parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft.³ 1950 begann der Aufbau des westdeutschen Gemeinwesens sowohl institutionell als auch mental als Wiederherstellung von Zerstörtem, ein Prozess, der sich erst langsam mit ersten Erscheinungsformen von Neuaufbau und Neuorientierung verband. Das Neue der Nachkriegszeit war die mit Entschiedenheit vollzogene Politik staatlicher, wirtschaftlicher und militärischer Westintegration. Seit 1953/55 wuchs die Einbindung ins westliche Bündnis – in die Montanunion und die NATO – mit dem beginnenden Wirtschaftsaufschwung, dem alsbald so genannten Wirtschaftswunder, zusammen. Im Übergang zu den sechziger Jahren war die Nachkriegsordnung soweit stabilisiert, dass die parlamentarische Opposition einen Kurswechsel vollzog. Die SPD passte sich in die neue Ordnung ein. Bis dahin hatten die westdeutschen Sozialdemokraten an ihrer reichsdeutsch geprägten, nationalen Orientierung festgehalten und die Marktwirtschaft mit ih-

 Bernhard Diestelkamp, Historische Betrachtungen zur Entstehung und Durchsetzung der Theorie vom Fortbestand des Deutschen Reiches als Staat nach 1945, in: Diestelkamp, Bernd (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Baden-Baden 2001, S. 25 – 66; Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2005, S. 125 – 217; Dan Diner, Art. „Restitution“, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 5. Stuttgart u. a. 2014, S. 202– 209. Die atmosphärisch dichteste Beschreibung der Verhandlungen über das Luxemburger Abkommen gibt Dan Diner, Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage. München 2015, S. 11– 33; Ursula RombeckJaschinski, Das Londoner Schuldenabkommen. Die Regelung der deutschen Auslandsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg. München 2005.

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ren Vorstellungen von Sozialisierung bekämpft. Im Godesberger Programm von 1959 erkannte die SPD sowohl die bündnispolitische Integration der Bundesrepublik in den amerikanisch dominierten Westen als auch die marktwirtschaftliche Ordnung an. 1961 erfolgte der Mauerbau in Berlin. Erwartungen auf eine gesamtdeutsche Lösung der deutschen Frage erloschen jetzt. Die beiden Staaten bildeten verstärkt ihr je eigenständiges Profil aus. In der DDR wurde der Ausbau des Sozialismus nicht nur als ökonomisches, sondern auch als sozialkulturelles Projekt mit viel Energie und anfänglichem Enthusiasmus vorangetrieben. Die sechziger Jahre waren im Osten wie im Westen eine Zeit des Fortschrittsoptimismus. Mit der Wirtschaft ging es aufwärts, in allen Industrierevieren Europas rauchten die Schlote. Im Westen bewirkte der Aufbruch in der Jugendkultur eine breit in die Gesellschaft wirkende Emanzipation von tradierten Verhaltensmustern. In der internationalen Politik kämpften die Supermächte seit der gefährlichen Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62 um Suprematie im Ost-West-Konflikt. Als die Amerikaner mit dem Flug zum Mond das Ringen in der Raketentechnik, die für die Strategie der atomaren Bedrohung entscheidend war, im Sommer 1969 für sich entschieden hatten, konnte Entspannung an die Stelle des Kalten Krieges treten.⁴ Kurzum, der Weg von den frühen 1950er Jahren bis 1969/70 war weit. Dementsprechend bemerkenswert nimmt sich der Wandel des ersten zeithistorischen Narrativs aus. Indem sich die Bundesrepublik in die Kontinuität des Deutschen Reichs stellte, konnte das reichsdeutsche Bewusstsein weiterleben. Das betraf keineswegs nur die Geschichte der Weimarer Republik, die als Kontrastfolie der Bonner Republik das erste, früheste zeithistorische Forschungsthema bildete,⁵ sondern es betraf die Geschichte des Bismarck-Reichs von 1871 bis 1918, die Geschichte des kleindeutsch-borussischen Nationalstaats.⁶ Zeitgenössischen His-

 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin 2010; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009.  Den Anfang machte Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Villingen 1955; zur Kritik an Brachers Thesen durch Werner Conze siehe Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001, S. 108 ff.  Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945. Köln u. a. 1971; Hans Hallmann (Hrsg.), Die Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945 – 1955. Darmstadt 1972; Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945 – 1960. Göttingen 1999, S. 62– 88; Eckart Conze, Vom allmählichen Verschwinden eines Problems. Bismarck-Rezeption

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torikern, Journalisten und Buchautoren ging es darum, die Entwicklung des Kaiserreichs zu würdigen. Es ging ihnen darum, den Weg in den Ersten Weltkrieg aus dem Fehlverhalten aller Regierungen der europäischen Großmächte zu erklären. Diese Sichtweise ist 2013 erneut zur Diskussion gestellt worden – allerdings unter ganz anderen fachlichen und politischen Vorzeichen.⁷ Die Besonderheit in der jungen Bunderepublik bestand darin, dass hier das schwarz-weißrote Geschichtsbild aus den 1920er Jahren reaktiviert und in die politische Wirklichkeit des schwarz-rot-goldenen Gemeinwesens hineinmontiert wurde. So erhielt der mit der Fortbestandsthese unterlegte gesamtdeutsche Anspruch der Bundesrepublik sein reichsdeutsches Geschichtsbild. Bismarck durfte weiterhin als genialer Vollender der nationalen Einheit gesehen werden und Preußen eher als Kulturstaat denn als Macht- und Militärstaat. Der Nutzen lag in der positiven Sicht auf die Entwicklung seit der Reichsgründung, und der Erste Weltkrieg erschien darin als unverschuldetes Unglück. Dieses Geschichtsbild war fundamental unhistorisch. Es verschwieg die Kosten der Reichsgründung und es ignorierte den historischen Ort der NS-Diktatur im nationalen Kontinuum der Deutschen. Österreich kam darin gar nicht vor, genauso wenig wie die Geschichte des Deutschen Bundes, über den Deutschlands Verfasstheit von 1815 bis 1866 mit dem europäischen Völkerrecht des Wiener Kongresses, mit Europa, fest verbunden war. Stattdessen wurde das politische System der kryptoabsolutistischen Hohenzollernmonarchie schöngeredet, zum einen unter Verweis auf Bismarcks diplomatische Staatskunst in der Reichsgründungszeit und zum andern unter Verweis auf die kulturelle Leistungskraft der wilhelminischen Bürgergesellschaft. Thomas Nipperdey hat diesen Sachverhalt in den achtziger Jahren pointiert herausgestrichen. „Österreich schied aus Deutschland aus“, resümierte er die Ereignisse des Jahres 1866, „die deutschen Österreicher verließen den nationalen Verband der Deutschen. […] Das war die erste moderne Teilung der Nation. Freilich und paradox genug, war es zugleich die Etablierung einer deutschen Nation. […] Der Österreicher und Deutsche Adolf Hitler ist eine späte Geburt jener Teilung von 1866, die in ihm nach mehr als einem halben Jahrhundert ihren unheilvollen Schatten auf die Geschichte der Deutschen, der Europäer, der Menschheit geworfen hat. So leicht entlässt uns eine so große geschichtliche Entscheidung, eine so tragische Wende nicht.“⁸ Mit dem Verweis auf den Zusammenhang zwischen Reichsgründung und Hitler-Diktatur und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 27, 2015, S. 131– 148.  Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013.  Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 791.

Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative

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spielte Nipperdey auf die Diskussion seit den 1960er Jahren über den „deutschen Sonderweg“ in die Moderne an.⁹ Im nationalhistorischen Denken der frühen Nachkriegsjahre hatte man diesen Zusammenhang nicht gesehen, nicht sehen wollen. Damals wurde die Weimarer Republik als Versuch zur politischen Neuordnung in der Tradition von 1848 verstanden, der eingebettet war in die Geschichte des deutschen Nationalstaats von 1866/71 und an den es seit 1949 wieder anzuknüpfen galt. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus hingegen markierte im schwarz-weiß-roten Geschichtsbild der jungen Bundesrepublik ein tragisches Missgeschick, das den Deutschen widerfahren, nicht aber von ihnen herbeigeführt worden sei. Das Dritte Reich wurde überdies – wie Martin Broszat es formuliert hat – im Strom der Geschichte „verinselt“. Diese Insel lag fern von der Gegenwart, fernab im Fluss der Zeit und war vom Schleier des Vergessens überzogen. So konnte die NS-Diktatur als unschöne Abweichung aus der insgesamt positiven Geschichte des Deutschen Reichs ausgegrenzt werden.¹⁰ Je weiter nun in den fünfziger Jahren die Westintegration und der Wirtschaftsaufschwung vorankamen und je mehr die ideelle Westorientierung einflussreicher intellektueller Eliten über die Medien zur Entstehung eines atlantisch-liberalen Meinungsklimas beitrugen, desto fremder wirkte das schwarzweiß-rote Geschichtsbild. Im Westernisierungsdiskurs dieser Zeit finden wir nicht nur die Akzeptanz der Westintegration durch die SPD in der Godesberger Programmreform von 1959 – mithin die Abkehr der SPD von ihrem sozialistischen Profil aus der Reichstradition –, sondern auch die Fischer-Kontroverse von 1961 über Deutschlands Schuldanteil am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer schrieb den Eliten des Kaiserreichs die maßgebliche Verantwortung für die Anbahnung des Weltkriegs zu. Darüber geriet die Bedeutung der deutschen Kriegspolitik 1914– 18 als Vorbedingung des Nationalsozialismus ins Blickfeld. Eine Kontinuitätslinie vom Kaiserreich ins

 Thomas Nipperdey, 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Nipperdey, Thomas (Hrsg.), Nachdenken über die deutsche Geschichte. München 1986, S. 186 – 205; Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980; Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte) München u. a. 1982.  Martin Broszat, Eine Insel in der Geschichte? Der Historiker in der Spannung zwischen Verstehen und Bewerten der Hitler-Zeit (1983), in: Broszat, Martin, Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. München 1988, S. 208 – 216, hier S. 215; Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München 2005; vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990. Darmstadt 1999, S. 39 – 49.

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I. Die Ordnung der Zeitgeschichte

Dritte Reich wurde sichtbar, und das schwarz-weiß-rote Geschichtsbild bekam seine braunen Flecken.¹¹ Godesberg und die Fischer-Kontroverse markieren die bundesdeutschen Anfänge des „sozialdemokratischen Jahrzehnts“¹², das von den mittleren 1960er Jahren bis 1975/80 reichte und von einem westeuropäisch-atlantisch geprägten linksliberalen Meinungsklima durchformt wurde. Der Aufstieg der SPD in die Regierungsverantwortung 1966/69 verlief parallel zum Wandel in der Geschichtswissenschaft und wirkte auf diesen zurück. Entstehung, Ausbreitung und Durchbruch der Sozialgeschichte gehören in diese Zeit. Die Geschichte des Kaiserreichs wurde zunehmend kritisch betrachtet. Die „Modernisierung“ der Industriegesellschaften im Nachkriegsboom war das Mantra der Zeit, europaweit, in Großbritannien und den USA. Der Wandel in der Geschichtswissenschaft hin zur sozialwissenschaftlich orientierten Gesellschaftsgeschichte bildete eine Funktion dieses Geschehens. In der historischen Interpretation der Entwicklung vom Kaiserreich zum Dritten Reich erhielt die NS-Diktatur ihren Platz als gewalttätige Reaktion eines extremen Antimodernismus.¹³ Wo blieb die DDR? Nach dem Mauerbau wurden die 1960er Jahre zu dem Jahrzehnt in der Nachkriegszeit, in dem sich die beiden deutschen Staaten am weitesten voneinander entfernten. Ungeachtet des – relativ gesehen – einiger-

 Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/ Lammers, Karl Christian (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, S. 311– 341; Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003, S. 353 – 466; Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung. Darmstadt 1992, S. 110 – 119; Konrad H. Jarausch, Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse, in: Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große Kracht, Klaus (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945. München 2003, S. 20 – 40; Imanuel Geiss, Zur Fischer-Kontroverse – 40 Jahre danach, in: ibid., S. 41– 57; Klaus Große Kracht, Die Fischer-Kontroverse. Von der Fachdebatte zum Publikumsstreit, in: Große Kracht, Klaus (Hrsg.), Die zankende Zunft, S. 47– 67.  Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004, S. 1– 37.  Vgl. Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966 – 1969. Bonn 2004, S. 16 – 34; Axel Schildt, Modernisierung, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 11.02.2010, online: http://docupedia.de/zg/Modernisierung; Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24, 1998, S. 169 – 194; Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: Mommsen, Hans, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von , Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 405 – 427.

Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative

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maßen parallel verlaufenden Wirtschaftsaufschwungs standen die zunehmend westlich geprägte Gesellschaft der Bundesrepublik und die zwischen sowjetischer Hegemonie und der Tradition des deutschen Kommunismus der 1920er Jahre eingeklemmte Gesellschaft der DDR gewissermaßen Rücken an Rücken zueinander. Als in Westdeutschland am Ende des Jahrzehnts die zeithistorische Erschließung der Bonner Gründungsgeschichte begann, kam die DDR darin gar nicht vor. Es blieb dem Gesamtdeutschen Ministerium und einzelnen Journalisten vorbehalten, an die Entstehungsgeschichte des zweiten deutschen Staats und die Lebensbedingungen dort zu erinnern. Es waren Geschichten der Enttäuschung und verlorenen Hoffnung, oft genug geschrieben in der feindseligen Sprache des Kalten Krieges. Das änderte sich erst, als die Entspannungspolitik zum Durchbruch kam.¹⁴ Doch damit gerät bereits das zweite zeithistorische Narrativ ins Blickfeld.

2. Die Nationsidee und die Suche nach Identität in Deutschland und Europa Dieses zweite Narrativ stellt eine Spiegelung des sich rapide wandelnden Zeitklimas dar. Insbesondere die 1970er Jahre bildeten eine Phase ausgeprägter Ambivalenz. Entwicklungslinien der Nachkriegszeit liefen aus. Neue Entwicklungen hatten eingesetzt, ließen sich aber noch nicht klar erkennen. Einige von ihnen sind knapp anzudeuten. Um 1970 gab es die Euphorie der Entspannung in der Ost- und Deutschlandpolitik. Es gab eine Phase bildungspolitischer Expansion, die sich mit dem Aufbruchsgeist der Studentenbewegung verschränkte. Verbunden mit weitreichenden, höchst kostenträchtigen Reformen in der Sozialpolitik, kumulierten diese Trends in der Regierungszeit der Kabinette Brandt/Scheel von 1969 bis 1974. Noch schien es so, als sei das sozialliberale Programm der Modernisierung, das seit 1965 vorherrschte, zur gesellschaftlichen Norm geworden. 1975 kippte die Stimmung. Das lag zum einen an der Energiekrise, die nach dem ersten Ölpreisschock vom November 1973 einsetzte. Es lag zum zweiten

 Vgl. Christoph Kleßmann, Arbeiter im „Arbeiterstaat“ DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971). Bonn 2007, S. 9 – 40, 541– 646; Günther R. Mittler, Geschichte im Schatten der Mauer. Die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft und die deutsche Frage 1961– 1989. Paderborn u. a. 2012; Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949 – 1969. Düsseldorf 2008; Leo Kreuz, Das Kuratorium Unteilbares Deutschland. Aufbau, Programmatik, Wirkung. Opladen 1980.

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daran, dass sich die Entspannungspolitik nicht zu bewähren schien. Die kulturelle Öffnung in den Ostblockländern, die die westlichen Regierungen mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) erreichten, zog dort zunächst verstärkte Repression oder die Ausweisung von Systemkritikern nach sich: Wolf Biermann ist im deutschen Rahmen das vielleicht prominenteste Beispiel. Rüstungsaktivitäten in West und Ost wurden wieder verstärkt, die Raketenrüstung der Sowjetunion nahm sich immer bedrohlicher aus, und an der Jahreswende 1979/80 beendete der NATO-Doppelbeschluss die Ära der Entspannung. Zum dritten ist der Stimmungsumschwung darauf zurückzuführen, dass sich die Ölpreiskrise nach 1973 als Katalysator beim Niedergang der Traditionsindustrien in Westeuropa erwies: Kohle und Stahl, Textil, Schiffsbau. Die Arbeitslosenzahlen stiegen an, die Inflation nahm zu. Das Verständnis von „Fortschritt“ veränderte sich deutlich, sofern überhaupt noch davon gesprochen wurde.¹⁵ Auch an den Universitäten hatte sich die Aufbruchsstimmung aus den späten Sechzigern erledigt. Im später so genannten „roten Jahrzehnt“¹⁶ der siebziger Jahre wurde die ehedem sprudelnd lebendige Neue Linke doktrinär. Aus Konflikten zwischen Studentenbewegung und Staatsmacht ging auch der RAF-Terrorismus hervor und gipfelte 1977 im „deutschen Herbst“.¹⁷ Die Antiatombewegung gegen den Bau von Kernkraftwerken breitete sich aus und mobilisierte Hunderttausende. 1980, nach dem NATO-Doppelbeschluss, verlagerte sich das Engagement der sozialen Bewegungen auf die Friedensthematik.¹⁸ Die „Grenzen des Wachstums“, 1972 vom Club of Rome beschworen, waren jetzt in aller Munde. Seit 1983 redeten die Medien vom Waldsterben, 1986 explodierte der Reaktor von Tschernobyl. Der Soziologe Ulrich Beck gab dem Glauben an die Modernisierung den Abschied, indem er behauptete, die Moderne sei „reflexiv“ geworden.¹⁹ Mit diesem Begriff charakterisierte er die ökologischen

 Vgl. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006, S. 283 – 326; Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008; Anselm DoeringManteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3. Aufl. Göttingen 2012.  Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967– 1977. Frankfurt am Main 2002.  Vgl. Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 338 – 344; Stefan Aust, Der Baader-MeinhofKomplex. Hamburg 1997.  Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 533 – 544.  Donella Meadows/Dennis Meadows/Jørgen Randers, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Übers. von Hans-Dieter Heck. Stuttgart 1972; Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986.

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und sozialen Folgen der ungebremsten Expansion im Nachkriegsboom, die sich jetzt zu Lasten der Industriegesellschaft auswirkten. Zur selben Zeit wurde auch die Liberalisierung aus den sechziger Jahren reflexiv – sei es in der internationalen Politik, wo die Entspannung in ihr Gegenteil umschlug, sei es in der Innenpolitik, wo die sozialstaatliche Modernisierung nicht mehr bezahlbar war und die Staatsverschuldung in die Höhe ging, sei es innergesellschaftlich, wo sich die Protestkultur neu definierte und neben der alten Forderung nach Expansion und Emanzipation jetzt recht lautstark die Forderung nach ökologischer Restriktion erhob, sei es schließlich in der Jugendkultur, wo die leidenschaftliche Ansage aus dem Aufbruchsgeist der sechziger Jahre „Time is on my side“ vergessen zu sein schien und der Punk mit der Parole „No future“ kam und wo die sexuelle Befreiung mit dem Auftauchen von Aids an eine Grenze gestoßen war.²⁰ Das alles sind Entwicklungen, die mehr oder weniger sämtliche westeuropäischen Länder betrafen. Nach 1975 verdichtete sich dies zu einer Krise der Staatlichkeit, denn es schien so, als bekämen die Regierungen die vielfältigen neuen Probleme nicht in den Griff. Im Zuge solcher Delegitimierung einzelner nationaler Regierungen – man könnte auch sagen: im Zuge der Delegitimierung des nationalen Staats – gab es einen Aufschwung europäischer Regionalbewegungen, in Nordirland, in der Bretagne, in Norditalien, im Baskenland – um nur diese zu nennen.²¹ Das war eine Gesamtsituation, in der sich die Idee des Nationalstaats als Orientierungsmuster zeitgenössischer historischer Urteilsbildung abschwächte. Staat und Regierung wurde eine geringe Gestaltungskraft zugeschrieben. Da sich die Gesellschaften in Westeuropa, zumal die deutsche, in einer Krise wähnten, weil sich plötzlich so vieles zu verändern schien, tauchte die Frage nach Identität auf – Identität des Menschen in seiner Umwelt, Identität der Gesellschaft in der Gegenwart, Identität der Nation. Das historische Bewusstsein veränderte sich markant. Anstelle von Politik und Gesellschaft im Modernisierungsprozess rückten jetzt, um 1980, die einfachen Leute und ihre Sozialkultur in den Vorder Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Herbert, Ulrich (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980. Göttingen 2002, S. 7– 49; Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006; Fernando Esposito, No Future – Symptome eines Zeit-Geists im Wandel, in: Reitmayer, Morten/Schlemmer, Thomas (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom. München 2014, S. 95 – 108; Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart. München 2009, S. 245 – 402.  Repräsentativ für diese Zeiterscheinung sind Dirk Gerdes (Hrsg.), Aufstand der Provinz. Regionalismus in Westeuropa. Frankfurt am Main u. a. 1980; Jochen Blaschke (Hrsg.), Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen. Frankfurt am Main 1980.

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grund. Je mehr sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die industrielle Erwerbsgesellschaft verschoben und oft genug verschlechterten, desto mehr kam die anthropologische Dimension ins Blickfeld. Die Frage nach der Lebensgeschichte von Arbeiterfamilien in der Montanindustrie seit der Weltwirtschaftskrise bis ins Wirtschaftswunder machte Kontinuität und Wandel in den Existenzbedingungen sichtbar und brachte überdies die Geschichte des Dritten Reichs in der zeithistorischen Forschung auch dort zur Geltung, wo sich die Historiker vorrangig mit der Entwicklung nach 1945 befassten. Die langen Linien der Kontinuität nicht nur vom Kaiserreich zum Dritten Reich, sondern auch in die Nachkriegszeit hinein wurden deutlich.²² Der Blick ging aber nicht nur, lebensgeschichtlich ausgerichtet, über die Schwelle von 1945 in die Vergangenheit, sondern er ging auch über die Grenzen hinweg, je weniger der Staat betrachtet wurde, sondern stattdessen Gesellschaft und Kultur. Im deutsch-deutschen Rahmen hatte die Ostpolitik nach 1970 die DDR wieder ins Bewusstsein gehoben. Sie wurde verstärkt wahrgenommen, und der Vergleich von Bundesrepublik und DDR – der sogenannte „Systemvergleich“ – etablierte sich bis 1989 als politologisch-geschichtswissenschaftliches Arbeitsfeld. Im europäischen Rahmen wurde der „historische Vergleich“ zu einer neuen, theoriebetonten Methode ausgestaltet.²³ Die Regionalbewegungen in Europa riefen vergleichende Forschung hervor über kulturelle, nicht selten konfessionelle Eigenheiten oder Verwandtschaft zwischen Regionen, die durch nationale Grenzen zertrennt waren. Kurzfristig mochte es so scheinen, als trete ein neues Paradigma – das Paradigma eines Europas der Regionen – an die Stelle des etablierten Paradigmas der Nationalstaatlichkeit. Dieser Trend fand 1977 in der Stuttgarter Ausstellung „Die Zeit der Staufer“ einen prominenten, international beachteten Ausdruck, weil es hier darum ging, die Geschichte Württembergs in

 Die Forschungen über „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet“ wurden in anthropologischem Verständnis mit der Methode der Oral History seit 1979/80 durchgeführt und nahmen Anregungen sowohl aus der englischen Geschichtswissenschaft auf als auch aus der ähnlich konzipierten Thematik des Instituts für Zeitgeschichte über „Bayern in der NS-Zeit“. Vgl. Lutz Niethammer (Hrsg.), Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 – 1960. 3 Bde. Berlin u. a. 1983 – 1985; Paul Thompson, The Voice of the Past. Oral History. Oxford 1978; Martin Broszat (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit. 6 Bde. München 1977– 1983.  Vgl. Wolfgang Behr, Bundesrepublik Deutschland – Deutsche Demokratische Republik. Systemvergleich Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Stuttgart u. a. 1979; Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main u. a. 1996; Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a. 1999; Hartmut Kaelble/ Jürgen Schriewer (Hrsg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main u. a. 1999.

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der europäischen Geschichte zu verankern und nicht so sehr in der Geschichte Deutschlands. 1980 sekundierten die Bayern mit der Ausstellung „Wittelsbach und Bayern“. Doch dann verebbte dieser Trend so schnell, wie er entstanden war.²⁴ 1981 kam die Nation erneut ins Blickfeld, allerdings nicht der nationale Staat. Anlass war die West-Berliner Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“, und diese Ausstellung wies einen entschieden nationalen Subtext auf. Sie war Bestandteil einer geschichtspolitischen Rivalität zwischen der DDR und der Bundesrepublik und bildete eine Reaktion auf das seit den 1960er Jahren verfestigte Bewusstsein von Eigenstaatlichkeit in der DDR und in der Bundesrepublik, und sie war eine Folge der 1970/72 geschlossenen Ostverträge.²⁵ Preußen war wieder da. Lange Zeit hatte die preußische Geschichte ein Schattendasein geführt, nachdem die Alliierten 1947 den Staat Preußen als vermeintlichen Träger des deutschen Militarismus aufgelöst hatten und die Erinnerung an Preußen eigentlich nur noch im schwarz-weiß-roten Geschichtsbild von Bismarck und dem Kaiserreich anzutreffen war. Seit die Bonner Ostpolitik mit dem Warschauer Vertrag 1970 die Oder-Neiße-Gebiete faktisch als Bestandteil der Volksrepublik Polen anerkannt hatte und in den Verhandlungen mit Ost-Berlin die Eigenstaatlichkeit der DDR nicht länger in Frage stellte, geriet das historische Selbstverständnis der Deutschen in Bewegung. Die DDR suchte nach einem Fundament des sozialistischen Staats in der Geschichte, und sie reaktivierte darüber die Erinnerung an Preußens bessere Zeiten, überdies an Friedrich den Großen und Bismarck.²⁶ Die vorzeigbaren Aspekte der Geschichte sollten für die Identität der DDR vereinnahmt werden. Anderes, wie der Militarismus oder die Elitenherrschaft der Landjunker, wurde der Bundesrepublik zugeschoben. Die westdeutsche Reaktion auf die Geschichtspolitik der DDR kam geballt im Umfeld der Preußen-Ausstellung an die Öffentlichkeit. Bevor der fünfbändige Ausstellungskatalog abgeschlossen war, hatte Se-

 Reiner Haussherr (Hrsg.), Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. 4 Bde. Stuttgart 1977; Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern. 3 Bde. in sechs Teilbänden. München 1980.  Gottfried Korff (Hrsg.), Preußen – Versuch einer Bilanz. 5 Bde. Reinbek bei Hamburg 1981; vgl. Martin Greiffenhagen, Die Aktualität Preußens. Fragen an die Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1981; Anselm Doering-Manteuffel, Aspekte der deutschen Frage. Die Diskussion über Nationalstaat und Nationsverständnis im 19. Jahrhundert und in der Zeitgeschichte, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 33, 1984, S. 189 – 205.  Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie. Berlin 1980; Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer. Berlin 1985; vgl. Matthias Middell, Schwierigkeiten des Historiographievergleichs. Bemerkungen anhand der deutsch-deutschen Nachkriegskonstellation, in: Conrad, Christoph/Conrad, Sebastian (Hrsg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Göttingen 2002, S. 360 – 395.

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bastian Haffner seinen Bild-Textband „Preußen ohne Legende“ vorgelegt, und pünktlich zur Ausstellungseröffnung kam Lothar Galls Bismarck-Biographie – allesamt wurden das Bestseller.²⁷ Doch jenseits der Rivalität mit der DDR ging es noch um etwas anderes. Es ging um den Osten. Als direkte Reaktion auf die Ostverträge hatte es noch in den 1970er Jahren eine Welle von Publikationen über die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten gegeben – Dokumentationen, Berichte, Bildbände, aber auch den Roman „Heimatmuseum“ von Siegfried Lenz. Dann kamen autobiographische Geschichten aus der Feder preußischer Adliger auf den Markt, die von Pommern, dem „verschwiegenen Land“ der Jugend, oder von „märkischer Kindheit“ erzählten. Der Begriff Identität war dehnbar genug, um die tastende Suche nach Selbstverortung in der deutsch-deutschen Rivalität nach den Ostverträgen in sich aufzunehmen. Die Ostgebiete waren abgeschrieben, gewiss. Aber war es auch Mitteldeutschland, war es auch die DDR? Konnte, ja durfte es eine bloß westdeutsche Identität der Bundesrepublik geben? Durfte es so etwas geben wie eine Identität der DDR?²⁸ In das irrlichternde Vexierspiel um die deutsche Identität²⁹ waren auch die Museumsprojekte einbezogen, die Bundeskanzler Helmut Kohl nach seinem Amtsantritt 1982/83 initiierte. Einem deutschen historischen Museum, das die deutsche Geschichte von den Anfängen bis 1945 darstellen und in West-Berlin beheimatet sein sollte, wurde der Plan für ein „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ an die Seite gestellt, das in Bonn seinen Ort finden sollte.³⁰ Die DDR kam in diesen Plänen gar nicht vor, und die Geschichte des Dritten Reichs wurde wie gewohnt aus der Geschichte der Bundesrepublik herausgehalten. Es war kein Zufall, dass die Museumsprojekte nicht nur von Historikern scharf kritisiert wurden.

 Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende. Hamburg 1978; Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt am Main u. a. 1980; Korff (Hrsg.), Preußen.  Als Beispiele seien hier genannt Frank Grube/Gerhard Richter, Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947. Hamburg 1980; Martin Kornrumpf, In Bayern angekommen. Die Eingliederung der Vertriebenen. Zahlen, Daten, Namen. München 1979; Dieter Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung. Köln 1987; Christian von Krockow, Die Reise nach Pommern. Bericht aus einem verschwiegenen Land. Stuttgart 1985; Ilse von Bredow, Kartoffeln mit Stippe. Eine märkische Kindheit. Bern u. a. 1979.  Vgl. Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen. München 1983; Charles S. Maier, The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Identity. Cambridge, MA u. a. 1988; vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 303 – 325.  Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 654– 664; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982– 1990. München 2006, S. 485 – 491.

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Vor diesem Hintergrund ist auch der Historikerstreit des Jahres 1986 zu sehen. Denn hier ging es um die historische und die moralische Verantwortung der Deutschen für den Genozid an den Juden. Im Historikerstreit zeigte sich, dass die Identität der Deutschen weder mittels europäischer Regionalbezüge noch durch die Aufspaltung in zwei selbständige Staaten definiert werden konnte. Die Frage nach der Identität der Deutschen brachte auch die durchlaufende dunkle Linie des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu Bewusstsein. Daher gehörten Identitätsdebatte und Historikerstreit direkt zusammen.³¹ Am Ende des zweiten Narrativs lässt sich die Bewegungsrichtung deutlich erkennen, welche die Ausweitung des zeithistorischen Blickfelds in die europäischen Bezüge und zurück zu den nationalen Belangen bestimmt hat. Die Debatte über die Identität der Deutschen machte deutlich, dass es unabhängig davon, ob es in Deutschland zwei Staaten gab und wo deren Grenzen verliefen, unausweichlich geworden war, die Nation als Haftungs-, als Verantwortungsgemeinschaft für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu begreifen. Die Nation hatte sich vor den Staat geschoben. In diesem Wandel des Verständnisses von Staatlichkeit bildeten sich allerdings keineswegs nur deutsche Befindlichkeiten ab, sondern auch länderübergreifende Transformationen seit den 1980er Jahren, die nun bei der Betrachtung des dritten Narrativs im Vordergrund stehen werden.Was alsbald „Globalisierung“ genannt werden würde, war in Umrissen bereits zu erkennen.

3. Der Primat der globalen Ökonomie und die Transformation staatlicher Souveränität Die grundlegenden Entwicklungen setzten in der Zeit um 1975 ein. Damals hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland und einigen westeuropäischen Ländern – insbesondere in Großbritannien, Belgien und Ostfrankreich – der Niedergang der Traditionsindustrien mit ihrem hohen Anteil an ungelernten Arbeitskräften markant beschleunigt. Die Arbeitslosigkeit stieg an. Die Wirtschaftsleistung stagnierte. Die Inflation nahm zu. Das war die am Ende der 1970er Jahre sorgenvoll kommentierte „Stagflation“. Sorgenvoll deshalb, weil die  Peter Pulzer, Germany: Whose History?, in: The Times Literary Supplement, 2.10.1987, S. 1076, 1088; Richard J. Evans, In Hitler’s Shadow. West German Historians and the Attempt to Escape from the Nazi Past. New York, NY 1989; „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Hrsg. von Rudolf Augstein. München u. a. 1987.

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seit den sechziger Jahren bewährte Methode der steuernden Einflussnahme des Staates – der nationalen Regierungen – auf die Rahmenbedingungen des Wirtschaftsprozesses nicht mehr funktionierte. Die bis 1970 erfolgreiche Methode makroökonomischer Steuerung durch Fiskalpolitik erwies sich jetzt als wirkungslos. Es kann nicht verwundern, dass daraufhin die wirtschaftstheoretischen Grundannahmen dieses Handlungsprinzips in Zweifel gezogen wurden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Theorie des Keynesianismus im amerikanisch dominierten Westeuropa eine nahezu kanonische Geltung besessen, und damit war es jetzt vorbei.³² Der Keynesianismus war an bestimmte Voraussetzungen gebunden – an das Vorhandensein eines staatlichen Rahmens und an die Entscheidungshoheit der jeweiligen Regierung innerhalb dieses Rahmens. Einzelstaatliche Souveränität, eine in den Rahmen des souveränen Nationalstaats eingebundene Volkswirtschaft und das keynesianische Konzept der Globalsteuerung durch Fiskalpolitik bedingten einander. Je mehr sich nun im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit die Volkswirtschaften im nordatlantischen Wirtschaftsraum miteinander verflochten, je mehr die transnationale Vernetzung von Konzernen zur Regel wurde, desto weniger konnten diese Steuerungsinstrumente greifen. Der Keynesianismus war auf eine Strategie des Konsenses von Regierung, Unternehmerschaft und Gewerkschaften ausgerichtet – auf das Konzept des sozialen Konsenses. Sozialstaatliches Handeln und Fiskalpolitik gehörten folglich zusammen, und das bedeutete, dass der Fiskus – die Staatskasse – für die Wirtschaftspolitik des sozialen Konsenses von besonderer Bedeutung war. Das hatte die Entwicklung in den westlichen Ländern seit 1950 im Zusammenwirken mit den verschiedenen eigenstaatlichen Traditionen geprägt – im deutschen Fall war das die Soziale Marktwirtschaft – und ging jetzt zu Ende. Kritik am Keynesianismus gab es schon seit 1945. Im Zuge der Stagflationskrise seit 1975 kam diese Kritik nun zur Geltung.³³

 Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Bonn 2006, S. 507– 728; Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen 2016.  Vgl. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 223 – 288; Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung.Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982. Berlin 2007; Martin H. Geyer, Unsicherheit als Normalität, in: Geyer, Martin H. (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 6. 1974– 1982. Bundesrepublik Deutschland – Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten. Baden-Baden 2008, S. 4– 109; Martin H. Geyer, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder. Der Umgang mit Sicherheit und Unsicherheit, in: ibid., S. 111– 231; Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neo-liberal Politics. Princeton, NJ 2012.

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Die neuen Handlungsvorstellungen richteten sich darauf, die Volkswirtschaft aus der staatlichen Rahmenkompetenz herauszulösen und dem Finanzsektor, den Banken, den Vorrang zu geben vor dem Sektor der produzierenden Industrien. Dem diente die volkswirtschaftliche Theorie des Monetarismus. Das primäre Ziel lag in der Überwindung der Inflation. Bereits in den 1980er Jahren stellte sich der Erfolg ein und blieb bis zur Gegenwart wirksam. Die Inflation ging zurück und stieg nicht mehr signifikant an. Bis 1990/95 bildeten sich auf der Grundlage des Monetarismus neue Handlungsmuster eines situationsadäquaten Marktliberalismus – des Neoliberalismus – heraus. Die Steuerung ökonomischer Prozesse ging Schritt für Schritt auf den Finanzsektor über.³⁴ In dieser Anpassung der Wirtschaftsordnung an die Bedingungen des Marktes erwies sich der Staat als Vorreiter. Die Regierungen waren es, die die erforderlichen Entscheidungen trafen, um die Währungs- und Finanzpolitik aus der Obhut des Staates herauszulösen, weil sie nur so hoffen konnten, die anhaltend hohe Inflation der späten 1970er Jahre wirkungsvoll zu bekämpfen. Die Regierungen waren es, die die Finanzpolitik in die Freiheit des Marktgeschehens hineinstellten. Daraus entwickelte sich im Zuge der Globalisierung seit 1995 die sogenannte Finanzindustrie, die in den Medien mit dem Begriff „die Märkte“ bezeichnet wird und die als globaler Machtfaktor bis zur Bankenkrise von 2008 weder staatsrechtlich noch völkerrechtlich gebunden war. Unter den Augen der Regierungen entstand ein rechtsfreier Raum, in dem allein der Primat des ökonomischen Interesses eine Norm bildete. In Deutschland vollzog sich diese Entwicklung deshalb anders als in den westeuropäischen Nachbarländern und insbesondere in Großbritannien, weil hier die Folgen der Wiedervereinigung zu bewältigen waren.³⁵ Seit dem 3. Oktober 1990 bildeten sich zwei Handlungsebenen heraus, die nicht immer zusammenpassten. Einerseits musste die Integration der östlichen ‚neuen‘ Bundesländer durch staatliches Handeln politisch, rechtlich und verwaltungstechnisch vorangetrieben werden; hier war der Staat, hier waren Bundes- und Landesregierungen maßgebliche Akteure. Nicht nur die Währungseinheit, sondern auch die Einbindung der DDR-Gesellschaft in die Ordnung des westdeutschen Sozialstaats konnten nur im nationalen Rahmen geleistet werden. Das war eine scheinbar unabhängig von der staaten- und nationenübergreifenden Dynamik der Finanz-

 Niall Ferguson u. a. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge, MA u. a. 2010; Stefan Eich/Adam Tooze, The Great Inflation, in: Doering-Manteuffel/Raphael/ Schlemmer (Hrsg.),Vorgeschichte der Gegenwart, S. 173 – 196; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin 2014.  Als knapper Überblick eignet sich besonders gut die Darstellung von Andreas Rödder, Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. München 2011.

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industrie, „der Märkte“, zu bewältigende Aufgabe. Andererseits aber verlief die Wiedervereinigung nahezu vollständig nach Maßgabe des volkswirtschaftlichen Ordnungsverständnisses, das an die neoliberale Ökonomie der sich ausweitenden Globalisierung und an den Vorrang des Finanzmarkts vor dem produzierenden Gewerbe gebunden war. Darüber ging die DDR gleich in einem doppelten Sinn unter, weil nicht nur die Wirtschaftsform des Staatssozialismus verschwand, sondern auch dessen industrielles Fundament – ganz ungeachtet der Unproduktivität und maroden Infrastruktur. Die Industrie in der DDR war bis zum Ende noch überwiegend von den traditionellen Sektoren der Braunkohleförderung, Eisen- und Stahlproduktion einschließlich der Werften an der Ostseeküste sowie Chemie und Elektro aus der vordigitalen Epoche bestimmt.³⁶ Die „Abwicklung“ in Ostdeutschland betraf daher nicht nur die Kader der Staatspartei im öffentlichen Dienst. Sie betraf auch die Industriebetriebe und Kombinate, selbst wenn sie noch funktionsfähig waren. Mittels der Treuhandanstalt wurden deren Bestandteile dem freien Markt zu einem Zeitpunkt anheimgegeben, als auch die westlichen Volkswirtschaften dem tiefgreifenden Wandel durch Digitalisierung und Globalisierung im staatsfernen Steuerungssystem „der Märkte“ ausgesetzt waren. So ergab es sich, dass als Orientierungsmuster in der Zeit der Wende nicht so sehr die parlamentarisch-demokratische Staatsbürgergesellschaft im Vordergrund stand, sondern materielle Gesichtspunkte vorherrschten – Gewinnstreben und Eigennutz.³⁷ Diese deutsche Besonderheit muss mitbedacht werden, wenn man die Regierungspolitik der europäischen Länder dabei beobachtet, wie sie in eine funktionale Abhängigkeit von „den Märkten“ geriet, deren Voraussetzungen sie selbst geschaffen hatte. In dem Maß, wie staatliche Politik an die Vorgaben und Erwartungen der Finanzindustrie gebunden war, schwächte sich das öffentliche Verständnis von der Verbindlichkeit – auch der Rechtsverbindlichkeit – staatlichen Handelns ab. Im Gegenzug nahm das Gewicht der Verfassungsgerichtsbarkeit zu. In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht immer häufiger Entscheidungen zu treffen, die in einem anderen ökonomischen Umfeld traditionell zu den Aufgaben des Parlaments und der parlamentarisch kontrollierten

 Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Berlin 2007, S. 224– 257, 290 – 295.  Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. München 2006, S. 98 – 140; die „Schocktherapie“ durch Währungsunion und Privatisierung der Wirtschaft beschreibt Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München 2009, S. 300 – 317.

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Regierung gehörten.³⁸ Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich die Legitimität der Demokratie. Die Akzeptanz der politischen Parteien in den westlichen Gesellschaften nahm ab, die Wahlbeteiligung ging zurück. Kritische Analysen dieses Prozesses kommen bisher vor allem aus den Sozialwissenschaften. Einzelne Stimmen gehen so weit, von einer Zerstörung der Demokratie durch den Neoliberalismus zu sprechen, weil diese Ideologie nicht bloß die Wirtschaft, sondern sämtliches politische und gesellschaftliche Handeln dem Primat des Ökonomischen unterwerfe.³⁹ Aus der Sicht der Zeitgeschichte dürfte das etwas zu drastisch formuliert sein, denn als Zeithistoriker haben wir nicht so sehr die Gegenwart, sondern deren Vorgeschichte vor Augen.⁴⁰ Im Zeitraum von 1975/80 bis 2000/05 erkennen wir in einigen Sektoren der Traditionsindustrien und in den dazugehörigen Gruppen der Gesellschaft,⁴¹ doch alsbald auch darüber hinausgreifend, einen Wandel von revolutionärer Qualität, und wir erkennen, wie neue Ordnungsmuster in Gesellschaft und Politik neben die älteren aus der Epoche des Nachkriegsbooms traten und sie bisweilen überformten.⁴² Ob darüber die Demokratie zerstört wird oder nicht eher markant verändert, können wir heute noch nicht angemessen einschätzen. Unübersehbar allerdings ist inzwischen, dass das neoliberal inspirierte Wirtschaftsdenken nach 1990 deutliche sozialkulturelle Wirkungen erzeugt hat. Ein programmatischer Subjektivismus als Vorstellung des Vorrangs von individuellem Interesse vor sozialer Bindung begann das Handeln in der Arbeitsge-

 Vgl. Matthias Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht. Berlin 2011; Fritz W. Scharpf, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter demokratischer Selbstgestaltungsfähigkeit?, in: Stolleis, Michael (Hrsg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht. München 2011, S. 186 – 199; Michael Zürn, Ist die Karlsruher Republik demokratisch? Auswege aus der Überkonstitutionalisierung und dem methodischen Nationalismus moderner Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ibid., S. 258 – 274.  Colin Crouch, Postdemokratie. Berlin 2008; Danny Michelsen/Franz Walter, Unpolitische Demokratie. Zur Krise der Repräsentation. Berlin 2013; Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin 2013; Wendy Brown, Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution. New York, NY 2015.  Eine in diesem Sinn wegweisende Darstellung ist Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. München 2015; vgl. auch Ariane Leendertz, Das Komplexitätssyndrom. Gesellschaftliche „Komplexität“ als intellektuelle und politische Herausforderung, in: Leendertz, Ariane/Meteling, Wencke (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren. Frankfurt am Main u. a. 2016, S. 93 – 132.  Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 52– 60 mit Anm. 58.  Kritisch hierzu Werner Plumpe/André Steiner (Hrsg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 – 1990. Göttingen 2016.

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sellschaft zu prägen.⁴³ Dieser Subjektivismus sieht die Handlungsfreiheit des Einzelnen, seine Entscheidungsfähigkeit und seine Entfaltungsmöglichkeiten als vorrangigen Wert an und qualifiziert die Rückbindung an soziale Bezüge als nachrangig. Das war damals neu und galt als fortschrittlich: Die neue Subjektstruktur in der Marktgesellschaft veränderte die alten Strukturen des sozialen Konsenses aus der Zeit des Nachkriegsbooms. Am entschiedensten geschah das in der Regierungszeit der beiden sozialdemokratischen Reformkabinette in Großbritannien und Deutschland unter Premierminister Tony Blair und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Es fand seinen geradezu klassischen Ausdruck in der Werbeformel von der „Ich-AG“, mit der sich die Arbeitslosen aus der Ära des Konsenses – oftmals ungelernte Arbeitskräfte aus der Montan- oder Textilindustrie – jetzt über Nacht eigenverantwortlich zu aktiven Marktteilnehmern umschulen sollten.⁴⁴ Zu den Basisprozessen der Zeit gehörte neben dem wirtschaftsideologischen Wandel vom Konsens zum Subjektivismus auch die technische Revolution des Informationszeitalters.⁴⁵ Digitalisierung und neue Kommunikationstechnologien ermöglichten Datenaustausch in Sekundenschnelle, in „Echtzeit“, rund um den Globus. 1995 wurde das world wide web eingerichtet. Bis 1995 hatten sich auch die Handlungsformen des finanzmarktlichen Wettbewerbsprinzips und das Modell des „unternehmerischen Selbst“⁴⁶ in der Wirtschaft etabliert. Beides konnte ineinandergreifen, und das war der Durchbruch dessen, was die Zeitgenossen als „Globalisierung“ bezeichneten. In einem nur auf die Gegenwart bezogenen Verständnis beschreibt „Globalisierung“ die Überwindung von Grenzen, die Aufhebung der Zeitdimension sowie das Ringen mit dem Gegensatz zwischen kulturell sehr verschiedenen (und sich ihrer Verschiedenheit sehr bewussten) Weltregionen und deren Überformung mit einem und nur einem ökonomischen Handlungsmodell. Soweit „Globalisierung“⁴⁷ und „Neoliberalismus“⁴⁸ als ein zusammengehöriges Ordnungsprinzip

 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 9 – 34, 20 ff.; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main 2007.  Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 – 2005. München 2013, S. 138 – 213, 528 – 583, Zitat S. 530; Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 2006; Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt am Main 1999.  Manuel Castells, Das Informationszeitalter. 3 Bde. Opladen 2003/04.  Bröckling, Das unternehmerische Selbst.  Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 2003.

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verstanden wurden,⁴⁹ bestand dessen Ziel darin, eine möglichst homogen durchformte, dem wirtschaftlichen Nutzen maximal dienliche Welt zu gestalten. Da sich die technische Revolution der Digitalisierung und der ökonomische Paradigmenwechsel gegenseitig verstärkten, mochten die Zeitgenossen in den westlichen Ländern an der Jahrhundertwende glauben, dass jetzt der eine Raum der einen Welt mit nur einer Zeit, der „Echtzeit“, entstanden sei. Historisches Bewusstsein und Zukunftsdenken spielten bei der Fixierung auf die „Echtzeit“ keine Rolle und verschwanden im normativen Jetzt.⁵⁰ Dieses Geschehen betrachten wir heute bereits mit einer gewissen Distanz, die infolge der globalen Finanzmarktkrise seit 2008 möglich geworden ist.⁵¹ Wir stehen vor der Aufgabe herauszufinden, ob die „Globalisierung“ mit dem ihr inhärenten neoliberalen Wirtschaftsdenken als ein ideologisches System anzusprechen ist, das nach dem Ende des Kalten Krieges durch den Wegfall des ideologischen Gegensatzes zwischen Ost und West entstanden ist. Sollte das der Fall sein, stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wo Gegenideologien im Entstehen begriffen sind und wie sie erkannt und eingeordnet werden können. Von der Zeithistorie ist dieses Feld bisher noch nicht erschlossen worden. Auch die benachbarten Sozialwissenschaften sind von einer systematischen Durchdringung noch weit entfernt. Eines scheint allerdings erkennbar zu sein und taugt als Hypothese für künftige Forschung. Der Umschwung vom Kulturmuster des Konsenses und von der Politik des sozialen Konsenses seit den 1980er/1990er Jahren hin zu einer Sozialkultur des Subjektivismus in der Arbeitsgesellschaft mit dem Ziel der Optimierung des Individuums – als Einzelperson, als Firma, als Konzern, als Universität, ja als ganzes Land – im tagtäglichen Wettbewerb globalen Zuschnitts hat das kompensatorische Bedürfnis nach Bindung, nach Gemeinschaft und nach Transzendenz deutlich ansteigen lassen. Protestbewegungen gegen die wirtschaftsgesteuerte Globalisierung wie das internationale Netzwerk „Attac“, das die Parole formuliert „Die Welt ist keine Ware!“, oder ökologische, kirchliche und friedensbewegte Gruppen, zum Teil auch die grünen

 Jones, Masters of the Universe; Philipp Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zur Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“. Stuttgart 2008.  Eine frühe kritische Sicht formulieren Hans-Peter Martin/Harald Schumann, Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand (1996). 15. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2012.  Vgl. Daniel T. Rodgers, Age of Fracture. Cambridge, MA u. a. 2011; Fernando Esposito, Von ‚no future‘ bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom. in: DoeringManteuffel/Raphael/Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 393 – 423.  Vgl. Philip Mirowski, Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist. Berlin 2015.

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Parteien,⁵² setzen sich nicht nur für eine alternative Weltwirtschaftsordnung ein, sondern fördern Vergemeinschaftung und Gruppenbildung. Sie denken und agieren global, ebenso wie soziale Netzwerke im Internet. Sie sind also nicht unbedingt Gegner der Öffnung von Raum und Zeit im Zuge des revolutionären Wandels seit 1995. Das Bedürfnis nach Bindung, Gemeinschaft und Transzendenz als Gegenbewegung zu den Auswirkungen von Globalisierung, neoliberaler Wirtschaft und dem vorherrschenden Subjektivismus in der Arbeitswelt formt sich politisch aus, es formt sich religiös aus, es formt sich kulturell aus und sucht sich überall dort neue Wege, wo es im real existierenden politischen, kirchlichen und/oder sozialen Umfeld nicht befriedigt werden kann. Nationalistischer Fundamentalismus, christlicher Fundamentalismus im – wie es genannt wurde – globalen „Supermarkt der Religionen“⁵³, islamischer Fundamentalismus als religions- und ethnokulturelle Herausforderung der nichtislamischen Gesellschaften in Westeuropa und den USA sind Folgen des Wandels, den wir seit 1975/80 beobachten. Sie bewegen sich frei in der offenen Gesellschaft der westlichen Länder und formulieren deutliche Herausforderungen an den liberalen Rechtstaat.⁵⁴ Dieser Aspekt lenkt den Blick auf ein markantes Versäumnis der zeithistorischen Forschung während der letzten Jahrzehnte. Sowohl Konfessionssoziologie und Religionsgeschichte als auch Verfassungs- und Rechtsgeschichte haben in der historischen Urteilsbildung nur ein Schattendasein geführt – wenn überhaupt. Wir sehen beim Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart – auf die Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts –, dass man sie nicht verstehen, nicht analysieren kann, solange ausreichende Kenntnisse von den Entstehungsbedingungen fehlen. Diese liegen aber nicht nur im Wandel der Arbeitsgesellschaft, der gegenwärtig intensiv untersucht wird.⁵⁵ Sie liegen auch nicht nur in der Entwicklung der globalen Ökonomie und der Ausbreitung des Neoliberalismus,

 Silke Mende, Eine Partei nach dem Boom. Die Grünen als Spiegel und Motor ideengeschichtlicher Wandlungsprozesse seit den 1970er Jahren, in: Reitmayer/Schlemmer (Hrsg.), Anfänge, S. 23 – 36.  Friedrich Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird. München 2014.  Vgl. den Abschnitt „Ideological, Religious, and Intellectual Upheaval“, in: Ferguson u. a. (Hrsg.), The Shock of the Global, S. 279 – 350, sowie das Kapitel „Gott und die Welt“ bei Rödder, 21.0, S. 127– 141.  Vgl. Lutz Raphael, Flexible Anpassungen und prekäre Sicherheiten. Industriearbeit(er) nach dem Boom, in: Reitmayer/Schlemmer (Hrsg.), Anfänge, S. 51– 64; Doering-Manteuffel/Raphael/ Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart, T 1: Formwandel und Strukturbrüche der Arbeit, S. 35 – 170.

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auf deren Erforschung sich die Sozialwissenschaften konzentrieren.⁵⁶ Bei all dem sind die beiden Kernbereiche mit berührt, die in der europäischen Moderne von essentieller Bedeutung sind und diese Moderne maßgeblich mitgeformt haben: Recht und Religion. Die Festigung des Rechtsstaats und die Einbindung der Kirchen in die politische Verfassung beziehungsweise deren Verankerung in der gesellschaftlichen Verfasstheit prägen den historischen Prozess im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie prägen ihn oder haben ihn so sehr geprägt, dass solche Prägung als Selbstverständlichkeit gilt und im historischen Wandel leicht übergangen werden kann. Das ist falsch. Recht und Religion wirken kontinuierlich auf die Basisprozesse gesellschaftlicher Entwicklung ein. Sie spielten und spielen innerhalb des nationalen Staats, den wir am Anfang betrachtet haben, eine ebenso bedeutungsvolle Rolle wie in den nationalkulturellen Zwischenräumen, die uns beim Blick auf die Debatte um deutsche Identität nach den Ostverträgen begegnet sind, wie auch in den scheinbar globalen, gleichwohl immer noch national wirksamen, aber ideell und ideologisch weit geöffneten, teilweise rechtsfreien Räumen des Finanzmarkts unserer Gegenwart.⁵⁷ Wenn wir die Entstehungsbedingungen der Gegenwart analysieren, können diese Kernbereiche nicht ausgeblendet bleiben.Wir müssen über sie nachdenken, um zu wissen, wie wir die Zukunft gestalten sollen.

Zusammenfassung Der Aufsatz beschreibt Entwicklungslinien der deutschen Zeitgeschichte und arbeitet den Zusammenhang von historischem Prozess und historischer Erklärung heraus. Der erste Teil gilt dem Problem, dass die Bundesrepublik seit ihrer Gründung den Anspruch erhob, in der Kontinuität des Deutschen Reichs von 1871 zu stehen. Damit sollte jeder Versuch der DDR unterbunden werden, sich als eigenständiger sozialistischer Staat in Deutschland darzustellen. Dies erlaubte es den Historikern in den 1950er Jahren, das Geschichtsbild der deutschen Natio-

 Vgl. Christoph Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie. Theoretische Grundlagen, Arbeitsverhältnisse und soziale Identitäten. Weinheim u. a. 2002; Peter A. Hall/Michèle Lamont (Hrsg.): Social Resilience in the Neoliberal Era. Cambridge, MA 2013.  Perspektiven auf die Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts bietet der Aufsatzband von Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. (Industrielle Welt 73) Köln u. a. 2007; einer Geschichte von Rechtstaatlichkeit und Rechtsbewusstsein im deutschen 20. Jahrhundert kommt das Opus magnum von Michael Stolleis am nächsten: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3. 1914– 1945. Bd. 4. 1945 – 1990. München 1999, 2012.

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nalgeschichte fortzuschreiben. Es zeichnete eine positive Entwicklung von Bismarck bis in die Weimarer Republik und grenzte das Dritte Reich als „Missgeschick“ aus der nationalen Kontinuität aus. Der zweite Teil gilt den Auswirkungen der Entspannungspolitik auf die Argumentation der Zeithistoriker. Bundesrepublik und DDR verstanden sich seit 1969/70 als selbständige Staaten. Die Vorstellung des einheitlichen Nationalstaats trat hinter die Idee von nationaler Identität zurück. Die Rivalität zwischen der DDR und der Bundesrepublik um 1980 über den Ort Preußens in der deutschen Geschichte deckte auf, dass es zwei gegeneinander gerichtete Identitäten nicht geben konnte, und der Historikerstreit zeigte 1986, dass die Identität aller Deutschen mit dem Holocaust verknüpft war und blieb. Der dritte Teil gilt der Globalisierung und beschreibt den Neoliberalismus und die Digitalisierung als deren ökonomische und technische Bestandteile. Sie bewirkten einen tiefgreifenden Wandel, in dessen Verlauf auch der nationale Staat und die parlamentarische Demokratie an Bedeutung verloren. Die transnationalen Auswirkungen des Wandels lassen sich erst dann angemessen verstehen, wenn neben Politik und Wirtschaft auch der Einfluss von Religion und die Bedeutung des öffentlichen Rechts auf die Gesellschaften der Gegenwart beachtet werden.

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II. Suchbewegungen in der Moderne. Fortschrittsskepsis, Antihistorismus und die Krise des Liberalismus

Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Die Jahrzehnte von den 1890er bis zu den 1930er Jahren waren gekennzeichnet von einem so hohen und phasenweise immer noch weiter beschleunigten Tempo der Veränderung nahezu aller Lebensbereiche, wie es das seit Menschengedenken nicht gegeben hatte. Innerhalb eines Generationenschritts, innerhalb von knapp dreißig Jahren, wandelten sich die Lebensbedingungen so stark, dass für die Mehrzahl der Erwachsenen die Welt ihrer Kindheit nicht mehr aufzufinden oder nicht mehr wiederzuerkennen war. Das galt für die um 1880 Geborenen, die noch vor der Jahrhundertwende von der Hochindustrialisierung erfaßt wurden und bereits bis zum Beginn des Krieges in eine stark veränderte Welt hineingewachsen waren. Das galt umso mehr für die um 1900 Geborenen. In ihrer Lebenserfahrung verflochten sich die Auswirkungen von Industrialisierung, Krieg, Revolution und Inflation unentwirrbar. Als junge Erwachsene um 1925 hatte die Mehrzahl die Erfahrung gemacht, dass ihre Kindheit und frühe Jugend einem versunkenen Zeitalter angehörten.¹ Deutschlands Übergang in die industriegesellschaftliche Moderne verlief schneller und tiefgreifender als in jedem anderen europäischen Land.² Deshalb waren hier die Auswirkungen auch besonders heftig. Das betraf zunächst die Bevölkerungsentwicklung und die damit direkt zusammenhängende schnelle Urbanisierung und hohe Binnenmigration. Es betraf sodann die industrielle Expansion und die Entwicklung in Technik, Wissenschaften und Kultur. 1914 nahm Deutschland international die Führungsposition in der naturwissenschaftlichen Forschung und im technischen Fortschritt ein, und die kulturelle Ausstrahlung durch den herausragenden Rang der Geisteswissenschaften, der Literatur und der Kunst war beeindruckend. Vor dem Ersten Weltkrieg gingen die meisten Nobel-

 Für anregende Kritik und weiterführende Hinweise möchte ich ganz besonders danken Otto Gerhard Oexle (Göttingen), Ute Daniel (Braunschweig), Gunther Mai (Erfurt), Michael Hochgeschwender (Tübingen) und Hans Joas (Erfurt), der mir zudem die hilfreiche Gelegenheit gab, die Thesen im interdisziplinären Rahmen des Max-Weber-Kollegs zur Diskussion zu stellen.  Die historiographischen Angebote zur Interpretation der Zeit um die Jahrhundertwende als Epoche eines besonders dynamischen sozialkulturellen Umbruchs resümiert prägnant Paul Nolte, 1900. Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 1996, S. 281– 300. https://doi.org/10.1515/9783110633870-006

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preise an deutsche Wissenschaftler und Künstler.³ Das Selbstbewußtsein der deutschen Bildungsschicht im internationalen Bezug war dementsprechend hoch, ja exklusiv. Der schnelle und tiefgreifende Wandel betraf sodann die bürokratische Steuerung und Durchformung der Lebenswelten und trug schließlich zur Fundamentalpolitisierung der deutschen Gesellschaft zwischen 1890 und 1914 bei. Im Kaiserreich waren die staatlichen Institutionen und die Verwaltung indessen stabil und die wirtschaftliche Lage robust genug, um der Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Die Festigkeit des wilhelminischen Reichs stand bis zum Ende des Krieges außer Frage.⁴ Doch das Gefühl der Sicherheit im staatlichen Gehäuse vermochte die Wirkungen des dramatischen Wandels der Lebenswelt nicht zu kompensieren, der die Menschen – zumal im städtisch-industriellen Umfeld – immer häufiger zwang, sich auf neue Bedingungen des alltäglichen Lebens einzustellen und darüber vertraute Gewohnheiten preiszugeben. Ein Klima der Nervosität entstand, welches die verbreitete Irritation durch die zunehmend schnelle Abfolge von Veränderungen im scheinbar so stabilen staatlichen Rahmen reflektierte.⁵ Ausgehend von dieser schon im Vorfeld des Ersten Weltkriegs spannungsgeladenen Konstellation wird es auf den folgenden Seiten darum gehen, den Umgang der Gesellschaft, insbesondere der meinungsbildenden Kräfte in der Intelligenzschicht, mit der hohen Veränderungsdynamik in einem längeren Zeitraum zu prüfen. Der Blick geht von den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende

 Zwischen 1901 und 1914 gingen 18 von 82 Nobelpreisen nach Deutschland, gefolgt von Frankreich mit 16, Großbritannien mit 7 und den USA mit 4. Die deutschen Nobelpreise teilten sich auf in Physik (5), Chemie (5), Physiologie/Medizin (4), Literatur (4). Von den insgesamt 19 vergebenen Friedensnobelpreisen gingen nach Deutschland (0), nach Großbritannien (1), nach Frankreich (3), in die USA (2). Deutschland hielt seine insgesamt führende Position bis 1930 vor Frankreich, Großbritannien, Schweden und den USA. Die Einbeziehung des Nobelpreises in nationalstaatliches Rivalitätsdenken, welches dem Selbstverständnis mindestens der scientific community widersprach, setzte 1911 ein und wurde nach 1918 zur Norm. Vgl. Elizabeth Crawford, The Beginnings of the Nobel Institution. The Science Prizes, 1901– 1915. Cambridge 1984, S. 191 f.; Werner Martin (Hrsg.),Verzeichnis der Nobelpreisträger 1901– 1987. 2. Aufl. München 1988; Hubert Filser, Nobelpreis. Freiburg im Breisgau u. a. 2001.  Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918. Berlin 1995; Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871– 1918. Frankfurt am Main 1995.  Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 2000; vgl. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871– 1918. Frankfurt am Main 1997, S. 14, der den Titel und die Konzeption seines Werks auf die „nervöse Reizbarkeit“ der wilhelminischen Epoche bezieht und aus der Spannung zwischen Beharrung und Bewegung überzeugend begründet.

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zum Ersten Weltkrieg und in die Zwischenkriegszeit hinein; perspektivisch erfaßt er noch den Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung nach 1945. In drei Schritten werden zuerst die strukturellen Bedingungen des Wandels bis zum Ersten Weltkrieg knapp skizziert, parallel dazu, zweitens, die ideelle Entwicklung vor dem Krieg und die Bedeutung des Kulturbruchs durch den Krieg selbst, um von dieser Grundlage aus, drittens, die Meinungsbildung und Weltbilder der zwanziger und dreißiger Jahre einschätzen zu können. Abschließende Hypothesen gelten deren Weiterwirken und Überwindung in der westdeutschen Nachkriegszeit.

1. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs war in den vier Jahrzehnten von der Reichsgründung 1871 bis 1910 um fast zwei Drittel angewachsen, von 41 auf 65 Millionen Menschen.⁶ Innerhalb dieses Zeitraums lagen die Wachstumsraten zwischen 1890 und 1910 am höchsten und bewegten sich noch um 30 bis 40 Prozent über dem ohnehin hohen Mittelwert.⁷ Erst 1910 kehrte sich der Trend um, und das Bevölkerungswachstum ging langsam zurück.⁸ Es war deshalb kein Zufall, dass mit dem Beginn der 1890er Jahre die Binnenwanderung in einer Größenordnung einsetzte, wie es sie sonst nirgendwo in Europa gab. Die rasante Zunahme der Bevölkerung erzeugte den Wanderungsdruck aus den strukturschwachen agrarischen Regionen in die Industriezentren; die rasante Expansion der Montanindustrie insbesondere im Ruhrgebiet und der verarbeitenden Industrie an verschiedenen Plätzen wie Hamburg, Berlin, Sachsen und RheinRuhr erzeugte den Wanderungssog. Der schnelle Strukturwandel der Wirtschaft vom Agrarland zum Industrieland⁹ und die damit einhergehende atemverschla-

 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3. Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. München 1995, S. 494.  Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 1. Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 11.  Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsentwicklung und „moderne Welt“, in: Köllmann, Wolfgang, Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands. Göttingen 1974, S. 25 – 34.  Vgl. Hartmut Harnisch, Agrarstaat oder Industriestaat. Die Debatte um die Bedeutung der Landwirtschaft in Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Reif, Heinz (Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise, junkerliche Interessenpolitik, Modernisierungsstrategie. Berlin 1994, S. 33 – 50, insbes. 39 – 47; Kenneth D. Barkin, The Controversy over German Industrialization 1890 – 1902. Chicago, IL u. a. 1970.

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gende Urbanisierung verschränkten sich mit dem Bevölkerungswachstum und Migrationsdruck zu einem Modernisierungsprozeß von präzedenzloser Dynamik. 1907 lebten schon fast 50 Prozent der im Deutschen Reich geborenen Menschen außerhalb ihrer Geburtsgemeinde. Der Weg der Fernwanderung verlief ganz überwiegend von Ost nach West – aus Posen, Ost- und Westpreußen in die Industriezentren Berlins und an der Ruhr, aus Schlesien nach Sachsen –, aber der dramatische Anstieg der Bevölkerung in den Städten erzwang auch die Rückwanderung aufs Land, wenn auch überwiegend für kürzere Zeit.¹⁰ So wuchsen in den agrarischen Regionen nicht nur die Kenntnisse über die Möglichkeiten und Lebensbedingungen in der Industrie, sondern hier wie dort, auf dem Land und in der Stadt, wurde innerhalb von einem bis anderthalb Jahrzehnten auch die Entankerung der traditionalen Welt zur vorherrschenden Erfahrung.¹¹ Parallel zur Arbeitsmigration vollzog sich die Urbanisierung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in einem dramatischen Tempo. Das Wachstum der Städte lag durchschnittlich bei 200 Prozent.¹² Wohnungen und Industrieanlagen wurden aus dem Boden gestampft, Infrastrukturen mußten geschaffen werden: Wasser- und Abwasserversorgung, Straßen- und Nahverkehrssysteme waren zu bauen, Gas und Strom, Gesundheitswesen und Sozialhygiene, Schulen und Bildungseinrichtungen, Lebensmittelversorgung – und was der kommunalen Aufgaben noch mehr waren. Die Stadt in der Industrialisierung wurde zum Funktionsraum, in dem eine wachsende Bürokratie die kommunale Politik betrieb. Ihre Aufgabe sah sie darin, durch planerische Rationalität aus dem Moloch der explosionsartig anwachsenden Agglomeration von Industrie und Menschen ein System zu schaffen, das mit der Präzision einer Maschine funktionierte. „Moloch“ war der Begriff der Zeitgenossen für das Phänomen Stadt in der Hochindustrialisierung.¹³ Die Stadt bildete das Faszinosum derjenigen, die sich

 Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 503 – 510.  Vgl. Wilhelm Brepohl, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform dargestellt am Ruhrgebiet. Tübingen 1957; Wolfgang Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage“, in: Köllmann, Bevölkerung, S. 106 – 124; Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880 – 1914, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64, 1977, S. 1– 40; Sabine Doering-Manteuffel, Die Eifel. Geschichte einer Landschaft. Frankfurt am Main u. a. 1995, S. 201– 218.  Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt am Main 1985; Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 510 – 543.  Vgl. Clemens Zimmermann/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900. Basel u. a. 1999; Ralf Stremmel, Modell und Moloch. Berlin in der Wahrnehmung deutscher Politiker vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Bonn 1992; James Joll, Die Großstadt – Symbol des

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für die Dynamik der technischen Moderne begeisterten, und sie bildete das Schreckbild der anderen, die im undurchschaubar gesteuerten Pulsieren von unübersehbar vielen Menschen und Maschinen das Individuum, das Ich, das Selbst und den Anspruch des Einzelmenschen auf ein selbstbestimmtes Leben nicht finden konnten. Die Stadt wurde einerseits zum Sinnbild für technische Leistung, wissenschaftlichen Fortschritt und Beherrschung komplexer Systeme durch den Menschen – Sinnbild der Moderne. Die Stadt wurde andererseits zum Symbol der Selbstentfremdung, Entindividualisierung und Anonymität. Die Ausbreitung von Industrieanlagen und Stadträumen in der Epoche der Hochindustrialisierung erzeugte das Bewußtsein, in einer neuen Zeit, im Maschinenzeitalter, zu leben. Fremdgesteuertes Ineinandergreifen von Mensch und Technik, Komplexität, Funktionalität, hohes Tempo und permanente Bewegung galten als dessen Kennzeichen.¹⁴ Die Wahrnehmung tiefgreifender und überaus schneller Veränderung des Lebensumfeldes wurde durch die rasch zunehmende Politisierung der Gesellschaft noch verstärkt. In den beiden Jahrzehnten um die Jahrhundertwende begannen wachsende Teile der Bevölkerung durch höhere Wahlbeteiligung und Organisation ihrer Interessen am politischen Geschehen mitzuwirken. Die Massenmobilisierung ließ erkennbar werden, in welchem Maß politische und gesellschaftliche Interessen sich ausdifferenzierten, bestehende Polarisierungen verstärkten und neue hervorbrachten.¹⁵ Die liberalen Parteien wurden schwächer, der Kontrast zwischen politischem Konservatismus und demokratischem Sozialismus dagegen größer, und die integrierende Kraft des politischen Katholizismus zwischen agrarisch-mittelständischer Tradition und industriegesellschaftlicher Moderne wirkte nicht weiter über das eigene Milieu hinaus. Dem Wandel der Politik entsprach die Entwicklung bei den Interessenorganisationen, wo sich Gewerkschaften, Industrie- und Agrarverbände formierten und ihre unterschiedlichen Interessen politisch zur Geltung zu bringen suchten. Zugleich weitete sich die öffentliche Meinung zu einem Massenmarkt, auf dem Weltbilder und Fortschritts oder der Dekadenz?, in: Alter, Peter (Hrsg.), Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren. Göttingen u. a. 1993, S. 23 – 39, hier S. 33.  Gunther Mai, Europa 1918 – 1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart 2001, S. 21 f.; vgl. Patricia L. Garside, Die Großstadtmaschine London. Literarische Vorstellungen und Planungsansätze, in: Alter (Hrsg.), Metropolen, S. 259 – 278; Hans-Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Hamburg 1969, S. 39, zum mechanisierten Straßenverkehr; Volker R. Berghahn, Sarajewo 28. Juni 1914. Der Untergang des alten Europa. München 1997, S. 154, über Le Corbusiers Vorstellungen am Ende des Ersten Weltkriegs von der „Wohnmaschine“; Hermann Glaser, Maschinenwelt und Alltagsleben. Frankfurt am Main 1981.  Ullmann, Kaiserreich, S. 126 – 147.

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Sachinformationen, zu kollektiven Gewißheiten für die unterschiedlichen politisch-sozialen Lager verdichtet, in Umlauf kamen. Um 1900 wurde die massenmobilisierende Kraft der Integrationsideologien des Nationalismus und Antisemitismus vorherrschend, seit sich der Nationalismus stärker als zuvor mit aggressiven und gesinnungsmilitaristischen Momenten auflud und der Antisemitismus durch die Identifikation von Judentum und Moderne sein reaktionäres, antimodernistisches Profil vollends ausbildete. Beide vermochten klassen- und schichtenübergreifend wirksam zu werden und konnten so die soziale Fragmentierung der wilhelminischen Gesellschaft auffangen.¹⁶ Die massenmobilisierende Kraft dieser Integrationsideologien wurde durch die Dynamik und das dramatische Tempo von Industrialisierung, Verstädterung und Modernisierung mit erzeugt. Ebenso entstanden an der Jahrhundertwende aus der umfassenden Politisierung der Gesellschaft auch die ersten, in die Breite wirkenden modernitätsskeptischen Gegenbewegungen. Die Kulturkritik der vielfältigen Reformgruppen bildete sich stets innerhalb des städtischen Kontextes heraus und war bis in die zwanziger Jahre hinein ein Phänomen der Bildungsschicht. Insbesondere die Jugendbewegung und die Lebensreformbewegung wandten sich nicht nur gegen das starre, reformunfähige politische System des Wilhelminismus und gegen den verkrusteten Moralkodex des Bürgertums mit seinen einschlägigen Wertorientierungen, sondern Kritik und Reformverlangen richteten sich auch gegen die innerstädtische Welt, deren Lebensweisen als entfremdet empfunden und als fremdbestimmt wahrgenommen wurden. Die Naturschwärmerei und das Nachsinnen über alternative Formen von Gemeinschaftsbildung und Führertum vollzogen sich vor diesem Hintergrund.¹⁷ Der Zug der jungen Generation „mit der neuen Zeit“¹⁸ reflektierte die dramatischen Veränderungen der Gesellschaft um die Jahrhundertwende ebenso, wie er dazu beizutragen beanspruchte, das erstarrte Normengehäuse der veraltet empfundenen Welt zu überwinden.

 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, in: Neue Politische Literatur 40, 1995, S. 190 – 236; Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und Aggression. Bonn 1994; Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780 – 1918. München 1994, S. 47– 66; Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt am Main 2003.  Walter Z. Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie. Köln 1962; Winfried Mogge, Jugendbewegung, in: Kerbs, Diethard/Reulecke, Jürgen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1930. Wuppertal 1998, S. 181– 196; Wolfgang R. Krabbe (Bearb.), Lebensreform, in: Ibid., S. 73 – 154; Winfried Mogge/Jürgen Reulecke, Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Köln 1988.  Thomas Koebner/Rolf Peter Janz/Frank Trommler (Hrsg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main 1985.

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Der Erste Weltkrieg radikalisierte die Wahrnehmung und Erfahrung von grundstürzendem Wandel, indem er aus den sozialökonomischen Transformationsprozessen um die Jahrhundertwende hervorging und sie ins Extrem beschleunigte. Die industrielle Welt gab dem Krieg schon nach wenigen Monaten, mindestens im Westen, ein neues Gesicht. Artillerie und Maschinengewehr wurden die prägenden Waffen im Kriegsgeschehen. Artilleriegranaten und Maschinengewehrsalven zerfetzten die anonymen Kohorten feldgrauer Soldaten und mähten sie nieder, wenn die Truppen Zug um Zug in die Gräben eingerückt waren, um von dort Vorstöße gegen die Linien des Gegners zu versuchen. Das Bild vom „Tod als Maschinist“¹⁹ bezeichnet präzise die Wirklichkeit des Frontalltags. Der Krieg als Beschleuniger „bereits in Gang befindlicher gesellschaftlicher Veränderungsprozesse“²⁰ schob die Klassengesellschaft beiseite und machte die Arbeiterschaft zur maßgebenden Kraft für die Bewahrung der inneren Kriegsbereitschaft und Kriegsfähigkeit in der Rüstungsproduktion, rückte die Gewerkschaften als gleichrangige Kraft neben die militärische und politische Führung und band diese an den Konsens der breiten Masse. Die soziale Transformation wurde begleitet von einer anhaltenden Debatte in der Öffentlichkeit, namentlich unter Intellektuellen, über die künftige, durch den Krieg zu verwirklichende Ordnung der Gesellschaft.²¹ Das politische System des wilhelminischen Deutschland stand darin schon bald zur Disposition. Im ersten Kriegsjahr gab es die Vorstellung von der politischen Organisation aller Deutschen in einer integrativen volksgemeinschaftlichen Ordnung, die von der eigentümlich schwebenden, zwischen Euphorie und Angst changierenden Stimmung des Au-

 Vgl. Rolf Spilker/Bernd Ulrich (Hrsg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914– 1918. Braunschweig 1998. Der Titel wurde gewählt unter Bezug auf das visionäre Buch eines Pädagogen, der als Kriegsgegner 1912 das Grauen des Maschinenkriegs beschrieb: Wilhelm Lamszus, Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg u. a. 1912, hier zit. n. d. Aufl. Hamburg 1913, S. 19 f.: „Welch ein Wunderwerk der Technik ist solch ein Maschinengewehr! […] Anstatt des Webstuhls, daran man mit den Händen schaffend saß, lässt man jetzt die großen Schwungmaschinen sausen. Einst wars ein Reitertod, ein ehrlicher Soldatentod. Jetzt ist es ein Maschinentod! […] Maschinen sind auf uns gezückt.Wir laufen ja nur gegen die Maschinen an. Und die Maschine triumphiert in unser Fleisch hinein. Und die Maschine trinkt das Blut aus unsern Adern und säuft es eimerweise aus. […] Und doch stürmt es von hinten nach, zu hunderten, junges, gesundes Menschenfleisch, das die Maschine schlachten wird.“  Wolfgang J. Mommsen, Der Erste Weltkrieg und die Krise Europas, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/Benz, Irina (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1993, S. 25– 41, hier S. 30.  Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003.

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gust 1914²² getragen wurde, wie sie im „Burgfrieden“ ihren Ausdruck gefunden hatte,²³ und die die Überwindung der Klassengesellschaft durch die Vision von Gleichheit und Gemeinschaft aus der nationalen Emphase des Kriegsbeginns, nicht aber aus der Einsicht in die sukzessive Überwindung der Klassengesellschaft durch die Realität der Massenheere und der Egalisierung der arbeitenden Bevölkerung an der Heimatfront herleitete.²⁴ Je schwerer die Lasten des Krieges wogen, ohne dass ein Ende absehbar wurde, desto mehr änderten sich seit 1916 Tonlage und Erwartungen in der Debatte, bis im letzten Kriegsjahr eine politischweltanschaulich und sozialkulturell unversöhnliche Konfrontation neu entstanden war. Jetzt gab es einerseits die Vorstellung von einer parlamentarisch-demokratischen Neuordnung nach westlichem Muster, die von den Kräften der politischen und intellektuellen sozial-liberalen Linken vertreten wurde. Die Rechte andererseits, deren Stimmen sowohl in der politischen als auch in der akademischen Öffentlichkeit die Mehrheit bildeten, votierte mit ihrer aggressiven, annexionistisch und völkisch gefärbten Rhetorik für eine Volksgemeinschaft, die alte Ausgrenzungen mit neuen verband: Hier sollte es keinen Platz mehr geben für die Linke, für Kosmopoliten sozialistischer oder liberaler Spielart, für Juden, Polen und andere Minderheiten. Diese Rechte stützte die 3. Oberste Heeresleitung, die ihres Geistes Kind war. Die Linke stützte und repräsentierte zugleich den Interfraktionellen Ausschuß des Reichstags, der am Ende des Krieges zwar politisches Gewicht, aber keine Macht gewonnen hatte.²⁵ Zwischen diesen Polen sank die Figur des Reichskanzlers in die Bedeutungslosigkeit, gefolgt vom verblassenden Bild des Kaisers, bis die Monarchie in der Revolution verschwand. Seit 1918 existierte auch der institutionelle Rahmen nicht mehr, der der Bevölkerung in den Jahrzehnten dramatischer Veränderungen der Lebenswelt ein wichtiges Maß an Stabilität verbürgt hatte. Es kam hinzu, dass die Erfahrung von Hunger und einsetzender Verarmung in der zweiten Kriegshälfte auch das Ver-

 Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000, S. 129 – 193.  Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1974; Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15. Essen 1993, S. 90 – 151.  Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 102– 132, S. 177– 204.  Ibid., S. 219 – 291; vgl. Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. Berlin 2000; vgl. Gunther Mai, „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900 – 1925), in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München u. a. 1994, S. 583 – 602.

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trauen auf ein gesichertes Einkommen fragwürdig werden ließ, welches in den beiden Jahrzehnten der Hochkonjunktur entstanden war.²⁶ Die Demokratiegründung der Weimarer Republik vermittelte nicht das Gefühl von wiedergewonnener oder neuerworbener Sicherheit. Ihr wurde der nationale Konsens verweigert, weil sie im Lager der politischen Rechten als Folge der Niederlage und des Zwangs der Siegermächte zur Anverwandlung von deren politischem Ordnungssystem geschmäht wurde. Die Inflation schließlich stellte die Welt gänzlich auf den Kopf, indem sie materielle und ideelle Werte gleichermaßen annullierte. Vorstellungen von dem, was Recht und Ordnung seien, verloren ihre Verbindlichkeit. Die Maßstäbe der Vergangenheit schienen für die Gegenwart nicht mehr zu gelten. Die Zukunft war offen und ungewiß. Damit sind wir in der Wirklichkeit der zwanziger Jahre angekommen. Doch bevor die kulturellen und politischen Auswirkungen der rapiden Veränderungen seit den 1890er Jahren in der Zeit der Weimarer Republik betrachtet werden können, ist zunächst der parallel verlaufene Prozeß des ideellen Wandels seit dem späten 19. Jahrhundert in die Überlegungen einzubeziehen. Denn die Erfahrung der immer wieder und immer weiter beschleunigten Veränderung der Lebenswelt, die die Mehrheit der Bevölkerung machte, fand ihre Entsprechung im Nachdenken von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern über die Gültigkeit bis dahin akzeptierter Leitkategorien für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft, der sie entstammten. Das Krisenbewußtsein, das sie bis 1914 ausbildeten, verschärfte sich in radikaler Weise zu einer Wahrnehmung des Krieges als umfassendem Kulturbruch.

2. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte in Deutschland eine Diskussion über den Sinn historischer Weltorientierung eingesetzt, die sich bis zum Ersten Weltkrieg und vollends durch die Erfahrung des Krieges intensivierte. Darin wurde die vorrangige Berechtigung des Denkens in den Kategorien Entwicklung, Entwicklungsgeschichte und Fortschritt in Zweifel gezogen. Die „Krise des Historismus“, die sich in dieser Diskussion manifestierte, entfaltete ihre Wirkung in den frühen zwanziger Jahren, aber sie bildete während der Jahrzehnte des Übergangs in die industriegesellschaftliche Moderne einen der ideellen Grundtatbestände inner-

 Vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914– 1923. Essen 1997; Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. München 1914– 1924. Göttingen 1998.

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halb dieses komplexen Prozesses.²⁷ Um die Jahrhundertwende war die Fortschrittsgewißheit, die noch bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts zumindest das Bürgertum gekennzeichnet hatte, „an ihr Ende gekommen“²⁸ und in Fortschrittsskepsis und Kulturkritik umgeschlagen. Das mit dem Fortschrittsglauben verbundene Geschichtsdenken einer linearen Entwicklung zu höheren und besseren Kulturzuständen²⁹ wurde abgelehnt, Kulturpessimismus konnte an seine Stelle treten. Darin äußerten sich Abwehr und angstvolle Befangenheit angesichts der sozialkulturellen Entwicklung als bürgerliche Reaktion auf die Industrialisierung und die Ausbreitung der städtisch-unterbürgerlichen Schichten als „Masse“.³⁰ Ergänzend und verstärkend äußerte sich in der Abwendung vom Fortschrittsgedanken die Reaktion auf das dramatische Tempo des technischen und infrastrukturellen Wandels der städtischen Lebenswelt zum maschinengleich stampfenden Moloch. Soweit die Kategorie des Fortschritts mit den liberalen Wertvorstellungen aus den frühen und mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Selbstbestimmung, individueller Freiheit und Rationalität verkoppelt blieb, brachte die Negation des fortschrittsbezogenen Geschichtsdenkens eine Distanzierung von liberalen Grundauffassungen mit sich. Die Kritik am Sinn historischer Weltorientierung begann in den 1870er Jahren im Kontext der „großen Depression“ im Gefolge der Reichsgründung.³¹ Ihren Ausgang nahm sie von Nietzsches Angriff auf das tradierte Geschichtsdenken,³²

 Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus (1922), in: Troeltsch, Ernst, Schriften zu Politik und Kulturphilosophie 1918 – 1923. Hrsg. von Gangolf Hübinger/Johannes Mikuteit. Berlin u. a. 2002, S. 433 – 455, insbes. S. 441– 449; Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922). Aalen 1961; Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Ernst Troeltschs „Historismus“. Gütersloh 2000.  Wolfgang Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewußtseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001. München 2002, S. 47– 75, hier S. 60.  Reinhart Koselleck, Art. Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 351– 423, 412 ff.; Friedrich Rapp, Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee. Darmstadt 1992, S. 163 – 167, S. 198 – 212.  Vgl. Mai, Europa, S. 30 – 40; Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000, S. 30 – 60, hier S. 37 f.  Vgl. Hardtwig, Krise, S. 70, unter Bezug auf Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Berlin 1967 und die Einschätzung von Nipperdey, Geschichte. Bd. 1, S. 285 f.  Vgl. Anette Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. Göttingen 1992, S. 45 – 60; Otto Gerhard Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in: Oexle, Otto Gerhard, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Göttingen 1996, S. 73 – 94; Johannes Heinssen, Ein Indikator für die Probleme der Problemgeschichte. Kulturkritische Entdifferenzierung am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932. Göttingen 2001, S. 39 – 84.

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das seit dem frühen 19. Jahrhundert mit dem liberalen Fortschrittsdenken zusammengeflossen war, in dieser Verbindung das Weltbild der – im Kaiserreich eminent wirkungsvollen und meinungsbildenden – kulturprotestantischen Akademikerschaft prägte³³ und darüber das mehrheitlich protestantische Bürgertum beeinflußte.³⁴ Die ideengeschichtliche Entwicklung seit 1870/80 und die damit verbundene Bedeutung der „Krise des Historismus“ sollen hier nicht erneut angesprochen werden.³⁵ Vielmehr geht es darum, aus dem ideengeschichtlichen Komplex einen Aspekt herauszupräparieren, mit dem sich ein eminent wirkungsvoller ideeller und politischer Grundsachverhalt sichtbar machen lassen kann. Dieser Grundsachverhalt hat in der Zwischenkriegszeit das geistige Klima in Deutschland stark beeinflußt, zudem auf die völkische und nationalsozialistische Ideologiebildung eingewirkt und vice versa die Akzeptanz wichtiger Bestandteile der NS-Weltanschauung bei den vielen nicht-nationalsozialistischen Akademikern aus dem nationalen Lager der Weimarer Republik ermöglicht. Seine Auswirkungen waren auch in der Nachkriegszeit nach 1945 noch aufzufinden. Es handelt sich um die Abwendung vom liberalen Weltbild als Handlungsprinzip für Politik und Gesellschaft, die in der Abkehr vom Denken in den Kategorien des Historismus zum Ausdruck kam. Mit dem Begriff des Historismus³⁶ bezeichnen wir die Einsicht, dass alles und jedes geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist, dass Wissen und Denken von der Vorstellung des Gewordenseins grundsätzlich geformt werden, dass Leben Geschichte ist und nur als solche begriffen werden kann. Für die Betrachtung der gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit bildete und bildet der Historismus das Fundament. Diese Auffassung setzte sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert allmählich durch und stellt eine der durchlaufenden, sinnvermittelnden Ideen im Entstehungsprozeß der Moderne dar. Der Historismus wird deshalb mit vollem Recht zu den konstitutiven Grundkräften der Moderne

 Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen 1994.  Vgl. Nipperdey, Geschichte. Bd. 1, S. 468 – 507, auf dessen Differenzierung zwischen Theologie und Kirche hinzuweisen ist, von der aus er die Positionen der Liberalen im Spektrum innerprotestantischer Strömungen beschreibt und sie in die (politische) Kultur des Kaiserreichs einordnet.  Vgl. dazu Hardtwig, Krise.  Die Begriffsbildung folgt Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Oexle (Hrsg.), Geschichtswissenschaft, S. 17– 40. Insbesondere seiner Unterscheidung zwischen Historismus als geistig-kultureller Bewegung seit der Aufklärung einerseits und Historismus als idealistischer Begründung der Geschichtswissenschaft andererseits. Zwischen beiden bestehe „keine notwendige und exklusive Beziehung“, ibid., S. 31. Hier geht es um den Historismus als geistig-kulturelle Bewegung.

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gezählt, dem ebenso großes Gewicht beizumessen ist wie der Aufklärung, der politischen Revolution sowie der Durchsetzung der modernen Naturwissenschaft.³⁷ Im politischen Raum wurden diese Grundkräfte vom Liberalismus als dem Ausdruck vernünftigen und aufgeklärten Denkens gebündelt, wobei Liberalismus stets mehr war als bloß eine Bewegung mit dem Ziel der politischen Partei.³⁸ Der Liberalismus bildete eine gesellschaftliche Kraft, welcher der Glaube an den unaufhaltsamen Fortschritt zu eigen war. Er repräsentierte das optimistische Weltbild eines Fortschritts von überschaubarem Tempo und humanem Ausmaß.³⁹ Im Zentrum des liberalen Fortschrittsdenkens standen das Individuum, die Gestaltungsfreiheit des Individuums sowie die Kontinuität solcher Gestaltungsfreiheit. Sich als Liberaler zu begreifen, bedeutete, die „Zukunft der Geschichte“ zu verkörpern,⁴⁰ eine Weltsicht, die nach der Reichsgründung dann einer allmählich zunehmenden Kritik unterzogen wurde. Das liberale Fortschrittsdenken war geschichtlich vermittelt und blieb mit der Kategorie der Geschichtlichkeit bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts verkoppelt.⁴¹ Liberales und historistisches Denken formten die bürgerliche Weltsicht im mittleren 19. Jahrhundert, in Deutschland ebenso wie in den anderen mittel- und westeuropäischen Ländern. In den 1880er Jahren setzte eine sich langsam verstärkende Debatte ein, die von den Geisteswissenschaften ihren Ausgang nahm und das Problem umkreiste, dass historistisches Denken den Glauben an die überzeitliche Geltung, an die Allgemeingültigkeit von religiösen und philosophischen Systemen zerstöre, indem es mit dem Axiom, dass alles und jedes geschichtlich vermittelt sei, relativierend wirke. Die beginnende Kritik am liberalen Fortschrittsparadigma kann man als Ausdruck der politischen Krise des deutschen Liberalismus infolge von Bismarcks Politik verstehen.⁴² Die Kritik am historistischen Paradigma des grundsätzlichen

 Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus; Otto Gerhard Oexle, „Historismus“. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Oexle (Hrsg.), Geschichtswissenschaft, S. 41– 72.  Vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001, S. 28 – 37, S. 505 – 543, insbes. S. 516 – 523, S. 548 – 552 und passim.  Dieter Langewiesche, Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: Kocka, Jürgen/Frevert, Ute (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3. München 1988, S. 360 – 394, insbes. S. 386 ff. über die „Fortschrittslehre“ im Rahmen liberaler Weltbilder.  Ibid.; Jörn Leonhard, Semantische Deplazierung und Entwertung. Deutsche Deutungen von liberal und Liberalismus nach 1850 im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 5 – 39, hier S. 24.  Leonhard, Liberalismus, S. 549 f.  Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988, S. 128 – 164, mit Blick auf die liberalen Parteien und Interessenorganisationen; James J. Sheehan, Der deutsche

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Gewordenseins kann man als Ausdruck des schnellen Umbruchs vom Agrar- zum Industriestaat nach der Reichsgründung verstehen.⁴³ Die Sicht der Geschichtswissenschaft diagnostiziert zwei ungefähr parallel verlaufene Entwicklungen, vermeidet es hingegen, den Zusammenhang zwischen beiden zu systematisieren. Wenn man nun den sich immer stärker beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel während der Hochindustrialisierung als Hintergrundfolie nimmt, vor der die Historismus-Debatte zu sehen ist, dann tritt zunächst die Bedeutung des Faktors „Zeit“ deutlich vor Augen.⁴⁴ Die Teilnehmer an der Debatte waren als Angehörige der Bildungsschicht in städtische Kontexte eingebunden und konnten sich der Wahrnehmung der gewaltigen Urbanisierungs- und Migrationserscheinungen nicht entziehen. Die schnelle Veränderung des Gesichts der Städte und der Stadtbevölkerung mit dem immer größeren Anteil an Menschen aus den wachsenden Industriebezirken und Arbeiterquartieren, die Zunahme des Verkehrs und der unaufhaltsamen Betriebsamkeit im städtischen Alltag mochten zunehmend das Gefühl des Verlusts von Gewohntem vermitteln, wie sie umgekehrt auch Begeisterung und fast rauschhafte Hingabe an die Maschinenwelt der Fabriken und Industriewerke, indessen ohne Leidenschaft für die industrielle Massengesellschaft, hervorriefen. Das Gefühl von Verlust und Begeisterung konnte leicht ein und denselben Menschen beherrschen.⁴⁵ Das erzeugte eine Grundempfindung von Zerrissenheit, deren Auswirkungen in den zwanziger und dreißiger Jahren aufzufinden sind. Schaut man auf die Verlustwahrnehmung, wird zunächst die Parallele von städtischer und industriegesellschaftlicher Transformation einerseits und der ungleich konkreteren Erfahrung der Entankerung durch Heimatverlust beim Millionenheer der Arbeitsmigranten andererseits sichtbar. Dennoch, das hohe Tempo dieses Geschehens, das Abräumen der gewohnten Lebenswelt im Zuge der Industrialisierung, das Anwachsen einer neuen, fremd erscheinenden Umgebung in der industriellen Massengesellschaft, konnte auch innerhalb der Bildungsschicht die Reaktion befördern, nach Ordnungsmustern zu suchen, die Halt geben

Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770 – 1914. München 1983, S. 213 – 257, S. 260 – 301.  Vgl. Barkin, The Controversy over German Industrialization. Auf den nachholenden Charakter der Debatte, der die späte, aber umso deutlichere Wahrnehmung des rapiden Strukturwandels und seines raschen Verlaufs erkennbar macht, verweist Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 619 f.  Hardtwig, Krise, S. 60 ff.  Radkau, Zeitalter, S. 203 – 231; Wolfgang Sofsky, Schreckbild Stadt. Stationen der modernen Stadtkritik, in: Die alte Stadt 1, 1986, S. 1– 21; vgl. als Einzelbeispiel Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863 – 1941. München 1994, S. 54– 70, S. 154– 170.

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oder als Fixpunkt dienen mochten. Um 1900 mehrten sich die Anzeichen eines verbreiteten Bedürfnisses, den Lauf der Zeit zu transzendieren und aus dem Zug der Zeit auszusteigen. Wenn man nun weiterhin die Parallelität von historistischem Denken und liberaler Weltsicht in die Überlegungen einbezieht, dann entpuppt sich der Umgang mit dem Faktor „Zeit“ als ein Phänomen von hoher Brisanz. Der liberale Fortschrittsoptimismus war an ein positives Verständnis von Zeit gebunden. Fortschritt war ohne zeitlichen Verlauf nicht zu denken. In der Reaktion auf den schnellen Wandel bildete sich die Orientierung an anderen Modellen von geschichtlicher Zeit heraus, die keine rational nachvollziehbare, geschichtslogische Verbindung zum Hier und Heute aufwiesen. Sie waren nach rückwärts mystisch geprägt, idealisierten die vorindustrielle Welt,⁴⁶ konstruierten ein imaginiertes Mittelalter oder mythisierten germanische Vorzeit.⁴⁷ Sie waren nach vorwärts utopisch geprägt und beschworen Vorstellungen von neuen, chiliastischen Ordnungen und ewiger Dauer. Der „Ausstieg aus dem historistischen Zeitmodell“⁴⁸ ergänzte und legitimierte die Abkehr vom Fortschrittsdenken und, wo noch damit verkoppelt, vom liberalen Weltbild. Daraus entstand ein Denk- und Argumentationsrahmen, in dem sich politisch antiliberale Kräfte nationalistischer oder imperialistischer Spielart mit Strömungen des kulturellen Antimodernismus und mit Vorstellungen von einer ganz anderen Modernität treffen konnten. Das bahnte sich vor 1914 an, verband sich im Verlauf des Krieges mit dem Strang des anfänglichen Gemeinschafts-Diskurses in der Phase des „Burgfriedens“, der seit 1916/17 die radikal-nationalistische und völkische Feindseligkeit gegenüber Gemeinschaftsfremden zum Prinzip erhob,⁴⁹ zugleich die Befürwortung von Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung der Monarchie bekämpfte und dann in der Weimarer Republik die mächtige antiliberale Unterströmung unter dem politischen System der parlamentarischen Demokratie und liberalen Staatsbürgergesellschaft bildete. Der Weltkrieg wurde zum Katalysator einer Entwicklung, die in den zwanziger Jahren Breitenwirksamkeit entfaltete.  Vgl. das Beispiel der Riehl-Rezeption: Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl 1823 – 1897. Köln u. a. 1994; Andrea Zinnecker, Romantik, Rock und Kamisol. Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich – die Riehl-Rezeption. Münster u. a. 1996.  Vgl. Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Althoff, Gerd (Hrsg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Darmstadt 1992, S. 7– 28; Hardtwig, Krise, S. 63 ff.; Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1970; Otfrid Ehrismann, Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenliedes von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. München 1975.  Hardtwig, Krise, S. 60.  Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 143 – 299.

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Im Ersten Weltkrieg eskalierte die „Krise des Historismus“, indem der industrialisierte Krieg die zerstörerische Potenz des Fortschritts schonungslos enthüllte und den damit verbundenen, weiter beschleunigten Wandel vollends unfaßbar erscheinen ließ. Die Skepsis der Kulturkritik seit der Jahrhundertwende, dass der Fortschritt um seiner selbst willen die Substanz des Tradierten, Gewachsenen verzehre, schien sich in grauenhafter Weise zu bewahrheiten. Spätestens jetzt erwies sich der Glaube an den unaufhaltsamen Fortschritt „mit humanem Maß“⁵⁰ als Irrtum, und daraus erwuchsen Konsequenzen. Zum einen war es spätestens jetzt unausweichlich, dass sich liberales Ordnungsdenken von der Kategorie des Fortschritts abkoppelte, wollte es sich nicht selbst preisgeben. Zum andern aber wurde es möglich, „Fortschritt“ neu zu denken und die Kategorie der kontinuierlichen, für den Einzelnen nachvollziehbaren Entwicklung „mit humanem Maß“ darüber unberücksichtigt zu lassen.⁵¹ So wirkte der Krieg als tiefer Kulturbruch in der Transformationskrise der industriegesellschaftlichen Moderne, ganz ungeachtet der Tatsache, dass innerhalb dieser Epoche von der Jahrhundertwende bis zur Inflation die Kriegszeit eine katalytische Funktion innehatte. Die Erfahrung des industrialisierten Krieges an der Front und in der Heimat, die Erfahrung von Hunger und falschen Siegeserwartungen, eine immer weiter gesteigerte Radikalität der Kriegsführung mit dem niederschmetternden Ergebnis des Zusammenbruchs anstatt des erhofften Triumphs, dann die Revolution und schließlich die Inflation erzeugten neuartige, bittere, verschlechterte Lebensbedingungen für die große Mehrheit der Bevölkerung. Hinzu kam der Schock des Versailler Friedensvertrags, in dem die Entente-Mächte das Deutsche Reich mit der Schuld am Krieg belegten und dadurch moralisch stigmatisierten. Der Nationalismus gewann an Schärfe, wirkte tiefgreifender noch als vor dem Krieg als Integrationsideologie und sog die radikalisierte Vorstellung von Gemeinschaft beziehungsweise Volksgemeinschaft in sich auf: Die Nation als Volksgemeinschaft sollte und mußte gegen ihre Feinde zusammenstehen. Indem Frankreich, England und die USA durch parlamentarisch-demokratische und individualgesellschaftliche Verfaßtheit die Prinzipien liberaler Ordnung verkörperten, trug der Versailler Vertrag dazu bei, dass sich der ältere Gegensatz zwischen dem euro-

 Langewiesche, Liberalismus und Bürgertum, S. 386.  Vgl. Hans Joas, Kriegsideologien. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der zeitgenössischen Sozialwissenschaften, in: Joas, Hans (Hrsg.), Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Weilerswist 2000, S. 87– 125, insbes. S. 113 ff., der mit Blick auf die amerikanischen Sozialwissenschaften und ihren bis dahin fraglosen Fortschrittsglauben den Krieg als „Epochenbruch“ bezeichnet und „die tiefe Desillusionierung hinsichtlich des Traums von einem automatischen und unaufhaltsamen Fortschritt“ konstatiert.

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päisch-atlantischen Liberalismus und der davon abweichenden deutschen Tradition zu ideologischer Ausschließlichkeit vertiefte.⁵² Dieser Gegensatz war schon im Krieg ins Prinzipielle gesteigert worden, und seine antiliberale Virulenz entfaltete in der Nachkriegszeit vollends ihre Wirkung. Es war schwerlich ein Zufall, dass sich die liberalen Parteien in Deutschland nach dem Weltkrieg Namen zulegten, in denen die Begriffe „liberal“, „Liberalismus“ oder gar „Fortschritt“ nicht auftauchten: Liberalismus war das Ordnungsmodell des „Gegners“.⁵³ Das öffnete das Verständnis von Fortschritt endgültig für die Aufnahme nicht-liberaler Gestaltungsprinzipien. Was in der „Krise des Historismus“ die Diskussionen einzelner Theoretiker bewegt hatte, weitete sich infolge dieser Entwicklung aus zur „antihistoristischen Revolution“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften, die liberales Denken unterband, im wissenschaftlichen wie im gesellschaftlichen Zusammenhang die Axiome liberaler Fortschrittsorientierung bekämpfte und das Meinungsklima der Öffentlichkeit stark beeinflußte, wo nicht dominierte.

 Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792– 1918. Stuttgart 1992; Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Göttingen 2002; zur amerikanischen Dimension vgl. die Einordnung von Thorstein Veblen durch Hans Joas, Die Modernität des Krieges. Die Modernisierungstheorie und das Problem der Gewalt, in: Joas (Hrsg.), Kriege und Werte, S. 67– 86, hier S. 72 f., und die – aus der Sicht der Westernisierungs-Forschung – unbedingt zustimmenswerte Feststellung, „dass es einen eigenständigen Ursprung der Theorie vom deutschen Sonderweg in der sozialwissenschaftlichen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in Amerika gibt“: Joas, Kriegsideologien, S. 119. Vgl. dazu Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, S. 182– 198; Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003, S. 39 – 98, hier S. 82 ff.  Für die politische Rechte in der Weimarer Republik bezeichnete „Liberalismus“ den Verfassungskompromiß, welcher der Sozialdemokratie Einfluß auf den Staatsapparat verschaffte, für die politische Linke bezeichnete „Liberalismus“ die kapitalistische Wirtschafts- und Eigentumsordnung, für beide war „Liberalismus“ westlich. Der „Gegner“ war mithin ein Syndrom auswärtiger und innerpolitischer Wertordnungen, gegen die nach Maßgabe des je spezifischen politisch-ideologischen Interesses von den unterschiedlichen Parteien und Interessengruppen Stellung bezogen wurde. Das Entscheidende indessen war die umfassende Delegitimierung von „Liberalismus“ als dem Ordnungssystem individual-gesellschaftlich, marktwirtschaftlich und parlamentarisch-demokratisch verfaßter Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. Zum europäischen Zusammenhang vgl. das Kapitel über den „Untergang des Liberalismus“ von Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München u. a. 1995, S. 143 – 183, sowie aus der Sicht der 1960er Jahre und des Ost-West-Konflikts: Ernst Nolte, Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen. München 1968.

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3. Die zwanziger Jahre waren das Jahrzehnt der antihistoristischen Revolution. Der Begriff bedarf der Erläuterung, bevor darzulegen ist, was er beschreibt und zu analysieren ermöglicht. Der Terminus „antihistoristische Revolution“ ist aus der neueren theologie- und konfessionengeschichtlichen Forschung in die Geschichtswissenschaft hineingekommen.⁵⁴ Er weist, äußerlich betrachtet, terminologische Verwandtschaft mit der „Konservativen Revolution“ auf, aber es handelt sich hier mitnichten um zwei Bezeichnungen für dieselbe Sache. „Konservative Revolution“ ist die Bezeichnung bzw. Selbstbezeichnung⁵⁵ eines überschaubaren und durchaus heterogenen Kreises von Künstlern und Publizisten mit oder – überwiegend – ohne universitäre Anbindung. Oswald Spengler, Karl Haushofer, Hans Blüher und Eugen Diederichs, Carl Schmitt, Ernst Jünger und Thomas Mann, auch Stefan George und schließlich Ernst Niekisch sind die wahrscheinlich bekanntesten Namen.⁵⁶ Die übergreifende Bezeichnung „Konservative Revolution“ hatte einen konkreten Zweck. Sie sollte zur Abgrenzung dieser elitebewußten, antiliberalen Intellektuellen dienen gegen die Massengefolgschaft des Nationalsozialismus und der Völkischen im akademischen und allgemein kulturellen Bereich.⁵⁷ Diese defensive, wenn nicht verschleiernde In-

 Kurt Nowak, Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Gütersloh 1987, S. 133 – 171; Friedrich Wilhelm Graf, Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Rohls, Jan/Wenz, Gunther (Hrsg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Göttingen 1988, S. 377– 405; Friedrich Wilhelm Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 4. Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 – 1945. Frankfurt am Main 1997, S. 217– 244.  Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927, in: Hofmannsthal, Hugo von, Reden und Aufsätze III, 1925 – 1929. Frankfurt am Main 1979, S. 24– 41.  Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Ein Handbuch. 3. Aufl. Darmstadt 1989; Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993; und die Rezension von Hans-Peter Schwarz, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, S. 267 f.  Stefan Breuer, Die „Konservative Revolution“ – Kritik eines Mythos, in: Politische Vierteljahrsschrift 31, 1990, S. 585 – 607 – führt hier seine Kritik des Begriffs präzise aus mit der treffenden Feststellung, dass das verbindende Element der „Konservativen Revolutionäre“ allein die Ablehnung des politischen Liberalismus gewesen sei und dass es solche Ablehnung auch andernorts im politischen Spektrum der Weimarer Republik gegeben habe. Damit ist nahegelegt,

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tention ist im Begriff der „antihistoristischen Revolution“ nicht auszumachen. Er umfaßt, recht weit gespannt, ein gesellschaftliches und politisch-ideelles Phänomen der Zwischenkriegszeit, dessen Bedeutung für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts durch die geschichtswissenschaftliche Forschung allerdings noch näher zu bestimmen ist.⁵⁸ Während der zwanziger Jahre beeinflußte der Ausstieg weiter Teile der Bildungsschicht aus dem historistischen Zeitmodell das geistige Klima der Weimarer Republik bis in die Naturwissenschaften hinein. Dieser Einfluß wurde in stärkerem Maß spürbar als jede andere konkurrierende oder abweichende Denkströmung. Wissenschaftliche Forschung und das Streben nach neuer oder vertiefter Erkenntnis in den Kultur- ebenso wie in den Naturwissenschaften hörten in den zwanziger Jahren ja nicht auf, im Gegenteil. Aber die Suche nach Erkenntnis war nicht mehr selbstverständlich gebunden an die Reflexion darüber, von welchen Voraussetzungen her oder von welchen gewachsenen Grundlagen her neue Erkenntnis, neuer Sinn, neue Handlungsmöglichkeiten erdacht und erkundet wurden. In den Wissenschaften und in der Kunst erfolgte ein Bruch mit der Tradition geschichtlicher Voraussetzungshaftigkeit von Erkennen und Handeln. Aus der Perspektive der Antihistoristen waren „Fortschritt“ und „Geschichte“ Handlungsmodelle und Erkenntnisprinzipien einer überwundenen oder zu überwindenden Ordnung. Sie formulierten den Anspruch, die Vergangenheit zugunsten reiner Gegenwart liquidieren zu können.⁵⁹ Im parteipolitischen Spektrum der Weimarer Republik blieben allein die Befürworter der parlamentarischen Demokratie der Idee des Fortschritts oder der Kategorie der Geschichtlichkeit verbunden, da sowohl die Demokratie als auch die Vorstellung von einer stetigen Fortentwicklung des Gegebenen im selben Gedankengut der aufklärerischen Moderne wurzelten. Diese Befürworter gehörten zu den Parteien der Weimarer Koalition – zur kulturbürgerlich durchsäuerten, von kosmopolitischen Persönlichkeiten beeinflußten linksliberalen DDP, zu den Sozialdemokraten und zum parlamentarisch-demokratischen Spektrum der Zenden von Armin Mohler in die Geschichtswissenschaft eingeführten Begriff mit plausibler Begründung zu überwinden.  Vgl. dazu die Kritik von Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden, S. 217 f., an der „auf das eigene Fach verengten Perspektive“ der Allgemeinhistoriker und seinen Hinweis, dass es vor allem Otto Gerhard Oexle, Historismus, in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 41– 72, gewesen sei, der dazu beigetragen habe, „eine ,problemgeschichtliche’ Perspektive auf den Historismus zu entwickeln, in der die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Historismusdebatten der Allgemeinhistoriker, Rechtswissenschaftler, Nationalökonomen, Religionswissenschaftler, Philosophen und Theologen wahrgenommen werden können“. Vgl. zudem Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990.  Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden, S. 229.

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trumspartei. Im Umfeld dieser parteipolitischen Strömungen, insbesondere in einer relativen Nähe zur DDP, sammelten sich die sogenannten Vernunftrepublikaner.⁶⁰ Das waren überwiegend Persönlichkeiten der älteren Generation, geboren in den 1860er, teils schon in den 1850er Jahren, die in der wilhelminischen Ära den liberalen Kulturprotestantismus repräsentiert hatten und der neuen Strömung des Antihistorismus fremd und ablehnend gegenüberstanden. Im Ersten Weltkrieg beteiligten sich manche von ihnen zunächst an der Neuordnungsdiskussion über Burgfrieden und Gemeinschaft, stellten sich dann aber immer entschiedener gegen die reaktionäre und völkisch-rassistische Verkürzung der ursprünglichen Idee von der Gemeinschaft der Nation zur nationalistischen Volksgemeinschaft und begannen seit 1917, sich mit Nachdruck der parlamentarischen Demokratie westlichen Typs zuzuwenden.⁶¹ Adolf von Harnack, der evangelische Theologe und Wissenschaftsorganisator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Staatsrechtler Hugo Preuß und der Historiker Friedrich Meinecke zählten zu ihnen; auch Max Weber und Ernst Troeltsch wären zu nennen, aber sie starben zu früh, um in den zwanziger Jahren dauerhaften Einfluß geltend machen zu können. Im politischen Alltag der Weimarer Republik standen die Demokraten einerseits der radikalen Linken in der KPD gegenüber, andererseits dem nationalen Lager mit seinen Wirtschaftsinteressen, wie sie die DVP repräsentierte, und dem erstarrten Konservatismus der DNVP, der noch klassenspezifisch geprägt war, schließlich der radikalen Rechten in Gestalt der NSDAP. Die politisch-ideellen Konflikte, die das geistige Klima bestimmten, wiesen dagegen eine einfachere Konfiguration auf: Befürworter oder Gegner liberaler Weltorientierung. Im antiliberalen Spektrum bildeten Vordenker und Mitvollzieher des Antihistorismus ein großes und – weil es einen beträchtlichen Teil der intellektuellen Avantgarde der Zeit umfaßte – auch besonders dynamisches und Faszination ausstrahlendes Segment. Die antihistoristische Verweigerung gegenüber der Kategorie des Gewordenseins, gegenüber der aufklärerischen Tradition geschichtlicher Voraus-

 André Gisselbrecht, Le sort tragique des „seniors“ de Weimar: Les „Républicains par raison“, in: Gangl, Manfred/Roussel, Hélene (Hrsg.), Les Intellectuels et l’État sous la République de Weimar. Rennes 1993, S. 25 – 39.  Vgl. Die Deutsche Freiheit. Fünf Vorträge von Harnack – Meinecke – Sering – Troeltsch – Hintze. Gotha 1917; sowie das Protokoll der Lauensteiner Kulturtagung von Pfingsten 1917: Gangolf Hübinger, Eugen Diederichs’ Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur, in: Mommsen, Wolfgang J./Müller-Luckner, Elisabeth (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996, S. 259 – 274, hier S. 268 – 274; Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 240 – 258; Llanque, Demokratisches Denken, S. 114– 118.

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setzungshaftigkeit von Erkennen und Handeln, bewirkte natürlich, dass dieses Spektrum politisch von der Mitte aus nach rechts geöffnet war, auch wenn die feindschaftliche Verachtung des Liberalismus die Akzeptanz bei einzelnen Angehörigen der radikalen Linken nicht völlig ausschloß. Aber das Entscheidende war die grundsätzliche Negation der geschichtlichen Zeit, die Abkehr von Geschichte als dem grundlegenden Ordnungsprinzip des sozialen Daseins. Was war nun die antihistoristische Revolution? Es handelte sich hier um einen Paradigmenwechsel im Verständnis der formenden, Ordnung und Orientierung vermittelnden Grundauffassungen, die die Theoriebildung und Selbstreflexion sowohl in den Geistes- und Kulturwissenschaften als auch in Naturwissenschaften und Sozialtechnologie als auch die außerwissenschaftliche Meinungsbildung über Selbstverständnis und Weltorientierung der Gesellschaft beeinflußten. Dieser Paradigmenwechsel bildete einen Reflex auf die eingangs angedeutete Veränderungswucht der wirtschaftlichen, demographischen und politisch-sozialen Entwicklung im Zuge der Hochindustrialisierung und auf die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg. Er bildete ebenso einen Reflex auf die Einsicht, dass der Entwicklungsprozeß der Industriegesellschaft, das Stampfen der Maschinenwelt, nicht anzuhalten waren, sondern sich unermüdlich fortsetzten. Hier erlaubte der Ausstieg aus dem historistischen Zeitmodell die Konstruktion anderer Bezugssysteme, die es angesichts der irritierenden Gegenwart vielleicht besser vermochten, Sinn und Orientierung ohne Rückbezug auf das Woher, auf die Geschichte, zu vermitteln. Dann würden die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten ganz anders, neuartig, ohne Beschränkung durch einen etablierten Kodex an kulturellen Werten, nutzbar gemacht werden können. Die Abkehr von Geschichtlichkeit und liberalem Entwicklungsdenken paßte mit dieser erwartungsvollen Vorstellung von uneingeschränktem Neugestalten, von Fortschritt ohne den Ballast überkommener Normen und Werte, durchaus zusammen. Wie bereits angedeutet, war besonders wichtige und frühe Kritik am historistischen Zeitmodell und damit am liberalen Fortschrittsgedanken dort anzutreffen, wo der Rekurs auf die Geschichte als Ordnungsmacht des sozialen Daseins mit dem Vorwurf belegt wurde, das relativiere alles und jedes und mache so den Bezug auf das Überzeitliche, das Ewige, das schlechthin Gültige unmöglich: Historismus verhindere Transzendenz. Theologie und Philosophie standen am Anfang.⁶² Karl Barths Buch „Der Römerbrief“ aus dem Jahr 1919 brach radikal mit der liberalen Theologie der historistischen Epoche, wenn es darin hieß, dass mit Gottes Handeln „in der Geschichte eine Aufhebung der Geschichte, im bekannten

 Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber, S. 75.

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Zusammenhang der Dinge eine Zerreißung dieses Zusammenhangs, in der Zeit eine Stillstellung dieser Zeit stattfindet“.⁶³ 1927 erschien Martin Heideggers frühes Hauptwerk „Sein und Zeit“, dessen Titel allein schon das Phänomen des Antihistorismus am knappsten auf den Begriff bringt.⁶⁴ 1930 bezeichnete Heidegger die Geschichte als „Herrschaftsraum einer geschickhaften Irre, der unüberwindlichen Verschränkung von Wahrheit, Unwahrheit und Schein in allem“. Die Geschichte hatte in dieser Beschaffenheit keinen letzten, rettenden Grund mehr über sich oder unter sich, sie hing im „Abgrund“.⁶⁵ Wenn man das in die Sprache des liberalen Denkens überträgt, hieß diese Aussage, dass die Geschichte grundsätzlich keine zielklare Zukunft in sich schließe, dass es ein optimistisches Verständnis von Zukunftsentwicklung und Fortschritt nicht geben könne. Das ließ den Menschen angewiesen sein auf das „Sein“, auf die Existenz in der „Zeit“. Parallel zu Heidegger äußerte sich Karl Jaspers 1931 in seinem Buch über „Die geistige Situation der Zeit“, wo er die „Spannung von technischer Massenordnung und menschlicher Daseinswelt“ beschwor und „Technik und Apparat als Bedingungen des Massendaseins“ pessimistisch kommentierte.⁶⁶ Diese Formulierung, „Technik und Apparat als Bedingungen des Massendaseins“, spiegelt recht genau die Aussage des berühmten Films „Metropolis“ von Fritz Lang aus dem Jahr 1927 und weist voraus auf Charly Chaplins „Moderne Zeiten“ von 1936. Im Spannungsbogen von Barth und Heidegger zu Jaspers, Lang und Chaplin zeigt sich, dass die kulturkritische Auseinandersetzung mit der fremdbestimmten Macht der „Maschinenwelt“ einerseits und dem antihistoristischen Diskurs andererseits bis in die dreißiger Jahre hinein miteinander verwoben waren und blieben. Die antihistoristische Revolution äußerte sich in den zwanziger Jahren nicht nur in der Theologie und Philosophie, sondern auch in der entstehenden Soziologie, in der Nationalökonomie und der Staatsrechtslehre.⁶⁷ Hier, bei den Staatsrechtlern, kam es zu intensiven Auseinandersetzungen zwischen dem positivistischen, in der Epoche des Historismus verankerten Rechtsdenken und der

 Karl Barth, Der Römerbrief. 2. Aufl. München 1921, S. 78.Vgl. dazu auch Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden, S. 228 u. Anm. 39.  Martin Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe. Bd. 1/2. Frankfurt am Main 1977; vgl. Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Marx bis Hans Jonas. Berlin u. a. 1991, S. 200 – 203.  Alexander Schwan, Zeitgenössische Philosophie und Theologie in ihrem Verhältnis zur Weimarer Republik, in: Erdmann, Karl Dietrich/Schulze, Hagen (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Düsseldorf 1980, S. 259 – 285, hier S. 269.  Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit. Berlin u. a. 1931, S. 30 ff.  Vgl. Knut Wolfgang Nörr/Bertram Schefold/Friedrich Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1994.

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neuen Strömung des Antipositivismus, der es darum ging, das Recht durch „die Einführung längst überwunden geglaubter naturrechtlicher Denkweisen“ im Transzendenten zu verankern und an Wertphilosophien zu binden.⁶⁸ Dieser Strang der antipositivistischen Umwendung in der Weimarer Staatsrechtslehre führte nach dem Zweiten Weltkrieg zur Orientierung am Naturrecht der katholischen oder aufklärerischen Spielart. Die Abwendung vom positiven Recht als konkreter Schöpfung des Menschen und Hinwendung zu einer objektiv aufgegebenen Ordnung konnte indessen auch in eine andere Richtung zielen,⁶⁹ in der es keine Wertbindung an ein Naturrecht gab,⁷⁰ sondern die Fixierung auf eine ideologisch postulierte Gegebenheit sowohl außerhalb eines geschichtlichen Bezuges als auch außerhalb transzendenter Wertbezüge. Wer von dieser Grundlage her Volk oder Rasse oder Raum zu Kategorien juristischer Begriffsbildung machte, wanderte aus dem Rechtsdenken der bürgerlichen und nationalstaatlichen Welt des 19. Jahrhunderts aus, verabschiedete sich aus dem europäischen Bezug der Rechtswissenschaft und hatte so einen einschränkungslosen Freiraum für eine neue Gestaltung von Recht und Ordnung geschaffen. Im Konstrukt der „völkischen Gesamtordnung“ zeichnete sich die Normativität des Ideologischen ab.⁷¹ Es war kein Zufall, dass die jungen, zum Teil hochbefähigten Juristen, die schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme in den Dienst der SS traten oder sich sogleich im Jahr 1933 ins System der NS-Herrschaft einzugliedern bestrebt waren, aus dieser Denkschule der Rechtswissenschaft kamen. Es war auch kein Zufall, dass sie sich zusammen mit Akademikern aus anderen, auch technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen als geistige Avantgarde verstanden, der es aufgegeben war, den Eintritt in eine neue Zeit, in einen neuen

 Wolfgang März, Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: Ibid., S. 75 – 133, hier S. 130; vgl. Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre. Göttingen 1989, S. 37– 59, S. 152– 156 und passim; für die weitere Perspektive siehe Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970. München 2004, S. 34– 56.  Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich. München 1994.  Unter Bezug auf die normative Bedeutung der „realen Lebenswirklichkeit“ betont Rüthers, Recht, S. 64 f., dass die zugrundeliegende Idee gleichsam „neo-naturrechtliche Elemente“ hatte: „Das in der Lebensordnung liegende, verbindliche Recht geht der geschriebenen Rechtsnorm voraus.“  Ibid., S. 65.

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Seinszustand vorzubereiten.⁷² In den Worten von Carl Schmitt hieß das im Frühjahr 1933: „Überall schafft der Nationalsozialismus eine andere Ordnung, von der NSDAP angefangen bis zu den zahlreichen neuen Ordnungen, die wir vor uns wachsen sehen: alle diese Ordnungen bringen ihr inneres Recht mit sich. Unser Streben hat die Richtung lebendigen Wachstums auf seiner Seite und unsere neue Ordnung kommt aus uns selber.“⁷³ Die parallele Aussage Heideggers bei der Übernahme des Rektorats in Freiburg im Mai 1933 lautete: „Sich selbst das Gesetz geben, ist höchste Freiheit.“⁷⁴ Waren also die Antihistoristen Nationalsozialisten? Nein, nicht unbedingt. Waren umgekehrt die Nationalsozialisten Antihistoristen? Ja, überwiegend, zumal die Intellektuellen unter ihnen, die aus dem völkischen und/oder lebensphilosophischen Umfeld kamen. Zwischen Wissenschaft und Kunst changierend darf man den George-Kreis als die wohl wichtigste, klar abgrenzbare Gruppierung von Intellektuellen in unserem Feld der antihistoristischen und illiberalen Erschaffung neuer Weltbilder ansehen.⁷⁵ Stefan George, der „Meister“, und seine „Jünger“ verstanden sich als geistige Elite schlechthin, als aristokratische Avantgarde bei der Überwindung der bürgerlich liberalen Welt der Vergangenheit. Der George-Kreis frönte einem artifiziellen und antirationalen Intellektualismus. Die Orientierung an der großen Führerpersönlichkeit, die über oder außerhalb der Zeiten stand, prägte das Weltbild. Sie fand einen besonders prägnanten Ausdruck in der Biographie von Ernst Kantorowicz über den Stauferkaiser Friedrich II.⁷⁶ Sie disponierte auch den

 Vgl. Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Bajohr, Frank/Joh, Werner/Lohalm, Uwe (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Hamburg 1991, S. 115 – 144; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 – 1989. Bonn 1996, S. 51– 69, S. 92– 100; vgl. auch Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002; Jens Banach, Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936 – 1945. Paderborn u. a. 1998.  Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5 – 40, hier S. 16.  Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg im Breisgau am 27. Mai 1933. Breslau 1933, S. 14 f.  Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995.  Otto Gerhard Oexle, Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ „Kaiser Friedrich der Zweite“ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 163 – 215.

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jungen Claus Schenk von Stauffenberg, der zusammen mit seinen Brüdern dem George-Kreis angehörte, 1933 an den Beginn eines „Dritten Reichs“ zu glauben, an den Eintritt Deutschlands in ein ewiges Morgen und den endgültigen Staat.⁷⁷ Die Indifferenz gegenüber geschichtlicher Voraussetzungshaftigkeit von Erkennen und Handeln prägte schon vor dem Übergang von der Weimarer Republik in den NS-Staat die Orientierung und das Selbstverständnis unter Akademikern der jüngeren Generation, insbesondere bei denen, die nach 1900 geboren worden waren. Neue interdisziplinäre Fächer wie die Bevölkerungswissenschaft mit ihren medizinischen oder sozialtechnischen Teildisziplinen oder die agrar- und industriewirtschaftliche Raumplanung konzipierten ihre Arbeit in geschichtsfreien Bezügen.⁷⁸ Sie gestalteten mit Enthusiasmus, auch mit Fanatismus an einer neuen und, wenn sie ideologisch argumentierten, „ewigen“ Ordnung. Sie waren nicht per se amoralisch, aber sie waren infolge der Preisgabe historischer Weltorientierung disponiert für amoralisches Handeln, soweit sie keinen Halt fanden in humanen Wertbezügen der europäischen christlichen oder aufklärerischen Tradition. Die antihistoristische Revolution im geistigen Klima der zwanziger Jahre erweist sich mithin als eine der Vorbedingungen für die Bereitschaft einer hohen Anzahl von überwiegend jüngeren Intellektuellen, die Machtübernahme des Nationalsozialismus zu begrüßen und an die NS-Herrschaft große Erwartungen zu knüpfen. Die NSDAP profitierte ebenso sehr davon, wie sie in der Breite der Gesellschaft von den Folgen der Wirtschafts- und Staatskrise seit 1930 profitierte. Die Herrschaftslegitimation nach der Machtübernahme, die propagierte Vorstellung, am Beginn einer neuen Zeit zu stehen, baute auf dem Fundament des antihistoristischen Denkens auf. Die nationalsozialistische Vision des „Dritten Reichs“ meinte ein heilsgeschichtlich vorgezeichnetes und unmittelbar bevorstehendes, erlösendes Reich der Zukunft, mit dem die Geschichte zum Abschluß kommen würde.⁷⁹ In diesem visionären Rahmen konnte antihistoristisches Denken in Handeln übersetzt werden. Das erlösende Reich der Zukunft sollte erreicht werden durch eine agonale und endgültige Konfrontation mit dem ideologisch konstruierten Feind als dem Bösen schlechthin. Zur Begründung dessen diente die Rassentheorie, die für den Nationalsozialismus gewissermaßen den „Schlüssel zur Weltgeschichte“ bilde-

 Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992, S. 61– 78 und passim.  Raphael, Ordnungsdenken; vgl. Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formation, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002.  Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin u. a. 1998, S. 156 – 160.

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te.⁸⁰ An diesem Punkt gaben sich die antihistoristischen Intellektuellen gleich welcher Profession einem umfassend amoralischen Handeln anheim, wenn sie sich nicht früh genug vom Nationalsozialismus abwandten. Blieben sie eingebunden, dann sog die Dynamik des Systems sie in sich hinein. 1940 hieß es in Goebbels’ Wochenzeitung „Das Reich“: „Das Dritte Reich löste das Zeitalter des Liberalismus ab.“⁸¹ Das war eine der bündigsten Erklärungen für die Beseitigung tradierter Welt- und Wertorientierungen und für die einschränkungslose Erschaffung neuer Ordnungen.⁸² Der Nationalsozialismus stellte der Intelligenzschicht des Deutschen Reichs ein weites, offenes Feld zur Verfügung, auf dem sie selbständig ihrem Gestaltungswillen freien Lauf lassen konnte. Auf diesem Feld gab es nur ganz wenige axiomatische Fixpunkte: Rasse, Judenfeindschaft, Volksgemeinschaft, Führertum. Die das Feld bestellten, taten es überwiegend freiwillig und meist mit Entschiedenheit. Das ist einer der Gründe dafür, warum viele von ihnen nach 1945 nicht einsehen wollten, persönlich geirrt zu haben und zu Mitschuldigen, gar zu Verbrechern geworden zu sein.

4. Läßt sich diese Interpretation, wie sie bis hierher ausgeführt wurde, für das Verständnis des 20. Jahrhunderts über die Schwelle von 1945 hinaus nutzbar machen? Eröffnet sie eine Perspektive auf den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte nach dem Untergang des Nationalsozialismus? Die Orientierungsmuster, die ich beschrieben habe, spielten nach dem Krieg keine formgebende Rolle im institutionellen Wiederaufbau mehr. Aber es ist schwer vorstellbar, dass sie völlig verschwunden waren. Ob und wann sie vergingen, bedarf künftiger Forschung. Ich formuliere mit dem Blick auf die westdeutsche Entwicklung drei Thesen. (1) Die NS-Herrschaft, die Vernichtungspotenz des Regimes und die Zerstörungen des Krieges hatten die in der Breite der deutschen Gesellschaft angelegte Erwartung an eine dauerhafte Ordnung, an Stabilität und den Wiedergewinn

 Karsten Fischer, „Systemzeit“ und Weltgeschichte. Zum Motiv der Epochenwende in der NSIdeologie, in: Fischer, Karsten (Hrsg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende. Frankfurt am Main 1999, S. 184– 202, Zitat S. 196.  Zit. n. Schmitz-Berning, Vokabular, S. 160.  Zur Auflösung der Zeitdimension bei Hitler vgl. dessen Rede in Detmold vom 4. Januar 1933: „Es ist letzten Endes gleichgültig, wie viele Prozent des deutschen Volkes Geschichte machen. Wesentlich ist nur, dass die letzten, die in Deutschland Geschichte machen, wir sind.“ Zit. n. Max Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932 bis 1945. Bd. 1/1. 2. Aufl. München 1965, S. 176.

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nationaler Größe nachhaltig beseitigt. Das Wissen um die deutsche Schuld am Krieg, um den Völkermord an den Juden – auch wenn dessen Ausmaß in den frühen Nachkriegsprozessen erst ahnungsweise erkennbar wurde – und das Wissen um die eigene, individuelle wie kollektive, Zustimmung zum Nationalsozialismus bewirkten eine tiefe Zäsur. Der Grundimpuls der sogenannten „Stunde Null“ währte zwar nur kurz, aber das betretene Schweigen hielt lange vor. Wertorientierungen aus dem Umfeld antihistoristischen Denkens blieben nicht nur „in der Sicherheit des Schweigens“, sondern durchaus auch öffentlich im Diskurs der Intellektuellen präsent.⁸³ Ihr Gewicht in den Geistes- und Sozialwissenschaften über die Mitte der sechziger Jahre hinaus dürfte spürbar gewesen sein. Im geistigen Klima der jungen Bundesrepublik mußten sie sich jedoch einerseits gegen die Einflüsse angloatlantischer Orientierungen und andererseits gegen die Auffassungen eines „abendländischen“ oder sonstwie „Dritten Weges“ behaupten.⁸⁴ Nach ihrer Beharrungskraft und ihrer Rolle in den Meinungskonjunkturen der Nachkriegsgeschichte bis 1989 ist zusammenhängend noch nicht gefragt worden. (2) Die politische Neuordnung lag auf deutscher Seite in der Verantwortung von Persönlichkeiten, die durch die antihistoristische Revolution nicht mitgerissen worden waren und in der Weimarer Republik zur parlamentarisch-demokratischen Minderheit der loyalen Republikaner gehört hatten. Sie waren in der Lage, an den noch europäisch definierten Maßstäben der Tradition von 1848 anzuknüpfen, ganz gleich, ob sie dem Liberalismus nah oder fern standen. Das galt für Kurt Schumacher, der als demokratischer Sozialist den Kapitalismus bekämpfte, es galt für Konrad Adenauer, der als Katholik nur wenige Verbindungen zu liberalen Positionen aufwies, aber als marktwirtschaftlich gesinnter Bürger doch durchaus aufgeschlossen war. Theodor Heuss, der Mann des politischen Liberalismus, fand in der Bundesrepublik seine Rolle als Kulturbürger, und er personifizierte damit einen Kontinuitätsstrang vom liberalen Kulturbürgertum der Jahrhundertwende – Max Weber, Ernst Troeltsch, Friedrich Naumann, der sein Lehrer war – über die Vernunftrepublikaner der Weimarer Zeit bis in die Bundesrepublik. Die Führungsriege der Nachkriegspolitik war nicht nur durch Distanz oder Gegnerschaft zum Nationalsozialismus ausgewiesen, sondern sie ver-

 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 1993.  Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung 1920 – 1970. München 2004; Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München 1999; Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955. Hamburg 1974.

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körperte die deutsche Tradition der parlamentarischen Demokratie. Für sie war es selbstverständlich, den historischen Prozeß als eine kontinuierliche Entwicklung aufzufassen, und das schloß ein positives Verständnis von Fortschritt und Geschichtlichkeit ein. Sie repräsentierten in den Anfangsjahren der zweiten Republik den status quo ante und gewährleisteten so, die parlamentarisch-demokratische Ordnung institutionell zu stabilisieren. (3) Die Verkörperung des status quo ante implizierte die Auffassung, dass vor 1933 in den Grundzügen dieselbe Ordnung vorhanden gewesen sei, wie man sie nach 1948/49 mit Hilfe der westlichen Besatzungsmächte besser und umsichtiger wieder aufzubauen versuchte. Das Scheitern der Weimarer Republik wurde als Scheitern des politischen Systems, als Scheitern der parlamentarischen Demokratie, gesehen. Das geistige Klima und die soziokulturelle Atmosphäre in den zwanziger Jahren wurden darüber ignoriert. Gegen diese Sicht kamen im Verlauf der fünfziger Jahre Argumente und Interpretationen in Umlauf, die das künftige Selbstverständnis der westdeutschen Gesellschaft zu beeinflussen beanspruchten und in der Reformdiskussion vom Ende der fünfziger Jahre bis zum Ende der sechziger Jahre auch zum Durchbruch gelangten. Sie zielten auf etwas deutlich anderes. Nicht so sehr der Nationalsozialismus wurde kritisch analysiert, denn der war ohnehin diskreditiert. Vielmehr entstand eine intensive Diskussion über die Weimarer Zeit, teils auch über die Wilhelminische Ära, und deren Wertordnungen wurden einer scharfen Kritik unterzogen.⁸⁵ Sie wurden als Antithese zu einer Werteordnung hingestellt, die erforderlich sein würde, um der Gesellschaft der zweiten Republik eine „Zukunft“ zu ermöglichen und sie zu einem überzeugten Partner in der westlichen Wertegemeinschaft der Nachkriegszeit zu machen. Hier ging es um die bewußte, kritische Überwindung des antihistoristischen Paradigmas als conditio sine qua non für die ideelle Westintegration der Bundesrepublik. Die Protagonisten in diesem Kontext waren Emigranten und Remigranten, sozialistische und liberale Intellektuelle aus Deutschland, England, Frankreich, Italien und den USA. Sie alle waren Zeitgenossen der antihistoristischen Revolution, Gegner dieses Denkens und Opfer von dessen Wirkungen. Der Durchbruch ihrer Auffassungen, eines angloatlantisch geprägten sozialen Liberalismus erfolgte in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren.⁸⁶ Die wichtige Gegenbewegung jener Zeit gegen die sozialkulturelle Entwicklung in der Bundesrepublik, die Außerparlamentarische Opposition und Studentenbewegung im  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band S. 357– 391.  Vgl. Claus-Dieter Krohn, Emigranten und die „Westernisierung“ der deutschen Gesellschaft nach 1945, in: Krohn, Claus-Dieter/Schumacher, Martin (Hrsg.), Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Neuordnung in Deutschland nach 1945. Düsseldorf 2000, S. 9 – 31.

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Umfeld von „1968“, dürfte, ungeachtet ihrer ideologischen Feindschaft gegen den westlichen sozialen Liberalismus des „Establishment“, ebenfalls zu den Kräften zu zählen sein, die an der Überwindung des dominierenden Denkstils der Zwischenkriegszeit in der Nachkriegsgesellschaft Anteil hatte.

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Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik „Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt“, schrieb Sigmund Freud im Frühjahr 1915. In seinem Essay über die „Enttäuschung des Krieges“ betonte er, dass dieser Krieg „alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern“ zerreiße und eine Erbitterung zu hinterlassen drohe, „welche eine Wiederanknüpfung für lange Zeit unmöglich machen wird“.¹ Nur ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn formulierte Freud hier erste Thesen über die sozialpsychologischen Gründe, warum der Krieg nicht nur die Soldaten an der Front verrohe, sondern auch als Ausdruck der Verrohung des Staats in den beteiligten Ländern verstanden werden müsse. Unter dem Firnis der europäischen Zivilisation zeige sich, dass Gewalttätigkeit und Zerstörungswille Bestandteile der menschlichen, individuellen wie kollektiven, Triebstruktur seien und mithin einen Grundsachverhalt kultureller Wirklichkeit auch in der scheinbar so fortschrittlichen, rationalen Moderne bildeten. Freud weitete seine Argumentation dahin aus, dass auch nach dem Krieg der kulturelle Zusammenhang zwischen den Krieg führenden Nationen zerrissen bleiben werde. Er beschrieb damit sehr früh einen Problemkomplex, der in der europäischen beziehungsweise deutsch-österreichischen Entwicklung der Zwischenkriegszeit eminent wichtig werden würde: den Zusammenhang von Gewaltbereitschaft sowohl in konkreten als auch sublimierten Erscheinungsformen einerseits und Abschottung des nationalen Ordnungssystems gegen das der Kriegsgegner andererseits. Gewaltakzeptanz hier, Selbstisolation dort, in beidem sah Freud Strukturelemente des zukünftigen Kollektivbewusstseins der Gesellschaft, die aus diesem Krieg hervorgehen würde. Es gibt wenige Diagnosen, die so hellsichtig, kühl und rational das Kommende zu umschreiben und zu begründen versuchten. Überträgt man die hier diagnostizierten Strukturelemente künftiger Sozialkultur in die Sprachmuster des nationalen Lagers im Deutschland der Zwischenkriegszeit, begegnet uns sogleich die Beschwörung des „Heldischen“ und des „Deutschtums“. Das Konstrukt des „heroischen“, oft genug „heroischtragischen“, Menschen brachte eine gleichermaßen kulturpessimistische wie aggressive Reaktion auf die Erfahrung der Industriemoderne und des Maschi-

 Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Essay 1. Die Enttäuschung des Krieges, in: Freud, Sigmund, Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Studienausgabe. Bd. 9. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main 1974 (zuerst 1915), S. 33 – 48, hier S. 35, 38. https://doi.org/10.1515/9783110633870-007

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nenkriegs zum Ausdruck.² Das „Deutschtum“ beschwor die deutsche „Volksgemeinschaft“ und sah sie vor die schicksalhafte Aufgabe gewiesen, „den Feinden“ zu wehren. Aus der „Welt von Feinden“, welche die deutsche Propaganda bis zur Auslösung des Ersten Weltkriegs beschworen und herbeigeredet hatte, waren im Verlauf des Krieges Feindbeschreibungen umfassender Art entstanden. Sie bezeichneten jetzt, nach 1918, „den Westen“, „den Bolschewismus“ und „die Juden“, woraus sich außenpolitisch wie innergesellschaftlich eine doppelte Abschottung ergab. Konkret gegen die westlichen Siegermächte und den Versailler Vertrag gerichtet sowie gegen Russland und die revolutionäre Herrschaft der Bolschewiki, zielten sie im übertragenen Sinn auf das politische und sozialökonomische Ordnungssystem der westlichen Länder – Individualismus, Pluralismus, Kapitalismus und Demokratie – und auf das Ordnungsmodell des Kommunismus mit seiner radikalen Überwindung von Individualität und Privateigentum. Im Feindbild „des Juden“ floss beides zusammen. Die Dolchstoßlegende bündelte es zu einer aggressiven ideologischen Strategie.³ Die darin spürbare Hinnahme von Gewalt wurde zum Kennzeichen der Zwischenkriegszeit.⁴ Sie äußerte sich nicht nur handgreiflich im Alltag der Republik, sondern auch gedanklich in vielfältigen Anfeindungen der demokratischen Verfassung von Staat und Gesellschaft, die als westlich, liberalistisch, individualistisch oder auch sozialistisch abgelehnt wurde. In der Frontstellung gegen den liberalen Westen (und umso mehr gegen den kommunistischen Osten) kristallisierten sich scharfe Auseinandersetzungen über die Herausforderungen und Gefahren der industriegesellschaftlichen Moderne. Deutschlands Selbstisolation  „Die Beschwörung des Heroischen verweist auf ein europaweites, aber wie es scheint in Deutschland besonders intensives Gefühl, am Ende einer Epoche zu stehen“ (Wolfgang Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewußtseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Hardtwig, Wolfgang, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters. Göttingen 2005, S. 77– 102, hier S. 87); vgl. als zeitgenössisches Dokument, auch in der Kontrastierung Deutschlands und der Kriegsgegner, den kurzen Text von Hans Schwarz, Die Wiedergeburt des heroischen Menschen. Eine Langemarck-Rede vor der Greifswalder Studentenschaft am 11. November 1928. Berlin 1930. Zur Einordnung des Heldenkults siehe René Schilling, „Kriegshelden“ Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1815 – 1945. Paderborn u. a. 2002, S. 282 ff., S. 289 – 315; Gunther Mai, „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900 – 1925), in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. München u. a. 1994, S. 583 – 602; Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945. Opladen 1996.  Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914– 1933. Düsseldorf 2003.  Hans Joas, Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Weilerswist 2000.

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infolge des Krieges führte zur Gegenwehr gegen die als nicht „deutsch“ empfundenen Spielarten der Moderne. Fast zwangsläufig entstanden daraus politischideelle Suchbewegungen mit der Vision einer antimodernen Moderne. Sie brauchten keineswegs mit dem europäischen Faschismus identisch zu sein, geschweige denn mit dem Nationalsozialismus zu harmonieren, sondern konnten durchaus in Opposition dazu verharren.⁵ Diese Suchbewegungen in der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg sind nicht leicht zu klassifizieren. Sie beherrschten das geistige Klima und prägten die Wissenschaften wie die öffentliche Meinung. Sie bestimmten auch den religiösen Diskurs. Um zeittypische Ansichten aus konfessionellen Milieus vor dem Hintergrund der Politik- und Gesellschaftsverfassung der Weimarer Republik und der Jahre 1933/34 darlegen zu können, werden in einem ersten Schritt die Ausgangsbedingungen staatsbürgerlicher Existenz und Bewusstseinsbildung nach der Niederlage von 1918 umrissen. Die lange Zeit etablierten, aber im Rahmen unserer Fragestellung blickverengenden Stereotypen der älteren Weimar-Interpretation wie „Republik ohne Republikaner“ oder „erste deutsche Demokratie“ werden der politisch-ideellen Disposition der deutschen Gesellschaft in den zwanziger Jahren nicht gerecht, weil sie an Wertorientierungen aus der Zeit nach 1945 gebunden sind und ideelle Prägungen in der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit gar nicht erfassen.⁶ Gerade Religion und Konfession entziehen sich der Analyse, wenn man ihnen mit dem Schema pro- oder antidemokratisch, „rechts“ oder „links“, pro- oder antinationalsozialistisch gerecht zu werden versucht (I). Dementsprechend wird es anschließend darum gehen, die Leitbegriffe im politischen Feld zu skizzieren und die Kategorien der Selbstverständigung in der deutschen Gesellschaft der zwanziger und frühen dreißiger Jahre zu erörtern. Hier werden die intellektuellen Suchbewegungen nach einer neuen, anderen Moderne als der zeitgenössischen sichtbar, die abseits der politischen Lagerbildung oder theologischer Divergenzen verliefen (II). Vor diesem Hintergrund lässt sich dann die politisch-ideologische Entwicklung von Theologie, Kirchen und Konfessionen in der Republik und beim Übergang in den Führerstaat genauer erklären (III).

 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München u. a. 1995, S. 143 – 183.  Vgl. den nach wie vor wegweisenden Forschungsbericht von Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik. 6. überarbeitete Aufl. München 2002, der die Entstehung solcher Stereotype aus den Bedingungen der frühen Bundesrepublik – ob „Bonn“ vielleicht „Weimar“ sei – luzide erklärt. Die Geschichte der „ersten deutschen Demokratie“ erzählt Heinrich August Winkler, Weimar 1918 – 1933. München 1993.

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II. Suchbewegungen in der Moderne

1. Krisenerfahrung und Integrationsprobleme im Übergang zur Republik Der Krieg und das Kriegsende blieben in Deutschland unverstanden. Die falsche Behauptung der politischen und militärischen Führung, dass das Reich in einem Verteidigungskrieg stehe gegen Feinde ringsum, hatte sich im kollektiven Bewusstsein tief eingewurzelt. Unverstanden blieb ebenso, dass der Krieg nicht zuletzt als Kulturkonflikt zwischen den rivalisierenden Ordnungssystemen des europäisch-atlantischen Westens und des deutschen Kulturkreises geführt worden war. Aus diesem Unverständnis ergab sich die starke Zunahme des Antirationalismus in den Neuordnungsdebatten nach 1918 als Gegenbewegung gegen die rationale Moderne aus der Tradition der europäischen Aufklärung. Aus dem Bedürfnis, gültige Weltbilder für die Gegenwart zu entwerfen, konnte dieses Bemühen mythische und utopische Züge annehmen. Es konnte sich jedoch auch in einer rückwärtsgewandten affirmativen Haltung zur politischen und sozialen Ordnung vor 1918 äußern, wie das insbesondere für den „Thron und Altar“-Protestantismus galt; dort wurden traditionsgemäß die obrigkeitliche Herrschaft und das Numinose oft bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander geschoben. Doch die Neigung zu nostalgischer Rückwendung war nach 1918 auch im Katholizismus anzutreffen. Angesichts des Verlusts der „Welt von gestern“,⁷ angesichts der Erfahrung von Niederlage und Erniedrigung durch die Sieger breitete sich eine trotzige Haltung kultureller Selbstisolation aus, die mit Blick auf die intellektuellen Professionen als „Flucht in den Käfig“ beschrieben worden ist.⁸ In diesem geistigen Klima war die Mehrzahl der Pfarrer und Kleriker bemüht, Trost und Halt anzubieten, indem sie sich mit der unverstandenen Wirklichkeit auseinandersetzten und nach Standortbestimmung in der Gegenwart suchten. Die Sprache ihrer Profession ermöglichte es ihnen, ihre Einsichten und Meinungen auf die Ebene der Transzendenz zu heben. Als Ausdruck des vorherrschenden Bedürfnisses, in der unklaren Welt des Hier und Heute einen Orientierungsrahmen zu finden, brauchten diese Suchbewegungen keineswegs in dieselbe kirchlichtheologische oder politisch-ideologische Richtung zu gehen. Gemeinsamkeiten gab es dennoch. Sie sind als Strukturmuster des religiösen Diskurses der Zwischenkriegszeit aufzufassen.

 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. 34. Aufl. Frankfurt am Main 2003 (zuerst 1942).  Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig. Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900 – 1960, in: Bruch, Rüdiger vom/Kaderas, Brigitte (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2002, S. 52– 59.

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Die politischen Grundentscheidungen nach Kriegsende und die „Basiskompromisse“⁹ vom Herbst 1918 wirkten sich im Protestantismus und Katholizismus teilweise unterschiedlich aus, auf Dauer überwog jedoch das Verbindende. Für den deutschen Protestantismus bedeutete der Zerfall der Monarchie das Ende seiner bisherigen Geschichte. Es ging nicht nur darum, dass in Preußen die spezifische Nähe der Kirche zum König und Kaiser gewissermaßen über Nacht weggewischt war. Die „namenlose Trauer“, die aus den ostelbischen Pfarr- und Gutshäusern berichtet wurde,¹⁰ erfasste neben der Kirche auch den Dienstadel und damit dasjenige Sozialmilieu, welches für die wilhelminische Militärmonarchie konstitutiv gewesen war. Im Protestantismus kamen am 9. November 1918 zwei Faktoren zusammen: Zum einen brach das sozialmoralische System abrupt und völlig unerwartet zusammen, innerhalb dessen sich striktes Verharren im Gefüge von Obrigkeitsstaat und Untertanenverband als gottgegebene Ordnung legitimiert hatte. Zum anderen aber gab es einen Riss im Selbstverständnis des deutschen Protestantismus überall dort, wo er lutherisch geprägt war, und das hieß, dass neue theologische Begründungen für den künftigen Stand der Kirche in Staat und Gesellschaft erforderlich wurden. Im Katholizismus galt beides nicht, aber die katholische Kirche war eine Institution, die sich theologisch und kirchenamtlich an Modellen politischer Herrschaft mit monarchischer oder autokratischer Spitze ausrichtete. Der Übergang zur parlamentarischen Demokratie war für die katholische Kirche in Deutschland deshalb nicht leichter zu bewerkstelligen als für die evangelische. Doch der Katholizismus verfügte über die Zentrumspartei, die 1917– 19 mit den Sozialdemokraten die Parlamentarisierung der Reichsverfassung vorantrieb. Der Protestantismus gebot immerhin im linksliberalen Lager über manche einflussreichen bürgerlichen Fürsprecher einer parlamentarischen Verfassung im demokratischen Staat, auch wenn ihre Anzahl gering blieb.¹¹

 Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. 2. Aufl. Berlin u. a. 1985, S. 68 – 96.  Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. 2. Aufl. Göttingen 1988, S. 18; Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. 3. Aufl. Berlin 2003, S. 228 – 246, hier S. 239.  Karsten Ruppert, Im Dienst am Staat von Weimar. Das Zentrum als regierende Partei in der Weimarer Demokratie 1923 – 1930. Düsseldorf 1992; Werner Stephan, Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918 – 1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei. Göttingen 1973; Herbert Daring, Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik. Meisenheim am Glan 1975; André Gisselbrecht, Le sort tragique de „seniors“ de Weimar. Les „Républicains par raison“, in: Gangl, Manfred/Roussel, Hélène (Hrsg.), Les Intellectuels et l’État sous la République de Weimar. Rennes 1993, S. 25 – 39.

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II. Suchbewegungen in der Moderne

Die Reichsverfassung kompensierte den Wegfall der Monarchie nicht auf angemessene Weise. Die unglückliche Konstruktion, eine parlamentarische Demokratie zu begründen und im gleichen Zug die parlamentarische Regierung zu entmachten, schwächte nicht nur das politische System, sondern mehr noch dessen Ansehen in der Öffentlichkeit.¹² Denn die Weimarer Reichsverfassung stellte die Regierung in die Abhängigkeit vom Präsidenten, den sie aber nicht vom Parlament, sondern unmittelbar vom Volk wählen ließ. Der Reichspräsident besaß somit die Machtfülle eines „Ersatzmonarchen“, ohne dass er den Wegfall der Monarchie atmosphärisch kompensieren konnte. In der politischen Ordnung der Reichsverfassung kamen Unsicherheit und Erfahrungsmangel der Verfassungsgeber zum Ausdruck. Sie alle waren Kinder des Kaiserreichs, kannten nichts anderes als den Kryptoabsolutismus der Bismarck-Verfassung und assoziierten mit Parlamentarismus die macht- und einflusslosen Parteien des Reichstags im Kaiserreich. Vor diesem Hintergrund entwarfen sie eine politische Ordnung aus den unterschiedlichen, letztlich unvereinbaren Komponenten von Parlamentarismus, „Volksgemeinschaft“ und „plebiszitärer Führerherrschaft“.¹³ Eine solche Verfassung bildete keine gute Grundlage für eine funktionierende Demokratie, weil sie die Integration von Gesellschaft und Staat unterband, die in einer repräsentativen Demokratie durch die Regierungsverantwortung der Parteien und die Verantwortlichkeit der Regierung allein dem Parlament gegenüber verankert ist. Den Präsidenten als Gegengewicht gegen das Parlament aufzubauen und direkt vom Volk wählen zu lassen, enthob ihn stattdessen der politischen Kontrolle und schrieb die Trennung zwischen dem obrigkeitlichen Staat und der an repräsentativer politischer Willensbildung gehinderten Bevölkerung aus der Zeit des Kaiserreichs fort.¹⁴ Insofern verwundert es nicht, dass sich auch die Kirchen nur notdürftig in die parlamentarische Republik einordneten. In ihrer Mentalität blieben sie dem neuen Staat fern. Da eine Rückkehr zum alten Regime unmöglich war, entstanden Ordnungsideen und politische Wunschvorstellungen, die auf

 Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1997.  Die einflussreichen Einzelpersönlichkeiten beim Entwurf der Weimarer Reichsverfassung waren Hugo Preuß, auf den die Konstruktion des Reichspräsidenten als Gegengewicht zum Reichstag zurückging, und Max Weber, der die Bezeichnung „plebiszitäre Führerherrschaft“ ins Spiel brachte, um die Distanz zur repräsentativen Parteiendemokratie auszudrücken.Vgl. Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik. Berlin 2000 (zuerst 1955); Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920. 2. Aufl. Tübingen 1974 (zuerst 1959).  Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien. 7. Aufl. Stuttgart u. a. 1979 (zuerst 1964), S. 113 – 151.

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eine „Volksgemeinschaft“ unter christlichen Vorzeichen und charismatische Führerherrschaft hinauslaufen konnten. Ein weiteres Problem stellte das gestörte Nationalempfinden dar. Der Versailler Vertrag schweißte die deutsche Gesellschaft der zwanziger Jahre mehr zusammen, als es der Weltkrieg vermocht hatte. Das Verbot, Deutsch-Österreich dem Reich anzugliedern, enttäuschte im Katholizismus die Anhänger des großdeutschen Gedankens und die Anhänger der konservativen, strikt antimodernen Europaidee des „christlichen Abendlands“.¹⁵ Der Kriegsschuldartikel verletzte zudem Ehrgefühl und Nationalstolz der Besiegten. Er war von den Siegermächten mit der politisch-militärischen Strategie der Reichsleitung vor 1914 begründet worden und kodifizierte die „Alleinschuld“ als zentrales rechtliches Argument der Kriegsgegner Deutschlands, um die Reparationsverpflichtung des Reichs völkerrechtlich zu legitimieren. Die westlichen Ententemächte hatten unter der Vorreiterschaft des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson den Krieg des Westens gegen die Mittelmächte als Kampf für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung geführt. Damit stigmatisierten sie Deutschland als unfreie, von der Militärmonarchie unterdrückte Gesellschaft, was selbst die Befürworter der Parlamentarisierung in der deutschen Öffentlichkeit gegen Wilson aufbrachte.¹⁶ Spätestens mit dem Friedensvertrag desavouierten die Sieger jedoch endgültig ihren propagandistischen Anspruch, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, indem sie den niedergerungenen Gegner, der soeben die Monarchie beiseite geschoben und sich eine demokratische Verfassung gegeben hatte, mit einem Straffrieden belegten. Vor dem Hintergrund der deutschen Kriegspolitik, insbesondere des brutalen Siegfriedens mit Russland im Vertrag von Brest-Litowsk, war die Haltung der Siegermächte durchaus nachvollziehbar. In Deutschland wirkte der Versailler Vertrag gleichwohl als Belastung der Republik und der parlamentarischen Verfassung. Brest-Litowsk war im Protestantismus als ein „von Gott beschlossener, ein wahrer Gottesfriede“ sakralisiert worden,¹⁷ und im Reichstag

 Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920 – 1970). München 2005, S. 25 – 100; Paul Egon Hübinger, Abendland, Christenheit, Europa. Eine Klärung der Begriffe in geschichtlicher Sicht, in: Hübinger, Paul Egon, Ausgewählte Aufsätze und Vorträge. Siegburg 1990, S. 1– 20.  Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge. Von Harnack – Meinecke – Sering – Troeltsch – Hintze. Gotha 1917; Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. Berlin 2000, S. 103 – 191.  Die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung hatte Brest-Litowsk so kommentiert: Der reiche Gott habe den Deutschen von den Russen 800 Lokomotiven, 8000 Eisenbahnwaggons, 2600 Geschütze, 5000 Maschinengewehre und andere wertvolle Dinge gegeben. „Erst als Rußland das alles hergegeben, durfte es nun und mußte es auch Frieden machen. So war es von Gott

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hatte sogar die MSPD der Ratifikation zugestimmt. Bis zum Kriegsende gab es in Deutschland keine Vorstellung davon, dass die deutsche Kriegspolitik Unrecht getan hatte.¹⁸ Der Versailler Vertrag öffnete deshalb revisionistischer Argumentation Tür und Tor. Die fehlende Bereitschaft der politischen und militärischen Führung, Deutschlands Niederlage anzuerkennen und einzugestehen, dass das Reich den Krieg maßgeblich mit herbeigeführt, ihn überdehnt und die Ressourcen rücksichtslos verausgabt hatte, ließ noch im Krieg falsche Behauptungen und Schuldzuweisungen entstehen. Nach dem Zusammenbruch bildete sich daraus die Dolchstoßlegende. Sie füllte die Leerstelle im Bewusstsein der deutschen Gesellschaft, die durch das fehlende Verständnis für die Entwicklung im Krieg und die Bedingungen für den Übergang zur Republik entstanden war. Sie bestätigte die vorhandenen antirepublikanischen Vorurteile in jenen Sozialmilieus, denen Niederlage und Neuordnung das Gefühl von Sicherheit, Status und Bindung genommen hatten. Der grundstürzende Wandel ängstigte die Menschen zumal im konfessionellen Justemilieu, besonders in den evangelischen Ländern, in denen mit dem Verlust des Fürsten als Summus episcopus eine vierhundertjährige Tradition ihr Ende fand. In dieser Atmosphäre der Verwirrung wucherte das Ressentiment. Hier konnte die Dolchstoßlegende ihre Wirkung als Integrationsideologie entfalten, da sie die komplexe Motivstruktur der republikfeindlichen Vorurteile verschleierte, jedoch präzise benannte, wer als Gegner der „Volksgemeinschaft“ zu betrachten war: Juden, Demokraten und Sozialisten.¹⁹ So kamen schon 1918/19 genügend Faktoren zusammen, um die verschiedenen Teilmilieus der wilhelminischen Gesellschaft vor dem Hintergrund ihres gewachsenen Selbstverständnisses auf Distanz zur Weimarer Republik zu bringen. Das galt im Großen und Ganzen auch für den deutschen Protestantismus und Katholizismus. Doch die beiden Konfessionen waren mitnichten Repräsentanten bloßer Rückwärtsgewandtheit, sondern hatten durch das Geflecht an öffentlichen Leitbegriffen und Kategorien des gesellschaftlichen und politischen Denkens teil an den allgemeinen Suchbewegungen der Epoche. Dies gilt zumindest für die

beschlossen, ein wahrer Gottesfriede, entgegen allem, was Menschen planten und wollten“ (zit. nach Barth, Dolchstoßlegenden, S. 167).  Von der völkerrechtswidrigen Kriegführung ganz abgesehen, denn davon erfuhr die deutsche Öffentlichkeit infolge der Pressezensur und öffentlicher Selbstzensur so gut wie nichts. Vgl. John Horne/Alan Cramer, German Atrocities, 1914. A History of Denial. New Haven, CT u. a. 2001; Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2000; Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Wien u. a. 1966.  Barth, Dolchstoßlegenden, S. 301– 463.

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konfessionell durchformten Milieus vom Landadel über das Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bis ins Kleinbürgertum und die kirchlich gebundene Arbeiterschaft. Dass sich hierbei gleichwohl Unterschiede zum sozialdemokratischen und sozialistischen Lager auftaten und eine deutliche Trennlinie markierten, sei an dieser Stelle nur erwähnt, aber nicht näher diskutiert.²⁰

2. Leitbegriffe und Kategorien der politischen Kultur des Antirepublikanismus „National“ versus „politisch“ lautete das Begriffspaar, das in schlagender Einfachheit die Parteinahme für den parlamentarischen Staat verächtlich machte und krasse Ablehnung signalisierte. Es kursierte im nationalen Lager von den alten Konservativen bis zur „Neuen Rechten“ und war im Bürgertum, zumal auch in der jugendlichen Avantgarde und unter Intellektuellen, besonders verbreitet.²¹ Die Figur des „Unpolitischen“, die 1918 von Thomas Mann beschworen worden war, bündelte ein ganzes Spektrum an Kritik und Distanzierung gegenüber der modernen Welt im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert:²² Die plurale Ordnung der modernen Gesellschaft wurde als „mechanistisch“ abgelehnt, widerstreitende Interessen negativ gewertet, Formen der Marktwirtschaft und Ideen eines materiellen Fortschritts in der Figur des „Unpolitischen“ als äußerlich, materialistisch

 Jochen-Christoph Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik. Stuttgart 1981; Heinrich August Winklers dreibändige Geschichte der „Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik“ ignoriert die religiöse oder antireligiöse Dimension der Arbeiterkultur vollständig: Von der Revolution zur Stabilisierung. 2. überarbeitete Aufl. Berlin u. a. 1985; Heinrich August Winklers, Der Schein der Normalität. 2. überarbeitete Aufl. Berlin u. a. 1988; Heinrich August Winklers, Der Weg in die Katastrophe. 2. überarbeitete Aufl. Berlin 1990; vgl. stattdessen das Kapitel über „Religiosität und Kirchen“ bei Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Bonn 1992, S. 747– 780.  Der Terminus „Neue Rechte“ ist der weit besser passende Begriff für das Phänomen, das Armin Mohler als „Konservative Revolution“ bezeichnet hat. Vgl. Axel Schildt, Antworten von rechts auf die Kulturkrise der Jahrhundertwende. Zur Herausbildung und Entwicklung der Ideologie einer „Neuen Rechten“ in der Wilhelminischen Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4, 1995, S. 63 – 87.  Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt am Main 1956 (zuerst 1918), S. 31: „Soviel ist sicher, daß bei einem Zusammenschluß der nationalen Demokratien zu einer europäischen, einer Weltdemokratie von deutschem Wesen nichts übrig bleiben würde.“ – Vgl. Eckart Koester, ,Kultur’ versus ,Zivilisation’. Thomas Manns Kriegspublizistik als weltanschaulichästhetische Standortsuche, in: Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996, S. 249 – 258.

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zurückgewiesen und als Ausdruck bloßer „Zivilisation“ in Form von Konsum und Komfort geschmäht.²³ Bei Kriegsende umschrieb der Begriff „politisch“ die Sozialkultur und das Ordnungssystem der westlichen Länder, die durch die Kriegspropaganda beider Seiten überhaupt erst „den Westen“ als eine zusammengehörige Werteordnung schufen. Davon grenzte sich „das Deutsche“ feindlich ab.²⁴ In den zwanziger Jahren verschärfte sich der Gegensatz zu einer aktiven, programmatischen Verweigerung gegenüber der Politik im pluralistischen Gemeinwesen der modernen Industriegesellschaft, das als „westlich“ denunziert wurde. Die Abwehr galt gesellschaftlicher Differenzierung als einem Grundsachverhalt von demokratischer Ordnung. Sie erfasste damit den Pluralismus als Strukturelement und den Parlamentarismus als Organisationsform der westeuropäisch-atlantischen Gesellschaften. Sie negierte die Geltung liberaler Prinzipien und stellte sich gegen die Massengesellschaft, die im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung entstanden war. Und sie verabscheute den Individualismus als soziales Ordnungsprinzip.²⁵ Als Kampfbegriff war das „Politische“ dazu geeignet, schroffe Abgrenzung vom „Westen“ auszudrücken und feindschaftliche Ablehnung der Weimarer Republik zu signalisieren. Da die Entstehungsbedingungen und die Verfassung des Weimarer Staats eine Annäherung an die parlamentarischen Ordnungen des „Westens“ darstellten und dieser „Westen“ dem Deutschen Reich im Versailler Vertrag einen „Schmachfrieden“ auferlegt hatte, flossen jetzt die kulturkritischen Stereotype des 19. Jahrhunderts mit aktuellem tagespolitischen Interesse zusammen. Parteinahme für die Republik wurde mit dem Begriff des „Politischen“ als Gegnerschaft zu Nation und Volk denunziert.Wer „politisch“ war, konnte nicht „national“ sein. Das betont „nationale“ Lager umfasste mehrere Parteien – DNVP, DVP und Splittergruppen –, soziale Milieus vom Adel bis zum Mittelstand, konfessionelle Milieus in den Städten und beim Protestantismus auch auf dem Land. Im „nationalen Lager“ waren somit die verschiedenen Schattierungen konservativer, völkischer und radikalnationalistischer Positionen versammelt. Hier wurde die „Volksgemeinschaft“ als „organisch“ beschworen und gegen die kalte „mechanistische“ Ordnung westlicher Markt- und Individualgesellschaft abgegrenzt. In der „Volksgemeinschaft“ erhielt das Unzivile einen großen Wert: Das

 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Bd. 1. Arbeitswelt und Bürgergeist. 3. Aufl. München 1993, S. 816 – 824.  Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 5 – 34.  Christian Schwaabe, Die deutsche Modernitätskrise. Politische Kultur und Mentalität von der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung. München 2005, S. 243 – 266.

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„Heldische“, „Heroische“, die kampfwillige Männlichkeit adelten die Gewaltbereitschaft, die aus dem Maschinenkrieg entstanden war.²⁶ Freikorps und Jugendbünde beschworen Gemeinschaft und lehnten zivile Bürgerlichkeit ab.²⁷ Gegen das „Politische“ zu reden, signalisierte die umfassende Negation liberaler, individualistischer Werte, die mit den Etiketten „Westen“ und „Demokratie“ gewissermaßen aus dem „Volkskörper“ ausgeschieden werden sollten. Die „nationale“ Rechte marschierte auf, nicht nur gegen die Linke, sondern gegen das gesamte System der Demokratie, Zivilität und individuellen Selbstbestimmung.²⁸ Über diese Leitbegriffe des politischen Kampfs in der Weimarer Republik wiesen die Kategorien hinaus, die Weltbilder formatierten und Handlungsmuster für die Zukunft in sich schlossen. Auch sie waren nicht auf die Zwischenkriegszeit beschränkt, sondern bildeten ein Charakteristikum der Epoche seit etwa 1900 bis zur Jahrhundertmitte, weil sie Reaktionen auf den Einbruch der Moderne darstellten. Durch die Erfahrung des Weltkriegs als Kulturbruch wurden sie jedoch entschieden vertieft und systematisiert. Anders als die politischen Leitbegriffe der Republikfeindschaft und Antiwestlichkeit, die aus der deutschen politischen Kultur hervorgegangen waren und auf sie beschränkt blieben, handelte es sich hier aber um Vorstellungen in den Industrieländern der westlichen Welt insgesamt.²⁹ Doch im Meinungsklima Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg durchliefen diese Kategorien ideeller Selbstverständigung der Gesellschaft eine scharfe Radikalisierung,³⁰ die sich insbesondere in Entwürfen neuer sozialer „Ordnung“ und in einem veränderten Verständnis von „Zeit“ niederschlug. Das Bedürfnis, die Ordnung der Gesellschaft zu stabilisieren, entstand während der Hochindustrialisierung. Arbeitsmigration, Landflucht, Massenansiedlung des Industrieproletariats in engen, dunklen Wohnquartieren und rasante

 Jürgen Reulecke, „Wir reiten die Sehnsucht tot“ oder: Melancholie als Droge. Anmerkungen zum bündischen Liedgut, sowie Nicolaus Sombart, Männerbund und Politische Kultur in Deutschland, in: Kühne, Thomas (Hrsg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 156 – 173, 136 – 155; Klaus Theweleit, Männerphantasien. Zwei Bände. Reinbek bei Hamburg 1980; vgl. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918 – 1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg. Essen 2001; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA. Köln 2002.  James M. Diehl, Paramilitary Politics in Weimar Germany. Bloomington, IN u. a. 1977.  Raimund von dem Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen. Heidelberg 1998; Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen. Darmstadt 2001.  Gunther Mai, Europa 1918 – 1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart u. a. 2001.  Vgl. Robert Wohl, The Generation of 1914. London 1980.

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Verstädterung erzeugten Unsicherheit. Insbesondere im Bürgertum wurde dieser Wandel intensiv wahrgenommen und als Herausforderung empfunden, weil er sich im traditionellen Lebensumfeld der Stadtbevölkerung am stärksten bemerkbar machte. Die Welt schien aus den Fugen zu geraten. Vermassung und Beschleunigung wurden als unkontrollierbare Bedrohung wahrgenommen.³¹ Deshalb gab es in den Industrieländern seit der Jahrhundertwende vielfach Versuche, die Ordnung der Gesellschaft neu zu befestigen. „Ordnung“ und „Unordnung“ entstanden als Kategorien gesellschaftlichen Denkens, die auf Verbesserung, Überschaubarkeit, Steuerbarkeit zielten, aber diesem Denken war von Anfang an eine Tendenz zur Entgrenzung eingeschrieben, die über das Bedürfnis nach Stabilisierung des Einzelmenschen in seinen aktuellen Lebensumständen hinausreichte.³² Durch Bevölkerungspolitik sollten Menschen räumlich und sozial gewissermaßen fixiert werden, um Wanderungsbewegungen und unkontrollierte Massenansiedlung zu vermindern. Die Eugenik sollte dazu beitragen, in der Gesellschaft Menschen hervorzubringen, die man zu brauchen meinte. und die anderen erst gar nicht entstehen zu lassen. „Schädliche“ Bevölkerungsteile galt es zu separieren und zu reduzieren.³³ Munizipalsozialismus und Stadtplanung sollten das Lebensumfeld „menschenwürdig“ gestalten, die Landesplanung wollte in den Industriearealen Infrastrukturen in großem Maßstab schaffen, die Raumplanung ging schon bald über die Grenzen der Nation hinaus und erhob den Anspruch, dem Volk den ihm gemäßen Raum nach neuen, anderen Kriterien von „Ordnung“ zuzumessen.³⁴ Das Ordnungsdenken war ein charakteristisches Element des geistigen Klimas in der Zwischenkriegszeit. Der Weltkrieg hatte die Erfahrung des Kulturbruchs bewirkt und einen kollektiven Schock erzeugt, so dass sich nach 1918 das aus der Hochindustrialisierung stammende Bedürfnis, die Ordnung der Gesellschaft zu stabilisieren, verstärkt ausbreitete. Damit konnten progressive Züge und sozialplanerische Konzepte einhergehen, aber auch utopische Entwürfe eines

 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. 3. Aufl. Leipzig 1919 (zuerst 1895); Helmut Berking, Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik. Berlin 1984.  Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 2001; Zygmunt Bauman, The Quest for Order, in: Beilharz, Peter (Hrsg.), The Bauman Reader. Oxford 2001, S. 281– 288.  Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a. 1997; Jochen-Christoph Kaiser/Kurt Nowak/Michael Schwartz (Hrsg.), Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895 – 1945. Eine Dokumentation. Berlin 1992.  Ariane Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert. Göttingen 2008.

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„radikalen Ordnungsdenkens“ technischer und wissenschaftlicher Eliten.³⁵ Ebenso konnte die Ordnungssehnsucht einfach bloß konservativ grundiert sein, um allzu schnellen Wandel abzubremsen, oder strikt reaktionär, indem sie die Wiederherstellung des Verlorenen erzwingen wollte. Im Ordnungsdenken – in den Kategorien von „Ordnung“ und „Unordnung“ – waren die politischen Gegensätze von rechts und links letztlich nicht mehr auszumachen. Wer in der Zwischenkriegszeit von „Ordnung“ sprach oder gar von der Kanzel die Kriterien einer gottgegebenen „Ordnung“ umriss, war hinsichtlich seiner politischen Position nicht eindeutig zu klassifizieren. Sobald „Ordnung“ jedoch als „nationale“ Aufgabe vorgestellt wurde, um „das Politische“ zu überwinden, wurde die Stoßrichtung sichtbar. Dem Ordnungsdenken dieser Jahrzehnte war vielfach ein spezifisches Verständnis von „Zeit“ inhärent, und aus der Verbindung von beidem ergab sich eine Weltsicht, in der Fortschrittskritik und ein antiliberaler Modernismus aufs Engste verwoben waren. Hier hatte der Nationalsozialismus seinen ideengeschichtlichen Ort, obwohl er eher ein Produkt dieses zeitspezifischen Phänomens war als dessen Motor.³⁶ Die Wandlungen des Zeitverständnisses sind in den letzten Jahren intensiv untersucht worden und im Anschluss an Hermann Heimpel zunächst von Kurt Nowak als „antihistoristische Revolution“ bezeichnet worden.³⁷ Auch hier markierten die Jahrzehnte der Hochindustrialisierung den Anfang, da sie ein Tempo der Veränderung in der städtischen, bürgerlichen Lebenswelt hervorbrachten, welches sich immer weiter beschleunigte. Die Reaktion, beginnend in der Philosophie und Theologie, bestand darin, den rasanten Wandel zu transzendieren und gewissermaßen aus dem rasenden Zug der Zeit auszusteigen. Der Weltkrieg

 Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5 – 40.  Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in diesem Band, S. 157– 190.  Kurt Nowak, Die „antihistoristische Revolution. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Gütersloh 1987, S. 133 – 171; Friedrich Wilhelm Graf, Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Rohls, Jan/Wenz, Gunther (Hrsg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Göttingen 1988, S. 377– 405; Friedrich Wilhelm Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Küttler,Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 4. Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 – 1945. Frankfurt am Main 1997, S. 217– 244.

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zerstörte den bis dahin verbliebenen Glauben, dass es einen Fortschritt mit humanem Maß gebe, dass Fortschritt an sich „gut“ sei. Damit zerfiel die Grundannahme des Liberalismus, die im Axiom kontinuierlicher Fortentwicklung von Mensch und Gesellschaft bestand und diese Fortentwicklung ethisch als Gewinn, als unbedingt erstrebenswertes Ziel begriff. Das liberale Denken in der Gestalt einer linearen Aufwärtsentwicklung war unlösbar mit einer entsprechenden Auffassung von Geschichte verknüpft. Das hieß nicht, dass Geschichte und Fortschritt ein und dasselbe sein mussten. Aber die Annahme, dass alles geschichtlich vermittelt ist, relativierte die andere Annahme, dass es außerhalb der vom Menschen beeinflussbaren Welt etwas Unbeeinflussbares gab, das immer galt: dass es Wahrheit gab und Gott. Ein solcher Historismus, so klagten seine Kritiker, setze die menschliche Erkenntnis einem ethischen Relativismus aus. Der Historismus unterbinde die Geltung absoluter Werte und damit die Transzendenz.³⁸ Kritik am liberalen Fortschrittsdenken und am Relativismus der historistischen Weltsicht hatte bereits vor dem Weltkrieg eingesetzt. Nach dem Krieg entlud sie sich in einer ideengeschichtlichen Revolution, deren metapolitische und gesellschaftliche Radikalität ihresgleichen sucht. Es handelte sich dabei nicht um einen Widerruf, sondern um die Negation von Aufklärung und Liberalismus mit den Methoden aufklärerischer Rationalität. Die antihistoristische Revolution montierte gewissermaßen die zeitliche Kategorie des geschichtlichen Verlaufs aus der Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heraus. Das Vergangene wurde darüber zur Vorzeit, zu mythischer Vorzeit. Die Zukunft war offen für utopische Entwürfe von „neuen Ordnungen“. „Neue Ordnungen“: Hier beginnt die Verschmelzung des zeitspezifischen Ordnungsdiskurses mit dem veränderten Verständnis von Zeit. „Neue Ordnung“ antizipierte ewige Dauer. Die Nationalsozialisten waren keine Spinner, wenn sie vom „Tausendjährigen Reich“ sprachen, sondern sie benannten damit nur exakt ihre antihistoristische Vision, die sie nicht erfunden, sondern sich aus dem geistigen Klima ihrer Anfangszeit anverwandelt hatten. Diese „Tausend Jahre“ waren keine „Zeit“ geschichtlichen Verlaufs, sondern ein Zustand und als solcher „ewig“. Auch Hitler redete keinen Unsinn, sondern wirkte, wie so oft, als populistischer Propagandist von Meinungstrends in die breite Öffentlichkeit hinein,

 Otto Gerhard Oexle, Historismus, in: Oexle, Otto Gerhard, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Göttingen 1996, S. 41– 72; Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewußtseins.

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wenn er 1933 den Anspruch erhob, „daß die letzten, die in Deutschland Geschichte machen, wir sind“.³⁹ Das gesellschaftliche Ordnungsdenken in der Zwischenkriegszeit wurde vom Antihistorismus stark beeinflusst, wenn auch nicht vollständig dominiert. Es gab genügend viele Traditionalisten in den bürgerlichen Intellektuellenberufen, die nichts anderes wünschten, als die Welt ihrer Jugend wiedererstehen zu sehen. Sie empfanden Sehnsucht danach, die „Ordnung“ der geborgenen Kindheit noch einmal zu erleben, und beschworen die „gute alte Zeit“. Die weitgehende Verschmelzung von Ordnungsdenken und Antihistorismus war vielmehr ganz überwiegend das Werk einer intellektuellen Avantgarde, die sich zugleich im antiliberalen Denken übte. Denn Antihistorismus gab es nicht ohne Antiliberalismus, zielte er doch darauf, die liberale Kategorie des Fortschritts als lineare, positive Aufwärtsbewegung abzulehnen, ja zu bestreiten. Antihistoristen waren somit notwendig Gegner des Liberalismus und trafen sich hier mit dem Anliegen jener konservativen Traditionalisten, die nach dem Ersten Weltkrieg eigentlich nichts anderes wollten, als die Welt der Vorkriegszeit mit monarchischer Ordnung, vormundschaftlichem Staat und den Mechanismen zur Ausgrenzung der Massen zu rekonstituieren. Auf der ideellen Ebene gingen politisch-soziale Reaktion und antihistoristische Revolution eine fatale Verbindung ein. So tauchten im Ordnungsdiskurs der Zwischenkriegszeit alsbald Verklärungen einer mythischen Vorzeit auf: Volk, Rasse, Germanentum, die mittelalterliche Sagenwelt mit Heldentum, Heroismus und ruchlosem Verrat. Siegfried und die Nibelungen hatten hohe Konjunktur. Die Zukunft erschien als Erwartung des Utopischen: ein ewiges Reich, ein einiges, starkes Volk, ein Führer von Gott gesandt. Und die Gegenwart war „das Politische“. Sie bedeutete Unordnung, Chaos. Man durfte Ekel davor empfinden. Sie musste überwunden werden. Hier galt es, „Ordnung“ zu schaffen.⁴⁰

 Rede in Detmold, 4. Januar 1933. Zit. nach Max Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932 bis 1945. Bd. 1/1. 2. Aufl. München 1965, S. 176; Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. 2. Aufl. Paderborn u. a. 1998; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. München 2003.  Jörn Leonhard, Semantische Deplazierung und Entwertung. Deutsche Deutungen von ,liberal‘ und ,Liberalismus’ nach 1850 im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 5 – 39; Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001, S. 546 – 569; von dem Bussche, Konservatismus; Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen. Heidelberg 1994, S. 83 – 134, 187– 206; Joachim Heinzle/Anneliese Waldschmidt (Hrsg.), Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1991.

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In dieser Gegenwart wurden die Ordnungsbegriffe der bürgerlichen, liberalen Welt des 19. Jahrhunderts krass verneint. Carl Schmitt leistete wichtige Vorarbeit für die Überwindung des positiven Rechtsdenkens aus der Tradition der historischen, das heißt liberalen Rechtsschule, von dessen Grundlage her die Weimarer Reichsverfassung entworfen worden war. Die grassierende Rede von Volk und Raum ließ Nation und Staat beiseite. Damit ignorierte sie den staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Rahmen der Weimarer Reichsverfassung, des Versailler Vertrags und des Völkerbunds.⁴¹ Sie bestritt dem europäischen, bürgerlich-liberalen Rechtsdenken seinen Geltungsanspruch. Wo Ordnungsdenken und Antihistorismus zusammenkamen, wurden die Wertmaßstäbe der Gegenwart abgelehnt, weil sie vorgeblich „Unordnung“ verkörperten und „politisch“ waren. Die Ordnungsvorstellungen für die Zukunft wurden hingegen in einem antihistoristischen Idealismus entworfen, dessen Radikalität kaum zu überbieten war. Die gedankliche Beseitigung aller geschichtlichen Bedingungen erlaubte die Vision „neuer Ordnung“ in einer Zukunft, die als vollständig leerer Raum auf voraussetzungslosem Boden angesehen wurde. „Sich selbst das Gesetz geben, ist höchste Freiheit“, sagte Martin Heidegger in seiner Freiburger Rektoratsrede 1933,⁴² und SS-Intellektuelle definierten Recht und Gesetz gemäß der Vision „neuer Ordnung“ – geschichtslos, zeitlos, radikal: „Wir leben in einer Gemeinschaft, deren Grenze das Blut ist.“⁴³ Als sie 1939 mit der „völkischen Flurbereinigung“ in Polen begannen, Raum für eine „neue Ordnung“ zu schaffen, führte die antihistoristische Vision am Ende in den bloßen, besinnungslosen Terror.⁴⁴ Diese Entwicklung war vor der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs nicht abzusehen, aber immerhin angelegt. In den zwanziger Jahren indes und in den Schlüsseljahren 1933/34, als der Aufbruch in die visionäre „neue Ordnung“ Wirklichkeit zu werden schien, zog das radikale Ordnungsdenken der Antihistoristen die gespannte Aufmerksamkeit eines großen Teils der intellektuellen Avantgarde auf sich. Ein neuer Weltentwurf schien sich abzuzeichnen, mit dem die im Ersten Weltkrieg zutiefst korrumpierte Welt des bürgerlichen Liberalismus

 Jan-Werner Müller, A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought. New Haven, CT u. a. 2003; Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus. München 1994.  Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in: Heidegger, Martin, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910 – 1976. Gesamtausgabe Bd. 16. Hrsg. von Hermann Heidegger. Frankfurt am Main 2000, S. 107– 117, hier S. 113.  Raimund Schnabel, Ewig ist das Blut, in: Leitheft 2, 25. März 1936, S. 13.  Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und um stalinistischen Imperium. Bonn 2006.

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endgültig würde überwunden werden können. Die Suche der Kirchen und Konfessionen nach Orientierung war unübersehbar davon beeinflusst. Religion im politischen Feld der zwanziger und frühen dreißiger Jahre bildete einen Bestandteil dieser umfassenden Entwicklung.

3. Antihistoristisches Ordnungsdenken im Protestantismus und Katholizismus der Zwischenkriegszeit Der religiöse Diskurs nach dem Ersten Weltkrieg war vom Bezug auf die Kategorie „Ordnung“ deutlich dominiert. Das galt für beide Konfessionen, auch wenn Protestantismus und Katholizismus unterschiedliche Schwerpunkte ausbildeten. Darin kam zuvörderst der Tatbestand zum Ausdruck, dass auf der evangelischen wie auf der katholischen Seite ein konservatives Empfinden vorherrschte, das weder allein politisch noch allein kulturell oder religiös vermittelt war, sondern beides bis zur Ununterscheidbarkeit vermischte. Die Ordnungsthematik wies aber von Anbeginn über bloß konservative Meinungsbildung hinaus, denn sie trug durchgängig Argumentationsmuster in sich, die, mehr oder weniger deutlich, das antihistoristische Verständnis von Geschichte spiegelten. Wenn auch nicht dominant, so waren die Repräsentanten des Antihistorismus in beiden Konfessionen doch intellektuell führend. Beherrscht von der Ablehnung der Kategorie „Zeit“ als Verlauf, Entwicklung, Fortschritt, interessierten sie die Reflexionen über die konkrete rechtliche Ordnung in Staat und Gesellschaft so gut wie gar nicht. Auch wenn auf katholischer Seite weniger die Theologie als vielmehr eine konfessionell durchformte Philosophie oder Rechtstheorie den Ton bestimmten, kam in beiden Konfessionen die radikale Negation des Geschichtlichen, mithin der Entwicklungsbedingungen der Moderne und des bürgerlichen Verständnisses von Staat und Gesellschaft, deutlich zum Ausdruck. Als Gegenposition gegen die Vertreter des Ordnungsdenkens auf der einen Seite und die Protagonisten des Antihistorismus auf der anderen stand der Liberalismus im bürgerlich-konfessionellen Bereich. Es mag zwar wie eine contradictio in adjecto erscheinen, von einem „christlichen Liberalismus“ zu sprechen, aber das geschieht hier durchaus bewusst, um damit anzudeuten, dass zwar der um 1900 verbreitete Kulturprotestantismus überlebt war – jene Spielart des liberalen Protestantismus der intellektuellen Eliten, die mit dem Anspruch auftrat, die „Leitkultur“ im wilhelminischen Deutschland zu bestimmen.⁴⁵ Dennoch gab

 Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München 1995, S. 149 – 204.

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es bis 1933 unübersehbar einen Protestantismus und einen Katholizismus, die sich auf der staatsbürgerlichen Ebene als „politisch“ und liberal verstanden. Dieser „christliche Liberalismus“ verhielt sich dem Ordnungsdenken gegenüber nicht einmal kategorisch ablehnend, wohl aber wurde der Antihistorismus aufs Schärfste bekämpft.⁴⁶ Er bedarf hier der Erwähnung, weil sich aus ihm seit 1944/ 45 die „christliche Demokratie“ in der christlich-sozialistischen und der bürgerlich-konservativen Spielart herausbildete und sich in der CDU eine eigene politische Partei schuf. Diese „christliche Demokratie“ kanalisierte in den 1950er Jahren die politisch-ideelle Westorientierung, wenn auch nur im Nachvollzug der sozial-liberalen Tendenzen der „Westernisierung“.⁴⁷ Aus dem Widerspruch zu den in den 1920er Jahren dominierenden ideellen Strömungen, dem Wunsch nach „Ordnung“ einerseits, der Negation des Fortschritts als eines geschichtlichen Verlaufs andererseits, entstand jedenfalls ab den mittleren 1940er Jahren ein neues interkonfessionelles politisches Denken, ohne das sich die alte Bundesrepublik nicht hätte auf die Reise nach Westen machen können.⁴⁸ Die Suche nach „neuer Ordnung“ zeigte sich demgegenüber innerhalb der deutschen protestantischen Theologie während der Zwischenkriegszeit am deutlichsten in der sogenannten Theologie der Schöpfungsordnungen: Sie ist vor allem mit dem Namen des protestantischen Theologen Paul Althaus verbunden. Es handelt sich bei ihm zunächst um eine konservativ begründete Ordnungssehnsucht, die in dem Unbehagen, gar in der Angst vor Veränderung und Instabilität wurzelte.⁴⁹ Das war zunächst durchaus typisch für die Kriegsgeneration des Ersten Weltkriegs. Althaus (Jg. 1888) publizierte seine Theologie der Ordnungen als Buch zwar erst 1934, aber die Argumentation bündelte biographische Erfahrungen, akademische Einflüsse und politische Weltsicht der 1920er Jahre.⁵⁰ In die konservative Grundposition waren allerdings von Anfang an Argumente eingewoben, welche die Kategorie „Ordnung“ mit einem deutlichen Antihistorismus in Beziehung setzten. Wenn es etwa hieß, der Glaube bewahre den Christen vor

 Anselm Doering-Manteuffel, Der Kulturbürger und die Demokratie. Harnacks Standort in der ersten deutschen Republik, in: Nowak, Kurt u. a. (Hrsg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Göttingen 2003, S. 237– 255; Heinz Härten, Deutsche Katholiken 1918 – 1945. Paderborn u. a. 1992, S. 144– 177.  Vgl. Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?  Jochen-Christoph Kaiser/Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart u. a. 1990; Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises. München 1999.  Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus. München u. a. 1986, S. 115 – 166.  Paul Althaus, Theologie der Ordnungen. Gütersloh 1934.

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„Skepsis, Illusionismus und Nihilismus“, dann schwang darin die Ablehnung von „Kritik“ und „Relativismus“ aus der antihistoristischen Denkschule mit. Althaus veränderte allerdings auch Kriterien des Konservatismus, indem er in zunehmendem Maß dem „Volk“ und der „Volksidee“ einen zentralen Stellenwert zumaß. Klaus Scholder hat den Wechsel von der alten Formel „Thron und Altar“ zum neuen Begriffspaar „Volk und Gott“ hervorgehoben.⁵¹ Darin zeigte sich nächst dem zeitgenössischen Reflex auf das Ende der Monarchie und des fürstlichen Summepiskopats der Übergang von einem geschichtlich verankerten Begriffspaar zu einem übergeschichtlichen, denn die Begriffe „Volk und Gott“ bezeichneten innerhalb der „Theologie der Schöpfungsordnungen“ letztlich zwei der Geschichte enthobene Größen. Dies wird beispielsweise bei dem von Manfred Gailus erwähnten Berliner Pfarrer Siegfried Nobiling deutlich, der, drei Jahre jünger als Althaus, NSDAP-Mitglied war und in der vorderen Linie der „Deutschen Christen“ stand. Nobiling propagierte auf der Grundlage der „Theologie der Schöpfungsordnungen“ eine Synthese zwischen Christentum und Nationalsozialismus. Gegen die „vierzehn Jahre Knechtschaft“ der Weimarer Republik forderte er die radikale Abkehr vom „selbstischen Ich“, womit er Individualismus und Liberalismus meinte, die, zusammen mit dem Marxismus, während des 19. Jahrhunderts das Individuum aus „allen volklichen Bindungen“ herausgelöst hätten.⁵² Volk und „Volksgemeinschaft“ konstituierten in dieser Weltsicht „Ordnung“, und zwar ewige Ordnung im Sinne einer überzeitlichen Kategorie.⁵³ Aber die „Theologie der Schöpfungsordnungen“ war nicht nur in die Kulturkritik nach dem Ersten Weltkrieg eingebunden, wie es die Bedeutung der Kategorie „Ordnung“ sichtbar macht. Vielmehr tritt unübersehbar auch das vitalistische Element hervor, wodurch sie sich im Magnetfeld der Ideologie des europäischen Faschismus bewegt. Paul Althaus spricht von einem „Sozialismus der Tat“.⁵⁴ 1932 gründeten er und Emanuel Hirsch, im Kontext des „Evangelischen

 Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1. Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918 – 1934. Frankfurt am Main u. a. 1977, S. 125; vgl. Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin. Köln u. a. 2001, S. 52– 56.  Zit. nach Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 423 f.  Ibid, S. 424.  Paul Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche. 3. Aufl. Gütersloh 1934, S. 7. Hier zit. nach Ericksen, Theologen, S. 150. Zur Bedeutung des Vitalismus siehe Stanley Payne, A History of Fascism. 1914– 1945. 2. Aufl. London 1997; Robert O. Paxton, The Anatomy of Fascism. London 2004. Vgl. dazu auch Frank Becker, Protestantische Euphorien 1870/71, 1914 und 1933, sowie Thomas Kaufmann, Die Harnacks und die Seebergs. „Nationalprotestantische Mentalitäten“ im Spiegel zweier Theologenfamilien, in: Gailus, Manfred/Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes. Göt-

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Bundes“ und der „Christlich-Deutschen Bewegung“, das Organ Glaube und Volk. Das Programm, die „Richtlinien“, drückten aus, worum es ging: „Zuchtvolle Arbeit an uns selbst“, „opferwilliger Dienst an unserem Volk“, „Bereitschaft zu deutschem Kampf“.⁵⁵ Das „Christentum der Tat“,⁵⁶ in dem sich der faschistische Vitalismus deutlich artikulierte, war um 1933 in doppelter Weise zu fassen, dergestalt nämlich, dass die Predigt „heroisch“ und „männlich“ daherzukommen hatte und dass ihre äußere Erscheinungsform mit der inneren Aussage übereinstimmen musste. Nicht Schuld, Sühne und Gottes Gnade standen im Mittelpunkt der Verkündigung, sondern ein heldischer Jesus als Vorbild für den tatbereiten deutschen Menschen im „neuen Reich“.⁵⁷ Das „Reich“: Dieses Motiv stellt das verbindende Element zwischen Protestantismus und Katholizismus dar, denn die „Theologie des Reiches“ wurde von einzelnen katholischen Autoren in klarer Bezugnahme zu protestantischen Theologen entwickelt, etwa zu Friedrich Gogarten, dem evangelischen Wanderer vom Primat des Antihistorismus in der dialektischen Theologie zum Primat der „Ordnung“ in der „Theologie der Schöpfungsordnungen“.⁵⁸ Im Katholizismus ging es darum, zwischen dem „Reich Gottes“ und dem „Reich des Volkes“, des deutschen Volkes, eine Verbindung zu schaffen. Damit erfolgte die theologische Überhöhung einer irdischen, politisch-völkischen Reichsvision zu einer übernatürlichen, heils-bedingten und heil-schaffenden Größe. „Der Staat“, hieß es 1933 beim Kölner Pfarrer und späteren Prälaten Robert Grosche, „gehört dem Bereich der Natur an, aber das Reich dem Bereich der Geschichte, die Heilsgeschichte ist. Durch das Reich wird der Staat getauft und erlöst, wird befreit von seiner gefährlichen Absolutheit.“ Grosche äußerte diese Sätze in einem Vortrag vor der Heidelberger Vereinigung katholischer Akademiker. Er gehörte wie Paul Althaus zum Jahrgang 1888, war von 1921 bis 1930 Studentenseelsorger an der Universität zu Köln und wichtiger Protagonist der „Theologie des Reiches“ im deutschen Katholizismus.⁵⁹ Ab 1943 Stadtdechant in Köln und damit Vorsitzender des Gesamtverbandes der katholischen Kirchengemeinden in Köln hatte Grosche der

tingen 2005, S. 19 – 44, hier S. 35 (Sozialdarwinismus), S. 165 – 222, hier S. 207 („vitalistischer Voluntarismus“).  Glaube und Volk. Richtlinien, in: Kirchliches Jahrbuch 59, 1932, S. 75 f. Hier zit. nach Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, S. 220.  „Tatchristentum“ galt 1933 als tagespolitisches Muss. Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 385 und passim.  Ibid, S. 643.  Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 125; Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929 – 1934). München 1969, S. 239.  Breuning, Die Vision des Reiches, S. 90, S. 238 – 252, S. 300 – 314. Zitat S. 300.

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katholischen Jugendbewegung nahegestanden. Biographisch und soziokulturell im intellektuellen Milieu des westdeutschen Katholizismus verankert, war er in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren ein Repräsentant des anti-politischen Denkens, mithin ein Gegner der parlamentarisch-demokratischen und westlichliberalen Welt. Seine theologischen Bemühungen richteten sich darauf, mit dem „Reich“ eine theologische Begründung für das gesellschaftliche Bedürfnis nach „Ordnung“ zu liefern. „Das Reich ist die Säkularisation des Reiches Gottes“, hieß es bei Grosche 1934, der das „irdische Reich“ somit als Realisierung des Transzendenten, des ewigen Gottesreiches in der politischen Welt, begriff.⁶⁰ Für Grosche und manche andere Autoren im Katholizismus wie Damasus Winzen oder Albert Mirgeler war die Reichstheologie nicht Widerspruch gegen das Dritte Reich, sondern dessen theologische Rechtfertigung.⁶¹ Gegen die platte Diesseitigkeit der nationalen, tagespolitisch motivierten Theologie gerichtet, artikulierte sich ab 1918/19 Karl Barth. Mit ihm entstand die dialektische Theologie. Doch die Frage nach „Ordnung“ blieb beim jungen Barth und später im Barthianismus in einem völlig apolitischen Sinn unbeantwortet. Sie wurde nicht bejaht, nicht verneint, sondern beiseite geschoben. Damit ignorierte sie die zentrale Herausforderung der industriegesellschaftlichen Moderne, neue Ordnungsmodelle an Stelle der von ihr selbst zerstörten älteren zu entwickeln. Im gleichen Atemzug wurde damit das eifernde Politisieren jener nationalprotestantischen Theologen zurückgewiesen, die vor, während und nach dem Krieg jede Einzelmaßnahme der militärischen und politischen Führung und jede Begründung für die Eskalation des Krieges durch die politischen Eliten der wilhelminischen Militärmonarchie rechtfertigten. Barth lehnte das alles grundsätzlich ab. In einem Vortrag in Tambach im September 1919 sprach Barth über das Thema „Der Christ in der Gesellschaft“. Hier bot er eine frühe und radikale Formulierung einer prononciert antihistoristischen theologischen Weltsicht an. Das Christentum, sagte er, sei „die Bewegung, die nicht im Raum, in der Zeit, in der Kontingenz der Dinge ihren Ursprung und ihr Ziel hat und die nicht eine Bewegung neben anderen ist“. Das Christentum sei vielmehr die Bewegung, „deren Kraft und Bedeutung enthüllt ist in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten“.⁶² Im Vorwort zur ersten Ausgabe seines Buchs Der Römerbrief von 1918/19 hatte Barth in wenigen Sätzen das antihistoristische Programm so formuliert: „Paulus hat als Sohn seiner Zeit zu seinen Zeitgenossen geredet. Aber viel wichtiger als diese Wahrheit ist die andere, daß er als Prophet und Apostel des Gottesreiches zu allen Menschen

 Ibid., S. 245.  Ibid., S. 247.  Zit. nach Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, S. 51.

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aller Zeiten redet. Die Unterschiede von einst und jetzt, dort und hier, wollen beachtet sein. Aber der Zweck der Beachtung kann nur die Erkenntnis sein, daß diese Unterschiede im Wesen der Dinge keine Bedeutung haben. […] Meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist. […] Geschichtsverständnis ist ein fortgesetztes, immer aufrichtigeres und eindringenderes Gespräch zwischen der Weisheit von gestern und der Weisheit von morgen, die ein und dieselbe ist.“⁶³

In der zweiten Auflage heißt es dann, dass mit Gottes Wort und Gottes Handeln „in der Geschichte eine Aufhebung der Geschichte, im bekannten Zusammenhang der Dinge eine Zerreißung dieses Zusammenhangs, in der Zeit eine Stillstellung dieser Zeit stattfindet“.⁶⁴ Das Kennzeichen der Barthschen Position bestand in der Zurückweisung aller aktuellen zeitlichen Bezüge der christlichen Offenbarung. Es gehe nicht an, Christus zu säkularisieren, weder der Sozialdemokratie noch dem Pazifismus oder dem Wandervogel oder gar, ganz gezielt, „dem Liberalismus der Gebildeten“ zuliebe. In der Tat wandte sich Barth insbesondere gegen die liberale Theologie des späten 19. Jahrhunderts, die in der Aneignung des liberalen Weltbildes als kulturellem Habitus auch die zentralen historisch-politischen Kategorien des Liberalismus in die Theologie hineingenommen hatte, nämlich die Vorstellung des Fortschritts als ethischem Prinzip. Man erkennt hier die Brisanz der Barthschen Theologie: Indem sie die Diesseitigkeit der nationalprotestantischen „Thron und Altar“-Theologie angriff, indem sie den geschichtlichen Verlauf bestritt, hebelte sie den liberalen Kulturprotestantismus und das Weltbild des liberalen Kulturbürgertums aus. Antiliberalismus bildete somit ebenfalls den Kern der Theologie Karl Barths, weshalb die Barthianer nach 1945 auch so voller Feindschaft waren, als die Zweite Republik sich in den liberalen Westen zu integrieren anschickte. In den zwanziger Jahren wirkte diese Spielart des religiösen Antiliberalismus nur deshalb nicht politisch, weil die Barthsche Theologie insgesamt noch kaum Verbreitung gefunden hatte und der Liberalismus gesamtgesellschaftlich auf große Skepsis stieß. Aber der radikale Antihistorismus dieser Theologie wirkte im religiösen Diskurs spürbar. Er verband sich mit dem geschichtsfernen Denken in der Gesellschaft allgemein und verhalf dazu, Vorstellungen von mythischer Vergangenheit und utopischer Zukunft theologisch zu begründen.

 Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919. Hrsg. von Hermann Schmidt. Zürich 1985, S. 3.  Karl Barth, Der Römerbrief. 2. Aufl. München 1921, S. 78. Hier zit. nach Alexander Schwan, Zeitgenössische Philosophie und Theologie in ihrem Verhältnis zur Weimarer Republik, in: Erdmann, Karl Dietrich/Schulze, Hagen (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute. Düsseldorf 1980, S. 259 – 285, hier S. 263.

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In wie hohem Maß die Kategorien „Zeit“ und „Ordnung“ in Gestalt des Antihistorismus und des Ordnungsdenkens als situationstypischer Ausdruck der Erschütterungen nach dem Ersten Weltkrieg zusammengehörten, zeigt schließlich ein Blick auf die politisch-theologische Publizistik Friedrich Gogartens. Seine intellektuelle Biographie umschrieb eine Bewegung, die vom Primat des Antihistorismus in der dialektischen Theologie, zu deren Protagonisten Gogarten mit Karl Barth um 1920 zählte, hin zum Primat der „Ordnung“ in der „Theologie der Schöpfungsordnungen“ führte.⁶⁵ An Gogarten wird deutlich, dass in der Hinwendung zur „Schöpfungsordnung“ und zur Kategorie „Ordnung“ nicht notwendigerweise eine politisch konservative oder reaktionäre Haltung zum Ausdruck kommen musste, ebenso wenig wie die Urteilsbildung der dialektischen Theologie politisch progressives Denken in sich zu schließen brauchte. Beide gehörten vielmehr zu den Suchbewegungen in der Moderne, die nach dem Zusammenbruch des Fortschrittsglaubens aus dem 19. Jahrhundert nebeneinander entstanden und miteinander Verbindungen eingehen konnten. Den gemeinsamen Nenner bildete die Abkehr von der alten Welt – der bürgerlichen, liberalen, fortschrittsgläubigen Welt. So definierte die intellektuelle Avantgarde die Maßstäbe nach dem Kriege neu. Der bürgerlichen Kultur kam keine Bedeutung mehr zu, Freiheit wurde entschieden apolitisch begriffen, und Gegenwart und Zukunft wurden auf der Ebene der Transzendenz als stillstehender Zeitraum aufgefasst. Gogarten sah in dieser Lage die Theologie als Leitwissenschaft kultureller Erneuerung an, da, wie er 1924 schrieb, „eine zusammengebrochene Welt die Wissenschaft um Normen und Maßstäbe für den Aufbau anschreit“.⁶⁶ Gogartens Lehre von den „Schöpfungsordnungen“ schloss eine Theorie menschlicher Freiheit in sich, deren zugleich apolitischer und antiliberaler Zug ins Auge sticht. Sie liest sich, folgt man Friedrich Wilhelm Graf, als Gegenentwurf zum aufgeklärt-liberalen Konzept von Freiheit als Autonomie des Individuums. Liberale Autonomie galt Gogarten als rein formal, inhaltsleer und illusionär. „Sie sei gleichbedeutend mit individualistischer Willkür, Beliebigkeit und Anarchie und erzeuge notwendig jene katastrophale Auflösung der sozialen Ordnung, die in der Krise der Gegenwart erfahren werde.“⁶⁷ Nur ein „alternatives Freiheitsverständnis“⁶⁸ ermögliche die Einbindung der Freiheit des Einzelnen in die Gemeinschaft. Es kann nicht verwundern, dass Gogarten Carl Schmitts „Politische

 Friedrich Wilhelm Graf, Friedrich Gogartens Deutung der Moderne. Ein theologiegeschichtlicher Rückblick, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 100, 1989, S. 169 – 230.  Friedrich Gogarten, Theologie und Wissenschaft. Grundsätzliche Bemerkungen zu Karl Hulls „Luther“, in: Die Christliche Welt 38, 1924. Hier zit. nach Graf, Gogartens Deutung, S. 189.  Graf, Gogartens Deutung, S. 194.  Ibid.

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Theologie“ rezipiert hatte und dessen verächtliche Zurückweisung des Parlamentarismus, Liberalismus und Rechtspositivismus teilte. Hier verband sich seine Reflexion über die „Schöpfungsordnungen“ mit dem antihistoristischen Denken in der Staatswissenschaft. Aber auch wenn die Kritik des Parlamentarismus und der liberalen Demokratie am Ende der zwanziger Jahre auf der Linken artikuliert wurde, teilte Gogarten diese Positionen.⁶⁹ Das vom Antihistorismus durchwobene Ordnungsdenken verhielt sich letztlich indifferent zur politischen Unterteilung in Linke und Rechte. So lassen sich am Ende der zwanziger und in den frühen dreißiger Jahren Einschätzungen von politisch-weltanschaulich dezidiert links stehenden Publizisten beobachten, die sich entlang des Denkmusters einer geschichtsfernen „neuen Ordnung“ an den Argumenten Carl Schmitts orientierten und die parlamentarische Demokratie durch eine ständische Repräsentation mit starker Führungspersönlichkeit zu ersetzen bereit waren. Der sozialdemokratische evangelische Theologe Otto Piper (Jg. 1891) kann hier als Beispiel dienen, dessen simultane Rezeption von Carl Schmitt und Friedrich Gogarten kein Zufall war.⁷⁰ In seinem bekannten Vortrag vor dem 38. Evangelisch-sozialen Kongress im Mai 1931 ergriff Piper zwar nachdrücklich Partei für die Demokratie, aber nicht für ihre parlamentarische Organisationsform, die es unter dem Präsidialkabinett des Reichskanzlers Brüning ja auch kaum mehr gab. Deutschland – so schien es – bewegte sich seit 1930 vielmehr zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen liberaler und antiliberaler Verfasstheit, in eine noch unentschiedene Richtung. Piper jedenfalls gab 1931 dem antihistoristisch eingefärbten Ordnungsdenken den Vorzug, wenn er darlegte, dass der Staat gegenüber den Parteien gestärkt und die Regierung vom Parlament unabhängig gemacht werden müssten. „Demokratie“ verstand Piper hier als Einheit von Staat und Staatsführung, legitimiert durch die Akklamation des Volks: „Unter dem Einflusse des Liberalismus“ habe der Staat die Gestaltung einer gerechten Ordnung verloren. „Der neue deutsche Staat muß erst geschaffen werden. Aber eben deshalb ist es unerläßlich, daß die deutsche Demokratie den Willen zum Staate habe, dessen Recht sie gegen seine Nutznießer wie gegen seine Feinde verteidigen muß.“ Was der linke evangelische Demokrat Otto Piper in Anlehnung an den rechten katholischen Antidemokraten Carl Schmitt beschwor, war der Führerstaat, der infolge akklamatorischer Zustimmung des Volks als Demokratie begriffen werden sollte. Führertum versprach Ordnung;  Vgl. ibid., S. 202.  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Lutherischer Neurealismus. Otto Piper – ein früher Pazifist, in: Lutherische Monatshefte 27, 1988, S. 357– 361; Wilfried F. Heidemann, „ … immer Fühlung mit allen Teilen der Kirche“. Der münstersche Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933 – 1938, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 80, 1987, S. 105 – 151.

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Parlamentarismus und Parteienstaat repräsentierten dagegen Unordnung, in der aktuellen Situation der Präsidialherrschaft Brünings eine gescheiterte Ordnung: „Nicht das Parlament, sondern die Regierung ist der Vertreter der Volkssouveränität.“⁷¹ Pipers wie Gogartens Haltung zeichneten sich durch Fremdheit gegenüber den sozialmoralischen und politischen Ordnungsmustern der westeuropäischatlantischen Länder aus. Piper lernte sie nach 1933 zwangsläufig kennen, als er in die Emigration getrieben wurde. Vor der Machtübernahme des Nationalsozialismus teilten er und Gogarten diese Fremdheit mit ihren Altersgenossen der Geburtsjahrgänge zwischen 1885 und 1890, zu denen die erwähnten Theologen Althaus, Barth und Grosche ebenso wie der Staatsrechtler Carl Schmitt und der Philosoph Martin Heidegger zählten. Nicht ideologische Voreingenommenheit, sondern ihre Lebenserfahrung bedingte die mangelnde Fähigkeit, gesellschaftlichen Pluralismus als tragfähige Grundlage für die politische Organisation moderner Massengesellschaft wahrzunehmen. Nach dem Weltkrieg beurteilten sie die Republik und die Verfasstheit der Gesellschaft als Desintegration und begründeten dies mit Parteienhader und Konkurrenzdenken. „Volksgemeinschaft“, „Volkstum“ und das Spiel mit dem antiparlamentarischen Konzept ständischer Repräsentation waren als Ausdruck des Bedürfnisses zu verstehen, durch neue Formen sozialer Integration schließlich Ganzheit und Gemeinschaft zu erreichen. Darin zeigte sich die Ambivalenz des zeitgenössischen Ordnungsdenkens, dessen Ideal von Gemeinschaft eine konservative Reaktion auf die desintegrierende, pluralisierende Wirkung der industriegesellschaftlichen Moderne darstellte, während die Vision zeitlos gültiger Ordnung dem Bedürfnis der intellektuellen Avantgarde der zwanziger Jahre entsprach, in der krisengeschüttelten europäischen Moderne nach 1918 eine antimoderne Moderne als Orientierungsprinzip der Gesellschaft zu skizzieren. Nimmt man das Unbehagen an der Moderne, die Vorstellung einer neuen Ordnung und die Vision einer anderen, antimodernen Moderne zusammen, zeigen sich die Gründe dafür, dass unter den deutschen Intellektuellen 1933 die Machtübernahme des Nationalsozialismus nur selten mit Schrecken oder gar Entsetzen, sondern sehr oft mit großen Erwartungen und manchmal mit Enthusiasmus beobachtet wurde. Der Nationalsozialismus bündelte Kernelemente des Weltbilds einer antimodernen Moderne durch seine Feindschaft gegen Bürgertum, Liberalismus, Demokratie und Westlichkeit. Er bediente zugleich die Angst vor dem Bolschewismus und verkoppelte beides im Antisemitismus. Im Gegenzug

 Otto Piper, Demokratie in Kirche, Staat und Wirtschaft, in: Verhandlungen des 38. Evangelisch-Sozialen Kongresses in Duisburg 26.–28. Mai 1931. Göttingen 1931, S. 79 – 109, hier S. 108 f.

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bot die nationalsozialistische Propaganda die Aussicht auf Begründung von „Volksgemeinschaft“, Kraftentfaltung der Nation und auf eine Zukunft von „ewiger“ Dauer. Wer anderthalb Jahrzehnte lang die Kategorien des antihistoristischen Ordnungsdenkens in ein theologisches oder philosophisches Weltbild integriert hatte, sah zunächst und wollte vor allem zunächst nichts anderes sehen, als dass im Dritten Reich eigene Vorstellungen Wirklichkeit werden könnten. Gleichwohl, Terror auf offener Straße, Repression und Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung begleiteten solch hochgespannte Erwartungen von der ersten Stunde an. Wer sehen wollte, konnte sehen. Deshalb stellen nicht die NS-nahen Gruppen in beiden Konfessionen, „Deutsche Christen“ und nationalsozialistische Katholiken, die hauptsächliche Herausforderung geschichtswissenschaftlicher Analyse dar. Sie sind leicht zu erkennen, und ihr Verhalten ist unschwer zu entschlüsseln. Vielmehr sind es die Stillen, die Oppositionellen aus religiösen Motiven, denen zukünftig in verstärktem Maß das Nachdenken zu gelten hat. Welchen Wertorientierungen folgten sie, welchen Weltbildern waren oder blieben sie verhaftet?⁷² Es dürften sich unter ihnen – seien sie Bekenntnischristen im Gefolge der Barmer Synode von 1934, seien sie katholische Skeptiker der episkopalen Enttabuisierung der NS-Herrschaft vom Frühjahr 1933 – zahlreiche Gläubige und Geistliche befunden haben, die dem Ordnungsdenken der zwanziger Jahre in abgeschwächter Form verhaftet blieben. Weil sie Gegner des Nationalsozialismus waren, wurden sie nach 1945 oftmals als Leitfiguren für die demokratische Neuordnung in Westdeutschland betrachtet, was sie unter moralischen Gesichtspunkten ohne jeden Zweifel waren, aber nicht unbedingt unter dem Gesichtspunkt politisch-kultureller Orientierung. Die Hinwendung zur liberalen, individualistischen Ordnung einer demokratisch verfassten Gesellschaft blieb ihnen, auch wenn sich diese noch so langsam vollzog und erst in den sechziger Jahren spürbar wurde, fremd. Das antihistoristische Ordnungsdenken bildete eine anhaltende Barriere gegen die Öffnung hin zum westlichen liberalen Konsens und ließ sich infolge seiner radikalen gedanklichen Stringenz oft ein Leben lang nicht überwinden.

 Victor Conzemius/Martin Greschat/Hermann Kocher (Hrsg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Göttingen 1985; Anton Rauscher (Hrsg.), Katholizismus, Rechtsethik und Demokratiediskussion 1945 – 1963. Paderborn u. a. 1981; Michael J. Inacker, Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918 – 1959). Neukirchen-Vluyn 1994; Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit. Stuttgart 2002.

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Die zeithistorische Forschung wird sich weiter darum bemühen müssen, die Weltsicht und politischen Stellungnahmen von herausragenden Repräsentanten beider Konfessionen zu untersuchen, die in den 1950er Jahren gegen die Westbindung zu Felde zogen. Selbst bei solch gegensätzlichen Strömungen wie den Barthianern im Protestantismus und den Fürsprechern „abendländischer“ Distanz gegen den atlantischen Westen im Katholizismus wird man verwandte Grundüberzeugungen entdecken können, die im Denkmodell von „Zeit“ und „Ordnung“ der zwanziger Jahre wurzelten.

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Weimar als Modell: Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Weimar als Modell − was soll das heißen? Weimar ist gescheitert. Kann ein gescheitertes politisches Unternehmen aber überhaupt ein Modell sein? Bonn ist nicht Weimar – so lautet der bis heute immer wieder zitierte Titel eines Buchs, das der schweizerische Publizist Fritz René Allemann im Jahr 1956 veröffentlichte.¹ Allemann richtete sein Augenmerk auf die politische Ordnung der ersten und der zweiten deutschen Republik. Beide, Weimarer Republik und Bundesrepublik, waren aus einer militärischen Niederlage hervorgegangen und hatten sich als Konkursverwalter einer bankrotten Ordnung zu bewähren: als Konkursverwalter der wilhelminischen Militärmonarchie respektive des nationalsozialistischen Militär- und Rassestaats. Die Konkursverwaltung ist das eine. „Weimar“ musste sie alleine leisten und scheiterte nicht zuletzt auch daran. „Bonn“ hingegen wurde bei der Konkursverwaltung von den Besatzungsmächten überwacht und hatte schon deshalb keine Chance, politischen Revisionismus und reaktionäre Radikalismen zu Politik zu machen. „Bonn“ profitierte überdies von einem Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg, der von Nordamerika bis zur Sowjetunion reichte und die zweite Nachkriegszeit markant von der ersten Nachkriegszeit unterschied.² Hinsichtlich der Konkursverwaltung war „Weimar“ also sicherlich kein „Modell“. Doch die Geschichte der ersten deutschen Republik erschöpft sich nicht in diesem Aspekt. Sie besteht ebenso – und weit mehr! – in dem Bemühen der Zeitgenossen, die Herausforderungen ihrer Gegenwart zu bewältigen und ihre Zukunft zu gestalten. Auch hier unterschieden sich die Rahmenbedingungen von Weimar und Bonn. In der zweiten deutschen Republik sprach man von „Wiederaufbau“, und dies hatte angesichts der schweren Zerstörungen durch den Bombenkrieg eine ganz konkrete, materielle Plausibilität für sich. Nach dem Ersten Weltkrieg hingegen war in Deutschland materiell prima vista gar nichts zerstört – wenn man nicht auf die Menschen sieht: auf die vielen Kriegskrüppel, auf die beschädigten Seelen der direkten und indirekten Kriegsopfer oder auf die strukturellen Grundlagen der industriellen und agrarischen Arbeitswelt. Das aber bedeutet: Der Wiederaufbau oder Neuaufbau in der Weimarer Republik ist weit

 Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar. Köln u. a. 1956.  Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin 2000. https://doi.org/10.1515/9783110633870-008

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schwerer zu erkennen und nicht so einfach einzuschätzen wie jener in der Bundesrepublik.³ Im Jahr 1918 galt nahezu nichts mehr so, wie es 1914 gegolten hatte. Hier war es erforderlich, neu zu gestalten. In Weimar gab es denn auch starke gesellschaftliche Kräfte, die sich dieser Aufgabe, eine neue Ordnung zu gestalten, annahmen. Es gab jedoch mindestens ebenso starke Kräfte, die entweder den Neuaufbau gar nicht wollten oder aber eine ganz andere Gestaltung der Zukunft anstrebten. In Weimar standen verschiedene Kräfte einander unversöhnlich gegenüber. An diesem „Spiel der Kräfte“, das mit der Konkursverwaltung des wilhelminischen Reichs fest verzahnt war, ist Weimar gescheitert. Auch deshalb gab es nach 1945/49 in der deutschen Gesellschaft keinen ernsthaften Versuch, dieses „freie Spiel“ zu wiederholen. Im Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg standen sich Antagonisten gegenüber. Die eine Seite wollte das Gemeinwesen nach links hin neu gestalten – das waren die Gewerkschaften, sozialistische Intellektuelle im gewerkschaftsnahen Umfeld, Syndikalisten, aber auch reformistische Sozialdemokraten. Sie alle akzeptierten die rechtsstaatlich gebundene parlamentarische Demokratie; ja, sie brauchten die parlamentarische Demokratie als den Bedingungsraum für ihre gesellschaftspolitischen Pläne. Auf der anderen Seite standen jene Kräfte, die das Gemeinwesen nach rechts hin neu gestalten wollten – als korporative Ordnung mit kapitalistischer Wirtschaft und einem Staat, der den Verbänden der Industrieunternehmer und der Großagrarier in der Willensbildung mit den und gegen die Gewerkschaften zur Seite stand. Diese zweite Gruppe gravitierte je länger, je mehr nach rechts. Sie brauchte die parlamentarische Demokratie nicht nur nicht, sondern sie empfand sie geradezu als Hemmnis. Die parlamentarische Demokratie ist eine Ordnungsform der politischen Parteien und sozialen Gruppen, die den Pluralismus einer Gesellschaft abbildet. Für die Interessenpolitik des Korporatismus wirkt die Pluralität der Meinungen, Forderungen und Gestaltungsabsichten in der Gesellschaft nur hinderlich.⁴  Vgl. dazu die Dokumentation einer Tagung im Jahr 1979 über das „Scheitern der Weimarer Republik“, die vom Vorsitzenden der Fritz Thyssen Stiftung, Kurt Birrenbach, initiiert worden war und zu einem Zeitpunkt stattfand, als das 30. Gründungsjubiläum der zweiten Republik einige Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Tagung in Köln eröffnete Birrenbach persönlich mit einem Vortrag zu der Frage: „Sind Symptome von Weimar in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar?“, in: Erdmann, Karl Dietrich/Schulze, Hagen (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Düsseldorf 1980, S. 11– 22. Vgl. auch Walter Scheel (Hrsg.), Die andere deutsche Frage. Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland nach dreißig Jahren. Stuttgart 1981.  Vgl. die Schwerpunktsetzung in den klassischen Gesamtdarstellungen seit 1989/90: Heinrich August Winkler, Weimar 1918−1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München

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Es war dieser Links-rechts-Gegensatz, der für die Weimarer Republik zum Schicksal wurde. Denn der radikale Links-rechts-Gegensatz von Kommunisten und Nationalsozialisten blieb so lange marginal, wie die Ausgestaltung der Republik zu einer „sozialen deutschen Demokratie“ einigermaßen erfolgreich voranschritt, und das war immerhin bis 1928 der Fall.⁵ Erst als die Interessengegensätze zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden unüberbrückbar wurden und die SPD in den Weimarer Kabinetten die politische Gestaltungskraft einbüßte, rückte der Radikalismus der extremen Kräfte in den Vordergrund.Viele Zeitgenossen mochten meinen, dass die Weimarer Republik scheiterte, weil die Nationalsozialisten schließlich obsiegten. Wer aber näher hinsah und in den Jahren um 1930 politische, sozialpolitische oder gewerkschaftliche Verantwortung trug, wusste es besser. Die Weimarer Republik ging daran zugrunde, dass die Positionen von links und rechts im Rahmen der Verfassungsordnung völlig kompromisslos vertreten wurden. Die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der gewerkschaftlichen, sozialistischen Linken und der unternehmerischen, kapitalistischen Rechten blieben unvereinbar. Beide wurden seit den mittleren 1920er Jahren mit einem Alleingeltungsanspruch vertreten, der die jeweils andere nicht als legitim anerkannte. Ein Kompromiss zwischen dem linken Konzept der sozialistischen „Wirtschaftsdemokratie“ und dem rechten Modell des auf die Unternehmerinteressen zugeschnittenen bürgerlich-individualistischen Kapitalismus, ein ordnungspolitischer Konsens, der beiden Positionen Rechnung trug, erwies sich als unerreichbar. In der Bundesrepublik wurde nicht ohne Grund ab einer bestimmten Zeit – seit etwa 1960 – vom „Konsens“ gesprochen, der politisch als „Konsensliberalismus“ und wirtschaftlich als „Konsenskapitalismus“ daherkam. Hier wirkte, nicht zuletzt, „Weimar als Modell“.⁶

1993; Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918−1933. Berlin 1997; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914−1949. München 2003, S. 231– 599. Zur Bedeutung des Pluralismus als Strukturelement der offenen Gesellschaft und rechtsstaatlichen Demokratie ist nach wie vor maßgeblich Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien. Stuttgart u. a. 1964.  Zu diesem Terminus vgl. Gerhard A. Ritter, Entstehung und Entwicklung des Sozialstaats in vergleichender Perspektive, in: Historische Zeitschrift 243, 1986, S. 1– 90.  Bernd Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise. Wuppertal 1978; Gunther Mai, Die Weimarer Republik. München 2001, S. 90 – 120; Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003.

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Was das genau heißt und wie es dazu kam, möchte ich anhand zweier Linien näher beschreiben. Die eine Linie skizziert das Geschehen in der Weimarer Republik selbst – ein Seitenblick auf die Entwicklung in anderen europäischen Ländern verhilft hierbei zu etwas mehr Tiefenschärfe. Die zweite Linie zeichnet das Fortwirken der Erfahrungen aus der Weimarer Zeit nach – ein Fortwirken in doppelter Hinsicht, nämlich einerseits in Deutschland selbst, in der inneren Emigration und der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, und andererseits im westlichen Ausland, vornehmlich in den USA, wo sich europäische und amerikanische Auffassungen zu neuartigen Ordnungsvorstellungen vermischten, die nach 1950 in Westeuropa wirksam wurden.

Weimar: Die Suche nach einer modernen Sozialordnung Betrachtet man das Geschehen in der Weimarer Republik und nimmt dabei die These von „Weimar als Modell“ auf, so stößt man recht bald auf ein Defizit der deutschen Zeitgeschichtsforschung. Es betrifft die Geschichte der Weimarer Sozialverfassung,⁷ über die bisher im systematischen Zusammenhang wenig gearbeitet wurde. Einzelaspekte sind hingegen recht gut erforscht. Die Geschichte der Sozialverfassung umfasst verschiedene Themenschwerpunkte: vor allem das Arbeitsrecht und die Ordnung der Arbeitsgesellschaft sowie die soziale Sicherheit von der Sozialversicherung über den sozialen Wohnungsbau bis hin zum Ausbau der kommunalen und der regionalen Infrastruktur. Die deutsche Entwicklung war Teil einer übergreifenden, transnationalen Entwicklung, die im Englischen unter dem Begriff social reform firmiert, während sie im Deutschen keine klare Kennzeichnung aufweist. Man kann mit Gerhard A. Ritter von „sozialer deutscher Demokratie“ sprechen, mit Florian Tennstedt, Hans Günter Hockerts, Manfred G. Schmidt und anderen von „Sozialpolitik“.⁸ Das historische Phänomen, das in Deutschland historiographisch gern auf Bismarcks Sozialpolitik, mithin auf die Anfänge der Sozialversicherung, reduziert wird, betrifft in transnationaler Perspektive den Versuch, in den Industriegesellschaften des nordatlantischen Wirtschaftsraums eine moderne Sozialordnung zu schaffen.

 Dies betont mit Nachdruck Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft. München 2008, S. 24– 31, S. 80 – 83.  Ritter, Entstehung und Entwicklung; Florian Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Göttingen 1981; Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945. Göttingen 2011; Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Wiesbaden 1988.

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II. Suchbewegungen in der Moderne

Der Zeitraum umfasst die Jahrzehnte von den 1880er Jahren bis in die 1960er Jahre.⁹ Vor 1914 kreisten Sozialreform und Sozialpolitik um das Elend der Unterschicht in den industriellen und urbanen Ballungsräumen. Die Vorkämpfer der Sozialreform entstammten immer der Mittelschicht beziehungsweise dem Bürgertum. Der räumliche Rahmen ihres Handelns war die Stadt.¹⁰ Bestimmend für die Praxis der Sozialreform war die Klassenlinie, die nicht überschritten wurde; wer sich sozialreformerisch engagierte, war Bürgerlicher beziehungsweise Angehöriger der Mittelschicht. Das Objekt des Engagements waren die Lebensbedingungen der Unterschicht. Vor 1914 diente Sozialpolitik als Sozialreform nicht zuletzt dazu, die Geltung der Klassenlinie zu bestätigen. Im Deutschen Reich sah manches etwas anders aus, obwohl Deutschland grosso modo der Entwicklungslogik der nordatlantischen Industrienationen folgte. Die deutsche Sozialversicherung baute auf dem Versicherungsprinzip auf, und das hieß, dass sich der einzelne Arbeiter durch eigenes Geld einen persönlichen Anspruch auf eine spätere Sozialleistung erwarb. Das unterschied die Sozialversicherung von der Fürsorge, der heutigen „Sozialhilfe“, die allein von der öffentlichen Hand gewährleistet wird. Im deutschen System sozialer Vorsorge konnten dadurch zwei charakteristische Merkmale Wurzeln fassen. Das war zum einen die Tradition des selbsterworbenen Anspruchs auf eine geldwerte Leistung, was voraussetzte, dass der Beitragszahler auch Arbeitnehmer mit persönlichem Einkommen war; zum anderen die Trennung zwischen der Versicherung für den arbeitenden Menschen und der Fürsorge für jeden notleidenden Menschen, unabhängig davon, ob dieser zur Arbeitsgesellschaft gehörte oder ein Habenichts war. Die immer wieder aufkeimende Debatte zwischen Befürwortern einer einheitlichen Volksversorgung, die den Unterschied zwischen Versicherungsprinzip und Unterstützungsprinzip aufhebt, und Positionen zugunsten einer Beibehaltung der alten Trennung zwischen Fürsorge und Versicherung ist charakteristisch für Deutschland. Sie verweist auf die hohe Bedeutung, die in der deutschen Sozialkultur der Arbeit aus handwerklicher oder industrieller Beschäftigung zugemessen wird. Die Bemessung der Sozialstaatlichkeit am Faktor Arbeit unterscheidet die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert vor allem von der Entwicklung in skandinavischen Ländern, aber auch in Großbritannien, wo die  Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age. Cambridge, MA u. a. 1998.  Daher kommt der Begriff Wohlfahrtsstadt. Siehe Wilfried Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910 − 1933. Göttingen 1998.

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Einheits- beziehungsweise Volksversicherung den Unterschied zwischen staatlicher Fürsorge und individuell erworbenen Ansprüchen entweder gar nicht kannte oder kaum in Betracht zog. Arbeit war und ist in Deutschland der Kern des gesellschaftlichen Selbstverständnisses.¹¹ Das machte sich 1945 bis 1949 im Kampf westdeutscher Politiker mit den westlichen Besatzungsmächten um die Beibehaltung der Sozialversicherung deutschen Typs bemerkbar, als die westlichen Sieger eigentlich die einheitliche Volksversorgung durchsetzen wollten.¹² Das Selbstverständnis, dem dieses Beharren zugrunde lag, steht bis heute in Geltung. Deshalb hat der Anpassungsdruck des Finanzmarktkapitalismus in den letzten dreißig Jahren hierzulande weniger stark gewirkt als etwa in Großbritannien. Die Bedeutung des Faktors Arbeit zeigte sich in Deutschland auch darin, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg – und dann forciert durch die Auswirkungen des Krieges während der 1920er Jahre – über das „Recht“ des arbeitenden Menschen nachgedacht und diskutiert wurde. Die Weimarer Reichsverfassung legte in ihrem Grundrechte-Teil in Artikel 157 fest: „Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.“ Die Protagonisten bei der Ausformulierung des Arbeitsrechts waren Hugo Sinzheimer (1875−1945) und einige seiner Schüler: Otto Kahn-Freund (1900 −1979), Ernst Fraenkel (1898−1975), Franz Leopold Neumann (1900−1954). Sie arbeiteten gewerkschaftsnah in Verbindung mit dem ADGB. Die Nähe zur SPD als politischer Partei und Regierungspartei in einigen der Weimarer Kabinette war weniger deutlich ausgeprägt. Gleichwohl verabschiedeten die Regierungen der Weimarer Republik 1920 im Schulterschluss mit den Gewerkschaften das durch die Sinzheimer-Schule vorbereitete Betriebsrätegesetz, mit dem die Tarifpartnerschaft, die es in Rudimenten seit 1916 gab, in der Wirklichkeit der industriellen Arbeitsgesellschaft verankert wurde. 1923 folgte die „Verordnung über das Schlichtungsrecht“; auf deren Schattenseite – die staatliche Zwangsschlichtung von Arbeitskonflikten – ist deutlich hinzuweisen, auch wenn ich diesen Aspekt hier nicht weiter verfolge. Zum Jahresende 1923 kam die Verordnung über die Arbeitszeit hinzu, die den 1918 eingeführten Achtstundentag rhetorisch beschwor, faktisch aber beseitigte.¹³

 Vgl. Karl H. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit. Stuttgart 2008.  Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957. Stuttgart 1980.  Thilo Ramm, „Die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik“, in: Ramm, Thilo u. a. (Hrsg.), In memoriam Sir Otto Kahn-Freund. München 1980, S. 225 – 246; Günter Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Stuttgart 1987.

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II. Suchbewegungen in der Moderne

Diese arbeitsrechtlichen Festlegungen fielen in die krisenhaften Anfangsjahre der Weimarer Republik. In den stabilen Jahren folgten 1926 das „Arbeitsgerichtsgesetz“ und 1927 das berühmte Gesetz über „Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“. Beide Gesetze kann man als Dokumente für die Behauptung heranziehen, dass die Weimarer Republik eben nicht funktioniert hat und ihr Scheitern unausweichlich war. Man kann sie aber auch als Beleg dafür betrachten, dass hier Ansätze gemacht und Anläufe gewagt wurden, die Maßstäbe setzten und später wieder aufgegriffen, ausgearbeitet und weitergedacht wurden: eben „Weimar als Modell“.¹⁴ Die Bedeutung des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926 lag darin, dass die vom Gesetzgeber, dem Reichstag, bisher vernachlässigte Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts nun von den Gerichten, vor allem vom Reichsarbeitsgericht, vorgenommen wurde. Da die Mehrheit der Juristen, so auch die der Richter am Reichsarbeitsgericht, vom akademischen Zeitgeist in der Rechtswissenschaft stark beeinflusst waren, schufen sie durch ihre Rechtsprechung ein Arbeitsrecht, das deutlich antiliberale, gegen die parlamentarisch-demokratische Verfasstheit der Weimarer Republik gerichtete Züge aufwies. Ihre Entscheidungen begünstigten keineswegs die Arbeitgeber/Unternehmer, sondern hielten zwischen den Tarifpartnern ungefähr das Gleichgewicht. Von zentraler Bedeutung war vielmehr, dass sich die Arbeitsgerichte an einem sozialökonomischen Ordnungsmodell orientierten, das damals in den Politischen Wissenschaften, in der Nationalökonomie und im Staatsrecht unter dem Begriff der „Führerdemokratie“ diskutiert wurde.¹⁵ So trug das Arbeitsrecht seit der Einrichtung des Reichsarbeitsgerichts mit dazu bei, die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik zu diskreditieren und einem autoritären Modell staatlicher Herrschaft sowie einem tripartistischen Korporatismus den Weg zu bahnen. Dennoch: Das Arbeitsrecht, das bis zur Verabschiedung des Arbeitsgerichtsgesetzes schon ausgearbeitet worden war,

 Vgl. Johannes Bähr, Entstehung und Folgen des Arbeitsgerichtsgesetzes von 1926. Zum Verhältnis von Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und Justiz zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Tenfelde, Klaus (Hrsg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, S. 507– 532.  Prägnante Beispiele sind die Texte von: Moritz Bonn, Die Krise der europäischen Demokratie. München 1925; Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa. Stuttgart 1925; Theodor Geiger, Führer und Genie, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 6, 1926/27, S. 232– 247; Ernst Fraenkel, Kollektive Demokratie, in: Die Gesellschaft 6, 1929, S. 103 – 118; Alexander Rüstow, Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie (1929), veröffentlicht: Waldemar Besson, Zur Frage der Staatsführung in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7, 1959, S. 85 – 111; Alfred Weber, Das Ende der Demokratie? Ein Vortrag. Berlin 1931; Hermann Heller, Autoritärer Liberalismus?, in: Die Neue Rundschau 44, 1933, S. 289 – 298; Gerhard Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild. München u. a. 1933.

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wurde nach 1949 in der Bundesrepublik erneut installiert und den Bedingungen der Zeit angepasst.¹⁶ Die Arbeitslosenversicherung von 1927 war unter den Bedingungen der Zeit schlechterdings nicht finanzierbar – nicht einmal, solange sich die Wirtschaft in einer eher normalen Gesamtsituation befand, in der nur die jahreszeitbedingten Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt zu verkraften waren. Als die Weltwirtschaftskrise 1929/30 begann, brach die Arbeitslosenversicherung sogleich zusammen. Dennoch bilden beide, Arbeitsgerichtsbarkeit und Arbeitslosenversicherung, Merkdaten für den Modellcharakter der Weimarer Republik. Warum? Die Sozialpolitik seit dem Ende des Ersten Weltkrieges trug dem Sachverhalt Rechnung, dass der Krieg die „Klassengesellschaft“ von vor 1914 zur „Massengesellschaft“ transformiert hatte. Bereits während des Krieges reagierten erste Maßnahmen wie das „Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst“ vom Dezember 1916 auf diese Entwicklung. Ähnliche Prozesse lassen sich für alle europäischen Länder erkennen, die am Krieg teilgenommen hatten. Die Sozialpolitik der Weimarer Republik bildete den deutschen Versuch, diesen neuen Gegebenheiten gerecht zu werden. Das betraf die moderne Arbeitsgesellschaft als industrielle wie auch als landwirtschaftliche Massengesellschaft; es betraf das Verhältnis von Arbeitern und Angestellten; es betraf die Relation von Eigenverantwortung der Staatsbürger und Allgemeinverantwortung des Staats in der Sozialversicherung; es betraf die Nutzung und Kanalisierung der technischen und künstlerischen Moderne („Neue Sachlichkeit“) durch Stadtarchitektur und Wohnungsbau für den Zweck des Staats, den Menschen der Massengesellschaft nach dem Krieg ein menschenwürdiges Zuhause zu schaffen.¹⁷ Das alles ist nur in Ansätzen verwirklicht worden. Es fehlte an Zeit, es fehlte an Geld. Vor allem aber – und das ist mit Nachdruck herauszustreichen fehlte es an der Einsicht, dass eine moderne Gesellschaft als Massengesellschaft nicht integriert werden kann, wenn nicht die Sozialpartner und verschiedenen politischen Parteien und Gruppen einen Konsens über die Grundlagen ihres Handelns  Otto Kahn-Freund, Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts (1931), in: Ramm, Thilo (Hrsg.), Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918−1933. Neuwied u. a. 1966, S. 149 – 210; Moritz J. Bonn, Das faschistische und das demokratische Prinzip (1928), in: Nolte, Ernst (Hrsg.), Theorien über den Faschismus. Köln u. a. 1967, S. 235 – 256. Vgl. auch Hans-Hermann Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918−1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik. Berlin 1967.  Vgl. Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin u. a. 1985, S. 169 – 206; Tenfelde, Arbeiter im 20. Jahrhundert; Lord Wedderburn u. a. (Hrsg.), Labour Law and Industrial Relations. Building on Otto Kahn-Freund. Oxford 1983; Günther Schulz (Hrsg.), Wohnungspolitik im Sozialstaat. Deutsche und Europäische Lösungen 1918−1960. Düsseldorf 1993.

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erzielt haben. Ein solcher Konsens betrifft die gegenseitige, ja allseitige Akzeptanz der Verfasstheit des Gemeinwesens – als rechtliche Ordnung, als Wirtschaftsordnung, als politische Ordnung, als außen- und bündnispolitische Ordnung. An alldem hat es in der Zwischenkriegszeit gefehlt. In Deutschland erwiesen sich die Unbedingtheit des „linken“ Konzepts zur Neuordnung von Gesellschaft und Wirtschaft und die Unbedingtheit des antisozialistischen „rechten“ Modells eines korporativen Kapitalismus ohne gesellschaftliche, parlamentarische Repräsentation als unvereinbar. Es bestand kein Konsens über die Reichsverfassung, kein Konsens über die politische Konstitution der Republik und auch kein Konsens über den Zuschnitt der Wirtschaft wie der Arbeitsgesellschaft. Zwar ist in beiden Richtungen in Weimar agiert worden – sowohl für die gewerkschaftlich-sozialistische Position wie auch für die antisozialistisch-kapitalistische Position. Doch siegte 1932/33 diese letztere Interessenkonfiguration. Da nun die Industriellen wie die Rechtswissenschaftler, Ökonomen und Finanzfachleute – neben den vielen anderen Gruppen vom Militär bis zu den Ärzten – die nationalsozialistische Politik mittrugen und sich bereitwillig an der Kriegsvorbereitung und Kriegsführung beteiligten, waren sie 1945 nicht nur wirtschaftsideologisch gescheitert, sondern auch politisch und staatsbürgerlich diskreditiert. Die gewerkschaftliche, sozialistisch-demokratische Seite hatte zwar moralisch gesiegt, war politisch jedoch in eine schwierige Lage geraten: Sie musste sich nicht nur, wie schon 1918/19, gegen den Kommunismus positionieren, sondern ihre demokratisch-sozialistischen Auffassungen auch in einem stark veränderten Umfeld vertreten. In diesem neuen Umfeld dominierte alsbald nicht mehr der demokratische Sozialismus der europäischen Tradition, sondern ein sozialistisch-demokratischer Hybrid aus europäischen und amerikanischen Einflüssen. Bevor wir uns von hier aus der zweiten Linie zuwenden, sind zunächst einige Wirkungen der Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs zu betrachten. Es ist kein Zufall, dass aus den Krisenerfahrungen der Zwischenkriegszeit in England 1942 der Beveridge-Plan als das britische Modell für eine moderne Sozialpolitik hervorging. Hier unternahm der bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler William Beveridge den Versuch, Sozialstaatlichkeit zur Grundlage der britischen Nachkriegspolitik zu machen. Er war ein Kollege und Freund des Ökonomen John Maynard Keynes, der damals die think tanks des amerikanischen New Deal stark beeinflusste. Beveridge konzipierte eine mehr oder weniger sozialistische Neuordnung, was umso bemerkenswerter war, als er selbst aus dem Mittelstand kam. Was er entwarf, war eine gegenüber den skandinavischen Ländern noch verschärfte Variante einer völlig homogenisierten klassenlosen Gesellschaft, in der jeder Mensch Anspruch auf soziale Leistungen geltend machen konnte. Der Preis dieses Unternehmens war der Entzug bestimmter Individual-

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rechte, zum Beispiel Einfluss zu nehmen auf die Art der Schulausbildung der Kinder oder auf die Gesundheitsversorgung der Familie.¹⁸ Der Beveridge-Plan ist nur zu kleinen Teilen Wirklichkeit geworden, weil ihn die Labour-Regierung unter Clement Attlee von 1945 bis 1951 nur ansatzweise umsetzen konnte. 1951 kam unter Winston Churchill wieder ein bürgerliches Kabinett an die Regierung und eliminierte die Elemente der Klassenlosigkeit aus der britischen Sozialpolitik. Ich führe dieses Beispiel stellvertretend für andere an, um darauf hinzuweisen, dass in Europa nach der Erfahrung der krisenhaften Zwischenkriegszeit, der Entstehung des Faschismus und der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs das Heil der Zukunft in einer umso entschiedeneren Abkehr vom Kapitalismus gesehen wurde. Max Horkheimers Feststellung aus dem Jahr 1939, getroffen im amerikanischen Exil in New York, formulierte eine zeitgenössisch weitverbreitete Gewissheit: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“¹⁹ Anders gesagt: Der Kapitalismus bedingt den Faschismus. Der 1945 zu Ende gehende Krieg war eine Frucht des Faschismus. Wie anders konnte die Zukunft aussehen, als „antifaschistisch“, und das musste dementsprechend heißen: „antikapitalistisch“? So dachten am Ende des Zweiten Weltkriegs viele Europäer. Dass es anders kam, lag nicht nur am Vorrücken der Roten Armee und der Angst vor dem Bolschewismus. Es lag an der Transformation des europäischen demokratisch-sozialistischen Denkens in den USA während der frühen 1940er Jahre.

Bonn: Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und transatlantische Einflüsse Betrachten wir nun die zweite Linie, die von Weimar in die Bundesrepublik – von den 1920er Jahren in die 1950er und 1960er Jahre – führt. In der Weimarer Republik waren die Erfahrungen der Tarifpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmern und des Ausbaus arbeitsrechtlicher Regelungen prägend für diejenigen politischen Kräfte, die sich zur Verfassungsordnung der Republik bekannten. Das waren nicht nur Gewerkschaftler und Sozialdemokraten, sondern auch Politiker aus der Zentrumspartei und einige wenige bürgerliche Liberale wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss. Nehmen wir als Beispiel Konrad

 José Harris, William Beveridge. A Biography. Oxford 1977; Rodgers, Atlantic Crossings.  Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften. Bd. 4. Schriften 1936−1941. Hrsg. von Alfred Schmidt. Frankfurt am Main 1988, S. 308 – 332, S. 308 f.

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Adenauer, den Oberbürgermeister von Köln, Jahrgang 1876, und Hans Böckler, Jahrgang 1875, der von 1924 bis 1926 Stadtverordneter der SPD in Köln war, bevor er 1928 Mitglied des Reichstags wurde. Von 1918 bis 1923 war Böckler Sekretär der „Zentralarbeitsgemeinschaft“ gewesen, die nach dem Weltkrieg den ersten Versuch zu einer Kooperation zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden in Gang gebracht hatte. Adenauer wie Böckler überlebten das Dritte Reich als Oppositionelle, politisch funktionslos, still und zurückgezogen, und nach dem 20. Juli 1944 zeitweilig verfolgt. Nach 1945 widmeten sie sich in hohen politischen Funktionen dem Wiederaufbau. Am 25. Januar 1951 einigten sich der bürgerliche Kanzler Adenauer und der sozialdemokratische Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Böckler auf die gesetzliche Regelung der Mitbestimmung in der Montanindustrie. Angeblich habe Adenauer damit den DGB zur Befürwortung der Wiederbewaffnungspolitik motivieren wollen. Das mag sein. Entscheidend indes war das politische Bewusstsein beider Politiker, dass eine stabile Ordnung nur auf der Basis der existierenden Verfassung und der Kompromissbereitschaft von Staat, Gewerkschaften und Unternehmertum möglich ist. Die Unternehmerseite, der Adenauer persönlich näher stand als den Gewerkschaften, wurde durch das Gesetz zur Montanmitbestimmung dazu gezwungen, sich auf eine funktionierende Tarifpartnerschaft mit den Gewerkschaften im Bereich des Bergbaus sowie der Eisen- und Stahlindustrie einzulassen und nicht länger gegen sie zu arbeiten. Dies ist ein prominentes Beispiel für die deutsche Spielart des historischen Handlungsmusters „Weimar als Modell“.²⁰ Daneben gibt es die atlantische Spielart dieses Handlungsmusters. Deren historische Bedingungen waren einerseits die Weltwirtschaftskrise, die damit einhergehende Massenarbeitslosigkeit und die politische Krise in den USA, aus der 1933 unter Franklin D. Roosevelt der amerikanische New Deal hervorging; anderseits die deutsche Emigration nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die Arbeitsrechtler der Sinzheimer-Schule waren, wie ihr Begründer, sämtlich jüdisch. Otto Kahn-Freund floh nach England und wurde dort an der London School of Economics (LSE) zu der internationalen Kapazität eines modernen Arbeitsrechts in den europäischen Industriegesellschaften. In den Jahrzehnten nach 1945 hybridisierte das deutsche Arbeitsrecht aus der Zeit seit 1920 mit dem seit 1950 bestehenden Sozialstaatsmodell britischer Prägung zu einem

 Vgl. hierzu Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Reihe 4, Bd. 1. Montanmitbestimmung. Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. Mai 1951. Bearb. von Gabriele Müller-List. Düsseldorf 1984.

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Vorbild des welfare state building der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften.²¹ Franz Leopold Neumann, der bis 1933 als Syndikus beim Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in Berlin gearbeitet hatte, floh nach London und promovierte dort – nach seiner juristischen Dissertation bei Sinzheimer – ein zweites Mal bei dem Labour-Politiker und Professor an der LSE Harold Laski, der Neumann die Chance gab, sich der Politischen Wissenschaft zuzuwenden. Von England aus zog Neumann in die USA weiter, wurde von Horkheimer und Adorno zunächst als Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in New York aufgenommen, bevor er 1942 im neu gegründeten amerikanischen Auslandsgeheimdienst, dem Office of Strategic Servives (OSS), zum Leiter der Mitteleuropa-Sektion berufen wurde. Er war zuvor mit seiner Strukturanalyse des Nationalsozialismus unter dem Titel Behemoth berühmt geworden.²² Im OSS erstellte er mit anderen deutschen Exilanten, zu denen Herbert Marcuse zählte, und amerikanischen Wissenschaftlern die Blaupausen für die amerikanische Besatzungs- und Reeducation-Politik in Deutschland, er erarbeitete die juristischen Grundlagen für das Internationale Militärtribunal, wurde Professor an der Columbia-Universität und ab 1948 regelmäßiger Gastprofessor an der Freien Universität Berlin – der amerikanischen Gegengründung zur etablierten Friedrich-Wilhelms-Universität (nach dem Krieg wiedereröffnet als Berliner Universität und 1949 erneut umbenannt in Humboldt-Universität Berlin) im sowjetischen Sektor. In der Kooperation zwischen deutschen Emigranten und amerikanischen Intellektuellen im Umfeld des OSS wie in anderen Zirkeln der USA erfolgte ab 1941/42 die intellektuelle Integration von zwei bis dahin unvereinbaren Vorstellungen über die Ordnung der Gesellschaft: Kapitalismus und Sozialismus.²³ Mit dem amerikanischen New Deal hatte die US-Regierung unter Roosevelt den Versuch unternommen, die Demokratie als politische Ordnungsform und die Marktwirtschaft als ökonomische Ordnungsform zu stabilisieren. Der Preis dafür bestand darin, dass die in den USA bis dahin unantastbaren Freiheitsrechte des  Wedderburn, Labour Law; Hans Günter Hockerts, Das Gewicht der Tradition. Die deutsche Nachkriegssozialpolitik und der Beveridge-Plan, in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat, S. 43 – 70; Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München 1989, S. 145 – 203.  Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933−1944, (1942/ 44). Frankfurt am Main 1977.  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Protagonist kritischer Demokratiewissenschaft zwischen Weimar, Washington und West-Berlin – Franz L. Neumann (1900 – 1954), in: Hein, Bastian u. a. (Hrsg.), Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte. München 2012, S. 161– 174; Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburg 2010.

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Individuums – einschließlich der des Unternehmers – stark beschnitten wurden. Daraus entstand so etwas wie die amerikanische Spielart von Sozialem Liberalismus. Nun kamen die Ideen der deutschen Emigranten hinzu. Sie vertraten die Auffassung, dass der Kapitalismus grundsätzlich Gewalt hervorbringe, die Demokratie bedrohe und den Faschismus möglich gemacht habe. In den USA und im Austausch mit den intellektuellen Vorkämpfern der New Deal order mussten sie lernen, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft – freiheitliche Verfassung und Kapitalismus – nicht um jeden Preis ausschlossen. Sie mussten lernen, dass Kapitalismus nicht zwangsläufig in jedem sozialen Umfeld Gewalt hervorbringt.²⁴ So entstanden in intellektuell hochrangigen Auseinandersetzungen die Prämissen des späteren Diskurses zur „Westernisierung“ der westdeutschen Gesellschaft. Hier wurde der funktionale Zusammenhang von Kapitalismus, Rechtsstaat und Demokratie theoretisch fundiert. Hier wurden die Grundlagen für Tarifpartnerschaft im demokratischen und marktwirtschaftlichen, das heißt im kapitalistischen Rahmen erörtert. All dies kam ab 1947/48 durch amerikanische Kulturoffiziere, Professoren und Journalisten nach Deutschland. Erwähnt seien Melvin Lasky und die Zeitschrift Der Monat, weiter Franz Leopold Neumann und Ernst Fraenkel, die – neben anderen wie Otto Suhr und Richard Löwenthal – als Professoren für Politik- und Demokratiewissenschaft an der Freien Universität Berlin tätig waren. Ich erwähne die Redaktionen des Norddeutschen Rundfunks und des Westdeutschen Rundfunks sowie Verlage wie Kiepenheuer & Witsch und andere in Nordrhein-Westfalen.²⁵ Herauszuheben ist insbesondere Ernst Fraenkel aus der Sinzheimer-Schule, der 1938 aus Deutschland floh und, parallel zu Neumanns Behemoth, in den USA seine ebenso berühmte Studie The Dual State über das politische System des Nationalsozialismus veröffentlichte.²⁶ Fraenkel kehrte 1950 nach Deutschland zurück und wurde Politologie-Professor an der Freien Universität Berlin. Zusammen mit anderen Emigranten und Remigranten schuf seine Lehrtätigkeit und Publizistik die Grundlegung der Politologie als Demokratiewissenschaft. In Büchern wie Deutschland und die westlichen Demokratien und in vielen Aufsätzen

 Ronald Edsforth, The New Deal. America’s Response to the Great Depression. Malden, MA u. a. 2000; Gary Gerstle (Hrsg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930−1980. Princeton, NJ 1989.  Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999; Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie.  In deutscher Fassung: Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat (1941). Frankfurt am Main 1974.

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griff er systematisch die Fragen von Arbeitsrecht und Tarifpartnerschaft in der Weimarer Republik auf, analysierte sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit 1933 und brachte sie in der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit der Bundesrepublik zur Geltung.²⁷ Als die SPD 1959 das Godesberger Reformprogramm verabschiedete und 1962 der DGB mit dem Düsseldorfer Reformprogramm der Gewerkschaften folgte, war die skizzierte Hybridisierung in der Gesellschafts- und Parteipolitik der Bundesrepublik angekommen. Demokratie und Kapitalismus, Rechtsstaat und Tarifpartnerschaft konnten fortan, miteinander verbunden, als Grundlage der bundesdeutschen Verfassungswirklichkeit wirken. Die Große Koalition des Jahres 1966 hat diese sowohl ideengeschichtliche als auch politisch-historische Integrationsleistung gewissermaßen beglaubigt. Das wäre nicht möglich gewesen ohne die produktive Verarbeitung der Weimarer Erfahrungen durch die Zeitgenossen.

Fazit Die Modellhaftigkeit der ersten deutschen Republik, wie eingeschränkt auch immer sie gewesen sein mag, hat durch zwei Kanäle gewirkt. Der eine war der deutsche Kanal, den diejenigen schufen, die nach 1933 in Deutschland blieben und das Dritte Reich überlebten. Der zweite Kanal war der atlantische, den Flüchtlinge, deren Leben der Nationalsozialismus bedroht hatte, in der erzwungenen Emigration geschaffen hatten. Beide Gruppen waren durch die Aufgabe in der Weimarer Zeit geprägt, eine neue Ordnung für die sich nach dem Ersten Weltkrieg formierende Massengesellschaft zu etablieren. Beide Gruppen standen auf dem Boden der Verfassung und hielten die parlamentarische Demokratie für eine gute politische Ordnung. Zugleich hatten sie aber auch die gravierenden Mängel in der politisch-parlamentarischen Praxis der Republik erkannt. Beide Gruppen waren mit der arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Integration der Industriegesellschaft befasst. Sie hatten bedeutsame Erfahrungen sowohl mit den Möglichkeiten wie mit den Defiziten des Weimarer Modells gemacht.²⁸ Die Schwächen und Fehler der Weimarer Republik haben sie in der inneren wie äußeren Emigration gründlich durchdacht und aus ihren Einsichten die nötigen  Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien; Fraenkel, Reformismus und Pluralismus. Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Biographie. Hrsg. von Falk Esche/ Frank Grube. Hamburg 1973.  Vgl. Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949−1974. Göttingen 2005.

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Schlussfolgerungen gezogen. So waren sie nach 1945 aus politischer Erfahrung, fachlichem Wissen und persönlicher Einsicht in der Lage, zu einem Wiederaufbau beizutragen, der keineswegs nur den „restaurativen Charakter der Epoche“ konturierte,²⁹ sondern den Weg in die Richtung eines politisch liberalen und marktwirtschaftlichen „Konsenses“ wies. In der Bundesrepublik schmolzen mithin die deutsche Tradition und der atlantische Einfluss zur Sozialverfassung der zweiten Demokratie zusammen. In beiderlei Hinsicht wirkte darin Weimar als Modell.

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Die Ordnung der Zeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem Die Ambivalenz des Nationalsozialismus Die wenigen Jahre von der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs sind in ihrer Ambivalenz nicht leicht zu fassen. Für den rückschauenden Historiker steht das abstoßende Erscheinungsbild von Destruktion, ausgreifender Diktatur und der Verfolgung ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen bis hin zum offenen Terror im Vordergrund. Wir sehen das Dritte Reich von seinem Ende her und erkennen in den Anfängen bereits die Eskalation der Judenverfolgung und des Vernichtungskriegs.¹ Die Alltagskultur der dreißiger Jahre und das rastlose Tempo technischer Modernisierung betrachten wir kaum als eine Phase des Aufbruchs zu einer von der Propaganda überhöhten Neuordnung der Gesellschaft. Im Wissen um das Kommende sieht man darin die Vorbedingungen des Krieges deutlicher, als es die Zeitgenossen sehen konnten oder wollten.² Dennoch dürfen die Dynamik des Neuen und insbesondere der Aufbruchsgeist nach der Weltwirtschaftskrise nicht ignoriert werden. Sei es der Bau von Rennautos, Expresszügen und Flugzeugen, die den Rausch des Tempos in dieser Zeit verkörperten, sei es die forcierte Radiokommunikation bis hin zur medialen Vereinnahmung der „Volksgemeinschaft“ auf den Massenveranstaltungen der Parteitage, sei es schließlich die unablässige Bautätigkeit des Regimes – all das hat auf sehr viele Zeitgenossen mitreißend gewirkt.³ Für uns stellt es jedoch nur noch ein irritierendes Sinnbild unablässiger Unrast dar. Wir fragen uns, welcher Zweck damit verbunden war und welches Ziel damit angesteuert wurde. Wir sehen die ebenso faszinierenden wie erschreckenden Artefakte technischer Leistungsfähigkeit und alltagskultureller Modernisierung in ihrem unlösbaren Bezug zu Krieg und zerstörerischer Expansion. Dieses Janusgesicht ist das Kennzeichen des europäischen Faschismus in all seinen Erscheinungsformen, bei den kleineren faschistischen Bewegungen, im italienischen Faschismus und im deut-

 Besonders anschaulich zuletzt bei Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S. 305 – 392; Konrad H. Jarausch, Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century. Princeton, NJ u. a. 2015, S. 261– 286.  Vgl. Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007, S. 59 – 239.  Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewusstsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Göttingen 2009, S. 9 – 87. https://doi.org/10.1515/9783110633870-009

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schen Nationalsozialismus, und es gilt ähnlich auch für die stalinistische Sowjetunion in den dreißiger Jahren.⁴ Fragt man nach den Antriebskräften, welche die Rastlosigkeit, propagandistische Atemlosigkeit und politische Ungeduld hervorbrachten, stößt man auf die ideologische Ambivalenz des Nationalsozialismus, die der praktischen Ambivalenz in seinem Erscheinungsbild zugrunde lag. Der Sinn dieser Ambivalenz muss uns beschäftigen. Wir fassen darüber die Idee einer Zeitordnung, die das nationalsozialistische Herrschaftssystem bestimmte und widersprüchliche Komponenten in sich vereinte, ja mehr als das: Die Zeitordnung des Dritten Reichs bestand maßgeblich, wenn nicht ausschließlich in der unlösbaren Verschmelzung von tagtäglicher Rastlosigkeit und der Utopie einer immerwährenden Ordnung. Anders gesagt, der Sinn dieser Ambivalenz besteht in dem bloß scheinbaren Widerspruch zwischen der druckvollen Rastlosigkeit des Regimes, um die Gesellschaft in permanenter Bewegung zu halten, und einer geradezu bebenden Besessenheit, einen Endzustand, eine „ewige Ordnung“ zu erreichen, in der alle Bewegung stillgestellt und kein Wandel mehr nötig sein würde. Diese „ewige Ordnung“ war das Tausendjährige Reich, das der Nationalsozialismus beschwor. Wir erkennen bereits in einer ersten Annäherung, dass Bewegung und Stillstand, rastloses Tempo und „ewige Ordnung“ aufeinander bezogen waren. Die Konstruktion der spezifisch nationalsozialistischen Zeitordnung unterschied sich daher fundamental von den Zeitvorstellungen im Deutschland des Kaiserreichs und der Weimarer Republik – ganz zu schweigen von den westlichen Demokratien in Europa und den USA. Sie unterschied sich aber auch, wie wir am Ende dieses Beitrags erkennen werden, von der Vorstellung einer beschleunigten und in ihrer Beschleunigung beherrschbaren, planbaren Zeit, die für die Sowjetunion charakteristisch war.⁵ In der nationalsozialistischen Zeitordnung war es die Bewegung selbst, die auf den zeitlosen Endzustand ausgerichtet wurde, und dieser Endzustand war das Ziel aller Rastlosigkeit. Dieses scheinbare Paradox ist von der jüngeren Faschismusforschung sehr markant analysiert worden. Roger Griffin sowie Fernando Esposito und Sven Reichardt haben nach einschlägigen monographischen Vorarbeiten erst kürzlich neue Thesen formuliert, die sich explizit mit dem Problem der „Fascist Temporalities“ befassen.⁶ Ganz pointiert beschreiben sie dies mit

 Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008.  Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt am Main 2006, S. 81– 119.  Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler. Basingstoke 2007; Fernando Esposito, Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien. München 2011; Journal of Modern European History 13, 2015, Heft 1 (Thema „Fascist Temporalities“).

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dem Gegensatzpaar „Revolution and Eternity“. Im vorliegenden Beitrag soll dieser Ansatz aufgegriffen und mit einigen Thesen aus der eigenen Forschung verknüpft werden, um die Ambivalenz zu veranschaulichen, welche die Zeitordnung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems bestimmte.

Der Liberalismus und dessen Überwindung Zu diesem Zweck müssen wir einen Schritt zurücktreten und die Vorgeschichte ins Auge fassen. Der Nationalsozialismus wurzelte ideell und materiell in der Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs spielte darin eine bedeutende Rolle, aber die weltanschaulichen Vorannahmen waren älter. Zu diesen Vorannahmen gehörte die seit den 1890er Jahren anzutreffende und dann mit dem Weltkrieg verschärfte und systematische Zurückweisung des bürgerlichen Geschichtsdenkens, das ein Teilelement des europäischen Liberalismus bildete.⁷ Dem Liberalismus war seit seiner Entstehung in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution die Überzeugung zu eigen, dass menschliches Handeln dem „Fortschritt“ zu dienen habe und dass sich dieser „Fortschritt“ kontinuierlich und mit humanem Maß vollziehe. Die Trägerschicht des liberalen Fortschrittsdenkens war das Bürgertum, das sich in der Nachfolge von 1789 gegen den monarchischen Absolutismus und den Adel durchzusetzen bestrebt war. Das bürgerlich-liberale Fortschrittsdenken war funktional mit einem spezifischen Verständnis von Geschichte verbunden, und zwar dergestalt, dass sich der „Fortschritt“ nur im historischen Raum, im Gehäuse der Geschichte, vollziehen könne – auf der Vergangenheit aufruhend, diente das Handeln in der Gegenwart eben diesem „Fortschritt“ und ermöglichte den Eintritt in eine bessere Zukunft. Im liberalen Verständnis von Geschichte verschmolzen die Vorstellung vom „historischen Raum“ und der „Zeit der Geschichte“ zu einer Einheit, welche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur als Sinn-, sondern als Bedingungszusammenhang des menschlichen Handelns begriff: alles und jedes war historisch bedingt, alles und jedes war historisch vermittelt. Dieses Geschichtsbewusstsein des Liberalismus in der bürgerlichen Epoche von 1815/20 bis etwa 1870/80 wirkte formend auf seine Vorstellung von der Zukunft und von der Gestaltung des „Fortschritts“ ein. Gegen das liberale Geschichtsdenken und dessen Fortschrittsoptimismus entstand in den Jahrzehnten

 Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001; Anselm Doering-Manteuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in diesem Band: S. 157– 190.

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der Hochindustrialisierung und der ersten Globalisierung – der Epoche des Freihandels und der imperialistischen Rivalität der europäischen Großmächte zwischen 1880 und 1914 – ein stetig zunehmender Widerspruch. Dieser stellte die zeitgenössische Geschichtsauffassung in Frage, dass alles und jedes nur aus der Geschichte heraus begriffen werden könne. Denn eine solche Annahme radikaler Historizität relativierte die andere, in jeder Kultur existenziell verankerte Annahme, dass es außerhalb der vom Menschen beeinflussbaren Welt etwas Unbeeinflussbares gab, das immer galt: dass es Wahrheit gab und Gott. Es war kein Zufall, dass Philosophen und Theologen zu den Vordenkern einer Abkehr vom Selbstverständnis des Liberalismus wurden. Sie konnten und wollten die vom aufklärerischen Rationalismus und dem daran gebundenen liberalen Geschichtsdenken hervorgerufene Abkehr von jeglicher Transzendenz nicht hinnehmen. Friedrich Nietzsche war der vielleicht wichtigste Protagonist der neuen „antihistoristischen“ Denkschule. Ein kausaler Bezug zwischen Nietzsches Philosophie und der Ideologie des Nationalsozialismus kann daraus allerdings nicht abgeleitet werden.⁸ Seit 1890 begann sich der Wandel der Lebensbedingungen im Zuge der Industrialisierung immer stärker zu beschleunigen. Die Industriestädte wuchsen stürmisch an. Die Menschen kamen aus Agrarregionen, die ihre Bevölkerung nicht mehr ernähren konnten. Der Zustrom von gesichts- und namenlosen Migranten in die Industriezentren rief beim Stadtbürgertum den Eindruck einer kontinuierlich anschwellenden anonymen Masse hervor, in der keine Einzelperson, kein Individuum mehr zu erkennen war. Der Liberalismus aber baute sein ganzes Weltbild auf der Überzeugung vom Vorrang des Individuums auf. Die Entscheidungsfreiheit und der Gestaltungswille des Einzelnen formten demnach aus dem Erfahrungsraum der Geschichte die Zukunft der Gesellschaft und gestalteten somit den „Fortschritt“. Wo das Individuum nicht mehr zu erkennen war und wo es den gemessenen, kontinuierlichen Fortschritt nicht mehr gab, sondern bedrohlich erscheinende anonyme Menschenmassen und beängstigend schnelle, immer neue Veränderungen der Lebenswelt, konnte die Weltsicht aus der bürgerlichen Epoche keine Orientierung mehr bieten. Um 1900 entstanden, dagegen

 Ausführliche Darstellung und nähere Nachweise bei Kurt Nowak, Die antihistoristische Revolution. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Gütersloh 1987, S. 133 – 171; Anselm Doering-Manteuffel, Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in diesem Band: S. 191– 221.

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gerichtet, die verschiedenen Reformbewegungen, von denen die Lebensreformbewegung und die Jugendbewegung die bekanntesten sein dürften.⁹ Zur selben Zeit bildete sich ein Verständnis von Vergangenheit heraus, das keinen Bezug zur rational erkennbaren Geschichte hatte, sondern raunend von der „Vorzeit“ sprach. Es beschwor eine Sagenwelt mit germanischen Helden und ein mittelalterliches Reich, wie es nie existiert hatte. Die Errichtung der Burg Neuschwanstein zwischen 1869 und 1881 als bloße Fiktion von „Geschichte“ oder die Rekonstruktion der Goslarer Kaiserpfalz von 1875 bis 1879 waren Manifestationen solch antihistoristischen Geschichtsverständnisses. In Goslar wurde die verfälschende Architektur auf historischen Grundmauern mit Wandgemälden ausgestattet, die den Hohenzollernkaiser Wilhelm I. an die Seite des Stauferkaisers Friedrich Barbarossa rückten, sodass die Herrscherbilder historisch in eins zu fließen schienen und ein in der Tat „sagenhaftes“ Geschichtsbild konstruierten.¹⁰ Dieser Antihistorismus konstruierte sich eine „Übergeschichte“,¹¹ die außerhalb des geschichtlichen Raums und oberhalb der geschichtlichen Zeit angesiedelt war. Verbunden mit einem politischen und gesellschaftlichen Antiliberalismus, der keine individuelle Freiheit bei der Gestaltung der persönlichen Lebenswelt kannte und den „Fortschritt“ in den Jahren um die Jahrhundertwende ablehnte, war bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ein Ideengebäude für ein antiliberales Massenzeitalter entstanden, das sich in den vier Jahren des mörderischen Maschinenkriegs entschieden radikalisierte. Dieses Ideengebäude war das Weltbild der völkischen Bewegung. Seine Ursprünge lagen in Österreich. Die völkische Bewegung hatte sich im Zerfall der Donaumonarchie nach der Abtrennung Österreichs von Deutschland 1866/71 herausgebildet und bis zur Jahrhundertwende eine radikal antihistoristische Ideologie entwickelt.¹² Während des Weltkriegs reicherte sich diese noch um eine rassenantisemitische Komponente an. Das völkische Weltbild ordnete „den Deutschen“ als arischen Menschen den slawischen Völkerschaften im Donauraum über und postulierte eine Hierarchie der Rassen mit dem Arier an der Spitze. Es nahm das antihistoristische Gedankengut  Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933. Wuppertal 1998.  Monika Arndt, Der Weißbart auf des Rotbarts Throne. Mittelalterliches und preußisches Kaisertum in den Wandbildern der Goslarer Kaiserpfalz. Göttingen 1977; zum weiteren Zusammenhang siehe Hermann Glaser, Die Kultur der wilhelminischen Zeit. Topographie einer Epoche. Frankfurt am Main 1984.  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Bialas, Wolfgang/ Küttler, Wolfgang (Hrsg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 4. Frankfurt am Main 1997, S. 217– 244.  Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871– 1918. München u. a. 1996.

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der zeitgenössischen Liberalismuskritik in sich auf, sodass die zentralen Kategorien – „Volk“, „Rasse“ und „Raum“ – als gänzlich unhistorische Entitäten vorgestellt werden konnten. „Volk“ trat an die Stelle von „Nation“ und ersetzte mithin eine historische Kategorie, denn Nationen entstehen in einer bestimmten Zeit und sind in einem historisch bestimmbaren Staat organisiert. „Raum“ trat an die Stelle des „Staats“ und annullierte ein solches Staatsverständnis. „Rasse“ beschrieb dann den spezifischen Menschentypus des „Volks“ in seinem „Raum“. Die traditionelle, an das europäische Völkerrecht gebundene Auffassung von historisch gewachsener und vertraglich geformter Nationalstaatlichkeit spielte im völkischen Denken keine Rolle. „Volk“, „Rasse“ und „Raum“ wurden gedanklich zu einer Einheit zusammengeführt, die es zu verwirklichen gelte und die, wenn sie dereinst erreicht war, als „ewige Ordnung“ unveränderlich sein würde. Die Geschichte war darin überwunden und die Zeit stillgestellt. Diese Denkfigur der völkischen Ideologie nahm Hitler während seiner Wiener Jahre von 1908 bis 1913 in sich auf.¹³ Die verschiedenen ideellen Strömungen waren also bereits vorhanden und hatten auch gewissen Einfluss auf zeitgenössische Einstellungsmuster, vor allem im bayerischen, insbesondere im Münchener Umfeld, als der Nationalsozialismus nach 1920 dort langsam entstand. Hitler selbst und die Ideologen der NSDAP, allen voran Alfred Rosenberg und der gerissene Propagandist Joseph Goebbels, nutzten in den Jahren der Weimarer Republik das Theoriegebäude des Antiliberalismus, das sie nur noch zu radikalisieren und rhetorisch zu simplifizieren brauchten. Die Radikalisierung verlief über die Kopplung der völkischen Lehre von einer Hierarchie der Rassen mit den Ariern an der Spitze auf der einen Seite und dem Antisemitismus, der bis dahin überwiegend wirtschaftlich und kulturell, aber nicht rassistisch grundiert gewesen war, auf der anderen Seite. Das war das Grundmuster der ideologischen Argumentation in der NS-Propaganda, und das eigentümliche Neue daran war die Projektion aller Feindschaft zu den Gegebenheiten im Hier und Heute auf die Juden und zugleich das Versprechen, durch den Überwindungskampf gegen das – sowohl „kapitalistische“ (westliche) als auch „bolschewistische“ (östliche) – „Weltjudentum“ zu einer neuen Ordnung vorzustoßen, zur „ewigen Ordnung“ im Tausendjährigen Reich. Systematisch wischte der Nationalsozialismus die Traditionen aus der europäischen Geschichte beiseite und verkündete sein Geschichtsverständnis der neuen Zeitdimension. Das geschah durchaus im Einklang mit dem antihistoristischen Zeitgeist der Liberalismuskritik. Dieser hatte sich während der 1920er Jahre als ein neuer, scheinbar moderner Trend in den Geistes- und Kulturwissenschaften an den

 Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1996.

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Universitäten ausgebreitet. Die jungen Akademiker, die 1933 in die Führungsriege der SS aufsteigen sollten, waren fast ausnahmslos als Studenten davon beeinflusst worden.¹⁴ Aber auch hochrangige Vertreter der intellektuellen Avantgarde wie der Philosoph Martin Heidegger oder der Staatsrechtler Carl Schmitt repräsentierten um 1930 dieses Denken und begrüßten daher nach der Machtübernahme Hitlers Führertum anfänglich mit enthusiastischer Zustimmung. Die Vision einer neuen Ordnung der Zeit und davon abgeleitet einer grundsätzlichen, dauerhaften, an nichts und niemanden gebundenen Neuordnung der Gesellschaft trieb in den frühen 1930er Jahren einen Teil der deutschen intellektuellen Avantgarde in der Aufbruchsstimmung einer vermeintlich „deutschen Revolution“ gegen die Prinzipien und den Herrschaftsanspruch der „überlebten“ liberalen Ordnung aus der Französischen Revolution an die Seite Hitlers. Noch im Vorfeld der Machtübernahme, Anfang Januar 1933, hatte Hitler in einer Wahlkampfrede den beträchtlichen Stimmenverlust der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 6. November 1932 (196 Mandate) gegenüber dem Erdrutschsieg vom 31. Juli 1932 (230 Mandate) kommentiert, nachdem die Gegner der NSDAP daraus bereits den Niedergang der NS-Bewegung abzuleiten versuchten. Er verwendete dazu ein geradezu klassisches Argument des Antihistorismus. Polemisch vereinfacht und simplifizierend hieß es: „Es ist letzten Endes gleichgültig, wie viele Prozent des deutschen Volkes Geschichte machen. Wesentlich ist nur, dass die letzten, die in Deutschland Geschichte machen, wir sind.“¹⁵ Nicht weit davon entfernt, bloß komplizierter in der Sprache und komplexer in den gedanklichen Verknüpfungen, war die Aussage Martin Heideggers, die er in seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Freiburg am 27. Mai 1933 traf: „Sich selbst das Gesetz geben, ist höchste Freiheit. Die vielbesungene ‚akademische Freiheit‘ wird aus der deutschen Universität verstoßen; denn diese Freiheit war unecht, weil nur verneinend.¹⁶ Sie bedeutete vorwiegend Unbekümmertheit, Beliebigkeit der Absichten und Neigungen, Ungebundenheit im Tun und Lassen. Der Begriff der Freiheit des deutschen Studenten wird jetzt zu seiner Wahrheit zurückgebracht. Aus ihr entfalten sich künftig Bindung und Dienst der deutschen Studentenschaft.“ Dann würde es möglich sein, „daß unser Volk seinen geschichtlichen Auftrag erfüllt, […] [sich] selbst noch und wieder zu wollen, […] wenn die geistige Kraft des Abendlandes versagt und dieses in seinen Fugen

 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus. Weltanschauung und Vernunft 1903 – 1989. München 2016 (urspr. 1995).  Adolf Hitler, Hitler. Reden und Proklamationen 1932 bis 1945. Bd. 1. Triumph. Halbbd. 1. 1932– 1945. Hrsg. von Max Domarus. München 1965, S. 176.  Damit ist ausgesagt, dass diese „Freiheit“ „individualistisch“ (= „westlich“) war und aus ihrem „liberalistischen“ Individualismus heraus den „Dienst“ an der Gemeinschaft „verneinte“.

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kracht, wenn die abgelebte Scheinkultur in sich zusammenstürzt und alle Kräfte in die Verwirrung reißt und im Wahnsinn ersticken lässt.“¹⁷

Das ideologische Fundament der nationalsozialistischen Zeitordnung wurde von Joseph Goebbels bald nach der Machtübernahme als „Revolution der Deutschen“ gegen die Französische Revolution ausgemalt, um deren Ursprünge und historische Wirkungen für überwunden zu erklären. Das klang ganz ähnlich wie bei Heidegger, wenn dieser sagte, dass sich das deutsche Volk „selbst noch und wieder wollen“ müsse. Goebbels nahm in seiner berühmten, infamen Rede vom 1. April 1933 zur Begründung des Judenboykotts den Ausgang von „unserer völkischen Revolution“: „Der Sinn dieser Revolution liegt im Geistigen. Wir wollen die Weltanschauung des Liberalismus und die Anbetung der Einzelperson beseitigen und ersetzen durch einen Gemeinschaftssinn, der wieder das ganze Volk umfasst und das Interesse der Einzelperson wieder dem Gesamtinteresse der Nation ein- und unterordnet. Damit wird das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen.“¹⁸

1933 wurde mithin der Kampf gegen die Zeitordnung der aufklärerischen Moderne programmatisch verkündet, nachdem die Kritik an ihrem politisch-ideellen Substrat, dem Liberalismus, schon seit mehr als zwei Jahrzehnten formuliert worden war. Die Überwindung der Französischen Revolution durch die „Revolution der Deutschen“ zielte auf die Beseitigung des aufklärerischen Rationalismus, des liberalen Freiheitsgedankens und Individualismus sowie auf die Überwindung des rationalen Verständnisses von Geschichte und Fortschritt. Die ideologische Rhetorik diente vom ersten Tag an als Orientierungsmuster und Handlungsanleitung. Die Absage an „1789“ schloss die Absage an die westliche, kapitalistische ebenso wie an die östliche, bolschewistische Ordnung ein und sah, wie gesagt, im Judentum den Agenten der beiden gegnerischen Konfigurationen. Es dauerte nicht lange, bis es in der von Goebbels verantworteten Zeitung Das Reich ganz beiläufig hieß: „Das Dritte Reich löste das Zeitalter des Liberalismus ab.“¹⁹

 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg im Breisgau am 27.5.1933, in: Heidegger, Martin, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910 – 1976. Frankfurt am Main 2000 (Gesamtausgabe. I. Abt. Bd. 16), S. 107– 117, Zitate S. 113 und 117 (Hervorhebungen durch den Verfasser).  Rede in Berlin am 1. April 1933, in: Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus. Oldenburg 1933, S. 155 – 161, Zitat S. 155 (Hervorhebung durch den Verfasser).  Graf von Stosch, Der Stadt-Gesamtplan als Bauherr. Ordnung in der Ebene, Schönheit in der Höhe, in: Das Reich 19, 29.9.1940, S. 10.

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Dennoch, das europäische, liberal grundierte Zukunftsdenken einerseits und die Utopie der übergeschichtlichen „ewigen Ordnung“ andererseits blieben in den 1930er Jahren anhaltend virulente, alltagsrelevante Gegensätze, die geradezu symbiotische Züge aufwiesen. Der Rationalismus der Moderne war nach wie vor in allen Bereichen der Technik präsent, und die Ordnung der Zeit blieb darin eingebunden. Gleichzeitig widersprach die propagandistische Nutzung des technischen Fortschritts dieser rationalistischen, mit „1789“ verknüpften Zeitordnung. Die Symbiose der Gegensätze im Umgang mit dem ideologischen Postulat der neuen Zeitordnung muss uns jetzt beschäftigen. Die Konzentration gilt weiterhin den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg.

Symbiose des Unversöhnlichen? Mit der Machtübernahme begann das NS-Regime nicht nur die Verwaltungsstruktur des liberalen Rechtsstaats zu beseitigen, die Gewerkschaften als Träger des Weimarer Sozialstaats zu zerschlagen und mit dem Postulat der „Volksgemeinschaft“ die „Gemeinschaftsfremden“ auszugrenzen, zu verfolgen und auszumerzen – allen voran die Juden. Vielmehr begann 1933 auch eine Zeit organisierter Beschleunigung im öffentlichen Leben und in der Arbeitswelt mit dem Anspruch, selbst das private Leben der „Volksgenossen“ zu erfassen. Bis zum Krieg konsequent vorangetrieben, ging forciertes Tempo im Städte- und Fernstraßenbau sowie in der technischen Entwicklung von Automobilen, Flugzeugen und Industrieanlagen einher mit anhaltender Mobilisierung durch öffentliche Feiern, Kundgebungen, Aufmärsche und die ritualisierte Abfolge von Großveranstaltungen im Jahreskreislauf des nationalsozialistischen Festkalenders. Dem Regime ging es darum, die Gesellschaft in unablässiger Bewegung zu halten und durch die anhaltende Unrast das Gefühl von Fortschritt, Verbesserung und Neuerung zu bestärken.²⁰ Der wirkungsvollste Bereich war die Sozialpolitik. Deren Organisator Robert Ley hatte 1933 das Gewerkschaftsvermögen für den Aufbau der Deutschen Arbeitsfront nutzen können und verband dies mit zahlreichen Neuerungen im Alltag der Arbeitsgesellschaft. Im Ansatz ging es darum, die Modernisierung der Produktionsstätten – „Schönheit der Arbeit“ – mit den ersten Angeboten einer

 Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg.), „Volksgemeinschaft“: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“? Paderborn 2012; Detlev J. K. Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982; Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. München 1991; Schäfer, Das gespaltene Bewusstsein. Zum Kontext des europäischen Faschismus vgl. Griffin, Modernism.

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Konsum- und Freizeitgesellschaft zu verschmelzen. KdF-Reisen und erweiterte Möglichkeiten des Fremdenverkehrs wurden später mit dem Versprechen auf staatlich geförderte Finanzierung des privaten KdF-Wagens und eines Eigenheims verbunden.²¹ Gleichermaßen diente auch der rastlose Bau von Schulungsheimen, Ordensburgen und KdF-Urlaubszentren dem übergeordneten Ziel, durch Mobilisierung und Vereinnahmung der „Volksgenossen“ eine kollektiv durchformte Gesellschaft zu schaffen, in der es den Pluralismus der offenen, liberalen Ordnung und das Recht auf persönliche Selbstbestimmung nicht gab.²² Der „braune Kollektivismus“²³ sollte jeden Deutschen von der Wiege bis zur Bahre erfassen. Individueller Freiraum und Privatheit wurden soweit wie möglich beschränkt. Beschleunigung, Modernisierung und die Kollektivierung der Alltagsroutinen dienten nicht zuletzt diesem Zweck. Wir beobachten hier, wie die Vorstellung des „Fortschritts“ im Sinne des kontinuierlichen Voranschreitens zum Verschwinden gebracht und durch etwas anderes ersetzt wird. Dieser auf den ersten Blick recht unauffällige Sachverhalt kann nicht nachdrücklich genug betont werden, denn er markiert ein entscheidendes Merkmal des nationalsozialistischen Verständnisses der Ordnung von Zeit. Die Rastlosigkeit, mit der im Dritten Reich gebaut, die Industrieproduktion und technische Erfindungen forciert wurden, war eingehüllt in Begriffe des Krieges – Arbeitsschlacht, Arbeitskampf, Arbeitsfront. Hitler bediente sich schon seit den zwanziger Jahren einer Rhetorik, in der er „Fortschritt“ und „Kampf“ identifizierte und auf diese Weise die Fortschrittsidee durch die Fixierung auf die Überlegenheit des Stärkeren sozialdarwinistisch umformte.²⁴ Bis 1933 hatte sich  Ronald Smelser, Robert Ley. Hitlers Mann an der „Arbeitsfront“. Eine Biographie. Paderborn 1989; Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933 – 1945. Göttingen 2012; Wolfgang König, Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. „Volksprodukte“ im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Paderborn 2004.  Die eindringlichste Studie hierzu analysiert das Problem der Zerstörung oder aber der Stabilisierung von persönlicher Selbstbestimmung durch einen Vergleich der deutschen und USamerikanischen Arbeitsdienste: Kiran Klaus Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933 – 1945. Göttingen 2003; zum Selbstverständnis der führenden Architekten im Bereich der Funktionsbauten siehe Julius Schulte-Frohlinde, Baukultur im Dritten Reich, in: Preußisches Finanzministerium (Hrsg.), Bauten der Bewegung. Berlin 1938, S. 5 – 9 (der Autor war Leiter des Architekturbüros der DAF); Werner Durth, Architektur und Stadtplanung im Dritten Reich, in: Prinz, Michael/Zitelmann, Rainer (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung. Darmstadt 1991, S. 139 – 171.  Ronald Smelser, Robert Ley – Der braune Kollektivist, in: Smelser, Ronald/Zitelmann, Rainer (Hrsg.), Die braune Elite. 22 biographische Skizzen. Darmstadt 1989, S. 173 – 187, hier S. 180.  Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. Paderborn u. a. 1999, S. 56 – 64, hier S. 59.

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daraus eine ideologische Grundannahme nationalsozialistischer Modernisierungspolitik entwickelt, die den Fortschritt als einen Gewaltakt verstand und diesen mit dem Ziel verband, Deutschland zum überlegenen Leistungsträger der technischen Moderne zu machen. Das Vor- und Gegenbild im Leistungs-„Kampf“ waren die USA. Den Nationalsozialisten ging es darum, die Überwindung der Weltwirtschaftskrise als Modernisierungs-„Schlacht“ gegen Amerika zu führen und die Amerikaner zu übertrumpfen. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass auch nach 1933 die Orientierung an den USA und die Einflüsse des Amerikanismus in der deutschen Gesellschaft nicht nur nicht unterbunden, sondern eher noch gefördert wurden. Die Vereinigten Staaten waren und blieben der Bezugspunkt beim Wettlauf um die größten Erfolge der technischen Modernisierung und Leistungsfähigkeit.²⁵ Die Symbiose scheinbar unversöhnlicher Gegensätze ist hier ganz offensichtlich. Einerseits war es das Ziel der NS-Bewegung, möglichst jede Form von Individualität auszulöschen und das Volk im Kollektivsingular – „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ – den anderen Völkern überlegen zu machen. Dann würde die Geschichte getilgt sein, die Gegenwart überwunden und die Ordnung der Zukunft erreicht sein – die ewige Ordnung des rassereinen Volks. Andererseits aber wurden individuelle Betätigung und private Selbstbestimmung dadurch gefördert, dass das Versprechen auf Konsum oder Ferienreisen aufrechterhalten und das öffentliche Unterhaltungsangebot ein Bestandteil der Lebenswirklichkeit in den dreißiger Jahren blieb. Von den Einflüssen des Amerikanismus wurde es überdies noch verstärkt.²⁶ Die Inszenierung der Volksgemeinschaft auf den regelmäßigen Großveranstaltungen des Regimes kompensierte wiederum diese Frühform von Konsum- und Unterhaltungskultur, indem sie das Volk als Masse inszenierte, ohne dass darin nur ein einziges individuelles Gesicht erkennbar wurde. Die Zukunft war in der Masse aufgehoben. Darin liegt die Bedeutung der großen Inszenierungen auf den Reichsparteitagen, denn das Aufgehen des Einzelnen in der Masse – in seinem Volk –, die Ausrichtung der Masse auf den Führer – den Messias der neuen Ordnung – und das gemeinsame Hineinsteigern in den Rausch einer Verschmelzung war nichts anderes als die jährlich wiederholte Vorwegnahme der „Wiedergeburt“ der Nation in der ewigen Ordnung.²⁷

 Vgl. Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933 – 1945. Stuttgart 1997; Detlev Humann, „Arbeitsschlacht“. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933 – 1939. Göttingen 2011; Tooze, Ökonomie, S. 45 – 92.  Hans-Dieter Schäfer, Amerikanismus im Dritten Reich, in: Prinz/Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus, S. 199 – 215.  Esposito, Mythische Moderne, S. 405 – 408.

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Dass solche „Wiedergeburt“ nur durch Kampf zu erreichen war, durch Arbeitskampf, Rassenkampf und Krieg, kam in solchen Rauschzuständen nicht zu Bewusstsein, war aber ein fester Bestandteil der palingenetischen Utopie. Die „Wiedergeburt“ der Nation zu erreichen, war Ziel des vom Regime forcierten Fortschritts. Nirgends ist die Perversion des rationalen Fortschrittsverständnisses deutlicher zu greifen als hier. Adolf Hitler beschwor die Zukunft immer wieder als zu erreichenden, aber noch nicht erreichten Endzustand. Dies erlaubte es ihm, das Verharren in der Gegenwart, die noch von den schlechten Einflüssen des pluralistischen Gestern durchsäuert war, ganz nach Bedarf zu begründen und ebenso nach Bedarf das Erfordernis des Kampfes, des Krieges zu beschwören. Indem das so war, indem die Gegenwart nicht mit einem Federstrich zu tilgen war, kam der Inszenierung des Anspruchs auf die Zukunft besondere Bedeutung zu. „Ich baue ja nicht für diese Zeit“, sagte Hitler 1938, „nicht für das Jahr 1938 oder 1939, nicht einmal für das Jahr 40, auch nicht für 50, sondern für das Jahr Zweitausend und Zweitausendzweihundert und Zweitausendvierhundert!“²⁸ Es ging um die Neuordnung der Zeit. Das erklärt die anhaltende Unruhe des Regimes im Hier und Heute bei gleichzeitigem Beschwören eines Endzustandes ewiger Ordnung. Die Inszenierung des Anspruchs auf den Fortschritt als Kampf und auf die Zukunft als Endzustand wurde nirgendwo so markant vollzogen wie bei einzelnen Repräsentationsbauten des Regimes. Die Bauwerke symbolisierten den Ewigkeitswert der nationalsozialistischen Zeitordnung. Reliefs an einzelnen Wänden, Skulpturen vor den Eingängen und im Innern verkörperten Kampfeswillen und gewaltbereites Voranschreiten. Sei es das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, sei es die Planung der Hauptstadt Germania oder die Selbstdarstellung des Dritten Reichs auf der Weltausstellung 1937 in Paris, diese Gebäude waren monumental und starr. Sie beschworen die zu erreichende ewige Ordnung. In ihrem antikisierenden Stil spielten die Bauwerke des Regimes, konsequent antihistoristisch, auf eine antike Vorzeit an, die es nie gegeben hatte. In diesen Gebäuden schienen die Geschichte als Vorzeit und die Zukunft als Utopie auf.²⁹ Dies soll nun an einem Beispiel verdeutlicht werden. Auf der Pariser Weltausstellung 1937 war von den Planern vorgesehen, dass sich die Pavillons des Deutschen Reichs und der Sowjetunion direkt gegenüberstanden. Albert Speer, der Architekt des deutschen Pavillons, behauptete später, seinen Entwurf angefertigt zu haben, nachdem er „durch Zufall“ den noch geheimen Plan für den sowjetischen

 Adolf Hitler, Rede zum Richtfest der neuen Reichskanzlei, 2. 8.1938, zit. nach Durth, Architektur, S. 154.  Johann Chapoutot, Der Nationalsozialismus und die Antike. Darmstadt 2014.

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Pavillon gesehen hatte. Er konzipierte daraufhin den deutschen Bau größer und höher als das sowjetische Pendant, gewissermaßen als Bollwerk gegen den anstürmenden Bolschewismus.³⁰ Ob das stimmt, muss offenbleiben. Aus unserer Perspektive ist eine ganz andere Botschaft dieser beiden Gebäude zu beachten.

Die Inszenierung von Zeitordnung und Zukunftserwartung auf der Pariser Weltausstellung 1937 Der flüchtige Blick auf das Gelände zeigt in der Sichtachse zum Eiffelturm linker Hand den Kopfbau des deutschen und rechter Hand den des sowjetischen Pavillons.

Abb. 1: Deutscher und Sowjetischer Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937 (Gesamtansicht). Quelle: Bibliothèque nationale de France.

 Albert Speer, Erinnerungen. Berlin 1969, S. 95.

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Der sowjetische Pavillon zeichnet sich nicht nur durch die eindrucksvolle, 24 Meter hohe Skulptur von Wera Muchina „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ aus, sondern auch durch die Architektur des gesamten Bauwerks, das der Architekt Boris Michailowitsch Iofan – ein Vertreter des Neoklassizismus – in einem ganz unzweideutigen Sinn entworfen hatte. Pavillon und Skulptur versinnbildlichen als Gesamtkunstwerk ein sich aufwärts bewegendes, geradezu himmelstürmendes Fortschrittsbewusstsein im öffentlichen Raum der stalinistischen Sowjetunion. Diese Dynamik, dieser Fortschritt, so soll es scheinen, wird die Welt erobern.

Abb. 2: Sowjetischer Pavillon (Gesamtansicht). Quelle: Exposition Internationale Arts et Techniques 1937. Guide officiel. Paris 1937, o. S.

Die Skulptur der beiden vorwärtsstürmenden Werktätigen mit Hammer und Sichel in den Händen krönt die Aussage des aufwärtsstrebenden Bauwerks und unterstreicht sie nachdrücklich. Sie entsprach vollauf dem Zeitempfinden der Bolschewiki, wie es kurz darauf, 1939, der ukrainische Parteichef Nikita Chruschtschow zum Ausdruck brachte: „Von Jahr zu Jahr steigen wir höher zum Gipfel unseres Kampfes – zur kommunistischen Gesellschaft, zum Kommunismus.“³¹ Dass mit dem „Kommunismus“ gleichfalls ein dauerhaft gültiger Endzustand angestrebt wurde, steht außer Frage.Was aktuell indessen zählte, war die

 Plaggenborg, Experiment Moderne, S. 95.

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alleinige Konzentration auf den Weg dorthin und die Inszenierung dieses Weges im kraftstrotzenden Fortschrittsglauben. Dass das Bauwerk gerade zu der Zeit fertiggestellt wurde, als Moskau im Massenterror der Schauprozesse aller Welt die Wirklichkeit des Stalinismus vor Augen führte und die Pariser Inszenierung wie ein utopischer Kontrast dazu die Vision des Kommunismus abbildete, leuchtet die Dialektik von Schauseite und Innenansicht der Diktaturen des 20. Jahrhunderts in aller Tiefenschärfe aus. Die Gewalttätigkeit des Nationalsozialismus zeigte sich im Jahr 1937 weniger deutlich, weil die Eindrücke von den Olympischen Spielen im Vorjahr auch international noch die Erinnerung der Öffentlichkeit beherrschten. Dennoch nahm auch sie unaufhaltsam zu, nachdem 1936 mit der Bekanntgabe des Vierjahresplans die Kriegsvorbereitung sichtbar gemacht und das entrechtende Vorgehen gegen die Juden konsequent fortgesetzt wurde. Die Eskalation des nationalsozialistischen „Kampfs“ war deutlich zu erkennen, nicht aber, wie nahe bereits die Entfesselung des Krieges bevorstand, weil der Anschluss Österreichs, die Reichspogromnacht und die Zerstörung der Tschechoslowakei noch in der Zukunft verborgen blieben.³² 1937 gab etwas anderes den Blick auf das Kommende frei, und das betraf die gegnerischen Systeme gleichermaßen: der spanische Bürgerkrieg. Hier stand die Sowjetunion auf der Seite der Kämpfer für die Republik und der Internationalen Brigaden, während das nationalsozialistische Deutschland die franquistischen Putschisten militärisch und wirtschaftlich massiv unterstützte. Gegen den Terrorangriff der deutschen Luftwaffe auf die Stadt Guernica am 28. April 1937 hatte Pablo Picasso innerhalb von acht Wochen, wie von Furien gepeitscht, sein flammend anklagendes Bild „Guernica“ für die Eingangshalle des Pavillons der Spanischen Republik auf der Pariser Ausstellung gestaltet. Auch das gehörte zur markanten Symbolik dieser Weltausstellung und warf ein grelles Licht auf die Realität des „Kampfes“, den die Nationalsozialisten für ihr Ziel der „ewigen Ordnung“ in der Form des Vernichtungskriegs zu führen begannen.³³ Der deutsche Pavillon in Paris, auf dem der Reichsadler mit dem Hakenkreuz in den Fängen wie ein Wächter platziert worden war, verkörperte gegen die voranstürmende Fortschrittsvision des Stalinismus die starre Ewigkeitsvision des Nationalsozialismus. Gegen die himmelstürmende Skulptur und die Architektur des sowjetischen Pavillons, die den Lauf der Zeit noch anzutreiben schienen, war hier die Zeit bereits stillgestellt. Albert Speers Bauwerk symbolisierte die Ordnung des Tausendjährigen Reichs als ein in Stein gesetztes Zeichen der auf ewig vollzogenen

 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1994, S. 184– 227; Schlögel, Terror und Traum, S. 174– 286.  Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936 – 1939. Darmstadt 1991.

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Abb. 3: Wera Muchinas Skulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ (1937).

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Überwindung des rationalistischen Fortschrittswillens. „Ich baue nicht für das Jahr 1938 oder 1939“, würde Hitler ein Jahr später verkünden, „sondern für das Jahr Zweitausend und Zweitausendzweihundert und Zweitausendvierhundert“. Diese Utopie nationalsozialistischer Zeitordnung war hier mit Händen zu greifen.

Abb. 4: Deutscher Pavillon 1937. Quelle: Siemens Corporate Archives.

Wenige Jahre später befand sich das Dritte Reich mit den mächtigsten Repräsentanten der sozialistischen und der liberalen Version des rationalistischen Fortschrittsverständnisses im Krieg. Hitlers „sozialdarwinistische Verbiegung der Fortschrittsidee“³⁴ richtete sich nun gegen ihn selbst. Mochte der „Blitzkrieg“ auf den ersten Blick dem Handlungsmuster der Rastlosigkeit und Beschleunigung entsprechen, mochte die „völkische Flurbereinigung“³⁵ ein bis dahin unbekannter Hybrid aus völkischer „Raum und Volk“-Ideologie, exterminatorischem Rassenantisemitismus und Ewigkeitsutopie sein, so zerstörte der Krieg durch seine bloße Faktizität die Erwartung einer neuen Ordnung der Zeit, weil das Zeitmaß von der Kriegsmaschine und nicht von den Visionären „ewiger Ordnung“ diktiert wurde.  Kroll, Utopie, S. 59.  Herbert, Best, S. 260 – 264.

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Abb. 5: Weltausstellung 1937 – Deutscher Pavillon, Adler. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek München / Bildarchiv.

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Antifaschismus und Emigration: Transfers und Verflechtungen im beginnenden Ost-West Konflikt Kam es seit den 1940er Jahren zu einer Erneuerung des Liberalismus? Welche Bedeutung würde ihr im Rahmen der Liberalismusgeschichte zuzusprechen sein? Diese Fragen sind unmittelbar mit der Geschichte der Fluchtbewegungen aus dem nationalsozialistisch beherrschten Mitteleuropa verbunden. Auf den ersten Blick will es so scheinen, als ob es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Erneuerung des Liberalismus aus dem Geist des Antifaschismus gegeben habe. Eine solche Auffassung greift meines Erachtens zu kurz. Das Bedingungsgefüge der Nachkriegsentwicklung war überaus komplex. Es schloss neben dem Antifaschismus auch den Antibolschewismus in sich und verband beides in der neuen Ideologie des Antitotalitarismus. Dieser wurde zur Legitimationsideologie des demokratischen Westens im Kalten Krieg und war rückgebunden an die starken Transformationsdynamiken in der Gesellschaftsordnung der USA seit der Weltwirtschaftskrise und dem New Deal.

1. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus mit der sofort beginnenden Verfolgung von Kommunisten, Sozialisten und Juden setzte Emigrationsschübe aus Deutschland und Mitteleuropa in Gang, die sich zunächst auf europäische Länder erstreckten – Tschechoslowakei, Frankreich, Großbritannien, Skandinavien. Schon bald aber bewegte sich der Hauptstrom in die Vereinigten Staaten. Es war ein breites Spektrum an Flüchtlingen. Wir finden Künstler – Schriftsteller, Musiker, Architekten, Designer, Filmemacher. Wir finden Nationalökonomen und Wirtschaftstheoretiker. Wir finden Akademiker aus den Natur- und Technikwissenschaften bis hin zur Philosophie und den Sozial- und Geisteswissenschaften. Schließlich finden wir immer wieder auch Juristen. Für sie war die Emigration besonders belastend, weil sie wegen der Unterschiede zwischen dem deutschen und dem angloatlantischen Rechtssystem das Fach und den Beruf wechseln mussten.¹

 Vgl. Claus-Dieter Krohn u. a. (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945. Darmstadt 1998; Ernst C. Stiefel/Frank Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil https://doi.org/10.1515/9783110633870-010

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Aus dem Kreis der akademisch gebildeten Intellektuellen wurden einige Emigranten an amerikanischen Universitäten tätig. Andere fanden Aufnahme in Forschungsinstituten und think tanks, später dann – nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren – auch in Regierungsbehörden. Dort konnte man die hochrangigen Fachleute gut gebrauchen, auch wenn einzelne Funktionsträger an den Universitäten und in den Ministerien diesen Europäern mit Skepsis begegneten. Die Vereinigten Staaten und Europa waren damals kulturell und auch kommunikativ noch sehr weit voneinander entfernt. Die Emigranten wurden als Fremde, nicht selten auch als enemy aliens betrachtet. Aber man benötigte ihre Expertise. Sie verfügten über genaue Kenntnis der kulturellen und politischen Verhältnisse in verschiedenen europäischen Ländern, wie sie auf der amerikanischen Seite sonst nicht vorhanden war. Überdies brachten die Emigranten nicht nur ihr praktisches Wissen, sondern auch europäisches Denken und politische Überzeugungen aus ihrer akademischen Herkunft zur Geltung. Mit dem Selbstverständnis des amerikanischen Wissenschafts- und Politikbetriebs passte das nicht unbedingt zusammen, zumal sich unter den Einwanderern zahlreiche marxistisch orientierte Intellektuelle befanden, die dem Kapitalismus und der marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft ablehnend gegenüberstanden.² Das Aufeinandertreffen des kulturellen Imports mit dem amerikanischen Denken und den Maßstäben der amerikanischen politischen Kultur entfaltete innerhalb von zehn Jahren – Mitte der 1930er bis Mitte der 1940er Jahre – eine ganz beträchtliche Wirkung. Die Europäer wurden von den Einflüssen ihres amerikanischen Lebensumfelds und vom intellektuellen Klima ihrer neuen Umgebung stark geprägt. Das wirkte auf ihr intellektuelles Profil zurück und veränderte ihr politisch-ideologisches Selbstverständnis. So kam es zu einer Hybridisierung der politischen und sozialkulturellen Urteilsbildung über Europa, über Deutschland, über den Faschismus und Nationalsozialismus und über Amerikas künftige Rolle in den europäischen Ländern nach dem Krieg. Transfers und Verflechtungen, über die wir hier sprechen, betreffen in der frühesten Phase von 1935 bis 1945 den Kulturtransfer von Europa nach Amerika (und nicht umgekehrt) sowie die Entstehung eines euroatlantischen Selbstverständnisses, das aus dem Antifaschismus hervorwuchs. Es wurde zur Grundlage dessen, was sich dann als ‚Westen‘ definierte.³

(1933 – 1950). Tübingen 1991; Thomas Koebner u. a. (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939 – 1949. Opladen 1987.  Siehe hierzu die eindringlichen Aufsätze von Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Baden-Baden 2006.  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Der deutsche Weg nach Westen, in: Sabrow, Martin (Hrsg.), Leitbilder der Zeitgeschichte. Wie Nationen ihre Vergangenheit denken. Leipzig 2011, S. 23 – 39.

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Dieser ‚Westen‘ bedurfte dauerhaft eines Gegenübers zur Abgrenzung, auch nach dem Sieg über Hitler. Faschismus und Nationalsozialismus standen im politisch-ideologischen Kampf an vorderster Stelle, doch alsbald trat ergänzend die Abgrenzung gegen den ‚Osten‘ hinzu. Die Diktaturen Hitlers und Stalins wurden als verwandte Ausdrucksformen totalitärer Herrschaft verstanden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs bildete daher die Totalitarismustheorie das ideologische Fundament des amerikanisch dominierten Westens. Im Kalten Krieg seit 1948 verengte sich diese Gegnerschaft allmählich auf die Frontstellung gegen den kommunistischen Osten. Darin eingewoben war ein hasserfüllter, bitterer Antibolschewismus, den Renegaten des Kommunismus in den Vereinigten Staaten zur Geltung brachten.⁴ Im beginnenden Ost-West-Konflikt waren dem Westen mithin folgende Merkmale eingeschrieben. (1) Die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, beruhend auf den je unterschiedlichen amerikanischen und europäischen respektive deutschen akademischen Traditionen, war das früheste, hervorstechende und im Anfang allein sinngebende Merkmal.⁵ (2) Je mehr sich aber die Feindbeobachtung in den amerikanischen Regierungsämtern der Aufgabe zu stellen hatte, wie man die Entstehung des europäischen Faschismus und des Nationalsozialismus erklären könne, desto mehr geriet die politische Kultur Deutschlands seit der Reichsgründung ins Blickfeld. Dazu gab es schon seit 1915 scharfsinnige Überlegungen des Soziologen Thorstein Veblen, die jetzt Schritt für Schritt historisch-politisch systematisiert wurden, bis die These vom deutschen Sonderweg in die Moderne fertig ausgebildet war. Aus dieser Sicht erschien der Nationalsozialismus als konsequente Folge einer längerfristigen älteren Entwicklung, und die politische und soziale Kultur des wilhelminischen Militärstaats wurde in einen kausalen Zusammenhang mit dem Dritten Reich gestellt.⁶ (3) Am Ende des zehnjährigen Prozesses euroatlantischer Hybridisierung kam als neues Merkmal des westlichen Selbstverständnisses der Antikommunismus hinzu, weil Renegaten des Kommunismus nicht mehr bereit waren, die Sowjet-

 Siehe dazu Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism. New York, NY 1951; Richard Crossman (Hrsg.), The God that Failed. New York, NY 1949.  John Lewis Gaddis, The United States and the Origins of the Cold War 1941– 1947. New York, NY u. a. 1972, S. 94– 132.  Thorstein Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution (1915). New Brunswick, NJ 1990; Max Lerner, Ideas are Weapons. The History and Uses of Ideas. New York, NY 1939, S. 117– 141. Michael E. Latham, Modernization as Ideology. American Social Science and „Nation Building“ in the Kennedy Era. Chapel Hill, NC u. a. 2000, S. 21– 68.

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union unter Stalin im Sinne der Kommunistischen Internationale wahrzunehmen, sondern als aggressiven Machtstaat und totalitäre Diktatur. Seither war das Selbstbild des Westens mit der Totalitarismusthese verkoppelt, die nach 1941 in den USA maßgeblich von deutschen Emigranten mit jüdischen Wurzeln entwickelt worden war: Karl J. Friedrich und Hannah Arendt. Nationalsozialismus und Stalinismus wurden als gleichartige Ausdrucksformen eines spezifischen Typus moderner Diktatur beschrieben. Seit dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs schien dies unbestreitbar zu sein.⁷ Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland spielte der Nationalsozialismus im Hybrid des ‚Westens‘ keine eigenständige Rolle mehr. Er entwickelte sich vielmehr zu einem Element der politisch-kulturellen, auch machtpolitischen Herausforderung der freiheitlichen Demokratien durch die totalitäre Diktatur. Deutschland erhielt in dieser Konstruktion gegnerischer Systeme seine besondere Rolle – seine Sonderwegs-Rolle. Es galt als einzigartiger Repräsentant eines industriell höchst leistungsfähigen, den westlichen Industrienationen gleichrangigen Ordnungsmodells. Zugleich verkörperte es politisch und gesellschaftlich autoritäre Herrschaftsformen, die mit der westlichen Demokratie unvereinbar waren. Das Deutschlandbild des Westens war ambivalent, ja man kann sagen: Deutschlands Ort im Westen war ambivalent. Es spiegelte im Vorgriff bereits die kommende Teilung des Landes. Das ist in wenigen Worten die Problembeschreibung des Kulturtransfers durch Emigranten und Remigranten im beginnenden Ost-West-Konflikt, eines Transfers, der in beide Richtungen ging – zuerst von Europa nach Amerika, seit 1945 von Amerika nach Europa – und der das jeweils zeitgenössische Denken in sich aufnahm und integrierend verarbeitete. Die europäischen Einflüsse und Argumentationsmuster in diesem hochdynamischen Geschehen entstammten dem politischen und wissenschaftlichen Diskurs in der zweiten Hälfte der 1920er und den frühen 1930er Jahren. Die amerikanischen Einflüsse stammten aus den 1940er Jahren und reichten in die 1950er hinein. Kulturell und ideell definierten im Jahrzehnt von 1945/48 bis etwa 1955 ganz wesentlich Remigranten sowie die Intellektuellenzirkel des euroatlantischen Hybrids die Maßstäbe für die kulturelle und politisch-historische Neuorientierung in Deutschland. Von einer Amerikanisierung kann bei diesen Transfer- und Verflechtungsprozessen daher nicht die Rede sein. Weit besser ist das Geschehen beschrieben mit dem Begriff Westerni-

 Vgl. die Textauswahl bei Bruno Seidel/Siegfried Jenker (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung. Darmstadt 1974.

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sierung oder westernization. ⁸ Deren Ziel bestand in der Öffnung des öffentlichen Bewusstseins für die Ordnungsprinzipien der Demokratie: Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung. Das Vorgehen richtete sich zum einen gegen jede Art von kommunistischem Einfluss und gegen die Versuche deutscher (und westeuropäischer) Intellektueller, aus antifaschistischem Impuls den Austausch mit Schriftstellern und Wissenschaftlern aus dem Herrschaftsbereich des Stalinismus zu suchen. Das Vorgehen richtete sich zum andern gegen den nationalkulturellen Traditionalismus der akademischen Mittelschicht in Deutschland in der Form des Rückbezugs auf die wilhelminische Epoche. Die Orientierung an einer undemokratischen und ideologisch antiliberalen sozialkulturellen Vergangenheit sollte überwunden werden. Die folgende Skizze des Transfers und der Verflechtungen wird sich vornehmlich auf deutsche Persönlichkeiten und die Emigrantenszene in den USA beziehen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs richteten sich die amerikanischen Einflüsse allerdings gleichermaßen auf Westdeutschland wie auf die westeuropäischen Länder, die über den Marshall-Plan ins westliche Bündnis integriert waren.

2. Die Emigranten, die nach 1933 aus Deutschland in die Vereinigten Staaten kamen, waren überwiegend politisch linke, oft sozialistisch orientierte Intellektuelle, sofern wir auf die Akademiker, nicht auf die Künstler schauen. Die meisten von ihnen waren jüdisch. Geboren in den Jahren zwischen 1895 und 1905, hatten sie in der Weimarer Republik ihr Studium absolviert und waren noch in den 1920er Jahren ins Berufsleben eingetreten. Hier lagen ihre geistigen Prägungen. Sie kannten die Zerrissenheit des akademischen Meinungsklimas und die Vorherrschaft antiliberaler Strömungen in der Öffentlichkeit. Sie hatten erfahren, wie begrenzt sich dadurch die Entwicklungsmöglichkeiten der Weimarer Demokratie darstellten. Die antiliberale Strömung der konservativen und völkischen Rechten bekämpfte den Staat von Weimar als Resultat der Niederlage von 1918 und als Ergebnis der Suprematie der Ententemächte über Deutschland im Rahmen des Versailler Friedens. ‚Weimar und Versailles‘ wurde als ein konsistentes Feindbild konstruiert. Darin erschienen liberale Gesellschaftsverfassung, sozialer und po Siehe Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band, S. 357– 391; Anselm Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung. Version 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 18.1. 2011.

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litischer Pluralismus sowie die ideologische (Vor)Macht des Westens als ein fester Zusammenhang. Er wurde als ‚undeutsch‘ denunziert, wobei der Antisemitismus zusätzlich eine wichtige Rolle spielte, indem Marktfreiheit, Finanzkapitalismus und liberales Denken als jüdisch, als fremd, als gegen Deutschland gerichtet galten. Die antiliberale Strömung dominierte im Meinungsklima der Weimarer Republik. Weit schwächer ausgebildet war die linke Strömung, die vom Linksliberalismus bis zu den Sozialisten reichte und die demokratische Verfassung dazu nutzen wollte, in Deutschland den sozialen – präziser: den sozialistisch-demokratischen − Rechtsstaat aufzubauen. Die meisten Emigranten standen dieser Strömung nahe, sofern sie nicht überhaupt in sie eingebunden waren. Die Namen einiger herausragender Persönlichkeiten im Prozess des Transfers und der Verflechtung zwischen 1935 und 1955 signalisieren das in aller Deutlichkeit: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse als Sozialphilosophen; Otto Kirchheimer, Franz Leopold Neumann und Ernst Fraenkel als Juristen; Hajo Holborn, Hans Rosenberg und Felix Gilbert als Historiker. Wir werden ihre Tätigkeit gleich anschließend näher betrachten. Sie emigrierten auf verschiedenen Wegen in die USA und versuchten im akademischen Feld Fuß zu fassen – sowohl innerhalb einzelner Universitäten als auch in außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Sie standen vor der Herausforderung, sich in die amerikanische Umgebung einzufügen, was insbesondere für die Marxisten unter ihnen nicht einfach war. Marktwirtschaft, Finanzmarkt und „Monopolkapitalismus“ betrachteten sie als sozialökonomisches System, das es zu überwinden galt, ja mehr noch. Sie postulierten den Bedingungszusammenhang von Kapitalismus und Faschismus: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, behauptete Max Horkheimer 1939.⁹ Je mehr sie sich aber in die politökonomische Kultur der USA hineinfanden und dann die Erfahrung des Krieges machten, desto fragwürdiger wurde ihnen dieses genuin europäische ideologische Axiom. Die USA waren ein kapitalistisches Land und standen im Krieg mit dem faschistischen Deutschen Reich. Deshalb konnte der Kampf gegen den Nationalsozialismus kein Kampf primär gegen dessen „Monopolkapitalismus“ sein. Dennoch: 1941 verfasste Franz L. Neumann sein berühmtes Buch „Behemoth“ über Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, in dem er die These vom „totalitären Monopolkapitalismus“ entfaltete.¹⁰ Das brachte ihn in Konflikt mit Horkheimer und Adorno im exilierten  Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften. Bd. 4. Schriften 1936 – 1941. Hrsg. von Alfred Schmidt. Frankfurt am Main 2009, S. 308 – 332, hier S. 308 f.  Franz L. Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism. New York, NY 1942.

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Institut für Sozialforschung,¹¹ weil diese inzwischen in weit stärkerem Maß zu psychologischen Erklärungen der nationalsozialistischen Diktatur neigten.¹² In den Debatten über Faschismus und Nationalsozialismus während der frühen 1940er Jahre im amerikanischen Exil schälten sich zwei ideelle Leitlinien heraus, die nach 1945 in den Neuordnungsdebatten beiderseits des Atlantik vorherrschend wurden. Das war zum einen der Rekurs auf Karl Marx und einen westlichen, das heißt freiheitlich interpretierten Marxismus und zum andern der Rekurs auf Sigmund Freud und die psychoanalytische Erschließung der Gewaltpotentiale moderner Gesellschaften. Ihre Auseinandersetzung über den Kapitalismus in unterschiedlichen politischen Systemen und die ursächliche Verkopplung von Monopolkapitalismus und Faschismus führten die deutschen Emigranten im intellektuellen Klima des New Deal.¹³ 1933 von Präsident Franklin D. Roosevelt zum Programm für Politik und Gesellschaft ausgerufen, um die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, war der New Deal materiell nicht unbedingt erfolgreich, aber ideell umso wirkungsvoller. Hier begann die große Zeit des Denkens und Handelns in den Kategorien des sozialen Liberalismus – eines Liberalismus, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung für die gesamte Nation bewusst war und nicht bloß – wie im Progressivismus um 1900 – für eine bestimmte soziale Schicht oder Klasse.¹⁴ Der New Deal-Liberalismus verband die Interessen der Einzelperson programmatisch – politisch wie materiell – mit der Verpflichtung auf das Gemeinwesen. In den späten 1930er und frühen 1940er Jahren bildete sich das Handlungsmuster des liberalen und kapitalistischen Konsenses heraus: consensus liberalism und consensus capitalism. Die Entstehung eines politisch-ökonomischen Modells, worin Liberalismus, Kapitalismus und sozialer Konsens kausal

 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Von der Verhinderung zur Liquidation. Das Ende des Instituts für Sozialforschung, in: Schivelbusch, Wolfgang, Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren. Frankfurt am Main 1982, S. 94– 110.  Vgl. Alfons Söllner, Franz L. Neumann – Skizzen zu einer intellektuellen und politischen Biographie, in: Söllner, Alfons (Hrsg), Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930 – 1954. Frankfurt am Main 1978, S. 7– 56, hier S. 44 ff.; sowie das Kapitel über „ungenutzte Chancen zu intensiver interdisziplinärer Forschungsarbeit“ bei Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. München 1988, S. 251– 265.  Steve Fraser/Gary Gerstle (Hrsg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930 – 1980. Princeton, NJ 1989; Alan Brinkley, The End of Reform. New Deal Liberalism in Recession and War. New York, NY 1996.  Vgl. Daniel T. Rodgers, Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform 1870 – 1945. Stuttgart 2010; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880 – 1940. Göttingen 2009, S. 25 – 142.

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miteinander verbunden waren, stellte eine revolutionäre Veränderung dar im traditionell individualistischen System des amerikanischen Republikanismus. Dieses genuin kapitalistische Konzept eines sozialen Liberalismus war gut geeignet, um den Emigranten aus Europa eine ideelle Heimat zu bieten. Sie fühlten sich der deutschen Tradition der Sozialstaatlichkeit verbunden, weil sie in den 1920er Jahren am Ausbau des Sozialstaats in der Weimarer Republik mitgearbeitet und darüber die politische Demokratie im neuen Staat zu stabilisieren versucht hatten. Neumann, Marcuse und Fraenkel, um nur diese zu nennen, hatten sich bis 1933 für die Ausgestaltung der Sozialverfassung in Deutschland eingesetzt.¹⁵ In den USA gerieten sie in eine unmittelbare Konfrontation nicht nur mit der Konkurrenzwirtschaft des Freien Marktes, sondern auch mit einer Praxis der politischen Selbstbestimmung im New Deal, welche den liberalen Konsens zwischen Kapitalismus und Demokratie zum Modell eines demokratischen Sozialliberalismus integrierte.¹⁶ Merkmal der amerikanischen Entwicklung in den Jahren des New Deal war es, dass der Individualismus als Kernelement liberalen Ordnungsdenkens zurückgedrängt wurde, indem die unternehmerische Freiheit in einem höheren Maß als je zuvor an die planerischen Reformvorgaben der Bundesregierung in Washington gebunden wurde. Man kann es auch anders formulieren: Um die Grundlagen des freiheitlichen Gemeinwesens, mithin den Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie, zu stabilisieren, wurde ein höheres Maß an staatlicher Steuerung praktiziert. Das widersprach dem Prinzip der umfassenden Selbstbestimmung des homo oeconomicus. Deshalb eigneten dem New Deal in der Anfangszeit durchaus radikale Züge, die in der US-amerikanischen Öffentlichkeit als „Sozialismus“ bekämpft wurden.¹⁷ Gleichwohl, was in der Ära Roosevelt seit 1939/40, eingebunden in die Kriegswirtschaft, praktiziert wurde, war kein Sozialismus, sondern eher eine atlantische Variante von sozialer Demokratie. Sie band die Handlungsspielräume des Einzelnen an die Erfordernisse des Gemeinwohls und wies der nationalen Regierung die Kompetenz zu, über den Rahmen von Freiheit und deren Begrenzung zu bestimmen. Mit diesem Profil war der New Deal

 Vgl. Thilo Ramm, Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918 – 1933. Neuwied 1966; Martin Martiny, Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik. Bonn-Bad Godesberg 1976; Günter Könke, Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat. Eine Studie zur Ideologie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (1924– 1932). Stuttgart 1987.  Vgl. Ronald Edsforth, The New Deal. America’s Response to the Great Depression. Malden, MA u. a. 2000; Howard Brick, Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought. Ithaca, NY u. a. 2006.  Vgl. Brinkley, The End of Reform.

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offen für die Aufnahme der Wirtschaftstheorie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, weil diese dem Staat die Aufgabe fiskalpolitischer Globalsteuerung des Gemeinwesens zuwies. In der zweiten Phase des New Deal seit 1937/39 wurde der Keynesianismus zur Richtschnur für die Experten in den amerikanischen Planungsstäben und lieferte maßgebliche Grundideen für den Marshall-Plan.¹⁸ Die Sozialliberalisierung der amerikanischen Politik in den Jahren des New Deal und des Krieges bildete die eine Voraussetzung dafür, dass bis 1945 in den USA die euroatlantische Integration von politisch-gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen für die Neuordnung Europas nach dem Krieg entstehen konnte. Die andere Voraussetzung bestand darin, dass eine einflussreiche Gruppe aus dem Kreis der deutschen Emigranten für den Auslandsgeheimdienst herangezogen wurde. Im 1942 gegründeten Office of Strategic Services (OSS) wurde die Feindbeobachtung des Nationalsozialismus und der NS-Herrschaft im besetzten Europa koordiniert.¹⁹ In der Research and Analysis Branch (R&A) des OSS wurden Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz L. Neumann tätig, letzterer aufgrund des „Behemoth“ der intellektuelle Kopf der Gruppe. Sie arbeiteten mit Kollegen wie H. Stuart Hughes und John H. Herz zusammen, die ihrerseits den Ordnungsideen des New Deal nahestanden.²⁰ Ihre Aufgabe war es zunächst, den nationalsozialistischen Staat und das polykratische Chaos des diktatorischen Systems durchschaubar zu machen. Die Wissenschaftler der R&A Branch stützten sich überwiegend auf öffentlich zugängliches Material: Pressemeldungen, NSPublikationen, Radiosendungen aus Deutschland, Flüchtlingsberichte, Aussagen von deutschen Kriegsgefangenen.²¹ 1944, im Umfeld der alliierten Landung in der Normandie und des Zusammenbruchs der Heeresgruppe Mitte in Russland, än-

 Vgl. Rodgers, Antlantiküberquerungen, S. 467– 556; Albert O. Hirschman, How the Keynesian Revolution was exported from the United States, and other comments, in: Hall, Peter A. (Hrsg.), The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations. Princeton, NJ 1989, S. 347– 359.  Siehe dazu Jürgen Heideking/Christof Mauch (Hrsg.), Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. Göttingen 1993; Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste. Stuttgart 1999.  Vgl. insbesondere H. Stuart Hughes, Consciousness and Society. The Reorientation of European Social Thought 1890 – 1930 (1958). Brighton, Sussex 1979; Jana Puglierin, John H. Herz. Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika. Berlin 2011.  Vgl. Alfons Söllner (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 1. Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Geheimdienst 1943 – 1945. Frankfurt am Main 1986; Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942– 1949. München 1995.

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derte sich die Perspektive. Jetzt ging es um Erwägungen zum Umgang mit den Deutschen bei Kriegsende und beim Wiederaufbau nach der bedingungslosen Kapitulation. Neben den Experten in den ministeriellen Planungsstäben, die mit dem Instrumentarium des Keynesianismus die amerikanische Europapolitik für die Zeit nach dem Krieg konzipierten,²² wurden auch die Experten der R&A Branch des OSS zu bedeutenden Planern des politisch-ideologischen Vorgehens. Die Central European Section der R&A Branch war alsbald der wichtigste think tank in den USA, der mit seinen Forschungen über die Gegner des freiheitlichen Westens ein atlantisches, amerikanisch-europäisches Modell für die Neuordnung Europas nach dem Ende des Nationalsozialismus erarbeitete.²³ Es war ein sozialliberales, sozial-demokratisches Konzept, in dem sich das in den USA gewachsene Weltbild der deutschen Emigranten und das Weltbild der amerikanischen Befürworter des New Deal miteinander verbanden. Es wurde zur Grundlage für die Festigung des europäisch-atlantischen Kulturzusammenhangs, der dann als ‚Westen‘ firmierte. Das Medium des Transfers war der Marshall-Plan.

3. Der Marshall-Plan leitete hinüber von der Koalitionspolitik der Anti-Hitler-Koalition, in der Großbritannien und die USA mit Stalins Russland verbündet waren, zur offenen Konfrontationspolitik gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg. Hier wurde die Teilung der Welt in zwei Welten vollzogen. Hier trat der ‚Westen‘ programmatisch gegen den ‚Osten‘ an – ordnungspolitisch, machtpolitisch, ideologisch. Der Marshall-Plan band die Bereitstellung von Wiederaufbauhilfe für die europäischen Länder nicht nur an die Verpflichtung der teilnehmenden Staaten, dass sie alle miteinander kooperieren und im Konsens über die Verteilung der Mittel entscheiden mussten – ganz gleich, ob sie im Krieg Gegner oder Verbündete gewesen waren. Der Marshall-Plan sah darüber hinaus vor, dass die europäischen Länder samt und sonders Strukturen in der Staats- und Wirtschaftsordnung aufbauen würden, die mit denen der USA kompatibel zu sein hatten. Das sicherte den Amerikanern die Führung im westlichen Block und unterband das Wieder-

 Vgl. hierzu Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947– 1952. Cambridge 1987.  Vgl. die nach wie vor anregenden Einführungen von Söllner, Archäologie, S. 4– 40; Alfons Söllner (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 2. Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Außenministerium 1946 – 1949, S. 7– 58; Raffaele Laudani (Hrsg.), Secret Reports on Nazi Germany. The Frankfort School Contribution to the War Effort. Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer. Princeton, NJ u. a. 2013.

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aufleben jeglicher Art von politischer und wirtschaftlicher Ordnung, die dem atlantischen Modell des amerikanischen „Empire by Integration“ hätte zuwiderlaufen können.²⁴ Es bildete obendrein die wirtschaftliche und politische Voraussetzung dafür, dass sich im westlichen Deutschland die gesellschaftlichen Ordnungsideen verbreiten konnten, die bis dahin erst theoretisch in den Geheimdienstanalysen der Emigranten sowie in den keynesianisch inspirierten Planungen der New Dealer entwickelt worden waren. Ein entscheidender Einfluss allerdings fehlte noch. Erst dessen Wirkung gab dem komplexen Geschehen von Transfer und Verflechtung dasjenige Profil, welches die Passförmigkeit unter den Bedingungen des Kalten Krieges gewährleistete. In der ideologischen Konfrontation des Ost-West-Konflikts reichte es nicht aus, dass die marxistisch orientierten deutschen Emigranten im amerikanischen Exil zu reformistischen Demokraten geworden waren und die Kompatibilität von Kapitalismus, Demokratie und pluralistischer Gesellschaft nicht länger bestritten. Es reichte auch nicht aus, dass die amerikanische Seite einen Wandel vollzogen hatte vom Vorrang des individuellen Interesses in der Marktgesellschaft zum Postulat des sozialen Konsenses als Vorbedingung für die künftige Funktionsfähigkeit einer demokratischen pluralistischen Ordnung. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und dem Kollaps des europäischen Faschismus fehlte der Gegner, der zur Formierung des ‚Westens‘ als machtpolitischem Lager unabdingbar war. Die Veränderung respektive Erweiterung der Feindwahrnehmung war ja seit 1941 vorgedacht worden, als innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft die Totalitarismustheorie einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit von brauner und roter Diktatur entwickelt wurde.²⁵ Diese Theorie erwies nun, 1947/48, im Wandel der Feindbilder ihre tagesaktuelle Plausibilität und ihren Nutzen. Der Kampf gegen Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus erlaubte es, den Antifaschismus aus der Kriegszeit beizubehalten und den Antibolschewismus der Nachkriegszeit zugleich in den Vordergrund zu schieben. Doch zur ideologischen Machtkonfrontation gehörte offene Feindschaft, nicht bloß die politologische Begründung von Systemgegensätzen. Diese Feindschaft war, wie wir sahen, seit 1936/39 gewachsen und konnte jetzt in die Praxis übertragen werden. Sie wurde von hochrangigen Schriftstellern, Künstlern und Journalisten gepflegt, die sich

 Siehe Alan S. Milward, The Reconstruction of Western Europe, 1954– 1951. London 1984; Geir Lundestad, „Empire“ by Integration. The United States and European Integration, 1945 – 1997. Oxford 1998.  Vgl. Seidel/Jenkner, Wege; Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War. New York, NY u. a. 1995.

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ursprünglich mit großem Enthusiasmus zum Kommunismus und der bolschewistischen Sowjetunion bekannt hatten.²⁶ Ein Zentrum des entstehenden Antibolschewismus war New York. Dort hatte sich nach 1930 die Gruppe der später so genannten New York Intellectuals gebildet und sich mit der Zeitschrift „Partisan Review“ ein Sprachrohr geschaffen.²⁷ Es handelte sich um eine Gruppe von ehedem kommunistisch orientierten Intellektuellen, die sich spätestens nach der Erfahrung des Hitler-Stalin-Pakts von ihren prosowjetischen Einstellungen abkehrten. Seit 1947 wurden sie zu engagierten Kämpfern gegen die Expansion der Sowjetunion und die Ausweitung des Einflusses kommunistischer Intellektueller in Europa. Sie waren oft Kinder jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, die vor den Verfolgungen des Zarenreichs oder der Oktoberrevolution geflohen waren. Ähnlich wie die jüdischen Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus, die an verschiedenen amerikanischen Universitäten und im OSS tätig waren, verfügten sie über breite internationale Erfahrung. Sie kannten Europa, sahen den Sozialismus oder gar den Kommunismus als notwendiges Korrektiv zur kapitalistischen Wirtschaft an und waren zugleich doch so stark in die offene Gesellschaft der USA hineingewachsen, dass sie allen Formen von totalitärer Herrschaft, Diktatur und Unterdrückung der Freiheit mit der entschiedensten Feindschaft begegneten. Die New York Intellectuals wurden im entstehenden Kalten Krieg zur einflussreichsten Bewegung eines linken Antistalinismus in den USA.²⁸ Darin liegt ein wichtiger Berührungspunkt mit den deutschen Emigranten in der R&A Branch des OSS und an verschiedenen Universitäten. Für beide Gruppen war die Ausgangsposition vor 1933 der Marxismus und eine je unterschiedliche Spielart von Sozialismus gewesen. An ihren linken Überzeugungen hielten sie fest, auch wenn sie sich – wie die deutschen Emigranten – von der Gleichsetzung des Kapitalismus mit dem Faschismus lösten oder – wie die New York Intellectuals – den Stalinismus als totalitäre Diktatur, mithin als glatte Negation der ursprünglichen Ideale des Kommunismus erkannten. Sie waren politisch links. Ihr politisches Bewusstsein hatten sie im pluralistischen Meinungsklima der amerikanischen Ostküsten-Intelligenz herausgebildet. Die Freiheit der Person, eingewoben in den Konsens der demokratischen Gesellschaft, war ihr zentrales Anliegen. So reprä-

 Hierzu ist maßgeblich Crossman, God.  Vgl. Terry A. Cooney, The Rise of the New York Intellectuals. Partisan Review and Its Circle, 1934– 1945. Madison, WI 1986; Alan Bloom, Prodigal Sons. The New York Intellectuals and Their World. New York, NY u. a. 1986.  Alan M. Wald, The New York Intellectuals. The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s. Chapel Hill, NC u. a. 1987.

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sentierten beide Gruppen eine kulturelle Nähe zum gesellschaftlichen und politischen Denken des New Deal. In dieser historisch einzigartigen Verbindung begann der Hybrid aus europäischen und amerikanischen Ordnungsvorstellungen im Zuge der Neuordnung Westeuropas und insbesondere Westdeutschlands seit 1948 seine Wirkung zu entfalten. Es handelte sich um die Idee eines euroatlantischen Sozialen Liberalismus, der wirtschaftlich vom Keynesianismus, politisch vom Antitotalitarismus inspiriert war und kulturell auf eine ideologische Neuformatierung des europäischen Westens zielte. Scharf akzentuierend könnte man sagen: Hier ging es um die Wiedererweckung des Liberalismus aus dem Geist eines westlichen, marktwirtschaftlich durchsäuerten Marxismus.

4. Richten wir nun den Blick auf das Umfeld, in dem ideelle Einflüsse aus diesem Kontext geltend gemacht wurden, und auf einzelne herausgehobene Protagonisten. Beginnend beim Personal der R&A Branch und im Kreis der deutschen Emigranten finden wir einzelne Personen, die seit 1948 nach Deutschland zurückkehrten; das war die Minderzahl. Doch fast alle begannen wieder Kontakte nach Deutschland zu pflegen und pendelten regelmäßig zwischen Amerika und Europa. In der Geschichtswissenschaft entfalteten Hajo Holborn, Hans Rosenberg und Felix Gilbert nachhaltigen Einfluss. Sie bemühten sich darum, die Methodik der nationalkonservativen Historie zu kritisieren, die sich nach wie vor an den Haupt- und Staatsaktionen und den großen Männern in Politik und Militär orientierte. Ihre Absicht ging dahin, die historische Erkenntnis dem Zusammenhang von Staat und Gesellschaft zu öffnen und auch die Ideen, die Denksysteme, welche gesellschaftliches Handeln steuern, mit in die geschichtswissenschaftliche Analyse einzubeziehen.²⁹ Die Juristen Otto Kirchheimer, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel waren in den amerikanischen Jahren zu Staats- und Politikwissenschaftlern geworden, die sich den Strukturen demokratischer Gesellschaften zuwandten und für die insbesondere die Frage eine Rolle spielte, wie in Deutschland Staat und Gesellschaft demokratisch gestaltet werden konnten. Es

 Vgl. Donald Fleming/Bernard Bailyn (Hrsg.), The Intellectual Migration. Europe and America, 1930 – 1960. Cambridge, MA 1969; Hartmut Lehmann (Hrsg.), An Interrupted Past. Germanspeaking Refugee Historians in the United States after 1933. Washington D. C. 1991; Gerhard A. Ritter, Die emigrierten Meinecke-Schüler in den Vereinigten Staaten. Leben und Geschichtsschreibung im Spannungsfeld zwischen Deutschland und der neuen Heimat: Hajo Holborn, Felix Gilbert, Dietrich Gerhard, Hans Rosenberg, in: Historische Zeitschrift 284, 2007, S. 59 – 102.

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ging ihnen um die Demokratie als politisches System und soziale Lebensform. Fraenkel und Neumann beteiligten sich zusammen mit anderen Remigranten aus Europa und der Türkei am Aufbau der Freien Universität Berlin seit 1948 und der Grundlegung des Fachs Politologie als Demokratiewissenschaft.³⁰ Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse, der zusammen mit Neumann, Gilbert, Kirchheimer und den beiden Amerikanern Hughes und Herz in der Central European Section der R&A Branch gearbeitet hatte, war inzwischen in den USA fest etabliert. Seine umsichtigen Analysen der Sowjetunion, die er in den 1950er Jahren verfasste und in denen er die Methodik der Feindbeobachtung aus der Zeit vor 1945 vom nationalsozialistischen Deutschland jetzt auf das bolschewistische Russland übertrug, entfalteten große Wirkung sowohl bei der amerikanischen New Left als auch bei der deutschen Neuen Linken.³¹ Max Horkheimer und Theodor W. Adorno kehrten in den 1950er Jahren nach Frankfurt am Main zurück, wo sie das wiederbegründete Institut für Sozialforschung zum Zentrum der Kritischen Theorie machten. Die Sozialphilosophie zur systematischen Dekonstruktion des faschistischen Potentials in der modernen Gesellschaft und des „deutschen Geistes“ darin wirkte seit den späten 1950er Jahren auf Studenten und intellektuelles Publikum in der Bundesrepublik ein und verschränkte sich mit der kritischen Demokratiewissenschaft des politologischen Instituts an der FU Berlin.³² Was sich hier entfaltete, war eine kritische, in manchen Bereichen nach wie vor marxistisch getönte Gesellschaftswissenschaft, die das Programm eines westlichen Sozialismus, einer Sozialen Demokratie, als ideelle Basis des neuen, euroatlantischen liberalen Systems in der jungen Bundesrepublik zu festigen versuchte. Betrachtet man die 1950er Jahre als die Inkubationszeit solcher Einflüsse, dann lassen sich ab 1960 allmählich Wirkungen erkennen.³³ Sie waren allerdings eingebettet in

 Vgl. die Beiträge von John H. Herz, Joachim Perels, Richard Saage und Alfons Söllner in dem Band von Luthardt, Wolfgang (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. Opladen 1989; Anselm Doering-Manteuffel, Protagonist kritischer Demokratiewissenschaft zwischen Weimar, Washington und West-Berlin – Franz L. Neumann (1900 – 1954), in: Hein, Bastian u. a. (Hrsg.), Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte. München 2012, S. 161– 174.  Herbert Marcuse, Soviet Marxism. A Critical Analysis (1958). Harmondsworth 1971; Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburg 2010.  Vgl. Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biographie. München 2003; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. München 1988; Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Göttingen u. a. 2009.  Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999.

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den gesellschaftlichen Wandel des Nachkriegsbooms und blieben daher unauffällig.³⁴ Wenn man jedoch aus der Geschichte den ideengeschichtlichen Strang der euroatlantischen Verflechtungen herauspräpariert, erkennt man die Einflüsse und Verflechtungen deutlich. Aus dem Kreis der New York Intellectuals sind insbesondere James Burnham, Sidney Hook und Melvin Lasky zu nennen, die zusammen mit europäischen und deutschen Intellektuellen wie Arthur Koestler, François Bondy, Franz Borkenau, Rudolf Pechel, Richard Löwenthal, Carlo Schmid und zahlreichen anderen seit 1950 ein weit verzweigtes Netzwerk zur Bekämpfung des Kommunismus schufen. Mit seiner Zentrale in Paris und Dependancen in Italien, Österreich, der Bundesrepublik und West-Berlin organisierte der Congress for Cultural Freedom (CCF) Kongresse europäischer Künstler und Wissenschaftler, betrieb Zeitschriften in den verschiedenen Ländern – „Preuves“ in Frankreich, „Tempo Presente“ in Italien, „Encounter“ in England, „Der Monat“ in Deutschland – und engagierte sich in Rundfunk- und Zeitungsredaktionen. In Deutschland war die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die politisch linken Parteien, Verbände und öffentlichen Organe gegen den Kommunismus und für die westliche Ordnung des sozialen Konsenses einzunehmen, darüber hinaus aber auch die kleindeutsche, von der wilhelminischen Tradition durchsäuerte Nationalkultur zu bekämpfen. Das intellektuelle Engagement des Kongresses für kulturelle Freiheit galt dem Kampf gegen Rot (und im Sinne der Totalitarismustheorie simultan gegen Braun) sowie gegen SchwarzWeiß-Rot – mithin gegen die Kultur des wenig später so genannten deutschen Sonderwegs. Das Programm des CCF bestand in der werbenden Kommunikation für consensus liberalism und, direkt damit verbunden, des consensus capitalism. ³⁵ Damit schließt sich der Kreis. Konsensliberalismus und Konsenskapitalismus waren gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, die in der Zeit des New Deal wurzelten und von Persönlichkeiten kommuniziert wurden, die politisch links orientiert waren – marxistisch, sozialistisch, kommunistisch – und sich zur Marktgesellschaft hin geöffnet hatten. Der in den Zeitschriften des CCF propagierte Konsensliberalismus war die zeitgenössische Spielart des transatlantischen Sozialliberalismus. Das wichtigste Anliegen dieser Kommunismusfeinde zielte

 Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart. München 2009.  Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe. New York, NY u. a. 1989; Pierre Grémion, Intelligence de l’anticommunisme. Le Congrès pour la liberté de la culture à Paris (1950 – 1975). Paris 1995; Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998; Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003.

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darauf, die europäischen Sozialisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaften für die marktwirtschaftliche Ordnung, für den Zusammenhang von Demokratie und ‚Freiheit’ zu gewinnen und sie darüber gegen den Kommunismus zu immunisieren.³⁶ Das nächst wichtige und allein auf Deutschland bezogene Anliegen galt der nationalen politischen Kultur, aus der der Nationalsozialismus hervorgewachsen war. Auf diesem Feld verschmolzen die Interessen der Intellektuellen im Kongress für kulturelle Freiheit mit den Absichten der deutschen Emigranten und Remigranten. Sowohl in den Medien als auch in den Universitäten argumentierten und stritten sie für die Idee der Demokratie als gesellschaftliche und nicht bloß politische Ordnungsform. Es ging um den Pluralismus als Strukturprinzip, mithin um das direkte Gegenteil der in Deutschland so tief verwurzelten Idee von Gemeinschaft, Volksgemeinschaft und Führertum. Mit dem Pluralismus war der Gedanke sowohl der Marktwirtschaft als auch des sozialen Konsenses verbunden. Wir beobachten die Erneuerung des Liberalismus seit den späten 1940er Jahren in der Form des Sozialen Liberalismus. Dessen große Zeit war in den 1960er und frühen 1970er Jahren gekommen, als in der Bundesrepublik Deutschland und in fast allen westeuropäischen Ländern, die seinerzeit vom Marshall-Plan profitiert hatten, keynesianisch orientierte sozialliberale Regierungen an die Macht kamen.³⁷ Es war der Triumph jener Ideen, die seit 1940 die Vorstellungen des New Deal, des Keynesianismus sowie das Postulat einer grundsätzlichen Kompatibilität von Marktwirtschaft und Sozialer Demokratie zueinander in Beziehung gesetzt hatten. In der Bundesrepublik Deutschland lässt sich der Durchbruch an drei überaus folgenreichen Ereignissen ablesen. Das war zum einen die Programmreform der Sozialdemokratischen Partei (SPD) mit dem Godesberger Programm des Jahres 1959. Das war zum andern die entsprechende Entscheidung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) mit seinem Düsseldorfer Programm von 1963. Als markantes drittes Ereignis ist die Fischer-Kontroverse von 1961 bis 1964 zu werten. Gewiss nicht zufällig setzte diese bittere Kontroverse um Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwischen 1959 und 1961 ein. Sie trug dazu bei, dass die Vorherrschaft des schwarzweiß-roten Traditionalismus im historischen Selbstbild der nationalen Öffentlichkeit deutlich abnahm. Parallel zum Aufstieg der sozialliberalen Parteien er-

 Vgl. zur Bedeutung der „Freiheit“ als eines ideologischen Kampfbegriffs des Westens im Kalten Krieg Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?; sowie Anselm Doering-Manteuffel, Im Kampf um ,Friedenʻ und ,Freiheitʻ. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt, in diesem Band, S. 281– 305.  Vgl. Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. Frankfurt am Main u. a. 1987, S. 17– 60.

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folgte während der 1960er Jahre im akademischen Betrieb der Durchbruch der historischen und politischen Sozialwissenschaften, die sich konsequent an der seit dem Ersten Weltkrieg gewachsenen, hochgradig ideologischen Theorie vom deutschen Sonderweg in die Moderne orientierten. Die Sonderwegs-Theorie war ein Bestandteil des erneuerten, mit sozialistisch-demokratischen Einflüssen angereicherten westlich-atlantischen Liberalismus, der aus der Weltwirtschaftskrise nach 1930 und dem Kampf gegen die Diktaturen jener Zeit hervorgegangen war.

Literaturverzeichnis Angster, Julia: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003. Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. New York, NY 1951. Bloom, Alan: Prodigal Sons. The New York Intellectuals and Their World. New York, NY u. a. 1986. Boll, Monika/Gross, Raphael (Hrsg.): Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland. Göttingen u. a. 2009. Brick, Howard: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought. Ithaca, NY u. a. 2006. Brinkley, Alan: The End of Reform. New Deal Liberalism in Recession and War. New York, NY 1996. Coleman, Peter: The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe. New York, NY u. a. 1989. Cooney, Terry A.: The Rise of the New York Intellectuals. Partisan Review and Its Circle, 1934 – 1945. Madison, WI 1986. Crossman, Richard (Hrsg.): The God that Failed. New York, NY 1949. Doering-Manteuffel, Anselm: Amerikanisierung und Westernisierung. Version 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 18. 1. 2011, URL: http://docupedia.de/zg/doering _amerikanisierung_v1_de_2011. Doering-Manteuffel, Anselm: Der deutsche Weg nach Westen, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): Leitbilder der Zeitgeschichte. Wie Nationen ihre Vergangenheit denken. Leipzig 2011, 23 – 39. Doering-Manteuffel, Anselm: Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt, in diesem Band, 281 – 305. Doering-Manteuffel, Anselm: Protagonist kritischer Demokratiewissenschaft zwischen Weimar, Washington und West-Berlin – Franz L. Neumann (1900 – 1954), in: Hein, Bastian u. a. (Hrsg.): Gesichter der Demokratie. Porträts zur deutschen Zeitgeschichte. München 2012, 161 – 174. Doering-Manteuffel, Anselm: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band, 357 – 391. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. Edsforth, Ronald: The New Deal. America’s Response to the Great Depression. Malden, MA u. a. 2000.

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II. Suchbewegungen in der Moderne

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III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms

Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘: Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt Vom 20. bis 23. April 1949 erlebten 2000 Besucher in der Salle Pleyel in Paris eine internationale Konferenz, den „Congrès Mondial des Partisans de la Paix“. Die Veranstaltung war umstritten. Fast 400 Delegierte hatten von der französischen Regierung kein Visum erhalten, weshalb zur gleichen Zeit ein paralleler Kongreß in Prag stattfand. Der Kalte Krieg hatte soeben seinen ersten Höhepunkt erreicht, die Blockade der Westsektoren Berlins dauerte noch an. Die Kongresse in Paris und Prag waren als ideologische Propagandaveranstaltungen typisch für diese Zeit.¹ So liegt denn auch die historische Bedeutung des Treffens in der französischen Hauptstadt nicht nur in seinen Themen, sondern vor allem auch in der Emblematik. Auf Veranlassung von Louis Aragon war der Saal mit Plakaten geschmückt, die Picassos „Friedenstaube“ zeigten — eine Lithographie, die der Künstler 1948 geschaffen hatte als seinen Beitrag zur internationalen Diskussion über den Verzicht auf atomare Rüstung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki.² Die Friedenstaube trat ihren Flug um die Welt an. Schon im Juli 1950 brandmarkte US-Außenminister Dean Acheson sie als die „trojanische Taube der kommunistischen Bewegung“.³ Bei den Weltjugendfestspielen in der DDR 1951 und 1973 stieg die Taube im Dienste des ‚Kampfes für den Frieden‘ in den Himmel. Das „Deutsche Komitee der Kämpfer für den Frieden“ von 1949, später bekannt als „Deutscher Friedensrat“, seit 1963 „Friedensrat der DDR“, übernahm sie in sein Signet, und auch auf dem Bühnenvorhang des Berliner Ensembles prangte die Friedenstaube.⁴ In den 1980er Jahren war sie in Westdeutschland und anderen westeuropäischen Ländern als Autoaufkleber in den Kreisen friedensbewegter Menschen allüberall präsent. Nach 1990 verlor sich ihr Flug im Dunkel der Zeit. Wie die Teilung Deutschlands, wie der macht- und ordnungspolitische Systemgegensatz war auch dieses Symbol ein manifester Ausdruck des Ost-West Lawrence S. Wittner, One World or None. A History of the World Nuclear Disarmament Movement Through 1953. Stanford, CA 1993, S. 171– 191, bes. S. 178.  Jean-Paul Ameline/Harry Bellet (Hrsg.), Face à l’Histoire. Paris 1996, S. 247, S. 332. Ich danke meinem Tübinger Kollegen Gottfried Korff, Ludwig Uhland-Institut, für den Hinweis auf diesen Band und für ein aufschlußreiches Gespräch über Picassos Friedenstaube.  New York Times. 13. Juli 1950. Zit. n. Wittner, One World, S. 272.  Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Politische und kulturelle Plakate der DDR. Aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums (DHM-Magazin, 9). Berlin 1999, S. 33 – 47. https://doi.org/10.1515/9783110633870-011

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III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms

Konflikts. Beide Seiten, Ost und West, griffen sich gegenseitig mit den Wertordnungsformeln ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘ an. Von Seiten der Sowjetunion wurde den USA unterstellt, sie gefährdeten mittels der Verfügung über die Atombombe den Frieden. Seitens der USA wurde die Sowjetunion bekämpft als ein Feind, dessen totalitäres System eine akute Bedrohung der Freiheit darstellte. Beide Begriffe wurden ideologisch so aufgefüllt, dass sie in den Jahren des Kalten Krieges eine unzweideutige Semantik enthielten, und sie wurden im Osten über „offizielle Bewußtseinsindustrien“⁵ und im Westen über halb-offizielle Agenturen der Meinungsbildung verbreitet.⁶ Die Verbreitung erfolgte mit großem Nachdruck insbesondere im eigenen Lager und, natürlich, in Richtung auf das gegnerische Lager. Die Begriffe prägten die Sprache der Zeitgenossen. Die Selbstzuschreibungen des Westens als ‚freie Welt‘ und des Ostens als ‚Friedenslager‘ blieben haften und tauchten bis zum Ende des Ost-West-Konflikts in der offiziellen wie in der Alltagskommunikation beider Blöcke auf. Die ‚Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts‘ wurden nicht zuletzt von diesem Gegensatz bestimmt, der zeit seiner Existenz mehr in sich schloß als die zuvörderst ins Auge stechende ideologische Differenz. Die nachstehende Skizze vermag in allgemeinem Umriß zu zeigen, wie ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘ in der Systemrivalität verwendet und welche Wirkungen davon in den Gesellschaften hüben und drüben erkennbar wurden. Verschiedene Erscheinungsformen politischen Dissenses drückten hier wie dort den Willen aus, gesellschaftliche Interessen zur Geltung zu bringen, die einerseits legitime Anliegen einer jeden humanen Sozialordnung bildeten und andererseits auch Merkmale des ideologischen Selbstverständnisses aus dem gegnerischen System aufwiesen. Im kritischen Engagement für den Frieden in den Gesellschaften der westlichen Länder und für die Freiheit in den oppositionellen Netzwerken der Ostblockstaaten waren Argumente und Überzeugungen im Spiel, die propagandistisch aus dem jeweils anderen Lager zur Geltung gebracht wurden. So kam es in den vier Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts zu einer gegenseitigen Durchsäuerung der antagonistischen Gesellschaften, und am Ende, in den achtziger Jahren, bildeten in dialektischer Verschränkung das Engagement für den Frieden ohne atomare Bedrohung ein Merkmal systemkritischer Opposition im Westen und das Engagement für die Freiheit des einzelnen in einer Welt ohne atomare Bedrohung das Kennzeichen von Opposition im Osten. Die nukleare Rüstungspolitik der Supermächte gab der Entwicklung ihre Dynamik.  Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985. Göttingen 1993, S. 229.  Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe. London 1989.

Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘

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Diese These ist nun mit Blick auf ‚West‘ und ‚Ost‘ im Allgemeinen und am Beispiel der Bundesrepublik und der DDR im Besonderen zu illustrieren. Es erweist sich als sinnvoll, drei Zeitschnitte anzulegen: Von 1945/47 bis etwa 1955 dauerte die schärfste Spannungsphase des Kalten Krieges; die Jahre von 1965/66 bis etwa 1973 sind als Kernzeit der Entspannung anzusprechen; und die späten siebziger bis mittleren achtziger Jahre schließlich waren eine Phase des erneuerten Konflikts, in der Erinnerungen an den Kalten Krieg wach werden konnten. Die diachrone Perspektive von den vierziger bis zu den achtziger Jahren konfrontiert den Zeithistoriker nicht nur mit höchst unterschiedlichen Epochen, sondern auch mit unterschiedlichen Forschungsständen. Die Geschichte des OstWest-Konflikts ist bisher allein unter dem Gesichtspunkt der internationalen Beziehungen mehr oder weniger durchgängig behandelt worden.⁷ Die innere Entwicklung in den einzelnen Ländern, die Bedeutung des Nachkriegsbooms für Wirtschaft und Gesellschaft, der Wandel von Institutionen und politischer Kultur sowie ideelle Prägungen, Verhaltensstile und Handlungsmuster von gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen — all dies wird von der zeithistorischen Forschung gegenwärtig nur erst bis an die Schwelle der siebziger Jahre erfaßt.⁸ Die durch den Nachkriegsboom ausgelöste Transformationskrise in den Industriegesellschaften beiderseits des Eisernen Vorhangs während der sechziger und siebziger Jahre korrelierte mit der Entspannungspolitik im Bereich von Rüstung und internationalen Beziehungen. Diese Korrelation ist zumindest für die beiden deutschen Staaten noch nicht systematisch erforscht worden. Und das Phänomen der ‚Neuen sozialen Bewegungen‘ im Westen seit den siebziger und achtziger Jahren, das in Polen, auch in der DDR und sogar in den städtischen Zentren der Sowjetunion durchaus seine Entsprechung hatte, wird mit Blick auf Deutschland bislang von Politikwissenschaft und Soziologie erforscht, weshalb die Frage nach ideellen Kontinuitäten zwischen den Neuen sozialen Bewegungen, wie z. B. der Friedensbewegung, und Erscheinungsformen von Interessenartikulation und -beeinflussung aus der Anfangszeit des Kalten Krieges nicht zentral ins Blickfeld  John Lewis Gaddis, The Long Peace. Inquiries into the History of the Cold War. New York, NY 1987; John Lewis Gaddis, We Now Know. Rethinking Cold War History. Oxford 1997; Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941– 1991. München 1996; David Reynolds, One World Divisible. A Global History Since 1945. New York, NY 2000.  Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995, S. 324– 431; Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 267– 538; Hartmut Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1948 – 1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik und in Europa. Opladen 1992; Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin 2000; Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000.

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III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms

gerückt wird.⁹ Auf den folgenden Seiten sollen deshalb Kontinuitäten und Brüche unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts besonders beachtet werden.

1. Der erste Zeitschnitt erfaßt noch den Übergang vom Zweiten Weltkrieg in den OstWest-Konflikt. Die Anti-Hitler-Koalition hatte die ideologischen Ansprüche auf die Gestaltung von ‚Freiheit‘, wie sie in der Atlantik-Charta formuliert waren, und auf ‚Frieden‘ respektive ‚Weltfrieden‘, den die Sowjetunion postulierte, in einen Handlungszusammenhang gebracht, aus dem 1945 die Vereinten Nationen hervorgingen. Der Gründung der UNO am 26. Juni 1945 folgten sechs Wochen später die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Erst allmählich wurde den Zeitgenossen die Bedeutung des Geschehens bewußt — in seiner machtpolitischen, technisch-wissenschaftlichen und ethischen Dimension. Der Beginn des Kalten Krieges spiegelte nicht zuletzt diesen schubweisen Erkenntnisprozeß international wider.¹⁰ Unmittelbar nach dem Atombombenabwurf setzte in den USA eine Diskussion ein, die um die einzigartige Verantwortung der Amerikaner für diese Waffe kreiste.¹¹ Die Überlegungen betrafen Fragen, ob die militärische Nutzung nukleartechnischer Forschung weiterhin verantwortbar sei und wie der Kreis der Forscher und die Fluktuation des Wissens, aber auch die Verfügbarkeit spaltbaren Materials unter Kontrolle gehalten werden könne. In dieser Diskussion waren nahezu alle wichtigen Argumente späterer Auseinandersetzungen in den verschiedenen westlichen Ländern über den Verzicht auf Atomrüstung oder nukleare Abrüstung bis hin zum ‚Ausstieg aus der Kernenergie‘ bereits enthalten. Praktische Konsequenzen zeitigte dies in den vierziger Jahren nicht, denn die Verschärfung des Interessengegensatzes und der Machtrivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ab 1946 leiteten über in die Phase des  Karl-Werner Brand (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Frankfurt am Main 1985; Karl-Werner Brand, Massendemokratischer Aufbruch im Osten. Eine Herausforderung für die NSB-Forschung, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 3, 1990, S. 9 – 16; Detlef Pollack, Wie alternativ waren die alternativen Gruppen in der DDR? Bemerkungen zu ihrem Verhältnis zu Sozialismus, Demokratie und deutscher Einheit, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 11, 1998, S. 92– 102.  Douglas Brinkley/David R. Facer-Crowther (Hrsg.), The Atlantic Charter. London 1994; John Lewis Gaddis, The United States and the Origins of the Cold War, 1941– 1947. New York, NY u. a. 1972; Daniel Yergin, Der zerbrochene Frieden. Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas. Frankfurt am Main 1979.  Wittner, One World, S. 55 – 79.

Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘

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offenen Konflikts. Truman-Doktrin und Marshall-Plan auf der einen Seite sowie die Gründung des Kominform mit der programmatischen Rede von Andreij Shdanow auf der anderen Seite umrissen im Frühjahr und Herbst 1947 den Rahmen. Der von Truman beschworenen „freien Welt“, in deren europäischem Teil nun die Hilfe des Marshall-Plans zur Geltung kommen sollte, stellte Shdanow das „antiimperialistische und demokratische Lager“ unter der Führung der Sowjetunion entgegen, das den Kampf gegen die USA bei deren „Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges“ aufnehmen werde.¹² 1947 war die Aufteilung der Welt in die beiden Blöcke des Ost-West-Konflikts propagandistisch vollzogen, 1948 setzte die ideologische Homogenisierung des westlichen und des östlichen Blocks ein, die vom Machtkampf unter dem Signum atomarer Politik und vom Gegensatz der soziopolitischen und ökonomischen Ordnungsvorstellungen geprägt war.¹³ Die Furcht vor der amerikanischen Bombe veranlaßte die Sowjetunion, einerseits die eigene Atomrüstung zu forcieren und andererseits mit Hilfe von kommunistischen Führungskräften in europäischen Ländern und später über das Kominform auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Friedenskampagnen in Gang zu bringen, die von Intellektuellen und Künstlern getragen werden sollten. Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs war der Friedenswunsch in den europäischen Ländern ein gesellschaftliches Grundbedürfnis, und gerade die Repräsentanten des Kulturlebens fühlen sich nicht selten dazu berufen, hier als Vorkämpfer der Besinnung öffentlich zu wirken. Das in Deutschland verbreitete Nullpunkt-Denken, der Impuls „Nie wieder Krieg!“ und der intensive geistige Austausch darüber in den vielen Zeitschriften und Diskussionsveranstaltungen der frühen Nachkriegsjahre brachte dieses Grundbedürfnis zum Ausdruck.¹⁴ Groß angelegte, internationale Intellektuellenkongresse als Anstöße für Kampagnen mit breiter Wirkung in die Gesellschaft hinein, die die Friedenssehnsucht der Menschen artikulieren und die Atombombe ächten sollten, entsprachen deshalb der Zeitstimmung. Viele Teilnehmer nahmen das Anliegen als ethische Verpflichtung tiefernst und reagierten mit Unmut und Protest, als sie bemerkten, dass die internationalen Kongresse für den Frieden vom Beginn 1948 an kom-

 Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941– 1955. München 1980, S. 157– 184, Zit. S. 179.  Stephen J. Whitfield, The Culture of the Cold War. 2. Aufl. Baltimore, MD 1996; Paul Boyer, By the Bomb’s Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age. New York, NY 1985; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917– 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 601– 754.  Vgl. Bernhard Zeller (Hrsg.), Als der Krieg zu Ende war. Literarisch-politische Publizistik 1945 – 1950. Stuttgart 1973.

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III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms

munistisch beeinflußt waren und mehr oder weniger offen im machtpolitischen Interesse der Sowjetunion manipuliert wurden.¹⁵ Ende August 1948 hatte in Breslau, im nunmehr polnischen Schlesien, der erste „Weltkongreß der Geistesschaffenden zur Verteidigung des Friedens“ stattgefunden, auf dem der russische Schriftsteller und Kulturfunktionär Aleksandr Fadejew die Zielsetzung unmißverständlich klarmachte. Seine Analyse entsprach der Zwei-Lager-Theorie Shdanows und forderte von den Kongreßdelegierten die Unterstützung der sowjetischen Politik durch propagandistisches Engagement für den Weltfrieden und die Verurteilung der Atombombe.¹⁶ Von hier gingen dann die Anstöße aus, die 1949 auf den Tagungen in Paris und Prag unter dem Emblem von Picassos Friedenstaube die „Weltfriedensbewegung“ ins Leben riefen. Sie wurde zum Motor für eine ganze Serie von ähnlichen Veranstaltungen in den Jahren 1949 und 1950 in Rom, Stockholm, Warschau und Sheffield.¹⁷ Im März 1950 veröffentlichte das Ständige Komitee der Weltfriedensbewegung einen Aufruf, in dem ein „vorbehaltloses Verbot“ der Atomwaffe und die Errichtung einer strengen internationalen Kontrolle gefordert wurden.¹⁸ Auf die internationalen ‚Friedens‘-Kampagnen aus östlicher Initiative reagierten ab 1949 mit heftiger Entschiedenheit amerikanische und westeuropäische Intellektuelle. Den letzten Anstoß hatte die wegen des Ortes und Inhaltes besondere Aufmerksamkeit erregende Konferenz der Weltfriedensbewegung im New Yorker Waldorf Astoria Hotel gegeben, die ‚Scientific and Cultural Conference for World Peace‘ vom März 1950. Ausgehend von den Beobachtungen amerikanischer Konferenzteilnehmer begann hier die Planung einer groß aufgezogenen Propagandaveranstaltung für die Wertorientierung des liberalen Westens, die dann wenige Tage nach Beginn des Koreakriegs Ende Juni 1950 in Berlin als ‚Kongreß für kulturelle Freiheit‘ spektakulär in Szene gesetzt wurde. „Die Freiheit hat die Offensive ergriffen“, sagte Arthur Koestler in seiner Rede dort, und in der Tat, ‚Freiheit‘ und ‚Frieden‘ waren jetzt in der propagandistischen Feldschlacht des Kalten Krieges endgültig offen in Stellung gebracht worden.¹⁹

 Rüdiger Schlaga, Die Kommunisten in der Friedensbewegung – erfolglos? Die Politik des Weltfriedensrates im Verhältnis zur Außenpolitik der Sowjetunion und zu den unabhängigen Friedensbewegungen im Westen 1950 – 1979. Münster u. a. 1991, S. 41– 50.  Ibid., S. 48 f.  Wittner, One World, S. 175 – 205; Schlaga, Die Kommunisten, S. 51– 74.  Jürgen von Hehn, Die Weltfriedensbewegung im Atomzeitalter, in: Europa-Archiv 9, 1954, S. 6807– 6821, hier S. 6811.  Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, insb. S. 68 – 158, S. 204– 228. Neben diesem Standardwerk vgl. für den englischsprachigen Raum Coleman, The Liberal Conspiracy und zu Frankreich Pierre Gré-

Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘

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Im Unterschied zu dem gebräuchlichen, gewissermaßen ‚naiven‘ Umgang mit den Worten Freiheit und Frieden handelte es sich hier um ideologische Kampfbegriffe, die darauf angelegt waren, das semantisch offene, ‚naive‘ Verständnis von Freiheit und Frieden auf eine politische Zwecksetzung hin einschlägig zuzuspitzen und zu verengen. Die von der Sowjetunion lancierte Friedenspropaganda implizierte apriorisch die Wesenseinheit von Sozialismus und Frieden, weshalb jeder Anlaß zum Krieg dann beseitigt sein würde, wenn das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben worden sei. In diesem Sinne für den Frieden zu kämpfen müsse das Antriebsmoment für jeden Kommunisten sein. So wurde ‚der Frieden‘ gegen die bürgerlich-kapitalistische Ordnung des Westens in Stellung gebracht, die als Bedrohung aufzufassen war wegen ihrer expansiven, ‚imperialistischen‘ Zielsetzung und wegen der Verfügung über die Atombombe. Die von den Vereinigten Staaten lancierte Freiheitsrhetorik propagierte dagegen ein atlantisches Verständnis von Freiheit, in dem das Recht jeden Individuums auf persönliche Freiheit, auf wirtschaftliche Freiheit und auf persönliche Lebenserfüllung fest verkoppelt waren. Die antikommunistische und antitotalitäre Stoßrichtung dieses Ideologems aus dem Fundus der US-amerikanischen politischen und kulturellen Tradition lag offen zutage. Diese ‚Freiheit‘ ließ sich gegen politische Diktatur und staatlich gelenkte Wirtschaft zum Einsatz bringen. Doch mehr als das: Auch wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen des demokratischen Sozialismus aus der deutschen und kontinentaleuropäischen Tradition hatten darin ebensowenig Platz wie die Kategorie des Klassengegensatzes, die im bürgerlichen und sozialdemokratischen Lager eines westeuropäischen Landes wie der Bundesrepublik noch das Selbstverständnis der Parteien und die Prinzipien der Koalitionsbildung bestimmte.²⁰ Hinter den ideologischen Kampfbegriffen standen Institutionen, die für deren Verbreitung sorgten. Zeitlich parallel wurden in der zweiten Jahreshälfte 1950 sowohl der „Weltfriedensrat“ als auch der „Congress for Cultural Freedom“ ins Leben gerufen.²¹ Der Weltfriedensrat wurde von den Ländern des Ostblocks als

mion, Intelligence de l‘Anticommunisme. Le Congrès pour la liberté de la culture à Paris 1950 – 1975. Paris 1995.  Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century. Princeton, NJ 1994; Frank A. Ninkovich, The Diplomacy of Ideas. U.S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938 – 1950. Cambridge 1981; Anselm Doering-Manteuffel, Turning to the Atlantic. The Federal Republic’s Ideological Reorientation, 1945 – 1970, in: Bulletin of the German Historical Institute 25, 1999, S. 3 – 21.  Schlaga, Die Kommunisten, S. 75 – 113; Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 204– 264.

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III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms

„berufene höchste Instanz der Völker zur Erhaltung des Friedens“ bezeichnet.²² Seine Funktion nach außen bestand darin, die pazifistischen Strömungen und Oppositionsbewegungen gegen Rüstungspolitik in den westlichen Ländern zu stärken, um die außen- und sicherheitspolitische Konsolidierung des gegnerischen Blocks zu stören. Nach innen ging es darum, in den Volksdemokratien Osteuropas mit Hilfe der Friedenspropaganda die Bevölkerung trotz aller Versorgungsengpässe zu höheren Leistungen in der Produktion anzuspornen, indem die Aggressivität des Westens als schwerste Bedrohung für den Aufbau des Sozialismus beschworen wurde. Zeitweilig scheint es auch Überlegungen gegeben zu haben, den Weltfriedensrat zu einer Gegen-UNO auszubauen.²³ Der „Congress for Cultural Freedom“ entstand aus einer nichtstaatlichen Initiative, wurde jedoch vom amerikanischen Staat via Ford Foundation finanziert und war mit der CIA verbunden. Hier wurde die einflußreichste Propagandastrategie im amerikanisch dominierten Westen geplant und organisiert. Sie richtete sich unter dem Signum eines scharfen Antikommunismus gegen Einwirkungsversuche aus dem sowjetischen Machtbereich, strahlte über Rundfunksender die Freiheitsrhetorik in die östlichen Länder aus und nahm nicht zuletzt gezielten Einfluß auf die liberalen und linken Segmente der Intelligenzschicht in Westeuropa. Der Schwerpunkt der Aktivitäten auf beiden Seiten lag in den frühen fünfziger Jahren. Die ‚Frieden‘-‚Freiheit‘-Dichotomie läßt sich dann als Kennzeichen der ideologischen Ost-West-Differenz charakterisieren, wenn man jederzeit mitbedenkt, dass es im Westen natürlich eine kontinuierliche Kommunikation über Frieden und im Osten eine äquivalente Kommunikation über Freiheit gab. Beides hatte aber eher flankierenden Charakter und gewährleistete – vornehmlich in den offenen Gesellschaften des Westens – die Funktionsfähigkeit der eigentlichen Kampfbegriffe. Erwähnt seien als Beispiele für die westliche Seite nur die Formel der Bundesregierungen unter Adenauer, „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit“, und die „Atoms for Peace“-Initiative des US-Präsidenten aus dem Jahr 1953, mit der Eisenhower die forcierte Rüstungspolitik der UdSSR im Atomwaffenbereich und die östliche Propaganda zu konterkarieren versuchte.²⁴ Auf der östlichen Seite lud sich der sowjetische Antiimperialismus zunehmend mit einer Freiheits- bzw. Befreiungsrhetorik auf, die ab den sechziger Jahren dann die

 Lit. n. Schlaga, Die Kommunisten, S. 81.  Ibid., S. 84.  Vgl. Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 158 und Anm. 41; Joseph Pilat/Robert E. Pendley/ Charles K. Ebinger (Hrsg.), Atoms for Peace. An Analysis After Thirty Years. Boulder, CO u. a. 1985.

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Moskauer Einflußnahme auf die Länder der Dritten Welt legitimierte.²⁵ Um aber Bedeutung und Wirkung der beiden Kampfbegriffe ‚Freiheit‘ und ‚Frieden‘ durch die Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts verfolgen zu können, beziehe ich die flankierende Kommunikation im Westen über Frieden und im Osten über Freiheit bzw. Befreiung nur punktuell mit ein. Sehen wir jetzt auf die Bedeutung der beiden ideologischen Kampfbegriffe in Deutschland. Als gesellschaftliche Orientierungsmuster ohne ideologische Grundierung standen Frieden und Freiheit nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und der Erfahrung der NS-Diktatur ganz außer Zweifel. Aber schon in der Gründungsphase der beiden deutschen Teilstaaten setzte die Aufrüstungsdiskussion ein. Seit 1950/51 ging der Kampf darum, ob die militärische und politische Einbindung Westdeutschlands ins westliche Bündnis möglich sein würde oder nicht. Das machte die Auseinandersetzung so erbittert, denn aus der Sicht der Zeitgenossen hing daran auch die Entscheidung über die definitive Teilung Deutschlands. Als geteiltes Land würden die beiden deutschen Staaten zu Appendizes der gegnerischen Blöcke werden, und das betraf das Bewußtsein der Deutschen von sich selbst.²⁶ Die Doppelfunktion der westlichen ‚Freiheits‘- und der östlichen ‚Friedens‘Propaganda wird hier erkennbar. Wie bereits angedeutet, bestand sie nicht allein in der Beeinflussung der Menschen im jeweils gegnerischen Block. Mindestens ebenso wichtig war im ersten Nachkriegsjahrzehnt der Zweck, eine Vereinheitlichung und relative Geschlossenheit im öffentlichen Selbstverständnis des je eigenen Lagers zu erzeugen. Der Kampf für die ‚Freiheit‘ im Westen und für den ‚Frieden‘ im Osten sollte in Politik und Gesellschaft hüben und drüben identitätsstiftend wirken. Das traf in besonderem Maß auf das besiegte Deutschland und seine beiden Teilstaaten zu. Nationalkulturelle Eigenheiten waren zu überformen, bis eine mehr oder minder deutliche ‚Verwestlichung‘ in der Bundesrepublik respektive ‚Veröstlichung‘ in der DDR erkennbar wurde. In Westdeutschland wirkte neben allen Erscheinungsformen von alltagskultureller Amerikanisierung eine zunehmende politisch-ideelle Westorientierung als bewußtseinsbildender Faktor auf Führungspersonen und -gruppen in den Parteien, Verbänden, Medien und Wissenschaften ein.²⁷ In der DDR wurde die Gesellschaft

 Raymond L. Garthoff, Détente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan. Washington D.C. 1985; Adam B. Ulam, The Communists. The Story of Power and Lost Illusions 1948 – 1991. New York, NY 1992, S. 240 – 342.  Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 271– 328.  Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999.

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möglichst umfassend durch eine „offizielle Bewußtseinsindustrie“ via Betrieb, Schule und FDJ für den ‚Frieden‘ mobilisiert.²⁸ Die Umgestaltung der Humanwissenschaften und die Aktivierung von Intellektuellen im Sinne der „Wesenseinheit von Sozialismus und Frieden“ zur Abschottung gegenüber westlichem „Imperialismus“ und westdeutschem „Revanchismus“²⁹ erfolgten während der fünfziger und frühen sechziger Jahre.³⁰ Eine homogenisierende Wirkung kann den länderübergreifenden Leitideologemen im Ost-West-Konflikt nicht abgesprochen werden. Aber ausschließliche Dominanz erlangten sie nie – weder in den offenen Gesellschaften des Westens noch in den mehr oder weniger geschlossenen Gesellschaften des Ostens. In der Bundesrepublik war die Auseinandersetzung in den fünfziger Jahren um Wiederbewaffnung und Westintegration durchgängig vom Protest pazifistischer und nationalneutralistischer Gruppen begleitet. Die Vereinnahmung der Wiederbewaffnungsgegner aus allen Bevölkerungsschichten, aus den Kirchen und den Gewerkschaften für die Interessen der östlichen ‚Friedens‘-Propaganda mißlang zumeist.³¹ Gleichwohl, und ungeachtet der Tatsache, dass es sich hier um zahlenmäßig kleine Gruppen handelte, wurden sie in der bundesdeutschen Öffentlichkeit angegriffen und als Wasserträger des Kommunismus ausgegrenzt. Pazifismus und Neutralismus waren in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre durch den Einfluß der Presse, durch den Westernisierungs-Diskurs bei den linksliberalen intellektuellen Eliten und durch staatliche Einflußnahme stark marginalisiert, mit Auswirkungen bis in die siebziger, wenn nicht achtziger Jahre hinein. In der Phase des Kalten Krieges wirkte die politisch-ideelle Homogenisierung der westdeutschen Bevölkerung durch ideologische Einflußnahme ungeachtet verschiedener Gegenströmungen letztlich sehr erfolgreich. Man wird nicht umhin können,

 Bezogen auf die UdSSR wird der Begriff gebraucht von Beyrau, Intelligenz und Dissens, S. 229; zur DDR vgl. Anne Hartmann/Wolfram Eggeling, Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945 – 1953. Berlin 1998, S. 87– 92, S. 262– 271 und passim.  Unter Bezug auf Lenins „Dekret über den Frieden“. Schlaga, Die Kommunisten, S. 19.  Als institutionen- und strukturgeschichtliche Studie vgl. Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära. Göttingen 1999; Martin Sabrow, Die Diktatur des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR. München 2001.  Hans Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD. 2. Aufl. Köln 1980; Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955. Hamburg 1974; vgl. auch Hans Adolf Jacobsen, Zur Rolle der öffentlichen Meinung bei der Debatte um die Wiederbewaffnung 1950 – 1955, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Aspekte der deutschen Wiederbewaffnung bis 1955. Boppard 1975, S. 61– 117.

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ergänzend zur sozialgeschichtlichen Interpretation des Wirtschaftsbooms und der Entfaltung der typischen westdeutschen Wohlstandsgesellschaft dieses ideelle Element mit in den Blick zu nehmen, wenn es darum geht, herauszufinden, wie sich das sozialkulturelle Profil der Westdeutschen allmählich entwickelt hat.³² In der DDR war der ideologische Homogenisierungsdruck durch die anhaltende Mobilisierung der Bevölkerung zum ‚Kampf‘ für ‚den Frieden‘ auf Abgrenzung gegenüber Westdeutschland gerichtet. Das verschränkte sich mit der Absicht der diktatorischen Staatspartei, die Gesellschaft umzubauen durch Enteignung und Verstaatlichung im Produktionssektor und durch die Beseitigung bürgerlicher Milieuprägungen in den Bereichen Erziehung, Bildung und konfessioneller Kultur.³³ Dieser doppelte Druck setzte die Fluchtbewegungen nach Westen in Gang und führte den Aufstand vom 17. Juni 1953 mit herbei. Die Bedingungen für die ideologische Integration der DDR-Gesellschaft unter dem Signum von Sozialismus und ‚Frieden‘ dürften deshalb insbesondere nach dem Mauerbau von 1961 wirksam geworden sein. Parallel zur Entwicklung in der Bundesrepublik gingen wirtschaftliche Konsolidierung, Umbau der Gesellschaft und die Transformation ideeller Leitbilder Hand in Hand. Politisches Engagement für Freiheit und Selbstbestimmung wurde unterbunden und bestraft, auch dann, wenn es nicht an das ideologische Freiheitsverständnis des Westens gekoppelt war, sondern sich dezidiert auf Freiheit und Selbstbestimmung im Sozialismus richtete. Abweichendes Denken blieb auf den privaten und den kirchlichen Raum beschränkt. Mit Blick auf die fünfziger Jahre läßt sich bis hierher die These ableiten: Bewußtseinsbeeinflussung formte ideelle Prägungen und soziales Verhalten im Kalten Krieg. In der Bundesrepublik wurde der Antikommunismus durch die Freiheitsrhetorik in eine Richtung gelenkt, die die Gesellschaft nicht nur materiell, sondern auch ideell nach Westen orientierte. In der DDR wurden Antiimperialismus und Antirevanchismus durch die Friedensrhetorik gebraucht, um die Transformation zur sozialistischen Gesellschaftsordnung in Anlehnung an die materielle wie auch ideelle Führungsmacht Sowjetunion abzusichern.

 Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, S. 71– 126.  Vgl. als instruktive Studien zu Teilbereichen Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR. Stuttgart u. a. 1994; Jessen, Akademische Elite; Sabrow, Die Diktatur des Konsenses.

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2. Der zweite Zeitschnitt lenkt unseren Blick jetzt auf die mittleren sechziger bis zu den frühen siebziger Jahren. Die Sechziger waren nicht nur ein Reformjahrzehnt, sondern sie leiteten eine Phase des Umbruchs ein, in der die Handlungsmuster und Wertorientierungen der Nachkriegszeit in Wirtschaft und Politik ebenso wie in der Gesellschaft einschneidend verändert wurden.³⁴ Das galt in unterschiedlichem Maß für die Länder in beiden Blöcken, es galt besonders deutlich für die Bundesrepublik und die DDR. Außenpolitische Katalysatoren dieser Entwicklung waren der Vietnamkrieg und der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR, wobei das größere Gewicht zweifellos dem Vietnamkrieg zuzusprechen ist.³⁵ In den Studentenprotesten von Berkeley über Chicago und Paris bis nach West-Berlin machte die Kritik an der amerikanischen Regierung deutlich, dass die Vormacht des Westens wegen dieses Krieges einen politisch-ideologischen Legitimationsverlust erlitt.³⁶ Der antikommunistische Konsens in den westlichen Gesellschaften aus den Zeiten des Kalten Krieges wurde jetzt aufgebrochen und von unterschiedlichen sozialen Emanzipationsbewegungen auf die Seite geschoben. In diesem Kontext entstand die Neue Linke als eine Gegenströmung gegen die ideologisch weitgehend homogene Nachkriegsgesellschaft.³⁷ Das kann man cum grano salis für die Vereinigten Staaten und für die Bundesrepublik gleichermaßen feststellen. Die westliche Neue Linke wies indes in den sechziger Jahren keine

 Diese Feststellung verschränkt sich mit der strukturgeschichtlichen These von Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: The American Historical Review 105, 2000, S. 807– 831. Vgl. auch Charles S. Maier, Two Sorts of Crisis? The „long“ 1970s in the West and the East, in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 49 – 62.  John Lewis Gaddis, Strategies of Containment. A Critical Appraisal of Postwar American National Security Policy. New York, NY 1982; Gabriel Kolko, Anatomy of War. Vietnam, the United States, and the Modern Historical Experience. New York, NY 1985; George C. Herring, Tet and the Crisis of Hegemony, in: Fink, Carole/Gassert, Philipp/Junker, Detlef (Hrsg.), 1968. The World Transformed. Cambridge, MA 1998, S. 31– 53; Mark Kramer, The Czechoslovak Crisis and the Brezhnev Doctrine, in: ibid., S. 111– 171.  Ingo Juchler, Die Studentenbewegung in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. Eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Beeinflussung durch Befreiungsbewegungen und -theorien der Dritten Welt. Berlin 1995.  Vgl. den klassischen Text aus dem Entstehungszusammenhang der ‚New Left‘: C. Wright Mills, Letter to the New Left, in: Waxman, Chaim I. (Hrsg.), The End of Ideology Debate. New York, NY 1968, S. 126 – 140; sowie Kenneth Keniston, The Rise of a New Opposition. New York, NY 1971; für Deutschland vgl. Thomas Ellwein, Krisen und Reformen. Die Bundesrepublik seit den sechziger Jahren. München 1989.

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Affinität zum ideologischen System des Sowjetkommunismus auf, sondern sie orientierte sich an China, am Maoismus, als dem revolutionären marxistischen Rivalen der UdSSR. Das bis dahin äußerlich so klare ideologische Schema des OstWest-Gegensatzes wurde dadurch schwerer durchschaubar. Die Zerstörung der reformkommunistischen Ansätze in der ČSSR durch die UdSSR und ihre Verbündeten im August 1968 zerschlug die Hoffnung, dass einer sozialistischen Gesellschaftsordnung Freiheitsvorstellungen und der Anspruch auf Selbstbestimmung von Staats wegen einen Spielraum erhielten. Die Wirkung dieser Intervention in den Ostblockstaaten war tief einschneidend³⁸, während die Ost-West-Beziehungen im Bereich der internationalen Politik davon kaum berührt wurden. Die Bemühungen um sicherheitspolitische Entspannung mit SALT I, ABM-Vertrag und Berlin-Abkommen gingen nahezu unbeeinträchtigt weiter.³⁹ Seit 1965 und verstärkt seit 1968/69 verschwand die ideologische Antithese von ‚Freiheit‘ und ‚Frieden‘ aus der öffentlichen Diskussion. Mitte der sechziger Jahre setzte im Westen eine intensiv geführte Debatte über die Frage der Systemkonvergenz ein, in der sich die Tatsache niederschlug, dass die Probleme von Modernisierung und Reform, welche die Entwicklung von Industriegesellschaften kennzeichnen, auf beiden Seiten etwa zeitgleich fühlbar wurden.⁴⁰ Technische Machbarkeitsvorstellungen dominierten in dieser Zeit, und die Tatsache, dass man in den westlichen Ländern jetzt zunehmend in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft geradezu euphorisch der Planung huldigte, veränderte von der westlichen Seite her die Wahrnehmung der wirtschaftlich-technischen Leistungskraft des sozialistischen Systems, das eben auf zentraler Planung aufbaute.⁴¹ Mit dem Ölschock von 1973 ging diese Phase des Glaubens an Pla-

 Zur Bedeutung des Prager Frühlings für die DDR vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München 1993, S. 367– 482; Hermann Weber, Geschichte der DDR. Neuausgabe. München 1999, S. 263 – 274; vgl. die Stellungnahme von Walter Ulbricht auf der 8. Tagung des SED-Zentralkomitees am 23. April 1968, abgedruckt in: Herbst, Andreas/Stephan, Gerd-Rüdiger/Winkler, Jürgen (Hrsg.), Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch. Berlin 1997, S. 702– 706.  Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998.  Siehe Charles S. Maier, Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany. Princeton, NJ 1997, S. 89 und Anm. 87; vgl. etwa Wolfgang Behr, Bundesrepublik Deutschland – Deutsche Demokratische Republik. Systemvergleich Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. 2. Aufl. Stuttgart u. a. 1985; Hannelore Hansel (Hrsg.), Bundesrepublik Deutschland – DDR. Die Wirtschaftssysteme Soziale Marktwirtschaft und Sozialistische Planwirtschaft im Systemvergleich. München 1983; Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Zahlenspiegel Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik. Ein Vergleich. 3. Aufl. Bonn 1985.  Andrew Shonfield, Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA. Köln 1968.

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nungsvernunft und technische Machbarkeit vorerst zu Ende. Die Konvergenztheorie und das Interesse am Systemvergleich blieben indes lebendig und bildeten, zumal in der Bundesrepublik, mehr und mehr ein Axiom im geistigen Klima der Entspannungspolitik. Deshalb ist hier deutlich zu unterstreichen, dass die Entspannung im Rahmen des Ost-West-Gegensatzes nicht die Überwindung des Konflikts darstellte, sondern vielmehr einen anderen Modus des Konfliktaustrags bildete. Entsprechend wurden die Kategorien des ideologischen Selbstverständnisses der Blöcke, ‚Freiheit‘ und ‚Frieden‘, zwar zeitweilig nicht mehr öffentlich wahrgenommen, aber sie blieben doch latent wirksam.⁴² Bundesrepublik und DDR hatten in der Transformationskrise der sechziger Jahre ihre je eigenen, typischen und gegensätzlichen Gesellschaften ausgebildet. Um 1969/70 waren die Konturen modelliert, die bis 1990 erhalten blieben und kaum noch Ähnlichkeiten mit der Zeit um 1950 aufwiesen. In der Bundesrepublik ging der für die fünfziger Jahre noch typische politische Gegensatz zwischen dem bürgerlichen Lager und dem sozialistisch-demokratischen Lager zurück, ein liberaler Konsens zwischen den Volksparteien trat an seine Stelle und ließ – auf der Ebene von Parlament und Regierung – die Große Koalition denkbar werden.⁴³ Das Profil der Bundesrepublik als liberale und soziale Demokratie begann sich abzuzeichnen. Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie wie etwa der Patriarchalismus in der Politik und im gesellschaftlichen Leben wurden blasser, Normen des Verhaltens in der Öffentlichkeit wurden informeller, und politische Interessen artikulierten sich zunehmend auch außerhalb des Parlaments im gesellschaftlichen Raum. Die Ostermarschbewegung gegen atomare Rüstungspolitik und die Bewegung gegen die Notstandsgesetze, die dann in der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ zusammenflossen,⁴⁴ sowie die Studentenbewegung ab 1966 mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg draußen und gegen das politischgesellschaftliche ‚Establishment‘ zu Hause signalisierten einen tiefreichenden Wandel sozialer Ordnungs- und Wertvorstellungen.⁴⁵ Die Protestbewegungen wiesen Merkmale auf, die sie den parallelen Erscheinungen in anderen westli-

 Vgl. Eckart Conze, Konfrontation und Détente. Überlegungen zur historischen Analyse des OstWest-Konflikts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46, 1998, S. 269 – 282. Ich danke Eckart Conze für seine kritischen Anregungen zum vorliegenden Text.  Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band, S. 357– 391.  Karl A. Otto, Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960 – 1970. Frankfurt am Main u. a. 1980.  Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik, S. 475 – 491.

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chen Ländern sehr ähnlich machten.⁴⁶ Das ist als Anzeichen für eine zunehmende sozialkulturelle Vereinheitlichung im Einflußbereich des westlichen Bündnisses zu werten. In der DDR schritt die Homogenisierung der sozialistischen Gesellschaft seit den späten fünfziger Jahren gleichermaßen deutlich voran. Der Wandel der ländlichen Gesellschaft und der Industriearbeiterschaft unter den Bedingungen staatlicher Betriebsplanung einerseits⁴⁷ und die Beseitigung bürgerlicher Milieuprägungen durch die Marginalisierung der Kirchen von einer Volks- zur Minderheitenkirche⁴⁸ oder durch den Strukturwandel des Schulsystems und der Universitäten andererseits⁴⁹ machten die DDR zu einem Land, dessen Bevölkerung um 1970 fundamental anders geprägt war als die westdeutsche Gesellschaft. Individualismus und Selbstbestimmung bildeten soziale Orientierungsmuster, die hier strukturell keinen Ort haben sollten.⁵⁰ Der homogenisierende Druck des Staates war zwar in den ersten Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer ein wenig gemildert worden, aber das galt nur für die kurze Zeitspanne bis 1965.⁵¹ Die Entspannungspolitik mit den vorsichtigen Versuchen von westdeutscher und westlicher Seite zur Annäherung und zur prinzipiellen Akzeptanz des konträren Systems wirkte deshalb nicht dahin, dass auf die kommunistische Friedenspropaganda verzichtet wurde. Sie blieb vielmehr aus Gründen der Abgrenzung nach Westen blockintern erhalten, wie das Beispiel der Weltjugendfestspiele 1973 zeigte.

 Vgl. die Beiträge von Alan Brinkley über die USA, Jerzy Eisler zu Polen, Ingrid Gilcher-Holtey zu Frankreich, Claus Leggewie über die Bundesrepublik und Arif Dirlik über die Dritte Welt, in: Fink/ Gassert/Junker, 1968, S. 219 – 317.  Arnd Bauerkämper (Hrsg.), „Junkerland in Bauernhand?“. Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone. Stuttgart 1996; Antonia Maria Humm, Auf dem Weg zum sozialistischen Dorf? Zum Wandel der dörflichen Lebenswelt in der DDR von 1952 bis 1969 mit vergleichenden Aspekten zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1999; Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter in der SBZ – DDR. Essen 1999.  Vgl. Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft.  Hansgünter Meyer (Hrsg.), Intelligenz, Wissenschaft und Forschung in der DDR. Berlin 1990; Brigitte Hohlfeld, Die Neulehrer in der SBZ/DDR 1945 – 1953. Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat. Weinheim 1992; Michael C. Schneider, Grenzen des Elitentausches. Zur Organisations- und Sozialgeschichte der Vorstudienanstalten und frühen Arbeiter- und Bauernfakultäten in der SBZ/DDR, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1, 1998, S. 134– 176; Jessen, Akademische Elite; vgl. auch Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6/2. München 1998.  Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR. Opladen 2000, S. 62– 77; Christian Joppke, East German Dissidents and the Revolution of 1989. Social Movement in a Leninist Regime. New York, NY 1995, S. 46 – 49.  Vgl. Weber, Geschichte der DDR, S. 223 – 254.

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Die Einflüsse des Zeitgeistes der Entspannung auf die Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüche der Menschen waren indessen staatlich nicht kontrollierund steuerbar. Sie sind aus der historischen Rückschau im Wandel der west- und ostdeutschen, ja überhaupt der westlichen und östlichen Gesellschaften deutlich auszumachen, vor allem in den achtziger Jahren. Die Ära der Entspannungspolitik brachte eine gewisse Öffnung zwischen den Blöcken, die es möglich machte, dass – wenn auch abgeschwächt – das ideelle Selbstverständnis der jeweils anderen Seite in den antagonistischen Gesellschaften hüben und drüben zur Geltung kam und sich mittelfristig mit endogenen systemkritischen Auffassungen verbinden konnte. Daraus ergibt sich folgende These: Das zeitliche Zusammentreffen von sozialökonomischer Transformation, Wertewandel und Entspannungspolitik während der sechziger und frühen siebziger Jahre wirkte im Westen – und abgeschwächt auch im Osten – dahin, dass sich in den Gesellschaften Interessen artikulieren konnten und Bewegungen entstanden, die eine neuartige, breite Kohärenz in den Verhaltensmustern aufwiesen. Durch die gemäßigt systemkritischen Zielsetzungen dürften diese Bewegungen im Westen ein gewisses Maß an Aufnahmebereitschaft gegenüber der Friedenspropaganda und im Osten gegenüber der Freiheitspropaganda besessen haben, soweit diese im kollektiven Gedächtnis noch präsent war oder partiell reaktiviert wurde.

3. Der dritte Zeitschnitt rückt jetzt die Jahre des Übergangs von den Siebzigern zur Mitte der Achtziger ins Blickfeld. Die Bezugspunkte in der internationalen Politik des Ost-West-Konflikts bildeten hier zum einen die Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975⁵² und zum andern die wieder zunehmende Verschärfung der Interessengegensätze zwischen den Supermächten sowie die Konflikteskalation infolge des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979, des Einmarschs der Sowjetunion in Afghanistan Ende Dezember 1979 und schließlich des Starts der Reagan-Administration 1981 mit der Wiederaufnahme der Propagandasprache des ideologischen Systemgegensatzes.⁵³

 Loth, Helsinki, S. 164– 170.  Ibid., S. 191– 217; vgl. zu den sozialen Bewegungen sowie den intellektuellen Strömungen und ideologischen Positionen Russell J. Dalton/Manfred Kuechler (Hrsg.), Challenging the Political Order. New Social and Political Movements in Western Democracies. Cambridge, MA

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Die KSZE war ein Resultat der Entspannungspolitik seit 1969/70. Die östliche Seite zeigte sich im Rahmen der Verhandlungen vor allen daran interessiert, konkrete Abmachungen über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu vereinbaren (Korb 2), und dafür willigte sie allmählich in die Forderung der westlichen Seite ein, Zugeständnisse im Bereich humanitärer Zusammenarbeit zu erhalten (Korb 3). Hier wurde nun der „freie Austausch von Menschen, Informationen und Meinungen“ festgeschrieben, welcher Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten, den freien Zugang zu Presse-, Rundfunk- und Fernsehinformationen, kulturelle Begegnungen und Austauschprogramme vorsah. Der gängigen Praxis in den sozialistischen Ländern entsprechend wurde der Vertrag, die KSZE-Schlußakte, in den Partei- und Regierungszeitungen des Warschauer Pakts in voller Länge veröffentlicht, in der ‚Prawda‘ ebenso wie im ‚Neuen Deutschland‘. Das sollte in erster Linie dazu dienen, den großen Verhandlungserfolg der UdSSR unter Leonid Breschnew im Gesamtrahmen der KSZE zu demonstrieren, aber damit erhielten die Menschen in den Ostblockstaaten die Möglichkeit, sich auf das nun vertraglich verbriefte Recht der freien Meinungsäußerung zu berufen.⁵⁴ Die Wirkung der KSZE-Schlußakte im Ostblock war beträchtlich. Die verschiedenen Oppositionsgruppen vornehmlich in der Intelligenzschicht, die im Zuge der systemübergreifenden Transformationskrise seit den sechziger Jahren entstanden waren, formierten sich seit der zweiten Hälfte der Siebziger zu einer Bewegung, die sich als „Menschenrechts-Bewegung“ verstand und eine allmähliche „Sozialdemokratisierung der Linken“ in Gang setzte.⁵⁵ Im Mai 1976 wurde eine „Moskauer Gruppe zur Realisierung der Helsinki-Vereinbarungen“ gegründet, der andernorts ähnliche Initiativen folgten. In der DDR hatte der vergleichbare Prozeß schon früher eingesetzt. Hier lassen sich die Anfänge auf die Wirkungen des ,Prager Frühlings‘ von 1968 zurückführen, der in der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Gesellschaft geweckt hatte.⁵⁶ Früh verbunden mit der kirchlichen Friedensbewegung, die zwischen 1972 und 1978 als oppositionelle Basisbewegung entstand,⁵⁷ spitzte sich die Entwicklung 1976/77 zu. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 hatte Signalwirkung.⁵⁸ Sie zeigte einerseits, dass die DDR-Führung die oppositionellen Kräfte auch zu dieser Zeit

1990; Roy Medwedew, On Soviet Dissent. New York, NY 1980; Jeffrey Herf, War By Other Means. Soviet Power, West German Resistance, and the Battle of the Euromissiles. New York, NY 1991.  Loth, Helsinki, S. 168 f.  Beyrau, Intelligenz und Dissens, S. 242.  Pollack, Politischer Protest, S. 68.  Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989. Berlin 1997, S. 284– 334, hier S. 299.  Ibid., S. 328 f.

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nicht anders als durch Repression unter Kontrolle halten konnte. Andererseits wurde auch für Außenstehende, zumal im Westen, unübersehbar, dass sich ein kultureller Protest gegen die politischen Zustände in der DDR herausgebildet hatte, der jetzt mit dem KSZE-Prozeß des Ausgleichs und der Entspannung zu verschmelzen begann. 1977 rekurrierte der DDR-Kirchenbund auf die KSZESchlußakte mit einer Verlautbarung, in der es hieß: „Es kennzeichnet die Helsinki-Erklärung, dass sie erstmalig sicherheitspolitische und humanitäre Anliegen in Verbindung miteinander bringt: die Sicherheit des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde. Ohne diese Sicherheit kann es keinen dauerhaften Frieden geben.“⁵⁹ In der Bundesrepublik erforderten die verbreitete Sympathie mit der Opposition in der DDR einerseits und das politische Interesse an einer Stabilisierung des zweiten deutschen Staates andererseits ein Maß an politisch-ideologischer Flexibilität in der Gesellschaft und bei der Regierung, wie es das zuvor bis zur Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren nicht gegeben hatte. Seit in Bonn nicht länger eine bürgerlich-konservative, sondern eine sozial-liberale Regierung den Ton angab und im Meinungsklima ein nach links offener liberaler Konsens dominierend geworden war, ergaben sich Felder für mögliche Annäherungen zwischen Bundesrepublik und DDR unter dem Signum der Forderung nach ,mehr Demokratie‘. Obwohl die von den Bundesregierungen angestrebten ,menschlichen Erleichterungen‘ überwiegend den Besuchern aus dem Westen zugute kamen, griff in der DDR eine ,Sozialdemokratisierung‘ in der Meinungsbildung Platz, die sich vorerst nur auf kleinere oppositionelle Gruppen und auf den Binnenraum der Kirche erstreckte, indes nicht mehr einzudämmen war und seit 1985 rasch an Kraft gewinnen sollte. So kam die Freiheit als systemverändernde Kraft in den Gesellschaften der Ostblock-Staaten ins Spiel, und die Menschenrechtsbewegungen weiteten sich aus zu Demokratiebewegungen. In dialektischer Verschränkung tauchte am Übergang von den siebziger zu den achtziger Jahren die Forderung nach Frieden in der öffentlichen Diskussion wieder auf, und zwar insbesondere im Westen, aber auch im Osten. Einen ersten Anstoß hatten die Überlegungen im Umfeld von US-Präsident Carter über die Entwicklung der Neutronenbombe 1977 gegeben, aber die Ausweitung zur Friedensbewegung als Massenphänomen im Westen und als schwer beherrschbare starke Opposition im Osten, am ausgeprägtesten in der DDR, folgte nach dem NATO-Doppelbeschluß und der Verschärfung der amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion unter Ronald Reagan. Das rüstungspolitische Tauziehen um

 Klaus Ehring/Martin Dallwitz, Schwerter zu Pflugscharen. Friedensbewegung in der DDR. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 39.

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die Stationierung von Mittelstreckenraketen im östlichen wie im westlichen Zentraleuropa brachte die Problematik der atomaren Bedrohung und atomaren Kriegführung in Europa wieder ins Bewußtsein der Öffentlichkeit. Die sicherheitspolitischen Aspekte sind an dieser Stelle zu übergehen.⁶⁰ Wichtig ist die Einschätzung der Friedensbewegung, die sich ab 1980/81 entwickelte.⁶¹ In der Bundesrepublik flossen hier die verschiedenen gesellschaftskritischen Strömungen zusammen, die seit den sechziger und vor allem in den siebziger Jahren entstanden waren – Umweltschutz, Kernkraftgegner, Frauenbewegung, Initiativen für den Volksentscheid u. a. m. Sie vermischten sich mit Einflüssen des traditionellen Pazifismus und Antimilitarismus aus den fünfziger Jahren.⁶² Hinzu kam dann die Einflußnahme von Protagonisten sozialistischer ,Friedens‘-Politik, die am staatlichen Interesse der UdSSR und der DDR orientiert waren. Das kristallisierte sich im „Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit“ (KOFAZ) und im „Krefelder Appell“ von 1981, ohne dass dies allein von östlicher Seite initiierte Aktivitäten gewesen wären. Doch durch sie kam die Friedenstaube nach Westdeutschland und Westeuropa zurück.⁶³ Von den Teilnehmern an der Friedensbewegung wurde indes das Emblem mit der Taube nicht als etwas schon lange Bekanntes empfunden. Zumindest die jugendliche Anhängerschaft hatte keine biographische Verbindung mit den vierziger und fünfziger Jahren mehr, aus der Sicht von 1980 war der Kalte Krieg unendlich weit entfernt – eine andere Welt. Scheinbar ganz frisch und aktuell symbolisierte die Friedenstaube jetzt die Ablehnung, die prononcierte politische Distanz von gesellschaftlichen Gruppen gegenüber Staat und Wirtschaft im westlichen Bündnis. Der innere Zusammenhang dieser breit gefächerten Distanz erschließt sich dann, wenn man die Wirkung ideologischer Bewußtseinsbildung aus den fünfziger Jahren mitbedenkt. Der Kampf der verschiedenen Gruppen in der Friedensbewegung richtete sich gegen Atomkraftwerke und Atomrüstung, gegen die Regierungen der USA und der Bundesrepublik, weil und insoweit sie die Atompolitik forcierten, und gegen Rüstungsindustrie und Energiewirtschaft –  Vgl. hierzu Thomas Risse-Kappen, Die Krise der Sicherheitspolitik. Neuorientierungen und Entscheidungsprozesse im politischen System der Bundesrepublik Deutschland 1977– 1984. München 1988.  Helmut Zander, Die Christen und die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten. Beiträge zu einem Vergleich für die Jahre 1978 – 1987. Berlin 1989; Corinna Hanswedell, Friedenswissenschaften im Kalten Krieg. Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren. Baden-Baden 1997.  Karl-Werner Brand/Detlev Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1983; Ulrike C. Wasmuth (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion. Darmstadt 1989.  Vgl. Hauswedell, Friedenswissenschaften im Kalten Krieg, S. 123 – 138.

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kurz, gegen nukleare Bedrohung, gegen kapitalistische Verwertungsinteressen mindestens in diesem Bereich und gegen die Macht- und Militärpolitik der amerikanisch dominierten nordatlantischen Allianz.⁶⁴ In dem berechtigten Protest gegen die Rüstungseskalation und dem mindestens verständlichen Widerstand gegen die zivile Nutzung der Kernenergie flossen die ideologischen Grundbausteine des Systemkonflikts mit ein. Der Flug der Friedenstaube in den achtziger Jahren galt noch immer dem Kampf für jenen ,Frieden‘, der durch den Weltimperialismus unter der Führung der atomaren Supermacht USA bedroht schien – ganz so, wie es die ,Friedens‘-Propaganda in den fünfziger Jahren beschworen hatte. Umgekehrt forderte die Friedensbewegung in der DDR mit ihrem Protest gegen die erneute Verschärfung der Rüstungspolitik von Staat und Partei den Verzicht darauf, durch repressive Maßnahmen die Militarisierung der Gesellschaft, insbesondere der Jugend, weiter voranzutreiben. Das Friedensengagement im Osten hatte sein staatsunabhängiges Fundament traditionell in den Aktivitäten der evangelischen Kirchen gefunden, und in den ,Friedensdekaden‘ zwischen 1980 und 1986, den ,Friedenswerkstätten‘ und ,Friedensforen‘ seit 1982 formierte sich dieses Engagement neu.⁶⁵ Doch es verband sich zugleich mit den Oppositionsbewegungen anderer gesellschaftskritischer Gruppen. Darüber spitzte sich der seit den mittleren siebziger Jahren schwelende Kampf um politische Selbstbestimmung und die innere Demokratisierung des Systems nun in den achtziger Jahren merklich zu. Aktuell im tagespolitischen Geschehen gegen die befürchtete Eskalation atomarer Bedrohung durch Raketenstationierungen beider Supermächte in Mitteleuropa gerichtet, zielte der Protest grundsätzlich jedoch gegen die harte Hand des Staates in der Gesellschaft. Aus der Friedensbewegung im ,Friedensstaat‘ ging seit 1984 die Demokratiebewegung hervor,⁶⁶ deren systemverändernde Kraft in den folgenden Jahren spürbar werden sollte. Im Verlauf von vier Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts hatte sich die gezielte ideologische Bewußtseinsbildung aus dem Kalten Krieg in den Tiefenschichten der kollektiven Wahrnehmung bei der west- und ostdeutschen Bevölkerung abgelagert. Als Sediment, aus dem sich Wirklichkeitsdeutungen speisten, blieb sie erkennbar, obwohl die Wirkung des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels in den sechziger und siebziger Jahren und die veränderten Wertorientierungen es seither verhinderten, dass die alten Kampfbegriffe ,Freiheit‘ und ,Frieden‘ um  Vgl. ibid., S. 164– 170.  Vgl. Anke Silomon, „Schwerter zu Pflugscharen“ und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980 bis 1982. Göttingen 1999; Zander, Die Christen und die Friedensbewegungen, S. 279 – 285.  Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR, Kap. V–VII.

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1980 so vordergründig wie in den fünfziger Jahren aktiviert werden konnten. Doch als Ordnungsformeln im ideologischen Machtkampf zwischen West und Ost mit dem Ziel des Systemwandels auf der jeweils anderen Seite der Blockgrenze blieben sie bis zum Schluß virulent. Als Hypothese läßt sich folglich mit dem Blick auf die achtziger Jahre formulieren, dass die den Systemgegensatz transzendierende Kraft der Demokratiebewegung im Osten und der Friedensbewegung im Westen nur dann angemessen eingeschätzt werden kann, wenn man den Einfluß und die Wirkungskraft der ideologischen Kampfbegriffe des Kalten Krieges auf die Bewußtseinslagen und Verhaltensstile von Gesellschaften in einer langen Perspektive untersucht. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Übergang ins 21. Jahrhundert ist die Zeit seit 1945 als abgeschlossene Epoche in der Geschichte aufgehoben. Das ist die Ausgangssituation für die künftige Forschung. Als in den frühen neunziger Jahren der Balkankrieg begann, war die Friedenstaube verschwunden, und die Freiheitsrhetorik wirkte ziellos. Daraus wurde erkennbar, dass dies kein Krieg im Handlungsrahmen des Ost-West-Konflikts mehr war.

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Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft* Wer von der US-Amerikanisierung¹ anderer Gesellschaften spricht, hat zumeist die Organisation des Wirtschaftslebens und die Welt des Alltags vor Augen. Zweifellos sind dies, zusammen mit der politisch-ideellen Ebene, die am deutlichsten konturierten Bereiche, in denen sich in allen Ländern des Dollarraums eine Angleichung der jeweiligen nationalen Gegebenheiten an das Profil der Führungsmacht USA vollzogen hat. Für die alte Bundesrepublik gilt obendrein – was sonst nur noch, wenn auch in jeweils etwas anderer Form, auf Österreich und Japan zutrifft –, dass die Grundlagen der Wirtschaftsordnung und des politischen Systems auf amerikanische Veranlassung gestaltet wurden. Ebenso wurde die Bundesrepublik in ein Bündnissystem integriert, das mit seinen sicherheitspolitischen Bindungen auf den hegemonialen Seniorpartner USA hin orientiert war. Westdeutschland ist deshalb oft als das am meisten amerikanisierte Land im westlichen Europa bezeichnet worden. Doch das ist das Bild einer pauschalen Wirklichkeit, welches der Gefahr unterliegt, zum Klischee zu gerinnen. Es gilt, bedachtsam zu differenzieren und zu fragen, wie die Einflüsse von US-Amerikanisierung im Gesamtgefüge der westdeutschen Gesellschaft wirken bzw. gewirkt haben, wo sie sich mit älteren Traditionen einer nach Westeuropa gerichteten Orientierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und deren Offenheit gegenüber amerikanischen Einflüssen verbanden oder wo sie andere deutsche Traditionen überformten. Amerikanisierung meint hier Kulturtransfer im weitesten Sinne. Die Besonderheit gerade dieses Kulturtransfers ist darin zu sehen, dass er auf einer langen Tradition des Kulturaustauschs aufbaut. Die längerfristigen Wirkungszusammenhänge zwischen zwei Staaten und Gesellschaften, die wie Deutschland und die USA beide in der europäischen Zivilisation verwurzelt sind, beeinflußten nicht nur das deutsche Amerikabild und das amerikanische Deutschlandbild in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern sie spielten auch eine Rolle in der Organisation und der Rezeption des Kulturtransfers nach 1945. Wenn man hauptsächlich die hegemonialen Bestrebungen im Prozess der Amerikanisierung ins Auge fasst, dann engt sich das Blickfeld schnell auf die Zeit nach 1945 und obendrein noch auf die Maßnahmen der Besatzungsmacht ein: auf kapitalistische

* Für Peter Tschohl, den Freund und Ratgeber, zum 60. Geburtstag.  Im vorliegenden Text wird unter „Amerikanisierung“ stets der Einfluß der USA, also USAmerikanisierung, verstanden. https://doi.org/10.1515/9783110633870-012

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Reorganisation der Wirtschaft und Stabilisierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland. Die Analyse der Amerikanisierung in Westdeutschland könnte dann leicht darauf gerichtet sein, sie in vorgegebene Raster von Interpretationen des Kalten Krieges einzupassen. Dieser Aspekt darf bei der Behandlung unseres Themas nicht vernachlässigt, er darf aber auch nicht absolut gesetzt werden. Die Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft war nicht bloß ein Ergebnis der Besatzungspolitik nach 1945, sondern sie war auch ein Prozess, der von der Gesellschaft teils gewollt, teils reaktiv mitgetragen wurde und dabei Ansätze aus der Zwischenkriegszeit wieder aufnahm. Amerikanisierung in Westdeutschland umgreift den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, nicht nur die Lebensstile einzelner sozialer Gruppen und Schichten oder die Produktions- und Marketingstrukturen bestimmter Industrien. Deshalb sollen in diesem Aufsatz einzelne Aspekte des komplexen Phänomens herauspräpariert und zueinander in Beziehung gesetzt werden: Der erste Hauptabschnitt behandelt die Debatte über den „Amerikanismus“ nach dem Ersten Weltkrieg, als der Einfluß der Vereinigten Staaten auf verschiedene Bereiche der Wirtschaft, der Kommunikationstechniken, auf Film, Musik und alltägliches Leben positive wie negative Reaktionen in einer Gesellschaft hervorrief, die sich ihrer nationalen Eigenständigkeit und der Tragfähigkeit der nationalen Tradition noch gewiss war. Die Vereinigten Staaten wurden als Vorbild oder Schreckbild einer rationell durchorganisierten, effizienten, modernen Industriegesellschaft, deren Erscheinungsformen bereits auch in Deutschland hier und da zu erkennen waren, zunehmend wahrgenommen. Das rief eine Diskussion hervor, deren Stereotypen in der durchgreifenden Amerikanisierung nach 1945 die Denk- und Verhaltensmuster vielfach noch beeinflußten. Der zweite Hauptabschnitt gilt der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier ist zu differenzieren: einerseits zwischen der amerikanischen Besatzungspolitik mit ihrem Ziel der Umerziehung der deutschen Bevölkerung, andererseits zwischen der kulturellen Entwicklung in Westdeutschland von den vierziger zu den sechziger Jahren, die sich unter den Gegebenheiten westlicher (und vor allem amerikanischer) Besatzung zu vollziehen begann, aber von Anfang an kein Produkt der Politik war, vielmehr die Züge einer autochthonen Entwicklung ausbildete. In diesen Zusammenhang gehört auch das bisher weitgehend ausgeblendete Phänomen einer Westorientierung im Bereich der Ideen und Werthaltungen, die sich auf die USA bezog und mithin auf ihren Gehalt an Amerikanisierung zu befragen ist.

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1. Die „Amerikanismus“-Debatte nach dem Ersten Weltkrieg Dass die Amerikanisierung zu einem prägenden Faktor des gesamten 20. Jahrhunderts werden würde, war schon um 1900 zu erkennen. Amerikanisierung sei Modernisierung, konstatierte der in den sozialpolitischen Diskurs des Kaiserreichs eingebundene Schriftsteller Paul Dehn 1904, und er beobachtete darin eine ökonomische und eine sozialkulturelle Dimension. „Amerikanisierung im wirtschaftlichen Sinne bedeutet die Modernisierung der Methoden in Industrie, Handel und Landwirtschaft, wie auf allen Gebieten des praktischen Lebens“, und in einem weiteren Verständnis, politisch und gesellschaftlich, bedeute sie das „unablässige, ausschließliche und rücksichtslose Trachten nach Erwerb, Reichtum und Einfluß“.² Die darin angedeutete Dichotomie des Amerikanisierungsphänomens war konstitutiv für alle Diskussionen in diesem Kontext bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Positive Bewertungen von ökonomischer Modernisierung und angstvolle oder auch feindlich-herablassende Abwehr kultureller Modernisierungserscheinungen gingen von Anfang an Hand in Hand. Dieses Phänomen war in den europäischen Ländern allgemein zu beobachten³ und formte sich entsprechend den nationalen Besonderheiten je unterschiedlich aus.⁴ In Deutschland nahm es zeitweilig besonders scharfe Konturen an, weil sich bei vielen Gegnern des amerikanischen Einflußes die Aversion gegen den „WilsonFrieden“ mit den antiwestlichen Ressentiments des deutschen Sonderbewusstseins vermischte und bei den Befürwortern das Plädoyer für eine industriewirtschaftliche Modernisierung als Rationalisierung oftmals auch mit der Zustimmung zur Zivilisation der Massendemokratie verknüpft war.⁵  Zitiert nach Otto Basler, Amerikanismus. Geschichte eines Schlagwortes, in: Deutsche Rundschau 227, 1930, S. 142– 146, hier S. 144.  Frank Costigliola, Awkward Dominion. American Political, Economic, and Cultural Relations with Europe, 1919 – 1933. Ithaca, NY u. a. 1984.  So spielten in der britischen Reaktion auf die Amerikanisierung die ökonomischen Aspekte eine besonders herausgehobene Rolle, weil nach 1918 der zähe Kampf beider Staaten um die Vorrangstellung in der Weltpolitik einsetzte; die kulturellen Aspekte hatten deshalb geringeres Gewicht, was indessen nicht bedeutet, dass die Briten nicht auch eine hochmütige Herablassung an den Tag gelegt hätten. Vgl. David Dimbleby/David Reynolds, An Ocean Apart. The Relationship between Britain and America in the Twentieth Century. London 1988, S. 96 – 115. Zu Frankreich vgl. David Strauss, Menace in the West. The Rise of French Anti-Americanism in Modern Times. Westport, CT 1978; Denis Lacorne/Jacques Rupnik/Alarie-France Toinet (Hrsg.), L’Amérique dans les Têtes. Un Siècle de Fascinations et d’Aversions. Paris 1986.  Frank Trommler, Aufstieg und Fall des Amerikanismus in Deutschland, in: Trommler, Frank (Hrsg.), Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte. Opladen 1986, S. 666 – 676; Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt am Main 1987, S. 178 – 190; Frank Peter Biess, Zwischen Ford und Hollywood.

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Repräsentativ für die Auffassungen der kulturellen Kritik des Amerikanismus waren die Sätze von Stefan Zweig, die am Jahresanfang 1925 veröffentlicht wurden: Die Geschichtsschreiber der Zukunft werden auf dem nächsten Blatt nach dem großen europäischen Krieg einmal einzeichnen für unsere Zeit, daß in ihr die Eroberung Europas durch Amerika begonnen hat. Oder mehr noch, sie ist schon in vollem reißenden Zuge, und wir merken es nur nicht. […] Noch jubelt bei uns jedes Land mit allen seinen Zeitungen und Staatsmännern, wenn es einen Dollarkredit bekommt. Noch schmeicheln wir uns Illusionen vor über philanthropische und wirtschaftliche Ziele Amerikas: in Wirklichkeit werden wir Kolonien ihres Lebens, ihrer Lebensführung, Knechte einer der europäischen im tiefsten fremden Idee, der maschinellen. […] Im Kino, im Tanz, in all diesen neuen Mechanisierungsmitteln der Menschheit liegt eine ungeheure Kraft, die nicht zu überwältigen ist: Vergnügen zu bieten, ohne Anstrengung zu fordern. Und ihre nicht zu besiegende Stärke liegt darin, daß sie unerhört bequem sind. Der neue Tanz ist von dem plumpsten Dienstmädchen in drei Stunden zu erlernen, das Kino ergötzt Analphabeten und erfordert von ihm nicht einen Gran Bildung. […] Wer nur das Minimum an geistiger und körperlicher Kraftaufbietung fordert, muß notwendigerweise in der Masse siegen, denn die Mehrzahl steht leidenschaftlich zu ihm, und wer heute noch Selbständigkeit, Eigenwahl, Persönlichkeit selbst im Vergnügen forderte, wäre lächerlich gegen so ungeheure Übermacht.⁶

Der Essayist und Literaturkritiker Heinz A. Joachim repräsentierte dagegen die der Moderne gegenüber aufgeschlossene Jugend der zwanziger Jahre und nannte Amerika „eine gute Idee; es war das Land der Zukunft“. Auch für ihn bildete der Krieg die tief einschneidende Zäsur: Am Anfang unserer Welt war der Weltkrieg. Und als der Ausnahmezustand des Friedens verhängt wurde, sah man uns in die außerordentliche Lage versetzt, die Welt aufs neue anzufangen. Es ist zu verstehen, daß wir dabei mit der Sympathie den Anfang machten, die wir der ‚Neuen Welt’ dedizierten. […] [Amerika] war in seinem Jahrhundert zu Hause. Wir waren zu jung, um es zu kennen; unterdessen liebten wir es. Lang genug war bei uns die glorreiche Disziplin der Technik nur in Form von Tank, Mine, Blaukreuz zum Vorschein gekommen und zwecks Vernichtung von Menschenleben. In Amerika stand sie im Dienst des Menschenlebens. Die Sympathie, die man für Lift, Funkturm, Jazz äußerte, war demonstrativ. Sie war ein Bekenntnis. Sie war eine Art, das Schwert zur Pflugschar umzuschmieden. Sie war gegen Kavallerie; sie war für Pferdekräfte. Ihre Meinung ging dahin, den Flammenwerfer

Amerika und der Amerikanismus in der Weimarer Republik 1924– 1930. MA-Thesis. Washington University 1992; Klaus Schwabe, Anti-Americanism within the German Right, 1917– 1933, in: Jahrbuch für Amerikastudien 21, 1976, S. 89 – 107; Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder. Berlin 1926.  Stefan Zweig, Die Monotonisierung der Welt, in: Berliner Börsen-Courier 53, 01.02.1925, zitiert nach: Anton Kaes (Hrsg.), Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918 – 1933. Stuttgart 1983, S. 268 – 273, hier S. 270 f.

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zum Staubsauger umzuschmieden und die Pflugschar noch zum Dampfpflug. Sie hielt es an der Zeit, daß die Zivilisation zu einer Sache der Zivilisten werde. Wie wir zu Amerika standen, zeigte, wo wir standen.⁷

Joachim umschrieb die Modernität des technisch-kulturellen Vorbilds Amerika mit der schönen Formulierung, dass das Land „in seinem Jahrhundert zu Hause“ sei; das hieß, dass die Europäer, die Deutschen, es augenscheinlich nicht waren. Wie er es sah, verharrten sie im vergangenen Jahrhundert, wo die Möglichkeiten des technischen Fortschritts vornehmlich für den Krieg genutzt worden waren. Der Ministerialbeamte, Diplomat und Schriftsteller Ernst Jäckh betrachtete hingegen Amerika als den Protagonisten des Fortschritts schon seit dem frühen 19. Jahrhundert. Im Zeitalter der Moderne entfaltete sich die Modernität der Vereinigten Staaten mit der größten Dynamik, und dadurch setzte das Land wie von selbst den europäischen Staaten den Maßstab für die Modernisierung der wirtschaftlichen, politischen, sozialen Struktur. Ein ‚Amerikanismus’ hat seinen Siegeszug über die ganze Welt angetreten – ein ‚Amerikanismus’, unter dem jeder etwas anderes versteht: die einen nur Rationalisierung, Standardisierung, Typisierung, Normierung, kapitalistische Konzentration; andere eine ‚kulturlose’, nur technische Zivilisation; andere wieder eine junge, autochthone Kultur. Wobei übrigens meist vergessen wird, daß das neue Zeitalter der technischen Erfindungen schon vor einem Jahrhundert drüben in Amerika und von Amerika aus seinen bahnbrechenden Weg begonnen hat: der erste regelmäßige Dampfverkehr ist auf dem Hudson eingerichtet worden (1807), und das erste Dampfschiff, das den Ozean überquert hat, ist von Amerika nach Europa gefahren (von New York nach Liverpool 1818).⁸

Die Auseinandersetzung über Form und Richtung von Modernisierung in der Weimarer Republik blieb nicht auf die Feuilletons der Kulturzeitschriften mit ihren Amerikanismus-Essays beschränkt, sondern kristallisierte sich in der Debatte um die Rationalisierung im Deutschen Reich ab 1924. Darin verbanden sich Vorstellungen von einer rationaleren Organisation nicht nur der industriellen Produktion, sondern auch der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Es handelte sich um ein sozialtechnologisches Rezept mit umfassendem Geltungs-

 Hans A. Joachim, Neue Romane aus Amerika, in: Neue Rundschau 41, 1930, S. 396 – 409, hier S. 396, S. 398. Vgl. Biess, Zwischen Ford und Hollywood, S. 148 f.  Ernst Jäckh, Amerika und Wir 1926 – 1951. Amerikanisch-deutsches Ideen-Bündnis. Stuttgart 1951, S. 35; das Zitat entstammt dem Abschnitt I von 1926 „Erwartung: Amerika vor und nach dem ersten Weltkrieg“. Allerdings flog das erste Luftschiff 1929 von Deutschland nach New York und weckte dort sofort sowohl das technische als auch das geschäftliche Interesse der Amerikaner. Vgl. Hugo Eckener/Rolf Italaander, Im Luftschiff über Länder und Meere. Erlebnisse und Erinnerungen. München 1979, S. 49 – 80.

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anspruch,⁹ und die darin verankerte „Vision des Amerikanismus mit der eingängigen Lehre von Produktivität, Expertentum und der Optimierung“ ökonomischer und sozialer Prozesse schien einen Ausweg zu zeigen, aus der gesellschaftlichen Konfliktkonstellation der Nachkriegszeit.¹⁰ Neben dem schon vor 1914 propagierten und erprobten „Taylorismus“ mit seiner exakten Steuerung der Arbeitsabläufe, der kleinteiligen Aufspaltung der Produktionsvorgänge und dauernden zeitlichen Kontrolle bildete nach 1924 die Rezeption des „Fordismus“ gewissermaßen das Zentrum der an den USA orientierten Rationalisierungsdebatte.¹¹ Den Anstoß dazu dürfte die 1923 in deutscher Übersetzung publizierte Autobiographie von Henry Ford gegeben haben,¹² die sofort zu einem Bestseller wurde. Aber der grundlegende Sachverhalt ist darin zu sehen, daß mit der Ford Motor Company gerade ein Konzern der Automobilindustrie zum Leitbild für die Umgestaltung der deutschen Wirtschaft wurde, da die amerikanische Autoindustrie in vieler Hinsicht als die ‚amerikanischsteʻ, ‚modernsteʻ und ‚zukunftsweisendsteʻ Industriebranche angesehen wurde und mit 71 % am Weltexportanteil noch 1929 nahezu eine weltweite Monopolstellung einnahm.¹³

Fords Erfolg war das Resultat eines Bündels unternehmerischer Ideen, die nach dem Taylor-Prinzip Produktivitätssteigerung durch Standardisierung und Mechanisierung und konsequente Arbeitsteilung umfasste, sodann die Nutzung des Fließbandes als Voraussetzung für massive Kostensenkungen im Produktionsprozess, darüber hinaus aber auch ungekannt hohe Löhne für die Arbeiter sowie Niedrigpreise der Endprodukte einschlossen: Voraussetzung für einen präzedenzlosen Massenkonsum.¹⁴ Die Diskussion über den „Fordismus“ im Kontext der Rationalisierungsdebatte kreiste mithin um die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland, und ihr Verlauf zeigte, dass die Wirtschaftsstrukturen unter den gegebenen Verhältnissen schwerlich modernisiert werden konnten. Die Wirtschaft erwies sich als wenig innovationsfähig und kaum ge-

 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 119.  Charles S. Maier, Zwischen Taylorismus und Technokratie. Gesellschaftspolitik im Zeichen industrieller Rationalität in den zwanziger Jahren in Europa, in: Stürmer, Michael (Hrsg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. Königstein im Taunus 1980, S. 188 – 213, hier S. 189.  Vgl. Thomas Freyberg, Industrielle Rationalisierung in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main u. a. 1989; Gunnar Stollberg, Die Rationalisierungsdebatte 1908 – 1933. Freie Gewerkschaften zwischen Mitwirkung und Gegenwehr. Frankfurt am Main u. a. 1981.  Henry Ford, Mein Leben und Werk. Leipzig 1923.  Biess, Zwischen Ford und Hollywood, S. 40.  Vgl. die zeitgenössischen Darstellungen von Emil Honermeier, Die Ford Motor Company. Ihre Organisation und ihre Methoden. Leipzig 1925; Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder. Berlin 1926.

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eignet, sich den neuen Bedingungen des Nachkriegsweltmarkts anzupassen.¹⁵ Obendrein blockierten sich die Deutungsmuster, welche einerseits die Gewerkschaften und andererseits die Unternehmer aus dem amerikanischen Modell der Produktivitätssteigerung und der (scheinbaren) sozialtechnologischen Innovation ableiteten. Während die Gewerkschaften ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den Zusammenhang zwischen erhöhter Produktivität und möglichen Lohnsteigerungen bzw. Arbeitszeitverkürzungen richteten und sich der Faszination nicht entziehen konnten, dass der amerikanische Wirtschaftserfolg aus der Entfesselung des Massenkonsums über die Lohnhöhe resultierte, galt das Interesse der Unternehmer einer möglichst weitgehenden Entpolitisierung der industriellen Beziehungen, indem unter Bezug auf das Modell der Ford Motor Company als Leitstern der Modernität der Versuch unternommen wurde, die innerbetriebliche und tarifpolitische Präsenz der Gewerkschaften, wie sie seit dem Hilfsdienstgesetz und der Begründung der Zentralarbeitsgemeinschaft gewachsen war,¹⁶ wieder zu reduzieren. Die besondere Attraktivität des Fordismus-Konzepts für die Unternehmer lag in der Möglichkeit, den Einfluß der Gewerkschaften nicht mit offen reaktionären Forderungen nach einer Wiederherstellung der sozialen Verhältnisse des Kaiserreichs zu bekämpfen, sondern mit der notwendigen Modernisierung der deutschen Wirtschaft nach amerikanischem Vorbild zu argumentieren.¹⁷ Die „Visionen einer werksgemeinschaftlichen Formierung“¹⁸ lassen sich als Anzeichen von „reaktionärem Modernismus“¹⁹ begreifen. Sie weisen voraus auf die Gemeinschaftsideologie und die Arbeitsorganisation unter dem Nationalsozialismus. Wenn man aus der politischen und sozialen Ordnung der Vereinigten Staaten die Kategorien Pluralismus, individuelle Selbstentfaltung und Emanzipation besonders heraushebt, dann wird der Kontrast zu den Gegebenheiten in Deutschland anschaulich. Bezogen auf unsere Fragestellung schält sich hier, am Beispiel der unterschiedlichen Nutzanwendung der „Fordismus“-Diskussion durch Gewerkschaften und Unternehmer, nämlich recht deutlich heraus, dass die strukturellen Vorbedingungen für eine durchgreifende Amerikanisierung als Modernisierung im Bereich von Industriewirtschaft und Arbeitsorganisation in den zwanziger Jahren nicht in ausreichendem Maß gegeben waren, weshalb das

 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 119.  Vgl. Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.), Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer. Berlin 1926, S. 157– 184; Biess, Zwischen Ford und Hollywood, S. 92– 125.  Biess, Zwischen Ford und Hollywood, S. 59 f.  Peukert, Die Weimarer Republik, S. 117.  Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in the Weimar Republic and the Third Reich. New York, NY 1984.

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amerikanische Beispiel als Vorbild nur eine begrenzte Reichweite hatte. An diesem Sachverhalt änderte sich auch im Dritten Reich nichts Grundsätzliches, denn die Aufgeschlossenheit der Nationalsozialisten gegenüber technologischen Innovationen wie etwa dem Autobahnbau und der Massenmotorisierung war mit einer antipluralistischen, antiindividualistischen und antiemanzipativen sozialen Realität verkoppelt, weshalb sich auch aus dieser Perspektive die These vom Nationalsozialismus als vorgetäuschter Modernisierung bestätigt.²⁰ Umgekehrt war auf der amerikanischen Seite in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren der Wille zur ökonomischen Durchdringung der europäischen Länder noch nicht zu einem Bestandteil der Regierungspolitik gemacht worden. In der Zwischenkriegszeit standen sich Deutschland und die USA als antagonistische Modelle kapitalistischer Gesellschaftsstruktur gegenüber, aber die „Fordismus“-Diskussion verwies auf das Modernisierungspotential und die Dynamik des amerikanischen Modells. Die Diskussion selbst zeitigte unmittelbar keine Wirkung, aber sie dürfte sowohl bei Gewerkschaften und Sozialdemokraten als auch bei Unternehmern eine Erfahrungsgrundlage geschaffen haben, deren Wirkungen in der Zeit nach 1945 dann aufzuspüren wären.²¹ Beim Blick auf die Entwicklung der Kommunikationsnetze und Kommunikationstechniken einschließlich Film und Musik sowie der Alltagskultur sieht das Bild für die Zwischenkriegszeit etwas anders aus. In den zwanziger Jahren setzte das Zeitalter der Massenkommunikation ein, und hier übernahmen die USA sehr rasch die Führungsrolle, indem sie die Kommunikationsnetze anderer Staaten in anderen Weltregionen unter ihren Einfluß brachten. Deshalb wird die amerikanische Prädominanz in diesem Bereich als die eigentliche Grundlage für den

 Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: Mommsen, Hans, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze. Zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 405 – 427.  Hinsichtlich der Unternehmerseite ist die Forschungslage günstig dank der Arbeiten von Volker R. Bergbahn, The Americanization of West German Industry, 1945 – 1973. Oxford 1986; Volker R. Bergbahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1985; Volker R. Bergbahn, Zur Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft, in: Herbst, Ludolf/ Bührer, Werner/Sowade, Hanno (Hrsg.), Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt. München 1990, S. 227– 253; Volker R. Bergbahn, German Big Business and the Quest for a European Economic Empire in the Twentieth Century, in: Berghahn, Volker R. (Hrsg.), German Big Business and Europe. Oxford u. a. 1994, S. 1– 34. Zu den Gewerkschaften vgl. Werner Link, Deutsche und amerikanische Gewerkschaften und Geschäftsleute 1944– 1975. Eine Studie über transnationale Beziehungen. Düsseldorf 1978, wo aber die Erfahrungsgrundlage aus der Zwischenkriegszeit kaum weiter thematisiert ist. Zum Problem der Westorientierung der deutschen Gewerkschaftseliten ist eine Dissertation am Seminar für Zeitgeschichte in Tübingen in Vorbereitung.

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weltumspannenden Einfluß der USA bezeichnet.²² Zweifellos handelte es sich hier um eine wichtige Voraussetzung für die Amerikanisierung der europäischen (und anderer) Nationalkulturen, welche nun über Film, Radio und Presseagenturen neue, bis dahin fremde Elemente in sich aufnahmen und zu amalgamieren begannen. Die vergleichsweise stark ausgeprägte sozialkulturelle Homogenisierung der westeuropäischen Gesellschaften nach 1945 in Richtung auf eine mehr oder weniger „amerikanische“ Westlichkeit war im Bereich von Kommunikation und Medien ab 1920/25 schon vorbereitet, wurde allerdings im deutschen Fall durch das Dritte Reich noch einmal unterbrochen. Die Vereinigten Staaten befanden sich im Bereich der Kommunikationsmittel und der dadurch möglichen Verbreitung von Information und Unterhaltung in einer einzigartigen Lage, und das erklärt die Wucht des amerikanischen Einflußes bei der Ausbreitung der egalitären Kultur außerhalb der USA.²³ Sie entfaltete sich seit Beginn des Jahrhunderts im Kontext von technologischer Innovation und industrieller Expansion; mehr als das Radio ist der Film das prägnanteste Beispiel dafür.²⁴ Das verband sich mit der soziopolitischen Gegebenheit der modernen Massendemokratie, die in den USA früher als sonst irgendwo vorhanden war, und wirkte auf eine Gesellschaft ein, die – im Sinne des „Fordismus“ – Strukturen des Massenkonsums auszubilden begann, und dies auch im Bereich der Kultur. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Privatwirtschaft bildete sich die Massenkultur gemäß kommerziellen Prinzipien aus, erzeugte einen Markt und brachte eine Kulturindustrie hervor, in der die Filmwirtschaft am deutlichsten hervorstach. Und das war der „Amerikanismus“, der im Deutschland der zwanziger Jahre besonders spektakulär wahrgenommen wurde, von den Befürwortern des Gleichheitsprinzips und der Emanzipation mit Begeisterung aufgenommen, von den Apologeten des Hergebrachten – des obrigkeitlichen Staats und des untertanenhaften Volks, aber immerhin „Volk“ statt „Masse“ – mit Angst und Abscheu kommentiert: Eine Kultur, in der es die Unterscheidung in „E“ und „U“ konzeptionell nicht gab, und die insofern einen Frontalangriff auf die Elitenkultur der Bildungsschichten darstellte, sobald sie sich hierzulande auszubreiten begann.

 Vgl. Emily Rosenberg, Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890 – 1945. New York, NY 1982, S. 87– 107.  Gregory Claeys, Mass Culture and World Culture. On Americanization and the Politics of Cultural Protectionism, in: Diogenes 136, 1986, S. 70 – 97.  „In contrast to Europe’s elitist films, America’s movies appealed to mass audiences. Created not out of traditions of elite art but designed to entertain a diverse, multi-ethnic patronage at home, early American films were perfectly suited to a world market.“ Rosenberg, Spreading the American Dream, S. 100.

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Nun war die traditionelle Struktur der deutschen Gesellschaft, wie sie sich seit 1871 herausgebildet hatte, bereits durch die Einwirkungen des Krieges erschüttert worden, die „Nivellierungstendenz der Sozialmilieus“²⁵ nahm zu, auch wenn die Dominanz der alten Eliten noch fortbestand. Der Einfluß des „Amerikanismus“ als städtisch-industrieller Massenkultur, die mittels Film und Unterhaltung neue Wertvorstellungen und andere Maßstäbe des Sozialverhaltens anbot, mußte deshalb als starke Bedrohung empfunden werden. In der Modernisierungskrise der Zwischenkriegszeit rief der „Amerikanismus“ die Antimodernisten auf den Plan. Am bekanntesten wurde das Buch von Adolf Halfeld, eines noch nicht dreißigjährigen Autors, der Rechts- und Staatswissenschaften studiert und einige Jahre in den USA gelebt hatte; seit seiner Rückkehr nach Europa war er überwiegend publizistisch tätig. Sein Bestseller „Amerika und der Amerikanismus“ erschien 1927 bei Eugen Diederichs, dem kulturpessimistischen Verleger u. a. der Jugendbewegungsliteratur und der „Tat“, in der Halfeld nach 1933 auch hin und wieder schrieb.²⁶ Amerika zeichnete er als neuartigen mechanischen Vernunftstaat, Deutschland als organischen Volksstaat,²⁷ und er reproduzierte insbesondere in dem Kapitel über den „Kulturfeminismus“²⁸ die Ideologie der „deutschen Männer“,²⁹ wo die preußische Armee als „das wundervollste Instrument des deutschen Volkes“ galt und als die „deutsche Staatsidee“ betrachtet wurde.³⁰ Diese Ideologie war militaristisch, männerbündisch und antibürgerlich, indem sie angstvoll den zivilen Habitus verabscheute. Vor einem solchen geistigen Horizont zeichnete Halfeld sein Bild von der „Girlkultur“:

 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 149 ff.  Adolf Halfeld, Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers. Jena 1927; vgl. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg 1992, S. 50 – 53. Zur Einordnung des Diederichs-Verlags in die kulturellen Strömungen des Kaiserreichs vgl. Gangolf Hübinger, Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne?, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Gütersloh 1987, S. 92– 114. Vgl. auch das Buch eines Autors aus dem „Tat“-Kreis, das allerdings erst nach dem Kriegseintritt der USA geschrieben wurde: Giselher Wirsing, Der maßlose Kontinent. Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft. Jena 1942.  Halfeld, Amerika und der Amerikanismus, S. 29, S. 30 – 50.  Ibid. S. 209 – 227.  Vgl. hierzu Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos. München 1991; Klaus Theweleit, Männerphantasien. Reinbek bei Hamburg 1980.  Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 22– 30, hier S. 24.

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Die Amerikanerin muß positiv hübsch sein, und diese hübsch sein müssende Frau gehört ebensosehr zum Inventar des erfolgreichen Geschäftsmannes wie die Wintersaison in Florida, die Opernloge und der dicke Brillantring. […] Und wieder gewahren wir, wie sich die Gesetze der Massenzivilisation auf allen Gebieten des amerikanischen Lebens auswirken. Auch die Frau bedeutet trotz ihrer Muße, Gepflegtheit und Höherbildung keine Flucht ins Individuelle. Auch sie ist Nachahmerin des Typs, den die Movies, die Zeitungen und Magazine diktieren. Gäbe es nicht den College Boy, den stets überarbeiteten Geschäftsmann und den irischen Parteiboss, so möchte man sagen, daß von allen Erzeugnissen, die dieses grauenhaft standardisierte Land hervorbringt, das Girl das standardisierteste ist. Man muß in der Tat schon echte von falschen Perlen unterscheiden können, um zwischen der Boweryprinzessin und der Dame, die in den Landklubs von Long Island zu Hause ist, das Trennende zu sehen. […] [So] übernimmt die Amerikanerin die unbestrittene Führung im Spiel der Geschlechter. Die Männerwelt ist bestenfalls als Publikum geschätzt. Sie sitzt auf den Galerien, darf Beifall klatschen und muß die Zeche bezahlen. […] Und die Ehe ist der Amazonenstaat im kleinen. Der Minnedienst des Mittelalters erlebt seine späte bürgerliche Auflage. Zwar nicht mehr, wie es der Troubadour tat, singt Babbitt Serenaden vor den Fenstern seiner niggerhaft steppenden Gebieterin oder schickt er wie Petrarca heimliche Sonette an seine Laura. Sondern er schiebt den Kinderwagen, deckt den Tisch, trägt das Geschirr in die Küche, bindet die Schürze um, wäscht auf, macht Einkäufe und besorgt im Winter die Heizung. […] Der Amerikaner duldet nicht allein die soziale, rechtliche und kulturelle Vorzugsstellung der Frau, sondern er ist von ihrer Notwendigkeit durchdrungen. Er glaubt in vollem Ernste, daß die Frau ein moralisches, ästhetisches und intellektuelles Plus vor ihm voraus hat. Er zieht auch keinen Augenblick in Zweifel, daß sich darin ein von der Natur Gewolltes ausdrückt. So sehr hat ihn das amerikanische Leben entnervt, so sehr wurde seine männliche Aggressivität von den puritanischen Zügen der Rasse verdrängt, daß ihm ein konventioneller Schwächeinstinkt der Frau gegenüber bereits eingeboren ist.³¹

In seiner Kritik des „Kulturfeminismus“ bündelte Halfeld noch einmal alle Argumente gegen eine moderne Zivilgesellschaft, die er in seinem Text bis dahin schon ausgebreitet hatte. Kaum ein anderer Autor der Zeit schilderte die einzelnen Aspekte der amerikanischen Kultur so drastisch, so abschätzig und zugleich auch so unreflektiert, denn im Kern ging es ihm darum, die Gefahren einer modernen, egalitären Massenkultur zu beschwören, ihre abstoßenden Seiten zu zeigen und Stellung zu beziehen gegen den Zusammenhang zwischen Egalitarismus und politischer Demokratie. Das war gegen die Auffassungen derjenigen gesagt, die diese Erscheinungen des gesellschaftlichen Wandels eher positiv bewerteten und als Modell für Deutschlands weitere Entwicklung betrachteten. In der Tat kreiste die öffentliche Auseinandersetzung über „Amerika“ in den zwanziger Jahren um die eigene deutsche Kultur; deren Herausforderung durch die Moderne wurde als

 Halfeld, Amerika und der Amerikanismus, S. 210 – 219.

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grundstürzend empfunden.³² Die Polemik des bereits zitierten Literaturkritikers Hans A. Joachim gegen das Syndrom der Jugendbewegtheit zielte auf diesen Zusammenhang: Nebenbei gab es damals Altersgenossen in der Jugend, die sich die Pubertät nicht kürzen lassen wollten. Sie trugen ihre Kniehosen mit Absicht, den Schillerkragen aus Gesinnung. Sie schüttelten den Asphalt von den Füßen, und sie wanderten im Staube ihres Deutschtums. Ihr Idealismus kannte keine Grenze; auch keine Altersgrenze. Sie blieben zurück. Die Zeit hatte sich gewandelt, ihre Jugend mit; aber die Jugendbewegung nicht. Ihre Art, sich auseinanderzusetzen, war noch immer die, in den Wald zu gehen. Sie war von gestern. Sie nannte sich zeitlos, aber sie war nur zeitfremd. Sie war ein Anachronismus. Ihre Vertreter waren ohne Ironie und keine Gegner; ein Ärgernis waren sie doch. Sie sahen unser Motorrad scheel, die Technik von der Seite an. Sie waren nicht gut zu den Maschinen. Wir fanden, daß sie sehr undankbar waren, ahnungslos blind bei offenen Augen. Auch gegen sie war das Plaidoyer des Amerikanismus gerichtet, das zu führen wir entschlossen waren.³³

In den hitzigen Auseinandersetzungen über den „Amerikanismus“ obsiegten die ideologischen Antimodernisten, auch wenn es sich dabei um Leute handelte, die die amerikanischen Leistungen in der Technik, Massen-Unterhaltung und information bewunderten und der Form nach kopierten, wie das für Hitler und Goebbels galt. Sie aktivierten und stimulierten mit diesen Mitteln der Propaganda das alte Ressentiment in der deutschen Gesellschaft gegen die politische und soziale Kultur des atlantischen Westens ebenso, wie sie den Antibolschewismus hochpeitschten und beide Feindbilder mit ihrem fanatischen Antisemitismus verwoben. Dem entsprach am Ende ganz konsequent, dass das Dritte Reich seinen Krieg seit 1941 in globalem Maßstab gegen sämtliche Kräfte führte, die das Ziel des „Fortschritts“ im Banner trugen – gegen die „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“, gegen den „Amerikanismus – eine Weltgefahr“ und gegen das „Weltjudentum“, das mit den „Plutokraten der USA“ verschmolzen war.³⁴ Die „Amerikanismus“-Debatte in Deutschland bildete überwiegend eine Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen von Modernisierung der Gesellschaft des eigenen Landes. Aber sie reflektierte natürlich ebenso den Sachverhalt, dass die USA seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine globale Politik der Expansion zu entwickeln begannen, die mehr als nur Wirtschaft und Handel

 Vgl. Maase, BRAVO Amerika, S. 50 – 53. Der Einwand von Peukert, Die Weimarer Republik, S. 181, dass die „Amerikanismus“-Diskussion Besorgnisse um die Zukunft der Humanität in der schrankenlosen Industriegesellschaft formulierte, „ohne einem Rückzug in die vorindustrielle Idylle das Wort zu reden“, ist hierbei natürlich immer bewusst zu halten.  Joachim, Neue Romane aus Amerika, S. 398.  Vgl. Reichsführer SS/SS-Hauptamt (Hrsg.), Amerikanismus – eine Weltgefahr. Berlin 1944, S. 37– 47.

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III. Ost-West-Konflikt, Westernisierung und das Ende des Booms

umfasste. Darin prägten sich in ersten Ansätzen die Formen von westlich-amerikanischer Hegemonie zur Durchsetzung des liberalen Prinzips mit tendenziell weltumspannendem Anspruch aus, die nach 1945 die Entwicklung „des Westens“ insgesamt bestimmen sollten.³⁵ Amerikanische Wertvorstellungen zu propagieren und für eine liberale Ordnung zu werben, deren Kern das System der freien Wirtschaft bildete, hatte um die Jahrhundertwende begonnen. Im Ersten Weltkrieg entstand dann das „Committee on Public Information“ zur Verbreitung des „Gospel of Americanism“ mit dem Bild der USA als einer machtvollen, industrialisierten, freien und gerechten Gesellschaft, der nachzueifern lohnend sei. Mit den Mitteln der Produktwerbung machte der Vorsitzende des Komitees George Creel, ein Mann der Presse, Reklame für die USA, und er nutzte neben Büchern und Zeitungsmeldungen ganz besonders die Möglichkeiten des damals gerade entstehenden Massenmediums Film. So beförderten auch die bis dahin unbekannten Werbemethoden für eine politisch-gesellschaftliche Idee den Eindruck von präzedenzloser Modernität der USA.³⁶ Die Expansion der USA umfasste seither stets die beiden Bereiche Wirtschaft und Kultur: Das Engagement im finanziellen und industriellen Sektor wurde ergänzt durch Aktivität auf dem Feld der Massenunterhaltung – Film, Musik und „Information“, d. h. Werbung mit dem politischen Weltbild und den Lebensformen der weißen Mittelschicht. Zusammengenommen ergab sich daraus der Export des Lebensstils der eigenen Gesellschaft: Amerikanisierung als Modernisierung, gewiss, aber auf ein bestimmtes gesellschaftliches Modell hin. Das war eine allmähliche Entwicklung, die erst der Zweite Weltkrieg wie ein Katalysator beschleunigte. Der Sprachgebrauch deutet auf die qualitative Veränderung dieses Prozesses und auf entsprechend veränderte Wahrnehmung hin. Während in der Zwischenkriegszeit alle Welt, die USA eingeschlossen, von Amerikanismus sprach (Paul Dehns zitierte Bemerkung über die Amerikanisierung stammte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg), hieß es in der Nachkriegszeit nach 1945 dann nur noch Amerikanisierung. Der Begriff Amerikanismus verweist auf ein gewissermaßen statisch empfundenes Phänomen, obwohl doch hinter allen Einflüssen der amerikanischen Wirtschaft oder der Medienwelt seit jeher eine hohe innovatorische Dynamik stand. Diese Dynamik brach sich jedoch an den noch vergleichsweise stabilen Strukturen in der Wirtschaftsorganisation, den kulturellen Werthaltungen und ideologischen Fixierungen der Deutschen, zumal sie nicht durch konzentriertes staatliches Interesse seitens der amerikanischen

 Vgl. Theodor H. von Laue, The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective. New York, NY u. a. 1987. Vgl. dazu auch unten Abschnitt 2.3.  Rosenberg, Spreading the American Dream, S. 79 ff.

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Regierung gebündelt und verstärkt wurde. In der Zwischenkriegszeit dominierte der Antagonismus der Gesellschaftsstruktur zwischen den USA und Deutschland; das prägte Bewusstseinslagen und Begrifflichkeit. Je mehr nun in Deutschland die Stabilität der überkommenen Strukturen unter dem Einfluß des Nationalsozialismus abnahm und dann im Krieg zerstört wurde, und je mehr in den USA durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise und durch die internationalen Konflikte der dreißiger Jahre bis zum Kriegsbeginn 1939/41 die Anforderungen an den „starken Staat“ wuchsen, desto offener war das destabilisierte Deutschland des Jahres 1945 für die Aufnahme amerikanischen Einflußes und desto entschiedener der hegemoniale Anspruch in der Besatzungspolitik der amerikanischen Siegermacht. Der Sprachgebrauch der zweiten Nachkriegszeit kannte nur den Begriff „Amerikanisierung“, und das prozessuale Phänomen, das darin angedeutet war, bezeichnet ein Geschehen von hochdifferenzierter Interaktion auf verschiedenen Ebenen, bei dem die Erfahrungen aus der Zwischenkriegszeit mit im Spiel waren und das mit den Kategorien von Umerziehung oder Neuordnung nicht hinreichend erfasst wird.

2. Amerikanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg Wirtschafts- und Kulturpolitik waren in den amerikanischen Vorstellungen über die Reorganisation Europas und die Besatzungspolitik in Deutschland aufs engste verbunden. „Politics of Productivity“³⁷ und „Diplomacy of Ideas“³⁸ konstituierten zusammengenommen das ideologische Grundmuster des amerikanischen Anspruchs auf konzeptionelle Dominanz bei der Gestaltung einer Nachkriegsordnung für Europa. Die Handlungsmuster basierten auf Erfahrungen aus der Zeit des New Deal. Das heißt, dass amerikanische Maßstäbe der Zwischenkriegszeit dazu dienten, die Wegmarken für die Entwicklung außerhalb Amerikas in der Nachkriegszeit zu setzen: Die Erfahrungen mit der innerstaatlichen Bewältigung einer tiefreichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise wurden auf die Weltregionen unter Dollardominanz übertragen.³⁹ Es heißt weiter, dass der Staat jetzt bei der Formulierung und Wahrnehmung amerikanischer Interessen ganz in den Vordergrund trat. Die Regierung war das Entscheidungszentrum und bündelte bzw. kanalisierte die expansiven Interessen der unterschiedlichen Branchen  Charles S. Maier, The Politics of Productivity. Foundations of American Economic Policy after World War II, in: International Organization 31, 1977, S. 607– 633.  Frank A. Ninkovich, Diplomacy of Ideas. U.S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938 – 1950. Cambridge, MA 1981.  Maier, The Politics, S. 609 – 630.

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vom Maschinenbau bis zur Filmindustrie sowie aus den Kreisen von Wissenschaft, Forschung und politischer Pädagogik.⁴⁰ Nach 1918 hatten Unternehmen und Gesellschaften, Bankiers und die Leute des Kulturbetriebs unkoordiniert selbständig in der Welt und auf dem Weltmarkt agieren können. Indem der Staat jetzt in die Bereiche der Wirtschaftsbeziehungen und des internationalen Kulturaustauschs regulierend eingriff, ergab sich eine stärkere Verschmelzung beider Sektoren als das vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen war. Damit erhöhte sich die Wucht des amerikanischen Einflußes, der nunmehr in den zwei Jahrzehnten von 1945 bis 1965 – der Kernzeit der Amerikanisierung im gesamten Modernisierungsprozess des 20. Jahrhunderts – die westeuropäischen Gesellschaften, zumal die westdeutsche, fundamental umzuprägen begann.⁴¹ Die wirtschaftliche Wiederaufbaupolitik fand ihren Kristallisationspunkt im Marshallplan, und dieser war wiederum das Vehikel für die Verbreitung der Glaubenssätze des New Deal, die sich Mitte der fünfziger Jahre in der Ideologie vom Ende aller Ideologien verdichtete.⁴² Dahinter stand die Auffassung, dass Klassenkonflikte nicht durch Umverteilung zu überwinden und dauerhaft aufzuheben seien, sondern durch Wirtschaftswachstum.⁴³ Das machte den Klassenkampfgedanken überflüssig und damit den marxistischen Kern der sozialistischen Theorie, mit anderen Worten: einen zentralen Bestandteil der ideologischen Realität in den europäischen Ländern; und es versprach, auch die soziale Realität der Klassenungleichheit zu überwinden. Wenn die Lösung sozialer Probleme mittels wachstumsgestützter, ideologiefreier Sozialtechnologie gelingen könnte, dann mußte das gerade für Sozialdemokraten von höchstem Interesse sein. Die Agentur zur Verbreitung dieser Ideologie, der „Kongreß für

 Rosenberg, Spreading the American Dream, S. 169, S. 230 f. Regierungsunabhängige Verbindungen zwischen den USA und anderen Ländern spielten natürlich weiterhin eine wichtige Rolle und blieben vielfältig, aber sie hatten gegenüber der Zwischenkriegszeit auxiliare Funktion für das staatliche Handeln. Vgl. Link, Deutsche und amerikanische Gewerkschaften.  Auf die verzögerte Wirkung des amerikanischen Einflußes in Japan verglichen mit Deutschland, welche die Amerikanisierung Japans erst in den siebziger Jahren auch nach außen hin fühlbar werden ließ, kann hier nur hingewiesen werden: „The social basis for the politics of productivity was present in Europe, as it was not in mainland Asia. The war and Nazi occupation had shaken, but not uprooted, a prevailingly bourgeois society with broad middle-class patterns of ownership and culture.“ Maier, The Politics, S. 630.  Daniel Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties. Glencoe, IL 1960.  Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947– 1952. Cambridge, MA 1987, S. 18 – 25; vgl. auch Charles S. Maier/Günter Bischof, The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Framework of the European Recovery Program. New York, NY u. a. 1991.

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kulturelle Freiheit“, auf den später noch einzugehen ist, wurde deshalb nicht ohne Grund überwiegend von Sozialdemokraten, kommunistischen Renegaten und Linksliberalen getragen – allesamt Intellektuelle, die die sozialökonomisch fundierte Ideologie des Endes aller Ideologien mit Inbrunst diskutierten, ihre Meinungen in die Kanäle der Information einspeisten und sie so in der kulturellen Politik der amerikanischen Besatzungsmacht zur Geltung brachten. Der unlösbare Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Konzept und seiner kulturellen Umsetzung kennzeichnete die amerikanische Mission in Deutschland auch dann noch, als an den Schaltstellen der Macht sowohl in Washington als auch in der Militärregierung die Protagonisten des Kalten Krieges das Ruder übernommen hatten und die Repräsentanten der Ideenwelt des New Deal bestenfalls noch in Intellektuellenzirkeln Resonanz fanden. Denn der materialistische Fundamentalsatz von der Überwindung der Klassenkonflikte nicht durch Umverteilung, sondern durch Wirtschaftswachstum war mit dem Marshallplan, der OEEC und der Währungsreform zur Grundlage für die westeuropäische Nachkriegsordnung und die amerikanische Dominanz darin geworden, und das blieb so bis zur Mitte der sechziger Jahre. Als in Westdeutschland ab 1953 der Nachkriegsboom fühlbar zu werden begann, herrschte allenthalben das Gefühl einer allgemeinen Steigerung des Wohlstands vor. Diese Wahrnehmung äußerte sich in der verbreiteten Auffassung vom „Wirtschaftswunder“, und das ideologische Prinzip wurde vom Wirtschaftsminister selbst nachhaltig propagiert; „Wohlstand für alle“ hieß Ludwig Erhards 1957 publizierte Redensammlung.⁴⁴ Die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik wies zwar den sog. Fahrstuhleffekt auf, wonach sich die Wohlstandssteigerung für alle Schichten und Gruppen gleichermaßen vollzog, die materielle Differenz mithin unverändert blieb. Aber das erschien in den beiden Nachkriegsjahrzehnten nachrangig gegenüber dem objektiven Befund eines zunehmenden Massenwohlstands.⁴⁵ Dies war zugleich die Voraussetzung dafür, dass sich Massenkultur schichtenübergreifend einwurzeln konnte – anders gesagt, dass Amerikanisierung als Export von Lebensstil zu wirken begann. Ohne die Bedeutung des Wirtschaftlichen in Frage stellen zu wollen, gilt das Augenmerk in diesem Abschnitt zunächst zwei Bereichen, wo Amerikanisierung während der zehn Jahre der Besatzungsherrschaft abseits des genuin wirtschaftspolitischen Tätigkeitsfeldes in Gang gebracht wurde bzw. in Gang kam. Die Frage nach der Wirkung des amerikanischen Einflußes legt es nahe, einen Bereich

 Ludwig Erhard, Wohlstand für alle. Düsseldorf 1957.  Vgl. Werner Abelshauser, Die langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1966. Düsseldorf 1987, S. 51, S. 53 – 60.

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des intentionalen Handelns mit einem Bereich des vorwiegend nicht-intentionalen Handelns in Beziehung zu setzen. Deshalb richtet sich die Darstellung zuerst auf die amerikanische Kultur- und Informationspolitik, wo es um Reeducation im Schul- und Bildungswesen und um Werbung für das eigene Land mittels der Amerikahäuser sowie um die Schaffung einer freien Presse und um Radio und Film ging. Im Anschluss daran kann dann die Wirkung der materiellen Präsenz der Amerikaner auf die Bevölkerung erörtert werden, wo im Bereich des alltäglichen Lebens zwar ein starker Einfluß der Besatzungssoldaten und ihrer Kultur zu konstatieren, dieser Einfluß aber kein beabsichtigter Bestandteil der Umerziehungspolitik war, obwohl er der Herausbildung von Verhaltensmustern einer freien, demokratischen Gesellschaft förderlich war. Zuletzt gilt es, einen dritten Bereich zu behandeln, der von der zeithistorischen Forschung lange vernachlässigt wurde und erst jüngst intensiver erschlossen wird: Das betrifft die Eigenart der ideellen Westorientierung gesellschaftlicher Eliten, die in den politischen und kulturellen Wertvorstellungen der Zwischenkriegszeit wurzelten und ohne gezielte Einflußnahme der ReeducationPolitik die Wendung zum amerikanisch dominierten Westen mitvollzogen und sie als Multiplikatoren wirkungsvoll mit vorantrieben.

2.1 Kultur und Informationspolitik Im amerikanischen Besatzungsprogramm hingen Entnazifizierung und Entmilitarisierung sowie Reeducation bzw. Reorientation aufs engste zusammen, es waren die beiden Seiten ein und derselben Medaille.⁴⁶ Das Ziel der Umerziehung, der zur Zukunft hin gewandten Seite dieser Medaille, war es, eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster zu schaffen, „ohne daß der Bevölkerung fremde Verhaltensmuster oder Modelle aufgezwungen werden sollten.“⁴⁷ Dieses Klischee aus der Nachkriegszeit propagierten amerikanische Besatzungsoffiziere und deutsche Politiker gleichermaßen, weil es den Amerikanern darum ging, die Neuordnung Deutschlands als Werk der Deutschen, freilich unter alliierter Aufsicht, erscheinen zu lassen, wovon die Landespolitiker in den Besat-

 Henry Kellermann, Von Re-education zu Re-orientation. Das amerikanische Reorientierungsprogramm im Nachkriegsdeutschland, in: Heinemann, Manfred (Hrsg.), Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich. Stuttgart 1981, S. 86 – 102, hier S. 88.  Hermann-Josef Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945 – 1952. Opladen 1993, S. 38.

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zungszonen ohnehin überzeugt waren. Unser Geschichtsbild vom Neuaufbau in der ersten Nachkriegszeit entspricht dem ja auch weitgehend, und das durchaus zu Recht, sofern unser Augenmerk hauptsächlich der Tagespolitik, dem Aufbau von Parteien, Parlamenten, Regierungskanzleien, kurz: dem demokratischen System gilt.⁴⁸ Achtet man indessen auf die Transformation von Werthaltungen und Kulturmustern, ergibt sich ein anderer Eindruck. Denn der amerikanischen Besatzungspolitik war ganz selbstverständlich der Anspruch inhärent, den Gegensatz zwischen den vormals antagonistischen Gesellschaften der USA und des Deutschen Reichs zu eliminieren, mithin Deutschlands politisch-kulturelles Profil in eine staatsübergreifende Ordnung der Demokratie als Lebensform einzupassen, die mit dem amerikanischen Modell kompatibel war. Deshalb galt es, den obrigkeitlichen Staat zu beseitigen und das untertanenhafte Volk mit dem Ziel umzuerziehen, Kategorien wie Pluralismus, individuelle Selbstentfaltung und Emanzipation bei den Deutschen zur Wirkung zu bringen. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Planungen der Deutschlandexperten in Washington sowie der Mitarbeiter von Militärregierung und Hoher Kommission die Weimarer Demokratie als Modell für die politisch-gesellschaftliche Erneuerung strikt ablehnten.⁴⁹ Individualität und Zivilität waren beides keine Merkmale der deutschen Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit, und darauf sollte jetzt hingearbeitet werden. Im Anspruch, „die Beamtenschaft von ‚Herren’ zu ‚Dienern des Volkes’ (civil servants)“ zu verändern,⁵⁰ kam das prägnant zum Ausdruck. Es mußte deshalb zu den frustrierenden Erfahrungen der Amerikaner gehören, wenn sie nach 1949 feststellten, dass sich im Zuge der Staatsgründungen in Bonn und Ost-Berlin auch in Westdeutschland die autoritär-hierarchische Gesellschaftsordnung trotz aller Bemühungen zur Umerziehung zunächst wieder konsolidierte. Vordergründig stimmte dieser Eindruck, doch in den Strukturmerkmalen der Kanzlerdemokratie war beides angelegt, sowohl der Drang der Bevölkerung zurück zu den sozialen Verhaltensformen vor der Zeit des kriegsbedingten Chaos, das Wegstreben aus der „Außer“-Ordentlichkeit⁵¹ zurück in die gewohnte Ordentlichkeit, als auch der sukzessive Bedeutungsanstieg von pluralistischen Verhaltensmustern, Artikulation des Individuellen, zivilem Habitus und jenem Phänomen, welches 1927 der Amerikaverächter Adolf Halfeld als „Kulturfeminismus“ bespieen hatte.⁵²

 Vgl. Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945 – 1949. Stuttgart u. a. 1983.  Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 39 f.  Ibid., S. 40.  Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland. München 1988, S. XXVIII.  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie, in: Der Staat 30, 1991, S. 1– 18.

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Gleichwohl, erst am Ende der Kernzeit der Amerikanisierung, in den sechziger Jahren, kam diese Entwicklung äußerlich erkennbar zum Durchbruch. Der Bereich von Bildung und Erziehung bietet hier ein anschauliches Beispiel.⁵³ Obwohl bei den Besatzungsmächten und insbesondere bei den Amerikanern die Auffassung durchaus anerkannt war, dass Deutschlands Anteil an der Herausbildung der westlichen Zivilisation hoch zu veranschlagen sei, wurde das Erziehungssystem gleichwohl äußerst kritisch beurteilt. In den Schulen habe die Anleitung zu Autoritäts- und Staatsgläubigkeit immer Vorrang gehabt vor der Unterweisung in liberalen Grundsätzen, und eine Schulstruktur, die die Eltern mit einbezog und im tagtäglichen Schulbetrieb die praktische Aneignung einer demokratischen Lebensform anbot, fehlte vollständig. Überlegungen zur Reform des Schulsystems führten zu scharfen Auseinandersetzungen nicht nur zwischen den amerikanischen Planern und den verantwortlichen Besatzungsoffizieren vor Ort im zerstörten Deutschland, sondern auch in den USA selbst, wo emigrierte deutsche Professoren wie Hans Rothfels, Otto von Simson und Arnold Bergstraesser zu den Beratungen hinzugezogen wurden und sich mit Verve dagegen aussprachen, die Struktur des höheren Schulsystems und insbesondere das Humanistische Gymnasium anzutasten; man könne das amerikanische High SchoolSystem nicht einfach nach Deutschland verpflanzen.⁵⁴ Veränderungen in der Struktur des deutschen Schulsystems wurden denn auch nach 1945 nur relativ wenig vorgenommen. Aber im bildungspolitischen Programm der Besatzungsmacht wurden allgemeine Prinzipien verankert, die im Bereich von Erziehung und Bildung Reformmaßnahmen mit dem Ziel einer allmählichen Veränderung von Verhaltens- und Einstellungsmustern vorsahen.⁵⁵ Die Deutschen selbst sollten das umsetzen, und vom Ruch der Reeducation dürfe nichts zu spüren sein. Die Schulorganisation war auf jeden Fall weniger wichtig als die Lehrinhalte und die Einstellung der Lehrer. „Der Erfolg war besser zu realisieren, wenn die Reformvorstellungen als Teil einer europäischen und globalen Selbstfindung in einer Zeit

 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 110 – 172. Auf die enge Verbindung zur und konzeptionelle Ähnlichkeit mit der britischen Erziehungspolitik kann hier nur hingewiesen werden.Vgl. Ian D. Turner (Hrsg.), Reconstruction in Post-War Germany. British Occupation Policy and the Western Zones, 1945 – 1955. Oxford 1989, S. 189 – 267. Auf die Zeit bis zur Gründung der Bundesrepublik beschränkt sich die frühe Studie von Karl-Ernst Bungenstab, Umerziehung zur Demokratie? Re-education-Politik im Bildungswesen der US-Zone 1945 – 1949. Düsseldorf 1970.  Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 116.  So auf der Konferenz über die Zukunft des Erziehungsprogramms für die Zeit nach der Verabschiedung des Besatzungsstatuts und im Übergang von OMGUS zu HICOG. Oktober 1948: A Guide to Education and Cultural Relations. Zitiert nach Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 123 f.

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gesellschaftlichen Wandels dargestellt werden.“⁵⁶ Deshalb ging es nicht darum, das amerikanische Erziehungssystem in Deutschland zu etablieren, sondern die kulturellen Normen der individuellen Chancengleichheit und der persönlichen Freiheit in eigener staatsbürgerlicher Verantwortung zu verankern. So wurden sukzessive die Schülerselbstverwaltung bzw. Schülermitverwaltung, ein gruppenorientierter und auf selbständige Diskussion innerhalb des Klassenverbandes ausgerichteter Unterricht und Schulfächer wie etwa die Gemeinschaftskunde eingeführt; parallel dazu erfolgte die Errichtung von Lehrstühlen für Politische Wissenschaften an den Universitäten.⁵⁷ Und obwohl die Universitäten weder eine Strukturreform noch einen einschneidenden Personalwechsel hinzunehmen hatten, vielmehr die ursprünglich im Zuge der Entnazifizierung entlassenen Professoren bald in ihre alten Positionen zurückkehrten, trugen die Austauschprogramme für Studenten und Hochschullehrer im Lauf der Zeit mit beträchtlicher Wirkung dazu bei, amerikanische Ideen, neue Erfahrungen, neue wissenschaftliche Orientierungen und kulturelle Normen in den akademischen Betrieb einzuspeisen.⁵⁸ „Die enge Verbindung zwischen den USA und der Bundesrepublik im Bereich des Erziehungs- und Bildungswesens und der Austausch von Führungspersönlichkeiten schufen seit den fünfziger Jahren eine transatlantische Elite, eine These, die auf deutscher Seite in der Politik vielleicht dadurch am besten belegt werden kann, dass von den 16 Mitgliedern des Kabinetts von Bundeskanzler Helmut Schmidt sieben im Rahmen von Austauschprogrammen die USA besucht hatten.“⁵⁹ Der Anspruch der amerikanischen Besatzungsherrschaft, in Deutschland eine Kulturmission zu erfüllen, manifestierte sich ganz unmittelbar in der Einrichtung der Amerikahäuser. Die Idee der Information über das eigene Land mittels Büchern, Filmen, Zeitungsnachrichten stammte ja aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, als George Creel das Committee an Public Information übernommen hatte. Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg wurde 1942 das Office

 Ibid.  Ibid., S. 132, S. 145 f.  Von den Professoren im Fachgebiet Neuere Geschichte/Zeitgeschichte/Politologie der heute mittleren und älteren Generation dürften die Angehörigen der Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1940/45 zu einem überwiegenden Anteil während der Assistenten- und Habilitandenzeit ein Jahr in den USA (oder in England) verbracht haben. Dieser Aspekt ist bisher, zumal im weiteren Zusammenhang der Geistes- und Sozialwissenschaften, weder hinsichtlich der Individuen noch hinsichtlich der Entwicklung der Wissenschaftsverbände hinreichend erforscht worden. Vgl. aber Bernhard Plé, Wissenschaft und säkulare Mission. Amerikanische Sozialwissenschaft im politischen Bewußtsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1990.  Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 152 f.

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for War Information (OWI) geschaffen, in dem dieses Vorbild und die Erfahrungen weiterwirkten.⁶⁰ Das OWI richtete nicht nur den Radiosender Voice of America ein und beeinflußte die privaten Produzenten im Bereich der Massenmedien, vor allem im Film, dass sie ein rundum positives Bild von der rechtschaffenen Gesellschaft der USA zeichneten, sondern es organisierte auch Ausstellungen und publizierte Zeitschriften, in denen Auszüge aus den privaten Zeitungen zusammengestellt waren, es finanzierte Informationsbesuche ausländischer Journalisten in den USA und schuf die sog. „information libraries“, in denen neben Büchern, Zeitschriften und Zeitungen immer auch amerikanische Filme konsumiert werden konnten. Im OWI sammelten sich zahlreiche Protagonisten des New Deal, unter ihnen Roosevelts begnadeter Redenschreiber Robert Sherwood, und durch sie wurde der linksliberale Internationalismus zur ideologischen Grundlage der OWI-Propaganda, der das Ziel des Krieges in einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, der Farbigen und der Frauen in allen Ländern sah. „Their internationalism represented their hope for worldwide reform and social justice, and OWI messages abroad tended to reflect these convictions.“⁶¹ Obwohl diese Personen schon 1944/45 aus ihren Positionen wieder verdrängt wurden, wirkte ihr früher Einfluß noch lange nach. In den Amerikahäusern, die in Deutschland eingerichtet wurden, dominierte bis zum Beginn des Kalten Krieges 1947 der missionarische Geist, gegen den Rassismus, die Untertänigkeit und den Antiindividualismus der deutschen Bevölkerung anzukämpfen. Nach 1947 trat der Antikommunismus in den Vordergrund, ohne indessen die anderen Anliegen dieser Kulturhäuser völlig zu überdecken. Als „OWI-Libraries“ 1945 gegründet, wurden die „US Information Centers“ rasch in das Reeducation-Programm eingegliedert, und diese Zentren waren so erfolgreich als Informationsstätten und Kristallisationspunkte für viele nach Orientierung suchende Menschen, dass bis zum Herbst 1946 16 Häuser dieser Art eingerichtet wurden. Im Jahr des größten Publikumsinteresses 1949/50 existierten dann 27, hinzu kamen 136 Lesesäle in den kleineren Städten. 1949/50 verzeichneten die Amerikaner mehr als 1 Million Besucher monatlich.⁶² Von großer Bedeutung war das Gesamtprogramm, das sie anzubieten hatten, nicht allein die Bibliotheken: An erster Stelle rangierten Filmvorführungen, insbesondere auch von Dokumentarfilmen. Diese wurden in einzelnen Häusern systematisch in einer „Mediathek“ gesammelt, so dass regelmäßige und thematisch zusammenhän Rosenberg, Spreading the American Dream, S. 208 f.  Ibid. S. 212.  Karl-Ernst Bungenstab, Entstehung, Bedeutungs- und Funktionswandel der Amerika-Häuser. Ein Beitrag zur Geschichte der amerikanischen Auslandsinformation nach dem 2. Weltkrieg, in: Jahrbuch für Amerikastudien 16, 1971, S. 189 – 203.

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gende Vorführungen möglich waren, die ein zahlreiches Publikum anzogen. Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, oftmals mit deutschen Politikern und Angehörigen der Besatzungsmacht, mit Künstlern – Paul Hindemith etwa, der die Kriegsjahre in den USA im Exil verbracht hatte – und Leuten des Kulturbetriebs charakterisierten weiterhin die Arbeit der Amerikahäuser.⁶³ Man wird nicht fehlgehen, wenn man den Amerikahäusern einen breiteren und rascher wirkenden Einfluß auf einzelne Gruppen der Bevölkerung zumißt als etwa den Austauschprogrammen. Vor allem die Anziehungs- und Prägekraft für Gymnasiasten war stark, denn hier fanden sie das gut durchdachte Kontrastprogramm zum traditionellen deutschen Bildungsbetrieb. Auch wenn die Amerikahäuser wegen ihrer ursprünglichen Anlage als Bibliotheken wohl überwiegend auf Angehörige der Bildungsschichten – und hier vor allem auf Jugendliche und jüngere Erwachsene – einwirkten, mithin die breite Masse der Bevölkerung nicht erreichten, wird man sie dennoch als bedeutendes Element des Reeducation-Programms bezeichnen können. Hier wurde das Bildungskonzept einer Erziehung konsequent angewandt, die weg von der Autoritäts- und Staatsgläubigkeit und hin zu individueller staatsbürgerlicher Selbstbestimmung führen sollte; hier wurde für die Ideale der amerikanischen Gesellschaft geworben und es wurden Anleitungen gegeben, wie dies auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen sei. Ein Zeitzeuge des Geburtsjahrganges 1935 bezeichnete das Amerikahaus seines Wohnorts als „geistige Heimat“ für sich und seine Mitschüler während der sechs Jahre vom Eintritt in die Mittelstufe bis zum Abitur. Das hing mit der Bibliothek zusammen, die nebenbei auch Comics und Schallplatten anbot und – ein völliges Novum – nach dem Freihandsystem aufgebaut war, es hing aber besonders an der Förderung und Ermunterung zu selbstbestimmtem Handeln, die die Schüler dort erfuhren: Im Amerika-Haus fand ich die eigentlichen Partner für Fragen der Schülermitverwaltung, für die Startprobleme unserer Schülerzeitung ‚Die Lupe’. Der Direktor unserer Schule hatte unserem Schülerrat die Aufnahme förmlicher Kontakte zur Schülervertretung des benachbarten Mädchengymnasiums verboten, im Amerika-Haus trafen wir uns und verabredeten unsere nächsten Schritte: spätestens 1951 hatten wir mit Hilfe von Hans Baake, einem der Leiter des Amerika-Hauses mit guten Kontakten zum Kultusministerium, den Stadtschülerring gebildet, wo die gewählten Vertreter aller weiterführenden Schulen zusammenkamen. Welcher Aufbruch, welch beflügelnde Erfahrung ging künftig von diesen Treffen aus!⁶⁴

 Ralph Willett, The Americanization of Germany 1945 – 1949. London 1989, S. 19 – 27.  Friedrich P. Kahlenberg, Begegnung mit Amerikanern. Ms. 1985, S. 8 (Kopie im Besitz des Verfassers).

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Die breiteste Wirkung erzielte die amerikanische Kulturmission im Bereich von Bildung und Information naturgemäß durch Presse, Funk und Film. Wie die gesamte Neuordnungspolitik, so richtete sich auch die Neugestaltung des Zeitungswesens nicht nur darauf, die Einflüsse der NS-Presse, den Propagandastil, die denunziatorische Tonlage und den „diktatorischen Verlautbarungsjournalismus“ zu beseitigen, sondern auch die publizistische Tradition der Weimarer Republik zu kappen. Das bedeutete, weder die meinungslose Generalanzeigerpresse noch die selektiv berichtenden Parteizeitungen wieder aufleben zu lassen.⁶⁵ „In diesem Vorgehen zeigte sich das Bemühen, aus den […] historischen Strukturmängeln der deutschen Presse zu lernen, ohne deswegen den Versuch zu machen, die eigenen heimischen Gegebenheiten plump zu oktroyieren.“⁶⁶ Ein neuer, „moderner“ Zeitungsstil wurde eingeführt, und als Vorbild fungierte die „Neue Zeitung“, die Hans Habe – österreichischer Emigrant und amerikanischer Major – aufbaute und mitgestaltete.⁶⁷ Es ging jetzt um offene Meinungsbildung. Deshalb waren die nüchtern präsentierten Nachrichten stets deutlich vom Position beziehenden Kommentar getrennt, und diese für Deutschland neue journalistische Stilform wurde ebenso wie die Rubrik für Leserbriefe von Anfang an auch für die entfernteste Provinzzeitung verbindlich gemacht. Die Zeitungstexte wurden bildhafter, bunter, vor allem aber kritischer, abwägender. Die Zeitung als Ort der öffentlichen Meinungsbildung diente dem Erziehungsziel, erfahrbar zu machen, was „Diskussion“ ist, um die Emanzipation des Individuums voranzubringen und den staatsgläubigen Untertan zum sich seiner selbst bewußten Staatsbürger zu formen. Entsprechende Aufgaben kamen den Rundfunksendern zu, in denen der britische Einfluß und das Vorbild der BBC in ähnlicher Weise dominierten wie der amerikanische Einfluß und die „Neue Zeitung“ im Pressewesen. Uneinheitlich war die Entwicklung beim Film. Hier gab es auf der einen Seite die Idee der strengen, strafenden Umerziehung des deutschen Volkes, die vor allem dadurch bewerkstelligt werden sollte, dass man es anhand von Dokumentarfilmen mit den Greueltaten und dem systematischen Völkermord konfrontierte, den Deutsche verübt hatten. Diese Linie wurde im Herbst 1945 von der Information Control Division (ICD) verfolgt. Damals war der Film „Die Todesmühlen“ gerade fertiggestellt worden, der amerikanische Dokumentaraufnahmen

 Die in der Weimarer Zeit führende Berliner und Frankfurter Presse wurde dabei außer Acht gelassen.  Norbert Frei, Die Presse, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Bd. 3. Kultur. Frankfurt am Main 1983, S. 275 – 318, Zitat S. 280.  Harold Hurwitz, Die Stunde Null der deutschen Presse. Die amerikanische Pressepolitik in Deutschland 1945 – 1949. Köln 1972, S. 100 – 110, S. 261– 269; Hans Habe, Im Jahre Null. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Presse. München 1966.

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aus den Konzentrationslagern in der Stunde der Befreiung zeigte. Kurzfristig wurde überlegt, ob man die deutsche Bevölkerung insgesamt zwingen sollte, den Film zu sehen, indem man die Ausgabe von Lebensmittelmarken daran band. Aber man erkannte rasch, dass das eher zur Verhärtung führen würde.⁶⁸ In den Amerikahäusern gehörte der Film dann zum festen Bestandteil des Programms und tat auch seine Wirkung. Dort sah ich, spät genug, zum ersten Mal und bereits in einer erbärmlich abgespielten Kopie Hanus Burgers ‚Die Todesmühlen’ und ‚Nürnberg und seine Lehren’. So entsetzlich die Bilder waren, so nachhaltig sie in der Phantasie uns fortschreckten, sie befestigten unser Mißtrauen gegenüber den Heldentaten der Wehrmacht. Von diesen sprachen wieder einzelne unserer Lehrer, die sich selbst in verkaterter Stimmung gerne als ‚hoffnungslose Landserschweine’ bezeichneten – kein Einzelfall! −, deren Erzähldrang wir mit Ungeduld quittierten und kanalisierten. Aus dieser Zeit, angeregt durch einen Vortrag eines Lehrers meines Gymnasiums im Amerikahaus, datiert die Betroffenheit über das Gebot der ‚Kollektivscham’, von der Theodor Heuss 1949 gesprochen hatte.⁶⁹

Auf der anderen Seite gab es von Anfang an die Idee der „Propaganda through Entertainment“, die mit Verve vom Filmregisseur Billy Wilder vertreten wurde. Er war der Auffassung, dass die Vorführung von Dokumentarfilmen unter den Deutschen nur Apathie erzeugen würde. Statt dessen müsse man gute Unterhaltungsfilme bieten – das seien Farbfilme mit Filmmusik, in denen es eine Liebesgeschichte gebe −, und die könne man dann als Vehikel benutzen, „to sell a few ideological items“.⁷⁰ Wilder hat seine Vorstellungen nie vollständig verwirklichen können, und die Bedeutung lag auch mehr im Konzept selbst und vor allem in der Tatsache, dass er diese Gedanken schon 1945 vortrug: Umerziehung durch eine permanent belehrende und strafende Haltung der Sieger versprach keinen Erfolg. Sie würde eher

 Anna J. Merritt/Richard L. Merritt (Hrsg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945 – 1949. Urbana, IL u. a. 1970, S. 100 f.; Hans Speier, From the Ashes of Disgrace. A Journal from Germany 1945 – 1955. Amherst, MA. 1981, S. 33, berichtet von einer Probevorführung des Films vor einem deutschen Publikum am 14. November 1945 mit anschließender Diskussion, die auch die Frage der Pflichtvorführung einschloss: „All of them, as I said, wanted people to be forced to see the film. Finally, all of them may have felt the need to prove where they stood by aggressive anti-Nazism − a symptom of the difficulty any German has today in finding his moral bearing, in using his freedom, in proving his worth – particularly when Americans are watching him.“ Vgl. auch Brewster S. Chamberlin, Todesmühlen. Ein früher Versuch zur Massen-„Umerziehung“ im besetzten Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29, 1981, S. 420 – 436.  Kahlenberg, Begegnung mit Amerikanern, S. 9.  Wilders Memorandum vom 16. August 1945 „Propaganda through Entertainment“ an die ICD ist abgedruckt bei Willett, The Americanization of Germany, S. 40 – 44.

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dazu führen, dass sich das deutsche Volk gegenüber den amerikanischen Ideen, den Ideen „des Westens“, nur weiterhin verschloß. Ähnlich wie es bei den Amerikahäusern der Fall war, sollte um die Deutschen geworben werden. Der Film als Mittel der Unterhaltung versprach da, gute Dienste zu leisten. Denn die deutsche Bevölkerung sollte sich freiwillig den Amerikanern zuwenden, und sie war ja auch bereit dazu.⁷¹ Allerdings hatte „Propaganda through Entertainment“ einen Preis. Ideologische Beeinflussung durch die Präsentation von amerikanischer Lebensart in spannenden Filmen bedeutete zugleich das Angebot an die Deutschen, ihre Vergangenheit ignorieren zu dürfen, sofern sie sich dem Neuen öffneten. Beim Kinofilm und dann bald auch bei Fernsehproduktionen vollzog sich sehr früh und obendrein deutlich erkennbar eine Amalgamierung von deutscher Tradition und amerikanischem Einfluß. Da von den Besatzungsbehörden der Film als Massenunterhaltungsmittel ab 1946 eingesetzt wurde und auf diese Weise eine zensierte Unterhaltung entstand, gingen von hier Einflüsse auf die deutschen Filmregisseure aus, denen sie sich anzupassen suchten. Denn es gab, eigenartigerweise, eine nahezu vollständige personelle Kontinuität von den Schöpfern des NS-Films zum westdeutschen Nachkriegsfilm. Im Fernsehen hingegen, das ab 1952 den Betrieb aufnahm und etwa ab 1955 stärkere Verbreitung fand, war die Orientierung am amerikanischen Vorbild von Anfang an das eigentliche Charakteristikum im Unterhaltungsbereich. Ein deutscher Unterhaltungskünstler wie Peter Frankenfeld, der in seinem Auftreten doch noch sehr deutsch wirkte, nannte sich von Anfang an „Showmaster“ und versuchte so, sich in ein internationales, westliches Muster des Fernsehens einzupassen. Amerikanische Programmimporte für das Deutsche Fernsehen wie die Serien „Rin-Tin-Tin“ und „Fury“ setzten die Maßstäbe und zwangen deutsche Regisseure zur Anpassung – zur möglichst geschickten Verbindung von deutschen und amerikanischen Einflüssen. So stammte die Kriminalserie „Stahlnetz“, die 1958 ein riesiger Publikumserfolg wurde, von einem deutschen Autor und einem deutschen Regisseur, aber das Vorbild bestand in der amerikanischen Serie „Dragnet“, die in den USA zuerst im Radio und von 1951 bis 1958 im Fernsehen gelaufen war.⁷²

 Vgl. die OMGUS-Umfragen zwischen 1946 und 1949, in: Merritt/Merritt, Public Opinion in Occupied Germany, S. 100 f., S. 290 ff., S. 311.  Über die Entwicklung von Film und Fernsehen im Kontext der westdeutschen politischen und gesellschaftlichen Geschichte informiert die Publikation des Adolf-Grimme-Instituts „Unsere Medien — Unsere Republik“. Vgl. insbesondere die Beiträge von Peter Nowotny über Film und Kino nach 1945 und Conny E. Voester über Kontinuitäten in der Filmwirtschaft (Heft 1), sowie Irmela Schneider über amerikanische Programmimporte für das Deutsche Fernsehen (Heft 2). Vgl. auch Irmela Schneider (Hrsg.), Amerikanische Einstellung. Deutsches Fernsehen und US-ameri-

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2.2 Materielle Präsenz und Alltagsleben: Amerikanisierung der breiten Bevölkerung durch Anverwandlung eines neuen Kulturmusters? Die Maßnahmen der amerikanischen Militärregierung resp. nach 1949 des Hohen Kommissars zum Zwecke der Umerziehung, Bildung und Information erreichten jeweils nur einen überschaubaren Kreis von Menschen und, alles in allem, einen eher kleinen Ausschnitt aus der Gesamtbevölkerung. Obendrein brauchten sie Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. Deswegen hatte die Reeducation-Politik weniger einen unmittelbaren Amerikanisierungseffekt, vielmehr verstärkte und vertiefte sie im Lauf der Jahre einen auf anderer Ebene längst in Gang befindlichen Prozeß. Die Amerikanisierung der breiten Bevölkerung begann im Materiellen und wirkte zuerst im alltäglichen Leben. Die Erinnerung an die Wucht der neuen Eindrücke und Einflüsse schon aus dem Jahr 1945 ist geronnen im Topos vom freundlichen schwarzen GI, der vom Panzer herunter oder aus dem Jeep Schokolade oder Kaugummi an die Kinder verteilt.⁷³ In diesem Topos ist alles enthalten, was an Amerika Neugierde weckte, aber auch Befremden hervorrief und nach den Jahrzehnten der Auseinandersetzungen um den Amerikanismus, zuletzt nach der geifernden, rassistischen Hetze der Nationalsozialisten gegen den Kriegsgegner USA nun nicht länger abstrakt blieb, sondern zum Anfassen nahekam: überlegene Technik; Nahrung im Überfluß; Wohlstand; und der Sieger nicht als bloß national Fremder, als strenger, militärisch steifer, unnahbarer Westeuropäer wie in der britischen und französischen Zone, auch nicht als „grober“ und „primitiver“ Russe, der mit der Maschinenpistole ins Wasserklosett schoß, sondern als fundamental Anderer; nicht der „Nigger“ aus der Propaganda, sondern ein Mensch als Musterbild an Humanität. Die Wahrnehmung der materiellen Überlegenheit und der technischen Fortschrittlichkeit übte schon für sich genommen eine starke Wirkung aus, weil hier eine neue Dimension des Materiellen konkret wurde.

kanische Produktionen. Heidelberg 1992. Ohne den Aspekt der Amerikanisierung zu thematisieren, informiert der Katalog des Deutschen Filmmuseums dennoch sehr gut: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946 – 1962. Frankfurt am Main 1989.  Zuletzt noch Eduard Beaucamp, Befreit. Aachen vor fünfzig Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.10.1994: „Nach den verbissenen, verzweifelten, ausgezehrten Rückzugsdeutschen hatten wir Kinder angesichts der wohlgenährten, sportlichen und großmütigen Amerikaner (die freundlichsten waren die Schwarzen) ein wahres Griechenerlebnis. Sie verteilten haufenweise Lebensmittel, warfen das, was sie nicht brauchten, aus den Panzern. Ihre Müllkippen wurden zum Mekka für die versprengte, hungernde Bevölkerung. Es bedurfte keiner Umerziehung, die Westbindung wurde schnell zur Überlebens-, ja zur Herzenssache.“ Vgl. auch Maase, BRAVO Amerika, S. 84 und Anm. 25, 27.

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Während sich der Stab der Waffen-SS, eine letzte Kompagnie des Heeres mit requirierten Pferdefuhrwerken für Gepäck und Waffen, die Mannschaften aber zu Fuß, am Vorabend aus dem kleinen Kurort, unserem Dorf, abgesetzt hatten, rückten die Amerikaner mit einem nicht enden wollenden Konvoi von Panzern, Geschützen, Trucks und Jeeps am folgenden Tage ein. Kein Amerikaner marschierte, alle saßen auf, eine voll motorisierte Armee! Uns erschien solche Entfaltung militärischer Macht allenfalls für eine große Schlacht gemäß, die Amerikaner aber wandten solche Fülle für unser kleines Dorf auf: Maßstäbe setzten sich neu.⁷⁴

Einen ebenso wichtigen Faktor äußerer Wahrnehmung, der die Maßstäbe verschob, bildeten die Lebensformen der amerikanischen Soldaten in den deutschen Städten, zumal seit das Fraternisierungsverbot aufgehoben worden war. Zum Topos vom freundlichen GI gehört häufig noch der Hinweis auf die lässige Körperhaltung, Sportlichkeit und unverkrampfte Gebärdensprache dazu. Das war das Gegenbild zum deutschen Soldaten, der die Hacken zusammenschlug und Gehorsam praktizierte, zugleich der Hinweis auf einen anderen, nämlich zivilen Habitus in Lebensführung und sozialer Organisation selbst da, wo es sich um Militär handelte. Hier stießen im banalen Alltag die beiden gegensätzlichen Kulturmuster aufeinander, und die Durchdringung der deutschen Seite setzte ein: die Anverwandlung des zivilen Habitus. Das war ein befreiender Vorgang, weil es auf die allmähliche Ablösung von Verhaltenskodizes der Gesellschaft des deutschen Obrigkeitsstaates hinauslief und zugleich die Barrieren zwischen sozialen Schichten weiter relativierte. Die Jugend wurde zum Träger dieser Entwicklung, und dadurch wuchsen die neuen, ungezwungeneren Verhaltensstile allmählich in die Gesellschaft der Kanzlerdemokratie hinein. Die Erfahrungen eines Jugendlichen der bürgerlichen Mittelschicht unterschieden sich dabei im Anfang deutlich von denen der Arbeiterjugend: ‚Begegnung mit Amerikanern’ – im Alltag meiner Jugend war dies die gesunde, die frohe und leichte, ja auch die bemittelte Gegenwelt zur privaten Sozialisation. Mit meinen Freunden bewunderte ich rückhaltlos die Lässigkeit, die saloppen Umgangsformen, die Ungezwungenheit vor allem der Erwachsenen unter den Amerikanern. Während wir die Bekleidungsvorschriften unserer Eltern respektierten, die bei allen Beschaffungsnöten zwischen Sonntags-, Schul- und normalen Kleidern unterschieden, bewunderten wir neben den Halstüchern die grellen Farben der Socken, der Jacken, der Pullis der Amerikaner. Wir bewunderten ihre Lebensform, wir ahmten Gesten und Attitüden der Gesprächsführung nach. Unsere Helden waren Gary Cooper, James Stewart, Henry Fonda und Errol Flynn, vor allem aber Clark Gable. Dennoch: das blieb eine Gegenwelt, denn im privaten Bereich paßten wir uns den Erwartungen unserer Eltern an, benutzten Brillantine zur Bändigung unserer kammtrotzigen Haare. kleideten uns sonntags besser als an den Werktagen. Doch wir ahnten, dass es aus Rücksicht auf unsere Eltern geschah. Wir lernten die Umgangsformen deutscher

 Kahlenberg, Begegnung mit Amerikanern, S. 2.

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Tradition, und wir konnten sie frohen Herzens vergessen, wenn wir unter uns oder mit amerikanischen Freunden zusammen waren.⁷⁵

Die auffälligere Form des Wandels in den Verhaltensmustern zeigte sich während der fünfziger Jahre insbesondere bei Teilen der städtischen Arbeiterjugend.⁷⁶ Während die Jugendlichen aus dem bürgerlichen und bildungsbürgerlichen Mittelstand entweder das Doppelleben in Gegenwelten praktizierten oder sich in süffisanter Distanzierung demonstrativ für das französische Geistesleben, den Existenzialismus und Cool Jazz begeisterten oder gar bis 1967/68 im bürgerlichen Normengehäuse aus der Zwischenkriegszeit verharrten, setzte hier die Amerikanisierung der Jugendkultur mittels Rock’n’Roll und Halbstarkengebaren ein. Auf den ersten Blick mochte es scheinen, als ob sich eine Subkultur herausbilde, aber dieser Eindruck erfaßte das Phänomen nicht in seiner vollen Dimension. Denn jetzt begann in einem bestimmten Segment der Gesellschaft, angestoßen und unterstützt durch Einflüsse der amerikanischen popular culture, eine Informalisierung, die sich in den Nachkriegsjahrzehnten als dominierender kultureller Prozeß erwies und sukzessive die gesamte Gesellschaft erfaßte.⁷⁷ Mit der Jugendkultur der Fünfziger verschoben sich symbolische Machtbalancen zugunsten bisher Schwächerer – und zwar entlang von drei Linien. Es verbesserten sich die Positionen der jungen Generation gegenüber den Älteren, der Frauen (zumindest in Ansätzen) gegenüber den Männern und die der subalternen Klassen […] gegenüber den Gebildeten, Besitzenden und Regierenden. Wenn Subordinationssysteme aufgekündigt werden, wenn die ‚Unteren’ den ‚Oberen’ zunehmend wie Gleichgestellte gegenübertreten, wenn bisher als vulgär und plebejisch ausgegrenzte Geschmacks- und Habitusformen in der Öffentlichkeit toleriert werden, dann verschiebt sich das symbolische Kräfteverhältnis zugunsten des ‚Volkes’, der einfachen Lohnabhängigen.⁷⁸

Der Wandel der Verhaltensstile, der zuerst im Milieu der städtischen Arbeiterjugend greifbar wurde, ordnete sich einerseits in einen allgemeinen Trend in den westeuropäischen Ländern seit den fünfziger Jahren ein und muß andererseits als frühester Ausdruck des nationalen Sachverhalts interpretiert werden, dass durch die Einwirkungen des Dritten Reichs und des Krieges das Koordinatensystem der

 Ibid., S. 10.  Vgl. zum folgenden Maase, BRAVO Amerika, insb. S. 113 – 175.  Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Schröter. Frankfurt am Main 1989, S. 33 – 60.  Maase, Begegnung mit Amerikanern, S. 205.

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Gesellschaft des Deutschen Reichs zerstört war.⁷⁹ Deswegen gab es keine zeitgenössischen deutschen Vorbilder für die im städtischen Arbeitermilieu entstehende Jugendkultur – ein wichtiger Grund für die frühzeitige Aufgeschlossenheit gegenüber dem amerikanischen Einfluß. Zum „Kristallisationsmedium“ wurde mit dem Aufstieg von Elvis Presley der Rock’n’Roll.⁸⁰ Darum gruppierten sich die Moden im Verhalten und in der Kleidung und Haartracht; Geschmacksnormen im Umgang der Geschlechter miteinander formten sich durch Einflüsse des Tanzes, der Musik und einzelner amerikanischer Kultfilme neu. Die Verhaltensstereotypen blieben durchaus im Rahmen der geschlechtsspezifischen Rollenbilder, expressiv zur Schau gestellte Männlichkeit wurde gerade von den Mädchen, die James Dean oder Elvis anhimmelten, hoch geschätzt, und das verstärkte natürlich die Selbststilisierung der Jungen. Von „Kulturfeminismus“ war noch nichts zu spüren.⁸¹ Im deutschen kulturellen Kontext war es vielmehr von großer Bedeutung, dass die zur Schau gestellte Männlichkeit nach den Vorbildern der amerikanischen Helden jetzt absolut unmilitärisch, nicht-soldatisch daherkam. Hier begann die Anverwandlung des zivilen Habitus im Rahmen des traditionellen Rollenverständnisses; das Gegenbild zum Selbstverständnis der „deutschen Männer“ in den bürgerlichen Schichten der Zwischenkriegszeit und zur Militarisierung und Uniformierung beinahe der gesamten männlichen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten formte seine Konturen aus. Innerhalb eines Jahrzehnts, bis in die frühen sechziger Jahre, weitete sich die neue Jugendkultur aus dem Arbeitermilieu ins bürgerliche Lager aus. Der Gegensatz zwischen den einen Jugendlichen in Jeans, mit Elvistolle, Kofferradio, Matchbeutel, Motorrad und den anderen in kurzen Lederhosen, mit Wander-

 Ohne in diesem Zusammenhang die Debatte um Dahrendorfs These von der revolutionären Qualität der NS-Herrschaft wiederaufnehmen zu wollen, muss doch bedacht werden, was Elias, Studien über die Deutschen, S. 34 ff. und Anm. 2, festgestellt hat: Die alte Oberschicht des Deutschen Reichs mit ihrem starken Anteil an ostelbischem Adel, welcher den dynamischen Kern der Untertanengesellschaft und das Gelenk zwischen „Obrigkeit“ und „Volk“ gebildet hatte, war moralisch durch die anfängliche (oder auch durchgängige) Nähe zur autoritären Herrschaft des Nationalsozialismus beschädigt und, sofern heimatvertrieben, materiell marginalisiert. Im Zusammentreffen mit der Demokratisierungs- und Umerziehungspolitik der Alliierten gab es keine Möglichkeit zur Rekonstituierung des alten Koordinatensystems. Klassen- und Schichtlinien traditioneller Art gehörten 1945 der Vergangenheit an, auch wenn die Menschen dies erst allmählich zu spüren begannen. Soziale Differenzierung musste sich nach neuen Kriterien ausformen, und so konnte „Amerikanisierung“ wirken. Vgl. auch Bernhard Schäfers, Die westdeutsche Gesellschaft. Strukturen und Formen, in: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre. Bonn 1993, S. 307– 315.  Maase, BRAVO Amerika, S. 100.  Ibid., S. 131– 140.

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sandalen, Rucksack und aufgeschnürtem Schlafsack für die „große Fahrt“ nahm deutlich ab.⁸² Verhaltensformen der bürgerlichen Jugend, die sich noch aus der Tradition der Jugendbewegung bzw. der bündischen Jugend herleiteten, traten in den Hintergrund und wurden mehr und mehr im nichtöffentlichen Raum gepflegt. Lässigkeit – in der bürgerlichen Erwachsenenwelt noch als „Schlaksigkeit von Halbstarken“ abgelehnt – wurde stilbildend. Die Kleidungsformen der Jugendlichen aus unterschiedlichen Schichten glichen sich allmählich an. Das verringerte die Scheidung entlang von Schichtlinien, und neue, subtilere Formen der Distinktion entstanden.⁸³ Die Tendenz zur Angleichung oder auch zum Abschleifen von schichtspezifischen Gegensätzen war durch die Lebensbedingungen der Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus infolge von Krieg, Heimatvertreibung, Ausbombung und allgemeiner Verarmung ohnehin gegeben.⁸⁴ Sie wurde verstärkt durch den ab 1953/55 flächendeckend spürbaren Anstieg des Wohlstands, der es Arbeitern, Angestellten, Beamten und Selbständigen allmählich erlaubte, Verhaltensformen der Konsumgesellschaft zu entwickeln.⁸⁵ Das verlief parallel mit der Herausbildung der neuen Jugendkultur und ihrer stetigen Ausbreitung aus der städtischen Arbeiterschaft ins Bürgertum hinein. Die Jugendkultur erwies sich mithin auch als Wohlstandskultur. Die „große Fahrt“ in neuer Form, zum Beispiel, ging weniger auf Schusters Rappen und mehr auf dem Moped oder Motorrad vonstatten. Ihre egalisierenden bzw. bereits egalitären Elemente standen in einem engen inhaltlichen Bezug zur Egalisierungstendenz in der Konsumgesellschaft. In den unteren Straten der Gesellschaft war die Bereitschaft zur Aufnahme moderner, amerikanischer Einflüsse im Konsum- und Freizeitverhalten am frühesten gegeben, weil sich hier die damit verbundene sozialkulturelle Egalisierung als Chance zur Emanzipation auswirkte. Das gehörte zu den Bedingungen für den

 Vgl. die Fotos Ibid., S. 79 f., S. 102.  Ibid., S. 183 ff. Zu prüfen wäre die These von Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main u. a. 1992, S. 544, dass die Theorie Bourdieus nur auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre passe. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982.  Vgl. Schäfers, Die westdeutsche Gesellschaft, S. 309 ff.  Dabei ist zu beachten, dass es beträchtliche einkommensbestimmte Unterschiede in den Konsumspielräumen und folglich in der Konsumfreudigkeit gab, aber das ändert nichts an dem grundlegenden Sachverhalt einer zunehmenden schichtenübergreifenden Konsumorientierung. Vgl. Michael Wildt, Am Beginn der ‚Konsumgesellschaft‘. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren. Hamburg 1994; Arnold Sywottek, Zwei Wege in die ‚Konsumgesellschaft‘, in: Schildt/Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau, S. 269 – 274.

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„Abschied von der Proletarität“ mit dazu.⁸⁶ Je stärker sich der Egalisierungstrend gesamtgesellschaftlich verfestigte, desto mehr bildeten sich Verhaltensmuster moderner Massenkultur aus, die ihrerseits dahin wirkten, die Massendemokratie als politisches und soziales System zu stabilisieren.⁸⁷ Derartige Formveränderungen hatten auf den ersten Blick mit den konkreten Umerziehungsmaßnahmen der westlichen, insbesondere der amerikanischen Besatzungspolitik nicht viel zu tun.⁸⁸ Aber das intentionale und das nicht-intentionale Moment im Handeln der Besatzungsangehörigen stammten beide aus der nationalen Kultur der Vereinigten Staaten und gehörten deshalb untrennbar zusammen. Daher erweisen sich die Erscheinungen von Amerikanisierung in den vordergründig so banalen Bereichen des materiellen Konsums und der Unterhaltung als politisch höchst relevante Faktoren, die zur Stabilisierung der – gegenüber der Weimarer Republik – neuartigen Demokratie in Westdeutschland beitrugen. Der Zusammenhang zwischen Formveränderungen im sozialen System und Demokratisierung ist in Umrissen auch zu erkennen, wenn man das Augenmerk auf das Bürgertum, zumal auf die bürgerliche Jugend richtet. Einschlägige Forschung fehlt allerdings noch. Mit Kaspar Maase läßt sich immerhin die These formulieren, dass die „antidemokratische Tendenz des kulturellen Antiamerikanismus der Weimarer Republik“ in den Bildungsschichten und im Besitzbürgertum nach 1945 noch fortlebte.⁸⁹ Der Kalte Krieg trug dazu bei, das traditionell vorwiegend antikommunistische deutsche Bürgertum an die Seite der USA, der Schutzmacht westlicher Freiheit, zu drängen, und dadurch verminderte sich der „politische Antidemokratismus“, der dem „kulturellen Antiamerikanismus“ zu eigen war.⁹⁰ Im Bürgertum erfolgte deshalb die Akzeptanz der politischen De-

 Josef Mooser, Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Conze, Werner/Lepsius, M. Rainer (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem. Stuttgart 1983, S. 143 – 186, insb. S. 162– 175.  Vgl. M. Rainer Lepsius, Sozialstruktur und soziale Schichtung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Lepsius, M. Rainer (Hrsg.), Demokratie in Deutschland. Göttingen 1993, S. 145 – 174, hier S. 149: „Die Arbeiterbewegung hat sich von einer Klassenorganisation mit Betonung von Werten einer Gegenkultur zur herrschenden Kultur und eines homogenen Binnenmilieus zur umfassenden Vertretung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmer entwickelt und ist auf vielfältige, institutionell gesicherte Weise an den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen in der Gesellschaft beteiligt.“  Deswegen werden sie im wichtigsten neuen Buch zum Thema überhaupt nicht in die Analyse einbezogen: Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie.  Maase, BRAVO Amerika, S. 194, S. 204– 219.  Ibid., S. 192. Zu pauschal erscheint die auf Europa insgesamt bezogene Formulierung in der ansonsten Österreich gewidmeten Arbeit von Reinhold Wagnleitner, Coca-Colonisation und Kalter

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mokratie früher als die aktive Teilnahme an der Demokratie als sozialem System.⁹¹ In den Kreisen der bürgerlichen Jugend begann eine intensive Anverwandlung amerikanischer Kulturmuster im Verlauf der fünfziger Jahre, bei der sich der Einfluß durch die neuen Interaktionsformen der Arbeiterjugend mit den Wirkungen der Amerikahäuser und der Austauschprogramme vermischte. Auch die bürgerlichen Jugendlichen praktizierten andere Umgangsformen, Lässigkeit kehrte ein. Zwar gewandeten sie sich gern nach dem Vorbild der Existentialisten schwarz und beanspruchten damit – im Rahmen ihrer fraglos nach Westen gerichteten Orientierung – französisch geprägte Intellektualität. Aber wenn sie Cool Jazz hörten und darüber diskutierten, hockten oder lagen sie auf dem Fußboden; die Zigarette im Mundwinkel oder in der Hand gehörte unbedingt dazu. Der Kontrast zur steifen Förmlichkeit der gewohnten wohlanständigen bürgerlichen Umgangsformen war gegeben, und man unterschied sich obendrein deutlich von den Klampfe schlagenden Jugendlichen aus der Wandergruppe am Lagerfeuer.⁹² Die bürgerliche Jugend vollzog die Hinwendung zu westlichen, am amerikanischen Vor- und Gegenbild geschulten Verhaltensmustern im Verlauf von gut einem Jahrzehnt seit Anfang/Mitte der fünfziger Jahre. In den rebellischen Zeiten der Studentenbewegung wurde erkennbar, mit welcher Intensität hier ein Prozeß der Informalisierung, individuellen Emanzipation und Demokratisierung des sozialen Verhaltens abgelaufen war. Während dieser Zeit hatte sich auch der traditionelle bürgerliche Antiamerikanismus, das Erbe aus der Epoche vor 1945, deutlich verändert. In dialektischer Verbindung mit der kulturellen Amerikanisierung wurde aus dem alten Antiamerikanismus etwa eines Adolf Halfeld eine durchweg ideologisch begründete – antikapitalistische, antiimperialistische, antipragmatistische – Abwehrhaltung, die es erlaubte, sowohl „Woodstock“ mitzuvollziehen als auch die Aversion der Väter gegen die Vereinigten Staaten unter veränderten politischen Vorzeichen fortzuführen. Dieser Zusammenhang

Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien 1991, S. 72 f.: „Waren die antikommunistischen Mehrheiten, vor allem die Eliten, in Europa auch äußerst dankbar für die ökonomische und militärische Unterstützung durch die USA, die am Ende des Zweiten Weltkriegs im wesentlichen die Kontinuität der extrem geschwächten gesellschaftlichen Ordnung garantierte, so bedeutete doch die propagierte Nachäffung des American-way-of-life potentiell nicht mehr und nicht weniger als eine Aufforderung zum kulturellen Selbstmord.“  Das einzige Beispiel für eine Teilnahme an der Demokratie als sozialem System in der Frühgeschichte der Bundesrepublik dürfte die „Ohne mich“-Bewegung gegen die Wiederbewaffnungspolitik in den Jahren 1951/52 gewesen sein; zur Entfaltung kam das erst zwischen 1957 (Protest gegen die atomare Bewaffnung) und 1962 (SPIEGEL-Krise). Vgl. Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale.  Maase, BRAVO Amerika, S. 183 ff., S. 190 ff.

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harrt noch seiner systematischen Erforschung. In jüngster Vergangenheit stimmte das allerdings einen kritischen Beobachter nachdenklich: „Ob die Integration in den politischen und institutionellen Westen nach 1945 derartig tiefe Wurzeln geschlagen hat, daß dieses Land auch in einem kulturellen Sinne als westlich gelten kann, […] stellt sich als besorgte Anfrage an die Zukunft.“⁹³ Sind die Deutschen also Flachwurzler in der ideellen Westlichkeit, und wären in den Entwicklungen des westdeutschen Bürgertums womöglich die Zusammenhänge aufzuspüren, die eine solche Diagnose erlaubten?

2.3 Ideelle Westorientierung intellektueller Eliten in der Bundesrepublik Nun ist über das deutsche Bürgertum im Modernisierungsprozeß des 20. Jahrhunderts bislang erst unzureichend geforscht worden. Fragt man gar nach den Wirkungen von Modernisierung als Amerikanisierung und richtet dabei den Blick auf die Jahrzehnte nach 1945, gerät man vollends in unerschlossenes Gelände.⁹⁴ Unter diesen Bedingungen hat es sich als lohnend erwiesen, erst einmal Schneisen zu schlagen und nach dem Anteil von intellektuellen Elitenzirkeln – die in der deutschen Gesellschaft der Jahrhundertmitte dominierend bürgerlich sozialisiert waren – an der ideellen Westorientierung und, damit verknüpft, an der kulturellen Amerikanisierung zu fragen. Im folgenden geht es deshalb darum, eigene Forschungen in dieser Richtung⁹⁵ vorzustellen und die bisherigen, noch punktuellen Ergebnisse zu erörtern. Sie bringen sowohl die Beharrrungskraft politisch-ideeller Orientierungen aus der Zeit des Deutschen Reichs ans Licht als auch die starke Wirkung von – infolge des Bruchs 1945 und des beginnenden

 Dan Diner, Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein Essay. Frankfurt am Main 1993, S. 117– 167.  Der Abschnitt „Strukturen und Formen der westdeutschen Gesellschaft“ im Band von Schildt/Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau, S. 305 – 430, behandelt Familie, Jugend, Flüchtlinge, Arbeiter-Angestellte-Frauen, Unternehmer, Soldaten, protestantisches Milieu und Katholizismus. Die kultursoziologische Studie von Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, insb. S. 531– 549, zielt auf die „Annäherung an eine ganzheitliche Gesellschaftsgeschichte“ und blendet den determinierenden Zusammenhang zwischen Modernisierung und Amerikanisierung beim Blick auf die „Metamorphose von Großgruppen“ aus.  Die folgenden Ausführungen skizzieren ein Forschungsprojekt, das unter dem Titel „,Westernization’. Forschungen zur politisch-ideellen Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft in den fünfziger und sechziger Jahren“ mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen durchgeführt wird. Ich danke an dieser Stelle Michael Hochgeschwender, Gudrun Kruip und Thomas Sauer für kritische Lektüre und Diskussion des vorliegenden Texts.

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Kalten Krieges erforderlichen – atlantisch-westlichen Einflüssen auf alle die, die an der Gestaltung der Nachkriegsgesellschaft einen aktiven Anteil nehmen wollten. Untersucht wurden Multiplikatoren der Ideenwelt einer kulturellen Westlichkeit, die nicht als Angehörige der alliierten Stellen oder als deren deutsche Partner im Rahmen der Wiederaufbau- und Neuordnungspolitik tätig waren. Es handelte sich dabei um ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, deren gemeinsames Kennzeichen in dem Willen oder der Bereitschaft zu einer politisch-ideellen Neuorientierung bestand. Sie konnten durch ihre fachliche und oftmals auch durch ihre lebensgeschichtlich bedingte Qualifikation und über ihr jeweiliges Tätigkeitsfeld als Multiplikatoren in der Nachkriegsgesellschaft wirken: Journalisten, Schriftsteller, Kirchenleute, Industrielle, Gewerkschafter, Wissenschaftler. Ihre Ziele verfolgten sie, indem sie sich zu mehr oder weniger informellen Zirkeln zusammenschlossen. Da man es in ihrem Fall mit Interaktion im vorpolitischen Raum zu tun hat, geraten diese Gruppierungen nicht in den Blick derjenigen Forschung, die mit politikhistorischem Ansatz nach dem politischen und administrativen Führungshandeln in der Nachkriegszeit fragt, und ebensowenig lassen sie sich mit dem methodischen Instrumentarium der alltagsgeschichtlichen Erforschung von Coca-Kolonisation und Jugendkultur erfassen. Spürt man jedoch dem geistigen Klima in der Nachkriegsgesellschaft nach, den Modalitäten und den Trägern der Meinungsbildung, sucht man nach Kommunikationskanälen und Kommunikationsnetzen, dann findet man ihren inneren Zusammenhang heraus und stößt auf intellektuelle Eliten, fluktuierend zwischen den Bereichen des Führungshandelns „von oben“ und der Alltagskultur, deren Anteil an einer westlich orientierten Meinungsbildung eingehender Analyse bedarf. Für diese Eliten gilt, dass sie einerseits in das politische, wirtschaftliche und kulturelle Gesamtphänomen der Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft eingebunden und andererseits durch unterschiedliche, nicht immer vergleichbare Wertorientierungen aus der Zwischenkriegszeit und der letzten Phase der Wilhelminischen Epoche geprägt waren. Sie wirkten nach 1945, indem sie die Schaltstellen und die Mechanismen der Kommunikation unter Intellektuellen beeinflußten, ohne dies im Auftrag der westlichen Mächte, indes manchmal durchaus in Abstimmung gerade mit den Amerikanern zu tun. Sie öffneten die Kommunikationswege für andere Ideen, Informationen, Wertvorstellungen, Ideologeme; damit blockierten oder erschwerten sie den Fluß traditionellen Gedankenguts. So wirkten sie in Richtung auf eine kulturelle Adaption Westdeutschlands an die westliche, von den USA beherrschte Nachkriegswelt. Von ideeller Westorientierung zu sprechen, erfordert zunächst, definitorisch klarzulegen, was für die Zeit nach 1945 unter „Westen“ zu verstehen war, um danach deutlicher bestimmen zu können, wie sich eine ideelle Orientierung nach

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„Westen“ in das Gesamtphänomen der Amerikanisierung der Nachkriegsgesellschaft einfügte. Eingedenk der politisch-ideologischen Konstellation in der Zwischenkriegszeit und der Propaganda in England und den USA während des Zweiten Weltkriegs ist der „Westen“ als eine Wertegemeinschaft anzusehen, in der die Vereinigten Staaten tonangebend waren. Das Verständnis bzw. Selbstverständnis des „Westens“ umschloß ein Stereotyp, welches zum Zwecke kämpferischer Abgrenzung gegen die Totalitarismen der Zeit vor und nach 1945 gebraucht wurde. Darauf ist mit Nachdruck hinzuweisen, weil sich dieses Stereotyp „Westen“ keineswegs mit den gesellschaftlichen Realitäten der „freien Welt“ decken mußte und die ideelle Westorientierung in Deutschland mehr dem Stereotyp galt und weniger den Gegebenheiten in den USA. Die dem „Westen“ zugeschriebenen Werthaltungen lassen sich in drei verschiedenen, indes eng miteinander vermittelten Bereichen bestimmen: in einem primär sozialökonomischen, einem primär politischen und einem primär kulturellen Bereich. Im sozialökonomischen Bereich treffen wir auf den bereits bekannten Sachverhalt der maßstab-verändernden Faszination, die auf die Menschen im Nachkriegsdeutschland von einer umfassend technisierten Welt ausging, wie man sie durchgängig mit den USA assoziierte. Hier vermischten sich Erinnerungen an Argumente der Amerikanismus-Debatte aus den zwanziger Jahren mit den konkreten Eindrücken vom amerikanischen Militär und von amerikanischer Wirtschaftshilfe mittels CARE und Marshall-Plan. Diese Welt erschien aufgrund des hohen Grades an Technisierung unerreichbar überlegen und verfügte über einen kaum vorstellbar hohen Lebensstandard. Mit der Erfahrung der materiellen Überlegenheit des amerikanisch geprägten „Westens“ während der Nachkriegszeit korrespondierte die Vorstellung vom individuellen Reichtum in den USA, den dort prinzipiell jeder Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten erwerben könne. Damit war Gleichheit postuliert im Sinne des „Wohlstands für alle“, so dass sich hier – im sozialökonomischen Bereich der Vorstellung vom „Westen“ – jetzt der schon erwähnte konzeptionelle Pragmatismus der Theoretiker des New Deal, welche die Klassenkonflikte durch Wirtschaftswachstum zu überwinden hofften, mit dem Gleichheitspostulat verquickte. Mithin umschrieb „Westen“ im Bereich der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung Vorstellungen, die – verglichen mit den deutschen Gegebenheiten vor dem Krieg – neuartig und andersartig erschienen und die Hoffnung auf Fortschritt, auf Wohlstand und erhöhte soziale Mobilität in der Nachkriegsgesellschaft Westdeutschlands begründeten. Die „westlichen“ Werthaltungen im politischen Bereich richteten sich auf die Demokratie. Hier verband sich die Rückorientierung auf die liberalen Traditionen des mit dem europäischen Westen verbundenen Deutschland aus dem 19. Jahrhundert mit einer neuen Form von Ideologiegebundenheit. Nach 1945 wies die

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Vorstellung von „westlicher Demokratie“ schon bald einen direkten Bezug zum Antikommunismus auf, woraus die „Ideologie der Westintegration“ entstand: Es handelte sich um eine Ideologie, die wertgebunden war an idealtypische Vorstellungen einer demokratischen Ordnung auf der Basis von Freiheit, Individualität und Marktwirtschaft und die sich als schroffe Antithese der Ideologie der Volksdemokratie im Ostblock darstellte. Diese idealtypischen Vorstellungen blendeten die Realität in den westlichen Ländern und vor allem im Vorbildland USA – die Benachteiligung der Farbigen zum Beispiel – völlig aus. Sie waren und blieben ideologisch. Im kulturellen Bereich erfolgte eine Aneignung von Wertvorstellungen vor allem derart, dass sich hier die individuelle Selbstverwirklichung als Abkehr von einer sozial normativen Gemeinschaftsidee vollzog, die die Freiheit und Vielfalt von Geist und Kultur, von Wissenschaft und Kunst beschwor und dies mit einer nachdrücklichen Betonung des zivilen Habitus nach amerikanischem Muster verband. Parallelen zu den neuen Verhaltensformen der Jugend waren unübersehbar. In jedem dieser drei Bereiche fanden nun die mit dem „Westen“ assoziierten abstrakten Werte ihre spezifische Ausformung; besonders prägnant war das erkennbar am Beispiel des Verständnisses von „Freiheit“: als freie Marktwirtschaft, als freiheitliche demokratische Grundordnung sowie als Freiheit im Sinne von individueller Vielfalt in Wissenschaft und Kunst sowie prononciertem Antitotalitarismus. Die mit dem „Westen“ assoziierten Werte waren im strengen Sinne idealtypische bzw. stereotype Abstraktionen, und als solche bildeten sie die Ausgangsbasis für die ideelle Westorientierung intellektueller Eliten in der Bundesrepublik. Das vollzog sich weniger direkt und formte sich weniger konkret aus als einzelne Maßnahmen politischer Schulung in der Umerziehungsphase oder die Übernahme von Moden amerikanischer Medienstars, aber die Aktivitäten und Wirkungen waren dennoch beträchtlich.⁹⁶

 Zu untersuchen wären hier etwa Unternehmer und Gewerkschafter, Angehörige von Wissenschaftsverbänden,Verleger, ihre Verlagsprogramme und Autoren, Journalisten in Presse, Funk und Fernsehen, Kommentatoren des geistigen Klimas und Mentoren des politischen Feuilletons, schließlich kirchliche Kreise. − Im Tübinger Forschungsprojekt stehen drei Arbeiten vor dem Abschluß. Sie behandeln die Beeinflussung des geistigen Klimas und des politischen Feuilletons durch die deutsche Sektion im „Kongreß für kulturelle Freiheit“, die Redakteure des Axel Springer-Verlages sowie den „Kronberger Kreis“ im westdeutschen Protestantismus. In der Bearbeitung befinden sich zwei Studien über Ernesto Grassi und „rowohlts deutsche enzyklopädie“ und über Gewerkschaftseliten im Prozeß der ideellen Westorientierung. Eine Arbeit über die Entwicklung ausgewählter Wissenschaftsverbände in diesem Prozeß befindet sich im Planungsstadium. − Zum Thema der Rundfunk- und Fernsehjournalisten ist ein eigenes Forschungsprojekt an der Universität Osnabrück in Angriff genommen worden. − Die Forschungen

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Als besonders prägnantes Beispiel kann hier die Rolle der Deutschen im „Kongreß für kulturelle Freiheit“ (CCF) dienen.⁹⁷ Dieser Kongreß war eine in den USA verankerte, ansonsten aber westeuropäisch-amerikanische Gruppierung fortschrittsorientierter, antitotalitärer Linksliberaler, deren Atemluft der ideologische Konflikt im Kalten Krieg war; das Internationale Sekretariat befand sich in Paris. Die Geschichte des Kongresses reicht in die dreißiger Jahre zurück und führt ins Umfeld des Spanischen Bürgerkriegs und des Hitler-Stalin-Pakts, weil damals viele der intellektuellen „fellow travellers“ ihre Hingabe an den Stalinismus verloren und sich in einem mühevollen Konversionsprozeß dem New Deal-Liberalismus zugewendet haben. Nach 1945 wurde dann in den USA die ideologische Parteinahme gegen die stalinistische Sowjetunion systematisch vorangetrieben und die weltweite Zusammenfassung antikommunistischer Intellektueller angestrebt. So bildete sich auch in Deutschland zwischen 1947 und 1949 der Nukleus für eine antitotalitäre Intellektuellenvereinigung, in der der amerikanische Journalist Melvin Lasky eine organisatorisch führende Rolle spielte. Lasky leitete die 1948 gegründete Zeitschrift „Der Monat“, und dieses Organ bildete dann auch den planerischen Kern für den 1950 in Berlin abgehaltenen „Kongreß für kulturelle Freiheit“. Ende Juni 1950, unmittelbar nach dem Beginn des Koreakriegs, trafen sich etwa 120 Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Politiker aus 21 Ländern der gesamten „freien Welt“ und verabschiedeten ein Manifest, das den entschiedenen Kampf gegen den Kommunismus propagierte. Arthur Koestler hatte es maßgeblich mitverfaßt und trug es auch vor. Seine Schlußwendung hieß: „Die Freiheit hat die Offensive ergriffen!“ Diese Offensive einer sehr spezifisch verstandenen Freiheit richtete sich indessen nicht nur gegen den Kommunismus, sondern förderte – im Verlauf der fünfziger Jahre zunehmend – auch die Verbreitung gesellschaftsphilosophischer Denkmuster amerikanischer Provenienz und trug damit zur Amerikanisierung des sozialtheoretischen Diskurses in den westeuropäischen Ländern bei. In Deutschland bestand die Zielsetzung des Kongresses, der sich nach 1955 mit spektakulären Tagungen eher zurückhielt und sich als Vereinigung von Intellektuellen konstituierte, darin, gegen die Traditionen des politischen und

zur Unternehmerseite werden abgedeckt durch die maßgeblichen Arbeiten von Volker R. Berghahn, Unternehmer und Politik; Volker R. Berghahn/Paul J. Friedrich, Otto A. Friedrich, ein politischer Unternehmer. Sein Leben und seine Zeit 1902– 1975. Frankfurt am Main u. a. 1993.  Die folgende Skizze stützt sich auf Michael Hochgeschwender, „Freiheit in der Offensive“? Die Deutschen im Kongreß für kulturelle Freiheit. Thesenpapier (ms.). Tübingen 1994. Eine überwiegend auf den englischsprachigen Raum begrenzte Studie bietet Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe. New York, NY u. a. 1989.

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kulturellen Sonderbewußtseins, gegen „die explosive Mischung aus Nationalismus, Idealismus und hegelianischer Staatsvergottung“⁹⁸ ein Gedankengut zu propagieren, in dem sich liberale Freiheitstheorien mit Kosmopolitismus und Pragmatismus verbanden. In der praktischen Arbeit ging es dann beispielsweise darum, gegen das wiedererstehende Korporationsstudententum eigene studentische Gruppen aufzubauen, oder auch darum, dem nachwirkenden Einfluß Kurt Schumachers in der SPD, seinem Nationalismus und Antikapitalismus gegenzusteuern, indem proamerikanische Sozialdemokraten zusammengeführt und in Gedankenaustausch gebracht wurden. Dem deutschen Exekutivkomitee gehörten zu Beginn der fünfziger Jahre eine Reihe von Personen an, die man als Zirkel niemals aufspüren könnte, wenn man entweder das politische oder administrative Führungshandeln der amerikanischen Behörden in der Bundesrepublik oder die Amerikanisierung des Alltagslebens untersuchte. Und doch standen diese Menschen programmatisch und aktiv in ihren jeweiligen Berufsfeldern für die ideelle Westorientierung ein: Carlo Schmid, Willy Brandt, Ludwig Rosenberg, Adolf Grimme, Fritz Eberhard, Eugen Kogon, Rudolf Pechel, Margarethe BuberNeumann, Rudolf Hagelstange, Theodor Plivier, Theodor Adorno, Bruno Snell, aber auch Stefan Andres und Georg Meistermann. Nicht allein die Intellektuellenzirkel des Kongresses dienten in den fünfziger und sechziger Jahren als Multiplikatoren eines liberalen Gedankenguts, welches gleichermaßen deutlich gegen den Marxismus wie gegen konservative Theorien⁹⁹ gerichtet war. Einflußreicher bei der Verbreitung einer genuinen Gesellschaftstheorie waren die Zeitschriften des Kongresses – deren Finanzierung die CIA und später die Ford-Foundation gewährleisteten: „Encounter“ in England, „Preuves“ in Frankreich, „Tempo Presente“ in Italien, „Forum“ in Österreich und eben „Der Monat“ in Deutschland. Melvin Lasky gab die im Auftrag der US-Behörden gegründete Zeitschrift heraus und gestaltete sie so, dass der „Monat“ in den fünfziger und frühen sechziger Jahren als das führende Organ zu Themen aus Politik, Gesellschaft und Kultur in der Bundesrepublik galt. Wie bei „Forum“, „Encounter“ und den anderen Journalen bestand die Zweckbestimmung des „Monat“ insbesondere darin, die amerikanischen linksliberalen Gesellschaftstheorien aus der Zeit des New Deal in die Diskussion der westeuropäischen intellektuellen Eliten einzuspeisen und dort in Zirkulation zu halten. Die Vorstellung von der

 Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 8.  In den fünfziger Jahren war besonders die Ideologie vom „christlichen Abendland“ hervorstechend, die von ultrakonservativen und deutlich amerikafeindlichen Kreisen im süddeutschbayerischen Katholizismus vertreten wurde, indes bis ins Rheinland ausstrahlte. Vgl. dazu die ältere Studie von Helga Grebing, Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1971.

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Lösung gesellschaftlicher Probleme mittels ideologiefreier Sozialtechnologie und der Ideologie vom „Ende aller Ideologien“ wurde so nationenübergreifend in Westeuropa über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren verbreitet. Das bewirkte die Amerikanisierung von Denkmustern und erschwerte zugleich anderen, konkurrierenden Strömungen – marxistischen, existentialistischen oder konservativen Theorieangeboten – die ungehinderte Verbreitung, indem Kommunikationskanäle dauerhaft mit diesen Theorien besetzt oder gar blockiert waren. Die westdeutsche Gesellschaft wurde gewiß stärker beeinflußt als die französische oder englische, weil hier nach dem Ende des Nationalsozialismus Sinnangebote und soziale Ordnungsvorstellungen stärker gebraucht wurden. Gleichwohl vermag der „Kongreß für kulturelle Freiheit“ anschaulich zu zeigen, in wie starkem Maß die USA nach 1945 (im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit) kulturellen Einfluß und eine Homogenisierung der gesellschaftstheoretischen Ordnungskonzepte bei den westeuropäischen Bündnispartnern erstrebten; bei den Deutschen trug das zur Abkehr vom Sonderbewußtsein und zur ideellen Westorientierung in den meinungsbildenden Schichten bei. Neben seiner Funktion als Katalysator revisionistischer Kräfte innerhalb der europäischen Sozialdemokratie dient der CCF auch als Vehikel im Dienste der Hegemonialisierung einer bestimmten Form von ‚Westlichkeit’, der man im Kongreß generelle Universalisierbarkeit nachgerade axiomatisch unterstellte. Das Ziel war weniger die Ausschaltung konkurrierender Denkweisen innerhalb der westlichen Intellektuellenzirkel, sondern ihre Reinterpretation. […] Damit bewegte sich der Kongreß weitgehend auf dem Niveau der zeitgenössischen angelsächsischen philosophischen Diskurse, die ebenfalls vom Primat des klassischen Liberalismus gekennzeichnet waren. Speziell auf Deutschland bezogen konnte das nur meinen, daß man an der Dominanz Heideggerschen Philosophierens an deutschen Universitäten andauernde und weitgehende Kritik übte. Der Kampf des CCF galt also tatsächlich nicht nur dem Gegner von außen, d. h. dem Totalitarismus, sondern wurde zunehmend auch ein Kampf um kulturelle Hegemonie innerhalb des ‚Westens’.¹⁰⁰

Die Reichweite des „Monat“ dürfte begrenzt gewesen sein, obwohl die Zeitschrift im geistigen Klima der Nachkriegszeit die führende Rolle spielte; die Adressaten und Leser waren die liberal gesinnten Menschen in den Bildungsschichten, gewiß eine im Meinungsbildungsprozeß besonders wichtige Leserschaft, aber dennoch eine Minderheit.¹⁰¹ Gleichzeitig dürfte der „Monat“ aber am meisten zur theoretischen Unterfütterung der ideellen Westorientierung bundesdeutscher Intellektueller beigetragen haben. Den Kontrast hierzu bildeten die Zeitungen des Axel Springer-Verlages, die auf breite Leserschaft respektive auf ein Massenpublikum

 Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 19.  Die Auflagenhöhe betrug in den fünfziger Jahren etwa 20 000.

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zielten, eines Verlages obendrein, der − nach verschiedenen Indizien – in seiner Aufbauzeit von der CIA gefördert wurde.¹⁰² Der Springer-Verlag trug durch seine scheinbar unpolitische, aber von entschiedener Loyalität gegenüber dem politischen System und der gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik geprägten Haltung gerade mit den beiden maßgeblichen Zeitungen „Welt“ und „Bild“ zur Stabilisierung des westdeutschen Teilstaats bis in die Mitte der sechziger Jahre unzweifelhaft bei. Die optimistische Grundstimmung in seinen Blättern, die den Blick gern frohgemut in die Zukunft richteten, spiegelte viel von der Atmosphäre der Adenauer-Ära ab Mitte der fünfziger Jahre, von der Wiederaufbaumentalität im „schwitzenden Idyll“.¹⁰³ Springers Zeitungen repräsentierten das öffentliche Meinungsklima, indem sie Stimmungslagen und Trends aufnahmen, bündelten und reproduzierten. Es nimmt daher nicht wunder, dass der konservative Grundzug und das Ordnungsstreben der Wiederaufbaugesellschaft¹⁰⁴ ihren Reflex im Eintreten der SpringerBlätter für Ruhe und Ordnung hatten. Diese weithin bekannten Eindrücke ergeben jedoch nicht das vollständige Bild. Axel Springers Aufstieg verknüpfte sich mit der Gründung der „Bild“-Zeitung 1952 und dem Erwerb der „Welt“ 1953. Er wurde zum Medienzar und entwickelte den Anspruch auf Meinungsbildung in einer Zeit, als die wirtschaftliche und militärische Integration der Bundesrepublik in die westlichen Bündnisstrukturen die Gemüter erhitzte und die Nation in den 15 Monaten zwischen Stalins Verhandlungsangebot über eine Wiedervereinigung vom 10. März 1952 und dem Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 die staatliche Teilung besonders scharf empfand. Springers Zeitungen unterstützten hier den Westkurs der Bonner Bundesregierung unter Adenauer nicht, sondern opponierten vielmehr gegen die vorbehaltlose Orientierung nach Westen und plädierten für eine neutrale, sogar pro-östliche Haltung um des Wiedergewinns des nationalen Staates willen. „Bild“ und „Welt“ vertraten bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre hinein in außenpolitischen Fragen eher die Schumacher-Tradition der SPD. Das lag am Einfluß Hans Zehrers, des Mannes aus dem „Tat“-Kreis mit seinen Verbindungen

 Gudrun Kruip, Das ‚Welt‘-‚Bild‘ des Axel Springer Verlages. Thesenpapier (ms.). Tübingen 1994. Die Förderung durch die CIA läßt sich solange nicht definitiv belegen, wie die CIA-Akten für die Forschung noch verschlossen sind.  Hermann Glaser (Hrsg.), Bundesrepublikanisches Lesebuch. Drei Jahrzehnte geistiger Auseinandersetzung. München u. a. 1978, S. 355.  Axel Schildt/Arnold Sywottek, „Wiederaufbau“ und „Modernisierung“. Zur westdeutschen Gesellschaftsgeschichte in den fünfziger Jahren. in: Aus Politik und Zeitgeschichte 6 – 7, 1989, S. 18 – 32, hier S. 31.

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zum Eugen Diederichs-Verlag;¹⁰⁵ Axel Springer hatte Zehrer 1953 als Chefredakteur der „Welt“ eingestellt und betrachtete ihn als seinen politischen Mentor. In der Gestalt Zehrers fassen wir ein Phänomen im Prozeß der ideellen Westorientierung intellektueller, ganz überwiegend bürgerlicher Eliten, das sich scharf kontrastierend von der Haltung der „Kongreß“-Mitglieder und der Autoren des „Monat“ abhob. Über den Grad an Repräsentativität seiner Position für einen Teil des Bildungsbürgertums – orientiert am Gedanken der Reichsnation, eher aus Nord oder Mitteldeutschland oder aus den Ostgebieten stammend als aus Westoder Süddeutschland, mehr geistes- als naturwissenschaftlich oder technisch ausgebildet, überwiegend evangelischer Konfession – läßt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand noch keine Aussage machen. Dass sie ein gewisses Maß an Repräsentativität hatte, darf indessen als Hypothese formuliert werden. Zehrer trug seine Auffassungen aus der Zwischenkriegszeit in die Nachkriegszeit hinein und blieb seinem prononciert nationalen Denken aus dem Umfeld der „Konservativen Revolution“ treu, mit dem der „Tat“-Kreis seit 1929 hinter der Galionsfigur des Generals von Schleicher eine Art von nationaler Elite gegen Thälmann und Hitler zusammenzubringen versucht hatte.¹⁰⁶ Dieses politische Denken stand in der geistigen Tradition des deutschen Sonderbewußtseins und implizierte grundsätzliche Distanz zum europäischen und atlantischen Westen.¹⁰⁷ Nach 1945 verband es sich mit der ebenso grundsätzlichen Befürwortung des demokratischen Wiederaufbaus sowie der freien Marktwirtschaft und begann sich darüber langsam dem europäischen und atlantischen Westen zu öffnen. Solange Zehrer der Mentor Springers blieb – bis etwa 1963 –, wirkte das auf die Haltung von Springers Zeitungen und insbesondere auf die „Welt“ ein. 1963 wurde es obendrein in den „vier Grundsätzen“ des Verlages, die für jeden Journalisten bei Springer bis heute verbindlich sind, festgeschrieben:¹⁰⁸ Förderung des nationalen Gedankens – hier im tagespolitischen Bezug formuliert als „Förderung der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit“ – sowie Ablehnung jedes politischen Extremismus von rechts und links. Hinzu kam dann der Grundsatz „Unterstützung der sozialen Marktwirtschaft“, mithin der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik, wie sie durch Marshallplan, Währungsreform und den „Umbau der herkömmlichen Strukturen, Organisationen und

 Vgl. Hans Hecker, Die Tat und ihr Osteuropa-Bild 1909 – 1939. Köln 1974.  Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. 3. erw. Aufl. Darmstadt 1989, S. 434 f.; Ebbo Demant, Von Schleicher zu Springer. Hans Zehrer als politischer Publizist. Mainz 1971.  Vgl. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980. S. 167– 177.  Kruip, Das ‚Welt‘-‚Bild‘ des Axel Springer Verlages, S. 7.

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Denkhaltungen“ der „Industriekultur“¹⁰⁹ Deutschlands unter amerikanischem Einfluß entstanden war. Der vierte Grundsatz akzentuierte die Haftungsgemeinschaft der Deutschen für den Mord am Judentum: Anerkennung des Lebensrechts des Staates Israel und Anerkennung der deutschen Schuld. Sieht man von diesem letzten Grundsatz, dem zentralen moralischen Imperativ deutscher politischer Kultur nach Hitler, einmal ab, dann findet man in klarem Gegensatz zur Haltung der linksliberalen Intellektuellen im Umfeld des „Kongresses für kulturelle Freiheit“ bei den Springer-Zeitungen eine im westdeutschen Bürgertum während der fünfziger und sechziger Jahre dem bisherigen Augenschein nach relativ verbreitete Einstellung, in der sich ein – in westliche Begrifflichkeit eingehüllter – nationaler kultureller Traditionalismus mit der Akzeptanz der amerikanisch geprägten, höchst dynamische Modernisierungskräfte freisetzenden Wirtschaftsordnung verband. Der Kitt zwischen solchem Traditionalismus und der vorbehaltlosen Befürwortung sozialökonomischer Modernisierungsdynamik war im Falle der Springer-Zeitungen besonders deutlich auszumachen, nachdem seit 1958 ein zunehmend kruder Antikommunismus die Linie des Verlages bestimmte. Es bedarf noch weiterer Forschung, bevor klar dargelegt werden kann, dass der Zorn der rebellierenden Studenten 1968 keineswegs nur aus dem momentanen Protest gegen den scharfen Antikommunismus und den Law and OrderJournalismus im Rahmen des Streits um die Notstandsgesetze resultierte, sondern sich gegen die Wertemuster des nationalen kulturellen Traditionalismus richtete. Dann wäre jener Protest auch als ein womöglich unreflektierter Ausdruck der Prägekraft des linksliberalen, amerikanisch dominierten Einflusses auf die westdeutsche bürgerliche Akademikerjugend zu interpretieren, die sich damals in neo-marxistische Gewänder hüllte und die Kritik am „imperialistischen“ Krieg der USA in Vietnam lautstark artikulierte. Schließlich stellten sich diese Zusammenhänge zwischen Kriegsführung und Studentenprotest in den Vereinigten Staaten selbst nicht sehr viel anders dar; obendrein waren die linken Intellektuellen die von den Blättern des Springer-Verlages am krassesten mißbilligte Gruppe, „weil sie sich nicht in das [von den Zeitungen propagierte] harmonische gesellschaftliche Miteinander einpaßten“,¹¹⁰ anders gesagt: weil sie Kritik übten an der Verbindung von deutschem kulturellen Traditionalismus Zehrerscher Provenienz mit der Befürwortung des westlich-amerikanischen Kapitalismus.

 Volker R. Berghahn, Wiederaufbau und Umbau der westdeutschen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 19, 1990, S. 261– 282, Zitate S. 282.  Kruip, Das ,Welt‘-‚Bild‘ des Axel Springer Verlages, S. 12.

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Sehen wir nun auf Zehrers Gegenspieler im konservativen protestantischen Umfeld, dem er selbst entstammte. Er war als Chefredakteur des evangelischen „Sonntagsblatts“ gewissermaßen ex officio mit von der Partie, als im November 1951 die Gründungsbesprechung eines protestantischen Elitenzirkels, des Kronberger Kreises, stattfand. Im Kronberger Kreis sammelten sich evangelische Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Lebens in der Bundesrepublik.¹¹¹ Voraussetzung für die Mitgliedschaft war, in einem kirchlichen Gremium oder einem kirchlichen Werk mitzuarbeiten, die Aufnahme erfolgte durch Kooptation: Der Kreis war eine informelle Veranstaltung und basierte auf Beziehungsnetzen. Er bestand von 1951 bis zum Ende der siebziger Jahre. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, gegenseitige Unterstützung bei der Durchsetzung evangelischer Interessen im beruflichen Aufgabenbereich der einzelnen Mitglieder zu leisten. Das richtete sich einerseits gegen die vermeintlich katholische Dominanz im westdeutschen Teilstaat, die viele Protestanten nach sieben Jahrzehnten der politischen und vor allem kulturellen Vorherrschaft des Nationalprotestantismus im Deutschen Reich als bedrohlich empfanden. Es richtete sich andererseits innerkirchlich gegen den Einfluß des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche im Umfeld von Martin Niemöller, einer Gruppierung, die sich an der Theologie Karl Barths orientierte und darüber tiefe Aversion gegen das westlich-liberale Verständnis von individueller Freiheit und gegen kapitalistische Wirtschaft nach amerikanischem Muster entwickelte. Der Kronberger Kreis wirkte als Interessengruppierung des westdeutschen Protestantismus, die DDR wurde von Anfang an nur als Beratungsgegenstand einbezogen. Angesichts des Mangels an demokratischer Tradition bei den deutschen Protestanten sollte hier eine doppelte Lobbytätigkeit entfaltet werden: zur Stabilisierung des evangelischen Einflusses in der vermeintlich katholisch dominierten Bundesrepublik und zur Stabilisierung der Bundesrepublik mittels Unterstützung der CDU-Politik in den fünfziger und sechziger Jahren. Das bedeutete Unterstützung der westlichen Integrationspolitik (u. a. deswegen nahm Hans Zehrer nach der Gründungsbesprechung nicht mehr teil), Unterstützung der Wirtschaftsordnung und der demokratischen Grundordnung in Bund und Ländern. Die Bedeutung des Kreises erhellt beim Blick auf die Mitglieder, von denen keines der SPD angehörte. Zunächst die Gründer: Eberhard Müller, Leiter der Evangelischen Akademie Bad Boll; Reinhold von Thadden-Trieglaff, Präsident

 Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus. Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises. Thesenpapier (ms.). Tübingen 1994.

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des Deutschen Evangelischen Kirchentages; Hanns Lilje, Bischof der Evangelisch Lutherischen Landeskirche Hannover. Als Vertreter der Politik gehörten unter anderem dazu: Hermann Ehlers, Präsident des Deutschen Bundestages und Gründer des Evangelischen Arbeitskreises der CDU; Ernst Lemmer, Mitglied der West-Berliner CDU und Kabinettsminister unter Adenauer und Erhard in verschiedenen Ressorts; Kai Uwe von Hassell, Ministerpräsident von SchleswigHolstein, in den sechziger Jahren Verteidigungs- und Vertriebenenminister; Gerhard Schröder, Gerhard Stoltenberg und Richard von Weizsäcker kamen ab dem Ende der fünfziger Jahre hinzu. Aus der Publizistik waren im Kronberger Kreis versammelt: Ernst Friedländer, im Anfang Chefredakteur der „Zeit“; Wilhelm Plog, seit 1957 Chefredakteur der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ und Geschäftsführer des „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts“; ferner als Nachfolger von Hans Zehrer in der Chefredaktion des „Sonntagsblatts“ Axel Seeberg; ab Ende der fünfziger Jahre fand auch Klaus von Bismarck den Weg in den Kronberger Kreis. Die Wirtschaftsinteressen repräsentierten: Otto A. Friedrich, Vorstandsvorsitzender der Hamburger Phoenix-Gummiwerke, Ende der sechziger Jahre Präsident des BDI; Heinrich Kost, Generaldirektor der Kohlebergbauleitung in Essen und Vizepräsident des BDI; Robert Pferdmenges, Privatbankier und persönlicher Freund Konrad Adenauers. Die Kirche selbst war durch Hanns Lilje, Eberhard Müller und Reinhold Thadden-Trieglaff vertreten, neben ihnen noch durch Heinrich Giesen, den Generalsekretär des Kirchentages; Hans Puttfarcken, in den sechziger Jahren Präses der Synode der EKD. Betrachtet man die typischen Elemente in der Biographie dieser (und der meisten anderen) Angehörigen des Kronberger Kreises und setzt sie in Beziehung zur Tätigkeit dieses Zirkels, läßt sich eine vorsichtige Antwort auf die Frage nach dem Anteil eines Teils der intellektuellen Eliten in der Bundesrepublik am Prozeß der ideellen Westorientierung formulieren: des in kirchliche Strukturen eingebundenen, bürgerlich-konservativen, marktwirtschaftlich orientierten und deutlich antikommunistischen Protestantismus.¹¹² Fast alle, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zum Kreis gehörten, wurden zwischen 1895 und 1905 geboren und verlebten die Jugend noch im Kaiserreich. Im Hinblick auf protestantische Konfessionsbindung handelte es sich überwiegend um Lutheraner. Das Studium fiel meist in die Zeit der Weimarer Republik, und hier bildete die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV) einen Kristallisationskern. Die DCSV stand gegen die farbentragenden schlagenden Korporationen und damit in Opposition zum DNVP-nahen geistigen Klima im nationalprotestantischen Bürgertum der Weimarer Republik. Thadden, Müller

 Ibid., S. 8 ff.

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und Lilje gehörten zur Führungsspitze der DCSV, die ihnen eine ganze Reihe von Kontakten auf internationaler Ebene ermöglichte. Der deutsche Verband war Mitglied im Christlichen Studenten-Weltbund, der nach 1945 als Pflanzstätte und Versuchsfeld der Ökumene bezeichnet wurde. Durch diese Verbindungen kam allein Lilje in den Jahren zwischen 1926 und 1939 zu insgesamt 18 Auslandsreisen, davon fünf nach England und drei in die USA. Während des Dritten Reichs kamen die späteren Mitglieder des Kronberger Kreises beruflich nicht voran, sie sammelten sich in der Bekennenden Kirche, von wo ihre spätere gemeinsame Arbeit den Ausgang nahm. Zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik waren sie etwa 50 Jahre alt und prädestiniert für Führungsaufgaben: Unbelastet vom Nationalsozialismus, ausgestattet mit intensiven internationalen Kontakten, in fast allen Fällen des Englischen mächtig und – man möchte sagen: selbstverständlich – nachdrücklich antikommunistisch. „Dies alles machte sie zu willkommenen Partnern der westlichen Alliierten, die hier eine Gruppe vorfanden, die den eigenen Interessen konform agierte. Da sie zugleich bürgerlich-konservative Anhänger des Unionsgedankens waren, die das Konzept der sozialen Marktwirtschaft bejahten und die Westintegrationspolitik der Bundesregierung grundsätzlich ebenso befürworteten wie deren innenpolitische Maßnahmen, wurden sie zu einem wichtigen Partner und ‚Mehrheitsbeschaffer’ der christdemokratischen Partei.“¹¹³ Der Kronberger Kreis repräsentierte den CDU-nahen Teil des bürgerlichen Protestantismus und wirkte zugleich auf dessen ideelle Orientierung ein. Mittels des personellen Netzwerks wurde dafür Sorge getragen, dass in neu zu besetzende Führungspositionen in Politik, Wirtschaft, Kirche und Medien Personen berufen wurden, die – möglichst schon aus der Zeit vor 1945 – Erfahrungen mit dem westlichen, vorzugsweise atlantischen Ausland aufwiesen und insofern weder besonders stark vom deutschen Sonderbewußtsein beeinflußt waren und deutschnationale Ressentiments reproduzierten noch persönliche Kontakte zu Amerikanern oder Engländern scheuten. Damit vollzog sich in einem Sektor der westdeutschen Gesellschaft im Verlauf der fünfziger und frühen sechziger Jahre ein Elitentausch, der die Anpassung an die neuen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten erleichterte. Diese Umorientierung bedeutete zwar die Abkehr von nationalprotestantischen Denkhaltungen aus der Zeit des Deutschen Reichs, sie paßte sich gut in die gesamtgesellschaftliche Amerikanisierung ein und trug ihren Teil dazu bei, diese zu verstärken, aber sie war dennoch keine reflektierte und insofern intendierte Ausrichtung auf ein anderes sozial-

 Ibid., S. 10.

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kulturelles Ordnungsmodell hin, vielmehr Anverwandlung und Mitvollzug, um den Zugang zu den Machtzentren neu zu erobern und dann zu sichern.

2.4 Schlußbemerkungen Die Forschungen im Themenbereich „ideelle Westorientierung intellektueller Eliten“ sind noch nicht weit genug fortgeschritten, um aus den hier präsentierten Einzelbeobachtungen bereits gesicherte Thesen ableiten zu können. Solange vor allem eine Analyse der ideellen Westorientierung gewerkschaftlicher Eliten noch nicht vorliegt, läßt sich die eminent wichtige Frage nicht beantworten, ob die gesellschaftstheoretischen Einflüsse des New Deal-Liberalismus in der Bundesrepublik weitere Verbreitung hatten, als das der „Kongreß für kulturelle Freiheit“ und die verschiedenen Sozialdemokraten im Umfeld des „Monat“ bewirken konnten. Dies ist aber erforderlich, um gerade mit Blick auf die Geschichte der SPD präziser bestimmen zu können, wie sich in ihr die Einflüsse des atlantischen Linksliberalismus mit der deutschen Tradition des demokratischen Sozialismus verbanden und welches Gewicht der Tatsache zuzumessen ist, dass der Zuwachs an protestantischen Kräften nach der Auflösung der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) 1957 nicht aus jenem Lager kam (und kommen konnte), welches der Kronberger Kreis repräsentierte, sondern aus dem Umfeld der kirchlichen Bruderräte, die sich der ideellen Westorientierung entgegenstellten. Ihre Kritik an den USA galt nicht nur dem Kapitalismus und dem westlichen Verständnis von der Freiheit des Individuums, sondern auch der sozialen Modernisierungsdynamik mit ihren inhumanen Implikationen. Deshalb, und nicht nur aus nationalen oder pro-östlichen Motiven, opponierten sie gegen die Übernahme amerikanischer Vorbilder und bildeten eine Barriere gegen die ideelle Westorientierung. Welche Bedeutung kam ihnen zu im Vergleich zu den Kronbergern, die aktive Bereitschaft zeigten, sich in der Westlichkeit einzuwurzeln, wenn auch nicht allzu tief? Und welche Bedeutung kommt dieser – im Protestantismus besonders markant ausgeprägten – antagonistischen Entwicklung zu, wenn die evangelischen Kirchen der DDR mit in die Betrachtung einbezogen werden? Damit ist das wichtigste Forschungsdefizit in diesem ohnehin noch wenig erschlossenen Gelände benannt: die Wirkung der westlichen Amerikanisierung auf die Gesellschaft der DDR. Bundesrepublik und DDR blieben im Verlauf der ganzen deutsch-deutschen Geschichte eng aufeinander bezogen; für die DDR galt das noch stärker als für die BRD. Man würde zu kurz greifen, wenn man nur die materielle Dimension von Amerikanisierung zum Gegenstand künftiger Forschung machte. Der „Verwestlichung“ der westdeutschen Gesellschaft, die sich als Amerikanisierung beschreiben läßt, entsprach nur eingeschränkt eine „Ver-

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östlichung“ der ostdeutschen Gesellschaft. Vielmehr verharrte diese einerseits in deutschen Traditionen aus der Zeit vor 1933 und vollzog andererseits, stimuliert durch das Fortschrittsdenken im östlichen System, in verzerrter Form westliche Entwicklungen mit. Blieb die ideelle Westorientierung davon ausgeschlossen?

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Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre Die 60er Jahre gelten als das Jahrzehnt eines entscheidenden politischen und gesellschaftlichen Wandels in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Übergang von den bürgerlichen Koalitionskabinetten unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard durch die Reformschleuse der Großen Koalition hindurch zur sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt und Walter Scheel zeigt das schon auf der Ebene der Bundespolitik sehr markant an. Die verbreitete Vorstellung von den 60er Jahren als Dekade des Aufbruchs und der Veränderungen verbindet sich jedoch fast noch mehr mit den Schlagworten Bildungsreform, Mitbestimmung und ‚Emanzipation‘ sowie Kritik am ‚Establishment‘, wodurch der Blickwinkel sehr stark auf das Jahr 1967/68 zugespitzt wird. Nicht selten ist es sogar so, dass die 60er Jahre mit ‚1968‘ mehr oder weniger identifiziert und alle Veränderungen jener Zeit dann aus der Wucht und den Wirkungen der Studentenrevolte abgeleitet werden. Diese grob vereinfachende Sicht übersieht, dass die Studentenbewegung in sich selbst ein Bestandteil des gesellschaftlichen Wandels war und nur deshalb überhaupt so viel Schubkraft entwickeln konnte. Die mannigfaltigen, scheinbar unspektakulären Veränderungen im Zeitraum von etwa 1957/58 bis 1972/73 ergriffen jedoch Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur samt und sonders und durchformten sie so tiefgreifend, dass erst während dieser Jahre die Gesellschaft der Bundesrepublik ihr unverwechselbar westdeutsches Profil ausbildete. ‚1968‘ gehörte in dieses Geschehen hinein und war vielleicht eine der besonders spektakulären Entwicklungen, dominierte indessen nicht darin. In der Geschichte der jungen Bundesrepublik vermischten sich Traditionsbestände aus der Epoche des Nationalstaats, die nach 1945/49 den Bedingungen der Zeit angepaßt worden waren, mit Einflüssen sowohl aus der völlig neuartigen internationalen Machtkonstellation des Ost-West-Konflikts als auch aus politischen und gesellschaftlichen Wertorientierungen, die im Zuge der bündnispolitischen Westintegration zur Geltung kamen. Die Mischform aus deutscher Tradition und westlichen Einflüssen, die weniger für das politische System als vielmehr für die politisch-ideelle Entwicklung der Gesellschaft charakteristisch war, markierte den eigentlichen Unterschied zwischen ‚Weimar‘ und ‚Bonn‘. Während in den 50er Jahren insbesondere die Institutionen des neuen Staats den Kontrast zwischen der zweiten und der ersten Republik deutlich werden ließen, kamen in den 60er Jahren die ideellen Veränderungen und der Wandel des sozial normativen Wertesystems zum Vorschein. https://doi.org/10.1515/9783110633870-013

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Fragt man nach dem Zusammenhang von Wertorientierung und gesellschaftlichem Wandel in der Geschichte der Bundesrepublik, so ist zuerst der hier zur Beschreibung dieses Prozesses verwendete Terminus ‚Westernisierung‘ zu definieren und gegen den landläufigen Begriff der ‚Amerikanisierung‘ abzugrenzen (I). An einem pointiert ausgewählten Beispiel – dem Weg der beiden Volksparteien CDU und SPD von der politisch-programmatischen Konfrontation zum pragmatischen Konsens – läßt sich dieser Zusammenhang darlegen (II), bevor die für die Bundesrepublik typische Mischform aus deutscher Tradition und westlichen Einflüssen betrachtet werden kann. Beharrung und Wandel nationaler Traditionen und die Bedeutung des Antikommunismus für die Amalgamierung von deutschen und westlichen Vorstellungen sind hier in den Blick zu nehmen (III). Durchgängig ist dabei zu beachten, dass der gesellschaftliche Wandel von den 50er zu den späten 60er Jahren sowohl durch interne, in der Bundesrepublik selbst angelegte als auch durch externe, aus der spezifischen Konstellation der Nachkriegszeit resultierende Schubkräfte vorangetrieben wurde.

1. Die Einbindung der Bundesrepublik ins westliche Bündnis war der formgebende Grundsachverhalt für Westdeutschland nach der Teilung der Besatzungszonen in zwei deutsche Staaten. Es ist unbestritten, dass unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die USA den nachhaltigsten Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft und Staat im westlichen Deutschland ausübten. Die amerikanische Besatzungspolitik mit ihren Schwerpunkten der Entnazifizierung und Umerziehung einerseits sowie der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung andererseits wurde von Anbeginn begleitet durch eine sich sukzessive ausbreitende Einwirkung auf die Alltagswelt, wo Kleidungsstile, Moden und Design, öffentliches Gebaren der Jugendlichen und dann ab Mitte der 50er Jahre die zunehmende Konsumorientierung breiter Kreise einen denkbar auffälligen Kontrast bildeten zum Erscheinungsbild und den Verhaltensweisen der deutschen Bevölkerung in der Kriegs- und Vorkriegszeit. Sie wurde des weiteren begleitet von einer öffentlichen Diskussion über ideelle Trends und neue Ordnungsentwürfe in der westdeutschen Gesellschaft. Darin traten Intellektuelle mit einer dezidierten Orientierung auf den atlantischen Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, hervor. Im Zusammenwirken mit der fortschreitenden politischen Westorientie-

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rung und der allmählichen Herausbildung des Massenkonsums als sozialer Norm entfaltete das eine beträchtliche Wirkung.¹ Zur Erklärung von Phänomenen oder Handlungsfeldern, bei denen der prägende, formverändernde Einfluß der USA als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs und Vormacht der ‚Ersten Welt‘ gegeben war (und ist), bedient sich die wissenschaftliche Diskussion des Begriffs Amerikanisierung. Im heute üblichen Sprachgebrauch bezeichnet der Terminus den komplexen Prozeß der vergleichsweise konkret faßbaren Transformation einer Gesellschaft in wirtschaftlicher und soziokultureller Hinsicht. Impulse von der US-amerikanischen Seite her werden in einem anderen Land aufgenommen und prägen in klar erkennbarer Form z. B. das Führungshandeln in der Wirtschaft² oder die Veränderungen der Alltagswelt.³ Das Augenmerk gilt hier dem Transfer von Kulturmustern, die wie auf einer Einbahnstraße aus den USA in ein anderes Land gelangen. Solche Einflüsse können gezielt und absichtsvoll ausgeübt werden, aber auch eher unbeabsichtigt und indirekt durch den hegemonialen Charakter der amerikanischen Politik zur Geltung kommen. Amerikanisierung in ihren beiden Spielarten der absichtsvollen und indirekten Beeinflussung bezeichnet Kulturtransfer in einem weitgespannten Verständnis: Neben Kunst und Unterhaltung umgreift dies auch wirtschaftliche Strukturen sowie gesellschaftliche Verhaltensformen. Dieser Kulturtransfer vollzieht sich in einer und nur einer Richtung von den USA nach Westeuropa und in andere Regionen der Welt. In Deutschland, das nach 1945 durch die Einwirkung des Nationalsozialismus und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs orientierungslos geworden war, kam er besonders nachdrücklich zur Geltung. Amerikanisierung ist als Element hegemonialer Praxis in allen Erscheinungsformen klar erkennbar.

 Die wichtigsten Forschungstrends mit Verweisen auf die einschlägige Literatur sind behandelt bei Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. Einen vergleichenden Ansatz mittels punktueller Einzelstudien bieten: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg), Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970. Frankfurt am Main u. a. 1997.  Siehe Volker R. Berghahn, The Americanization of West German Industry 1945 – 1973. Cambridge, MA 1986. Die Kritik an Berghahn bündelt Paul Erker, ‚Amerikanisierung‘ der westdeutschen Wirtschaft? Stand und Perspektiven der Forschung, in: Jarausch/Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung, S. 137– 145.  Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg 1992; Johannes Kleinschmidt, ‚Do Not Fraternize‘. Die schwierigen Anfänge deutsch-amerikanischer Freundschaft. Trier 1997.

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Westernisierung bezeichnet ein Geschehen auf einer anderen Ebene und ist als analytische Kategorie von Amerikanisierung deutlich zu unterscheiden.⁴ Dieser Begriff bezeichnet die allmähliche Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantik. Das vollzog sich in einem längeren Zeitraum seit dem 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf mehrere konkurrierende politisch-gesellschaftliche Ordnungsentwürfe entstanden und in einen spannungsreichen Bezug zueinander gerieten. Europäische Aufklärung, englischer Pragmatismus sowie Liberalismus in seinen verschiedenen europäischen und amerikanischen Spielarten charakterisieren jene Traditionsbestände, auf die sich dann im 20. Jahrhundert das Selbstverständnis ‚des Westens‘ als Wertegemeinschaft und politischer Zusammenhang bezog. Den Gegenpol bildeten Gegenaufklärung und Romantik sowie die sich von dort herleitenden geistigen Strömungen, die politisch zugespitzt in den ‚Ideen von 1914‘ zum Durchbruch gelangen sollten.⁵ Die Wucht des Ersten Weltkriegs erzeugte die Homogenisierung des politischen ‚Westens‘. Vor 1918 hatte als eigentliches Charakteristikum der westlichen Länder eher die Differenz zwischen dem parlamentarisch-klassengesellschaftlichen England, dem republikanisch-bourgeoisen Frankreich und den demokratischen USA zu gelten. Der innere Zusammenhang zwischen englischer, französischer und amerikanischer Gesellschaft bestand bis dahin allein in liberalen Ordnungsideen. Die infolge des Weltkriegs neu formierte Wertegemeinschaft wies in stärkerem Maß Kennzeichen eines konkreten, in der Praxis bewußt wahrgenommenen gegenseitigen Bezuges auf, auch wenn das die Unterschiede im nationalen Selbstverständnis nicht überdeckte. Im politischen Bereich bildeten die parlamentarische Demokratie, das Repräsentativsystem und der gesellschaftliche Pluralismus die Grundlage dafür, im wirtschaftlichen Bereich das Privateigentum, der gesellschaftlich verankerte Anspruch des Individuums auf Chancengleichheit und der freie Markt sowie im kulturellen Bereich das Postulat der Freiheit in Kunst und Wissenschaft und der Individualismus. Innerhalb dieses Westens wuchsen die USA seit 1917 in die Rolle der Hegemonialmacht hinein, von der deutliche Einflüsse auf die Gesellschaften der europäischen Länder ausgingen. Zeitgleich bewirkte die Emigration aus Europa

 Philipp Gassert, Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland und Europa, in: Archiv für Sozialgeschichte 39, 1999, S. 531– 561.  Hermann Lübbe, Die philosophischen Ideen von 1914, in: Lübbe, Herrmann, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. München 1974, S. 171– 235; Axel Schildt, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874– 1963), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 35, 1987, S. 523 – 570.

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nach der bolschewistischen Revolution und der nationalsozialistischen Machtergreifung, dass verstärkt politische und soziale Ordnungsvorstellungen aus dem europäischen Modernisierungsprozeß im Zuge der Hochindustrialisierung ihren Weg in die USA fanden und dort gerade in den Gesellschaftswissenschaften zur Geltung gelangten. In der Form amerikanisch geprägter Westlichkeit wirkten solche Elemente seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf Europa zurück, während Einflüsse aus Europa immer aufs neue nach Amerika ausstrahlten. Westernisierung läßt sich deshalb als interkultureller Transfer im Sinne eines anhaltenden Austauschs verstehen.⁶ Die Epoche des Kalten Krieges bis zum Ende der 60er Jahre ist in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben. Die ideelle Integration Westeuropas nach 1945 geschah zwar durch amerikanische Einflußnahme, doch vorangetrieben wurde sie ganz überwiegend von den europäischen Protagonisten eines gemeinsamen Selbstverständnisses der Gesellschaften des westlichen Lagers, um im Kalten Krieg ‚den Westen‘ gegen die Einflüsse aus dem östlichen Block abzuschirmen. Dieser Prozeß ergänzte den und verzahnte sich mit dem politischorganisatorischen Auf- und Ausbau des europäisch-atlantischen Bündnissystems seit der Verkündung des Marshallplans bis zum Beginn der Entspannungspolitik. Für die Bundesrepublik Deutschland hat der Begriff Westernisierung eine besonders akzentuierte Bedeutung. Nach 1945 öffneten sich die Westdeutschen mehrheitlich dem ‚westlichen‘ Wertehorizont. In Politik, Kultur und Gesellschaft verschwand allmählich jene Abgrenzung gegen die Wertegemeinschaft der westlichen Länder, die seit den ‚Ideen von 1914‘ so weit hatte gehen können, dass das Ordnungssystem der westeuropäisch-atlantischen Staaten geradezu als Gegenentwurf zu den politisch-sozialen Gegebenheiten im eigenen Land aufgefaßt wurde. Gleichwohl konnte Deutschland schwerlich als ein Land gelten, welches kulturell niemals zum Westen gehört hatte. Ganz im Gegenteil waren von den spezifisch deutschen Spielarten der Aufklärung und des Liberalismus ebenso wie von der konfessionellen Entwicklung und den Wissenschaften mächtige Impulse auf andere Länder ausgegangen und hatten gerade in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten Wirkung entfaltet. Deshalb wäre es nicht präzise genug, den Prozeß der politisch-ideellen Entwicklung nach 1945 einfach als ‚Verwestlichung‘ zu bezeichnen, denn damit würde Deutschlands Ort in der europäischen Geschichte schlicht ignoriert. Hier geht es jedoch um den Tatbestand, dass spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Staaten des europäischen und

 Vgl. Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267, 1998, S. 649 – 681.

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atlantischen Westens dem Deutschen Reich politisch und ideologisch feindlich gegenüberstanden und umgekehrt. Dieser Gegensatz verschärfte sich noch in der Zwischenkriegszeit durch den revisionistischen Nationalismus der Weimarer Republik, durch die Ausbreitung der völkischen Ideologie und eskalierte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Versuche nach 1945, den Antagonismus zu überwinden, waren darauf gerichtet, die Deutschen künftig politischideologisch fest in die westliche Wertegemeinschaft einzubinden. So bildete die Bundesrepublik zu Beginn der 50er Jahre erst einmal ein Objekt von außen kommender Einflußnahme. Die Wertvorstellungen des Westens waren im Zeichen der Blockbildung gegen ‚den Osten‘ zweifellos leichter zu akzeptieren, als wenn es den Kalten Krieg nicht gegeben hätte. In den ersten Jahren dominierte in der westdeutschen Gesellschaft dabei das Selbstverständnis, im Wiederaufbau an bestimmten eigenen nationalen Traditionen anzuknüpfen, wie z. B. den liberaldemokratischen Werten der Paulskirche, den Prinzipien deutscher Sozialstaatlichkeit oder den sozialdemokratischen resp. zentrumskatholischen Orientierungsmustern. Westernisierungseinflüsse begannen nur unterschwellig in die Gesellschaft hineinzuwirken und eine Veränderung in Gang zu setzen. Spätestens am Ende der 60er Jahre war der westdeutsche Teilstaat dann allerdings ein fest integrierter und aktiver Partner im System der gemeinsamen westeuropäisch-atlantischen Werteordnung geworden, dessen ideelle Westlichkeit sich mit den erhalten gebliebenen nationalen Traditionsbeständen verflochten hatte und bis heute das unverwechselbar westdeutsche Profil der Bundesrepublik ausmacht. Die scharfen Gegensätze zwischen West- und Ostdeutschland, die die Gesellschaft seit der Vereinigung belasten, leiten sich nicht zuletzt von dort her.

2. Der Wandel in Westdeutschland läßt sich an der Entwicklung der beiden Volksparteien CDU und der SPD von den 50er Jahren bis in die Zeit der Großen Koalition anschaulich zeigen. Am Anfang stand die schroffe weltanschauliche Konfrontation, bei der beide Parteien die grundsätzliche Unvereinbarkeit ihrer Positionen herausstrichen durch die gegenseitige Etikettierung als ‚Bürgerblock‘ oder als ‚Sozialistenblock‘. Bis zum Jahresende 1966 hatte sich das geradezu umgekehrt in die Bereitschaft und auch die Fähigkeit zum pragmatischen Konsens nicht nur in tagespolitischen Kleinigkeiten, sondern in strukturellen Grundsatzentscheidungen. Diese Veränderung war zweifellos ein Ausdruck der Dynamik des Wiederaufbaus und der sozialökonomischen Modernisierung nach der Gründung der Bundesrepublik. Von hier wirkten starke interne Schubkräfte auf die Gesellschaft

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in den beiden Nachkriegsjahrzehnten. Das verlief parallel zur außenpolitischen Westorientierung – zur Einbindung des westdeutschen Teilstaats in das westliche Bündnis – und zum alltagskulturellen Wandel unter dem Vorzeichen von Amerikanisierung. Die Entwicklung der Parteien blieb davon nicht unbeeinflußt. So kamen hier nach und nach Elemente einer ideellen Neuorientierung zur Geltung, die es erforderlich machten, dass nationale Traditionen in den parteipolitischen Interessen an das epochale, ganz Westeuropa umfassende Geschehen von Westernisierung unter US-amerikanischer Hegemonie seit 1945 angepaßt wurden. Als Anfangsdatum für die Betrachtung dieses Prozesses bietet sich das Jahr 1953 an: das Jahr der Wahlen zum zweiten Bundestag, als die ersten vier Jahre Amtszeit der bürgerlichen Koalition unter Kanzler Konrad Adenauer zu resümieren waren. Die Wahlkampfthemen reichten von der Außen- und Sicherheitspolitik bis zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Bei den Wahlen ging es noch einmal, wie 1949, um das neue staatliche und gesellschaftliche Profil der Bundesrepublik. 1949 hatte die SPD mit 29,2 Prozent abgeschnitten, die CDU/CSU mit 31 Prozent. So führte die SPD den Wahlkampf mit dem Ziel, die Regierung zu übernehmen und von den eigenen programmatischen Grundlagen⁷ her einen Kurswechsel in Richtung auf eine sozialistisch-demokratische Ordnung einzuleiten, und die Union kämpfte um Konsolidierung der Marktwirtschaft und der bürgerlichen Ordnungsprinzipien, die sie in der Gründungskrise der Bundesrepublik seit 1949 zu stabilisieren bemüht war. Die Parolen wiesen klassengesellschaftliche Reminiszenzen auf. So bezeichnete der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer die Regierungskoalition als ‚Adenauers Bürgerblock‘, der eine ‚sozial nur oberflächlich ornamentierte Restaurationspolitik‘ betreibe.⁸ Umgekehrt stellte Adenauer die SPD als Sozialistenblock hin, dessen planwirtschaftliche und dirigistische Vorstellungen den demokratischen Sozialismus als Bedrohung für die bürgerliche Ordnung erscheinen ließen.⁹ Das Ergebnis der Bundestagswahlen

 Vgl. Joseph Rovan, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Frankfurt am Main 1980, S. 173 – 222.  Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965. Berlin u. a. 1982, S. 283. Zum Schlagwort ‚Restauration‘ im zeitgenössischen Sprachgebrauch vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949 – 1963. Darmstadt 1988, S. 9 – 14. Die Verwendung des Begriffs in den ersten wissenschaftlichen Arbeiten zur Frühgeschichte der Bundesrepublik wird anschaulich bei Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945 – 1952. Zur Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 1970.  Vgl. Konrad Adenauer, „Es mußte alles neu gemacht werden.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1950 – 1953. Bearb. von Günter Buchstab, Stuttgart 1986, S. 587. Den krassesten

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vom 6. September 1953 brachte mit 28,8 Prozent für die SPD eine enttäuschende Stagnation und für die CDU/CSU mit 45,2 Prozent einen unerwarteten Anstieg um 14,2 Prozent. Trotz dieses doch nun signifikanten Unterschieds in der Stärke änderte sich am Kurs und am programmatischen Selbstverständnis der beiden Parteien bis 1957, äußerlich betrachtet, nicht viel. Es dominierte ein Politikstil, der noch von den Milieuprägungen und den politischen Lagern der Weimarer Republik beeinflußt war. Zwischen 1955 und 1957 arbeiteten beide Parteien parallel und rivalisierend an der Konzeption der Rentenreform zur jährlichen Anpassung der Renten an die generelle Lohn-und Gehaltsentwicklung.¹⁰ Hier ergänzten sich die Interessen der SPD mit denen des sozialkatholischen Arbeitnehmerflügels aus der CDU und stützten das Reformprojekt gegen starke Widerstände aus dem bürgerlich-neoliberalen Umfeld des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard.¹¹ In diesem Bereich der Innenpolitik, bei der Sozialreform, treffen wir auf eine lagerübergreifende Harmonie von Sozialdemokratie und Sozialkatholizismus. Das stand in der Tradition von SPD und Zentrumspartei seit dem Kaiserreich, aber es paßte mit der parteipolitischen Realität in der Bundesrepublik der 50er Jahre nicht zusammen. Denn die Unionsparteien als parteipolitisches Novum der Nachkriegszeit umfaßten sowohl den Sozialkatholizismus als auch den Neoliberalismus und daneben verschiedene konservative Strömungen. Dieses neuartige Konglomerat wurde gemäß Adenauers Herrschaftsstil in der Kanzlerdemokratie strikt auf die eine Parteiräson verpflichtet, die darin bestand, dass die CDU/CSU Kanzlerpartei und nichts anderes zu sein habe. Dadurch wurde sie scharf gegen die SPD abgegrenzt.¹² So verwundert es nicht, dass Adenauer das Gesetz zur Rentenreform vom Januar 1957 sofort als Wahlgeschenk instrumentalisierte und im Bundestagswahlkampf gegen die SPD nutzte, obwohl es im Parlament mit den Stimmen der SPD verabschiedet worden war. Überhaupt wurde der Wahlkampf

Ausdruck bildete das Wahlplakat der CDU mit dem Slogan: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“.  Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957. Stuttgart 1980; Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 368 – 375.  Vgl. Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben. Berlin 1998; Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption. Soziale Marktwirtschaft als Politische Ökonomie. Stuttgart 1986.  Vgl. Dorothee Buchhaas, Die Volkspartei. Programmatische Entwicklung der CDU 1950 – 1973. Düsseldorf 1981; Karl Dietrich Bracher, Die Kanzlerdemokratie, in: Löwenthal, Richard/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz. Stuttgart 1974, S. 179 – 202; Anselm Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie, in: Der Staat 30, 1991, S. 1– 18.

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im Sommer und Herbst 1957 wiederum mit dem Vokabular des unversöhnlichen weltanschaulichen Gegensatzes geführt. Die CDU/CSU gewann die Wahl zum dritten Bundestag am 15. September 1957 mit 50,2 Prozent der Stimmen, die SPD blieb mit 31,8 Prozent in dem Dreißig-Prozent-Sektor ihrer Stammwählerschaft gefangen. Die für die frühe Bundesrepublik typische Konfrontation der politischen Lager, der ‚Blöcke‘, war hier noch einmal praktiziert worden. Von da an kam in der SPD, ausgelöst durch die Wahlniederlage, ein Transformationsprozeß zum Durchbruch, der die Partei binnen weniger Jahre als eine dynamische Kraft mit der Kompetenz für innere Reformpolitik erscheinen und im Kontrast dazu die CDU/CSU sowohl programmatisch als auch praktisch veraltet aussehen ließ. Mit dem Godesberger Programm vom November 1959 verabschiedete sich die SPD von den restlichen marxistischen Traditionsbeständen, von der Vorstellung der Klassengesellschaft und dem Selbstverständnis als Klassenpartei.¹³ Sie bekräftigte dagegen einmal mehr ihre Zielorientierung auf „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ als Grundforderungen für die Vollendung der Demokratie. Darüber hinaus erkannte sie jetzt die politisch-gesellschaftlichen Grundlagen der Bundesrepublik an, wie sie nach der Verabschiedung des Grundgesetzes bis 1957 geschaffen worden waren. Die SPD akzeptierte die Marktwirtschaft durch ihr Modell der „freiheitlichen Ordnung der Wirtschaft“, das sich aus dem keynesianischen Konzept der Globalsteuerung herleitete;¹⁴ sie bejahte die bürgerliche Ordnung implizit durch eine ausdrücklich positive Stellung zu den Kirchen; und sie billigte die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik durch ihre Zustimmung zur Bundeswehr. Ablehnende Reaktionen kamen von zwei Seiten. Die Union beeilte sich zu behaupten, dass auch nach Godesberg das „strategische Ziel der marxistischen Machtergreifung“ bei der SPD unverändert geblieben sei.¹⁵ Für die Union bedeutete das Bekenntnis der SPD zur innenpolitischen Wirklichkeit der Bundesrepublik eine Herausforderung, die das Selbstverständnis der CDU nicht unberührt ließ und für etwa ein Jahrzehnt eine tiefe Verunsicherung erzeugte. Ablehnung erfuhr die SPD aber auch im eigenen Lager; sie kam von links. Es gab sowohl in der Partei selbst als auch insbesondere in ihrem Studentenverband, dem SDS, beträchtliche Gruppierungen, die die Distanz zum Marxismus für falsch hielten und die Aufgabe der Partei in der Überwindung des kapitalistischen

 Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 433 – 494.  Vgl. die Darlegungen von Heinrich Deist auf dem Parteitag in Stuttgart 1958. Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 378, 433 f.  Buchhaas, Die Volkspartei, S. 231 f. unter Bezug auf die Sitzung des CDU–Bundesvorstands vom 29.1.1960. Druck: Adenauer: „…um den Frieden zu gewinnen“. Die Protokolle des CDUBundesvorstands 1957– 1961. Bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 1994, S. 578 – 646.

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Systems erblickten.¹⁶ 1961 trennte sich die SPD vom SDS und begann sich als weltanschaulich ungebundene moderne Volkspartei zu profilieren, die unterschiedliche Interessen aus der pluralistischen Gesellschaft der Bundesrepublik aufnehmen und bündeln konnte. Auch in der CDU gab es im Übergang von den 50er zu den 60er Jahren Bestrebungen in Richtung auf eine Parteireform, denn die Partei hatte sich gleichermaßen den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wirkungen der „Modernisierung im Wiederaufbau“¹⁷ zu stellen. Die Reformbestrebungen schlugen sich hauptsächlich in der sogenannten ‚C-Diskussion‘ über die christlichen Grundlagen der Politik nieder, die aber über Positionen der frühen Nachkriegszeit nicht hinauskam.¹⁸ Das Selbstverständnis der Partei hatte sich seit 1948/49 auf der Grundlage einer relativ geschlossenen katholisch-naturrechtlichen Lehre herausgebildet. Zwar sprach um 1960 in der CDU/CSU kaum noch jemand von der natur- oder berufsständischen Gliederung des Gemeinwesens, aber die Ratlosigkeit gegenüber der hochdifferenzierten pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart und die traditionelle Nähe zu konservativen – statischen oder organischen – Ordnungsvorstellungen veranlaßten noch 1965 Bundeskanzler Ludwig Erhard, sein Konzept von der ‚Formierten Gesellschaft‘ zu propagieren. Erhard sagte, die Gesellschaft brauche „zur Überwindung der zerstörerischen Kräfte des Pluralismus weltanschaulicher und verbandsorganisatorischer Art […] eine gemeinsame Zielsetzung“¹⁹ Worauf er damit allerdings hinauswollte, blieb in der Öffentlichkeit ziemlich unklar. Nach der ergebnislosen C-Diskussion der frühen 60er Jahre wurde spätestens 1965 mit diesem diffusen Konzept offenkundig, dass die CDU ihre weltanschauliche Orientierung verloren hatte. Die bisher skizzierten Veränderungen der Parteien weisen einen deutlichen Bezug auf zu bestimmten ideellen Einflüssen im Meinungsklima der Nachkriegszeit. Während der 50er und frühen 60er Jahre kursierten nicht nur in Westdeutschland, sondern insgesamt in Westeuropa Ordnungsvorstellungen darüber, wie im Zuge des sozialökonomischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu restrukturieren seien. Angestoßen

 Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 454– 467; vgl. insbesondere auch Tilman Fichter, SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei. Opladen 1988, S. 294– 368; Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken. Bonn 1994.  Vgl. das Standardwerk von Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. 2. Aufl. Bonn 1995, insbesondere S. 627– 676.  Buchhaas, Die Volkspartei, S. 205 – 221 u. 298 – 303.  Ibid., S. 303 – 309, hier S. 303.

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durch die US-amerikanische Marshallplan-Hilfe, wurde die Diskussion vornehmlich unter linken und linksliberalen Intellektuellen geführt und prägte seit dem Anfang der 60er Jahre zunehmend deutlich Argumente und Handlungsmuster in der Politik. Der Zusammenhang erschließt sich, wenn man in die Vorkriegsjahre zurückblendet und dabei vom deutschen Kontext absieht. Diese Ordnungsvorstellungen stammten aus den USA. Es handelte sich um das System des sogenannten „Konsensliberalismus“.²⁰ Seine Ursprünge lagen in der Weltwirtschaftskrise und im New Deal. Damals wurden innerhalb der kapitalistischen amerikanischen Gesellschaftsordnung von staatlicher, nicht von wirtschaftlicher Seite Konzepte entwickelt, die ihrerseits Anstöße aus Europa aufnahmen – vor allem den Einfluß aus England durch den Keynesianismus – und eine neue, den Zeitumständen angepaßte Spielart des Liberalismus entstehen ließen. Statt des überkommenen, vom Staat unabhängig agierenden laissezfaire Kapitalismus gewann hier ein Liberalismus Konturen, der dem Staat Steuerungskompetenz in der Wirtschaft und sozialpolitische Kompetenz zur Ausbreitung der Marktwirtschaft nicht nur zubilligte, sondern auferlegte.²¹ So, wie er am Ende des Zweiten Weltkriegs ausgebildet war, zielte der Konsensliberalismus auf Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung. Der ‚Konsens‘ den er im Namen trug, bezog sich auf die Grundlagen des Gemeinwesens: Freiheit, Recht, Eigentum sowie pursuit of happiness – also das persönliche Glücks- und Erwerbsstreben und die damit verknüpfte Fortschrittsorientierung. Entsprechend der oben erwähnten spezifischen Entwicklung der USA innerhalb des Westens, die eine liberale Gesellschaft ohne politisch relevanten Sozialismus und ohne programmatisch artikulierten Konservatismus hervorbrachte, hatten weder sozialistische noch konservative – ständische oder organische – Ordnungsvorstellungen innerhalb des Konsensliberalismus Platz. Diese Grundlagen wurden

 Vgl. hierzu den Klassiker im Rahmen des konsensliberalen Denkens von Richard Hofstadter, The American Political Tradition and the Men who Made It. London 1962, S. 234– 347 (über Woodrow Wilson, Herbert Hoover und Franklin D. Roosevelt); Godfrey Hodgson, America in Our Time. New York, NY 1978; Richard H. Pells, The Liberal Mind in a Conservative Age. American Intellectuals in the 1940s und 1950s. Middletown, CT 1989. Zur Ausbreitung des „liberal democratic internationalism“ vgl. Tony Smith, America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century. Princeton, NJ 1994, S. 84– 236.  Vgl. Ellis W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly. A Study in Economic Ambivalence. Princeton, NJ 1966; zum Bezug auf den Keynesianismus vgl. Ibid., S. 270 – 280 und passim. Charles S. Maier, The Two Postwar Eras and the Conditions for Stability in TwentiethCentury Europe, in: American Historical Review 86, 1981, S. 327– 352; Charles S. Maier, The Politics of Productivity. Foundations of American Economic Policy after World War II, in: International Organization 31, 1977, S. 607– 633.

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axiomatisch begriffen, sie konnten prinzipiell nicht in Frage gestellt werden.²² Es versteht sich von selbst, dass Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus das Feindbild schlechthin markierten. In den Jahren des Kalten Krieges bündelte sich das im kompromißlosen Antikommunismus. Die konsensliberale Ideologie wurde ab 1948/50 europaweit zur Geltung gebracht, nachdem mit dem Marshallplan die sozioökonomischen Vorstellungen des New Deal in einer intensiven Auseinandersetzung zwischen US-Amerikanern und Briten nach Europa transferiert worden waren.²³ Als Kommunikationszentren dienten Zirkel aus Journalisten, Schriftstellern, Gewerkschaftern und Parteipolitikern des linken Spektrums. Das vorrangige Ziel bestand darin, die europäischen sozialistischen Parteien von den marxistischen Traditionsbeständen abzulösen und sie im Kalten Krieg gegen den Kommunismus ideologisch zu immunisieren. Deswegen waren die Aktivitäten in Frankreich und Italien wegen der dort relativ starken kommunistischen Parteien besonders ausgeprägt. Das nächste Ziel lag in der Überwindung der bei Sozialdemokraten und Gewerkschaftern, aber auch bei bürgerlichen Konservativen und Liberalkonservativen der westeuropäischen Länder noch ausgeprägten Auffassung von der Klassengesellschaft, die sich in den Wahlkämpfen der 50er Jahre mit der Entgegensetzung von ‚Bürgerblock‘ und ‚Sozialistenblock‘ auch in der Bundesrepublik deutlich gezeigt hatte. Diese Auffassung sollte transformiert werden in den Konsens der gesellschaftlichen Gruppen auf der Basis der erwähnten Grundwerte Freiheit, Recht, Eigentum – also Marktwirtschaft – und pursuit of happiness. Ein weiteres Ziel war die Etablierung einer planenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zum Zweck der Stabilisierung einer pluralistischen Gesellschaft in der liberalen Demokratie. Im Gedankenaustausch zwischen deutschen, amerikanischen und westeuropäischen Persönlichkeiten aus dem linken Spektrum, durch publizistische Tätigkeit und, am wichtigsten, durch persönliche Stellungnahmen und Entscheidungen im beruflichen Wirkungsfeld wurden hier einzelne Vorstellungen aus dem konsensliberalen Kontext in Umlauf gebracht und den

 Vgl. die differenzierten Darlegungen zum Konsensliberalismus bei Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 68 – 86.  Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947– 1952. Cambridge, MA 1987; vgl. auch Charles S. Maier/Günter Bischof (Hrsg.), The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Framework of the European Recovery Program. New York, NY u. a. 1991. Zur Auswirkung innerhalb der US-amerikanischen und westeuropäischen internationalen Beziehungen vgl. Klaus Schwabe, „Ein Akt konstruktiver Staatskunst“ – die USA und die Anfänge des Schuman-Plans, in: Schwabe, Klaus (Hrsg.), Die Anfänge des Schuman-Plans. The Beginnings of the Schuman-Plan. Baden-Baden u. a. 1988, S. 211– 239.

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deutschen Gegebenheiten flexibel angeglichen. Eine schematische Anpassung gab es nie, weshalb dieser Prozeß ganz unauffällig ablief. Die Ideen paßten ohnehin ab Mitte der 50er Jahre in zunehmendem Maß zur Realität des Tagesgeschehens: zur dynamischen Entwicklung der Wirtschaft, die deshalb der Steuerung auch seitens der Politik zu bedürfen schien, und zur Herausausbildung einer mehr oder weniger klassenlosen Mittelstandsgesellschaft, wo der innenpolitische ideologische Rekurs auf Blockkonfrontation zwischen Sozialismus und Bürgerlichkeit einfach sinnlos wurde. Und indem diese Ideen zum Tagesgeschehen paßten, entfalteten sie beträchtliche Plausibilität. Obendrein entstand der Eindruck, dass sie wirklich in der Luft lagen, denn in den westeuropäischen Partnerländern wurden sie ja gleichermaßen diskutiert, wenn es um die Frage der Modernisierung durch Planung und Steuerung der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ging. Je mehr nun die SPD nach den beiden ersten Legislaturperioden unter Anpassungsdruck geriet, weil sie sich den von der Regierung Adenauer geschaffenen Tatsachen nicht länger entgegenstellen konnte und wollte, desto mehr Gewicht erhielten in der innerparteilichen Reformdiskussion Argumente aus dem Kontext dieser ‚westlichen‘ Auffassungen. Zwar dürfen weder die Godesberger Parteireform der SPD 1959 noch das Düsseldorfer Reformprogramm des DGB 1963 gewissermaßen monokausal als eine direkte Wirkung dieser Einflüsse angesprochen werden, denn es ging hier zunächst einmal um eine konkrete Anpassungsleistung an die neuen Realitäten in der Bundesrepublik. Aber die Richtung, in die die Programmreformen zielten, war unübersehbar davon beeinflußt. Innerhalb des konsensliberalen europäisch-atlantischen Netzwerks wurde ab 1957 eine politische Theorie in Umlauf gebracht, die der Entwicklung in Deutschland hin zur Großen Koalition wichtige Argumente lieferte. Diese Theorie behauptete, dass in den westlichen Gesellschaften jede ideologische Konfrontation, jede Blockbildung an ihr Ende komme, sofern die Politik im Sinne des liberalen Konsenses gestaltet werde. Das bekannteste Buch hierzu erschien 1960 aus der Feder des amerikanischen Soziologen Daniel Bell und trug den Titel „The End of Ideology“. Wenn eine Gesellschaft die Grundwerte Recht, Freiheit, Eigentum und pursuit of happiness zum Fundament ihres Selbstverständnisses mache und die Politik ihre Aufgabe in der rationalen Planung und Steuerung des Gemeinwesens insgesamt sehe, dann sei Ideologie zur Begründung politischen Interesses nicht mehr nötig. Diese fragwürdige und in sich selbst hoch ideologische Theorie, die mit dem Aufkommen der Neuen Linken und dem internatio-

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nalen Studentenprotest ab Mitte der 60er Jahre sehr rasch wieder erledigt war,²⁴ gehört deshalb mit ins Bild, weil sie in den 60er Jahren nicht nur im Umfeld von Willy Brandt, sondern auch in dem reformfreundlichen Teil der öffentlichen Meinung dazu diente, die sogenannte ‚Politik der Gemeinsamkeit‘, die die SPD propagierte,²⁵ sozialwissenschaftlich und insofern rational zu begründen. Brandt hatte, kaum dass er 1960 zum Kanzlerkandidaten der SPD für die Bundestagswahl gekürt worden war, die Parole der ‚Gemeinsamkeit‘ ausgegeben. Er verkündete auf dem Hannoveraner Parteitag jenes Jahres: „Die junge Generation in Deutschland will die Gemeinsamkeit“, und er bezeichnete das als „Grundpfeiler der Politik neuen Stils“, die er für sich und seine Gefolgschaft reklamierte.²⁶ Dies wurde in der SPD als ‚Umarmungsstrategie‘ teilweise scharf kritisiert und allgemein so verstanden, dass jetzt statt durch eine konfrontative Politikkonzeption gegen die CDU eher durch Annäherung – und auch Anbiederung – die Regierungsfähigkeit erreicht werden sollte.²⁷ Gewiß darf man das Machtkalkül und das tagespolitische Interesse am praktischen Nutzen solcher Politik nicht unterschätzen.²⁸ Aber wer wie Brandt in das konsensliberale Netzwerk seit mehr als einem Jahrzehnt eingebunden war, dürfte die programmatische Relevanz der Theorie vom ‚Ende der Ideologie‘ recht klar erfaßt und die Politik der Gemeinsamkeit nicht bloß aus realpolitischen Erwägungen über den besten Weg

 Vgl. Hodgson, America, S. 741; Lewis Perry, Intellectual Life in America. A History. Chicago, IL 1989, S. 408 u. 416 f.  Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 497– 503; Beatrix W. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische Umorientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1960 – 1966. Bonn 1990.  Ibid., S. 79.  Herbert Wehner, Protagonist in der SPD für die Begründung einer Großen Koalition mit der CDU/CSU, der keine Berührung mit konsensliberalen Einflüssen aufwies, wollte die Gemeinsamkeiten auf die Außenpolitik begrenzt wissen. Diesem Kalkül entsprach seine Rede vor dem Bundestag am 30. Juni 1960, in der die bündnispolitischen Bindungen der Bundesrepublik in NATO und EWG als für die SPD verbindlich anerkannte und damit seine Partei auf die unter Adenauer geschaffene Staatsräson der Bundesrepublik festlegte. Im Kontrast zu ihm forderte Brandt die Bereitschaft zu Gemeinsamkeit gerade in der Innenpolitik: „Auch im Innern sind große Gemeinschaftsaufgaben zu lösen, und sie können nur gelöst werden, wenn eine breite Mehrheit des Parlaments und der Bevölkerung dafür gewonnen“ würde; Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 499 ff. u. 503.  Als Fallstudie zur verworrenen Ereignisgeschichte der Regierungsbildung im entscheidenden Moment vgl. Klaus Schönhoven, Entscheidung für die Große Koalition. Die Sozialdemokratie in der Regierungskrise im Spätherbst 1966, in: Pyta, Wolfram/Richter, Ludwig (Hrsg.), Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb. Berlin 1998, S. 379 – 397.

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an die Macht propagiert haben. Denn damit ließ sich jetzt umgekehrt Anpassungsdruck auf die Union ausüben.²⁹ Dieser Anpassungsdruck ging zunächst von den Programmreformen der SPD und des DGB und dann insbesondere von den reformpolitischen Vorstellungen aus, die die SPD um die Mitte der 60er Jahre vertrat. Mehr und mehr beherrschten sie das öffentliche Meinungsklima.³⁰ Die Union hätte diesem Trend nur dann etwas Zeitgemäßes entgegenzusetzen gehabt, wenn sie ihr Selbstverständnis als Weltanschauungspartei weitgehend preisgegeben hätte. Nach der ergebnislosen ‚C-Diskussion‘ vom Beginn der 60er Jahre und dem Fehlschlag von Erhards Konzept der ‚Formierten Gesellschaft‘ 1965 deutete die Entwicklung innerhalb der Partei denn auch sachte in diese Richtung. Die CDU hatte sich zuvor gegenüber der Ideenwelt des Konsensliberalismus ziemlich resistent gezeigt. Weder das katholisch-naturrechtliche Denken noch der bürgerliche Neoliberalismus Ludwig Erhards waren offen für jene Ordnungsvorstellungen. Aber seit dem Ende des Jahrzehnts wurden in der Partei doch Stimmen vernehmbar, die für Reformen plädierten und mit Elementen des konsensliberalen Gedankenguts argumentierten.³¹ Sie forderten von der Politik die Bereitschaft zum ‚Kompromiß‘, anders gesagt, zu ‚Gemeinsamkeit‘ beziehungsweise ‚Konsens‘, und sie forderten ‚Sachlichkeit‘, womit nichts anderes gemeint war als ‚Ideologiefreiheit‘. Sie wurden über den Evangelischen Arbeitskreis zur Geltung gebracht,³² waren also unabhängig vom Sozialkatholizismus und insofern von der Zentrumstradition in der CDU. Obendrein standen sie in Distanz zu den liberalen Ökonomen um Ludwig Erhard. Sie waren niemals so zahlreich und politisch stark genug, um den Kurs der Partei bestimmen zu können. Aber diese Stimmen trugen dazu bei, dass die Orientierungsunsicherheit in der CDU als eine Chance zu ‚ideologiefreier‘ Politik begriffen und darüber die Zusammenarbeit mit der SPD gesucht wurde. Am bekanntesten waren Kai-Uwe von Hassel, Gerhard Schröder, Gerhard Stol-

 Zu den scharfen Auseinandersetzungen in der SPD um ‚Entideologisierung‘ sowie zu den Wirkungen auf die CDU siehe Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition, S. 106 – 110.  Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 391– 437.  Eine dem Werk Klotzbachs vergleichbare Geschichte der Union „steht nach wie vor aus“: Adolf M. Birke, Die Bundesrepublik Deutschland. Verfassung, Parlament und Parteien. München 1997, S. 102. Das Standardwerk zu den Problemen der Programmreform ist nach wie vor Buchhaas, Die Volkspartei, hier S. 298 – 317. Aus der Westernisierungs-Perspektive fällt einiges Licht auf die Entwicklung in der CDU durch die Studie von Sauer, Westorientierung, die aber den katholischen Flügel der Partei nicht erfaßt.  Vgl. Torsten Oppelland, Der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU 1952– 1969, in: HistorischPolitische Mitteilungen 5, 1998, S. 105 – 145.

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tenberg und Richard von Weizsäcker. Bis auf letzteren nahmen sie – was wohl kein Zufall ist – Ministerposten in der Großen Koalition ein. Die breit angelegte Reformpolitik dieser Regierung von 1966 bis 1969 basierte auf der Fähigkeit zum ‚liberalen Konsens‘. Als dessen Kernbestand kann das keynesianische Konzept der Globalsteuerung angesprochen werden. Es war im Vorfeld von Godesberg zur wirtschaftspolitischen Alternative der SPD gegenüber dem Neoliberalismus Ludwig Erhards mit seiner strukturpolitischen Abstinenz erhoben worden³³ und hatte sich um die Mitte der 60er Jahre, angesichts der ersten deutlichen Konjunkturabschwächung im Nachkriegsboom, auch im Regierungslager durchgesetzt. Als die Große Koalition 1967 das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“³⁴ verabschiedete, wurde zunächst einmal eine „bedeutende Modifikation der Wirtschaftsverfassung“³⁵ vollzogen. Sodann aber war mit diesem Gesetz in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Tradition der ideologisch begründeten und insofern prinzipiellen Gegnerschaft zwischen den Lagern, war das Denken in der Kategorie von ‚Blöcken‘ überwunden und der pragmatische Konsens auf der Basis der gemeinsam anerkannten gesellschaftlichen Grundwerte möglich geworden. Das schloß spätere Konflikte in zahlreichen politischen Wechsellagen und tagespolitischen Einzelfragen nicht aus. Es schloß vor allem nicht aus, dass es schon 1967/68 zu einer scharf akzentuierten Konfrontation zwischen der neomarxistischen Neuen Linken und den konsensliberalen Reformern innerhalb der Sozialdemokratie kam³⁶ und dass nach dem Regierungswechsel von 1969 die politischen Lager über den Fragen der Ost-und Deutschlandpolitik in einen nicht zuletzt programmatischen Konflikt hineingerieten. Die ‚deutsche Frage‘ war in den Konsens nie vollständig einbezogen. Gleichwohl blieb er im sozialökonomischen Bereich durchweg bis zum Ende der alten Bundesrepublik und als politi-

 Zum SPD-Parteitag in Stuttgart 1958 und der Entschließung „Freiheitliche Ordnung der Wirtschaft“ (Heinrich Deist) siehe Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei, S. 378 f.  Vgl. Hans-Hermann Hartwich, Konturen einer neuen ökonomischen Politik. Ein Jahr Große Koalition, in: Zeitschrift für Politik 14, 1967, S. 428 – 458; Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963 – 1969. Stuttgart u. a. 1984, S. 283 – 290.  Hans Günter Hockerts, Bürgerliche Sozialreform nach 1945, in: Bruch, Rüdiger vom (Hrsg.), „Weder Kommunismus noch Kapitalismus“. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. München 1985, S. 245 – 273, hier: S. 252.  Im Zugwind der Studentenbewegung wurde die Neue Linke in der Bundesrepublik zu einer akademischen Massenbewegung; die Aktivisten entstammten der „dritten SDS-Generation“, die vom Unvereinbarkeitsbeschluß des Jahres 1961 am unmittelbarsten betroffen war. „Die Anwesenheitslisten der SDS-Delegiertenkonferenzen Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre lesen sich heute wie ein ‚Who is Who?‘ der westdeutschen Sozial- und Geisteswissenschaften.“ Fichter, SDS, S. 371.

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sches Orientierungsmuster in einer völlig veränderten Konstellation der politischen Lager sogar über die Vereinigung mit der DDR hinaus erhalten. Insgesamt waren beide Parteien bis zur Mitte der 60er Jahre einem starken Veränderungsdruck ausgesetzt, der durch Wirtschaftsboom und allmählichen Massenwohlstand, durch außenpolitische Neuorientierung und durch Ausdifferenzierung der bundesdeutschen Gesellschaft erzeugt wurde. Als Oppositionspartei bekam die SPD diesen Druck schon ab 1953 zu spüren, während die CDU/ CSU erst nach der Wahl von 1957 allmählich davon erfaßt wurde. Mit der Programmrevision der SPD 1959 ging eine Politikrevision ab 1960 einher, die dann auch in den Gewerkschaften mitvollzogen wurde und nicht zuletzt unter dem Stichwort ‚Gemeinsamkeit‘ die Sozialdemokratie für die Große Koalition qualifizierte. Die CDU gelangte zu keiner Programmrevision und vollzog auch bestenfalls partiell eine Politikrevision. Doch wo und insoweit sie das tat, waren Argumente und Vorstellungen im Spiel, die auch auf der sozialdemokratischen Seite existierten. Dieser Sachverhalt kann nicht allein mit tagespolitischen Interessen, auch nicht allein mit dem inneren Wandel der Bundesrepublik erklärt werden, obwohl natürlich beides mit im Spiel war. Als drittes Element wirkten hier die Einflüsse des Konsensliberalismus, die als eine von außen kommende Schubkraft die tagespolitischen Interessen bündelten und ihnen Richtung gaben. Der gesellschaftliche Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre kann schwerlich erklärt werden, ohne die politisch-ideelle Westorientierung des Gemeinwesens während jener Zeit zu berücksichtigen.

3. Um die Brechungen dieses Geschehens, die vielfältigen Schattierungen und auch die Grenzen von Westernisierungseinflüssen in Westdeutschland anzudeuten, sind nun einige Felder des politischen Gestaltens und der Meinungsbildung zu skizzieren, auf denen nationale Traditionsbestände, den Nachkriegsbedingungen angepaßt, teils vollständig und dauerhaft erhalten blieben, teils anfänglich reaktiviert und dann in den 60er Jahren allmählich modifiziert wurden. Die Entstehung des spezifisch westdeutschen Profils der Gesellschaft in der Bundesrepublik läßt sich nur dann angemessen beschreiben, wenn die nationalen und internationalen Einflußfaktoren im Zusammenhang betrachtet werden. Drei Beispiele sollen das illustrieren: Zum einen ist auf die Tradition der Sozialreform hinzuweisen, hier konkret auf die Bewahrung des Systems der deutschen Sozialversicherung. Zum andern muß das Augenmerk auf die Grundlegung der Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat (Art. 20

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GG), auf die ‚Demokratiegründung in Westdeutschland‘ gerichtet werden.³⁷ Zum dritten schließlich geht es um die Vergewisserung bestimmter nationaler Traditionen und Wertvorstellungen aus der Geschichte des Deutschen Reichs, die gewichtige Teilelemente nationalkonservativer bürgerlicher Identität in der Bundesrepublik lebendig erhalten sollten, um so den Nationalsozialismus und das Dritte Reich in der deutschen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert als eine ‚dämonische‘ Fehlentwicklung zu isolieren.³⁸ (1) Der Aufbau der deutschen Sozialversicherung in der Ära Bismarck war einer der wichtigsten „Aktivposten“³⁹ des Deutschen Reichs im internationalen Kontext der Hochindustrialisierung. Er galt als Ausweis für die Fortschrittlichkeit der politischen und sozialen Ordnung des Kaiserreichs, ja er stützte das sich allmählich formende Bewußtsein von einer vermeintlichen Überlegenheit Deutschlands über seine Nachbarn, auch und gerade gegenüber den westlichen Nationen und ihrem politischen System der liberalen Demokratie. Nicht dieses System hatte als erstes einen derart weitgreifenden Schritt sozialer Reform zu tun vermocht, sondern das paternalistische und autoritäre System des Deutschen Reichs. Hans Günter Hockerts hat pointiert geurteilt, wenn man in die historische Bilanz des Deutschen Reichs neben den Nachteilen auch die Vorzüge hineinschreiben wolle, dann gehöre der Aufbau des Systems sozialer Sicherung zu den wichtigsten Posten auf der Haben-Seite.⁴⁰ Damit sollte es 1945 nach dem Willen der Sieger über das nationalsozialistische Deutschland vorbei sein. 1946 erwog der Alliierte Kontrollrat, mit dem Entwurf eines gesamtdeutschen Gesetzes für eine Einheitsversicherung die deutsche Tradition der gestuften und differenzierten Versicherung völlig zu beseitigen.⁴¹  Karlheinz Niclauß, Demokratiegründung in Westdeutschland. Die Entstehung der Bundesrepublik 1945 – 1949. München 1974.  Gerhard Ritter, Dämonie der Macht. 6. Aufl. München 1948. Das Buch des dem Widerstand nahestehenden Historikers Ritter deckte deutlich die Ratlosigkeit des überwiegend protestantischen nationalkonservativen Bürgertums vor der Aufgabe auf, das Dritte Reich in der Geschichte des deutschen Nationalstaats historisch zu verorten. Die Kategorie des „Dämonischen“ schien einen der Fluchtwege aus dem Dilemma zu weisen.  Hans Günter Hockerts, Sicherung im Alter. Kontinuität und Wandel der gesetzlichen Rentenversicherung 1889 – 1979, in: Conze, Werner/Lepsius, M. Rainer (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem. Stuttgart 1983, S. 296 – 323, hier S. 299.  Ibid.  Die Wirkung des Beveridge-Report für die Konzeption eines einheitlichen Systems sozialer Sicherung darf hierbei nicht übersehen werden. Vgl. José Harris, William Beveridge. A Biography. Oxford 1977; José Harris, Einige Aspekte der britischen Sozialpolitik während des Zweiten Weltkriegs, in: Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850 – 1950. Stuttgart 1982, S. 255 – 270.

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Der Widerstand dagegen regte sich nicht nur aus berechtigten materiellen Motiven, denn den Alliierten ging es nicht zuletzt um deutliche Einsparungen bei der Altersversorgung. Der Widerstand galt vielmehr ganz besonders dem Symbol – der Sozialversicherung als einem der wenigen Traditionselemente, „an die das bürgerliche Deutschland in Anbetracht der ‚deutschen Katastrophe‘ auf der Suche nach einem historischen Identitätsbewußtsein leicht anknüpfen könnte“.⁴² Deshalb ging es hier um einen energisch gehüteten „Restbestand nationalen Stolzes“.⁴³ Die deutsche Sozialversicherungstradition blieb schließlich gewahrt, und die junge Bundesrepublik baute mit dieser Tradition den Sozialstaat aus. Die wichtigste Einzelmaßnahme, die in der Wiederaufbauzeit getroffen wurde, war die schon erwähnte Rentenreform des Jahres 1957. Nicht zufällig vereinten sich zu ihrer Unterstützung im politischen Willensbildungsprozeß die sozialreformerischen Kräfte aus den traditionellen Lagern des Sozialkatholizismus und der Arbeiterbewegung zu einer ‚großen Koalition‘, deren Profil mit der Großen Koalition ein Jahrzehnt später wenig gemein hatte. Gleichwohl hat die Erosion der traditionellen Lager, die sich zwischen 1957/58 und 1972/73 vollzog, dieser informellen großen Koalition zur Stabilisierung des Sozialstaats – nach allem, was wir bis heute wissen – wenig anhaben können. Es ist ein Problem künftiger Forschung, ihre Integration in den politischen Kontext der vom Keynesianismus geprägten Großen Koalition zu untersuchen und herauszufinden, ob sie in den liberalen Konsens, der aus Westernisierungseinflüssen resultierte, eingeschmolzen wurde, ob sich eine deutsch-westliche Mischform im Bereich der Sozialstaatlichkeit herausbildete oder ob hier in der Tat ein Kernbestand nationaler Tradition weitgehend unverändert erhalten geblieben ist. Kurzum, das Gesetz über die Rentenreform von 1957, das durch die Idee des Generationenvertrags und der dynamischen Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung die Altersarmut beseitigte und damit die Befindlichkeit und Stimmungslage der älteren Generation im Übergang von den 50er zu den 60er Jahren in einem kaum zu überschätzenden Maß veränderte, bildete einen Eckstein der in ihrem konzeptionellen Bestand bewahrten und den Zeitumständen angepaßten Sozialstaatlichkeit im Wiederaufbaujahrzehnt. „Angesichts der Tatsache, dass viele Bereiche des westdeutschen Lebens von der ‚westernization‘ bis ins Mark erfaßt und verwandelt worden sind“, ist dieser Befund mit besonderem Nachdruck zu artikulieren. Dessen ideelle Dimension zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der ‚Sozialstaat‘ einer sprachlichen Anglizi-

 Hockerts, Sicherung, S. 310.  Ibid.

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sierung entzogen blieb. „Schon die steile Karriere, die das Wort ‚Sozialstaat‘ nach 1945 im westdeutschen Sprachgebrauch nahm, ist aufschlußreich genug. Dieses Wort wehrte die Eindeutschung von ‚welfare state‘ ab und somit auch das Eindringen wohlfahrtsstaatlicher Reformideen britisch-skandinavischer Herkunft (mit allgemeiner Staatsbürger-Grundrente und einem überwiegend steuerfinanzierten nationalen Gesundheitsdienst). […] Die sozialstaatliche Formung der Bonner Republik war in allen wesentlichen Punkten ein Produkt innerdeutscher Debatten und Entscheidungen.“⁴⁴ Diese Feststellung gilt sicherlich für die 50er Jahre, als sich die Westernisierungseinflüsse in der westdeutschen Gesellschaft ganz allmählich auszubreiten begannen. Bedenkt man jedoch, dass ihre Wirkung erst in den 60er Jahren spürbar wurde, stellt sich dann doch die Frage, ob nicht die zweite Rentenreform von 1972⁴⁵ als Resultat der parlamentarischen Konkurrenz der Bundestagsparteien auch ein Ausdruck von politischem Agieren im Rahmen des pragmatischen liberalen Konsenses gewesen sein könnte. Das würde die bisher mögliche Diagnose unterstützen, dass die 60er Jahre das Jahrzehnt der offen wirksamen Westernisierung waren, dass Westernisierung im Sinne von ideeller Westorientierung und gesellschaftlichem Wandel aus dem Fundus des Wiederaufbaus heraus zum Durchbruch gelangte und eben insbesondere jene Zeit prägte, in der die Bundesrepublik ihr historisches Profil ausbildete. (2) Die Demokratiegründung in Westdeutschland vollzog sich in einem engen Wechselspiel von verfassungs- und verwaltungspolitischem Handeln einerseits und internationaler Politik andererseits.⁴⁶ Die Aufforderung der Westmächte an die Ministerpräsidenten in den westlichen Zonen, die in den ‚Frankfurter Dokumenten‘ vom 1. Juli 1948 niedergelegt war und dahin ging, eine verfassunggebende Versammlung für die Westzonen einzuberufen und damit die gesamtdeutschen Hoffnungen vorerst auf sich beruhen zu lassen, präjudizierte das spätere Grundgesetz, aber es leitete nicht den Oktroy fremder Verfassungsvor-

 Hans Günter Hockerts, Einleitung, in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München 1993, S. 7– 25, hier S. 10.  Vgl. Hans Günter Hockerts, Sicherung, S. 317 f.; Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz. Die Rentenreform 1972 – ein Lehrstück, in: Bracher, Karl Dietrich u. a. (Hrsg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag. Berlin 1992, S. 903 – 934.  Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945 – 1949. 2. Aufl. Stuttgart 1980; Niclauß, Demokratiegründung; Udo Wengst, Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland. Düsseldorf 1988.

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stellungen ein.⁴⁷ Trotz verschiedener Auseinandersetzungen des Parlamentarischen Rats mit den Militärgouverneuren und alliierten Verbindungsoffizieren war die Verfassungsgebung ein Werk der Deutschen in dem Sinne, dass die Mitglieder des Rats in den Ausschüssen und im Plenum in eine Auseinandersetzung über die deutsche Verfassungstradition eintraten.⁴⁸ Sie führten die Beratungen mit Blick auf die Weimarer Reichsverfassung und deren vermeintliche Mängel, weil aus der Republik die Diktatur hervorgegangen war.⁴⁹ Die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit – der fehlgeschlagenen Verfassungskonzeption der Nationalversammlung in der Paulskirche, den Mängeln oder Schwächen der Weimarer Reichsverfassung, der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur – und die Auseinandersetzung mit der deutschen Gegenwart durch die Anschauung der deutschen Teilung, Herausbildung einer kommunistischen Diktatur in der sowjetischen Zone und dem Willen der Westmächte, ihre Besatzungszonen zu einer politischen Einheit auszugestalten, beeinflußte die Ratsmitglieder dahin, die Abstimmung mit den westlichen Militärregierungen zu suchen und die verschiedenen Konflikte nicht auf die Spitze zu treiben. Aber das Grundgesetz war ihr Werk und repräsentierte als solches die Brüche und Belastungen der Demokratie in Deutschland. Die Verfassungswirklichkeit der jungen Bundesrepublik war von diesem Sachverhalt deutlich geprägt. Der Antitotalitarismus erzeugte den verfassungspolitischen Grundkonsens der westdeutschen Gesellschaft. Er bestand darin, dass man den Gegensatz zwischen Demokratie und jeglicher Form von Diktatur als einen Fundamentalkonflikt wertete, welcher die bundesdeutsche politische Existenz im letzten überhaupt legitimierte. Zeitbedingt gewann der Antitotalitarismus eine einseitige Ausrichtung gegen den Kommunismus, die es erleichterte, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf eine abstrakte Ebene zu heben und durch das Medium der Politischen Bildung zu formalisieren, so dass persönliche Erfahrung und gesellschaftliche Verstrickung nicht zur Sprache zu kommen brauchten.⁵⁰ Demgegenüber prägte die im Kalten Krieg angelegte Anti Vgl. Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Die Entstehung des Grundgesetzes. Göttingen 1998.  Vgl. Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle. Hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv. Bd. 8. Die Beziehungen des Parlamentarischen Rats zu den Militärregierungen. Bearb. von Michael F. Feldkamp. Boppard 1995.  Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Reichsverfassung zum Bonner Grundgesetz. Tübingen 1960; Werner Sörgel, Konsensus und Interessen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1969.  Vgl. hierzu die gegensätzlichen Studien von Manfred Kittel, Die Legende von der „Zweiten Schuld“. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Berlin 1993, und Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996.

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these von freiheitlicher Demokratie und kommunistischer Diktatur nicht nur Politik und Propaganda, sondern durchdrang das Alltagsleben intensiv.⁵¹ Gleichwohl vollzog sich die Ausgestaltung der demokratischen Grundordnung im Sinne des antitotalitären verfassungspolitischen Konsenses, indem in den ersten Jahren der Bundesrepublik penibel darauf geachtet wurde, die Demokratie vor potentiellen Gefährdungen zu schützen. Die Verbotsverfahren des Bundesverfassungsgerichts gegen die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) und gegen die stalinistische KPD zeigten das an.⁵² Überhaupt war es das Kennzeichen der Verfassungswirklichkeit in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der Bundesrepublik, dass die Demokratie als Herrschafts- und Verwaltungsprinzip begriffen und ihre Sicherung gegen potentielle Gegner als eine Sicherung von Institutionen betrieben wurde. Die Kehrseite dieses Sachverhalts lag in der Vernachlässigung breitenwirksamer demokratischer Bewußtseinsbildung. In den 50er Jahren war die Demokratie noch keineswegs zur Lebensform der Gesellschaft geworden, vielmehr prägten obrigkeitliches Denken und patriarchalische Strukturen dieses Jahrzehnt, welches daher – von heute aus betrachtet – mehr Ähnlichkeit mit den späten 20er und den 30er Jahren aufwies als mit den 70er oder 80er Jahren.⁵³ In den 60er Jahren begann sich das allmählich zu ändern. Als symbolischer Anfang kann die ‚Spiegel‘-Krise vom Herbst und Winter 1962 gelten.⁵⁴ In der ‚Spiegel‘-Krise artikulierte sich erstmals eine breite Öffentlichkeit im Protest gegen die Bundesregierung, welche rechtsstaatliche Prinzipien eklatant verletzt hatte. Diese gesellschaftliche Öffentlichkeit verschmolz in ihrer Kritik an der Regierung mit der politischen Öffentlichkeit des Bundestags, und dadurch gewann der Protest den Charakter des Plebiszits. Darin zeigte sich eine Stabilisierung des demokratischen Gemeinwesens, denn hier artikulierte sich erstmals ein selbstbewußtes staatsbürgerliches Demokratieverständnis in der Bevölkerung, wie es das in Weimar nie gegeben hatte.⁵⁵ Von da an entfaltete sich die liberale Demokratie in der Bundesrepublik als gleichermaßen politische wie soziale Lebens-

 Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg. München 1974, S. 231– 260 u. 371– 463  Manfred Jenke, Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus nach 1945. Berlin 1961; Hans-Helmuth Knütter, Ideologien des Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Eine Studie über die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Bonn 1961; Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 1978.  Vgl. Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie.  Vgl. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 381– 386.  Hans Mommsen, Von Weimar nach Bonn S. 745 – 758. Der Beitrag ist stark von einem primär staats- und institutionenbezogenen Demokratieverständnis geprägt.

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form, wie es für die liberal democracy der atlantischen Länder charakteristisch war. Willy Brandts Aufruf in der Regierungserklärung vom Oktober 1969, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen⁵⁶, resümierte folglich eine Entwicklung, die sich bis dahin schon durchaus dynamisch vollzog und im Jahr des Regierungswechsels zu einem verbreiteten Grundbedürfnis in der Gesellschaft geworden war. Die sozialliberale Regierung erhob jetzt den Anspruch, dieses Bedürfnis und den gewandelten Zustand der Bundesrepublik als liberal democracy zu repräsentieren. (3) Das Geschichtsbild der Nachkriegszeit wies einige Merkmale auf, die sich in den Ansichten vieler Historiker zum 19. und 20. Jahrhundert und insbesondere der meisten führenden Vertreter des Fachs während der 50er und 60er Jahre kristallisierten, um dann ab Mitte des Jahrzehnts in den Hintergrund zu treten.⁵⁷ Es herrschte ein durchweg positives Urteil über die Geschichte des deutschen Kaiserreichs von 1871 bis 1914 vor. Darin spielte die Vorstellung von der heroischen Begründung des deutschen Nationalstaats eine wichtige Rolle, weil dessen Einheit in der Gegenwart verloren und in der Zukunft wiederzugewinnen war. Aber bedeutungsvoller für die Geschichtsschreibung der Historiker erwies sich das Problem, mit Blick auf den Gesamtzeitraum der Reichsgeschichte eine Epoche namhaft zu machen, die das Gefühl von positiver Tradition vermitteln und einen Bezugspunkt für nationale Identität bieten mochte. Diese Funktion wurde dem Kaiserreich bis zum Ersten Weltkrieg zugemessen.⁵⁸ Dagegen ließen sich dann die Revolution von 1918/19 und die nachfolgenden Jahre der Instabilität unter der Republik sowie vor allem die ‚dämonische‘ Verführungskraft der Hitlerdiktatur abgrenzen. Dieses Geschichtsbild baute auf Vorannahmen auf und fußte auf Quellenbeständen aus dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg. Dadurch transportierte es implizit historisch-politische Wertvorstellungen aus den 20er in die 50er Jahre.⁵⁹

 Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 504.  Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1993; Ernst Schulin (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 – 1965. München 1989.  Vgl. dazu die Sammelbände, in denen – unterschiedlich gewichtet – die Positionen der Historiographie bis zu den 60er Jahren und die kritischen Positionen, die seit etwa 1960 in die Diskussion kamen, artikuliert wurden: Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Stuttgart 1970; Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945. Köln u. a. 1971; Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870 – 1918. Düsseldorf 1970.  Vgl. z. B. Egmont Zechlin, Bismarck und die Grundlegung der deutschen Großmacht (1930). 2. erw. Aufl. Darmstadt 1960; Gerhard Ritter, Bismarck und die Rhein-Politik Napoleons III., in: Rheinische Vierteljahrsblätter 15/16, 1950/51, S. 339 – 370. Zur Einordnung in die Forschungsdiskussion siehe Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871– 1918. München 1989.

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In der Frühgeschichte der Bundesrepublik wurde die Tatsache wirkungsmächtig, dass der Blick auf den verlorenen Nationalstaat beim Ersten Weltkrieg innehielt. Die Wahrnehmung der nachfolgenden Epoche erfolgte aus einer veränderten Perspektive, indem man die Revolution von 1918/19 und die Weimarer Republik als ‚Zeitgeschichte‘ auf einem anderen historischen Terrain verortete und das Dritte Reich als eine ‚dämonische‘ Fehlentwicklung der nationalen Geschichte interpretatorisch gewissermaßen exterritorialisierte.⁶⁰ Dadurch blieben Vorstellungen lebendig, die aus der Zeit des Kaiserreichs herrührten und ihre krasseste Überzeichnung in den ‚Ideen von 1914‘ gefunden hatten.⁶¹ Deren ideengeschichtliche Bindung an den Idealismus und die damit verknüpfte Verwurzelung des geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses im Historismus hinderten die Historiker daran, analytische Vorstellungen und methodische Instrumentarien zu entwickeln, um die sozialen und politischen Bedingungen für die Entstehung und Ausbreitung der deutschen Ordnungsideen, nicht zuletzt für die Auffassung von deren vermeintlicher Überlegenheit über die politische Kultur der westlichen Demokratien zu untersuchen. Es handelte sich hierbei um die nach 1945 noch virulenten Restbestände des oft beschriebenen und vielfach diskutierten politisch-ideellen ‚Sonderbewußtseins‘ der Deutschen.⁶² Das Geschichtsbild der 50er Jahre repräsentierte solche ideellen Trends und stabilisierte sie für eine gewisse Zeit aufs Neue. Indem das Kaiserreich und die borussisch-kleindeutsche Version seiner Vorgeschichte als positive Tradition beschrieben wurden, ließen sie sich gegen das Dritte Reich als das Negative, ‚Fremde‘ leichter abgrenzen. Besonders ausgeprägt war das Bemühen um die Rehabilitierung der preußischen Tradition in der deutschen Geschichte und ihre Abgrenzung gegen den Mißbrauch von Macht und Recht im NS-Staat im Werk von Gerhard Ritter, einem Historiker, der dem Widerstand nahegestanden hatte und in den 50er Jahren eine führende Rolle in der Geschichtswissenschaft der Bundes-

 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1, 1953, S. 1– 9.  Lübbe, Die philosophischen Ideen von 1914; Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1969, als Überblick über die Forschungsentwicklung siehe Reinhard Rürup, Der „Geist von 1914“ in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Krieges im Ersten Weltkrieg, in: Hüppauf, Bernd (Hrsg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein im Taunus 1984, S. 1– 30.  Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980. Zur Kritik an der These vom deutschen Sonderweg und zu seiner Begründung des Begriffs Sonderbewußtsein vgl. den Diskussionsbeitrag von Karl Dietrich Bracher im Kolloquium des Instituts für Zeitgeschichte vom November 1981: Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität. München u. a. 1982.

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republik spielte.⁶³ Die historistische Schulung und der lebensgeschichtliche Einfluß des deutschen Sonderbewußtseins galten Ritter als Maßstab,⁶⁴ und er äußerte sich dementsprechend auch in einer der politisch verbindlichsten Situationen, in die sich ein zeitnah arbeitender Historiker in der alten Bundesrepublik hineingestellt sehen konnte: Vor dem Deutschen Bundestag sprach Ritter am 17. Juni 1955 anläßlich des zweiten Jahrestages des Volksaufstands in der DDR zum „Tag der deutschen Einheit“ über die „Unteilbarkeit deutscher Vaterlandsliebe“. Er wies eigens auf die „selbständige Entwicklung deutscher Freiheitsideale“ hin und nannte sie die „besten und wertvollsten Überlieferungen deutscher Geschichte“. Dann fügte er an: „Der Staat ist politische Volksgemeinschaft, die sich als sittliche Gemeinschaft freier Volksgenossen zu bewähren hat; die Freiheit ist freiwillige Hingabe zum Dienst an solcher Gemeinschaft, in der allein sich der Mensch als sittliches Wesen vollendet und damit erst zur Persönlichkeit im höheren Sinne reift.“⁶⁵ Ritter vertrat das nationale Geschichtsverständnis in seiner bürgerlich-konservativen, preußisch-kleindeutschen und protestantischen Spielart mit Entschiedenheit. In den 60er Jahren wurden solche Auffassungen von Gegenargumenten marginalisiert, die sich seit den 50er Jahren auszuformen begannen und überwiegend noch selbst im historistischen Geschichtsverständnis wurzelten. Doch in zweierlei Hinsicht kamen hier deutlich abweichende Positionen ins Spiel. Das geschah, erstens, durch die Enttabuisierung der Außen- und Weltpolitik in der Wilhelminischen Epoche und damit verbunden durch die Frage nach dem deutschen Anteil an der Entstehung des Ersten Weltkriegs. Die Forschungen von Fritz Fischer während der 50er Jahre⁶⁶ waren in diese Richtung gegangen, und in der

 Vgl. Klaus Schwabe/Rolf Reichardt (Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen. Boppard 1984, insbesondere die Einleitung von Klaus Schwabe, S. 1– 170.  Ritter war bemüht, die preußische Geschichte darzustellen als „eine Ordnung, die als gesunde, d. h. dem wirklichen Leben, den wirklichen sozialen und nationalen Lebensbedürfnissen und Kräfteverhältnissen angemessene Rechtsordnung“ begriffen werden müsse. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland. Bd. 1. Die altpreußische Tradition (1740 – 1890). 4. Aufl. München 1970 (urspr. 1954), S. 22.  Gerhard Ritter, Von der Unteilbarkeit deutscher Vaterlandsliebe, in: Wolfgang, Wilhelm (Hrsg.), Bewährung im Widerstand. Gedanken zum deutschen Schutz. Stuttgart 1956, S. 23 – 40, hier S. 35 f. Zum Freiheitsbegriff, auf den Ritter sich bezog, vgl. Leonard Krieger, The German Idea of Freedom. History of a Political Tradition. 2. Aufl. Chicago, IL u. a. 1972; vgl. auch Lars Clausen/ Carsten Schluter (Hrsg.), Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion. Opladen 1991.  Fritz Fischer, Deutsche Kriegsziele, Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914– 1918, in: Historische Zeitschrift 188, 1959, S. 249 – 310; Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961.

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‚Fischer-Kontroverse‘ seit 1961 über die initiierende Mitverantwortung der deutschen Eliten am Kriegsausbruch⁶⁷ wirkte Ritter als einer der schärfsten und erbittertsten Antipoden Fischers.⁶⁸ Was er im Verlauf der Kontroverse wahrnehmen mußte, war die geradezu radikale Abkehr der meisten, zumal der jüngeren westdeutschen Neuzeithistoriker und eines weiten Teils der Publizistik von der idealistischen und historistischen Gedankenwelt reichsdeutscher Provenienz, in der seit dem Ersten Weltkrieg die ‚Ideen von 1914‘ aufgehoben gewesen waren und in die Ritter ungeachtet seiner Gegnerschaft gegen solche extremen Zuspitzungen selbst eingebunden war. In den 60er Jahren wirkte die ‚Fischer-Kontroverse‘ innerwissenschaftlich wie auch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit als Katalysator dieser Entwicklung.⁶⁹ Für sich betrachtet, handelte es sich hier um ein internes bundesdeutsches Geschehen, in dessen Verlauf die Reaktion auf den Zusammenbruch 1945 zusammen mit der Erfahrung des parlamentarisch-demokratischen Wiederaufbaus und der pluralistischen Reorganisation der Gesellschaft jetzt zu einer kritischen Neubewertung des nationalen Geschichtsbildes führte. Zweitens wurden Sichtweisen, die vom tradierten Geschichtsverständnis deutlich abwichen, durch den Einfluß der empirischen Sozialwissenschaften in die Diskussion eingeführt. Sie hatten spürbare Wirkung auf die historische Urteilsbildung, den akademischen Betrieb und das geistige Klima in der Bundesrepublik. Aus verschiedenen europäischen und amerikanischen Wurzeln hervorgewachsen, bildeten die Sozialwissenschaften nach 1945 einen wichtigen Bestandteil im US-amerikanischen Konzept zur möglichst weltumspannenden Grundlegung der westlichen Demokratie.⁷⁰ Auch in der Bundesrepublik erfolgte

 Vgl. Ernst W. Graf zu Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914– 1918. Eine Diskussion. Frankfurt am Main u. a. 1964. Als rückschauenden, auch die Literaturberichte resümierenden Beitrag vgl. Gregor Schöllgen, Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse, in: Historisches Jahrbuch 106, 1986, S. 386 – 406; Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914– 1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Göttingen 1984.  Gerhard Ritter, Eine neue Kriegsschuldthese? Zu Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, in: Historische Zeitschrift 194, 1962, S. 646 – 668, hier S. 646 ff.; dort sprach er von der „Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins“, welches „seit der Katastrophe von 1945 die frühere Selbstvergötterung verdrängt“ habe. Ibid., S. 667 f.  Vgl. die zeitgenössischen Texte, die als historische Quelle das geistige Klima der „langen 60er Jahre“ prägnant spiegeln: Wolfgang J. Mommsen, Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971; Hans-Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: Habermas, Jürgen (Hrsg.), Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘. Bd. 2. Politik und Kultur. Frankfurt am Main 1979, S. 709 – 753.  Der weitere Zusammenhang, insbesondere die Organisation innerhalb der US-Bundesregierung sowie der Einsatz verschiedener Regierungsbehörden als Agenturen für die Ausbreitung der

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die „wissenschaftliche Grundlegung der westlichen Demokratie“⁷¹ über die gezielte Förderung von wissenschaftlichen Institutionen und Einrichtung von Lehrstühlen, die sich dem neuen Prinzip der empirischen Erforschung gesellschaftlicher und politischer Strukturen widmeten. Soziologie und Politologie wurden dadurch in einem sehr frühen Stadium der Nachkriegszeit zu Fächern, die der Westernisierung den Weg bereiteten. Das vollzog sich unauffällig neben dem machtvollen Wiederaufleben des tradierten historistischen Geschichtsbildes der Reichsnation, welches mit westlichen Augen betrachtet ganz stark an ‚Weimar‘ gemahnte.⁷² Die beiden „Demokratiewissenschaften“⁷³ zielten aber, soweit USamerikanischer Einfluß darin zur Geltung kam, auf die Überwindung der Weimarer Tradition und damit auch der politisch-kulturellen Schwächen der Weimarer Verfassungswirklichkeit, anders gesagt: auf die Überwindung des deutschen Sonderbewußtseins als gesellschaftlich verankertem Vorverständnis der Geistes- und Sozialwissenschaften.⁷⁴ Karl Dietrich Brachers „Auflösung der Weimarer Republik“ war ein früher und wirkungsvoller Ausdruck der neuen Einflüsse

Sozialwissenschaften mit einem Set von erfahrungswissenschaftlicher Methodik zur Grundlegung des westlichen demokratischen Systems, kann hier nicht ausgebreitet werden; vgl. dazu Bernhard Plé, Wissenschaft und säkulare Mission. „Amerikanische Sozialwissenschaft“ im politischen Sendungsbewußtsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1990; vgl. auch Hermann Josef Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945 – 1952. Opladen 1993, S. 110 – 172.  Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S. 217.  Zur Umwertung von definitorischen Kernbestandteilen des deutschen Eigenbewußtseins im Zuge der „reorientation“-Politik des amerikanischen Hochkommissariats, in die sich die publizistische Zielsetzung der Zeitschrift „Der Monat“ einordnete, vgl. Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 182– 198. ‚Deutsch‘ wurde als Synonym für ‚kleindeutsch-preußisch‘ und ‚protestantisch‘ verwendet und negativ gewertet, den positiven Gegenpol bildeten Traditionen aus dem linksliberalen, sozialdemokratischen oder katholischen Spektrum, die dann als in stärkerem Maß ‚europäisch‘ denn ‚deutsch‘ eingestuft wurden. Daraus ergab sich die negative Bewertung der dominierenden politisch-kulturellen Wertorientierungen in der Weimarer Republik. Die politische Kultur der Weimarer Republik fiel unter das Rubrum ‚deutsch‘.  Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S. 262– 289.  Vgl. Arno Mohr, Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Weg zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik 1945 – 1965. Bochum 1988; Gerhard Göhler/Bodo Zeuner (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft. Baden-Baden 1991. Zur Soziologie siehe neben der Studie von Plé, Wissenschaft und säkulare Mission auch Johannes Weyer, Westdeutsche Soziologie 1945 – 1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß. Berlin 1984; M. Rainer Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 – 1967, in: Luschen, Günther (Hrsg.), Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungslinien und Praxisbezug. Opladen 1979, S. 25 – 70.

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im intellektuellen Kontext der deutschen Tradition.⁷⁵ Die Studie verband theoretisch-normative Zugriffsweisen mit historischen und verkoppelte so systematische Fragestellungen der Politologie mit solchen der historistischen Geschichtstradition, die auf den verstehenden Nachvollzug des Handelns geschichtsmächtiger Männer konzentriert war.⁷⁶ Brachers Haltung in der Fischer-Kontroverse war deshalb besonders signifikant: Er unterstützte gegen die anfänglich noch mehrheitsfähige Position des ideologischen Nationalkonservatismus im Gefolge Ritters die Auffassungen Fritz Fischers und der ausländischen Historiker, die zu Fischer standen. Er sprach gegen jede „falschverstandene Staatsräson“ und strich Fischers Verdienst heraus, entscheidende Impulse zur Überprüfung der deutschen Traditionen gegeben zu haben.⁷⁷ Das veränderte Bild vom deutschen Nationalstaat, die Enttabuisierung der wilhelminischen Außenpolitik durch die Fischer-Kontroverse und die Entstehung eines historisch-sozialwissenschaftlichen Interesses an den Strukturen des Kaiserreichs, schließlich die daraus abgeleitete Frage nach strukturellen Kontinuitäten in der deutschen Geschichte von Bismarck zu Hitler verweisen auf die Herausbildung des für die Bundesrepublik seit den 60er Jahren charakteristischen, unverwechselbar westdeutschen kulturellen Profils. Als Anbahnungsphase künftiger Veränderungen geraten erneut die 50er Jahre in den Blick, in denen die geistigen Orientierungen aus den 20er Jahren noch einmal das Übergewicht zu erhalten schienen. Im Übergang von den 50er zu den 60er Jahren begannen charakteristische Elemente der nationalen Tradition an Verbindlichkeit zu verlieren und gerieten in den Hintergrund. Der Niedergang des „traditionalen Geschichtsbildes“⁷⁸ vollzog sich dann parallel, bisweilen auch nachholend zum Wandel von Einstellungsmustern und Orientierungen, der die Zeit vom Ende der

 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Königstein im Taunus. 1978 (urspr. 1955). Die Arbeit entstand an der Freien Universität im Referenzrahmen des geschichtswissenschaftlichen und des politikwissenschaftlichen Instituts. Die Bedeutung der FU Berlin im Zusammenhang der Westernisierung arbeitet Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, S. 155 ff., heraus; das Gewicht des „Instituts für politische Wissenschaft“ als „Orientierungsinstanz“ zeigt Plé, Wissenschaft und säkulare Mission, S. 274 f.; vgl. auch Bracher, Auflösung der Weimarer Republik, S. XXIV.  Das Vorwort spricht den verschränkten Ansatz aus Geschichtswissenschaft und Politologie an. Der erste Teil der Studie (S. 1– 253) bietet systematische Zugänge zur prekären Machtstruktur in Deutschland, die nicht zufällig von einer Betrachtung des deutschen „Eigenweges“ nach der Französischen Revolution ihren Ausgang nehmen und über den wilhelminischen Obrigkeitsstaat zur Revolution und Neuordnung 1918/19 führen.  Karl Dietrich Bracher,Vorspiel zur deutschen Katastrophe, in: Neue Politische Literatur 7, 1962, Sp. 471– 482.  Jäger, Historische Forschung, S. 106.

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Regierung Adenauer bis zum Beginn der Regierung Brandt-Scheel beherrschte. Zwar war die Fachhistorie in der Bundesrepublik keinen gezielten Westernisierungseinflüssen ausgesetzt, wie das schon seit 1946 für die Sozialwissenschaften galt und wie wir es mit Blick auf intellektuelle Eliten sowie auf Parteien und Verbände im linken Spektrum der westdeutschen Gesellschaft für die 50er und frühen 60er Jahre nachweisen konnten. Deswegen erfolgte der Wandel langsam und vergleichsweise spät. Aber er vollzog sich auf ähnliche Weise wie andernorts unter scharfen polarisierenden Spannungen, und er wurde vorangetrieben durch den Druck, den die neuartigen Sozialwissenschaften infolge ihrer – als fortschrittlich wahrgenommenen – thematischen und methodischen Andersartigkeit, auch infolge ihrer zunehmenden Akzeptanz im öffentlichen Meinungsklima auf ein Fach ausübten, das sich in Deutschland bis 1918 traditionell als eine Legitimationswissenschaft der staatlichen Obrigkeit und der herrschenden Ordnung begriffen und seitdem zwischen Beharrung und Neuorientierung keinen Königsweg zu finden vermocht hatte.⁷⁹

4. Der politisch-ideelle und gesellschaftliche Wandel in der Bundesrepublik erweist sich als ein Phänomen, welches das Erscheinungsbild der 60er Jahre beherrschte und diesem Jahrzehnt die Eigenschaft zuwachsen ließ, die eigentliche Schwelle zwischen der Gegenwart seit etwa 1970 und der Vergangenheit zu bilden. Vergangenheit – das waren die 50er Jahre mit ihren vielen Ähnlichkeiten zu den späten 20er und frühen 30er Jahren. Das Verständnis der 60er Jahre erschließt sich allerdings nicht aus einer zeitgeschichtlichen Analyse, die sich bloß auf dieses eine Jahrzehnt oder auch auf die Zeitspanne der wichtigsten Reform- und Wandlungsprozesse von etwa 1957 bis 1972/73 beschränkt.Vertiefter Einblick sowohl in die Besonderheiten, als auch in die historischen Bedingungen der vielfältigen Veränderungen jener Zeit ist erst dann zu gewinnen, wenn man nach den Voraussetzungen und den Antriebskräften des Wandels fragt. Wir finden sie in mannigfaltigen Spielarten in den 50er Jahren, die sich somit als die Inkubationszeit des Reformjahrzehnts erweisen. Dieser Zusammenhang zwischen den beiden Dekaden sollte nicht mit der Be Auf den aus völkischen Einflüssen und dem „Raum“-Revisionismus der Zwischenkriegszeit hervorgewachsenen deutschen Zweig der Sozialgeschichte kann hier nur hingewiesen werden. Dessen Einbettung in den skizzierten Kontext ist noch zu leisten. Vgl. aber Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918 – 1945. Göttingen 1993.

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merkung überspielt werden, dass Wertorientierungen und Zeitgeist des Jahres 1950 scheinbar so weit entfernt von denen des Jahres 1970 erscheinen. Die Unterströmungen der Nachkriegslandschaft in Westdeutschland erweisen sich als mindestens ebenso wichtig wie das Oberflächenprofil. Wir sehen, dass es keineswegs in erster Linie die Besatzungspolitik von 1945 bis 1949 gewesen ist, welche die nicht nur politische und wirtschaftliche, sondern auch kulturelle und ideelle Orientierung der Gesellschaft der Bundesrepublik hin zum europäisch-atlantischen Westen bewirkte. Starke Impulse und eminent wirkungsvolle Einflüsse erzeugten Meinungsbildungsprozesse, öffentliche Diskussionen und die Kämpfe um Meinungsführerschaft in den politischen Parteien, den Verbänden und im Geistesleben. Die erstaunliche Durchsetzungskraft der konsensliberalen Wertorientierung kann nicht allein mit deren zeitgemäßer Plausibilität, auch nicht mit der Macht der westlichen, insbesondere der angloamerikanischen Siegermächte erklärt werden, sondern sie hing aufs engste mit der Blockkonfrontation im Kalten Krieg zusammen. Die Teilung des Nationalstaats und die Konfrontation mit der Sowjetunion und dem Kommunismus unmittelbar nebenan in der DDR verliehen dem Antikommunismus in der Bundesrepublik das Gewicht der grundlegenden Gesellschaftsräson. Auf dieser Grundlage sahen die Westdeutschen zukünftig nur einen Ort: Nolens volens traten sie auf die Seite des Westens. Dieser Platz wurde um so entschiedener eingenommen, je stärker antitotalitäre Auffassungen in der internationalen öffentlichen Meinung eine Rolle spielten, denn mit der eindeutigen Stellung gegen die rote Diktatur im ostdeutschen Teilstaat verband sich implizit die scheinbar ebenso eindeutige Stellung gegen die braune Diktatur. Das „kommunikative Beschweigen“ (Hermann Lübbe) der jüngsten Vergangenheit gehörte zur gesellschaftlichen Praxis des Antitotalitarismus unmittelbar dazu. In einer solchen Situation konnten ideelle Einflüsse zur Geltung gelangen, die im Verlauf von etwa zwei Jahrzehnten wesentliche Wertorientierungen in der westdeutschen Gesellschaft umformten und in einen gesamtwestlichen Wertekonsens integrierten. In den 60er Jahren wurde das allseits fühlbar.

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Westernisierung

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Nach dem Boom: Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970 Der Boom – mit diesem Wort wird eine Epoche in der Geschichte des 20. Jahrhunderts umschrieben, die schon bald nach ihrem Ende von den Zeitgnossen in einer Mischung aus Enthusiasmus und Nostalgie als gute, ja bessere Zeit beschworen wurde. „Les Trente Glorieuses“ hieß es in Frankreich bei Jean Fourastié, der damit eine stehende Redewendung schuf. „The Society of Success“ formulierte Anthony Sutcliffe in England. Eric Hobsbawm sprach in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts vom „Golden Age“, und er nahm in diesem Werk eine Unterteilung des Jahrhunderts vor, welche die Epoche des Booms nur um so klarer ins Licht stellte: Dem „Katastrophenzeitalter“ von 1914 bis 1945 folgte das „Goldene Zeitalter“ nach 1945, das 1975 mit einem „Erdrutsch“ zu Ende ging.¹ Die Zeit des Booms waren die Jahrzehnte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Mitte der 1970er Jahre. Wir haben zu diskutieren, was diese Epoche so golden, so glorios erscheinen ließ, um die Frage² anschließen zu können, was nach dem Ende des Booms eigentlich geschah und wie das Geschehene zeithistorisch klassifiziert werden kann. Wie läßt sich die Zeit „nach dem Boom“ in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einordnen?

 Vgl. Jean Fourastié, Les trente glorieuses, ou la revolution invisible de 1946 à 1975. Paris 1979; Jean Fourastié, D’une France à une autre: avant et après les Trente Glorieuses. Paris 1987; Anthony Sutcliffe, An economic and social history of Western Europe since 1945. London 1996, S. 136 und passim; Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914– 1991. London 1994; Hartmut Kaelble, Vers une histoire sociale et culturelle de l’Europe pendant des années de l’„Après-Prospérité“, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 84, 2004, S. 169 – 179; Hartmut Kaelble, Der Boom 1948 – 1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa. Opladen 1992.  Dieser Aufsatz skizziert den Problemhorizont eines Forschungsvorhabens, das im Verbund des Tübinger Seminars für Zeitgeschichte und des Trierer Lehrstuhls für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte (Lutz Raphael) durchgeführt wird. Frühere Fassungen des Textes habe ich im Neuzeit-Kolloquium in Trier und im Institut für Zeitgeschichte in München vorstellen dürfen. Die Anregungen aus der intensiven Diskussion an beiden Orten waren mir eine große Hilfe. Die Leitfragen und Arbeitshypothesen des vorliegenden Texts wurden seit 2005 im Tübinger zeitgeschichtlichen Oberseminar konzipiert, ein Entwurf dieser Thesen dort kritisch diskutiert. Den Teilnehmern meines Oberseminars gilt mein besonderer Dank. https://doi.org/10.1515/9783110633870-014

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Über die 1970er und 1980er Jahre wissen wir dank verschiedener neuer Studien inzwischen recht gut Bescheid.³ Bisher ist allerdings kaum darüber nachgedacht worden, ob die Jahrzehnte seit etwa 1970 allein im Kontinuum der Nachkriegsgeschichte zu betrachten sind oder ob sie nicht auch, vielleicht sogar überwiegend, als der Beginn einer neuen Epoche, als eigenständiger Abschnitt der Zeitgeschichte, beschrieben werden müssen. So bleibt vorerst offen, mit welchen historischen Leitfragen und theoretischen Kriterien die Entwicklung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts analysiert werden könnte. Geht man von der Hypothese aus, dass mit dem Ende des Nachkriegsbooms eine klar definierbare Epoche auslief und eine neue, andere Zeit begann, muß zunächst geklärt werden, wie die Veränderungen der Industriemoderne seit 1970/75 in Wirtschaft, Staat und Politik, in der Gesellschaft und schließlich in den Wertorientierungen des Gemeinwesens beschaffen waren. Wie können wir den Wandel so erfassen, dass nicht nur Niedergang ins Auge sticht, sondern das Neuartige, Andere, Ungewohnte historisch aufgeschlüsselt und erklärt werden kann? In den neunziger Jahren und an der Wende zum 21. Jahrhundert hatte die Transformation der Industriesysteme des Westens (und in anderer Form in den zum Kapitalismus konvertierten Ländern des Ostblocks) ein derart rasantes Tempo angenommen, dass die revolutionäre Wucht des Geschehens nicht länger zu ignorieren war. Die Anpassung überkommener Handlungsprinzipien und Gewohnheiten an die veränderten Bedingungen allein im westeuropäischen und deutschen Rahmen wollte immer weniger gelingen. Artefakte und Zugehplätze der vergangenen Epoche verschwanden fast über Nacht – seien es Industriefabriken, mittelständische Betriebe oder etablierte Einzelhandelsgeschäfte, seien es Institutionen des Kulturbetriebs. Je mehr abgeräumt wurde, desto mehr wurde Nostalgie in der Alltagswelt zu einem guten Geschäft. Ein Unternehmen, das mit dem

 Vgl. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999; Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969 – 1990. München 2004; Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004 mit dem Rahmenthema „Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland“; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982– 1990. München 2006. Vgl. für Frankreich Timothy B. Smith, France in Crisis. Welfare, Inequality, and Globalization since 1980. Cambridge, MA 2004; für England Roderick Floud/Paul Johnson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Britain. Bd. 3. Structural Change and Growth, 1939 – 2000. Cambridge, MA 2004; Richard Heffernan, New Labour and Thatcherism. Political Change in Britain. London u. a. 2001; für Westeuropa Colin Crouch, Social Change in Western Europe. Oxford 1999.

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Werbeslogan daherkam: „Es gibt sie noch, die guten Dinge“, konnte der Nachfrage gewiß sein.⁴ Nostalgische Rückwendung ist nicht nur Reaktion auf das revolutionäre Tempo der Veränderungen in Wirtschaft, Arbeitswelt und Alltag, sondern auch Ausdruck des Sachverhalts, dass eine Jahrzehnte alte mentale Prägung in den westeuropäischen Gesellschaften des früheren EWG-Raumes, aber auch in Großbritannien und den skandinavischen Ländern, mit der Wirklichkeit an der Jahrhundertwende nicht mehr harmonierte. Nicht nur der Osten hatte mit 1989/90 seinen Kosmos verloren, sondern der Westen auch.⁵ Gewohnheit und Prägung einerseits, Anforderung und Zukunftserwartung andererseits, paßten oftmals nicht mehr zusammen. Das wirkte verstörend und lähmend auf die einen, begeisternd und anstachelnd auf die anderen. Worin aber lag das Neue? Wie sind die Jahrzehnte seit dem Ende des Nachkriegsbooms unter dem Gesichtspunkt von Bewahrung und Erneuerung einzuschätzen, welche Merkmale strukturellen Wandels und mentalen Verharrens lassen sich erkennen? Der Übergang vom „Goldenen Zeitalter“ zum „Erdrutsch“, um noch einmal Hobsbawm zu bemühen, erfolgte schrittweise und vielfach unbemerkt. Er markierte keinen Einschnitt wie das Kriegsende 1918, 1945 oder der Kollaps des Ostblocks 1989/90. Trotz der revolutionären Wucht, welche die marktliberale Aufsprengung und technologische Überwindung nationalstaatlicher Bezugsräume und nationaler Industriesysteme seit den 1980er Jahren kennzeichnete, gab es keine rational oder emotional erfahrbare Zäsur.⁶ Das Jahr 1989/90 jedenfalls brachte sie nicht. Es bedeutete vielmehr einen Einschnitt der Politik- und Staa-

 Die Firma „Manufactum“ wurde 1988 von Thomas Hoof gegründet und kommerzialisiert in bisweilen ironischer Inszenierung den wertkonservativen Rückbezug auf Gebrauchsgüter aus Werkstoffen und Produktionsformen der mechanisch-maschinellen Herstellung. Mit dem Stammsitz in der Alten Zeche Hibernia in Waltrop repräsentiert Manufactum heute die erfolgreiche Verbindung von Musealisierung und Bewahrung alter Industrieanlagen vor der endgültigen Zerstörung mit einem Geschäftskonzept, das nicht nur auf die Wohlhabenden zielt, sondern trendkonform mit dem Elitarismus der neuen marktliberalen Ökonomie spielt.  Vgl. Charles S. Maier, Two Sorts of Crisis? The „long“ 1970s in the West and the East, in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-WestKonflikts. München 2004, S. 49 – 62; Charles S. Maier, Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany. Princeton, NJ 1997.  Vgl. Mathias Albert u. a., Die Neue Weltwirtschaft. Entstofflichung und Entgrenzung der Ökonomie. Frankfurt am Main 1999; Manuel Castells, Das Informationszeitalter. 3 Bde. Opladen 2001– 2003; Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.

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tengeschichte, der in sich selbst schon eine Begleiterscheinung des Strukturwandels war.⁷ Veränderung und revolutionärer Wandel wurden im Verlauf von etwa zwei Jahrzehnten zu einer Alltagserfahrung. Sie schlossen Verlust und Einschränkung ebenso in sich wie den Zugang zu neuen technischen Möglichkeiten. Die Öffnung weiter, kurz zuvor noch fast unvorstellbar umfassender globaler Aktionsräume prägte die Erfahrung ganzer Berufsgruppen und wirkte auf den Alltag der Konsum- und „Erlebnisgesellschaft“ ein.⁸ Angesichts dieser Gegebenheiten plädiert der vorliegende Text für eine entschiedene, systematische Historisierung der Epoche des Booms. Solange die Geschichtswissenschaft sich darauf konzentriert, die Abläufe und Eigenheiten der Nachkriegsentwicklung in den fünfziger, sechziger und – gegenwärtig – den siebziger und achtziger Jahren zu untersuchen, bleibt sie gefangen im Selbstverständnis einer Epoche, deren Ende zu analysieren wäre. Wenn wir uns dieser Einsicht verschließen, gerät jedes zeithistorische Urteil über die zurückliegenden drei Jahrzehnte zwangsläufig zur abwehrenden Kritik des Wandels oder kulturpessimistischen Beschreibung von Niedergang und Verlust. Das Geschehen selbst entzieht sich darüber allerdings der Erkenntnis. Die rationale Analyse der Zeit nach dem Boom setzt die Historisierung der Epoche selbst und gleichermaßen ihrer erkenntnistheoretischen Leitbegriffe voraus. Auf den folgenden Seiten werden zunächst die Erscheinungsformen der politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung von den späten 1960er bis zu den frühen 1990er Jahren am westdeutschen Beispiel skizziert. Von hier aus läßt sich eine Perspektive auf Transformationsprozesse in den westlichen Ländern seit 1970 gewinnen, die in den nächsten Jahren durch zeithistorische Forschung näher zu erschließen sind, um die geschichtswissenschaftliche Analyse mit den weiter fortgeschrittenen Ergebnissen der – allerdings überwiegend ohne historischen Tiefgang argumentierenden – Sozialwissenschaften abzugleichen (1).⁹ In einem zweiten Schritt ist dann der Wandel vom Gesellschaftsmodell der BoomEpoche zu einem anderen, neuen Gesellschaftsmodell an der Schwelle des

 Vgl. Maier, Two Sorts of Crisis?; Maier, Dissolution; Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. München 2006. Vgl. auch FranzXaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt am Main 1997.  Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main u. a. 1992.  Ansätze einer historischen Perspektive bietet Volker Bornschier, Westliche Gesellschaft – Aufbau und Wandel. Zürich 1998. Der gegenwartsbezogene Blick überwiegt jedoch und bedarf der zeithistorischen Vertiefung. Vgl. Castells, Das Informationszeitalter; Albert u. a., Die Neue Weltwirtschaft; Boltanski/Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus.

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21. Jahrhunderts zu untersuchen. Es handelte sich um einen Wandel, der sowohl die Produktionsregime als auch den technologischen Stil betraf und, alles in allem, einen Paradigmenwechsel in der Entwicklung der Industriemoderne bedeutet haben dürfte. Das Zusammenspiel des revolutionären Strukturwandels in der Wirtschaft mit dem Aufkommen neuer Handlungsmuster in Staat und Gesellschaft und veränderten Wertorientierungen in den westlichen Industrieländern insgesamt bedarf der systematischen Untersuchung (2). Abschließend wird das Postulat einer Historisierung der Epoche des Booms zu begründen sein, um die zeithistorische Durchdringung der Jahrzehnte nach dem Boom zu ermöglichen. In der Geschichtswissenschaft zeigen sich schon seit längerem Anzeichen dafür, dass diese Notwendigkeit erkannt und auch in die Forschungspraxis übertragen wird. Solange aber die systematische Reflexion noch aussteht, bleiben die Grundbedingungen rationaler Analysen im Unklaren (3).

1. Soziale Entwicklung in der Bundesrepublik und das Gesellschaftsmodell der siebziger Jahre Die siebziger Jahre erscheinen auf den ersten Blick als Jahrzehnt eines markanten historischen Widerspruchs. Zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten, Turbulenzen im Weltwährungssystem, abnehmende Nachfrage nach westeuropäischen und deutschen Industriegütern auf dem Weltmarkt, rasch anwachsende Arbeitslosigkeit und hohe Inflationsraten gingen einher mit der exorbitanten Ausweitung des Sozialstaats und einem rasant ansteigenden Massenkonsum. Dieser Sachverhalt bildete das Kennzeichen des Jahrzehnts bis in die achtziger Jahre und wurde schließlich auch zum Merkmal der deutsch-deutschen Vereinigung 1989/90.¹⁰ Die widersprüchliche Entwicklung gilt es zunächst nachzuvollziehen, um das Auseinanderdriften zweier Entwicklungsstränge beobachten zu können. Im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren begannen die materiellen Fundamente aus dem sogenannten „Wirtschaftswunder“ wegzubrechen.¹¹ In der

 Vgl. Rödder, Bundesrepublik Deutschland; Gerold Ambrosius, Agrarstaat oder Industriestaat – Industriegesellschaft oder Dienstleistungsgesellschaft? Zum sektoralen Strukturwandel im 20. Jahrhundert, in: Spree, Reinhard (Hrsg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 2001, S. 50 – 69; Harold James, Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft. München 1997.  Vgl. Knut Borchardt, Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung. Zwei, drei oder vier Perioden?, in: Broszat, Martin (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen

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Industrie, zumal der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, setzte eine mühevolle Umstrukturierung ein. Gleichzeitig begann die Erfahrung der Boomjahre in die Breite zu wirken. Diese Erfahrung nahm das Erreichte als Besitz auf Dauer an und betrachtete es deshalb als festen Bestandteil der Alltagspraxis im öffentlichen und privaten Bereich. Die zeitverschobene Überlagerung von Strukturwandel in der Industrieproduktion und in der Weltwirtschaft auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, von Handlungsmustern bei den Tarifpartnern, in der Politik und der Bevölkerung, die dem Wandel nicht entsprachen, charakterisierte für mehr als zwei Jahrzehnte zunächst das bundesdeutsche, dann das gesamtdeutsche Gemeinwesen. Um 1970 hatten sich inflationäre Tendenzen in den westlichen Industrieländern bemerkbar gemacht, die zur Rationalisierung industrieller Produktion und zum Abbau von Arbeitsplätzen führten. In dieser Zeit rutschten Industriebranchen eines traditionellen Typs in die Krise, an deren Ende in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren die Insolvenz der meisten Unternehmen und, mehr oder weniger, das Erlöschen ganzer Produktionszweige stand. Das betraf die Textilindustrie, den Bergbau und Schiffsbau, die mit hoher Sach- und Kapitalausstattung, einem geringen Grad an Automation und vielen Arbeitskräften produzierten.¹² Webereien, Spinnereien, „der Pütt“ und die Werft repräsentierten Inszenierungen industrieller Welt seit der Jahrhundertwende um 1900, die zwar Zug um Zug renoviert und technisch modernisiert, indessen strukturell unverändert geblieben waren. Es handelte sich um maschinell-manuelle Industrieproduktion mit einem hohen Bedarf an Arbeitskräften beiderlei Geschlechts. Der Wandel der Wirtschaftsstruktur machte diese Arbeitskräfte überflüssig, und es gab kaum Ersatz auf dem Markt der industriellen Handarbeit. Das Bruttoinlandsprodukt entwickelte sich in den siebziger Jahren im Rahmen des langfristigen Trends aufwärts. Darin spiegelte sich die Ausweitung einer wissensökonomisch gestützten Produktion, die man zunächst als Expansion des Dienstleistungssektors auffaßte. Sie veränderte die Erscheinungsform der westdeutschen Industriegesellschaft. Seit 1970 hörte die Bundesrepublik allmählich

Nachkriegsgeschichte. München 1990, S. 21– 33; Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. München 2004, S. 315 – 360.  Vgl. Markus Häcker, Die Textilindustrie in Oberfranken und ihre Überlebensfähigkeit im wiedervereinigten Deutschland. Phil. Diss. Erlangen-Nürnberg 1994; Christian G. Schulze zur Wiesch, Die Entwicklung der Textilindustrie am Mittleren Niederrhein nach 1945. Phil. Diss. Münster 1997; Christoph Nonn, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958 – 1969. Göttingen 2001; Bo Stråth, The Politics of De-Industrialization. The Contraction of the WestEuropean Shipbuilding Industry. London 1987; Götz Albert, Wettbewerbsfähigkeit und Krise der deutschen Schiffsbauindustrie 1945 – 1990. Frankfurt am Main 1998.

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auf, ein Industrieland traditionellen Typs zu sein, wie es nach der Reichsgründung auf der Grundlage von Schwer-, Elektro- und Chemieindustrie in der damals sehr modernen Form von verwissenschaftlichter Produktion entstanden war.¹³ Der Übergang zu den Dienstleistungsberufen vollzog sich auch innerhalb der Industrie, ließ den „kombinierten Industrie-Dienstleistungssektor“ stark anwachsen und schuf einen neuen Typus des Arbeitnehmers als white collar worker an den zunehmend mikroelektronisch gesteuerten „Maschinen“ seines Unternehmens. Dieser Übergang beseitigte die beherrschende Stellung der Industrie im sozialökonomischen und politischen Gefüge der Bundesrepublik keineswegs. Hier vollzog sich vielmehr ein Wandel innerhalb der Industriemoderne, ohne dass die industrielle Welt selbst an ihr Ende kam.¹⁴ Wir betrachten das als Anhaltspunkt für die Hypothese, dass sich in dieser Zeit ein Paradigmenwechsel innerhalb der Industriemoderne vollzog, der schwerlich als Übergang in eine postindustrielle Konstellation bezeichnet werden kann. Der „lange Abschied vom Malocher“¹⁵ zwischen den mittleren 1960er und den frühen 1990er Jahren war Ausdruck eines Wandels der Weltwirtschaft, der auf die Strukturen der Industrieproduktion in den westlichen Ländern einwirkte und unausweichlich einen sozialkulturellen Wandel nach sich ziehen mußte. Als die Maschinenwelt des montanindustriellen Zeitalters langsam unterging, wurde die Masse der Arbeiter nicht mehr gebraucht. Erscheinungsbild und Habitus des Industrieproletariers prägten nicht länger die Alltagskultur. Mit den Arbeitsplätzen in der Montanindustrie verschwanden auch die Arbeitsplätze in ähnlichen Sektoren. 1977 nahm die Bundesbahn die letzten Dampflokomotiven vom Gleis, deren Besatzung – Lokführer und Heizer – eine den Hüttenwerkern vergleichbare Arbeit leisteten. Lokschuppen, Drehscheiben und Rangierbahnhöfe wurden abgeschafft und umgebaut. Auf dem riesigen innerstädtischen Areal des Rangierbahnhofs Köln-Gereon steht heute, gewiß nicht zufällig, der „MediaPark“ Köln.¹⁶

 Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 39 – 44, S. 408 – 416, der unterstreicht, dass das Erfolgsmodell des „Wirtschaftswunders“ sich so lange habe halten können, weil die institutionellen Rahmenbedingungen der deutschen Wirtschaft von Anbeginn als Antwort auf Tendenzen zur Internationalisierung der Märkte und Verwissenschaftlichung der Produktion konzipiert worden waren und man hier einen Kontinuitätsstrang vom Kaiserreich bis in die Nachkriegszeit zu fassen bekommt.  Ambrosius, Agrarstaat oder Industriestaat, S. 64, hier zit. n. Rödder, Bundesrepublik Deutschland, S. 176.  Vgl. Wolfgang Hindrichs/Uwe Jürgenhake/Christian Kleinschmidt, Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre. Essen 2000.  Vgl. Tobias Gerstung, Glasfaser statt Eisenbahngleis. Eine Stadt sucht ihre Zukunft – Die Geschichte des MediaParks Köln. ms. Tübingen 2007.

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Im August 1971 fand das System von Bretton Woods sein Ende, mit dem die USA seit 1944 ein Welthandelssystem auf der Basis fester Wechselkurse bei freier Konvertierbarkeit der Währungen begründet hatten. Die Freigabe der Wechselkurse dokumentierte die relative Schwäche der amerikanischen Währung infolge des Vietnamkriegs und führte in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu einem anarchischen Zustand im internationalen Währungssystem. Befürchtungen mehrten sich, dass sich die Krise der europäischen Wirtschaft daraufhin noch verschärfen werde. „Will Europe slump?“, fragte der englische „Economist“ bereits im Oktober 1971.¹⁷ Schon zuvor hatten sich der Niedergang des Dollars und die weltweite kontinuierliche Inflation auch auf die Rohölpreise ausgewirkt, indem die faktische Abwertung der Währung bei gleichbleibendem Preis des Rohstoffs den Wert des Öls immer weiter reduzierte. Als die Währungsschwankungen nach dem Ende von Bretton Woods in den europäischen Industrieländern den Wertverlust des Dollars deutlich werden ließen, begannen die Erzeugerländer unruhig zu werden, weil Rohöl auf dem Weltmarkt in Dollar abgerechnet wurde. So baute sich Druck auf, den Ölpreis zu erhöhen, und der Yom-Kippur-Krieg zwischen Israel und Ägypten beziehungsweise Syrien 1973 lieferte nur den Vorwand für drastische Preiserhöhungen. Zugleich bot er die willkommene Gelegenheit, um das Öl als Waffe gegen die Industrieländer einzusetzen, weil diese Israel und dessen Politik gegenüber den Palästinensern seit 1967 unterstützten.¹⁸ Die Ölkrise und die autofreien Sonntage des Spätherbstes 1973 bildeten in der Erinnerung der Mitlebenden eine tiefe Zäsur und sind aus der Rückschau gar zum Symbol für das Ende des Booms geworden. Der Preisschock traf die Industrieländer unerwartet, weil sie auf den Zusammenhang zwischen Rohstoffpreis und Währungssystem nicht weiter geachtet hatten. Darin zeigte sich ganz markant das Auseinandertreten von krisenhafter Entwicklung der Industriegesellschaft hier und einer verbreiteten gesellschaftlichen Nicht-Wahrnehmung dieser Entwicklung dort. Bis zum Jahresende 1973 stieg der Ölpreis um das Vierfache und verstärkte damit die Wirkungen des industriellen Strukturumbruchs. Die Ursachen lagen jedoch woanders.¹⁹

 The Economist, 16.10.1971.  Vgl. James, Rambouillet; Jens Hohensee, Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. Stuttgart 1996.  Vgl. Thomas Ellwein, Krisen und Reformen. Die Bundesrepublik seit den sechziger Jahren. München 1989, S. 52– 56.

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Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik und die Blütezeit staatlicher Rahmenplanung Die mangelnde Wahrnehmung der Ursachen hatten Parteien und Regierungen seit Mitte der sechziger Jahre unbeabsichtigt verschuldet. Die Große Koalition seit 1966 betrachtete die Globalsteuerung der Wirtschaft als Aufgabe der Politik und brachte die Regierung als Partner der Tarifparteien zum Nutzen der konjunkturellen Entwicklung ins Spiel. Nach 1966 wurde staatliche Planung zum Erfordernis deklariert, und die mittelfristige Finanzplanung sowie das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (1967) gaben diesem neuen Prinzip politischen Handelns Ausdruck. Das Stabilitätsgesetz verpflichtete den Bund und die Länder, in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Es seien Maßnahmen zu treffen, die im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig die Stabilität des Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum sicherstellen könnten.²⁰ Planung wurde als Voraussetzung einer besseren Ordnung begriffen, die nach rationalen Kriterien und auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise zu entwerfen war. Diese Vision machte das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit zum Gegenstand des steuernden Einflusses von staatlicher Seite, und der Staat bediente sich dazu einer neuen Elite professioneller Experten.²¹ Die Blütezeit dieses Handlungsmusters bildete das Jahrzehnt von 1965 bis 1975, als Konsenskapitalismus²² und Konsensliberalismus²³ aus dem atlantischen Ordnungsdenken der 1930er und 1940er Jahre nach einer Inkubationszeit von knapp zwei Jahrzehnten in Westeuropa und der Bundesrepublik zum Durchbruch kamen. Im Zuge dieser „Westernisierung“ sozialdemokratischer und soziallibe-

 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, §1, hier zit. n. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 410 – 413.  Vgl. Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft. Paderborn u. a. 2005; Harold Perkin, The Third Revolution. Professional Elites in the Modern World. London u. a. 1996; Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 165 – 193.  Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003.  Vgl. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998.

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raler Eliten in der westdeutschen Gesellschaft und Politik²⁴ breitete sich, simultan mit der Vision planerischer Bewältigung der Zukunftsaufgaben auch eine Sicht auf das Gemeinwesen als Ganzes aus, die alsbald den historisch gewachsenen, traditionellen Sozialstaat erfaßte und seine Ausgestaltung in Angriff nahm.²⁵ Planung und Modernisierung standen in einem engen, kausalen Handlungszusammenhang. Sie waren an die Voraussetzung von Wirtschaftswachstum und beträchtlichen Verteilungsspielräumen der öffentlichen Hand gebunden. Beim Übergang von der Großen zur sozialliberalen Koalition entwickelte sich daraus die Vorstellung, dass der Staat parallel zur aktiven Wirtschafts- und Stabilitätspolitik eine aktive Sozialpolitik als ein Gesamtanliegen verfolgen müsse. So entstand, wie es pointiert formuliert worden ist, die Idee und Praxis von Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik.²⁶ Statt der traditionellen Absicherung des Einkommensverlustes bei Unfall, Krankheit, Invalidität und Alter übernahm der Staat jetzt die Aufgabe, öffentliche Güter nicht nur bereitzustellen, sondern mit Leistungen zu begleiten. Die Ausweitung der Sozialpolitik auch auf das Bildungswesen und den Gesundheitsbereich, auf Städtebau und Raumordnung, Energie und Umwelt war von der Idee der Rahmenplanung und Globalsteuerung inspiriert. Hier wurden neue Arbeitsfelder des Staates geschaffen, auf denen Regierung und Verwaltung die Absicht verfolgten, mit dem Mittel rationaler Planung und wissenschaftlichen Expertentums die Gesellschaft zu modernisieren. Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik war mit dem Willen zur Modernisierung des Gemeinwesens direkt verbunden. Reformen in den genannten Bereichen wurden in der Zeit der Großen Koalition begonnen und unter der sozialliberalen Koalition fortgesetzt. Sie etablierten neue Berufsfelder, etwa im Bildungs- und Gesundheitssektor, und bürdeten dem Staat dauerhaft Leistungspflichten auf. Sie erzeugten umgekehrt in der Gesellschaft den Anspruch auf solche Leistungen, und dieser Anspruch verfestigte sich ebenso dauerhaft. Solange der Neuheitswert von Reformen unbestritten war, galten die Maßnahmen als Fortschritt, dienten sie zur Modernisierung, zur rational geplanten, gesteuerten Optimierung der Gesellschaft, um sie im Kreis der führenden Industrienationen auf möglichst hohem Niveau stabilisieren zu können. Wenn aber der Fortschrittscharakter fragwürdig wurde, veränderte sich die Gesellschaftspolitik zu einem primär von der Leistungspflicht der öffentlichen

 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999.  Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München 1989; Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates.  Vgl. Hans Günter Hockerts, Metamorphosen des Wohlfahrtsstaats, in: Broszat, Zäsuren nach 1945, S. 35 – 45, hier S. 39.

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Hand und dem Leistungsanspruch der Gesellschaft her definierten Politikfeld. Deshalb war eine so verstandene Gesellschaftspolitik daran gebunden, dass ihr die Kategorien „Fortschritt“ und „Modernisierung“ inhärent blieben. Halten wir fest: Wir sehen im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren den Staat in erweiterte Verantwortung eintreten, die zum einen Stabilität und Wachstum der Wirtschaft gewährleisten und zum anderen durch Gesellschaftspolitik das Land zu einem fortschrittlichen Gemeinwesen ausgestalten sollte. Vor dem Hintergrund sich verändernder und teilweise verschlechternder Wirtschaftsdaten sowie angesichts deutlicher Strukturkrisen in einigen traditionellen Industriebranchen zog der Staat mehr Steuerungskompetenz und mithin mehr Verantwortung an sich. Die Vordenker der jeweiligen Regierungen und die Kabinette der Großen und der sozialliberalen Koalition taten das nicht, weil sie wirtschaftliche Probleme voraussahen und ihnen entgegenwirken wollten. Sie taten es vielmehr, weil sie die Staatsfinanzen in einem guten und dauerhaft stabilen Zustand sahen, den Verteilungsspielraum als großzügig bemessen einschätzten und weil sie eine aktive Politik der Planung und Steuerung für ein Gebot des Fortschritts hielten. Sie handelten als Sachwalter eines politisch-ökonomischen und sozialen Modells, des keynesianischen Gesellschaftsmodells, das sich seit den mittleren sechziger Jahren für etwa ein Jahrzehnt zu einer ideologischen Norm verfestigte. Der Ausbau des Sozialstaats gemäß diesem Modell setzte den nationalen Staat als Bezugsrahmen politischen Handelns voraus. Die ideologische Norm büßte allerdings bereits um 1970 die Rückbindung an wirtschaftliche Stabilität, Wachstum und Verteilungsspielräume des Staates ein. Seither wiesen die strukturelle Entwicklung der Wirtschaft und die Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster von Parteien, Regierungen und Gesellschaft in unterschiedliche Richtungen.

Der Widerspruch zwischen wohlfahrtsstaatlicher Mentalität und industriellem Strukturwandel Die Überzeugung, dass die Kassen der öffentlichen Hand wohl gefüllt seien, führte im Vorfeld der Bundestagswahl von 1972 zu einem bizarren Überbietungskampf zwischen den oppositionellen Unionsparteien und der regierenden sozialliberalen Koalition mit dem Ziel einer weiteren Rentenreform.²⁷ Die Union ließ sich von

 Vgl. Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz. Die Rentenreform 1972 – ein Lehrstück, in: Bracher, Karl Dietrich u. a. (Hrsg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey. Berlin 1992, S. 903 – 934.

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der Erfahrung der Adenauerschen Rentenreform leiten, die 1957 der Kanzlerpartei zur absoluten Mehrheit verholfen hatte. 1972 sollte das den Weg zurück zur Macht ebnen. Am Ende erwies sich die Sache jedoch nur als schwere Belastung der Sozialkassen in der Zukunft, ohne dass die gesetzliche Ausweitung der Rentenversicherung der CDU/CSU den Wiedereintritt in die Regierung eingebracht hätte. Die Prämissen aus der Zeit des „Wirtschaftswunders“ galten nicht mehr. Analysen der Bundestagswahl vom Herbst 1972 zeigten erstmals deutliche Verschiebungen in der Wählerschaft. Die jungen Wähler und die jüngeren Frauen zog es zur SPD. Die CDU/CSU als politische Kraft des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wirkte plötzlich veraltet, unmodern und dem Fortschritt abhold.²⁸ Sowohl das politische Handeln von Regierung und Opposition als auch das Wahlverhalten der Bevölkerung wiesen 1972 darauf hin, dass in der Phase des Booms ein Mentalitätenwandel eingetreten war, der jetzt handlungsprägend wurde. Planung, Steuerung und neue Leistungsangebote des Staats an die Gesellschaft erzeugten ein gesellschaftliches Selbstverständnis, welches den erworbenen Wohlstand als dauerhaft betrachtete. Zu einem Zeitpunkt, wo die Grundlagen des bisherigen industriellen Systems und die materiellen Bedingungen des Wohlfahrtsstaats zunehmendem Veränderungsdruck ausgesetzt waren, kam dieses Denken erst voll zum Durchbruch. Diese widersprüchliche Entwicklung prägte die siebziger Jahre und war auch in den achtzigern noch deutlich zu erkennen. Spannungen in der Gesellschaft und zunehmender Druck auf die Regierungspolitik beeinflußten die Zeitstimmung seit Mitte des Jahrzehnts deutlich. Das unterschied die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt von der vorangegangenen Regierung des reformerischen Elans unter Willy Brandt.²⁹ Nach dem Ölpreisschock geriet die energieabhängige Wirtschaft in Schwierigkeiten, die zum Rückgang des Sozialprodukts und zum Anstieg der Arbeitslosenzahlen führten. Der Finanzspielraum der öffentlichen Hand wurde enger, die Steuerungsfähigkeit des Staates beeinträchtigt. 1979 folgte die nächste Verteuerung des Rohöls. Der weltwirtschaftliche Einbruch beeinflußte die Zeit von 1973 bis in die frühen achtziger Jahre nachhaltig. Gestiegene Energie- und Rohstoffpreise, Unsicherheit auf den Finanzmärkten, zurückgehende internationale Nachfrage schlugen jetzt auf die Krisenbranchen Textil, Kohle und Stahl sowie Schiffsbau durch. Die Wirtschaft mußte

 Vgl. M. Rainer Lepsius, Wahlverhalten, Parteien und politische Spannungen. Vermutungen zu Tendenzen und Hypothesen zur Untersuchung der Bundestagswahl 1972, in: Politische Vierteljahresschrift 14, 1973, S. 295 – 313.  Vgl. dazu die Regierungserklärungen von 1969, 1976 und 1980, in: Klaus von Beyme (Hrsg.), Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt. München 1979.

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Kosten senken, rationalisieren, neue Märkte erschließen. In Deutschland waren die Arbeitskosten im Verlauf der siebziger Jahre anhaltend gestiegen, im industriellen Sektor ebenso wie im öffentlichen Dienst.³⁰ Die Industrie fing den Anpassungsdruck insgesamt erfolgreich ab, indem sie unrentable Zweige stilllegte und die Produktionszweige mit maschinell-manueller Fertigung aufgab oder durch Automatisierung rationeller gestaltete. Die künftige Wirklichkeit industrieller Produktion auf der Grundlage der Mikroelektronik begann sich abzuzeichnen, und die neue Welt computergestützter Erwerbsarbeit breitete sich aus. Hier ist der historische Ort des „Abschieds vom Malocher“. Jetzt kehrte Stille ein in den Stahlfabriken, die immer vom stampfenden Geräusch der Maschinen, vom Geruch nach Ruß und Schmieröl durchzogen waren, und in den Spinnereien und Webereien, wo die rastlose MenschMaschine-Symbiose herrschte. Moderne Hallen, sauber, fast menschenleer, bestimmten das Bild von zeitgemäßer Industrie. Der technisch höher qualifizierte Arbeitnehmer mit differenzierter Berufsausbildung trat an die Stelle des bisherigen Industriearbeiters. Damit entstand die Arbeitslosigkeit, die sich für mehr als zwei Jahrzehnte als nicht überwindbar erweisen und zu einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitsgesellschaft führen sollte. 1970 waren in der Bundesrepublik 148.000 Arbeitslose gezählt worden, 1980 waren es knapp 900.000, bis 1985 stieg die Zahl auf 2,3 Millionen. Das bedeutete einen Anstieg von 0,7 auf 9,3 Prozent.³¹ Den verlorenen Arbeitsplätzen in der Industrie standen in der Aufschwungphase zwischen 1984 und 1989 nur 159.000 neue Stellen gegenüber.³² Deshalb bildete der Arbeitsmarkt die zentrale Herausforderung für den Staat, der eben erst die Globalsteuerung der Wirtschaft und die Leistungspflicht in der Gesellschaftspolitik als Staatsaufgabe anerkannt hatte. Hinter den Zahlen verbarg sich eine Veränderung, die über den Strukturwandel der Wirtschaft hinausreichte und auf einen Paradigmenwechsel der Produktionsregime, des Zusammenspiels von Wirtschaft und Staat und gesellschaftlicher Wahrnehmung des Erwerbslebens verweisen dürfte. Zwei Millionen Arbeitsplätze gingen im produzierenden Gewerbe verloren, und die Menschen, die hier arbeitslos wurden, konnten mit ihren erlernten Fertigkeiten meist keine neue Arbeit finden. Umschulungskurse der Arbeitsämter brachten wenig Erfolg, denn die Umstellung von Handarbeit auf eine Tätigkeit in der automatisierten Produktion setzte differenziertes schulisches Wissen und ein noch jugendliches Alter voraus. Vor allem aber gab es den spezifischen Typ des Arbeitsplatzes nicht  Vgl. Ellwein, Krisen und Reformen, S. 54 f.  Datenreport/Statistisches Bundesamt 1997, S. 89, hier zit. n. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 237.  Vgl. ibid., S. 236 – 242.

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mehr, den die Betroffenen verloren hatten und der bis dahin während des ganzen Arbeitslebens räumliche, soziale und mentale Verankerung gewährleistete. Arbeitsplatz und Arbeitswelt im traditionalen Bereich industrieller Produktion waren immobil, und der kulturelle Zusammenhang von Fabrik, Familie, Feierabend an ein und demselben Ort hatte das Bewußtsein der Industriearbeiterschaft geformt.³³ Diese angestammte Lebenswelt begann zu verschwinden und das Erfordernis von Mobilität, die Erwartung räumlicher und geistiger Beweglichkeit, breitete sich als Kennzeichen eines neuen Produktionsregimes aus. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen dominierten um 1980 die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, der ein Arbeitsplatz im Bereich traditionaler Industrieproduktion war, und das Gefühl von Zukunftslosigkeit. In der „Stunde der Tränen“ vor dem letzten Abstich überreichten die Frauen von Hüttenwerkern der Hattinger Heinrichshütte ihren Männern rote Nelken und trugen Plakate mit der Aufschrift: „Unsere Zukunft – jetzt gemeinsam kämpfen.“³⁴ In scharfem Kontrast zu diesem Niedergang stand der Aufschwung der Konsumgesellschaft, zumal des Tourismus. Nach den Ölpreiserhöhungen gab es nur einen kurzen Einbruch, dann fuhren die Leute mehr und öfter in den Urlaub als je zuvor. Es waren vor allem Arbeitnehmer aus dem expandierenden Berufsfeld des „kombinierten Industrie-Dienstleistungssektors“, denn dieser Bereich weitete sich in den siebziger und achtziger Jahren in dem Maße aus, wie die Traditionsindustrien zusammenschmolzen, nur dass er die Arbeitskräfte aus den insolventen Fabriken nicht aufnahm. In der Arbeitnehmergesellschaft neuen Typs ergänzte der Skiurlaub im Winter die sommerliche Flugreise ans Mittelmeer oder bald schon, in den achtziger Jahren, in die Karibik. Zwischen 1963 und 1972 waren die jährlichen Fluggastzahlen im Charterverkehr bereits deutlich angestiegen. Von 1970 bis 1979 erhöhte sich dann die Zahl der Urlaubsreisenden um 50 Prozent. 1980 gaben 57 Prozent der Bevölkerung an, eine Urlaubsreise zu machen.³⁵ Die „Demokratisierung des Reisens“³⁶ verlief parallel zu den Umschichtungen auf

 Vgl. Jürgen Reulecke (Hrsg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter. Wuppertal 1978.  Waltraud Bierwirth/Otto König (Hrsg.), Schmelzpunkte. Stahl: Krise und Widerstand im Revier. Essen 1988, S. 104, S. 125 – 129.  Vgl. Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000, S. 265 – 332. Die Hinweise auf die Fluggastzahlen, in: ibid., S. 325, stammen von englischen Fluggesellschaften, die Entwicklung in der Bundesrepublik verlief ähnlich. Vgl. auch Petra Krempien, Geschichte des Reisens und des Tourismus. Ein Überblick von den Anfängen bis zur Gegenwart. Limburgerhof 2000, S. 157– 165; Karlheinz Wöhler, Erstes und zweites Zuhause: Wohnen und Reisen, in: Faulstich, Werner (Hrsg.), Die Kultur der siebziger Jahre. München 2004, S. 233 – 243, Zahlen zu den Urlaubsreisenden S. 240.  Ibid.

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dem Arbeitsmarkt und spiegelte gegenbildlich zum Aussterben des „Malochers“ den Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft.³⁷

Abwertung der Staatsfunktion? Während die öffentliche Hand versuchte, gefährdete Branchen durch Subventionen zu stützen und dadurch Arbeitsplätze zu erhalten, bemühte sich die Wirtschaft, ihren Platz auf dem heimischen, dem europäischen und dem Weltmarkt den veränderten Bedingungen anzupassen. Es breitete sich dort ein makroökonomisches und betriebswirtschaftliches Denken aus, welches die staatliche Globalsteuerung als Modell einer versunkenen Zeit betrachtete. Dieses Denken lief auf die Abwertung des Staates, auf die Abwertung der Staatsfunktion und eine mindere Bedeutung von Nationalstaatlichkeit hinaus. Es überspielte nicht selten auch den Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und brachte zum Ausdruck, dass sich in den achtziger Jahren die Wirtschaftsräume änderten und die Kriterien einer Nationalökonomie ihre Bedeutung verloren. Das war neu. So zu denken wirkte modern, weltoffen, befreiend. Plötzlich galt das als „Fortschritt“, ohne jedoch noch so genannt zu werden. Das Neue war einfach da. Es war Realität. Es wurde mit der Zeit selbstverständlich und deshalb in zunehmendem Maß gesellschaftlich akzeptiert. Hier fassen wir erneut den (vorerst hypothetisch so bezeichneten) Paradigmenwechsel der Industriemoderne. Er trennte die Boomphase von der nachfolgenden Epoche ab und markierte den Übergang in eine neue Zeit. Der Paradigmenwechsel ließ, wirtschaftsideologisch, den Staat schrumpfen und beeinflußte das Staatsverständnis in den politischen Parteien, den Verbänden und Interessengruppen nachhaltig. Der Staat wurde einerseits zum Garanten älterer Strukturen und zum Leistungsträger gesellschaftlicher Ansprüche. Andererseits aber paßten Regierungen und Parteien die Staatsfunktion den Herausforderungen des Paradigmenwechsels an. Sie verschrieben sich einem politischen Handeln, welches zum Beispiel die Privatisierung von Staatsbetrieben forcierte oder von der Regierung gewünschte Reformvorhaben zunächst an nicht-staatliche Beratungsagenturen mit privatem Gewinninteresse delegierte, um deren Vorschläge dann qua Kabinettsentscheidung oder auf dem Weg der Gesetzgebung zu verwirklichen.³⁸  Zum Profil des zeitgenössischen Problembewußtseins innerhalb der Soziologie vgl. Joachim Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982. Frankfurt am Main u. a. 1983.  Vgl. für England die Reflexionen von Richard Wilson, Thatcherism Three, in: The Times Literary Supplement, 15.12. 2006, S. 3 – 4 über das Buch von Simon Jenkins, Thatcher & Sons. A

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Der Staat baute mit an der Zukunft, aber er trug auch die Verantwortung für die Vergangenheit. Das rief den Eindruck des Widersprüchlichen, gar der Ziellosigkeit hervor, aber es verwies eher auf politischen Anpassungszwang an einschneidende Veränderungen. Wo Landes- und Bundesregierungen versuchten, kriselnde Industriebranchen vor dem Kollaps zu bewahren, betraf es Wirtschaftszweige, an denen die technische Weiterentwicklung zur Automatisierung und dann die Revolution der Mikroelektronik vorbeigegangen waren und die mit hohen Beschäftigungszahlen arbeiteten, ohne dass sich die Arbeitskosten rechneten.³⁹ Solche Branchen wurden für eine gewisse Zeit zu Residualräumen eines im nationalen Rahmen verharrenden Verständnisses von der Verantwortung des Staates für die Stabilisierung von Produktionszweigen aus der Zeit des „Wirtschaftswunders“ und des Booms. Simultan begannen die Regierungen der achtziger Jahre, staatliche Verfügungsgewalt an den freien Markt abzugeben – zuerst in den Bereichen Medien und Kommunikation.⁴⁰ In offiziellen Verlautbarungen erhielt der Markt Vorrang vor dem Staat, aber das hieß nicht, dass die Politik den Gestaltungsanspruch von Staat und Regierung preisgab. Die Gewichtung allerdings verschob sich deutlich. Umbruch und Kontinuität waren zur selben Zeit zu beobachten. Sie überlagerten sich. Der Paradigmenwechsel nach dem Boom markierte keine Zäsur, die zu einer bestimmten Zeit das Alte beendete und das Neue einsetzen ließ. Beharrung und Wandel gehörten zusammen und bildeten die nur scheinbar ziellose Reaktion auf veränderte Handlungsmuster in der Wirtschaft, die auf Politik und Gesellschaft einwirkten und ihrerseits mit der veränderten Geltung makroökonomischer Theorien verwoben waren. Die Wahrnehmung dieser Theorien und der praktische Umgang mit Ordnungsvorstellungen, die daraus abgeleitet wurden, sind im folgenden Abschnitt zu skizzieren, um die Hypothese eines Paradigmenwechsels auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Ideen zu prüfen.

Revolution in Three Acts. London 2006; für Deutschland Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 242– 264.  Vgl. als Fallstudie Dietmar Süß, Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976. München 2003.  Vgl. Edgar Grande, Vom Monopol zum Wettbewerb? Die neokonservative Reform der Telekommunikation in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 1989.

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2. Wandel des Gesellschaftsmodells und Paradigmenwechsel in der Industriemoderne In den achtziger Jahren zerfiel das Gesellschaftsmodell der Nachkriegszeit, das an fordistisches Produktionsregime und keynesianische Handlungstheorie gekoppelt war.⁴¹ Es kam im Gefolge des Marshall-Plans nach Europa und entfaltete sich im Kalten Krieg unter den Bedingungen von Wiederaufbau und Blockkonfrontation in einer historisch singulären Form. Wachstum, Stabilität und korporativer Konsens in den Arbeitsbeziehungen konnten und mußten während der fünfziger und sechziger Jahre in einen äußeren Rahmen eingepaßt werden, der durch den außen- und sicherheitspolitischen Druck des Ost-West-Konflikts zustande kam. Das Streben nach Sicherheit wurde im Kalten Krieg allenthalben beschworen, und allein der Staat konnte Sicherheit verbürgen, sei es die amerikanische Blockvormacht, sei es die nationale Regierung.⁴² Im festen äußeren Rahmen konnte sich dann die „freie Welt“⁴³ dergestalt entfalten, dass wirtschaftliches Wachstum, soziale Reform und zivile Staatsbürgergesellschaft an inneren Konsens und soziale Disziplin gebunden waren. So fanden Markt und Wettbewerb ihren klar umrissenen Spielraum, sei es der nationale, der europäische oder der durch Bretton Woods definierte Rahmen des Westens.⁴⁴ Unternehmer entfalteten Marktmacht innerhalb des westlichen Blocks und waren auf die Stabilität der Rahmenbedingungen angewiesen. Diese aber fußten auf der prekären Balance der Blöcke, die nur durch die Regierungen als stabiles Gleichgewicht gewährleistet werden konnte. So machte der Ost-West-Konflikt staatliche Dominanz zu einem Erfordernis, um in den westlichen Ländern Sicherheit als verläßliche Grundlage des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Konsenses zu gewährleisten. Das ermöglichte Wachstum, unternehmerischen Profit und die Intensivierung des nationalen Arbeitsmarkts, wodurch der Wohlstand der Bevölkerung wuchs und der Spielraum des Staats zur Umverteilung zunahm. Umverteilung stabilisierte das Produktionsregime, festigte die Produktionsbedingungen und schuf die

 Vgl. zum folgenden Bornschier, Westliche Gesellschaft.  Vgl. Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53, 2005, S. 357– 380.  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Im Kampf um ,Frieden‘ und ,Freiheit‘. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt, in diesem Band, S. 281– 305.  Vgl. Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947– 1952. Cambridge, MA 1987; Charles S. Maier/Günter Bischof (Hrsg.), The Marshall Plan and Germany. West German Development within the Framework of the European Recovery Program. New York, NY u. a. 1991; Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. München u. a. 2006.

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Voraussetzungen zur Entfaltung des Marktes im nationalen und internationalwestlichen Bezug. Dieses Gesellschaftsmodell erlaubte die Neuordnung des westdeutschen Gemeinwesens als differenzierte, „westernisierte“ Zivilgesellschaft mit einer korporatistischen Organisation der Arbeitsbeziehungen. Sozialdemokratie und Gewerkschaften hatten im Übergang zu den sechziger Jahren die Marktwirtschaft als Grundlage der Nachkriegsordnung anerkannt und damit die Voraussetzungen des Konsenses mit den Arbeitgebern geschaffen. Der „Konsenskapitalismus“ der Nachkriegsjahrzehnte etablierte die Gleichrangigkeit zwischen den Akteuren und war zudem auf die Stabilität des staatlichen Rahmens angewiesen.⁴⁵ Im Sinne der keynesianischen Theorie machte dieses Beziehungsgefüge die politisch-ökonomische Globalsteuerung durch staatliche Rahmenplanung im Konsens mit Unternehmern und Gewerkschaften zum Erfordernis von Regierungspolitik. Wir konnten dies als Merkmal des Jahrzehnts zwischen 1965 und 1975 bereits beobachten. Die für den Keynesianismus charakteristische Trias „Markt – Staat – Plan“ harmonierte mit den Bedingungen des Ost-West-Gegensatzes dadurch, dass sowohl Regierung als auch Unternehmer dem staatlichen Rahmen maßgebliches Gewicht beimaßen. Daraus erklärt sich die Stabilität der politischen und wirtschaftlichen Ordnung während des Booms, aber auch die vergleichsweise starre Eigenart des Gesellschaftsmodells, dessen technologischer Stil relativ statische Strukturmuster aufwies.⁴⁶ Das waren zum einen feste Produktionsstandorte der Industrie mit unverzichtbarer Bindung an fossile Energieträger und der Beschränkung von Transport vornehmlich auf Rohstoffe und Waren. Das Ruhrgebiet, das Saarrevier und Lothringen oder das Zentrum der britischen Montanindustrie in Mittelengland können als Beispiele dienen. Die Unternehmensverwaltung befand sich am Ort, die Gewerkschaftsvertretung nicht selten innerhalb des Betriebsgeländes. Die Arbeitskräfte in der Fabrik oder im Büro verbrachten ihr Berufsleben mit der einmal erworbenen Ausbildung an einem festen Platz. Das Erfordernis, sich weiter zu qualifizieren, kannten sie in der Regel nicht.⁴⁷ Die politisch-ökonomische Bindekraft dieses Gesellschaftsmodells ließ im Verlauf der siebziger Jahre nach, seit sich der Rahmen zu lockern begann. Entspannungspolitik zwischen den Blockvormächten und im deutsch-deutschen Bezug verminderte den Druck, aber auch die politisch-ideologische Kohäsion aus den Nachkriegsjahrzehnten. Horizont und Handlungsspielräume für Wirtschaft  Vgl. Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie; Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition. Bonn 2004.  Bornschier, Westliche Gesellschaft, S. 1– 22, hier S. 13.  Vgl. Sabine Dworog, Positionspapier zum Forschungsvorhaben „Nach dem Boom“. Tübingen 2007. Auch für das Folgende.

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und Regierungspolitik weiteten sich aus. Die Bindekraft des Rahmens konnte auch in der Spannungsphase des Kampfs um die Nachrüstung seit 1979/80 nicht mehr zurückgewonnen werden. In der Zeitstimmung der achtziger und frühen neunziger Jahre waren solche Veränderungen nicht zuletzt an der Delegitimation des Keynesianismus zu erkennen.⁴⁸ Die Heraufkunft eines neuen Gesellschaftsmodells zeichnete sich dagegen nur punktuell und sprunghaft, gleichwohl unübersehbar ab. Mit dem Niedergang der Traditionsindustrien war die Standortgebundenheit nicht länger Maßstab und Modell für Industrieansiedlung und die Organisation von Arbeitskraft, und ein neuer technologischer Stil begann sich auszubreiten.⁴⁹ Den Rohstoff der alten Industrien löste als neuer Grundstoff der Mikrochip ab. Ohne die Rohstoffbindung der traditionellen Art konnten sich Unternehmen an Standorten niederlassen, die bis dahin industriewirtschaftlich völlig unbedeutend waren.⁵⁰ Die neuartigen Firmen produzierten auf der Grundlage des Mikrochips mit dem differenzierten Wissen ihrer Arbeitskräfte, und beides – Produktion und Wissen – bedurfte kontinuierlich der Aktualisierung und systematischen Weiterentwicklung. Die relativ statischen Strukturen des keynesianisch-fordistischen Modells wurden durch Mobilität auf vielen Ebenen regelrecht unterspült. Mobilität war die Anforderung an Menschen, Materialien und Strukturen. Die Arbeitskräfte mußten sich flexibel auf geographisch verstreute Standorte einstellen und zum Wechsel zwischen ihnen bereit sein. Die Materialien für die just in time-Produktion flossen aus den Containerfahrzeugen stetig in die neuen Werkshallen hinein, andere existierten bloß virtuell und waren online verfügbar. Unternehmen brauchten sich nicht mehr auf einen Hauptstandort und eine dort angesiedelte Verwaltung zu stützen, sondern konnten hier und da und überall die für sie günstigste Wahl treffen. Die Energie für die Produktion floß als elektrischer Strom durch Hochspannungsnetze aus Atomkraftwerken, während die alten

 Vgl. Hansjörg Siegenthaler, Das Ende des Keynesianismus als Gegenstand Keynesianischer Interpretation, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 43, 2002, S. 237– 245. Vgl. die Thesen zur Entwicklung in der Gegenwart von Christoph Deutschmann, Rätsel der aktuellen Wirtschaftspolitik. Die heimliche Wiederkehr des Keynesianismus, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 42, 2005, S. 3 – 12.  Vgl. Bornschier, Westliche Gesellschaft, S. 103 – 200; Albert u. a., Die Neue Weltwirtschaft.  Vgl. hierzu die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Bayern im Bund“ des Instituts für Zeitgeschichte: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973. München 2001; Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. München 2002; Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hrsg.), Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973. München 2004; siehe auch Anselm Doering-Manteuffel, Bayern im Bund. Die überregionale Bedeutung eines regionalgeschichtlichen Forschungsansatzes, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 67, 2004, S. 85 – 102.

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Kohlekraftwerke erst neuen technischen Standards angepaßt werden mußten.⁵¹ Und an die Stelle des vertrauten, statischen Raums der Feierabend-Welt der Fabrikarbeiter trat zum einen die individualisierte Form der Erholung mittels Mobilität–Wochenendtrip, Fitness, Wellness – und zum andern auch der Rückzug in selbstgewählte Gruppen und Gemeinschaften zur individuellen Sinnerfüllung.⁵² Was als Unrast und Beschleunigung,⁵³ als anhaltende Bewegung ohne erkennbares Ziel, ohne Struktur und Rahmen erscheinen mochte, repräsentierte eine Revolution auf der Mikroebene. Deshalb war sie mit den etablierten Kriterien von Gesellschaftsanalyse, Gegenwartsbestimmung und Zeitkritik nicht präzise zu erfassen, sondern es kamen immer nur scheinbar banale Einzelaspekte ins Blickfeld, die ob ihrer Flüchtigkeit, ihrer jeweils begrenzten Relevanz für Verhaltensmuster und Lebensformen in der noch von den alten Strukturmustern geformten Wahrnehmung des sozialökonomischen Umfelds vielleicht als fremd, auch als lästig, jedenfalls als ungewohnt und im übrigen nicht lebenswichtig aufgefaßt wurden. Dennoch handelte es sich um eine Revolution, deren Transformationskraft den westlichen Gesellschaften allerdings erst an der Wende zum 21. Jahrhundert zu Bewußtsein kam. In der Zeitstimmung der achtziger Jahre war es die oft unverstandene kulturelle Strömung der sogenannten Postmoderne, die nichts anderes zum Ausdruck brachte als den Widerruf des verbindlichen Rahmens der Nachkriegszeit. Eine neue rahmengebende Ordnung, eine klare Perspektive konnten die Protagonisten postmodernen Denkens und Handelns nicht sichtbar machen, denn sie kamen ja selbst aus der Welt des Gestern und bemerkten bloß früher als andere, dass sie zerfiel. Worin das Neue bestand und wo das Morgen zu finden war, konnten sie füglich nicht sagen. So verstärkte die postmoderne Theorie nur die neue Erfahrung von Unverbindlichkeit, Sprunghaftigkeit, Unrast und scheinbarem Unernst. Die Revolution auf der Mikroebene war mit dem intellektuellen Instrumentarium der aus der Epoche des Booms gewohnten Strukturanalyse nicht zu erfassen. Der „Poststrukturalismus“ der postmodernen Theoretiker spiegelte das Dilemma recht genau wider, aber er erklärte es nicht. Er war ein Produkt des revolutionären Geschehens, nicht aber ein sozialphilosophischer Ansatz zu dessen Analyse.⁵⁴

 All diese Faktoren des Strukturwandels kamen in den Industriewirtschaften der RGW-Länder nicht zum Durchbruch. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt, den Kollaps des Ostblocks als eine Folge des Wandels, nicht aber als dessen Anstoß aufzufassen. Siehe Maier, Two Sorts of Crisis?  Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Kapitel 4 und passim.  Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005.  Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz u. a. 1986; Peter Koslowski/Robert Spaemann/Reinhard Löw, Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegen-

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Mikrochip, Marktideologie und die Entriegelung der überkommenen Strukturen Während dieser Entwicklung seit den achtziger und in den neunziger Jahren breiteten sich Schlagworte und Argumentationsmuster einer anderen ökonomischen Denkschule aus, die den Keynesianismus überlagerten und allmählich verdrängten. Der alsbald so genannte „Neoliberalismus“ bot sich als Handlungstheorie für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Zeit der revolutionären Unruhe an und begann allem Anschein nach ein neues Gesellschaftsmodell zu begründen. Der Begriff „neoliberal“ ist schillernd, weil er im amerikanischen und englischen Fall für eine bestimmte Zeit mit dem Begriff „neokonservativ“ verkoppelt werden konnte und später im englischen und deutschen Fall außerdem noch zum Kennzeichen der Sozialdemokratie wurde.⁵⁵ Darin zeigte sich die umfassende Bedeutung einer Handlungstheorie, deren ökonomische und sozialphilosophische Grundannahmen für Konservative und Sozialdemokraten gleichermaßen als Norm ihres Politikverständnisses Geltung erlangten. In der Epoche des Booms waren die Lager strikt geschieden, die Große Koalition in der Bundesrepublik am Ende der sechziger Jahre bestätigte als Ausnahme nur eine eherne Regel. Die simultane Aufnahme neoliberaler Axiome seitens der politischen Rechten und Linken gibt einen Hinweis darauf, dass wir es hier in der Tat mit einem Paradigmenwechsel zu tun haben, der den Namen auch verdient.⁵⁶ Zugleich aber wurde der Begriff „neoliberal“ als polemisches Instrument in einem ideologischen Kampf eingesetzt. Der Kampf spielte sich ab zwischen den Verfechtern des alten, keynesianischen Paradigmas und des neuen, das mit den Namen der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und Friedrich August von Hayek verbunden ist.⁵⁷

wärtigen Zeitalters. Weinheim 1986; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. 2. Aufl. Weinheim 1988.  Vgl. David Harvey, A Brief History of Neoliberalism. Oxford 2005; Gerhard Willke, Neoliberalismus. Frankfurt am Main u. a. 2003; Murray Friedman, The Neoconservative Revolution. Jewish Intellectuals and the Shaping of Public Policy. Cambridge, MA 2005; Irwin Stelzer (Hrsg.), Neoconservatism. London 2004; Hans Jörg Hennecke, Die dritte Republik. Aufbruch und Ernüchterung. München 2003.  Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main 1967.  Vgl. Keith Dixon, Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus. Konstanz 2000; Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society. Hamburg 2004; Werner Abelshauser, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung. Berlin 2003; Hans Jörg Hennecke, Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit. Düsseldorf 2000; Alan Ebenstein, Friedrich Hayek. A Biography. Chicago, IL u. a. 2001; zu Friedman

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Die monetaristische Konzeption Friedmans und die marktradikale Freiheitsideologie Hayeks entfalteten Wirkung als kompakte politische und gesellschaftliche Handlungstheorie, indem sie das keynesianische Axiom der wirtschaftlichen Globalsteuerung durch den Staat aufs schärfste bekämpften. Der ideologische Gegensatz erreichte in Deutschland seinen Höhepunkt nach dem Konflikt zwischen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder 1999, aber der Kampf der Traditionalisten gegen das neue Modell politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Handelns entlang neoliberaler Auffassungen führte vorerst zu nichts.⁵⁸ Der Grund dafür lag allerdings nicht in der Überlegenheit der Wirtschaftstheorien von Friedman und Hayek, denn beide hatten seit den sechziger Jahren ohne Erfolg die Dominanz des keynesianischen Paradigmas in den westlichen Industriestaaten bekämpft.⁵⁹ Wie der Wandel auf der Grundlage des Mikrochips durch Pluralisierung, Mobilität und Verflüssigung die ehedem festen Strukturen von Produktion und Distribution unterspülte, bot die Theorie des Neoliberalismus Begründungen, Vorstellungen und Handlungsperspektiven für den neuen technologischen Stil an. Der Paradigmenwechsel erfolgte dadurch, dass der Neoliberalismus den revolutionären Durchbruch des Neuen als Leitideologie trefflich ergänzte. Die technologische Revolution setzte den transnationalen, potentiell globalen Raum voraus, und man braucht nur den Versuch zu machen, die Wortkarrieren der beiden Begriffe transnational und global beziehungsweise Globalisierung in den Geistes- und Sozialwissenschaften historisch zu verorten, um feststellen zu können, wann die neuen technischen Möglichkeiten – anfangs noch in kleinem Maßstab – in der Gesellschaft aufgegriffen wurden und zu wirken begannen.⁶⁰ Sie verbanden sich in den neunziger Jahren mit den Wirtschaftstheorien von Hayek und Friedman. Nicht der Wechsel vom Keynesianismus zum Neoliberalismus machte also die revolutionäre Qualität jenes Wandels aus, der seit den neunziger Jahren in bisweilen aggressiver Tonlage von den Kritikern einer durchgreifenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche gegeißelt wurde. Der Umschwung von der Orien-

vgl. ibid., S. 266 – 276; Bruce Caldwell, Hayek’s Challenge. An Intellectual Biography of F. A. Hayek. Chicago, IL u. a. 2004; Ingo Pies/Martin Leschke (Hrsg.), Milton Friedmans ökonomischer Liberalismus. Tübingen 2004.  Vgl. Hennecke, Die dritte Republik, S. 70 – 101.  Vgl. Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft.  Vgl. das Internetportal „Geschichte.transnational. Fachforum zur Geschichte des kulturellen Transfers und der transnationalen Verflechtungen in Europa und der Welt“, sowie die Schriftenreihe „Globalgeschichte“, die von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Ulrike Freitag herausgegeben wird.

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tierung am Paradigma „Markt – Staat – Plan“ zu dem anderen Paradigma „Freiheit des Marktes von allen Einschränkungen durch Staat und Plan“ und der Wechsel von der Nachfragesteuerung seitens der Regierungen zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik nach den Bedingungen des Marktes waren situationstypische Reaktionen auf den Strukturwandel seit dem Ende des Booms. Selbst wenn man, wie es für die geschichtswissenschaftliche Analyse geboten ist, Wirtschaftstheorien nicht unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob sie ökonomisch funktioniert haben, sondern wenn man sie statt dessen als Theorien auffaßt, an denen sich gesellschaftliches und regierungspolitisches Handeln orientiert, kann man im Niedergang des Keynesianismus und Aufstieg des Neoliberalismus noch keinen revolutionären Umschwung erkennen. Der Zusammenbruch der traditionellen Industrien des maschinell-manuellen Typs sowie die Entstehung eines neuen technologischen Stils und veränderten politisch-ökonomischen Produktionsregimes bildeten vielmehr die Voraussetzung. Erst das Zusammentreffen einer Wirtschaftstheorie, die die Regierungen auf Verwaltung des Immobilen, Statischen wie Raum, Umwelt, Infrastruktur in den nationalen oder europäischen Grenzen reduziert, um den Kräften des Marktes im Wortsinne unbegrenzten Spielraum zu verschaffen, mit der technisch-wirtschaftlichen und kulturellen Entriegelung der Strukturen aus der Zeit des Booms hat diese Wirkung erzeugt.

3. Das Postulat der Historisierung Die bevorstehende zeithistorische Analyse des Geschehens seit den siebziger Jahren wird den Blick auch auf den kulturpessimistischen Grundzug jener Sichtweise zu richten haben, die uns mit Hobsbawms These vom „Erdrutsch“ begegnet ist. Die Rede von „Niedergang“ oder „Ende“, von „Wegbrechen“, „Untergang“ und „Abschied“ beschwört Vergangenes. Wo sie auf Gesellschaftskritik zielt und das allmähliche Vergehen der traditionalen Arbeitswelt zum Thema macht, den Verlust an Sicherheit im wohlfahrtsstaatlichen System anprangert und die Minderung, ja Beseitigung von Chancen des sozialen Aufstiegs für Kinder aus den unteren Straten der Gesellschaft beklagt, dort ist die Rede vom „Niedergang“ an den Maßstäben, am Selbstverständnis, kurz: an der Ideologie des keynesianischen Gesellschaftsmodells orientiert. Nahezu alle heute im vorgerückten Erwachsenenalter stehenden Generationen in Westeuropa sind im Kontext dieses Gesellschaftsmodells sozialisiert worden. Das gilt auch für diejenigen, die über diese Epoche urteilen, die Historiker. Sie stammen aus der Zeit des Ost-West-Konflikts einschließlich der frühen NachWende-Ära. Sie sind Kinder des Wohlfahrtsstaats, sie sind Kinder eines konsensliberalen und sozial-demokratischen Verständnisses von staatlichem Han-

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deln respektive gesellschaftlicher Erwartung. Sie sind Kinder einer Zeit des Wachstums innerhalb der Grenzen des eigenen Landes und innerhalb des politischen Rahmens der zweigeteilten Welt. Draußen war draußen, drinnen ist drinnen. Diese mentale Prägung wirkt auch unter den Historikern noch weiter. Sie haben gelernt, den Blick auf das Gehäuse ihres Lebensumfelds zu richten, woraus sich eine sachlich-räumliche Begrenzung ihres Erkenntnisinteresses auf den staatlichen und nationalen Horizont ergibt. Die jüngeren Wissenschaftler sind dagegen in starkem Maß von dem neuen Gesellschaftsmodell beeinflußt und transzendieren den zuvor gültigen Rahmen. Das führt immer wieder zu Streit zwischen Historikern des „Drinnen“ und jenen des „Draußen“, die auf die revolutionäre Verflüssigung statischer Strukturen reagieren und die Wahrnehmung des Paradigmenwechsels in die wissenschaftliche Arbeit einbeziehen. Fast unweigerlich sind sie auch von der Ideologie des neuen Gesellschaftsmodells beeinflußt und empfinden die Argumente von Historikern des „Drinnen“ als veraltet und beengt. Solche Gegensätze sind unproduktiv. Es sind ideologisch durchsäuerte wissenschaftliche Wortgefechte, in denen die Nostalgiker des politökonomischen Ancien Régime mit den Protagonisten der neuen Zeit aneinander geraten.⁶¹

Semantischer Wandel der Begriffe Wichtiger als diese Konflikte ist es aber, dass die Geschichtswissenschaft in Verbindung mit den benachbarten Geistes- und Sozialwissenschaften alsbald Kriterien der Reflexion über das analytische Instrumentarium entwickelt, wie wir in der Zukunft den Strukturbruch am Ende des Booms und die Entwicklung seither untersuchen können. Wir sind da noch nicht weit gekommen. Nur eines ist sicher: Die geschichtstheoretischen Normen, die seit etwa 1970 in unserem Fach Verbreitung gefunden haben und zeitweilig fast axiomatische Gültigkeit erlangt hatten – der Bezug auf Max Weber etwa und seine auf den Machtstaat und den

 Programmatisch dazu Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen 2001; Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 2003; Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871– 1914. Göttingen 2004; Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien. Göttingen 2006. Zur kritischen Reflexion über das Gewicht des alten Paradigmas vgl. Lutz Raphael, Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: Geschichte und Gesellschaft 25, 1999, S. 5 – 37.

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Anstaltsstaat gestützte Gesellschaftstheorie –, waren an die Geltung des keynesianischen Gesellschaftsmodells gebunden und entwickelten ihre analytische Valenz in diesem Rahmen. Hier hatte die Modernisierungstheorie ihren Ort,⁶² und von hier aus wurden auch die größeren Forschungsvorhaben zur Analyse der Nachkriegsgeschichte noch in den neunziger Jahren entworfen, die mit den Begriffen Modernisierung, Westernisierung, Liberalisierung oder Demokratisierung operierten.⁶³ Hier wurzelte ganz selbstverständlich ein positiv grundiertes Verständnis von Fortschritt sowie die Überzeugung, dass die Steuerungskompetenz des Staates in der Gesellschaftspolitik das richtige Mittel sei, um das Gemeinwesen nach den Kriterien eines sozialen und liberalen Konsenses im Gleichgewicht zu halten. Zur Analyse der historischen Entwicklung unter den Einflüssen des neoliberalen Paradigmas taugen sie aus genau diesem Grunde nicht. Aber die Einsicht, dass die Gegenwart seit etwa 1975/80 ein anderes epistemologisches Instrumentarium benötigen dürfte als die Epoche des Booms, breitete sich nur sehr zaghaft aus und hat die Geschichtswissenschaft noch kaum erreicht.⁶⁴ Deshalb muß es nächst der empirischen Erforschung des Strukturwandels gleichermaßen darum gehen, die Leitbegriffe auf den Prüfstand zu stellen, die in jenen Jahren handlungsbestimmend gewirkt haben. Sie prägten das Bewußtsein  Vgl. Wolfgang Zapf (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main u. a. 1991; Hans van der Loo/Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox. München 1992; Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986; Ulrich Beck/ Wolfgang Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main 2001; Peter B. Evans/ Dietrich Rueschemeyer/Theda Skocpol (Hrsg.), Bringing the State Back In. Cambridge, MA 1985; Daniel Yergin/Joseph Stanislaw, Staat oder Markt. Die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1999.  Vgl. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993. Bereits wenige Jahre später war der Begriff „Modernisierung“ durch „die Moderne“ ersetzt worden. Vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995; Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, mit der Konzentration „auf eine Beschreibung von Veränderungen im Koordinatensystem der Gesellschaftsordnung, die sich nach 1945 in den Westzonen und der Bundesrepublik vollzogen, in den Jahren um 1970 zum Abschluß kamen und das Selbstverständnis der Westdeutschen bis in die Gegenwart geformt haben“, ibid., S. 7; Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, in: Herbert, Ulrich (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980. Göttingen 2002, der „Liberalisierung“ als offenen Prozeß betrachtet, wodurch das Geschehen in eine Zukunft ohne Ende hineinzuführen scheint. Siehe zudem Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn u. a. 2003.  Vgl. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methode, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003.

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der Gesellschaft. Erst wenn der semantische Wandel in Begriffen wie Fortschritt, Moderne, Planung und Konsens, aber auch Markt, Staat und Nationalstaat näher untersucht ist, kann es gelingen, die Brüche und Kontinuitäten im gesellschaftlichen Selbstverständnis zwischen 1970 und der Gegenwart kritisch einzuschätzen. Mit der Historisierung der Boomphase ist unabdingbar die Historisierung der Weltbilder verknüpft, unter deren Einfluß die meinungsprägenden Altersgruppen handelten und urteilten.⁶⁵ Nimmt man dagegen die altetablierten geschichtstheoretischen Normen der modernen Sozialgeschichte, der Alltagsgeschichte und zum Teil auch der Kulturgeschichte, um sie für die Analyse des gegenwartsnahen Geschehens zu nutzen, kann das Ergebnis nur in einem negativen oder kulturpessimistischen Urteil über den sozialgeschichtlichen Prozeß seit 1970 bestehen. Welches erkenntnistheoretische Instrumentarium aber steht statt dessen für diese Aufgabe bereit? Soweit es heute schon erkennbar ist, wird es um semantische Verschiebungen in vertrauten Begriffen gehen, was sich schon um 1980 andeutete, aber noch im Ton der Entrüstung vermerkt wurde.⁶⁶

4. Abschied vom Gestern Es ist erforderlich, die gegenwartsnahe Vergangenheit strikt zu historisieren, um die Zeit „nach dem Boom“ in den Verlauf des 20. Jahrhunderts einordnen zu

 Es ist schwerlich ein Zufall, dass in den 1990er Jahren die historische Forschung Problemfelder wie „Planung“, „Konsens“ oder „Nationalstaat“ verstärkt untersuchte, während es in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht zuletzt um den Bezug zwischen „Markt und Staat“ sowie zwischen „Modernisierung und Moderne“ ging. Vgl. Winfried Süß, „Wer aber denkt für das Ganze?“ Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Frese/ Paulus/Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, S. 349 – 377, sowie Gabriele Metzler, „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: ibid., S. 777– 797; Metzler, Konzeptionen politischen Handelns; Anselm DoeringManteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in diesem Band, S. 357– 391; Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie; Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythen und Realität seit 1780. Frankfurt am Main 1991; Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000; Rolf-Ulrich Kunze, Nation und Nationalismus. Darmstadt 2005; Heiner Flassbeck, Das Ende von Bretton Woods, oder: Gibt es eine nationale Politik in einer internationalisierten Welt?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 43, 2002, S. 31– 48; Zapf, Die Modernisierung moderner Gesellschaften; Beck/Bonß, Die Modernisierung der Moderne.  Vgl. den Aufsatz aus dem Jahr 1980 von Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980), in: Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophischpolitische Aufsätze. Leipzig 1990, S. 32– 54.

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können. Der intellektuelle Reiz künftiger Forschung besteht darin, nicht nur das Geschehen darzustellen und zu systematisieren, nicht nur Strukturwandel, Zeitstimmung und die gesellschaftliche Wahrnehmung des Umbruchs zu beschreiben, sondern auch die Verschiebungen auf der Metaebene durch Analyse der epistemologischen Leitbegriffe zu untersuchen. Wir sind vor die Aufgabe gestellt, die Welt, aus der wir kommen, und mithin uns selbst mit all unseren Orientierungsmustern und Ordnungsannahmen in einen geschichtlichen Prozeß einzuordnen, der als abgeschlossen zu klassifizieren ist. Das mag ein ungemütliches Gefühl hervorrufen, weil es auch uns Historiker zwingen wird, die Gegenwart anzunehmen, wie sie ist, und uns nicht mit Wortkaskaden aus dem Gestern von ihr zu distanzieren. Die Erinnerung an eine Welt, die es nicht mehr gibt, und eine Zeit, die in der Vergangenheit ruht, bleibt ja schließlich erhalten.

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Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“* Bilanz eines Jahrzehnts In der zeithistorischen Wissenschaft wird schon seit geraumer Zeit darüber diskutiert, welche Bedeutung und Eigenart den 1970er-Jahren im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben seien.¹ Frühe Überlegungen über den Charakter der Zeit als „rotes Jahrzehnt“², als „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ oder vielleicht doch schon als Inkubationsphase des erneuerten konservativen Trends nach 1980 bewegten sich auf dem vertrauten Pfad der Zeitgeschichte seit 1945,³ die Jahrzehnt um Jahrzehnt seit den 1950er-Jahren durchmusterte und darauf konzentriert war, die Entwicklung der Nachkriegszeit als Fortschritts- und Wohlstandsgeschichte mitzuvollziehen. Man war gewohnt, dass es aufwärts ging und wollte die Dinge auch dann nicht gern aus einem anderen Blickwinkel sehen, als die Fortschrittslinie hinsichtlich Wohlstand, sozialer Sicherheit und Sozialstaatlichkeit nicht mehr eindeutig anzusteigen schien. Das aber war seit dem Spätherbst 1973 der Fall. Zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, nach 1966/67, kam es zu einer Rezession. Die Arbeitslosenzahlen nahmen wieder zu, diesmal jedoch erzielten die rasch aufgelegten wirtschaftspolitischen Konjunkturmaßnahmen bestenfalls halbe Erfolge. In wichtigen, beschäftigungsintensiven Branchen wie der Textil-, Bekleidungs- oder Werftindustrie traten alle Anzeichen einer Strukturkrise auf und führten zu Unternehmenspleiten, Werkschließungen und Massenentlassungen. Der spektakulärste Fall war die Krise der westeuropäischen Stahlindustrie, deren Firmen sich nach dem Ende des Booms zum Abbau gigantischer, zumeist mithilfe staatlicher Subventionen finanzierter Überkapazitäten genötigt sahen. Gleichzeitig durchlebten industrielle Großun-

* Gemeinsam mit Lutz Raphael  Konrad Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008; Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren. München 2009; Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969 – 1990. München 2004.  Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967– 1977. Köln 2001.  Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004, S. 1– 37; Axel Schildt, „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: ibid., S. 449 – 478. https://doi.org/10.1515/9783110633870-015

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ternehmen wie VW eine Anpassungskrise, die sie ebenfalls zu drastischen beschäftigungspolitischen Maßnahmen und strategischen Neuorientierungen zwang. Für das Verständnis der bundesrepublikanischen Entwicklung ist es von größter Bedeutung, sich vor Augen zu führen, dass bis zur zweiten Ölpreiskrise, die nach 1979 einsetzte, bei der Mehrzahl der wirtschaftspolitischen Berater und Entscheider der Eindruck vorherrschte, eine Rückkehr zum Wachstumspfad der 1960er- und 1970er-Jahre sei grundsätzlich möglich. Eine pragmatische Währungs- und Konjunkturpolitik in Verbindung mit einer ambitionierteren Technologie- und Infrastrukturpolitik würde völlig ausreichen. Damit galt sozialliberale Reformpolitik – jetzt als relativ erfolgreiches Krisenmanagement – auch im westeuropäischen und internationalen Vergleich nach wie vor als zukunftsfähig. Vor allem wurde das System sozialstaatlicher Sicherungen systematisch genutzt, um die kurzfristigen Folgen der industriellen Beschäftigungskrise aufzufangen. Insbesondere das Instrument der Frühverrentung diente solchen Zwecken, um auf Kosten der Sozialversicherungssysteme Anpassungsprobleme von Branchen und Betrieben im Einvernehmen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite „sozialverträglich“ zu bewältigen. Erst in den 1980er-Jahren zeigte sich der Strukturbruch im Industriesektor in seiner ganzen Schärfe, als die Arbeitslosenzahl auf 2,3 Millionen stieg und nun auch in der Bundesrepublik – nach Großbritannien, Frankreich und Italien – immer mehr Fabriken geschlossen und die betroffenen Industriestandorte ihrer bisherigen Existenzgrundlage beraubt wurden. In den alten Industriezentren Ruhrgebiet, Nordostfrankreich mit Belgien und Luxemburg, in Mittelengland und Schottland sind seitdem die Arbeitslosenzahlen hoch geblieben. Diese Tatsache allein verweist auf die dauerhaften Effekte des Strukturbruchs. Die alte Arbeiterkultur des montanindustriellen Zeitalters, die an die maschinell-manuelle Industrieproduktion und die räumliche Nähe von Fabrik und Zuhause gebunden war, begann abzusterben. Um 1980 war das manifest. 1984/85 kam es in England fast zum Bürgerkrieg, als die Bergarbeiter in den Streik traten.⁴ 1987/88 legte der Streik im Rheinhausener Krupp-Stahlwerk, das seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die Stadt, die Menschen und die Lebensformen geprägt hatte, fast die ganze Region lahm, weil sich die Bevölkerung des Ruhrgebiets mit den Krupp-Arbeitern solidarisierte.⁵ In den Jahren 1984 und 1985 hatten den

 Siehe Francis Beckett/David Hencke, Marching to the Fault Line. The Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain. London 2009.  Eine zeithistorische Analyse des Ruhrkampfs um das Krupp-Stahlwerk Rheinhausen ist noch nicht geschrieben worden. Vgl. aber Waltraud Bierwirth/Manfred Vollmer, AufRuhr. Rheinhausen 1987– 1997. Essen 2000. Zur Entwicklung in Frankreich mit Blick auf die Autoindustrie, vgl. Sté-

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2,3 Millionen Arbeitslosen aus den alten Industrien gerade mal 159 000 neue Stellen gegenübergestanden.⁶ Zwischen 1975 und 1995 ist die Welt der Malocher, die von der Arbeit vieler Menschen an den riesenhaften Maschinen der Hüttenwerke und Zechen bestimmt gewesen war, untergegangen.⁷ Dennoch: Große Teile der Gesellschaft der Bundesrepublik wie auch der westlichen Nachbarländer und Großbritanniens fühlten sich von dem Geschehen nur bedingt betroffen. Die Orientierung am steigenden Wohlstand und gesicherter Sozialstaatlichkeit blieb unverändert, Konsum und Tourismus florierten in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren intensiver denn je.⁸ Für die Lebensläufe männlicher deutscher Beschäftigter der alten Industrien war es von großer Bedeutung, dass sie in den Genuss der gerade erst expandierenden Leistungen sozialstaatlicher Sicherungen kamen, als die Strukturkrise ihre alte Arbeitswelt hinwegfegte. Gleichzeitig schienen der Ausbau und die Öffnung des Bildungssystems einer jüngeren Generation von Arbeiter- und Angestelltenkindern eine bessere Zukunft jenseits der alten, schweren Industriearbeit zu eröffnen. Die kollektiven Aufstiegserwartungen wurden gerade in der Bundesrepublik bis weit in die 1980er-Jahre weitergetragen und durch die branchenspezifischen, regionalen Krisenphänomene wenig beeinträchtigt. Dazu trug nicht zuletzt der Ausbau des öffentlichen Dienstes bei, der in dieser Phase die stärksten Beschäftigungszuwächse verzeichnete. Anders als die meisten westeuropäischen Staaten erlebte die Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht das soziale Drama enorm hochschnellender Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen Ländern wie Frankreich oder Italien eine der wichtigsten Folgen dieses Strukturbruchs ausmacht. Aber die Zunahme von subventionierten Zeitarbeitsplätzen (ABM-Maßnahmen) und die Entstehung eines wirtschaftlich vielfach prekären Alternativsektors – zwei Sektoren der Arbeitswelt, die vor allem jüngere Menschen mit ganz unterschiedlichen Qualifikationen betrafen – verweisen auf erste Risse in dem bis dahin so robusten Beschäftigungssystem der Bundesrepublik Deutschland.

phane Beaud/Michel Pialoux, Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Die Peugeot-Werke von SochauxMontbéliard (1989). Konstanz 2004.  Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982– 1990. München 2006.  Wolfgang Hindrichs/Uwe Jürgenhake/Christian Kleinschmidt, Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre. Essen 2000.  Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000; vgl. Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57, 2009, S. 171– 199; Rüdiger Hachtmann, Tourismusgeschichte. Göttingen 2007, S. 170 – 183.

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Gerade wenn man die westdeutschen Entwicklungen im internationalen Kontext, vor allem jedoch im Vergleich mit den Trends in den mit der Bundesrepublik ökonomisch eng verflochtenen westeuropäischen Ländern betrachtet, fällt auf, dass Strukturbrüche und der revolutionäre Charakter des sozialen Wandels hierzulande weniger scharf oder deutlich später auftraten. Die dominante Stellung vieler Zweige und Unternehmen der westdeutschen Wirtschaft sowie die Widerstandskraft der korporativen Arrangements des 1976 zum Wahlkampfschlager erhobenen „Modells Deutschland“ sind hier als wichtige Faktoren der Verzögerung und der Abfederung zu nennen. Ein kurzer Blick nach Großbritannien oder Italien genügt, um das Ausmaß zu ermessen, welches die Anhäufung struktureller Probleme und konjunktureller Schwierigkeiten für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in den 1970er-Jahren in zahlreichen westeuropäischen Ländern mit sich brachte. Dort führte die Kombination von Rezession, Inflation, Reformstau und Strukturkrise der industriellen Großunternehmen zum Einsturz des sozialökonomischen Konsenses der Boomphase. Sie schuf politische und gesellschaftliche Konfliktlagen, welche in der zeitgenössischen Wahrnehmung als eine allgemeine „Krise“ von Gesellschaft und Politik erschienen. Davon waren Länder wie die Bundesrepublik, die Schweiz oder Schweden weit entfernt. Dennoch sind strukturelle Gemeinsamkeiten aus heutiger Sicht nicht mehr von der Hand zu weisen: Alle westeuropäischen Länder mussten auf je spezifische Art den Übergang zu neuartiger Ökonomie, Gesellschaft und Politik bewältigen. Schließlich gelten die 1970er-Jahre übereinstimmend als Krisenjahrzehnt des Keynesianismus. Mit diesem schillernden Begriff ist hier nicht nur das Ensemble nachfrageorientierter makroökonomischer Steuerungsmaßnahmen gemeint, sondern mit ihm bezeichnen wir auch – im Anschluss wiederum an eine breite politikwissenschaftliche und zeitgeschichtliche Deutungsrichtung – das übergreifende politökonomische Ordnungsmodell, das sich seit den 1960er-Jahren mit der Stabilisierung des Booms in den westeuropäischen Staaten weitgehend als Orientierungsrahmen durchgesetzt hatte. Seine wichtigsten Elemente waren die Versuche gesamtgesellschaftlicher Planung beziehungsweise indirekter Steuerung, die Einbeziehung der großen kollektiven Akteure (von den Unternehmerverbänden über die Gewerkschaften bis hin zu Sozialverbänden und Berufsgruppen) in die Wirtschafts- und Sozialpolitik mit dem Ziel, Konflikte einzuhegen und einen breiten gesellschaftspolitischen Konsens jenseits der parteipolitischen Konflikte herzustellen.⁹ Bekanntlich näherte sich die Bundesrepublik in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren diesem Ideal weitgehend an, aber sie

 Zur Problematik des Konsensliberalismus siehe Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003.

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stand damit in Europa nicht allein, wie ein Blick in die Schweiz, Österreich, die Beneluxstaaten oder Skandinavien zeigen kann. Die Krise des Keynesianismus setzte zwischen 1971 und 1973 ein, als die westlichen Industrieländer die Steuerungskompetenz im Wirtschaftsgeschehen einbüßten. Um 1980 erfolgte dann der Durchbruch des Neoliberalismus, dessen makroökonomische Theorie des Monetarismus schon seit Längerem viele Fürsprecher gefunden hatte. Wichtiger als die damals zweifellos sinnvolle Neuausrichtung der volkswirtschaftlichen Leitprinzipien war jedoch die ideologische Begründung aus der Denkschule Friedrich von Hayeks. Dieser sogenannte Neoliberalismus denunzierte den Konsens und die gesamtwirtschaftliche Planung im Sinne keynesianischer Globalsteuerung als Sozialismus, und das bedeutete schlicht: unfrei. Die Erfahrung der Konfrontation von Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus ließ ihn zum fanatischen Gegner jeglicher Form von Regelung, Planung und staatlicher Steuerungskompetenz werden. In der Mont Pèlerin Society, einer 1947 gegründeten wirtschaftsliberalen Vereinigung, wurden diese Auffassungen mit den Theorien der Chicagoer Schule der Volkswirtschaft verkoppelt.¹⁰ Die „Chicago Boys“ um Milton Friedman unterstützten 1973 die amerikanische Politik beim erfolgreichen Putsch gegen Chiles sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. 1974 und 1976 wurden Friedrich von Hayek und Milton Friedman mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Der Durchbruch ihrer Ideen in der staatlichen ökonomischen Praxis war mit dem Regierungsantritt von Margaret Thatcher und Ronald Reagan 1979/80 manifest. Jetzt wurde die Freiheit gegen den Konsens in Stellung gebracht und das vom Keynesianismus beeinflusste politökonomische Denken in offener Feldschlacht bekämpft. Die Politik des Konsenses, hieß es jetzt, mache die Menschen initiativlos, träge und bequem. Dagegen wurde die Parole gestellt, dass sich Leistung „wieder lohnen“ müsse.¹¹ Leistung könne nur der Einzelne erbringen, wenn er die Freiheit habe, sich nach seinen Kräften zu entfalten. Dazu gehörte dann die Feststellung von Frau Thatcher, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gebe, sondern nur einzelne Menschen, die Familien und dann, natürlich, die Nation.¹²

 Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society. Hamburg 2004.  Vgl. Wirsching, Abschied, S. 11– 106, der die Wahlkampfstrategie der CDU/CSU unter Helmut Kohl gegen die SPD unter Helmut Schmidt beschreibt (S. 40 – 46).  Vgl. Bernard Wasserstein, Barbarism and Civilisation. A History of Europe in Our Time. Oxford 2007, S. 636 f., mit dem Verweis auf Thatchers Interview für die Zeitschrift „Women’s Own“, 23.9. 1987, in der sie die Frage stellte ‚Who is society?‘ und die Antwort gab: ‚There is no such thing! There are individual men and women and there are families’.

Der Epochenbruch in den 1970er Jahren

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In seiner programmatischen Rigorosität stieß der Thatcherismus im übrigen Westeuropa weitgehend auf Ablehnung oder sorgte doch zumindest für Irritationen, die es den Anhängern und Bewunderern der „eisernen Lady“ nahelegten, behutsamer vorzugehen und ideologisch kompromissbereit zu sein. Dennoch ist bereits in den 1980er Jahren unübersehbar, dass in westeuropäischen Ländern, deren währungs- und finanzpolitische Spielräume in dramatischer Weise enger geworden waren, in Italien und Frankreich etwa, gerade auch maßgebliche Kräfte der politischen Linken eine wirtschaftspolitische Kehrtwende vollzogen und die schrittweise Abkehr vom Keynesianismus einleiteten. Jenseits der parteipolitischen Konstellationen, langfristiger Pfadabhängigkeiten nationaler Wohlfahrtsregime oder sozialkultureller Besonderheiten wurde ganz Westeuropa von den grundlegenden Trends erfasst, die wir hier diskutieren. Das ist der widersprüchliche Gesamteindruck, den wir in der Epoche nach dem Boom gewinnen und den es gesellschaftspolitisch, politökonomisch und ideologiekritisch zu analysieren gilt.

Strukturbruch und sozialer Wandel revolutionärer Qualität – ein Deutungsansatz Wir formulieren die These, dass die Entwicklung seit den 1970er-Jahren einen Strukturbruch der Industriemoderne sichtbar werden ließ. Deshalb betrachten wir die Zeit seit etwa 1975 als eine Epoche eigenen historischen Rechts, die zur Gegenwart hin noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. Daraus erklärt sich die nur zur Vergangenheit hin eindeutige Bezeichnung „nach dem Boom“.¹³ Angesichts der bis heute spürbaren, scheinbar widersprüchlichen Verkopplung von Kontinuitäten und Wandlungsprozessen sprechen wir gleichwohl umfassend von sozialem Wandel von revolutionärer Qualität, weil die Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft so dynamisch vonstattengehen, dass auch innerhalb von Kontinuitätsstrukturen der Wandel des Gewohnten ins Auge sticht. Als Beispiel aus dem Bereich der Sozialstaatlichkeit soll die Sicherung der Rentner genannt werden, die seit der Einführung der „dynamischen Rente“ 1957 vom steigenden Lohnniveau und dem allgemeinen Wohlstand profitieren konnten. Seit dem Übergang von den 1980er- zu den 1990er-Jahren hat sich zwar an der materiellen Sicherheit der Rentner nichts Gravierendes verändert, aber die Gewissheit, dass die Renten sicher seien, gibt es nicht mehr. Für junge Arbeitnehmer in der Ge-

 Vgl. unsere ausführlichere Argumentation: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 2. Aufl. Göttingen 2010.

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genwart – Arbeiter wie Angestellte – scheint es unbestreitbar so zu sein, dass deren materielle Lage im Alter keineswegs „sicher“ ist, wenn sie sich nicht schon heute um zusätzliche private Vorsorge kümmern. Anders gesagt: Ein rocher de bronze des Wohlfahrtsstaats steht auch in der Epoche nach dem Boom vor aller Augen, aber seine Festigkeit und Verlässlichkeit ist fragwürdig geworden. Kontinuität und Wandel interagieren hier, und der Grund dafür besteht keineswegs nur in der demografischen Entwicklung. Hier ist vielmehr die Wirkung eines makroökonomischen Prinzips – man könnte auch sagen: einer Wirtschaftsideologie – zu spüren, die es nicht zulassen will, dass einzelnen Menschen oder bestimmten Personengruppen im Sozialstaat durch politische Maßnahmen im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses das Gefühl der Zukunftssicherheit als Lohn für lebenslange Arbeit gegeben wird. Materielle und ideelle Faktoren wirken zusammen.¹⁴ Zwei weitere große „Basisprozesse“ sozialen Wandels in dieser Epoche seien hier noch einmal in Erinnerung gerufen. Zum einen nahm die Erwerbstätigkeit von Frauen kontinuierlich zu: In 20 Jahren, zwischen 1973 und 1993, stieg die Erwerbsquote von Frauen in den westeuropäischen Ländern kontinuierlich an (von 44,7 auf 60,6 Prozent). Die revolutionäre Qualität dieses Prozesses wird besser sichtbar, wenn man sich vor Augen führt, dass sich im selben Zeitraum die Differenz zwischen den Erwerbsquoten von Männern und Frauen mehr als halbierte (von 44 auf 19,5 Prozent). Diese Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben ist zum Normalfall geworden, hat die Zukunftserwartungen und Strategien der unterschiedlichsten Akteure, von Unternehmern, Politikern über Paare und Familien bis hin zu heranwachsenden Mädchen beziehungsweise jungen Frauen bestimmt. Dieses Bündel von kleinen Veränderungen ergibt zusammen ein Gesamtbild, das 1995 oder 2010 völlig anders ist, als es 1973 war. Die Expansion des Bildungswesens liefert das zweite Beispiel für einen solchen Wandel von revolutionärer Qualität, der sich Jahr für Jahr mit der Einschreibung von mehr Studierenden, mit dem Erwerb von mehr Hochschuldiplomen nach den großen Reformdebatten der 1960er- und frühen 1970er-Jahre geradezu unauffällig, fast wie ein Naturprozess vollzog und an dessen Ende eine tief greifende Krise der Bildungsinstitutionen, ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Zielsetzungen stand und steht. Für die Bundesrepublik Deutschland etwa markiert der sogenannte Öffnungsbeschluss des Jahres 1977, der den Universitäten die Aufnahme einer stetig wachsenden Zahl von Studierenden ohne weiteren adäquaten Ausbau von Infrastruktur und Personal aufbürdete und zunächst nur als

 Vgl. Diana Wehlaub, Lobbyismus und Rentenreform. Der Einfluss der Finanzdienstleistungsbranche auf die Teil-Privatisierung der Alterssicherung. Wiesbaden 2009.

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Provisorium angesichts finanzieller Engpässe gedacht war, eine Zäsur, deren langfristige Folgen erst in den Debatten um den sogenannten „Bologna-Prozess“ wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt sind. Wir versuchen das Geschehen in der Epoche nach dem Boom – Strukturbruch und revolutionären Wandel – so zu erklären, dass wir das unvermutete Zusammentreffen dreier im Ursprung völlig unabhängiger Komponenten betonen, um dessen Wirkungen zu untersuchen. Die erste Komponente besteht in der Digitalisierung, die zweite wird durch die Wirtschaftstheorie des Monetarismus in Verbindung mit der marktradikalen Ideologie von „Freiheit“ gebildet, die auf die Ökonomen Milton Friedman und Friedrich August von Hayek zurückgeht und umgangssprachlich als Neoliberalismus bezeichnet wird. Die dritte Komponente besteht in einem Gesellschaftsmodell und Menschenbild, das auf die Entfaltung des Individuums setzt, auf die schöpferische Kraft seiner Kreativität und in paradoxer Weise Authentizität und Flexibilität aufs Engste miteinander verbindet. Im Leitbild des „unternehmerischen Selbst“ hat dieses Ordnungsmuster wirkungsmächtige Motivationskraft zunächst für kleine Minderheiten, dann aber für eine immer größere Zahl von Menschen entfaltet. Gleichzeitig diente es auch als plausibles Legitimationsargument bei der Umgestaltung von Großorganisationen, bei der Neujustierung der Beziehungen zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Individuum und Gesellschaft. Das spätere Resultat der Komponentenfusion ist der sich in den 1990er-Jahren entfaltende digitale Finanzmarktkapitalismus, dessen Eigenart darin besteht, industrielle und industriegesellschaftliche Substanz durch Privatisierung und Kapitalisierung zu vermarkten, den Mehrwert aus dem Vermarktungsprozess abzuschöpfen und die daraus entstehenden gigantischen Kapitalbeträge online um den Globus kreisen zu lassen, immer auf der Suche nach der nächstgeeigneten Anlage, um wieder Mehrwert zu erzielen.¹⁵ Die weltweite Finanzmarktkrise 2008/ 2009 hat nach dem Crash des spekulativen Booms der New Economy im Jahr 2000/01 in bislang ungeahnter Deutlichkeit gezeigt, welche Risiken diesem Spiel innewohnen. Sie hat vor allem gezeigt, welches Maß an Verantwortungsmangel und Rücksichtslosigkeit vorherrscht, seit Freiheit zum primären Orientierungswert im weltweit deregulierten ökonomischen Handeln geworden ist. Blickt man zurück in die 1960er- und 1970er-Jahre, dann springt ins Auge, in welch hohem Maß nationalstaatliche oder regionale standortbezogene Verortungen als Orien Vgl. Mathias Albert/Lothar Brock, Die Neue Weltwirtschaft. Entstofflichung und Entgrenzung der Ökonomie. Frankfurt am Main 1999; Paul Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?, in: Windolf, Paul (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Wiesbaden 2005, S. 20 – 57; Christoph Deutschmann, Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise, in: ibid., S. 58 – 84.

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tierungspunkt für die Akteure der internationalen Finanzmärkte an Bedeutung verloren haben. In allen westeuropäischen Ländern ist deshalb der Rückzug des Staates aus früheren wirtschaftlichen Unternehmungen – also die Geschichte der Privatisierung von Betrieben in öffentlichem Besitz und der Deregulierung bisher dem Markt entzogener Bereiche öffentlicher Dienstleistungen – ein besonders wichtiges Thema. Es erlaubt es, die Ausgestaltung der neuen Beziehungen zwischen Privatwirtschaft und Staat, zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten seit den 1970er-Jahren zu untersuchen. Erst auf der Grundlage von digitaler Technik und Kommunikation in Echtzeit hat jedoch die Finanzmarktkrise des Jahres 2008/09 ihre Eigenart gewonnen, die sie vom Zusammenbruch der New Yorker Börse 1929 und der Weltwirtschaftskrise 1930 bis 1933 unterscheidet. Alle drei Komponenten brauchten gut drei Jahrzehnte, um sich zu entwickeln, in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur Fuß zu fassen und schließlich die Lebenswelten weiter Bevölkerungsmehrheiten zu bestimmen. Die Wege zur Durchsetzung verliefen ganz unterschiedlich. Gerade die Kreuzungspunkte verdienen die besondere Aufmerksamkeit der Historiker und sind noch längst nicht alle aufgespürt. Für die Untersuchung gerade der Arbeitswelten der 1970er- und 1980er-Jahre ist es von Bedeutung, dabei den Ort der Unternehmen genauer in den Blick zu nehmen. Der Weg von der gewerkschaftlichen Mitbestimmung oder betrieblichen Personalvertretung als dem Königsweg zur Demokratisierung der Wirtschaft und zur stärkeren Partizipation der Beschäftigten im Betrieb hin zur Durchsetzung von Qualitätszirkeln, individualisierter Personalführung und „flachen“ Hierarchien ist ein solcher Pfad. Gerade in der Bundesrepublik öffnete sich frühzeitig die Kluft zwischen der gewerkschaftlich artikulierten Kritik, dass sich die Beschäftigten nur mangelhaft an der Gestaltung und Weiterentwicklung der Arbeitsprozesse und -bedingungen beteiligten, einerseits, und, andererseits, der oft viel radikaleren Kritik an den Hierarchien und bürokratischen Strukturen großer Unternehmen sowie ihren technologischen, vor allem energiepolitischen Orientierungen. Beide Stränge fanden sich zusammen in einer deutlicheren Kritik am traditionellen Selbstverständnis und Führungsstil westdeutscher Großunternehmen. Dem konnten sich in Zeiten beschleunigten Strukturwandels in allen wichtigen Branchen und im Zeichen kriseninduzierter Anpassungszwänge an internationale Marktentwicklungen auf Dauer auch die fest etablierten Strukturen – verkörpert in der älteren Generation deutscher Manager – nicht entziehen. Die Neuorientierung von Management und Personalführungen in den Großunternehmen gehört zu den bislang erst in Ansätzen erforschten Themen in der Epoche nach dem Boom.¹⁶

 Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. München 2008.

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Deshalb ist es noch viel zu früh für generalisierende Aussagen über die konkrete Ausgestaltung betrieblicher Realitäten entlang jener Leitbilder und Rezepturen neuer Unternehmensgestaltung, die in der ambitioniertesten Ratgeberliteratur der 1970er-Jahre bereits formuliert und von neuen Zeitschriften wie Capital auch publizistisch unterstützt worden sind. In jedem Fall boten Fusionen und Neugründungen von Unternehmen seit den 1980er-Jahren immer mehr Anlässe für einschneidende Reformen und Umorganisationen, die auch die westdeutschen Arbeitswelten und vor allem deren mittlere und obere Etagen immer stärker mit dem neuen Geist des Kapitalismus imprägnierten, dessen diskursive Grundelemente für Frankreich vorbildlich in der Studie von Boltanski und Chiapello herausgearbeitet worden sind.¹⁷ Die Krise der Gewerkschaften im Betrieb war nicht nur eine klassische Schwächeperiode, angesichts geschwächter Verhandlungsmacht in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und der Zunahme unternehmerischen Druckes, sondern sie war seit den 1980er-Jahren in immer stärkerem Maß auch geprägt von der Delegitimierung der Gewerkschaften durch unternehmerfreundliche beziehungsweise -neutrale Diskurse individueller Selbstentfaltung und Kreativität, die sich pauschal gegen Bürokratien jeglicher Art und staatliche „Gängelung“ sowie gegen „kollektivistische“ gewerkschaftliche Gegenmacht richteten. Der Markt und die Freiheit beziehungsweise Kreativität unternehmerischen Handelns wurden dagegen vor allem als Chance für die Realisierung von Zukunftsvisionen ausgegeben. Die Fusion einer ursprünglich unternehmerfeindlichen, wenn auch nicht marktfeindlichen Strömung innerhalb der Kapitalismuskritik der Achtundsechziger mit neuen Managementkonzepten, die auf den Bruch mit der Tradition hierarchischer und autoritärer Unternehmensführung setzten, ist deshalb hier von besonderem Interesse. Gerade die strukturellen Zwänge zur Internationalisierung – erkennbar etwa in der zeitgenössischen Dynamik gerade auch europäischer multinationaler Unternehmensgründungen – wirkten als ein weiterer Pfad, auf dem neue Ideen in Unternehmen Einzug hielten und dort zu Argumentationshilfen neuer Generationen von Managern, aber auch von Mitarbeitern auf den unterschiedlichsten Stufen und Zweigen der Organisation und Produktion im Kampf um betriebliche Machtpositionen wurden. Die Abkehr von etablierten Arbeitsteilungen und der Machtverteilung in der fordistischen Produktion und den hierarchisch-bürokratisierten Großunternehmen ist ein Thema, das seit den 1970er-Jahren in unterschiedlichen Schüben die Einführung neuer digitalisierter Fertigungsprozesse beziehungsweise Arbeitsabläufe begleitet hat. Die wachsende Bedeutung der Aktienmärkte und der dort agierenden Akteure des Finanzkapitals

 Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 1999.

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für die Unternehmen ist ein weiteres Arbeitsfeld, das in den Blick genommen werden muss. Vieles spricht dafür, dass dies das vielleicht letzte Kapitel in der Durchsetzung des digitalen Finanzmarktkapitalismus in der Bundesrepublik darstellen wird. Zumindest deuten erste Untersuchungen darauf hin, dass die „Deutschland-AG“, das eng verflochtene Netzwerk zwischen industriellen Großunternehmen, Großbanken und Versicherungen, die Krisen der 1970er- und 1980er-Jahre noch ohne tiefe Einschnitte überlebt hat, nach 1995 dann aber sehr schnell von der Bildfläche verschwand.¹⁸ Damit ist in groben Zügen ein weites Terrain künftiger Forschung abgesteckt. Im Folgenden möchten wir, anknüpfend an unseren 2008 publizierten Essay, einige zentrale ideen- und politikgeschichtliche Zusammenhänge erörtern, die mit einem solchen, letztlich politökonomischen Konzept des Strukturbruchs verbunden sind.

Die ideen- und politikgeschichtlichen Zusammenhänge des Strukturbruchs Der Begriff – oder besser gesagt: das Problem Freiheit – bildet die Klammer zwischen drei Komponenten. Denn erstens geht die Entstehung der „Cyberculture“ in der Geschichte der Digitalisierung auf die jugendliche Gegenkultur zurück, die im Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren gegen die mentale Enge, die rassische und schichtenspezifische Intoleranz und die politisch-ideologische Verkrustung der weißen Mittelschichten an der amerikanischen Westküste entstand.¹⁹ Die Kommunikation von Studierenden im „Whole Earth Network“ nutzte die aus dem militärischen Sicherheitskonzept der USA nach dem Sputnikschock (1957) resultierende Technik des ARPA-Net, um Kommunikation aller Beteiligten zu jeder Zeit an jedem Ort zu ermöglichen. Das waren die Anfänge der virtuellen Vernetzung. Das Ziel war „Freiheit“ von den Beengungen der realen Welt, wie sie um 1965 war. Die enorme Bedeutung des Zusammenspiels von Realität und Virtualität im Alltagsleben späterer Jahre wird bereits fassbar.²⁰ Verflüssigung des Realen und die Beschleunigung von Kommunikation wurde in

 Jürgen Beyer, Globalisierung und Verflechtung – die Auflösung der „Deutschland AG“, in: Stichweh, Rudolf/Windolf, Paul (Hrsg.), Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden 2009, S. 303 – 321.  Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, The Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism. Chicago, IL u. a. 2006.  Vgl. Manuel Castells, Die Internet-Galaxie. Internet, Wirtschaft und Gesellschaft. Wiesbaden 2005.

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den 1980er-Jahren allmählich auch in der Industrieproduktion und den Dienstleistungen spürbar. So bewirkte der Mikrochip als neuer Grundstoff der industriellen Welt die Herausbildung neuer technologischer Standards. Lagerhaltung, Lieferung und Fertigung wurden in Schüben seit den 1970er-Jahren „revolutioniert“, im Ergebnis konnten sich Unternehmen jetzt überall dort niederlassen, wo es für sie finanziell und logistisch vorteilhaft war. Gleichzeitig setzte sich das Leitbild des vernetzten Unternehmens durch, das faktisch mit der Auslagerung und Neuverteilung von Arbeits- und Fertigungsprozessen verbunden war. „Standortkonkurrenz“ stieg zu einem immer wirksameren wirtschaftspolitischen Argument und unternehmerischen Druckmittel auf. Die freie Wahl des Produktionsstandorts verdichtete sich vor allem nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftssysteme Osteuropas, der Sowjetunion und der Öffnung Chinas zur Realität von Produktionsverlagerungen. Dazu bedurfte es jedoch immer noch des elaborierten branchenspezifischen und EDV-technischen Wissens der Mitarbeiter. Gleichzeitig wurde die an ältere Fertigungsverfahren gebundene Kompetenz von Arbeitern in der Produktion entwertet und nach der Einführung neuer Produktionsverfahren auch gar nicht länger benötigt. Der rasant wachsenden Mobilität des Kapitals entsprach so aufseiten des Faktors Arbeit ein wachsender Zwang zur Mobilität. Zahlreiche statistische Indikatoren belegen diesen sozialen Wandel: Die Distanz zwischen Wohnung und Arbeitsplatz wurde größer, Auslandsentsendung beziehungsweise längere Aufenthalte an entfernteren Arbeitsplätzen für Mitarbeiter wurden häufiger. Der tägliche oder wöchentliche Berufspendler über größere Distanzen entwickelte sich – verstärkt noch durch die Zunahme von Wohneigentum und durch steigende Miet- und Grundstückspreise in den Ballungsgebieten – zu einer typischen Sozialfigur der westeuropäischen Gesellschaften. Mobilität bedeutete also die alltagskulturelle Grundierung von Freiheit. Die sozialkulturellen Begleiterscheinungen beziehungsweise Folgen dieses Trends beschäftigten nicht nur die ökologischen Kritiker dieses Lebensstils, welche die vielfältigen Belastungen für die Umwelt, aber auch für die Menschen bilanzierten, sondern inspirierten auch die soziologische Zeitdiagnostik. Sie extrapolierte diesen Trend zur These, die Standortgebundenheit von Arbeitsplatz und Wohnung nach dem Modell der „schweren Moderne“ sei überflüssig geworden. Die Menschen hatten sich frei zu fühlen – frei von Verpflichtungen, frei von Bindungen.²¹

 Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003, S. 136 – 141 und passim.

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Die Freiheit im digitalen Finanzmarktkapitalismus war, zweitens, auch Entankerung.²² Das ergab sich aus den praktischen Wirkungen, die die Wirtschaftsideologie der „Evangelisten des Marktes“ erzeugte.²³ Die monetaristische Theorie Milton Friedmans und Hayeks Theorie von Freiheit, die mit guten Gründen als „eiserner Käfig“ bezeichnet worden ist, kannten nur einen Gegner, und das war die Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie ihres Vorläufers John Maynard Keynes.²⁴ Keynes hatte seine Vorstellungen von einer fiskalpolitischen Globalsteuerung der Wirtschaft und der Gesellschaft vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenserfahrung seit dem Ersten Weltkrieg und angesichts der Weltwirtschaftskrise nach 1930 entwickelt. Er erkannte, dass weder das einzelne Unternehmen noch ein einzelner Arbeitnehmer angesichts der Komplexität moderner Industriesysteme in der Lage sein konnte, die ökonomische Sicherheit für sich zu gewährleisten. Sicherheit war eine der zentralen Kategorien im makroökonomischen Denken von Keynes.²⁵ Er suchte nach Möglichkeiten zur Sicherstellung gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und bot Lösungen an, die im amerikanischen New Deal, im westeuropäischen Wiederaufbau mit dem politökonomischen Steuerungsinstrument des Marshall-Plans und in der Zeit des Nachkriegsbooms bestimmend werden sollten.²⁶ Die fiskalpolitische Globalsteuerung zielte auf Gleichgewicht und setzte die Planbarkeit der makroökonomischen Rahmenbedingungen voraus. Das erforderte Konsens in der Gesellschaft hinsichtlich der politisch-staatlichen Ordnung, denn der Staat hatte die Steuerungskompetenz. Das liberale Ordnungsmodell der parlamentarischen Demokratie und die gegenseitige Loyalitätsbindung zwischen Bürger und Staat, die sich nicht zuletzt in der Wahlbeteiligung regelmäßig niederschlägt, gehörten dazu. Und ebenso gehörten

 Zu den anthropologischen Verwerfungen infolge von Freiheit vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 2006.  Vgl. Keith Dixon, Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus. Konstanz 2000.  Ingo Pies/Martin Leschke (Hrsg.), Milton Friedmans ökonomischer Liberalismus. Tübingen 2004; Hauke Janssen, Milton Friedman und die „monetaristische Revolution“ in Deutschland. Marburg 2006; Bruce Caldwell, Hayek’s Challenge. An Intellectual Biography of F. A. Hayek. Chicago, IL u. a. 2004; Andrew Gamble, Hayek. The iron cage of liberty. Cambridge, MA 1996.  Vgl. dazu Tony Judt, What Is Living and What Is Dead in Social Democracy, in: The New York Review of Books, 17.12. 2009, S. 86 – 96. Es ist gewiss kein Zufall, dass die neueste Gesamtdarstellung westdeutscher Nachkriegsgeschichte die Kategorie Sicherheit zum roten Faden nimmt: Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009.  Vgl. die kurze Übersicht von Gerhard Wilke, John Maynard Keynes. Frankfurt am Main u. a. 2002.

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Konsenswillen und Konsensfähigkeit der Tarifparteien und der Regierung dazu.²⁷ Das waren der liberale und der kapitalistische Konsens, mit dem der Keynesianismus in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren, nach einer Inkubationszeit von etwa einem Jahrzehnt, zum dominierenden politökonomischen Handlungsmuster wurde.²⁸ Ideologie und Praxis waren an ein nahezu axiomatisches Verständnis von Fortschritt und Modernisierung gebunden und beeinflussten dadurch in der Zeit von etwa 1960/65 bis 1975/80 die Sozialkultur in allen westeuropäischen Ländern. Keynesianismus und Sozialdemokratie gingen in dieser Zeit eine symbiotische Verbindung ein, deren größte Erfolge in die Jahre von 1966 bis 1971/72 fielen.²⁹ Sozialdemokratische Nachwuchskräfte, die in dieser Zeit des Modernisierungs- und Fortschrittsdenkens sozialisiert wurden, hielten an diesen tief internalisierten Impulsen noch nach Jahrzehnten fest, als sie selbst an die Macht gekommen waren, auch wenn sich die Handlungsmuster der politischen Ökonomie und der Gesellschaftspolitik fast in ihr Gegenteil verkehrt hatten. Diese Politiker, in Deutschland die „Enkel“ Willy Brandts, in Großbritannien die „Söhne“ Margaret Thatchers, trugen dazu bei, dass nach 1995/99 sozialdemokratische Politik mit den Prinzipien des digitalen Finanzmarktkapitalismus verkoppelt wurde, denn jetzt galt dieses Wirtschaftsprinzip als Gewährleistung von Fortschritt. ³⁰ Die dritte Komponente von Freiheit lässt sich in Anknüpfung an die Studie von Luc Boltanski und Ève Chiapello als „neuer Geist des Kapitalismus“ fassen. Die Herkunft dieser auf das Individuum beziehungsweise Unternehmen und seine Netzwerke zentrierten Sicht der sozialen Welt aus der Kapitalismus- und Gesellschaftskritik der Studenten- und kulturellen Protestbewegung der Achtundsechziger verweist bereits darauf, dass die 1970er-Jahre ein wichtiges Jahrzehnt der

 Zum „Rheinischen Kapitalismus“ als der bundesdeutschen Kombination aus Ordoliberalismus und Keynesianismus siehe Michel Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus. Frankfurt am Main u. a. 1992; Werner Abelshauser, Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung. Berlin 2003.  Vgl. Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Vgl. auch die differenzierte Analyse des liberalen Konsenses bei Michel Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998. Zum weiteren Kontext siehe Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999.  Vgl. Stephen Padgett/William E. Paterson, A History of Social Democracy in Postwar Europe. London u. a. 1991; zur weiteren Entwicklung nach 1975 vgl. Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. Frankfurt am Main u. a. 1987.  Matthias Micus, Die „Enkel“ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPD-Generation. Frankfurt am Main u. a. 2005; Simon Jenkins, Thatcher and Sons. A Revolution in Three Acts. London 2007.

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Transformationen und Neujustierungen darstellten. In diesen Jahren wurden zentrale Elemente einer libertären, künstlerischen Kapitalismuskritik der 1960erJahre zu Bestandteilen von Managementkonzeptionen der 1990er-Jahre umgearbeitet. Der Weg dorthin ist alles andere als klar und geradlinig und für die Bundesrepublik anders als etwa für Frankreich auch noch längst nicht untersucht. Hier wird auch die enge Verbindung von ideen-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen und Perspektiven deutlich. Die „Gurus“ neuer Unternehmenskonzepte bedienten sich der vielfältigen Anregungen, welche die Gegen- und Alternativkulturen in ihren Nischen weit entfernt von den kulturellen Gewissheiten des sogenannten „Establishments“ hervorgebracht hatten.

Fazit: Die Epoche nach dem Boom und die Fragen der Gegenwart Wir wollen versuchen, die bis hierhin angedeuteten Entwicklungsstränge zusammenzuführen. Der Strukturbruch in der Epoche nach dem Boom erweist sich als eine Multiplizität von Abbrüchen und Umbrüchen, die oftmals von Kontinuitäten in bestimmten Strukturen, zum Beispiel denen des Sozialstaats, oder von Kontinuitäten in gesellschaftlichen Verhaltensweisen überdeckt wurden. Es gab keinen glatten Bruch, keinen Abriss, keinen Neuanfang, sondern Brüche und Verwerfungen, Niedergang hier und dort und demgegenüber hoffnungsvolle, nicht selten mitreißende Neuanfänge und hoch gespannte Zukunftserwartungen. Dennoch erkennen wir im Zerfall der Traditionsindustrien, in der abnehmenden Bedeutung von Standortgebundenheit und der Transformation der Lebenswelten der Menschen an den alten Industriestandorten Phänomene, die zusammengenommen einen Bruch zwischen der Industriekultur seit den Anfängen der Hochindustrialisierung um 1890 und der neuen Arbeitnehmerkultur in der digitalisierten Industrieproduktion der Gegenwart seit 1980/90 ausmachen. Wir erkennen das Ende eines international gültigen makroökonomischen Gesamtzusammenhangs, der seit den späten 1950er-, frühen 1960er-Jahren keynesianisch grundiert war und auf der Voraussetzung fußte, dass der Staat sowohl berechtigt als auch verpflichtet sei, durch Globalsteuerung den kapitalistischen Konsens herzustellen, der eine linksliberale und sozialdemokratische Färbung aufwies. Wir erkennen zudem die Auflösung scheinbar fester Strukturmuster, die in den Bereichen von Kommunikation, Information, Verkehr und Mobilität dadurch ermöglicht wurde, dass mittels Digitalisierung Strukturen sich gewissermaßen verflüssigten und infolge einer größeren Mobilität sich auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen stark beschleunigten.

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Dennoch: Aus den zeitlich weit streuenden, jeweils ganz unterschiedliche Ausschnitte der historischen Wirklichkeit betreffenden Phänomenen allein lässt sich – das ist uns bewusst – die hier vorgetragene Deutung nicht einfach „ableiten“. Sie beruht allerdings auch auf der kritisch reflektierten Wahrnehmung gegenwärtiger Trends. Wer von einem Strukturbruch und von sozialem Wandel revolutionärer Gestalt spricht, tut dies vor dem Hintergrund gegenwärtiger Problemwahrnehmungen. Diese Perspektivität wird besonders deutlich bei der von uns bewusst paradox formulierten Kategorie sozialer Wandel von revolutionärer Qualität, die wir in der zeithistorischen Analyse mit der Kategorie des Strukturbruchs verkoppelt haben. Die Veränderung der Arbeitswelt im traditionellen Industriesystem und die Entstehung eines neuen Berufsprofils für Arbeiter und Angestellte in den Industrie- und Dienstleistungsfirmen des digitalen Kapitalismus können aus heutiger Perspektive als revolutionärer Wandel beschrieben werden. Die aus der Digitalisierung von Kommunikation und Information zunächst nur in kleinen Gruppen und allmählich hervorgewachsene Cyberkultur hat Wahrnehmung und Verhalten der Jugendkohorten seit den 1990er-Jahren stark beeinflusst und ist mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts rasch in die Gesellschaft hineingewachsen. Ein weiteres Beispiel liefert die Politik der Privatisierung öffentlichen Eigentums – Post, Telefon, ÖPNV, Bahn, kommunale Betriebe. Sie hat im Ergebnis dazu geführt, dass die Loyalitätsbindung zwischen Bürger und Staat deutlich zurückgegangen ist. Wenn die Auffassung gilt, dass jedes Unternehmen mit öffentlichen Aufgaben primär den eigenen Nutzen beziehungsweise den seines ShareholderValue im Auge hat und der Staat dieses Modell konsequent fördert, dann wandelt sich der Loyalitätsbezug von Bürger und Staat in eine bloße Kosten-Nutzen-Kalkulation im eigenen Interesse.³¹ Das verstärkt die Neigung jüngerer, aber nicht allein der jugendlichen Altersgruppen, sich aus der unbehausten Welt des Alltags wegzuspacen, sich in eine virtuelle Welt hineinzubewegen, die zu einer eigenen Realität werden kann. Die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden sozialkulturellen Trends werden durch nachlassende Bindungen an Verein, Jugendorganisationen und politische Parteien dokumentiert, aber auch durch die rückläufige Wahlbeteiligung in allen europäischen Ländern. Die Bedeutung der zurückgehenden Loyalitätsbindung kann man als ein Phänomen auffassen, das es in Zeiten politischer Veränderungen, wirtschaftlicher Krisen und unsicherer Zukunftsperspektiven immer wieder gegeben hat. In Verbindung mit dem Rückzug in die virtuelle Realität und in der Möglichkeit des Lebens in virtuellen Räu-

 Vgl. Massimo Florio, The Great Divestiture. Evaluating the Welfare Impact of the British Privatizations 1979 – 1997. Cambridge, MA 2004.

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men erkennen wir einen revolutionären Wandel. Er wurde durch technische Neuerung ermöglicht, öffnet faszinierende Perspektiven, die es nie zuvor gegeben hat, und wirkt sich zugleich in gravierendem Ausmaß auf die soziale Wirklichkeit aus. Im Zusammenspiel mit den kulturellen Auswirkungen öffentlicher Freiheitspraxis haben sich somit in der Gegenwart Verhaltensmuster ausgebildet, die nicht nur neu und anders sind, sondern die Kraft zu radikaler gesellschaftlicher Transformation aufweisen. Angesichts der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 und ihrer anhaltenden Folgen sind die dramatischen sozialen und politischen Konsequenzen des Finanzmarktkapitalismus inzwischen auch für Skeptiker dramatisierender Gegenwartsdiagnostik erkennbar geworden. Unter dem Signum der Freiheit sind seit 1980 die meisten Sicherungssplinte aus dem internationalen Finanzsystem entfernt worden. In der Welt des Kapitals sind Spielräume entstanden, die sich der Vorstellung des Arbeitnehmers – sei es in der Fabrik, sei es als regierende Persönlichkeit in irgendeinem Kabinett – völlig entziehen.³² Durch Privatisierung und Digitalisierung hat sich die Finanzwelt aus dem konsensualen Rahmen von Industrieproduktion, Arbeitsgesellschaft und Staat entfernt. Sie führt eine eigene Existenz in virtueller Realität. Die Effekte neoliberaler makroökonomischer Praxis haben dazu geführt, dass eine gewaltige Umverteilung des Volkseinkommens von unten nach oben eingeleitet wurde und dadurch auf diesem Weg der Konsens widerrufen worden ist. Jedes der hier exemplarisch beschriebenen Phänomene braucht man – für sich genommen – nicht als revolutionäre Veränderung betrachten. Ihre Koppelungsschleifen und ihre seit den 1990er-Jahren immer deutlicher hervortretende wechselseitige Verstärkung jedoch sind es, die von der zeithistorischen Forschung ernst genommen und untersucht werden müssen. Ihnen sollte die besondere Aufmerksamkeit künftiger Forschung gelten, damit die Beschäftigung mit den Jahrzehnten „nach dem Boom“ nicht die Verbindung zu den Problemen unserer Gegenwart verliert.

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 Vgl. Windolf, Finanzmarkt-Kapitalismus, gesamt.

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https://doi.org/10.1515/9783110633870-016

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael. Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: ––

vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern,

––

gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen,

––

den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.

Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: ––

den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika,

––

die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern,

––

die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert,

––

die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.

Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: ––

Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politi-

––

Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen

schen Kontexten. Gesellschaften. ––

Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet.

––

Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.

446 

 Ordnungssysteme

Band 1:

Band 6:

Michael Hochgeschwender

Jin-Sung Chun

Freiheit in der Offensive?

Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit

Der Kongreß für kulturelle Freiheit und

Die westdeutsche „Strukturgeschichte“

die Deutschen

im Spannungsfeld von Modernitätskritik

1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2

und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962

Band 2:

2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6

Thomas Sauer Westorientierung im deutschen

Band 7:

Protestantismus?

Frank Becker

Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger

Bilder von Krieg und Nation

Kreises

Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffent-

1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9

lichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil

Band 3:

ISBN 978-3-486-56545-4

Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags

Band 8:

Journalismus zwischen westlichenWerten

Martin Sabrow

und deutschen Denktraditionen

Das Diktat des Konsenses

1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6

Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969

Band 4:

2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1

Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika

Band 9:

Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft

Thomas Etzemüller

der 50er Jahre

Sozialgeschichte als politische Geschichte

1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3

Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft

Band 5:

nach 1945

Rainer Lindner

2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2

Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in

Band 10:

Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert

Martina Winkler

1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6

Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8

Ordnungssysteme 

 447

Band 11:

Band 16:

Susanne Schattenberg

Ewald Grothe

Stalins Ingenieure

Zwischen Geschichte und Recht

Lebenswelten zwischen Technik und Terror in

Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung

den 1930er Jahren

1900–1970

2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9

2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6

Band 12:

Band 17:

Torsten Rüting

Anuschka Albertz

Pavlov und der Neue Mensch

Exemplarisches Heldentum

Diskurse über Disziplinierung in

Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den

Sowjetrussland

Thermopylen von der Antike bis

2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6

zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb.

Band 13:

ISBN 978-3-486-57985-7

Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie

Band 18:

Die Westernisierung von SPD und DGB

Volker Depkat

2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5

Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des

Band 14:

20. Jahrhunderts

Christoph Weischer

2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3

Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘

Band 19:

Strukturen, Praktiken und Leitbilder der

Lorenz Erren

Sozialforschung in der Bundesrepublik

„Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis

Deutschland

Kommunikation und Herrschaft unter Stalin

2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1

(1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1

Band 15: Frieder Günther

Band 20:

Denken vom Staat her

Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.)

Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre

Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft

zwischen Dezision und Integration

im Europa der Neuzeit

1949–1970

Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte

2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9

2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0

448 

 Ordnungssysteme

Band 21:

Band 26:

Thomas Großbölting

Ruth Rosenberger

„Im Reich der Arbeit“

Experten für Humankapital

Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung

Die Entdeckung des Personalmanagements in

in den deutschen Industrie- und Gewerbeaus-

der Bundesrepublik Deutschland

stellungen 1790–1914

2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6

2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7

Band 27: Désirée Schauz

Band 22:

Strafen als moralische Besserung

Wolfgang Hardtwig (Hrsg.)

Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge

Ordnungen in der Krise

1777–1933

Zur politischen Kulturgeschichte

2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3

Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5

Band 28: Morten Reitmayer

Band 23:

Elite

Marcus M. Payk

Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftli-

Der Geist der Demokratie

chen Idee in der frühen Bundesrepublik

Intellektuelle Orientierungsversuche im

2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6

Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn

Band 29:

2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3

Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus

Band 24:

Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943)

Rüdiger Graf

2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9

Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutsch-

Band 30:

land 1918–1933

Klaus Gestwa

2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4

Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus

Band 25:

Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte,

Jörn Leonhard

1948–1967

Bellizismus und Nation

2010. 660 S., 18 Abb.

Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in

ISBN 978-3-486-58963-4

Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2

Ordnungssysteme 

Band 31:

Band 36:

Susanne Stein

Claudia Kemper

Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt

Das „Gewissen“ 1919–1925

Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen

Kommunikation und Vernetzung

China, 1949–1957

der Jungkonservativen

2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb.

2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9

 449

ISBN 978-3-486-59809-4 Band 37: Band 32:

Daniela Saxer

Fernando Esposito

Die Schärfung des Quellenblicks

Mythische Moderne

Forschungspraktiken in der

Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach

Geschichtswissenschaft 1840–1914

Ordnung in Deutschland und Italien

2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3

2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0

Band 38: Johannes Grützmacher

Band 33:

Die Baikal-Amur-Magistrale

Silke Mende

Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungs-

„Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“

projekt unter Brežnev

Eine Geschichte der Gründungsgrünen

2012. IX, 503 S., 9 Abb.

2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb.

ISBN 978-3-486-70494-5

ISBN 978-3-486-59811-7 Band 39: Band 34:

Stephanie Kleiner

Wiebke Wiede

Staatsaktion im Wunderland

Rasse im Buch

Oper und Festspiel als Medien politischer

Antisemitische und rassistische Publikationen

Repräsentation (1890–1930)

in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik

2013. 588 S., 38 Abb.

2011. VIII, 328 S., 7 Abb.

ISBN 978-3-486-70648-2

ISBN 978-3-486-59828-5 Band 40: Band 35:

Patricia Hertel

Rüdiger Bergien

Der erinnerte Halbmond

Die bellizistische Republik

Islam und Nationalismus auf der Iberischen

Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“

Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert

in Deutschland 1918–1933

2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0

2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1

450 

 Ordnungssysteme

Band 41:

Band 47:

Till Kössler

Gregor Feindt

Kinder der Demokratie

Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft

Religiöse Erziehung und urbane Moderne in

Oppositionelles Denken zur Nation im ostmit-

Spanien, 1890–1936

teleuropäischen Samizdat 1976–1992

2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1

2015. XII, 403 S. ISBN 978-3-11-034611-4

Band 42:

Band 48:

Daniel Menning

Juri Auderset

Standesgemäße Ordnung in der Moderne

Transatlantischer Föderalismus

Adlige Familienstrategien und

Zur politischen Sprache des Föderalismus im

Gesellschaftsentwürfe in Deutschland

Zeitalter der Revolution, 1787–1848

1840–1945

2016. XI, 525 S., 3 Abb.

2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4

ISBN 978-3-11-045266-2

Band 43:

Band 49:

Malte Rolf

Silke Martini

Imperiale Herrschaft im Weichselland

Postimperiales Asien

Das Königreich Polen im Russischen

Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglo-

Imperium (1864–1915)

phonen Weltöffentlichkeit 1919–1939

2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7

2017. XI, 492 S. ISBN 978-3-11-046217-3

Band 44:

Band 50:

Sabine Witt

Sebastian Weinert

Nationalistische Intellektuelle

Der Körper im Blick

in der Slowakei 1918–1945

Gesundheitsausstellungen vom späten

Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung

Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus

und Säkularisierung

2017. X, 448 S., 14 Abb.

2015. 412 S. ISBN 978-3-11-035930-5

ISBN 978-3-11-046677-5

Band 45:

Band 51:

Stefan Guth

D. Timothy Goering

Geschichte als Politik

Friedrich Gogarten (1887-1967)

Der deutsch-polnische Historikerdialog

Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege

im 20. Jahrhundert

2017. XI, 513 S., 5 Abb.

2015. VII, 520 S. ISBN 978-3-11-034611-4

ISBN 978-3-11-051730-9

Ordnungssysteme 

Band 52:

Band 53:

Andrés Antolín Hofrichter

Fabian Thunemann

Fremde Moderne

Verschwörungsdenken und Machtkalkül

Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft

Herrschaft in Russland, 1866-1953

und nationale Narrative unter dem Franco-

2019. Ca. 352 S. ISBN 978-3-11-061647-7

Regime, 1939-1964 2018. X, 418 S. ISBN 978-3-11-052996-8

 451