Konflikt - Integration - Religion: Religionswissenschaftliche Perspektiven 9783737001205, 9783847101208, 9783847001201


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German Pages [236] Year 2013

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Konflikt - Integration - Religion: Religionswissenschaftliche Perspektiven
 9783737001205, 9783847101208, 9783847001201

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Peter Antes / Arvid Deppe / Dagmar Fügmann / Steffen Führding / Anna Neumaier (Hg.)

Konflikt – Integration – Religion Religionswissenschaftliche Perspektiven

Mit 2 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0120-8 ISBN 978-3-8470-0120-1 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenakademie der Leibniz Universität Hannover, des Campus Cultur e.V. Hannover, des Freundeskreises der Universität Hannover und der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft e.V. (DVRW). Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Religion zwischen Integration und Konflikt? Theoretische Überlegungen Dagmar Fügmann Spiel’ nicht mit den Schmuddelkindern: Religionswissenschaft zwischen Wertneutralität und Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Steffen Führding Die Erfindung von Religion im Entstehungskontext des modernen Staates

29

Astrid Mattes Glaube als Motiv, Partizipation als Ziel? Theoretische Ansätze zur Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Religion und sozialer Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Anna-Konstanze Schröder Was verbindet, trennt zugleich. Die sozialpsychologische Social Identity Theory zur Erklärung von religiösen Identitäten und interreligiösen Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

David Atwood Religion in der neuen Zeit: Konflikte im Epochenwandel . . . . . . . . .

75

Religion im Kontext von Recht und Staat Kirsten Bröcker Geduldet, zugelassen oder aufgenommen? Religiöse Dissidenten im 19. Jahrhundert zwischen Gewissensfreiheit und Konzessionsprinzip

. .

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6

Inhalt

Sebastian Rimestad Die Bildung orthodoxer Kirchen in nichtorthodoxen Ländern am Beispiel Skandinaviens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Sarah J. Jahn Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug . . . . . . 121

Religiöse Konflikte als Thema von Bildung und Wissenschaft Christina Wöstemeyer Darstellung religiöser Diversität im Schulbuch: Integrations- oder Konfliktpotential? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ronald Pokoyski Evolutionstheorie oder Schöpfungslehre, zwei konträre »Theorien« über die Entstehung des Lebens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Religiöse Konflikte in und um (virtuelle(n)) Räume(n) Julia Dippel Ein Heiligtum »unter der Haube« – Die (Re-)konstruktion sakraler Räume als Konfliktfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Veronika Lutz »…unsere Sehnsucht zu Stein geworden« Repräsentative Sakralneubauten und das Konzept »öffentlicher Religion« . . . . . . . . . 193 Anna Neumaier Zwischen Austausch und Abgrenzung: Narrationen von Konflikten und Koalitionen in religiösen Online-Diskussionsforen . . . . . . . . . . . . . 213 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Vorwort

Säkularisierung oder doch die »Wiederkehr des Religiösen«? Während die religionswissenschaftliche Forschung noch die Implikationen der beiden aufmerksamkeitsträchtigen und dabei gegenläufigen Diagnosen aufarbeitet, scheint sich das Duell zumindest auf einer Ebene entschieden zu haben: Die jüngeren Wandlungsprozesse moderner Gesellschaften, wie sie sich etwa unter schlagwortartigen Konzepten von Globalisierung, Pluralisierung und Medialisierung subsumieren lassen, zogen auch eine verstärkte Wahrnehmung von Religionen und religionsbezogenen Debatten in der Öffentlichkeit nach sich und verweisen so auf die scheinbar nicht abnehmende Relevanz des Faktors Religion.1 Gerade Globalisierung und Migration führen in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten zu einem verstärkten Auftreten von Topoi wie dem der »unterschiedlichen Werteordnungen« oder der »kulturellen Differenzen«.2 Die Begegnung verschiedener religiöser Traditionen ebenso wie das Auseinanderklaffen religiöser und säkularer Grundhaltungen von Staaten oder Individuen kann einerseits als Ausgangspunkt für Konflikte interpretiert, andererseits aber auch als Chance für die Entstehung neuer Koalitionen diagnostiziert werden. Vor allem Annahmen und Fragen nach dem Religionen unterstellten Konfliktpotential auf der einen und ihrer sozialintegrativen Funktion auf der anderen 1 Christoph Bochinger hat allerdings Bezug nehmend auf neuere Erhebungen in der Schweiz überzeugend herausgearbeitet, dass zumindest im Schweizer Kontext die mediale Aufmerksamkeit von Religion nicht mit einer Zunahme von Religion auf der individuellen sowie institutionellen Ebene einhergeht. Vielmehr seien auf den anderen Ebenen deutliche Säkularisierungstendenzen zu verzeichnen. Die vermehrte Aufmerksamkeit in den Medien führt er auf Skandalisierungsprozesse zurück. Vgl. BOCHINGER, Christoph (2013): Das Verhältnis von Religion und Säkularität als Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung. In: FÜHRDING, Steffen, ANTES, Peter (Hg.): Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive (S. 15 – 57). Göttingen, V& R unipress. S. 37 – 40. 2 Siehe hierzu unter anderem JUERGENSMEYER, Mark (2009): Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida. Hamburg: Hamburger Edition. RIESEBRODT, Martin (2000): Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und »Kampf der Kulturen«. München: C.H. Beck. Und: HUNTINGTON, Samuel (1996): Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europa Verlag.

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Vorwort

Seite stehen damit (wieder?) im Zentrum der medialen Aufarbeitung und eines öffentlichen Diskurses. Die Betonung solcher Konfliktpotentiale von Religion und Religionen hat eine lange Tradition, die von den Arbeiten Thomas Hobbes über Samuel Huntingtons These eines »Clash of civilizations« bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Mark Jürgensmeyer reicht. Aktuelle Konflikte, wie die gewalttätigen Zusammenstöße im Zusammenhang mit (Bürger-)Kriegen oder die lokalen Auseinandersetzungen über den Bau von Moscheen oder Minaretten, werden auch zeitgenössisch häufig als »religiös motiviert« interpretiert.3 Den negativen Deutungen bezüglich eines angenommenen Konfliktpotentials von Religion und Religionen stehen positive Deutungsversuche im Sinne der Betonung einer (sozial-)integrativen Funktion von Religion und Religionen gegenüber, die eine ebenso lange Tradition besitzen. Ansätze von Jean-Jacques Rousseau über Êmile Durkheim bis Robert N. Bellah werden bis heute rege rezipiert und Integrationspotentiale von Religion und Religionen sowohl auf der nationalstaatlichen als auch auf einer kulturellen oder individuell-biografischen Ebene in den Blick genommen.4 Die in Religionen transportierten Wertvorstellungen ebenso wie die Unterstützungsleistungen religiöser Gemeinschaften werden dabei als entscheidende Ressource im Bemühen um Integration interpretiert.5 Isoliert verstanden stellen beide Positionen eine unzulässige Verkürzung dar. Die Religionswissenschaft kann hier mit ihrer globalhistorischen und vergleichenden Perspektive dazu beitragen, ein differenziertes Bild von der Rolle von Religion und Religionen in modernen Gesellschaften zu zeichnen, ohne der Gefahr unzulässiger Verkürzungen und Einseitigkeiten zu erliegen. In diesem Sinne versteht sich auch der vorliegende Band »Konflikt – Integration – Religion. Religionswissenschaftliche Perspektiven« als ein Beitrag zu einer Auseinandersetzung, in der sich das religionswissenschaftliche Erkenntnisinteresse nicht auf die simple Frage nach dem Konflikt- oder Integrationspotential von Religionen beschränkt, sondern auch die Mechanismen des so gerahmten öffentlichen und akademischen Diskurses um Religion kritisch mitreflektiert werden.6 In diesem Band sind 13 Aufsätze von religionswissenschaftlichen Nachwuchswissenschaftler(inne)n aus elf verschiedenen Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz versammelt. Er entstand aus Beiträgen der Nach3 Siehe dazu beispielsweise den Artikel von Veronika Lutz in diesem Band. 4 Siehe hierzu unter anderem PARSONS, Gerald (2002): Perspectives on Civil Religion. Aldershot: Ashgate. BELLAH, Robert N. (1986): »Zivilreligion in Amerika«. In: KLEGER, Heinz, MÜLLER, Alois (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa (S. 19 – 41). München: Kaiser. 5 Siehe dazu beispielsweise den Artikel von Astrid Mattes in diesem Band. 6 Siehe dazu beispielsweise die Artikel von David Atwood, Dagmar Fügmann und Steffen Führding in diesem Band.

Vorwort

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wuchstagung »Religion/en als gesellschaftliche/r Integrations- und Konfliktfaktor/en? Religionswissenschaftliche Perspektiven«, die im September 2012 an der Leibniz Universität Hannover stattfand. Die Tagung wurde von einer Gruppe Doktorandinnen und Doktoranden des Instituts für Theologie und Religionswissenschaft, Abteilung Religionswissenschaft, in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Mittelbau und Nachwuchs (AKMN) in der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) geplant, organisiert und durchgeführt. Die Beiträge decken ein breites Spektrum ab – von theoretischen Überlegungen über historische Diskussionen bis hin zu Fallstudien aus jüngster Zeit. Der erste Teil ist theoretischen Überlegungen zur Frage des Integrations- und Konfliktpotentials von Religion(en) gewidmet. Dagmar Fügmann stellt in ihrem Beitrag die Frage, in wie weit die häufig geforderte und postulierte Wertneutralität der Religionswissenschaft auf der Ebene der Begrifflichkeiten überhaupt möglich ist und ob Normativität letztendlich nicht unvermeidbar ist, auch vor dem Hintergrund der Frage nach Denkstilen und Denkkollektiven. Steffen Führding stellt in seinem Artikel die These auf, dass es sich bei der Konstruktion der Kategorie Religion in der politischen Philosophie der Frühen Neuzeit um eine Technik des Social Engineering handelt, mit der Konflikte im Rahmen der modernen Staatenbildung reguliert wurden und die den »modern« liberalen Nationalstaat der Neuzeit erst ermöglichte. Mit der Frage nach dem integrierenden Potenzial von Religionen beschäftigt sich der Beitrag von Astrid Mattes. Sie diskutiert auf der Basis verschiedener (Sozial-)Kapitalkonzepte und Theorien zur sozialen Integration die Frage, unter welchen Umständen Religion integrativ wirken kann. Anna-Konstanze Schröder widmet sich in ihrem Aufsatz der Frage, wohin Religionen das Individuum in der religionspluralen Gesellschaft integrieren können und welche psychosozialen Prozesse dabei relevant sind. Vor dem Hintergrund der Social Identity Theory verdeutlicht sie nicht nur die intrareligiöse Integrationsfunktion von Religionen, sondern zeigt auch, wie sich darin Möglichkeiten konfliktmindernder Maßnahmen andeuten. David Atwood nimmt in seinem Aufsatz die »Wiederkehr des Religiösen« als Grand Theory der Religionswissenschaft und verwandter Disziplinen diskursanalytisch in den Blick. Dabei verdeutlicht er, dass die Diagnose einer »Wiederkehr des Religiösen« ähnlich wie die klassische Säkularisierungsthese keine Aussage über das religiöse Feld, sondern über dessen Perzeption bedeute, dabei aber gleichermaßen eine Selbstverortung in der Weltgeschichte widerspiegele. Im zweiten Teil thematisieren drei Artikel Religion(en) im Kontext von Recht und Staat. Kirsten Bröcker fragt in ihrem Beitrag, wie öffentlich Religion sein darf. Mithilfe eines historisch-analytischen Blicks auf das sächsische Dissidentengesetz von 1870 verdeutlicht sie die rechtliche Stellung von religiösen Minder-

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Vorwort

heiten in Bezug auf Gesellschaften, die durch Industrialisierung und Migration geprägt waren. Sebastian Rimestad geht auf unterschiedliche Strategien orthodoxer Gemeinden ein, sich in der Diaspora eine orthodoxe Heimat zu schaffen. Er präsentiert seine Überlegungen an Beispielen von Gemeinden in Dänemark, Norwegen und Schweden. Forschungsergebnisse aus ihrer Arbeit zu Religion im Strafvollzug präsentiert Sarah Jahn in ihrem Beitrag. Sie arbeitet in diesem Kontext zum Einen die komplexe Rechtslage heraus, die dieses Feld bestimmt, zum Anderen stellt sie Überlegungen zu einer Übertragung des Bourdieuschen Feldbegriffes auf den Strafvollzug an. Dabei fokussieren ihre Ausführungen vor allem die verschiedenen Rollen, die von individuellen und institutionalisierten Akteuren im Rahmen der religiösen Aspekte des Strafvollzugs eingenommen und ausgehandelt werden. Religionen und Konflikte im Bereich der Schulbildung sind das Thema im dritten Teil des Sammelbandes. Zunächst behandelt Christina Wöstemeyer die Darstellung verschiedener Religionen in deutschen Schulbüchern für das Fach Religion. Sie legt dar, wie die Art der Darstellung wesentlich durch die Relationierung der Bezugsreligion zur dargestellten Religion determiniert ist, welche Probleme sich hieraus für die Vermittlung interreligiöser diversitätsbezogener Kompetenzen ergeben und weshalb eine gesellschaftlich engangierte Religionswissenschaft sowohl die Erforschung als auch die Gestaltung einer solchen Kompetenzvermittlung als Aufgabe wahrnehmen sollte. Ronald Pokoyski beleuchtet anschließend die Debatte um Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, wie sie in den USA auch hinsichtlich des Schulunterrichts schon länger geführt wird, aber auch in Deutschland inzwischen ein Anlass für Auseinandersetzungen darstellt. Ausgehend von den Positionen verschiedener Akteure sowohl aus religiösen als auch aus wissenschaftlichen Feldern seziert er dafür die Argumentationsstränge und -bezüge innerhalb dieses Konfliktes. Die letzten drei Beiträge widmen sich religiösen Konflikten in und um (virtuelle(n)) Räume(n). Julia Dippel zeigt anhand ihres Vortrags auf, wie unterschiedliche Rekonstruktionen und Nutzungsinteressen (Kultplatz versus Tourismus) historischer sakraler Orte zu Konflikten führen können und welche Rolle dabei wissenschaftliche Deutungen dieser Orte einnehmen. Veronika Lutz wendet sich in ihrem Beitrag dem Thema Moscheebauten im gegenwärtigen Deutschland und darauf bezogen der Frage zu, unter welchen Bedingungen einige dieser Bauprojekte konflikthafte Konstellationen evozieren, während dies bei anderen nicht der Fall ist.

Vorwort

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Anna Neumaier stellt in ihrem Artikel erste Ergebnisse ihres Dissertationsprojekts vor, in dem sie narrative Strategien der Herstellung von Gruppenidentität und -alterität in explizit religiösen Online-Diskussionsforen untersucht. Im Zuge einer exemplarischen Materialschau wird deutlich, dass diese Prozesse der Grenzarbeit häufig querliegend zu den religionswissenschaftlich üblichen Klassifikationssystemen in Religionsgemeinschaften, Konfessionen oder Dichotomien wie religiös vs. nicht-religiös erfolgen, ohne dabei weltanschauliche Grundpositionen außer acht zu lassen. Dieser Band und die Tagung, auf die er zurückgeht, wären ohne die Unterstützung und Hilfe unterschiedlicher Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Daher möchten wir diese Gelegenheit nutzen, um uns bei allen zu bedanken, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben. Dank geht an den Freundeskreis der Universität Hannover und Campus Cultur e.V., die Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) sowie besonders an die Graduiertenakademie der Leibniz Universität Hannover. Ohne ihre großzügige finanzielle Unterstützung wären weder die Tagung noch dieser Band zu realisieren gewesen. Bedanken möchten wir uns auch beim Institut für Theologie und Religionswissenschaft sowie der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover für die Bereitstellung von Räumen und Infrastruktur zur Vorbereitung und Durchführung der Tagung. Neben diesen Institutionen haben viele Personen einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung und Durchführung der Tagung geleistet. Namentlich und stellvertretend für einige andere mehr zu nennen sind hier vor allem Stefan Schröder, Jeanette Schröter, Ingeborg Köpping, Sina Gogolok, Wiebke Thies und Nina Gehring. Zu guter Letzt gilt unser Dank noch Ruth Vachek von der V& R unipress für ihre Geduld und Unterstützung bei der Vorbereitung und Fertigstellung des vorliegenden Bandes. Bei seiner Lektüre wünschen wir den Leserinnen und Lesern viel Vergnügen und hoffen, dass ihnen die unterschiedlichen Beiträge Anregungen wie Denkanstöße geben können. Peter Antes (Hannover), Arvid Deppe (Göttingen), Dagmar Fügmann (Würzburg), Steffen Führding (Hannover) und Anna Neumaier (Bochum) Juni 2013

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Vorwort

Literatur BELLAH, Robert N. (1986): »Zivilreligion in Amerika«. In: KLEGER, Heinz, MÜLLER, Alois (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa (S. 19 – 41). München: Kaiser. BOCHINGER, Christoph (2013): Das Verhältnis von Religion und Säkularität als Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung. In: FÜHRDING, Steffen, ANTES, Peter (Hg.): Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive (S. 15 – 57). Göttingen, V& R unipress. HUNTINGTON, Samuel (1996): Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europa Verlag. JUERGENSMEYER, Mark (2009): Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida. Hamburg: Hamburger Edition. PARSONS, Gerald (2002): Perspectives on Civil Religion. Aldershot: Ashgate. RIESEBRODT, Martin (2000): Die Rückkehr der Religionen: Fundamentalismus und »Kampf der Kulturen«. München: C.H. Beck.

Religion zwischen Integration und Konflikt? Theoretische Überlegungen

Dagmar Fügmann

Spiel’ nicht mit den Schmuddelkindern: Religionswissenschaft zwischen Wertneutralität und Normativität

Der folgende Beitrag entstand im Rahmen einer Tagung im Herbst 2012, welche sich der Frage nach Integrations- und Konfliktfaktoren von Religion und Religionen hinsichtlich Gesellschaft(en) widmete. Beleuchtet werden sollte das Thema aus unterschiedlichen religionswissenschaftlichen Perspektiven. Die spezifischen Zugangsweisen der Religionswissenschaft wurden dabei bereits im Call for Papers – im Vergleich zu anderen Herangehensweisen, Religion(en) zu beschreiben – als Möglichkeiten dargestellt, die den Vorteil hätten »ein differenzierteres Bild von der Rolle von Religion/en in modernen Gesellschaften zu zeichnen, ohne der Gefahr unzulässiger Verkürzungen und Einseitigkeiten zu erliegen«.1 Hintergrund dieser Beschreibung von religionswissenschaftlichem Arbeiten dürfte ein wesentliches Element der Selbstbeschreibung von Religionswissenschaft sein, möglichst »wertneutrale«, zumindest aber »weltanschaulich neutrale« beziehungsweise »bekenntnisunabhängige« Beschreibungen ihrer Gegenstände zu erarbeiten. Dieses Idealziel verfolgt die Religionswissenschaft seit den Tagen Joachim Wachs und seiner Beschreibung des Fachs als eines nichtnormativen Unternehmens. Exemplarisch sei diese bis heute wenig hinterfragte Eigenpositionierung der Religionswissenschaft im Folgenden an einigen Beispielen veranschaulicht. Die Homepage des Instituts für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg beispielsweise beschreibt die Aufgabe der Religionswissenschaft als das Fragen nach »der Rolle, die religiöse Menschen für die Kultur und Geschichte ihrer Zeit spielen.«2 Insofern zähle Religionswissenschaft heute mit zu den »diagnostischen Schlüsseldisziplinen für die Lösung brisanter gesellschaftspo-

1 Call for Papers zur Tagung »Religion/en als gesellschaftliche/r Integrations- und Konfliktfaktor/ en? Religionswissenschaftliche Perspektiven«, 2012, einsehbar unter: http://www.ithrw.unihannover.de/fileadmin/theologie/pdf/rewi/CfP_AKMN_Hannover-1.pdf, [28. 12. 2012]. 2 http://www.zegk.uni-heidelberg.de/religionswissenschaft/studium/ueberblick.html: »Was ist Religionswissenschaft«, [28. 12. 2012].

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Dagmar Fügmann

litischer Fragen«3. Dabei strebe sie »eine möglichst wertneutrale Beschreibung der Entstehung und Veränderung religiöser Traditionen anhand empirischer Befunde an«4. Auf der Homepage des Instituts für Theologie und Religionswissenschaft der Universität Hannover liest man, dass Religionswissenschaft »vergleichend, analytisch, wertneutral«5 sei und nach der »individuellen, gesellschaftlichen und politischen Bedeutung«6 von Religionen in »unterschiedlichen historischen und geographischen Kontexten«7 frage. Das Programm der »Praktischen Religionswissenschaft« geht noch einen Schritt weiter. Sie beschreibt sich selbst als Religionswissenschaft, die sich, nach Tworuschka, als »religionskritisch, kommunikativ, gesellschaftlich-politisch engagiert, handlungsorientierend und vermittelnd versteht.«8 Tworuschka postuliert, dass Religionswissenschaft als praktische Wissenschaft »Handlungsträgern im öffentlichen und privaten Sektor sowohl elementare Informationen und Zielvorstellungen sowie transkulturell gültige Wertüberzeugungen«9 anbiete. Die Validität dieser Angebote generiert sich (zumindest implizit) unter anderem aus dem Anspruch, dass es sich idealiter um weltanschaulich neutrale und werturteilsfreie Inhalte und Informationen handeln soll. Auch die Satzung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) verweist in §2 Abs. 1 darauf, dass der Zweck der Vereinigung sei, eine »sachorientierte und unvoreingenommene Darstellung der verschiedenen Formen des religiösen Lebens zu einem besseren gegenseitigen Verstehen und zu einem duldsameren Zusammenleben der Menschen und der institutionellen Religionen zur Förderung des Friedens und der Mitmenschlichkeit«10

zu leisten. Mit dieser impliziten wie expliziten Eigenpositionierung der Religionswissenschaft als wert- beziehungsweise weltanschaulich neutrale, bekenntnisunabhängige Wissenschaft möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Dabei gilt es, die unterschiedlichen Postulate näher zu betrachten: die Frage nach der Wertneutralität, der weltanschaulichen Neutralität beziehungsweise die Frage nach ihrem ungeliebten Pendant, der Normativität in der Religions3 http://www.zegk.uni-heidelberg.de/religionswissenschaft/studium/ueberblick.html: »Was ist Religionswissenschaft«. 4 http://www.zegk.uni-heidelberg.de/religionswissenschaft/studium/ueberblick.html: »Was ist Religionswissenschaft«. 5 http://www.ithrw.uni-hannover.de/studium2.html: »Religionswissenschaft«, [28.12.2012]. 6 http://www.ithrw.uni-hannover.de/studium2.html: »Religionswissenschaft«. 7 http://www.ithrw.uni-hannover.de/studium2.html: »Religionswissenschaft«. 8 KLÖCKER, Michael, TWORUSCHKA, Udo (Hg.) (2008), Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf. Köln: Böhlau, S. 16. 9 Klöcker, Tworuschka 2008, S. 18. 10 Satzung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft, einsehbar auf der Homepage der DVRW: http://www.dvrw.de, [15. 01. 2013].

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wissenschaft. Dabei verstehe ich meine Überlegungen als Denk- und Diskussionsanstoß, sich vor allem auf der Ebene der (metasprachlichen) Begrifflichkeiten mit dem Faktum einer Unhintergehbarkeit von Normativität auseinanderzusetzen, die sich meiner Meinung nach auch in »rein deskriptiven« oder »empirischen« Ansätzen kaum vermeiden lässt.

Wertfreiheit als Idealziel Der Anspruch, dass Wissenschaft wertfrei arbeiten möge, ist kein genuin religionswissenschaftlicher. Als Francis Bacon sein Novum Organon 1620 veröffentlichte, legte er den Grundstein zu einer Auseinandersetzung damit, dass sich wissenschaftliche Forschung möglichst unvoreingenommen gestalten soll: Vorurteile beeinträchtigen eine klare Verstandestätigkeit negativ, analysierte er. Fast drei Jahrhunderte später äußerte sich Max Weber expliziter zur Frage nach der Wertfreiheit der Wissenschaft(en) und kam zu dem Schluss, dass Wertvorstellungen unvermeidbar auf Wissenschaftler und wissenschaftliche Arbeit einwirken, die Gültigkeit dieser Werte wiederum aber wissenschaftlich nicht beweisbar ist. Wichtig sei es zu trennen zwischen der Feststellung empirischer Tatsachen und der Bewertung dieser Tatsachen: »[…] es handelt sich doch ausschließlich um die an sich höchst triviale Forderung: daß [sic] der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten ›wertenden‹ Verhaltens der von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d. h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger, zum Objekt einer Untersuchung gemachter ›Wertungen‹ von empirischen Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinn: ›bewertende‹ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt.«11

Wenn Weber grundlegend feststellt: »Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will«12 greift er letztendlich zurück auf »Humes Gesetz«, das besagt, dass es keine logische Möglichkeit gibt von einem faktischen Sein auf ein moralisches Sollen zu schließen. Anders ausgedrückt: von deskriptiven Aus-

11 WEBER, Max (19856): Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: WINCKELMANN, Johannes (Hg.), Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 489 – 540). Tübingen: Mohr Siebeck, S. 500. 12 WEBER, Max (19856): Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: WINCKELMANN, Johannes (Hg.), Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 146 – 214). Tübingen: Mohr (Siebeck), S. 151.

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Dagmar Fügmann

sagen kann nicht einfach auf normative bzw. präskriptive Aussagen logisch geschlossen werden.13 Für die Religionswissenschaft begründete Joachim Wach in seiner Habilitationsschrift die Forderung nach einer nicht-normativen, empirisch-deskriptiv arbeitenden Religionswissenschaft. Eine große Anzahl von Veröffentlichungen bezieht sich seither auf diese Beschreibung von Religionswissenschaft14, ebenso wie die eingangs zitierten Beispiele für die Eigenpositionierungen der Religionswissenschaft. »Normativität« bezüglich religionswissenschaftlicher Aussagen und Fragestellungen wurde im Gegenzug häufig zum »unerwünschten Ansatz« der Religionswissenschaft erklärt; es entstanden die im Titel angesprochenen »Schmuddelkinder«, auf die sich ein Religionswissenschaftler, zumindest der Meinung einer breiteren Mehrheit der Fachgemeinschaft nach, nicht einlassen sollte.

Unvermeidbare Normativität? Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Annahme der Möglichkeit, Wissenschaft wertfrei betreiben zu können, im Rahmen der Wissenschaftstheorie aus verschiedenen Perspektiven immer wieder kritisiert. Beispielsweise verweisen wissenssoziologische Überlegungen nicht nur auf die soziale Bedingtheit des Wissens15, sondern in weiteren Schritten auf die Konstruktion von Wissen durch soziale16 oder auch kommunikative17 Vorgänge. Neben wissenssoziologischen 13 HUME, David (1739): A Treatise of Human Nature. Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects. Digitale Ausgabe des Volltexts von 1739 unter : http://ebooks.adelaide.edu.au/h/hume/david/h92 t/index.html, [28. 12. 2012]. Hier: Buch III, Teil 1, Kap.: Moral distinctions not derived from reason. 14 Den Gedanken greift beispielweise der von Christoph Bochinger auf dem Kongress des Wissenschaftsrates gehaltene Vortrag »Vielfalt der Religionen und religionswissenschaftliche Kompetenz« (Juni 2010) auf. Bochinger spricht hier unter anderem von der »neutralen Außenperspektive«, welche die Religionswissenschaft einnehmen könne: BOCHINGER, Christoph (2010): Vielfalt der Religionen und religionswissenschaftliche Kompetenz. Vortrag beim Kongress des Wissenschaftsrates: »Vielfalt der Religionen – Theologie im Plural« am 16./17. Juni in Berlin. Volltext unter : http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/ Bochinger.pdf, S. 5, [15. 01. 2013]. 15 Die soziale Bedingtheit des Wissens beschreiben unter anderem Karl Marx und Friedrich Engels in »Die deutsche Ideologie« oder Emile Durkheim in »Die elementaren Formen des religiösen Lebens«, zusammen mit Marcel Mauss in »Über einige primitive Formen von Klassifikation«. 16 In »Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit« entwerfen Berger und Luckmann einen neuen Ansatz der Wissenssoziologie mit Fokus auf sozialkonstruktivistischen Merkmalen. Auch Pierre Bourdieu entwickelte in seiner »Theorie der Praxis« wichtige Grundgedanken zu diesem Feld. Bereits 1935 prägte Ludwik Fleck die Begriffe Denkkollektiv und Denkstil als

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kritisieren auch philosophische Ansätze die These der Wertfreiheit der Wissenschaft. Putnam beispielsweise weist die Dichotomie zwischen empirischen und normativen Aussagen zurück.18 Einen weiteren, radikaleren Gedanken führt Marchart in die Diskussion ein, wenn er behauptet: »[D]ie Logik von Begriffsbildung, ja von Sprache selbst, kann nicht vom Politischen getrennt werden. Nach dem beschriebenen Horizontwandel stehen wir alle innerhalb eines politischen Horizonts, weshalb wir uns bewusst machen müssen, dass nicht allein politische Diskurse, sondern Sprache als solche politisch funktioniert.«19

Der von Marchart angesprochene »neue Horizont« bezeichnet hier das Politische (le politique, im Unterschied zu la politique, »die Politik«20), das sein Fundament nicht mehr in einem »semantischen Feld scheinbar statischer Begriffe«21 sucht. In den letzten Jahr(zehnt)en scheinen vor allem die Überlegungen über die soziale Bedingtheit des Wissens auch in die religionswissenschaftliche Diskussion Aufnahme gefunden zu haben. Kontextgebundenheit und Perspektivität sind heute Konzepte, die breit rezipiert werden, wenn es um Überlegungen zur Verortung des Forschenden in bestimmten Kontexten geht oder um kulturelle beziehungsweise historische und soziale Kontextualisierung der zu untersuchenden Gegenstände. Auf der Ebene der Begrifflichkeiten allerdings scheint sich ein Vorbehalt, sich mit Ansätzen über schwer- bis nichthintergehbare implizite oder explizite Normativität(en) ernsthaft auseinanderzusetzen, hartnäckig der Einsicht zu widersetzen, dass man im Grunde genommen allen Verboten und guten Vorsätzen zum Trotz, mit »normativen Schmuddelkindern« spielt. Weshalb sich vor allem die begriffliche Ebene Diskussionen um ihre nicht-Neutralität leicht entzieht, möchte ich im Folgenden kurz darstellen und anhand einiger Beispiele veranschaulichen.

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konzeptionelle Elemente seiner Auffassung von Wissenschaft, die seiner Beschreibung nach von Menschen kooperativ veranstaltet wird. Als Stellvertreter wäre hier neben anderen Niklas Luhmann zu nennen. PUTNAM, Hilary (2002): The Collapse of the Fact/Value Dichotomy (and other essays). Cambridge: Harvard University Press. MARCHART, Oliver (2010): Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp, S. 57. Hervorhebung im Original. Die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen wurde bereits 1955 von Paul Ricœur in seinem Aufsatz »Le paradoxe politique« explizit thematisiert. Vgl. hierzu: RICŒUR 1964, S. 268. Seit den 1980er Jahren setzen sich v. a. französische Autoren im Bereich der politischen Philosophie mit der Differenz zwischen »der Politik« und »dem Politischen« verstärkt auseinander. Marchart 2010, S. 57.

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Dagmar Fügmann

Denkstil und Begriffe Ludwik Fleck erläutert das Problem in seiner 1935 erstmals erschienenen Untersuchung »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache«22 : »Es gibt keine Generatio spontanea der Begriffe, sie sind, durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert. Das Gewesene ist viel gefährlicher – oder eigentlich nur dann gefährlich – wenn die Bindung mit ihm unbewusst oder unbekannt bleibt. […] Viele wissenschaftliche, bestbewährte Tatsachen verbinden sich durch unleugbare Entwicklungszusammenhänge mit vorwissenschaftlichen, mehr oder weniger unklaren verwandten Urideen (Präideen), ohne dass inhaltlich dieser Zusammenhang legitimiert werden könnte.«23

Flecks erkenntnistheoretischer Ansatz geht über individualistische Überlegungen zur Theoriegebundenheit jeglicher Beobachtung weit hinaus. Wissenschaft ist nach Fleck ein wesentlich kooperativer Akt der Beteiligten, Forschung damit kollektiv verfasst. Wissenschaftliche Tatsachen und Begriffsbildungen sind nach Fleck an Denkstile und Denkkollektive gebunden. Als Denkkollektiv bezeichnet Fleck die – wie auch immer geartete – Gemeinschaft von Wissenschaftlern eines bestimmten Fachgebietes. Das Denkkollektiv ist »Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils«.24 Eingang in ein solches Denkkollektiv findet man durch Anpassung und Übernahme jenes Denkstils, der sich wiederum durch Beharrungstendenzen25 und die Bereitschaft zu gerichtetem Wahrnehmen auszeichnet.26 Beobachten, eine Grundlage von Deskription, ist somit unter anderem gebunden an Denkstil und Denkkollektiv27, mitunter auch an einen sich aus Denkstil und Denkkollektiv ergebenden Denkzwang28. Neue Entdeckungen sind dann möglich, wenn der Denkstil einer Fachrichtung sich ändert und die mit ihm einhergehende »Harmonie der Täuschungen«29 gebrochen werden kann. Die Harmonie der Täuschungen umschreibt die Beharrungstendenzen gegen alles dem anerkannten Wissen widersprechende, d. i. die innere Harmonie eines Denkstils. Wenden wir uns im Folgenden einigen, zugegeben sehr verallgemeinernden und vereinfachten, Überlegungen zum vorherrschenden Denkstil in der Reli22 FLECK, Ludwik (20129): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 23 Fleck 20129, S. 31 und S. 35. 24 Fleck 20129, S. 55 f. 25 Fleck 20129, S. 40 – 53. 26 Fleck 20129, S. S. 130. 27 Vgl. hierzu: Fleck 20129, S. 111 – 129. 28 Fleck 20129, S. 160. 29 Fleck 20129, S. 40 – 53 und S. 123.

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gionswissenschaft und seinen Beharrungstendenzen zu30. In einem abschließenden Teil werde ich einige Gedanken entwickeln, wie sich die Harmonie der Täuschungen eventuell aufbrechen ließe. Die zeitgenössisch vorherrschenden zentralen (vor allem forschungspragmatischen) Leitprinzipien der Religionswissenschaft lassen sich vereinfacht auf den Nenner der anzustrebenden wert- und weltanschaulich möglichst neutralen, zudem bekenntnisunabhängigen Beschreibung religionswissenschaftlicher Gegenstände bringen, sowie auf eine Verortung der Religionswissenschaft im Bereich der Kulturwissenschaften. Dabei ist ihr kulturwissenschaftlicher Ansatz ein anthropozentrischer und an Empirie orientierter Zugang, der Religion als Teilsystem von Kultur (oder auch Religion(en) als Teil(e) von Kultur(en)) versteht. Es scheint einen nicht näher hinterfragten Minimalkonsens darüber zu geben, was unter »Kultur« zu verstehen ist. Dass der Begriff »Kultur«, einschlägigen Nachschlagewerken nach, einerseits deskriptiv verstanden werden kann (wie etwa Kultur versus Natur), andererseits aber eindeutig normative Implikationen hat, wird häufig nicht explizit reflektiert.31 Diese subtile Normativität zeigt sich beispielsweise am Begriff der Kultur, wenn Kultur im Sinne von »erlaubter, guter, anzustrebender Kultur« gedacht wird. Eine zusätzliche normative Komponente schleicht sich, quasi durch die Hintertür, ein, wenn Begriffe wie beispielsweise »Aufklärung«, »Demokratie« oder »universell gültige Menschenrechte« (alle in Verbindung mit der Zuschreibung »gut«) wie selbstverständlich mitschwingen. Dass jene Form von »Kultur«, die vermutlich den meisten unter uns erstrebenswert oder eben »gut« erscheint, im Begriff »Kultur« ausgedrückt, auch andere Implikationen haben kann, oder überhaupt normative Implikationen hat, fällt meist unter den Tisch. Wenn wir uns dieser Implikationen bewusst wären, müssten wir konsequent bei »Kultur« beispielsweise auch an Horkheimer und Adorno denken, die kritisieren, dass »Kultur« heute alles mit Ähnlichkeit schlage32 und welche diagnostizieren, dass »Aufklärung« totalitär sei33. Oder an Lyotards Ausführungen, dass sich die Kultur eines Volkes aus bestimmten Konsensentscheidungen exklusiver Kreise von Wissenden gene30 Bewusst verzichte ich im Folgenden auf die Diskussion von Begriffen wie Fundamentalismus, Islamismus, Neureligiöse Bewegungen etc., da deren normativ-wertende Implikationen und Konnotationen wohl jedem Religionswissenschaftler deutlich sind. 31 Bei älteren Beschreibungen zum Thema ist die normative Implikation deutlich erkennbar, und wohl jedem sofort bewusst. Als Beispiel diene hier Edward Burnett Tylor, bei welchem der normative Anspruch mitklingt, wenn er beschreibt: »Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinn ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat«. TYLOR 1873, S. 1. 32 HORKHEIMER, Max, ADORNO, Theodor W. (200817): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer, S. 128. 33 H orkheimer, Adorno 200817, S. 128 und S. 12.

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riert, dass Meinungen als Legitimationen von Aussagen herangezogen werden.34 Auch Friedrich Nietzsches Überlegungen, dass der Aufklärung etwas Gewaltsames und Plötzliches anhaftet35, gehören vermutlich nicht ad hoc zu unserem Referenzrahmen, wenn wir den Begriff »Kultur« verwenden. Ebenso wenig wertfrei, wertneutral oder gar weltanschaulich neutral sind die anthropologischen Konzeptionen, welche wir als Voraussetzungen für die »gute/ erstrebenswerte Kultur« denken, namentlich für Demokratie als das bessere politische System, für die Unbedingtheit der universellen Verfasstheit der Menschenrechte, für Gesellschaft als sozial verantwortliche Gesellschaft, die als durch einen Gesellschaftsvertrag legitimiert gedacht wird. Sie sind bestenfalls als auf optimistische Präideen gegründet zu nennen. Gewalt und Feindseligkeit gelten als die schlechtere Wahl gegenüber Empathie und Reziprozität.36 Die Vorstellung vom Menschen als grundsätzlich »guter« und »unschuldiger« Mensch bildet die Basis dieser anthropologischen Konzeptionen. Homo oeconomicus und homo sociologicus sind geläufige Konzepte, wogegen Schopenhauers Beschreibung des Menschen als mit »vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehlern«37 behaftete Daseinsform weniger bekannt (und weniger gefällig) sein dürfte. Was haben diese Überlegungen aber mit der Forderung nach (und Umsetzbarkeit von) anzustrebender Neutralität religionswissenschaftlicher Frage- und Darstellungen zu tun? Bleiben wir beim Beispiel des bereits erwähnten Call for Papers: Die Überlegung, dass »das Aufeinandertreffen verschiedener religiöser Traditionen […] ebenso wie das Auseinanderklaffen religiöser und säkularer Grundhaltungen […] mögliche Konfliktlinien bildet«38, ist ebenso eine normative Überlegung wie die grundsätzliche Fragestellung, ob Religion(en) ein wie auch immer geartetes Konflikt- oder Integrationspotential im Hinblick auf Gesellschaft innewohnt. Ich möchte an dieser Stelle nur einige Gedanken beziehungsweise Behauptungen anschließen, ohne sie abschließend zu diskutieren. Integration, ein Begriff, der wie Religion oder Kultur ein leerer (oder auch: 34 LYOTARD, Jean-FranÅois (20127): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen, S. 62 f. 35 NIETZSCHE, Friedrich (1954): Menschliches, Allzumenschliches. Band II. In: SCLECHTA, Karl (Hg.), Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München: Hanser. Hier: Aphorismus 221: Die Gefährlichkeit der Aufklärung, S. 966. 36 MOUFFE, Chantal (2010): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 8 f. 37 »So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab.« SCHOPENAUER, Arthur (18622): Fabeln und Parabeln, §413, In: Dr. FRAUENSTÄDT, Julius (Hg.), Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Band 2, §413, S. 689. 38 Call for Papers zur Tagung »Religion/en als gesellschaftliche/r Integrations- und Konfliktfaktor/en? Religionswissenschaftliche Perspektiven«, 2012.

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flottierender) Signifikant ist, stellt sich inhaltlich und analytisch mehr als vage dar, so dass er beliebig verwendet werden kann. Beispielhaft sei eine übliche soziologische Definition angeführt: »Bezeichnung für Prozesse der verhaltens- u[nd] bewußtseinsmäßigen [sic] Eingliederung in bzw. Angleichung an Wertstrukturen und Verhaltensmuster (a) durch einzelne Personen an bestimmte Gruppen oder Organisationen oder in die für sie relevanten Bereiche einer Ges[ellschaft]; (b) zwischen versch[iedenen] Gruppen, Schichten, Klassen, Rassen einer Ges[ellschaft]; (c) zwischen versch[iedenen] Ges[ellschaft] en zugunsten der Herausbildung neuer, »höherer« gemeinsamer kultureller Strukturen u[nd] sozialer Ordnungen.«39

Integration soll demnach Zustände der Exklusion oder Separation aufheben, wobei sowohl Integration an sich, als auch das Aufheben von Exklusion und Separation offenbar unhinterfragt als gut und erstrebenswert gelten. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff »Konflikt«. Einen solchen zu diagnostizieren wird verbunden mit der Vorstellung, dass dieser Konflikt aufzuheben sei, verknüpft mit der Einschätzung, dass es sich bei dieser Aufhebung um etwas Positives handele, auch wenn beispielsweise betont wird, dass es sich bei den strittigen Inhalten um im Grunde unverhandelbare Positionen handelt.

Wohin mit der »Wertneutralität«? Als allgemeingültig geltende normativ gegründete Denkstrukturen oder Präideen (wie etwa »Konfliktlösung ist gut«) werden, vor allem wenn es um die Verwendung oder Entwicklung von Begriffen geht, wie oben kurz angesprochen, häufig nicht weiter hinterfragt. Vielmehr verständigt man sich auf Grundregeln, was »gute (!) wissenschaftliche Praxis« – im Allgemeinen und im fachspezifischen Kontext – sei. Hierzu gehört neben der Einhaltung eines bestimmten Denkstils und der Verwendung einer bestimmten Sprache unter anderem auch die Forderung nach einer Überprüfbarkeit der Ergebnisse von wissenschaftlicher Arbeit durch bestimmte Kontrollverfahren. Falsifizierbarkeit oder auch Verifizierbarkeit sollen beispielsweise die Gültigkeit von Schlussfolgerungen garantieren. Bezogen auf eine sich idealtypisch »neutral« verortende Religionswissenschaft könnte man demnach formulieren, dass solche Aussagen als religionswissenschaftlich gültig beurteilt werden, welche dem Postulat der wertneutralen, weltanschaulich neutralen oder auch bekenntnisunabhängigen Arbeitsweise folgen. Doch auch hier relativiert Ludwik Fleck: 39 HILLMANN, Karl-Heinz (19944): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Kröner, S. 377, rechte Spalte.

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»Die ›allgemeine Überprüfbarkeit‹ wird als sozusagen demagogisches Postulat offiziell gefordert, doch ist es erstens keine allgemeine, sondern eine denkkollektive Prüfung, zweites besteht sie einzig in der Überprüfung der Stilgemäßheit eines Wissens«.40

Auch auf diesem Wege scheint eine idealtypisch nicht-normative, »neutrale« Religionswissenschaft nicht erreichbar, da sie ihre jeweiligen Ergebnisse und Schlussfolgerungen vor dem Hintergrund eines idealisierten »wertneutralen«, nicht-normativen Denkstils im und durch das Denkkollektiv überprüfen muss. Sind die vorgebrachten Gedanken und Einwände nun aber ein Grund, die angestrebte Neutralität bzw. Nicht-Normativität endgültig zu verwerfen, da sich Normativität auf unterschiedlichen Ebenen offenbar nicht gänzlich vermeiden lässt? Meiner Meinung nach gibt es darauf verschiedene Antwortmöglichkeiten. Einerseits könnte man sich dafür entscheiden, bewusst normativ mit religionswissenschaftlichen Gegenständen umzugehen. Dies scheint im Programm der Praktischen Religionswissenschaft umgesetzt zu sein, wenn sie sich als »religionskritisch, kommunikativ, gesellschaftlich-politisch engagiert, handlungsorientierend und vermittelnd«41 versteht. Dieser Ansatz steht der im in weiten Teilen des religionswissenschaftlichen Denkkollektivs sich beharrlich haltenden Selbstpositionierung als »wertneutrale« Wissenschaft entgegen, da die Praktische Religionswissenschaft offen dafür plädiert, Urteile über ihre Gegenstände zu fällen. Dies hat zumindest insofern seine Berechtigung, als eine Unmöglichkeit von Nicht-Normativität erwiesen scheint. Auch hinsichtlich der gewünschten Diffundierung religionswissenschaftlicher Forschungsergebnisse in nicht-wissenschaftliche Diskurse (beispielweise jene der Politik) oder nicht-religionswissenschaftliche Diskurse (beispielsweise jene der Politikwissenschaft) dürfte es unbestritten sein, dass unsere Ergebnisse, ob von der Religionswissenschaft intendiert oder nicht, an vielfältigen Normierungsprozessen beteiligt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass jene gesellschaftlichen Bereiche, die religionswissenschaftliche Ergebnisse aufnehmen und verwerten sollen oder wollen, wie die Politik oder die Politikwissenschaft, ein größeres Interesse an »normativen Schmuddelkindern« haben als an möglichst neutralen, möglichst nicht-normativen Deskriptionen. Hier kommt unter anderem die Frage nach der Anschlussfähigkeit religionswissenschaftlicher Forschung und jene nach den Ansprüchen der Religionswissenschaft, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen als Beraterin wahr- und ernstgenommen zu werden, ins Spiel. Aufgrund der kurz angesprochenen Überlegungen wäre damit andererseits ein religionswissenschaftlicher Denkstil, der sich 40 Fleck 20129, S. 158. 41 Klöcker, Tworuschka (2008), S. 16.

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– mit den eigenen normativen Implikationen (auch auf individueller Ebene) bewusst auseinandersetzt, – eigene normative, weltanschauliche, bekenntnisabhängige Präferenzen deutlich ausweist (ebenfalls auch auf individueller Ebene) – die implizite oder explizite Normativität ihrer Begriffe offen diskutiert, – Sein-Sollens-Fehlschlüsse unterlässt – sowie gleichzeitig auf eine Selbstbeschreibung als wertneutral, weltanschaulich neutral oder bekenntnisunabhängig bewusst verzichtet (oder diesen Anspruch zumindest gehörig einschränkt), völlig legitim. In Anlehnung an Flecks Überlegungen, dass sich Impulse zur Änderung eines Denkstils häufig aus »exoterischen, fremdkollektiven und den strittigen«42 Gedanken generieren, möchte ich eine weitere Möglichkeit kurz ansprechen, wie Religionswissenschaft sich, wenn schon keine Wertfreiheit, so doch eine Werturteilsfreiheit erhalten kann. Zu diesem Zweck möchte ich noch einmal an Marcharts Aussage erinnern, dass Sprache als solche politisch funktioniert. Es gibt eine Differenz zwischen der Politik und dem Politischen. Das Politische ist (im Sinne der Heideggerschen Unterscheidung von Sein und Seiendem) auf der ontologischen Ebene verortet – im Gegensatz zu »Politik«, die auf der ontischen Ebene anzusiedeln ist.43 Zudem, wie bereits gesagt: Das Politische ist unausweichlich normativ. Für Mouffe beispielsweise ist das Politische wesentlich bestimmt durch »Entscheidungen, d. h. die Wahl zwischen konfligierenden Alternativen.«44 Es ist durch Antagonismus und Konflikt charakterisiert und mit Akten hegemonialer Instituierung verknüpft. Sowohl die Akte der Ausschließung als auch der Charakter der hegemonialen Artikulation sind kontingent. Erkennen wir an, dass Sprache als solche politisch funktioniert und dass das Politische eine Anerkennung von opponierenden Ansichten impliziert, können wir über eine Anschlussfähigkeit religionswissenschaftlicher Arbeit an Lyotards Widerstreit nachdenken:

42 Fleck 20129, S. 158. 43 Vgl. hierzu: Mouffe 2010, S. 15, Laclau, Mouffe 2001. 44 MOUFFE 2010, S. 17. Mouffe bezieht sich bei ihren Überlegungen auf Carl Schmitt, der in seinem Werk »Der Begriff des Politischen« (1932) die Unterscheidung von Freund und Feind als Kriterium des Politischen beschreibt und den Nachweis führt, dass jeder Konsens auf Akten der Ausschließung basiert. Mouffe selbst führt die Wir-Sie-Unterscheidung als Weiterentwicklung der Freund-Feind Konstellation ein, die sie als Agonismus definiert, als eine »Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß [sic] es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt«. Mouffe 2010, S. 30.

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»Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [differend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, dass die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu […]. Ein Unrecht resultiert daraus, daß [sic] die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen. […] Der Titel des Buches [»Der Widerstreit«/Anm. d. Verf.] legt (mit dem gattungsspezifischen Charakter des bestimmten Artikels) nahe, dass eine universale Urteilsregel in bezug [sic] auf ungleichartige Diskursarten im allgemeinen [sic] fehlt.«45

Nach Lyotard gibt es keine Möglichkeit, einen wie auch immer gearteten Konsensus als Lösungsmöglichkeit für den Widerstreit herbeizuführen, da ein universal gültiger Metadiskurs nicht existiert.46 Eine Lösung kann aber sein, diesen Widerstreit zu bezeugen47, das heißt darzustellen, dass es mehrere legitime Argumentationen gleichzeitig geben kann, sowie im Bewusstsein zu behalten, dass die »großen Erzählungen« ausgedient haben48.

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Lyotard 19892, S. 9. Lyotard 19892, S. 9, 11, 12. Lyotard 19892, S. 12. Lyotard 20127.

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Steffen Führding

Die Erfindung von Religion im Entstehungskontext des modernen Staates1

Einleitende Anmerkungen Am Anfang war der Konflikt – ein Konflikt, der aus dem Aufbrechen der christlichen Einheitskirche des Mittelalters und der Pluralisierung der christlichen Konfessionen zu Beginn beziehungsweise während der Frühen Neuzeit in Europa resultierte und erst mit der Entstehung des modernen liberalen und säkularen Staates beendet werden konnte. Diese Vorstellung bestimmt bis heute die Überlegungen zur Entstehung des modernen Staates und zum Verhältnis von »Religion« und »Politik«. Der moderne (liberale) Staat wird als eine Reaktion auf die Erfahrungen der Konfessionsspaltung in Folge der Reformation gesehen. In der Vervielfältigung der christlichen Konfessionen und damit auch der absoluten Wahrheitsansprüche liege die Ursache der sogenannten Religionskriege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Lösung der oft blutigen und zerstörerischen Konflikte sei in der »Säkularisierung öffentlicher Diskurse [über das Allgemeinwohl, Anm. SF] im Interesse einer Minimierung der schlimmsten Auswirkungen religiöser Uneinigkeiten«2 zu finden. Jeffery Stout weist hier auf die Bedeutung der Säkularisierung für die Überwindung des Konflikts und damit einhergehend auf die Entstehung des modernen Staates hin. Damit ist er kein Einzelfall. Der Politikwissenschaftler Terrance Carroll führt aus, dass in der (wissenschaftlichen) Literatur zur Entstehung des modernen Staates immer wieder die zentrale Bedeutung der Säkularisierung beziehungsweise des Säkularisierungsprozesses betont werde. Er schlussfolgert vor diesem Hintergrund, dass eine Vorstellung vorherrscht, in der Religion in der Regel als hinderlich für die Moderne angesehen und in der die 1 Ich danke Stefan Schröder und Dagmar Fügmann für ihre hilfreichen Hinweise zu einer früheren Version dieses Artikels und Tim Jensen sowie Russell McCutcheon für gute Diskussionen und wichtige Denkanstöße zum Thema. 2 STOUT, Jeffery (1981): The Flight from Authority : Religion, Morality, and the Quest for Autonomy. Notre Dame: University of Notre Dame Press, S. 241. Übersetzung durch den Autor.

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Säkularisierung als Bedingung für den modernen Staat postuliert werde.3 Dabei werden verschiedene Etappen und Wegmarken der Säkularisierung ausgemacht, die je nach Autor/-in auch etwas differieren können. Einig sind sich die Vertreter/-innen dieser Vorstellung aber in der zentralen Rolle der Reformation und ihrer Folgen. Mittlerweile bleibt dieses Narrativ zur Entstehung des modernen Staates nicht mehr unwidersprochen. So verweist beispielsweise der Religionssoziologe Jos¦ Casanova darauf, dass nicht der säkulare Staat, sondern vielmehr der konfessionelle Staat als Ergebnis der Religionskriege zu sehen sei: »Nirgendwo in Europa führten religiöse Konflikte zur Säkularisierung, sondern vielmehr zur Konfessionalisierung des Staates und zur Territorialisierung von Religionen und Völkern.«4 Darüber hinaus habe die Entwicklung hin zum konfessionellen Territorialstaat schon vor der Reformation eingesetzt.5 Diesen Aspekt greift auch William T. Cavanaugh unter einem etwas anderen Blickwinkel auf und spitzt ihn zu: »The ›Wars of Religion‹ were not the events which necessitated the birth of the modern state; they were in fact themselves the birthpangs of the State. These wars were not simply a matter of conflict between ›Protestantism‹ and ›Catholicism‹, but were fought largely for the aggrandizement of the emerging State over the decaying remnants of the medieval ecclesial order.«6

Unbestritten ist, dass die Vertreter der Staatsvertragslehre in der Frühen Neuzeit und Neuzeit stark von den Erfahrungen der Religions- und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts beeinflusst waren. Politische Philosophen wie Thomas Hobbes (1588 – 1679), John Locke (1632 – 1704) und Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778), auf die weiter unten eingegangen wird, verarbeiteten diese Erfahrungen in ihren Überlegungen, wobei sie die Frage nach gerechter Herrschaft, der Funktionsfähigkeit des Staates7 und damit einhergehend der Regulierung abweichender beziehungsweise im Konflikt stehender Interessen innerhalb eines Staates in den Mittelpunkt stellten. Betrachtet man die Interpretation der politischen Theorie der Frühen Neuzeit 3 Vgl. CARROLL, Terrance G. (1984): Secularization and States of Modernity. World Politics 36 (3), S. 362 – 382. S 362. Hubert Seiwert hat überzeugend argumentiert, dass die Vorstellung der Unvereinbarkeit von Religion und Moderne ein historisches Produkt ist, das im Selbstbild der Moderne angelegt ist. Vgl. SEIWERT, Hubert (1995). Religion in der Geschichte der Moderne. Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR) 1995(3), S. 91 – 101. 4 CASANOVA, Jos¦ (2009): Europas Angst vor der Religion. Berlin: Berlin University Press, S. 10. 5 Vgl. Casanova 2009, S. 10. 6 CAVANAUGH, WILLIAM T. (1995): »A fire strong enough to consume the house:« The Wars of Religion and the rise of the State. Modern Theology 11 (4). S. 397 – 420, S. 398. 7 Vgl. BROCKARD, Hans (2011): Nachwort. In: Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag. Oder Grundsätze des Staatsrechts (S. 187 – 246). Stuttgart: Reclam, S. 203.

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durch Autorinnen und Autoren des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, so fällt auf, dass auch diese Interpretation häufig vor dem Hintergrund säkularisierungstheoretischer Überlegungen erfolgt. Nur beispielhaft sei hier auf den Staatsrechtler Ernst-Walter Böckenförde, dessen Aufsatz »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«8 große Beachtung gefunden hat, oder auf den Politikwissenschaftler Karsten Fischer9 verwiesen.10 Die säkularisierungstheoretische Lesart der politischen Philosophie der Frühen Neuzeit wie die Deutung der Rolle von Religion und Säkularisierung für die Entstehung des modernen Staates ist einem grundlegenden Problem verhaftet. In Säkularisierungstheorien wird vereinfacht gesagt (implizit oder explizit) davon ausgegangen, dass es zunächst eine »religiöse« Welt gegeben hat, die nach und nach in einem historischen Prozess entzaubert, das heißt säkularisiert wurde oder wird. Religion wird als das Primäre und als natürlicher (Ur-) Zustand der Welt gesehen, dem etwas (nachgeordnetes) widerfährt. Die Analogie zu den Überlegungen von Religionsphänomenolog(inn)en wie Mircea Eliade ist frappierend:11 Die »in ihrer Totalität profane Welt, der gänzlich entsakralisierte Kosmos, [ist] eine neue Entdeckung in der Geschichte des menschlichen Geistes. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu zeigen, durch welche geschichtlichen Prozesse und infolge welcher Veränderungen in der geistigen Einstellung der moderne Mensch seine Welt entsakralisiert und eine profane Existenz angenommen hat. Uns genügt die Feststellung, daß die Entsakralisierung die totale Erfahrung des nicht religiösen Menschen der modernen Gesellschaften kennzeichnet«12.

Meines Erachtens erliegen solche Ansätze, auch wenn sich viele wohl nicht in einer religionsphänomenologischen Tradition sehen würden, einem »strukturellen sui-generis-Problem.«13 Unter anderem haben der Anthropologe Talal 8 Vgl. BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang (1967). Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung. In: BÖCKENFÖRDE, Ernst-Walter : Staat, Gesellschaft, Freiheit (S. 42 – 64). Frankfurt/Main: Suhrkamp. 9 Vgl. FISCHER, Carsten (2009): Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat. Berlin: Berlin University Press. 10 Auf diesen Aspekt kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Interessierten Leserinnen und Lesern sei für eine nähere Auseinandersetzung folgender Aufsatz empfohlen: FÜHRDING, Steffen (2013): Religion, Privacy and the Rise of the Modern State. Method and Theory in the Study of Religion (MTSR) 25 (1) S. 118 – 131. 11 Siehe hierzu FÜHRDING, Steffen (In Vorbereitung): Der schmale Pfad: Überlegungen zu einer diskurstheoretischen Konzeptionalisierung von Säkularität. In: ANTES, Peter, FÜHRDING, Steffen (Hg.): Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive. Göttingen: V& R unipress. 12 ELIADE, Mircea (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt/ Main und Leipzig: Insel Verlag. S. 16. 13 Unter dem »strukturellen sui-generis-Problem« verstehe ich Argumentationsstrukturen, die sich scheinbar von der Vorstellung abgrenzen, dass »Religion« ein Phänomen sui generis sei,

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Steffen Führding

Asad und der Religionswissenschaftler Timothy Fitzgerald in ihren Arbeiten gezeigt, dass man vor der Frühen Neuzeit und außerhalb des (west-)europäischen Kontextes »Religion« – zumindest im heutigen Verständnis als einen separierten Bereich, oft verknüpft mit Vorstellungen innerlichen Glaubens und Erlebens – nicht nachweisen kann.14 Folgt man diesen Autoren, die nur stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen,15 wurde das, was wir heute unter »Religion« verstehen, durch einen Diskurs geschaffen, der sich in der ganz spezifischen, historischen und gesellschaftlichen Situation Westeuropas des 16. bis 18. Jahrhunderts entwickelte und eng mit der Entstehung des Nationalstaates und seiner Erfordernisse verbunden ist.16

Liberale Rhetorik, Religion und der moderne Staat Dieser sich in der Frühen Neuzeit entwickelnde und in seiner Form neuartige Diskurs ist geprägt durch die Verwendung binärer Paare wie: Politik/Religion, Staat/Kirche, öffentlich/privat, äußerlich/innerlich etc. Der Religionswissenschaftler Craig Martin spricht von einer »liberalen Rhetorik« die in dieser Zeit

gleichzeitig aber Religion doch einen besonderen Status zuschreibt, durch den der so klassifizierte Bereich wieder zu etwas »einmaligem« wird. Siehe hierzu FÜHRDING, Steffen: Methoden für die Religionswissenschaft. Professionalisierung und Fachidentität. Eingereicht bei der Zeitschrift für junge Religionswissenschaft. 14 Ob man deswegen »Religion« als deskriptive und analytische Kategorie völlig verwerfen sollte, wie es beispielsweise Timothy Fitzgerald [Vgl. u. a. FITZGERALD, Timothy (2000): The Idology of Religious Studies. New York: Oxford University Press. S. 12, 245. FITZGERALD, Timothy (2007a): Discourse on Civility and Barbarity. A critical History of Religion and related Categories. New York: Oxford University Press. S. 15, 97) tut, muss an dieser Stelle offen bleiben. Zur weiteren Auseinandersetzung siehe: SCHILBRACK, Kevin (2012): The Social Construction of »Religion« and Ist Limits: A Critical Reading of Timothy Fitzgerald. In: Method and Theory in the Study of Religion (MTSR) 24 (S. 97 – 117). Leiden: Brill. 15 Siehe hierzu u. a. DUBUISSON, Daniel (2003): The Western Construction or Religion: Myths, Knowledge, and Ideology. Baltimore, London: John Hopkins University Press. MASUZAWA, Tomoko (2005): The Invention of World Religions: Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism. Chicago: University of Chicago Press. MCCUTCHEON, Russell T. (2003b): The Disciplin of Religion. Structure, meaning, Rhetoric. New York, London: Routledge. 16 Vgl. ARNAL, William (2000): Definition. In: BRAUN, Willi/MCCUTCHEON, Russell T. (Hg.): Guide to the Study of Religion. (S. 21 – 34). London, New York: Cassell. ARNAL, William (2001): The Segregation of Social Desire: ›Religion‹ and Disney World. Journal of the American Academy of Religion 69 (1). S. 1 – 19. Und vgl. ASAD, Talal. (1993). Genealogies of religion: Discipline and reasons of power in Christianity and Islam. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Besonders S. 27 – 54.

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aus ganz spezifischen Interessen heraus geschaffen wurde.17 Diese liberale Rhetorik stellt einen zentralen Baustein eines charakteristischen Religionsdiskurses dar, durch den unsere heutige Kategorie Religion überhaupt erst geschaffen wurde und spielt eine ebenso zentrale Rolle bei der Entstehung des modernen Staates. Besonders anschaulich kann man diesen neuen Diskurs in den Arbeiten der drei politischen Philosophen Hobbes, Locke und Rousseau aufzeigen, wie es etwa Russell McCutcheon – an den die Ausführungen im Folgenden in erster Linie angelehnt sind – getan hat.18 Die drei genannten zählen zu den zentralen Figuren bei der Etablierung dieses Diskurses. Timothy Fitzgerald hat durch eine Analyse zeitgenössischer Dokumente nachgewiesen, dass eine Einteilung der Welt in einen religiösen und einen nichtreligiösen Bereich – mit der damit zusammenhängenden Unterteilung der Welt in eigenständige Sphären wie Religion, Ökonomie, Politik, die zwar miteinander interagieren können, im Wesen aber voneinander unabhängig und grundverschieden sind – bis weit in die Frühe Neuzeit hinein im Denken und Handeln weiter Teile der Bevölkerung nicht vorkam. Er spricht von einer allumfassenden Religion (Encompassing Religion), die mit der »christlichen Wahrheit« gleichgesetzt werden kann, die das Weltbild der Menschen geprägt habe.19 Dies gilt auch für die Zeit, in der Thomas Hobbes lebte.

Thomas Hobbes Der »Leviathan«20, Thomas Hobbes’ wohl in der heutigen Zeit am meisten nachwirkendes staatstheoretisches Werk, stellt daher keine Deskription der zeitgenössischen Umstände im engeren Sinne dar. Vielmehr muss man wohl von normativen Überlegungen sprechen. Hobbes beschreibt die Welt beziehungsweise den Staat, wie er seiner Meinung nach aussehen und organisiert sein soll, um ganz spezifischen Zielen zu dienen, auf die gleich einzugehen sein wird. Es gibt 17 Vgl. MARTIN, Craig (2010): Masking Hegemony. A Genealogy of Liberalism, Religion and the Private Sphere. London, Oakville: Equinox. 18 Vgl. hierzu vor allem MCCUTCHEON, Russell T. (2003a). The Category »Religion« and the Politics of Tolerance. In: GREIL, Arthur L., BROMLEX, David (Hg.): Defining Religion. Investigating the Boundaries between the Sacred and the Secular (S. 139 – 162). Amsterdam: Emerald Group Pub. Und: McCutcheon 2003b. 19 Vgl. FITZGERALD 2007a. Und: Vgl. FITZGERALD, Timothy (2007b): Encompassing Religion, privatized religions and the invention of modern politics. In: FITZGERALD, Timothy : Religion and the Secular. Historical and Colonial Formations. (S. 211 – 240). London, Oakville: Equinox. 20 HOBBES, Thomas (2012): Leviathan. Erster und zweiter Teil. Stuttgart: Reclam.

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»einen öffentlichen und einen privaten Gottesdienst; der erste wird von dem ganzen Staat, der letztere aber von einem einzelnen Bürger geübt. Die Einrichtung des öffentlichen Gottesdienstes hängt ganz vom Staat ab; der private steht zwar einem jeden frei, solange er im verborgenen geübt wird, die öffentliche Ausübung geschieht nie ganz ohne Furcht entweder wegen der Gesetze oder wegen der Personen, welche dabei zugegen sind, denn beides bewirkt eine Art von Zwang.«21

Hobbes unterscheidet hier den öffentlichen vom privaten Raum. Alles, was im öffentlichen Raum religiös verbindlich ist, unterliegt der Sanktionierung des Souveräns. Neben der »öffentlichen« Religion spricht Hobbes auch von einer »privaten« Religion, die ihren Platz allerdings nur im nicht-öffentlichen Raum haben darf, weil sie – da es sich letztendlich um individuelle Glaubensvorstellungen handelt – öffentlich gemacht, das politische Gemeinwohl gefährde.22 Der Schutz des politischen Gemeinwohls, also des Staates, stellt Hobbes’ zentrales Anliegen dar. Die Erfahrungen der sogenannten Religions- und Glaubenskriege seiner Zeit, die er im Leviathan verarbeitete, führen zu Überlegungen, wie solche Konflikte überwunden beziehungsweise gebannt werden können und wie Herrschaft und Gemeinwesen organisiert sein müssen, um funktionsfähig zu sein. Hobbes interpretiert die Konflikte als eine Rückkehr in den Naturzustand des Menschen vor der Staatenbildung. In diesem Naturzustand, in dem alle Menschen gleich seien und nach Selbsterhaltung strebten, herrsche der Krieg aller gegen alle. Gelöst worden sei dieser Zustand durch die (vertragliche) Übertragung der Souveränität auf eine Versammlung von Personen oder einen einzelnen Herrscher, dem die Aufgabe zukomme, den Kriegszustand zu beenden. Sinn und Zweck des Staates liegt damit in der Erzwingung des Friedens. Hobbes nennt den durch den Rechtsverzicht der Einzelnen neu entstehenden Souverän »Leviathan« oder den »sterblichen Gott«23. Dieser Leviathan steht über den gesellschaftlichen Gruppen und außerhalb des geschlossenen Vertrages.24 Der konstatierte Rückfall in den Naturzustand wurzelte seiner Meinung nach in den Absolutheitsansprüchen der Konfessionen. Hans Kippenberg schreibt hierzu: »Die Unbedingtheit des Glaubens erzeugt eine eigene Dynamik. Weil die Gegner Glaubensgemeinschaften sind und damit metaphysische Größen ins Spiel kommen, muss der Staat selber zum Gott werden, um den inneren Frieden des Gemeinwesens zu wahren.«25

21 Hobbes 2012, S. 300. Hervorhebungen im Orginal. 22 Vgl. KIPPENBERG, Hans G. (1997): Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München: C.H. Beck Verlag. S. 14 – 17. 23 Hobbes 2012, S. 155. 24 Vgl. Hobbes 2012, S. 151 – 156. 25 Kippenberg 1997, S. 15.

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Die konkurrierenden Wahrheitsansprüche der unterschiedlichen Konfessionen stellen nach Hobbes eine neue Situation dar. Bis zur Glaubensspaltung im Zuge der Reformation sieht er eine Konkurrenzsituation zwischen »göttlicher« und »weltlicher« Ordnung gegeben. Innerhalb des »göttlichen« Bereichs habe es diese Konkurrenz (innerhalb eines Staatswesens) allerdings nicht gegeben, auch wenn Religion nicht immer in einer einheitlichen Gestalt aufgetreten sei. Religion, so legt der Autor es in Kapitel zwölf »Von der Religion« dar, gründe im Glauben an und der »Furcht vor Geister[n], [der] Unkenntnis […von] Ursachen, [sowie der] Verehrung gefürchteter Dinge und Vorbedeutungen«26. Diese Aspekte seien nicht nur Grundlage der Religion, sondern auch ihr Kern. Dieser habe unterschiedliche Ausformungen erfahren, die allerdings alle darauf angelegt gewesen seien, das Gemeinwohl zu wahren.27 Gleichzeitig sei erreicht worden, die konkurrierenden Ansprüche der Religion und des Staates an den Bürger einzuhegen und einer Lösung zuzuführen. Eine besondere Form, diesen Konkurrenzkonflikt zu lösen, sei im frühen Christentum mit der Forderung angelegt, Gottesreich und staatliche Ordnung grundlegend zu trennen. Diese Trennung sieht Hobbes paradigmatisch in der Forderung festgeschrieben, dem Kaiser zu geben, »was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist!«28, also die Gesetze des Staates zu akzeptieren und keinen anderen Folge zu leisten. Dieser Grundsatz sei im Laufe der Zeit durch eine unsachgemäße Auslegung der Schrift und falsche Lehren kirchlicher Amtsträger verschüttet worden. Zudem habe die Kirche Autoritätsansprüche gegenüber den Bürgern erhoben. Diese stünden ihr nach korrekter Schriftauslegung aber nicht zu.29 Hobbes begründet das damit, »daß [sic] das Reich Christi nicht von dieser Welt« ist: deshalb können seine Diener (falls sie keine Könige sind) keinen Gehorsam in seinem Namen fordern.«30 Diese Argumentation von Hobbes läuft auf eine rigorose Unterscheidung öffentlicher von privater Religion hinaus, wie auch Kippenberg festhält.31 Ulrich Weiss fasst die hier rhetorisch vorgenommen Unterscheidung des innerlichen und privaten Glaubens, dem keine politische Macht zukommt, von einem äußeren, politischen und machtvollen Bereich des Staates in Anlehnung an Hobbes so zusammen:

26 27 28 29 30 31

Vgl. Hobbes 2012, 98 – 103, Zitat ebenda, S. 103 Vgl. Hobbes 2012, 98 – 112. Mt 22,21. Vgl. Kippenberg 1997, S. 15 – 16. HOBBES, Thomas (1996): Leviathan. Hamburg: Felix Meiner Verlag. S. 418. Kippenberg 1997, S. 16.

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»Der Leviathan steht für den kirchlichen Staat bzw. die christliche Staatskirche. Schwert und Hirtenstab sind in der Hand ein und desselben Souveräns […] Dieser ist Vizekönig […] und Statthalter […] Gottes auf Erden, unmittelbar unter Gott, wenngleich vom Menschen geschaffen und legitimiert. Im christlichen Staat erfüllt der Souverän seine friedensstiftende Funktion als oberster Priester und letztentscheidende Instanz der Interpretation bei konfligierenden religiösen Lehren. Seine Entscheidungsgewalt bezieht sich freilich nur auf die äußeren Kulthandlungen und Lippenbekenntnisse, nicht auf die innerliche Glaubensüberzeugung der Bürger.«32

Religion ist bei Hobbes nicht komplett vom öffentlichen und politischen Bereich getrennt; aber er nimmt eine rhetorische Unterscheidung in einen privaten Glauben und die öffentliche Religion vor. Damit geht ebenso eine Unterscheidung von öffentlichem Interesse beziehungsweise öffentlicher Ordnung und privaten Interessen einher, wobei letztere marginalisiert werden.33 Darauf, dass es Hobbes nicht um transzendente Wahrheitsansprüche geht, sondern ganz profan um Macht, weist McCutcheon hin. Er hebt hervor, dass Hobbes seine Einteilung der Welt in einen privaten Bereich, dem der Glaube der Einzelnen zugeordnet wird, und dem davon getrennten öffentlichen und politischen Bereich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Machtinteressen (wie oben angesprochen) vornimmt.34 Es ist interessant zu sehen, dass sich Hobbes des politischen Charakters und der Machtwirkungen solcher Klassifizierungsakte bewusst zu sein scheint: »Die Furcht vor mächtigen unsichtbaren Wesen, mögen sie nun ersonnen oder auch durch zuverlässige historische Nachrichten bestätigt und öffentlich angenommen worden sein, ist Religion; sind sie nicht öffentlich angenommen, so ist es Aberglaube.«35

Die Frage, was als Religion zählt, ist also nicht so sehr eine Frage von Wahrheit, sondern von Macht. Religion wird als Religion angesehen, weil sie öffentlich erlaubt und anerkannt ist. Darin unterscheidet sie sich vom Aberglauben. Religion, oder vielmehr das, was als solche angesehen wird, ist darüber hinaus im Prinzip »eine Angelegenheit persönlicher Vorlieben«.36 Der »natürliche Keim der Religion [… hat] durch die verschiedenen Vorstellungen, Urteile und Leidenschaften ebenso verschiedene Gebräuche hervorgebracht […], daß [sic] oft 32 WEISS, Ulrich (1997): Thomas Hobbes. Leviathan. In Theo Stammen & Gisela Riescher & Wilhelm Hofmann (Hg.). Hauptwerke der politischen Theorie (S. 419 – 424). Stuttgart: Kröner. S. 208. 33 Vgl. FÜHRDING, Steffen (2006): Culture Critic oder Caretaker? Religionswissenschaft und ihre Funktion für die Gesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit Russell T. McCutcheon. Marburg: diagonal-Verlag. S. 72 – 73. 34 Vgl. McCutcheon 2003a, S. 264. 35 Hobbes 2012, S. 53. 36 Vgl. McCutcheon 2003b, S, 147. Zitat: ebenda. Übersetzung durch den Verfasser.

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das, was in dem einem Staate als gesetzmäßig angenommen ist, in dem anderen verspottet wird.«37

John Locke Etwa 35 Jahre nach dem Erscheinen des Leviathans schreibt John Locke im Winter 1685/86 im niederländischen Exil seinen berühmten »Toleranzbrief«38, der 1689 erstmals anonym veröffentlicht wurde. Wie schon Hobbes verarbeitet Locke in seinem Werk die Erfahrungen der Bürgerkriege seiner Zeit.39 Auch bei Locke kommt dem richtigen Verhältnis zwischen Religion und Staat eine wichtige Rolle bei der Konfliktvermeidung und für die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens zu. Der Autor arbeitet mit den schon bekannten rhetorischen Mitteln unter der Verwendung der binären Wortpaare wie öffentlich/privat, Staat/Kirche, Politik/Religion. »[D]ie Sorge für die Seelen [kann] deswegen nicht der staatlichen Obrigkeit obliegen, weil deren Macht nur im äußeren Zwange liegt; aber die wahre und heilbringende Religion liegt in der inneren Gewissheit des Urteils, ohne die nichts für Gott annehmbar sein kann. Und solcher Art ist die Natur des Urteilsvermögens, daß [sic] es nicht zum Glauben von etwas mit Gewalt erzwungen werden kann.«40

Locke konzeptionalisiert Religion als persönliche, innerliche, ja private Glaubensangelegenheit. Ihr gegenübergestellt sind die öffentlichen Angelegenheiten des Staates. Dessen Aufgabe besteht in der Sicherung und Durchsetzung der bürgerlichen Interessen: »Bürgerliche Interessen nenne ich Leben, Freiheit, Gesundheit, Schmerzlosigkeit des Körpers und den Besitz äußerer Dinge wie Geld, Ländereien, Häuser, Einrichtungsgegenstände und dergleichen.«41 Über den äußeren, öffentlichen und politischen Bereich hinaus erstreckt sich die Macht des Staates nicht. In die privaten Glaubensangelegenheiten, egal ob damit die Inhalte des Glaubens oder die äußere Form der Gottesdienste und Zeremonien gemeint sind, soll sich die weltliche Macht nicht einmischen, solange das Gemeinwesen und -wohl nicht bedroht wird. Diese Einteilung eines öffentlichen (politischen, ökonomischen, machtvollen) und eines privaten Bereichs, in dem Locke Religion verortet, ist für ihn Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Denn erst die Trennung in diese beiden Bereiche verhindere die Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die das 37 38 39 40 41

Hobbes 2012, S. 103. LOCKE, John (1996): Ein Brief über die Toleranz. Hamburg: Felix Meiner Verlag. Vgl. SPECHT, Rainer (22007): John Locke. München: C.H. Beck Verlag. S. 9 – 26. Locke 1996, S. 15. Locke 1996, S. 13.

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»Seelenheil« des Einzelnen im Blick haben und denjenigen, die sich um das Gemeinwohl sorgen. Allerdings sind die Grenzen dessen, was als Allgemeinwohl und als Gefährdung der öffentlichen Ordnung verstanden wird, relativ eng. Martin zeigt auf, dass Locke die jeweiligen Allgemeinwohlvorstellungen letztendlich aus lokalen Bräuchen, Moralvorstellungen und allen voran aus entfachten Wünschen und Begierden (desire) abgeleitet versteht.42 Diese aber sind durch Bildung und Sozialisation der scheinbar apolitischen Institutionen weiterhin stark durch das (protestantische) Christentum geprägt.43 So galt in den Vorstellungen Lockes religiöse Toleranz auch nur in einem relativ engen Rahmen. Katholiken oder Atheisten wurden von ihr beispielsweise nicht eingeschlossen.44 Anders als Hobbes stellt sich Locke also gegen das Recht des Herrschers, die öffentlichen Formen der Religion festlegen zu dürfen, und fordert die strikte Trennung von Staat und Kirche. Da die theologischen Überzeugungen spekulativ seien und weder Politik noch Gesellschaft betreffen würden, sei ihnen gegenüber absolute Toleranz zu gewähren. Das gelte auch für die äußeren Formen des Gottesdienstes. Erst in dem Moment, in dem theologische Praktiken und Auffassungen die öffentliche Moral betreffen und wenn durch die kirchlichen Lehren und Handlungen die bürgerlichen Rechte gefährdet seien, hätte der Staat die Erlaubnis einzugreifen.45 Auf die religiösen Überzeugungen der Bürger/-innen bezieht sich die staatliche Kompetenz nach Locke hingegen nicht. Walter Euchner führt dazu weiter aus: »Es könne nämlich nicht angenommen werden, dass jemand die Sorge für das eigene Seelenheil anderen übertragen habe, denn die Wahl des richtigen Weges hierzu sei ureigenste Angelegenheit eines jeden«46.

Dies führe dazu, dass jede/-r glauben und bezeugen könne, was er oder sie will. Nicht erlaubt sei aber zu versuchen, die privaten Glaubensvorstellungen allgemein verbindlich zu machen.47

42 43 44 45

Vgl. Martin 2010, S. 91 – 96. Siehe hierzu Martin 2010, S. 91 – 108. Vgl. Locke 1996, S. 95. Vgl. EUCHNER, Walter (1997): John Locke. Epistola de Tolerantia. In: STAMMEN, Theo, RIESCHER, Gisela, HOFMANN, Wilhelm (Hg.): Hauptwerke der politischen Theorie (S. 277 – 279). Stuttgart: Körner. S. 277 – 278. 46 Euchner 1997, S. 278. 47 Vgl. McCutcheon 2003a, S. 147.

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Jean-Jacques Rousseau Die Ideen sowie Argumentationsstrukturen Hobbes und Lockes lassen sich einige Jahrzehnte später in den Arbeiten Jean-Jacques Rousseaus wieder finden. Während es auf inhaltlicher Ebene zum Teil deutliche Unterschiede gibt (etwa in der Frage der Staatsform), verwendet Rousseau dieselben rhetorischen Techniken, um seine Ziele zu verwirklichen. Auch bei ihm findet man wieder die Verwendung des binären Paares privat/öffentlich mit all den dazugehörigen anderen Begriffspaaren, mit denen auf die Herstellung einer speziellen gesellschaftlichen Ordnung hingearbeitet wird. Rousseau konzeptionalisiert einen privaten, innerlichen Raum, der abgegrenzt wird von einer öffentlichen Sphäre, in der das staatliche bzw. politische Handeln stattfindet. Gegen Ende seiner Ausführungen im vierten Buch, Kapitel acht – dem Kapitel, das er der Religion widmet – im »Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts«48 aus dem Jahr 1762 schreibt Rousseau: »Die Untertanen sind dem Souverän über ihre Ansichten nur insoweit Rechenschaft schuldig, als diese für das Gemeinwesen erheblich sind. Nun ist es ja für den Staat sehr wohl wichtig, dass jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten lieben heißt; aber die Dogmen dieser Religion interessieren den Staat und die Glieder nur insoweit, als sie sich auf die Moral beziehen und auf die Pflichten, die diejenige, der sie (die Religion) bekennt, gegenüber den andern zu erfüllen gehalten ist. Darüber hinaus mag jeder Anschauungen hegen, wie es ihm gefällt, ohne dass dem Souverän eine Kenntnis davon zustünde. Denn in der anderen Welt besitzt er keinerlei Befugnis, und es ist auch nicht seine Sache, welches Los der Untertanen in einem künftigen Leben sei, vorausgesetzt, dass sie in diesem hier guten Bürger sind.«49

Diese Zeilen stellen eine Art Fazit seiner Überlegungen zur Religion dar. Religion ist für ihn der zentrale Faktor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie ist daher für ein funktionierendes Gemeinwesen wichtig. So seien auch alle politischen Gemeinwesen von Anfang an religiös legitimiert gewesen.50 Allerdings unterscheidet er dabei verschiedene Formen von Religion. Zunächst beginnt Rousseau besagtes Kapitel scheinbar mit einer Abhandlung über die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Staat. Er beschreibt die Zeit vor dem Aufkommen des Christentums als eine, in der es keine Unterscheidung beider Bereiche gegeben habe:

48 ROUSSEAU, Jean-Jacques (2011): Vom Gesellschaftsvertrag. Oder Grundsätze des Staatsrechts. Stuttgart: Reclam. 49 Rousseau 2011, S. 155. 50 Vgl. Kippenberg 1997, S. 24.

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»Wenn man fragt, warum es im Heidentum, wo jeder Staat seinen Kult und seine Götter hatte, keine Religionskriege gab, so antworte ich, dass das gerade daher kam, dass kein Staat, der sowohl einen eigenen Kult als eine eigene Regierung hatte, zwischen seinen Göttern und seinen Gesetzen unterschied.«51

Kriege seien im Namen dieser Götter zwischen den Gemeinwesen geführt worden. Mit dem Aufkommen des Christentums habe sich dies grundlegend geändert. Jesus sei gekommen, »um ein geistiges Reich auf Erden zu errichten; dies hatte durch die Trennung des theologischen Systems vom politischen zu Folge, dass der Staat aufhörte, einer zu sein, und verursachte die inneren Spaltungen, die nie aufgehört haben, Unruhe unter den christlichen Völkern zu stiften. Da nun diese Vorstellung eines Königreiches von einer anderen Welt den Heiden nie in die Köpfe wollte, betrachteten sie die Christen immer als echte Aufständische, die, bei heuchlerischer Unterwürfigkeit, nur auf den Augenblick warteten, sich unabhängig und zu Herren zu machen und sich geschickt der souveränen Gewalt zu bemächtigen, die sie in ihrer Schwäche anzuerkennen vorgaben. Das war der Grund für ihre Verfolgungen. Was die Heiden befürchtet hatten, ist eingetreten; hierauf hat alles sein Gesicht verändert, die demütigen Christen haben ihren Ton geändert, und alsbald hat man dieses Königreich, angeblich von einer anderen Welt, auf dieser hier unter einem sichtbaren Oberhaupt zum härtesten Despotismus werden sehen. Unterdessen ist aus dieser doppelten Gewalt – da es immer einen Fürsten und bürgerliche Gesetze gab – ein ständiger Konflikt der Gesetzgebung erwachsen, der in den christlichen Staaten jede gute Staatsordnung unmöglich gemacht hat, und nie war man endgültig sicher, ob man dem Herrn oder dem Priester zum Gehorsam verpflichtet war.«52

Um diesen Zustand, der eine gute Staatsordnung unmöglich mache, zu überwinden, ist nach Rousseau die Wiedervereinigung von Staat und Kirche notwendig. In diesem Punkt greift er auf Hobbes zurück und schreibt:

51 Rousseau 2011, S. 145. 52 Rousseau 2011, S. 147. McCutcheon arbeitet heraus, dass Rousseau am historischen Beispiel aufzeigt, wie der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Akteuren durch die Internalisierung von Überzeugungen gelöst wurde, in dem die zunächst unterlegende Gruppe eine Unterscheidung zwischen einem diesseitigen und einem jenseitigen Bereich machte um damit nicht in Loyalitätskonflikte zu gelangen. McCutcheon spricht hier von »einem faszinierenden Beispiel des social engineering.« (Vgl. McCutcheon 2003a, S. 149. Zitat ebenda). So erhalten die aufkommenden sozialen Formationen die Möglichkeit, sich zu entfalten, da sie der vorherrschenden sozialen Formation deutlich machen, ihre Vorherrschaft nicht brechen zu wollen und sich gleichzeitig darauf berufen können, dass ihr Anliegen rein im privaten geistigen und damit anerkannt geschützten Bereich angesiedelt ist.

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»Unter allen christlichen Autoren ist der Philosoph Hobbes der einzige, der das Übel und sein Heilmittel richtig gesehen und der vorzuschlagen gewagt hat, die beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinigen und alles auf eine politische Einheit zurück zu führen, ohne die weder ein Staat noch eine Regierung jemals gut verfasst sein werde.«53

Anders als Hobbes geht es ihm aber nicht um die Errichtung einer Staatskirche innerhalb eines absolutistischen Staates. Vielmehr setzt er auf eine politische Vernunftreligion, der sich alle Bürger zugehörig fühlen können. Diese entwickelt er durch das Abgrenzen zwei sich unterscheidender Religionstypen: die Religion des Bürgers und die Religion des Menschen (wahre Religion). Die Religion des Bürgers sei immer einem bestimmten Land zugeordnet, durch das auch die zu verehrenden Götter vorgeschrieben würden. Sie habe ihre eigenen Dogmen, Riten und Kulte. Das Vorbild für die Religion des Menschen sieht Rousseau im frühen Christentum, das sich vom Christentum seiner Zeit vollständig unterscheide. In romantisierender Form stellt er sich dieses frühe Christentum und im Anschluss daran die Religion des Menschen als rein innerliche Religion vor, der sich die Menschen aus inneren Überzeugungen und Vorlieben anschließen würden. Sie besäße keine äußeren Zeichen wie Tempel oder Riten und beschränke sich auf einen »rein inneren Kult des obersten Gottes«.54 Die wahre Religion könne der Mensch nur durch das Gefühl, nie aber durch den Verstand erlangen. Der Kategorie Gewissen kommt beim Erkennen der wahren Religion eine besondere Bedeutung zu, da es als unfehlbare Richtschnur nicht zu hintergehen sei.55 Für die europäische Religionsgeschichte ergebe sich das Problem – fasst Kippenberg zusammen –, dass nationale, in gewissem Sinne vorchristliche Religionen den Krieg zwischen den Völkern fördern würden, das Christentum hingegen zu Bürgerkriegen führe. Das Dilemma wird von Rousseau durch den Gesellschaftsvertrag gelöst. Grundlage dieses Vertrages könne weder die Religion des Menschen noch die des Bürgers sein, sondern es brauche eine zivile Religion, die vom Souverän allen Bürgern verpflichtend vorgegeben werden müsse. Diese Zivilreligion hat gemäß Rousseau zwei Ziele: Zum einen müsse sie erreichen, dass sich alle Bürger/-innen als Brüder beziehungsweise Schwestern sehen und zum anderen, dass sie ihr Vaterland lieben.56 Der Einfluss des Souveräns endet aber, wie eingangs zitiert, beim privaten Glauben. Solange die Glaubensvorstellungen in ihrem innerlichen und privaten Bereich bleiben, kann, ja muss jeder glauben was er für richtig hält, weil er hier 53 54 55 56

Rousseau 2011, S. 149. Vgl. Rousseau 2011, S. 149 – 150. Zitat: ebenda. Vgl. Kippenberg 1997, S. 21 – 24. Vgl. Kippenberg 1997, S. 25 – 26.

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allein seinem Gewissen verpflichtet ist – vorausgesetzt, dass das dem Gemeinwohl nicht abträglich ist.

Schlussbemerkung Hobbes, Locke und Rousseau verorten die Konflikte ihrer Zeit letztendlich in den konkurrierenden Machtansprüchen zwischen kirchlichen und staatlichen Akteuren. Die Lösung besteht für sie in der Schaffung zweier getrennter Bereiche. Die Einteilung der Welt, die hier vorgenommen wird, (öffentlich/privat, Staat/ Kirche etc.) stellt keine neutrale Beschreibung der historischen Umstände dar. Sie ist ein durch und durch politischer Akt. Die auf ein aktives Agieren ausgerichteten Felder (Ökonomie, Politik, etc.) werden dem öffentlichen Raum zugeordnet. Religion als Glaubensüberzeugung hingegen wird in den privaten Raum verwiesen. Allen dreien geht es um die Regulierung von Konflikten, die durch widerstreitende Wahrheitsansprüche entstehen. Die vor allem im 16. bis 18. Jahrhundert vorgenommene Konzeptionalisierung von Religion – wie in den Werken der drei dargestellten Autoren – hat dabei zwei Funktionen. Zum einen schützt sie abweichende Meinungen, indem sie sie in einem apolitischen Bereich des privaten Glaubens ansiedelt. Zum anderen wird gleichzeitig der Status Quo aufrecht erhalten, durch die Internalisierung der Konflikte. Kollektive Ziele, Wünsche und Begierden werden privatisiert sowie allgemeinverbindliche Werte als Gegenstand der individuellen Wahlfreiheit konstituiert. Gleichzeitig wird der Staat unter negativen Vorzeichen allein zum Instrument der Durchsetzung des Individualismus. Der Politologe Carsten Fischer beschreibt dies folgendermaßen: »Beispielhaft in der Hobbes’schen Unterscheidung zwischen privater fides und öffentlicher confessio, wird nun […] zwischen dem Staat als einer funktional auf die Ordnungswahrung konzentrierten Sicherheitsagentur und der bürgerlichen Gesellschaft als einer Sphäre unpolitischer, egoistischer und in diesen privaten Belangen von staatlicher Einflussnahme freier Nutzenmaximierer unterschieden.«57

Der Staat steht den Einzelinteressen der Individuen neutral gegenüber und garantiert den Raum für die Existenz und das Ausleben derselben. Betrachtet man die Entstehung des modernen Staates und sein Verhältnis zur Religion aus dieser Perspektive und nicht unter säkularisierungstheoretischen Vorzeichen, wird deutlich, dass die Erfindung von Religion Hand in Hand mit 57 Fischer 2009, S. 33.

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der Durchsetzung des modernen Staates geht, ihn sogar erst ermöglicht. Die wie beschrieben konzeptionalisierte Kategorie Religion wird für die Konfliktregulierung genutzt, indem konkurrierende Vorstellungen und Ansprüche in den geschaffenen privaten Raum verwiesen werden und ein öffentliches Ausagieren unterbunden und damit das bestehende System stabilisiert wird.

Literatur ARNAL,William E. (2000): »Definition«. In BRAUN Willi/MCCUTCHEON, Russell T. (Hg.), Guide to the Study of Religion (S. 21 – 34). London, New York: Cassell. ARNAL, William (2001): The Segregation of Social Desire: ›Religion‹ and Disney World. Journal of the American Academy of Religion 69 (1), S. 1 – 19. ASAD, Talal. (1993): Genealogies of religion: Discipline and reasons of power in Christianity and Islam. Baltimore: Johns Hopkins University Press. BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang (1967): Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung. In: BÖCKENFÖRDE, Ernst-Walter: Staat, Gesellschaft, Freiheit (S. 42 – 64). Frankfurt/Main: Suhrkamp. BROCKARD, Hans (2011): Nachwort. In: Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag. Oder Grundsätze des Staatsrechts (S. 187 – 246). Stuttgart: Reclam. CARROLL, Terrance G. (1984): Secularization and States of Modernity. World Politics 36 (3), S. 362 – 382. CASANOVA, Jos¦ (2009): Europas Angst vor der Religion. Berlin: Berlin University Press. CAVANAUGH, WILLIAM T. (1995): »A fire strong enough to consume the house:« The Wars of Religion and the rise of the State. Modern Theology 11 (4), S. 397 – 420. DUBUISSON, Daniel (2003): The Western Construction or Religion: Myths, Knowledge, and Ideology. Baltimore, London: John Hopkins University Press. EUCHNER, Walter (1997): John Locke. Epistola de Tolerantia. In: STAMMEN, Theo, RIESCHER, Gisela, HOFMANN, Wilhelm (Hg.): Hauptwerke der politischen Theorie (S. 277 – 279). Stuttgart: Körner. ELIADE, MIRCEA (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt/Main und Leipzig: Insel Verlag. FISCHER, Carsten (2009): Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat. Berlin: Berlin University Press. FITZGERALD, Timothy (2000): The Ideology of Religious Studies. New York: Oxford University Press. FITZGERALD, Timothy (2007a): Discourse on Civility and Barbarity. A critical History of Religion and related Categories. New York: Oxford University Press. FITZGERALD, Timothy (2007b): Encompassing Religion, privatized religions and the invention of modern politics. In: FITZGERALD, Timothy : Religion and the Secular. Historical and Colonial Formations (S. 211 – 240). London, Oakville: Equinox. FÜHRDING, Steffen (2006): Culture Critic oder Caretaker? Religionswissenschaft und ihre Funktion für die Gesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit Russell T. McCutcheon. Marburg: diagonal-Verlag.

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Astrid Mattes

Glaube als Motiv, Partizipation als Ziel? Theoretische Ansätze zur Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Religion und sozialer Integration

Die Schlagwörter Religion und soziale Integration rufen in Europa nahezu unweigerlich die Assoziation mit muslimischen Migrant(inn)en hervor. Aufgrund stark politisierter und polemisierter Diskurse rund um diese Gruppe von zugewanderten Menschen sind Immigration, (Nicht-)Integration und Islam zu einem kaum zu trennenden Themenkomplex verschmolzen.1 Religion, in diesem Fall der Islam, wird als trennendes Merkmal, als zentraler Unterscheidungspunkt verstanden, der soziale Integration dauerhaft behindert.2 Dieser Blick auf die Rolle von Religion in Zuwanderungsprozessen dürfte ein primär europäischer sein. Die US-amerikanische Sozialforschung konzentriert sich bereits seit Jahrzehnten auf die positiven Effekte von Religion in Integrationsprozessen.3 Dabei kommen verschiedenste Konzepte zum Einsatz, allen voran wohl social capital in seinen verschiedenen Interpretationssträngen. Dieser Artikel soll aktuelle Sozialkapitalkonzepte im Kontext von Religion und sozialer Integration diskutieren. Dazu werden die Entwicklung des Sozialkapitalkonzeptes von Pierre Bourdieu und James Coleman hin zu Robert Putnams Begriffsverständnis nachvollzogen sowie Weiterentwicklungen und Ausdifferenzierungen des Konzeptes besprochen. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist dabei besonders das Konzept des religious/spiritual oder faith based capital interessant. Mit der Einbindung von Konzepten aus der Social Movement Theory und dem civic voluntarism model wird versucht, die Mechanismen von 1 Vgl. zum Beispiel: LÜDERS, Michael (2011): Allahs langer Schatten. Warum wir keine Angst vor dem Islam haben müssen. Herder : Freiburg im Breisgau, S. 7 f. oder BIELEFELDT, Heiner (2010): Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam. In: SCHNEIDERS, Thorsten Gerald (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (S. 173 – 206). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2 Vgl. zum Beispiel: DANIEL, Anna (2012): Der Islam als das Andere – Postkoloniale Perspektiven. In: DANIEL, Anna, SCHÄFER, Franka, HILLEBRANDT, Frank, WIENOLD, Hanns (Hg.), Doing Modernity – Doing Religion (S. 143 – 167). Wiesbaden: Springer VS. 3 Vgl. zum Beispiel: ALBA, Richard, FONER, Nancy (2008): Immigrant Religion in the U.S. and Western Europe: Bridge or Barrier to Inclusion. International Migration Review, 2/ 42, S. 360 – 392.

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sozialer Integration besser verständlich zu machen. Dazu wird zunächst der Begriff der sozialen Integration diskutiert und die Rolle von zivilgesellschaftlicher Partizipation in den Blick genommen. Dieser Beitrag zum weitläufigen Thema der DVRW Nachwuchstagung »Religion/en als gesellschaftliche/r Integrations- und Konfliktfaktor/en? Religionswissenschaftliche Perspektiven« soll zudem soziologische und politikwissenschaftliche Zugänge zur Frage der Rolle von Religion in gesellschaftlichen Integrationsprozessen einbinden. Es soll damit der Frage nachgegangen werden, unter welchen Umständen Religion ein integrierender Faktor sein kann. Dazu werden verschiedene Untersuchungen und Theoriestränge zu Religion und Sozialkapital beziehungsweise Religion und sozialer Integration diskutiert und Vorschläge für fruchtbare Zugänge zu dieser spannenden und gesellschaftlich hoch relevanten Fragestellung gemacht.

1.

Soziale Integration – grundlegende Anmerkungen

Integration bezieht sich, dem Wortsinn nach, auf die Verbindung von Teilen zu einem Ganzen. Vorbedingung jeder Art von Integration muss demnach das Vorhandensein eines zumindest grob umrissenen Ganzen sein, das aus Teilen gebildet wird. Spricht man von sozialer Integration, bezieht sich dieses Ganze auf eine Gesellschaft, deren Teile Individuen und in weiterer Folge Gruppen bilden, zwischen denen eine Verbindung besteht, die eine Grenzziehung zwischen Innen und Außen möglich macht. Die beiden Mechanismen – Grenzziehung nach Außen und Verbindungen zwischen den Teilen – konstituieren laut Fuchs, Gerhards und Roller (in Anlehnung an Max Weber) eine Gemeinschaft.4 Während in einer Gemeinschaft, in der die einzelnen Individuen einander kennen, eine solche Grenzziehung und das Vorhandensein von persönlichen Verbindungen leicht nachvollziehbar ist, stellt die Frage nach der Verbindung der Teile einer – etwa nationalstaatlich begrenzten – Gemeinschaft eine komplexere Aufgabe dar. Während hier die formale Grenzziehung, in Form der durch den dauerhaften Aufenthalt in einem nationalstaatlichen Territorium vorliegenden räumlichen Begrenzung gegeben ist, bleibt die Frage, welche Verbindung zwischen den einzelnen Teilen eine Gemeinschaft herstellt. Fuchs ergänzt an dieser Stelle, dass es auch bei einem fiktionalen Gebilde, wie einer gesellschaftlichen Gemeinschaft, subjektiv nachvollziehbare Kriterien für Inklusion und Exklusion geben muss, um formale Grenzziehungen wirksam zu machen.5 4 Vgl. FUCHS, Dieter, GERHARDS, Jürgen, ROLLER Edeltraud (1993): Wir und die anderen. Ethnozentrismus in den zwölf Ländern der europäischen Gemeinschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45, S. 238 – 253. 5 Vgl. FUCHS, Dieter (1999): Soziale Integration und politische Institutionen in modernen

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Die Frage nach Religion/en als gesellschaftliche/m Integrations- und Konfliktfaktor/en spricht nicht zuletzt die Frage an, wann und warum Religion/en zu einem solchen Kriterium der subjektiv nachvollziehbaren Inklusion oder Exklusion werden. Die Annäherung an derartige Fragestellungen kann jedoch nicht, wie die zuvor genannten Überlegungen zum Begriff der Integration, auf abstrakter Ebene erfolgen. Es bedarf einer Analyse der Funktionsweise von Integrationsprozessen, um die Rolle von Religion in diesen festzumachen. Welche Mechanismen gesellschaftlichen Integrationsprozessen innewohnen, ist jedoch auch eine im wissenschaftlichen Diskurs bisher umstrittene Frage, deren Antworten je nach theoretischer Grund- und empirischer Beobachtungslage äußerst unterschiedlich ausfallen.6 Für diesen Artikel sollen Kapitalkonzepte in den Blick genommen werden, deren Potenzial vor allem in der Erklärung von sozialen Aushandlungsprozessen liegt. Integration wird für den vorliegenden Beitrag daher – in Anlehnung an Pierre Bourdieus Verständnis des sozialen Feldes – als Verhandlung um Kapital verstanden. Bourdieu versteht Kapital als »grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt«7. Insofern ist auch jeder gesellschaftliche Prozess diesem grundlegenden Prinzip unterworfen.

2.

Religion und soziale Integration

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Rolle von Religion in Integrationsprozessen als Folge von Immigration. In verschiedenen Integrationskonzepten wird Religion dabei eine sehr unterschiedliche Funktion beigemessen. Zumeist wird der Faktor Religion in Form von Engagement oder Mitgliedschaft in einer religiösen Organisation in theoretische Überlegungen zu Integration eingebunden. Während die US-amerikanische Sozialforschung in religiösem Engagement einen förderlichen Faktor für gesellschaftliche Integrationsprozesse sieht, betrachten europäische Forscher(innen) Religion zumeist kritischer oder gar als Integrationshindernis.8 Für den europäischen Kontext kommt in Gesellschaften. Veröffentlichungsreihe der Abteilung Institutionen und sozialer Wandel des Forschungsschwerpunktes Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, No. FS III 99 – 203, URL: http:// hdl.handle.net/10419/48998 [10. 01. 2013]. 6 Zur aktuellen Diskussion siehe zum Beispiel: HENTGES, Gudrun, HINNENKAMP, Volker, ZWENGEL, Almut (Hg.) (2010): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 7 Vgl. BOURDIEU, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital In: KRECKEL, Reinhard (Hg.), Soziale Ungleichheiten (S. 183 – 198). Göttingen: Schwartz. 8 Vgl. Alba und Foner 2008, S.360 ff.

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Bezug auf Integration eine überwiegende Konzentration auf den Islam als Religion von Migrant(inn)en hinzu.9 Hier wird Religion, konkreter der Islam, im öffentlichen (politischen und medialen) Diskurs zum gesellschaftlichen Konfliktfaktor, da sich europäische Gesellschaften auf vielfältige Weise bedroht fühlen.10 Der wissenschaftliche Diskurs greift diesen Zugang durch die Analyse solcher Konflikte (etwa Moscheebauten, Kopftuchdebatten, et cetera)11 auf. Die Rolle von Religion als Faktor in Integrationsprozessen ist dabei immer schwierig zu beleuchten und kann nicht von anderen Faktoren isoliert betrachtet werden. Wenn dem Engagement in einer religiösen Gruppierung etwa ein integratives Potenzial innewohnt, kann es lediglich als ein Baustein im Integrationsprozess betrachtet werden. Hier bietet eine Annäherung über kapitaltheoretische Ansätze die Möglichkeit, jenes Kapital, das Individuen durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft aufbauen, als integrativen Faktor zu betrachten und dadurch die Mechanismen von Integrationsprozessen auf die Rolle von Religion hin zu untersuchen.

3.

Soziales Kapital – von Bourdieu zu Putnam

Pierre Bourdieu und James Coleman entwickelten dieses Konzept parallel und unabhängig voneinander und haben ein leicht unterschiedenes Verständnis.12 Für Bourdieu ist Sozialkapital nicht eigenständig denkbar, sondern mit den anderen Kapitalformen (ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital) eine zusätzliche Kategorie um gesellschaftliche Mechanismen, insbesondere soziale Mobilität, umfassender als nur durch ökonomischen Besitz erklären zu können.13 Daher bleibt bei Bourdieu immer auch die Umwandelbarkeit jeglicher Kapitalform in ökonomisches Kapital zentral.14 James Coleman löst das Sozi9 Vgl. Albaund Foner 2008, S.368 ff. 10 Vgl. zum Beispiel BUNZL John, HAFEZ, Farid (Hg.) (2009): Islamophobie in Österreich. Innsbruck: Studienverlag oder auch SCHNEIDERS, Thorsten Gerald (Hg.) (2010): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 11 Zum Beispiel: BERGHAHN, Sabine (2009): Der Stoff, aus dem Konflikte sind: Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeldt: Transcript Verlag oder etwa KÜBEL, Jana (2009): »moschee.ade oder moschee.at«. Eine Konfliktanalyse auf der Suche nach Islamophobie in Österreich. In: BUNZL John, HAFEZ, Farid (Hg.), Islamophobie in Österreich. (S. 127 – 144). Innsbruck: Studienverlag. 12 Vgl. STEPICK, Alex, REY, Terry, MAHLER, Sarah J. (Hg.) (2009): Churches and Charity in the Immigrant City. Religion, Immigration and Civic Engagement in Miami. New Brunswick: Rutgers University Press, S. 1. 13 Vgl. PORTES, Alejandro (1998): Social Capital: Its Origins and Applications in Modern Sociology. Annual Review of Sociology. 24, S. 1 – 24. 14 Vgl. Bourdieu 1983, S.185.

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alkapitalkonzept von dieser ökonomischen Verflechtung und betrachtet es als alternativen Erklärungsansatz zu einem von der Sozialisierung gesteuerten Wesen einerseits und als Gegenkonzept zum rationalen Individuum andererseits.15 Dabei behält sich Sozialkapital die Funktion als Gegenstand von Umwandlungs- und Austauschprozessen bei. Eine zentrale Bedeutungsveränderung erfährt social capital im Verständnis Robert Putnams. Putnam veröffentlichte 2000 sein viel beachtetes Buch »Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community«, in dem er auf die allgemeine Tendenz schwindender zivilgesellschaftlicher Partizipation sowie auf einen zu beobachtenden Rückgang im Vorhandensein von Sozialkapital in der amerikanischen Gesellschaft eingeht.16 Sozialkapital ist in Putnams Sicht hochgradig normativ aufgeladen und wird als Grundlage guten gesellschaftlichen Zusammenlebens verstanden.17 So sieht er im Vorhandensein von Sozialkapital und den daraus resultierenden Beziehungen einen Garant für Gemeinschaftsgefühl, friedliche Konfliktlösung und Demokratie.18 Bereits vor Putnams »Bowling alone« wurde in der Sozialkapitalforschung zwischen drei Formen von Sozialkapital unterschieden, deren Relevanz für die hier vorliegende Fragestellung ebenfalls relevant ist. Bonding social capital bezieht sich auf die Vernetzung innerhalb einer eher homogenen Gruppe. Bridging social capital meint nach außen gewandte Beziehungen, die unterschiedliche Gruppen miteinander vernetzen. Linking social capital meint eine Vernetzung außerhalb der Gruppe, welche Zugang zu ansonsten nicht erreichbaren Ressourcen ermöglicht.

4.

Soziales Kapital und Religion

Obwohl Putnams Thesen vehement kritisiert wurden19, wurde sie vor allem auch rezipiert. Die oft kritische Betrachtung seiner Arbeiten liegt nicht zuletzt an der Rolle, die Putnam religiösen Gruppen zuspielt:

15 FIELD, John (2012): Social Capital. Key Ideas. New York: Routledge. 16 Vgl. PUTNAM, Robert (2000): Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon & Schuster. 17 Vgl. EDWARDS, Bob, FOLEY, Michael W. (1998): Civil Society and Social Capital Beyond Putnam. American Behavioral Scientist, 42/ 124, S. 124 – 139. 18 Vgl. PUTNAM, Robert (1995): Bowling Alone: America’s Declining Social Capital. Journal of Democracy, 6/1, 1995, S. 65 – 78. 19 Siehe zum Beispiel: MCLEAN Scott L., SCHULTZ, David Andrew, STEGER, Manfred B. (Hg.) (2002): Social Capital: Critical Perspectives on Community and »Bowling Alone«. New York: New York University Press.

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»Churches provide an important incubator for civic skills, civic norms, community interest and civic recruitment. Religiously active Men and Women learn to give speeches, run meetings, manage disagreements, and bear administrative responsibility. They also befriend others who are in turn likely to recruit them into other forms of community activity. In part for these reasons churchgoers are more likely to be involved in secular organizations, to vote and participate politically in other ways and to have deeper informal social connections.«20

Bereits seit Alexis de Toqueville im Jahr 1835 die US-amerikanischen Kirchen als Ressource zivilgesellschaftlichen Engagements kennenlernte und euphorisch festhielt »Nothing, in my view, deserves more attention than the intellectual and moral associations in America«21 und Emile Durkheim Religion eine integrative Wirkungsrichtung zumaß22, beschäftigt sich die sozialwissenschaftliche Forschung mit den potenziellen sozialintegrativen Kräften von Religion. Laut Richard Traunmüller lassen sich mindestens drei Gründe für die Wichtigkeit glaubensbasierten Sozialkapitals als gesellschaftliche Ressource nennen:23 Erstens erfüllen religiöse Einrichtungen zahlreiche gesellschaftliche Aufgaben, etwa in den Bereichen Kultur und Erziehung. Des Weiteren sind Religionsgemeinschaften »Katalysatoren zivilgesellschaftlichen Engagements«, worauf im Folgenden noch eingegangen werden soll. Drittens sprechen religiöse Gemeinschaften zumeist ein sehr heterogenes Publikum an, das verschiedene gesellschaftliche Gruppen einschließt. Wegen der Erfüllung dieser drei Funktionen bezeichnet Traunmüller Religionsgemeinschaften als a) Stützen der Gemeinschaft, b) »Schulen der Demokratie« und c) wichtigste Orte für die Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe. In diesen Feststellungen finden sich einige zugrunde liegende Annahmen deren genauerer Betrachtung es bedarf. Zunächst impliziert das Verständnis von Religionen als »Katalysatoren zivilgesellschaftlichen Engagements«, dass von Religion als formellem sozialem Netzwerk ausgegangen wird. In der Sozialkapitalforschung sind Beziehungen und Netzwerke die zentralen Bezugspunkte der Analyse. Religionsgemeinschaften scheinen aus einer Reihe von Gründen besonders geeignet, um Men20 Putnam 2000, S. 66. 21 TOQUEVILLE Alexis de (1969): Democracy in America. In: MAIER, J.P. (Hg.) Democracy in America. Garden City,: Anchor Books, S. 517. 22 PICKEL Gerd, GLADKIRCH, Anja (2011): Säkularisierung, religiöses Sozialkapital und Politik – Religiöses Sozialkapital als Faktor der Zivilgesellschaft und als kommunale Basis subjektiver Religiosität? In: LIEDHEGENER, Antonius, WERKNER Ines-Jaqueline (Hg.),. Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 84 f. 23 Vgl. TRAUNMÜLLER, Richard (2011): Segen oder Fluch? Zum Einfluss von Staat-KircheBeziehungen auf die Vitalität religiöser Zivilgesellschaften im europäischen Vergleich. In: LIEDHEGENER, Antonius, WERKNER Ines-Jaqueline (Hg.),. Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 140.

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schen in solche Netzwerke einzubinden. Ein Faktor dabei ist die potenzielle Einbindung von Menschen am Rande der Gesellschaft, was durch den Universalismus vieler großer Religionen gefördert wird.24

5.

Neuere Ansätze in der Sozialkapitalforschung

Heilsbotschaften, die sich an die gesamte Menschheit wenden, tragen zur Überwindung von Abgrenzungen durch Herkunft und soziale Unterschiede bei und fördern daher die Produktion von bridging social capital.25 Um den Bereich der Sozialkapitalproduktion außerhalb der eigenen Gruppe baut sich auch die von Alex Stepick, Terry Ray und Sarah J. Mahler eingeführte Kategorie des civic social capitals auf.26 Die Autoren betonen dabei die Notwendigkeit, Sozialkapital als Konzept zur Erklärung von zivilgesellschaftlichen Partizipationsprozessen von Robert Putnams kommunitaristischem Ansatz zu lösen. Dafür werden unter dem Begriff civic social capital jene Kapitalformen verstanden, die das Individuum aus Beziehungen zu der sie umgebenden zivilgesellschaftlichen Sphäre generieren kann.27 Dieser theoretische Rahmen wurde speziell für eine qualitative Untersuchung zu zivilgesellschaftlichem Engagement von Migrant(inn)en im Kontext religiöser Gruppierungen in Miami entworfen. Die Ergebnisse dieser Studie zeichnen ein weitaus differenzierteres Bild von den Effekten religiösen Engagements auf zivilgesellschaftliche Partizipation, als dies etwa in Putnams Thesen der Fall ist. Stepick, Mahler und Rey betonen, dass zwischen verschiedenen Kongregationen und ihrer theologischen wie organisatorischen Beschaffenheit unterschieden werden muss. In den untersuchten Pfingstkirchen etwa entwickelte sich weniger civic social capital als in traditionellen protestantischen oder katholischen Gemeinden.28 Pauschale Aussagen zu den Zusammenhängen zwischen Religion und Sozialkapital lassen sich demnach – auch im Bezug auf zivilgesellschaftliches Engagement von Migrant(inn)en – nicht treffen. Bevor auf mögliche Einflussfaktoren dieser komplexen Verbindungen eingegangen wird, soll zunächst noch eine weitere Kapitalkategorie vorgestellt werden: Religiöses beziehungsweise spirituelles Kapital. 24 Vgl. TRAUNMÜLLER, Richard (2008): Religion als Ressource sozialen Zusammenhalts? Eine empirische Analyse der religiösen Grundlagen sozialen Kapitals in Deutschland. SOEPpapers on Musltidisciplinary Panel Data Research, Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. Beziehungsweise WUTHNOW, Robert (2003): Overcoming Status Distinctions? Religious Involvement, Social Class, Race and Ethnicity in Friendship Patterns. Sociology of Religion, 64, S. 423 – 442. 25 Vgl. Wuthnow 2003. 26 Vgl. Stepick et. al 2009. 27 Stepick et. al 2009, S. 250. 28 Stepick et. al 2009, S. 259.

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6.

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Spirituelles/Religiöses Kapital

Theoretische Überlegungen zu einer eigenen Kapitalform im Kontext von Religiosität/ religiösem Engagement stammen etwa von Bradfort Verter29, Chris Baker/ Hannah Skinner30 und Samuel D. Rima31. Gemein ist den Ansätzen dieser Autor(inn)en wenig. Verter hat einen stark soziologischen Zugang, Baker und Skinner verwenden den Begriff aus theologischer Perspektive und Rima sieht spirituelles Kapital in ökonomischem Kontext. Andere Autor(inn)en versuchen das Konzept zur Erklärung für Religiosität an sich zu nutzen32. So unklar wie das Konzept scheint auch die Benennung des Phänomens: neben spiritual capital sind auch religious social capital33, faith-based social capital34 und religious capital Begriffe, die zumindest ähnlich verwendet werden. Für den Kontext dieses Artikels ist vor allem das Begriffsverständnis von David Voas von Bedeutung, der auch eine der wenigen empirischen Untersuchungen beisteuert (wenngleich sich diese ausschließlich auf quantitative Befragungen zu Church Attendance stützt). »It thus consists of a stock of individual assets such as worldviews, lifestyles, physical markers, mental resources, cultural characteristics and knowledge of doctrines, practices, texts, stories, etc. and also of relational goods that derive from family ties, group membership, communal activity and other connections in social networks.«35

Wie etwa kulturelles oder soziales Kapital erlangt eine Person auch spirituelles Kapital zunächst durch Transmission in der Familie. Es handelt sich aber nicht 29 Vgl. VERTER, Bradford (2003): Spiritual Capital: Theorizing Religion with Bourdieu against Bourdieu. Sociological Theory, 21/ 2, S. 150 – 174. 30 Vgl. BAKER, Chris, SKINNER, Hanna (2006): Faith in Action. The dynamic connection between spiritual and religious capital, URL: http://www.williamtemplefoundation.org.uk/ documents/faith-in-action.pdf [12. 3. 2013]. 31 Vgl. RAM , A. Cnaan, BODDIW, Stephanie C., GAYNOR ,I. Yancey : (2003) Bowling Alone But Serving Together : The Congregational Norm of Community Involvement. In: SMIDT, Corwin (Hg.),. Religion as social Capital. Producing the Common Good. (S. 20 – 31). Waco: Baylor University Press. 32 Vgl. FINKE, Roger (2003): Spiritual Capital: Definitions, Applications, and New Frontiers. Penn State University Prepared for the Spiritual Capital Planning Meeting, October 10 – 11, 2003, URL: http://www.metanexus.net/archive/spiritualcapitalresearchprogram/pdf/finke.pdf [12. 3. 2013]. 33 Vgl. zum Beispiel: COLEMAN, John A. (2003): Religious Social Capital: Its Nature, Social Location, and Limits. In: SMIDT, Corwin (Hg.), Religion as social Capital. Producing the Common Good (33 – 48). Waco: Baylor University Press. 34 Vgl. TRAUNMÜLLER 2011. 35 VOAS, David (2005): Patterns of inheritance of spiritual capital, Unpublished Draft research article, University of Manchester. S.1. Zitiert nach: MIDDLEBROOKS, Anthony, NOGHIU, Alain (2010): Leadership and Spiritual Capital: Exploring the Link between Individual Service Disposition and Organizational Value, International Journal of Leadership Studies, 6/1, S. 67 – 85.

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nur um einen Teilbereich von Sozialkapital, der ausschließlich das Individuum betrifft, sondern um eine Kapitalform, die in ihrer Einordnung komplexer ist, wie etwa Baker und Skinner argumentieren: »Religious capital […] refers to a resource that individuals and faith groups can access for their own personal well-being, but also ›donate‹ as a gift to the wider community. It overlaps with ideas of social capital, but it is also distinctive in some important respects […] It also refers to the holistic vision for change held within an individual person’s set of beliefs.«36

Gerade die hier angesprochene »vision for change« mag ein wesentlicher Aspekt in einem besseren Verständnis von Religion als integrativem Faktor sein, wenn man von Partizipation als Schlüsselelement von Integration ausgeht.

7.

Integration und zivilgesellschaftliche Partizipation

Eine zentrale und weitgehend akzeptierte Annahme ist die Schlüsselrolle von Partizipation für soziale Integration.37 Eine Definition des Integrationsbegriffes aus der integrationspolitischen Praxis (Integrationskonzept der Berliner Stadtregierung) macht dies deutlich: »Allgemein formuliert bildet Integration das Gegenstück zu Segregation oder Ausgrenzung. Übertragen auf die Ebene konkreter Lebenswelten bedeutet Integration, dass Einzelpersonen oder ganze Gruppen gleichberechtigte Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Artikulation ihrer Interessen erhalten und von individueller und kollektiver Ausgrenzung geschützt werden. Integrationspolitik ist im Kern Herstellung von Chancengleichheit.«38

Hier wird deutlich, dass Integration als Verhandlung um (soziales) Kapital und als Möglichkeit zur zivilgesellschaftlichen Partizipation verstanden werden muss. Für jene, die um Chancen zur Teilhabe kämpfen, ist die Anerkennung von Grundrechten und die Beherrschung der Nationalsprache Voraussetzung dafür, in die Verhandlung um (soziales) Kapital einzutreten. Entsprechend gängiger Unterscheidungen verschiedener Aspekte von Integration umfassen diese Voraussetzungen vor allem die Bereiche der strukturellen und systemischen Integration (etwa in den Bereichen Arbeitsmarkt und Bildung) und bestimmte 36 Baker und Skinner 2006, S.11 f. 37 Dazu zum Beispiel CYRUS, Norbert (2008): Politische Integration von EinwanderInnen. Heinrich Böll Stiftung, http://www.migration-boell.de/web/integration/47_1778.asp [22. 12. 2012]. 38 PIENEING, Günter (2005): Integrationskonzept des Berliner Beauftragten für Integration und Migration. Berlin, URL: http://www.berlin.de/imperia/md/content/sengsv/intmig/ doku/integrationskonzept.pdf [25. 1. 2013].

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Aspekte der kulturellen Integration (Sprache, Werte, Einstellungen, Lebensstile).39 Für soziale Integration (die sich in erster Linie auf Netzwerke, Beziehungen sowie Beteiligung am gesellschaftlichen Leben bezieht) kann zivilgesellschaftliche Partizipation als wesentlich betrachtet werden. Zivilgesellschaft kann als Sphäre zwischen Privatheit, Markt und Staat, in der der öffentliche Diskurs stattfindet, verstanden werden, der bestimmte Handlungslogiken innewohnen40. Zivilgesellschaftliche Partizipation ist demzufolge als das diesen Handlungslogiken entsprechende Agieren im zivilgesellschaftlichen Raum zu verstehen. Wichtig für die Fragestellung dieses Artikels nach der Rolle von Religion in Integrationsprozessen ist ein Verständnis davon, unter welchen Umständen Gruppen und Individuen in der zivilgesellschaftlichen Sphäre partizipieren. Daher soll im Folgenden auf theoretische Konzepte zum Verständnis von Partizipationsprozessen eingegangen werden.

8.

Religion und Partizipation

Die zuvor erwähnte Bezeichnung von Religionsgemeinschaften als »Katalysatoren zivilgesellschaftlichen Engagements« soll nun in den Blick genommen werden. Dabei ist zunächst die Frage zu stellen, was unter Religionen in diesem Kontext verstanden wird. Zum einen spielen die auch im Kontext der Kapitalform des religiösen Kapitals bereits genannten Glaubensinhalte und daraus abgeleitete Verhaltensnormen eine Rolle für zivilgesellschaftliches Engagement.41 Wesentliche Voraussetzung, um Religion als integrativ im Sinne von partizipationsfördernd zu betrachten, ist aber das Bestehen einer religiösen Gemeinschaft. Sigrid Roßteuetscher, die eine der wenigen empirischen Untersuchungen zu Religion und Sozialkapital im deutschsprachigen Raum durchgeführt hat, betont die Funktionen, die religiöse Organisationen – im Sinne von Gemeinschaftlichkeit abseits der konkreten Religionsausübung – übernehmen: »Eine Sozialkapital- oder zivilgesellschaftliche Perspektive benötigt den Blick auf Vereine, Netzwerke, Gruppen und Organisationen, die um die Kirchen und Glaubensrichtungen herum entstehen.«42 39 Vgl. SCHNUR, Olaf (2008): Gute Beziehungen, schlechte Beziehungen: Lokales Sozialkapital und soziale Integration von Migranten im Quartier, vhw FW 3 / Juni – Juli 2008, S. 139. 40 Für eine Überblicksdarstellung zur komplexen Debatte um den Begriff Zivilgesellschaft siehe zum Beispiel: SCHADE, Janette (2009): »Zivilgesellschaft« Eine vielschichtige Debatte, INEF-Report 59, Duisburg. 41 Traunmüller 2008, S.7. 42 ROSSTEUTSCHER, Sigrid (2006): Religion, Zivilgesellschaft, Demokratie. Eine international vergleichende Studie religiöser Märkte und der demokratischen Rolle religiöser Zivilgesellschaften. Baden-Baden: Nomos, S. 23.

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Religiöse Gemeinschaften sind demnach der Ort, an dem Religion potenzielles integratives Potenzial entwickelt. Trotz einer generellen Eignung von religiösen Gemeinschaften zur Förderung von sozialer Integration durch die Ermöglichung von zivilgesellschaftlicher Partizipation kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Involvierung in eine solche Organisation automatisch auch soziale Integration mit sich bringt.

8.1.

Bedingungen für Partizipation

Das civil voluntarism model nach Verba et al.43 bietet hier ein generelles Erklärungsmodell für die Motivation zu zivilgesellschaftlichem Engagement. Mittels drei wesentlicher Aspekte wird zunächst die Frage danach beantwortet, warum sich jemand nicht zivilgesellschaftlich engagiert: »because they can’t; because they don’t want; because nobody asked;« In der social movement theory entwickelte Kenneth D. Wald ähnliche Kategorien in der Frage nach religiös motiviertem, zivilgesellschaftlichem Engagement und betont die Wichtigkeit eines besseren Verständnisses dieser Elemente: »Like homicide detectives, scholars of religion and politics need to understand motive, means, and opportunity : the motives that draw religious groups into political action, the means that enable the religious to participate effectively, and the opportunities that facilitate their entry into the political system.«44

Wald geht also von drei wesentlichen Faktoren aus: Motiven, Mitteln und Gelegenheiten. Eine der Voraussetzungen für zivilgesellschaftliche Partizipation ist demnach die Verfügbarkeit von Mitteln, den grundlegenden Fähigkeiten um partizipieren zu können. Mittel zur Partizipation werden in der neueren wissenschaftlichen Diskussion als civic skills bezeichnet: »Sogenannte ›civic skills‹ sind allgemeine soziale und kommunikative Fähigkeiten (Briefe schreiben, Versammlungen leiten, ein Argument vor Zuhörern präsentieren etc.), die zunächst unpolitischen Charakter besitzen und auch in un- oder vorpolitischen Institutionen wie der Schule, Universität, Arbeitsplatz oder eben der religiösen Organisation erworben werden.«45

Auch wenn diese Fähigkeiten zunächst nicht besonders relevant wirken, sind sie doch die Grundvoraussetzung für jede Art von gesellschaftlicher Partizipation. Civic skills umfassen das Wissen, die Fähigkeiten und die Einstellungen, die 43 Vgl. VERBA, Sidney, SCHLOZMAN, Kay Lehman, BRADY, Henry (1995): Voice and equality : civic voluntarism in American politics. Cambridge: Harvard University Press. 44 WALD, Kenneth D., SILVERMAN, Adam, FRIDY, Kevin (2004): Making sense of Religion in political Life. Annual Review of Political Science, 8, S. 124. 45 Rossteutscher 2006, S. 38.

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Menschen brauchen, um eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen und aktive Bürger(innen) zu sein.46 Betreffend Gelegenheiten zur Partizipation ist das Vorhandensein von Sozialkapital, insbesondere in Form von Beziehungen und Netzwerken außerhalb der Gruppe (also je nach Terminologie eine Kombination aus linking und bridging social capital oder die spezifisch auf die Frage nach zivilgesellschaftlicher Partizipation gemünzte Kategorie des civic social capital) zentrale Voraussetzung. Wie eine Reihe von Untersuchungen gezeigt hat, können religiöse Organisationen Entstehungsort für gerade diese Art von Beziehungen und dem daraus resultierenden Sozialkapital sein. Wenn civic skills als Mittel und Sozialkapital als Eröffnung von Gelegenheiten zur Partizipation verstanden werden, bleibt die Frage nach möglichen Motiven. Dazu soll das zuvor vorgestellte Konzept des religiösen/spirituellen Kapitals herangezogen werden. Obwohl in der Debatte um diese Kapitalform einige Unklarheiten auftreten, scheint zumindest klar zu sein, dass der Zugang zu spirituellem Kapital dem Individuum und der Gruppe Motive verschafft, um zivilgesellschaftlich partizipieren zu können. Religion, und mit ihr spirituelles Kapital, offeriert Werte, die dem/der Gläubigen die Möglichkeit zur Orientierung und Bildung von Meinungen bietet. Wenn also civic skills mitunter dazu befähigen, Argumente nach außen zu vertreten und durch die Beteiligung in einer religiösen Organisation unter anderen Gelegenheiten zur Vertretung von Argumenten entstehen, so bietet religiöses/ spirituelles Kapital eine Möglichkeit zur Entwicklung dieser Argumente.

8.2.

Potenziale und Gefahren religiösen Engagements

Die Anwendung von Theorien zu zivilgesellschaftlichem Engagement zeigen deutlich, dass religiöse Gemeinschaften alle Voraussetzungen bieten um a) Menschen zu Engagement zu rekrutieren und ihnen die dazu notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, b) Gelegenheiten zur Partizipation durch die Möglichkeiten zur Generierung von notwendigem Sozialkapital zu eröffnen und c) durch die aus religiösen Inhalten abgeleiteten gemeinsamen Wertvorstellungen Motive zur Partizipation zu schaffen. Was in der Sozialkapitaldiskussion jedoch häufig vernachlässigt wird, ist die Ausrichtung der entstehenden Beziehungen und Netzwerke. Im Besonderen Robert Putnams geradezu euphorische Darstellung von Sozialkapital als Schlüssel zu Demokratie und Frieden blendet aus, dass sich Netzwerke auch immer gegen das Gemeinwohl (im Sinne von fried46 EUROPEAN COMMISSION (2010): Research and analysis: civic skills. URL: http://ec.europa.eu/education/lifelong-learningpolicy/doc2433_en.htm [22. 1. 2013].

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lichem gesellschaftlichem Zusammenleben) richten können.47 Ein Beispiel wären etwa mafiöse Strukturen. In Bezug auf Religion kommen hier vor allem solche als fundamentalistisch klassifizierte Strömungen in den Sinn, die gegen Toleranz in Bezug auf nicht mit ihren Werten zu vereinbarenden Lebensformen eintreten.

9.

Methodische Anmerkungen

Die Betrachtung der Zusammenhänge von Religion und Integration aus kapitaltheoretischer Perspektive ist nicht zuletzt aufgrund dieser verschiedenen möglichen Wirkmechanismen komplexer als es zunächst scheint. Ohne den begrenzten Rahmen dieses Beitrags zu sprengen, soll darum nur kurz auf methodische Schwierigkeiten in der Untersuchung von social capital in religiösen Gruppen eingegangen werden. Die überwiegende Mehrheit der empirischen Forschungsprojekte nutzt quantitative Methoden der Sozialforschung, um Sozialkapital zu »messen«. Dazu werden etwa so genannten Namensgeneratoren, Statistiken zur Besuchshäufigkeit von religiösen Einrichtungen oder ähnlich quantifizierbare Daten erhoben. Die Interpretation der so erlangten Ergebnisse ermöglicht zwar die Feststellung einer generellen Tendenz im Zusammenhang von Religion und der Generierung von Sozialkapital, kann diese jedoch in keinster Weise erklären und ignoriert gleichzeitig den jeweiligen Kontext. Qualitative Untersuchungen stellen weitaus differenziertere Diagnosen und geben auch Anlass, die pauschal angenommene Verbindung von Religion und Sozialkapitalgenerierung zu hinterfragen, verunmöglichen allerdings Verallgemeinerungen. Daher ist es notwendig, bei der Wahl von methodischen Zugängen in der Sozialkapitalforschung genau abzuwägen, welche Art von Aussagen nach erfolgter Untersuchung getroffen werden sollen. Die Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden stellt wohl gerade im Kontext von Religion einen sinnvollen Zugang dar.

10.

Fazit

Durch die Diskussion aktueller Theoriekonzepte wurde in diesem Artikel versucht, das integrative Potenzial von Religionen aufzuzeigen. Die Teilnahme an religiösen Gemeinschaften birgt ein solches Potenzial, kann jedoch nicht per se 47 Vgl. dazu zum Beispiel: WARREN, Mark E. (2008): The nature and logic of bad social capital. In CASTIGLIONE, Dario (Hg.), The Handbook of Social Capital. (S. 122 – 150), New York: Oxford University Press.

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als integrativ verstanden werden, da es sich bei Integration im Sinne der Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe um ein voraussetzungsvolles Unterfangen handelt. Gerade im Hinblick auf Religionen im Kontext von Migrationsprozessen – und noch präziser im Bezug auf muslimische Migrant(inn)en – kann die Betrachtung von Religionsgemeinschaften als potenzielle Orte der Erlangung der notwendigen Motive, Mittel und Gelegenheiten um zu partizipieren eine vielversprechende Perspektive aufzeigen. Hier kann auch ein noch wenig erkundetes Forschungsgebiet für die Religionswissenschaft verortet werden, dessen eingehende Untersuchung von gesamtgesellschaftlicher wie politischer Relevanz wäre. Nicht zuletzt kann eine Betrachtung des Islam als integrativer Faktor einen überwiegend negativ geführten Diskurs positiv beeinflussen und dadurch vielleicht auch einen Beitrag zu einem toleranteren Miteinander in den religiös plural gewordenen Gesellschaften Europas leisten.

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Was verbindet, trennt zugleich. Die sozialpsychologische Social Identity Theory zur Erklärung von religiösen Identitäten und interreligiösen Konflikten

1.

Integrationsfunktion von Religionen?!

Wo von Religion als sozialer Tatsache im Sinne Emile Durkheims gesprochen wird, kann auch von ihrer Integrationsfunktion nicht geschwiegen werden.1 Was Durkheim anhand von Ritualen im australischen Totemismus diskutiert, wendet Robert Bellah neben anderen mit dem Begriff Zivilreligion auf zeitgenössische, ausdifferenzierte Nationalstaaten an:2 Religion sei eine »Kraft« außerhalb des Einzelnen, die ihn mit anderen Menschen verbinde. Der Effekt der sozialen Tatsache Religion auf das Verhalten des Einzelnen wird soziologisch mit Sozialisationsprozessen und dem Einfluss von Autoritäten sowie mittels – auch sprachlicher – Symbole und Embodiment beschrieben.3 Die oder eine Religion wird in diesem Zusammenhang als Akteur oder »unabhängige Variable«4 betrachtet. Im Folgenden sollen Religionen vor allem anhand einer weiteren – der psychologischen – Analyseebene erforscht und als psychosoziale Tatsache betrachtet werden. Die soziale Integrationsfunktion von Religionen wird hier als definierter Rahmen gesetzt. Diese spezifische Funktion von Religionen wird nicht als in die Gesellschaft integrierend betrachtet, sondern als Integrationsfunktion in der Gesellschaft. Wohin integrieren Religionen die Menschen in 1 »Die Religion bekommt damit einen Sinn und einen Grund, [… Sie ist] ein Begriffssystem, mit dessen Hilfe sich die Menschen die Gesellschaft vorstellen, deren Mitglieder sie sind, und die dunklen, aber engen Beziehungen, die sie mit ihr haben. Das ist ihre Hauptrolle.« DURKHEIM, Emile (1994): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 309 (Ergänzung von der Verfasserin). 2 Vgl. BELLAH, Robert N. (1975): The broken covenant. American civil religion in time of trial. Chicago: University of Chicago Press; vgl. McGUIRE, Meredith B. (2002): Religion. The social context. London: Wadsworth Thomson Learning, S. 202 – 208. 3 Vgl. McGUIRE 2002, S. 198 f. 4 Vgl. Kapitel 7 »Religion als unabhängige Variable. Wirkungen von Religion auf den Lebensalltag« in PICKEL, Gert (2011): Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 393 – 437.

62

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einer religionspluralen Gesellschaft und welche psychosozialen Prozesse sind dabei relevant? Mögliche Antworten auf diese Frage sollen vor allem anhand der Social Identity Theory diskutiert werden.

2.

Die Social Identity Theory

Die Social Identity Theory erklärt, wie die Identifikation mit einer Gruppe, das Selbstwertgefühl und die Abgrenzung zu einer Fremdgruppe miteinander zusammenhängen: Um den eigenen Selbstwert zu steigern, ordnen Menschen sich einer Gruppe mit einem möglichst hohen Status in der Gesellschaft zu; um den sozialen Wert der eigenen Gruppe (ingroup) zu stützen, werden alle anderen (outgroup) abgewertet.5

2.1

Grundlagen der Social Identity Theory im Minimalgruppenparadigma

Soziale Gruppe ist hier im Sinne des Minimalgruppenparadigmas definiert: Dieser Effekt der Fremdgruppenabwertung zur Selbstwertsteigerung tritt bereits dann auf, wenn jemand sich einer abstrakten sozialen Kategorie zuordnet, ohne notwendig in Kontakt mit Mitgliedern der eigenen oder der anderen Gruppe zu sein. Es genügt, dass ein Mensch sich selbst kategorisiert und sich dadurch von anderen Menschen zu unterscheiden bemüht. Dabei kann es sich um ethnische Zugehörigkeit, sowie um die Identifikation mit politischen Gruppen und Systemen, aber auch um Gruppen mit dem sozialen Geschlecht als Identifikationsmerkmal handeln. Auch die Religionszugehörigkeit ist eine solche soziale Kategorie, die die Gruppenzugehörigkeit und damit den sozialen Status und das Selbstwertgefühl eines Menschen bestimmt, ohne dass notwendig ein direkter Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern bestehen muss. Anhand der sozialen Identität bestimmt ein Mensch zusammen mit der personalen Identität, die unter anderem durch Persönlichkeitseigenschaften, Fertigkeiten und Vorlieben bestimmt ist, was ihn von anderen unterscheidet und einzigartig macht und auch, was das Wesen seiner Person ausmacht. Bewertet 5 Vgl. TAJFEL, Henri, TURNER, John C. (1979): An integrative theory of intergroup conflict. In: AUSTIN, William G., WORCHEL, Stephen (Hg.). The social psychology of intergroup relations (S. 33 – 47). Pacific Grove: Brooks/Cole; und vgl. HASLAM, S. Alexander, ELLEMERS, Naomi, REICHER, Stephen D., REYNOLDS, Katherine J., SCHMITT, Michael T. (2010): The social identity perspective today. An overview of its defining ideas. In: POSTMES, Tom, BRANSCOMBE, Nyla R. Branscombe (Hg.), Rediscovering social identity (S. 341 – 356). New York: Psychology Press.

Was verbindet, trennt zugleich

63

die Person diese Elemente positiv, so entsteht ein hohes Selbstwertgefühl und damit einhergehend Wohlbefinden. Die soziale Identität lässt sich bewusst steuern, indem ein Mensch sich einerseits einer statushohen Gruppe zuordnet. Zudem kann man die positiven Eigenschaften betonen, sodass man der Gruppe und sich selbst einen höheren Status verschafft. Andererseits genügt es, die Nicht-Gruppenmitglieder mit abwertenden Attributen zu versehen, um sich genügend von ihnen abzugrenzen. Und schließlich kann man sich auch innerhalb einer Gruppe durch die Zugehörigkeit zu einer relativ statushöheren Subgruppe ein positiveres Selbstbild verschaffen.6 Diese Effekte zeigen sich im Alltag in Stereotypen, Vorurteilen und diskriminierendem Verhalten. Religionen integrieren die Einzelnen zunächst in verschiedene Religionsgruppen oder -kategorien. Wenn eine Selbstkategorisierung zu einer Religion für die Identität einer Person relevant wird, werden Nicht-Zugehörige zu dieser Religionskategorie (outgroup members) abgewertet. Für eine religionsplurale Gesellschaft beschreibt die Social Identity Theory Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Zwar verortet eine Religionszugehörigkeit den Einzelnen in einer Sozialgemeinschaft und stiftet dessen soziale Identität, doch grenzt die Zugehörigkeit zu dieser religiösen Kategorie zugleich von sich unterscheidenden religionsbezogenen Kategorien in dieser Sozialgemeinschaft ab. Wo Religionen in der religionspluralen Gesellschaft integrierend wirken, sind sie zugleich desintegrierend.

2.2

Social Identity und der soziale Kontext

Die kognitiven Prozesse der Selbstkategorisierung werden vom sozialen Kontext entscheidend bestimmt. Die Studien im Realgruppenparadigma von Muzafer und Carolyn Sherif belegen die Effekte der sozialen Identitätstheorie anhand aktiver Einflussnahme auf die Gruppenidentität. Darüber hinaus beschreibt die Selbstkategorisierungstheorie eine Wechselwirkung verschiedener Hinweisreize aus der Umwelt, die zu unterschiedlichen Selbstkategorisierungen führen. 2.2.1 Realgruppenparadigma Im Realgruppenparadigma wurde die Unterscheidung zwischen ingroup und outgroup in einer realen Situation hergestellt. Sozialpsychologen sprechen hier 6 Vgl. ULLRICH, Johannes, VAN DICK, Rolf, STEGMANN, Sebastian (2011): Intergruppenbeziehungen. In: FREY, Dieter, BIERHOFF, Hans-Werner Bierhoff (Hg.), Sozialpsychologie. Interaktion und Gruppe (S. 265 – 284). Göttingen: Hogrefe.

64

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von einem Feldexperiment. Dabei wurden elfjährige Jungen aus der weißen Mittelschicht in einem Ferienlager in zwei Gruppen eingeteilt. Im Verlauf der Ferienlagerzeit organisierten die Experimentatoren und Mitarbeiter im Ferienlager verschiedene Wettbewerbssituationen wie Sportwettkämpfe. Bereits nach wenigen Tagen identifizierten sich die Jungen mit der eigenen Gruppe und werteten Mitglieder der anderen Gruppe und auch die Eigenschaften der anderen Gruppe ab. Schließlich schufen die Sozialpsychologen eine Situation, in der die Kinder um eine knappe Ressource konkurrierten: Bei einem Grillfest wurde leckeres Essen für die Hälfte aller Kinder angerichtet, während sonst nur ungenießbare Lebensmittel bereitstanden. Zudem durfte eine der beiden Gruppen früher zum Buffet als die andere. An diesem Abend eskalierte der Konflikt zwischen den Gruppen, indem sich die Kinder stritten und mit dem Essen bewarfen. Danach versuchten die Sozialpsychologen wieder ein friedliches Miteinander im Ferienlager herzustellen, was kaum möglich war. Sie organisierten verschiedene Situationen, in denen Kinder aus den beiden Gruppen miteinander kooperieren mussten. So sollten die Kinder zum Beispiel gemeinsam den Ferienlagerbus anschieben, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern. Der friedliche Umgang stellte sich aber erst langsam ein. Das Experiment zeigte, dass die soziale Identität aufgrund zufälliger Auswahl und willkürlicher Gruppenzuordnung sehr schnell hergestellt werden kann. Die künstlich geschaffenen sozialen Kategorien manifestieren sich im Erleben und Verhalten der Beteiligten. Zudem werden Ingroup-outgroup-Phänomene durch Wettbewerbssituationen und Ressourcenkonflikte verstärkt. Lediglich ein Zwang zur Kooperation im Sinne einer Identifikation mit einer gemeinsamen sozialen Kategorie konnte das feindselige Verhalten mindern.7 Zudem ist an diesem Experiment bemerkenswert, dass die Gruppenmitglieder sich nicht in Geschlecht, Alter, sozialem Status oder ethnischer Zugehörigkeit unterschieden. Die Einteilung in die jeweilige Gruppe im Ferienlager war das entscheidende Unterscheidungskriterium.

2.2.2 Weitere psychische Mechanismen aus der Selbstkategorisierungstheorie Im Alltag sind die Möglichkeiten zur Identifikation wesentlich komplexer. Welche der vielen möglichen sozialen Kategorien für den Vergleich verwendet wird, kann anhand von drei Prinzipien bestimmt werden, die unter anderem in der Selbstkategorisierungstheorie beschrieben werden: komparative Passung, normative Passung und kognitive Verfügbarkeit. Alle drei Prinzipien der 7 Vgl. SHERIF, Muzafer, SHERIF, Carolyn W. (1979): Research on intergroup relations. In: AUSTIN, William G., WORCHEL, Stephen (Hg.), The soical psychology of intergroup relations. Monterey : Brooks/Cole.

Was verbindet, trennt zugleich

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Selbstkategorisierung können einander auch ergänzen und sich dabei gegenseitig verstärken.8 Komparative Passung heißt, dass sich die eigene Gruppe möglichst stark von der anderen unterscheiden sollte. Das heißt, dass sichtbare Unterscheidungsmerkmale wie Alter, Geschlecht oder Dialekt im direkten Kontakt mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Gruppenidentifikation führen als eine nicht durch äußere Merkmale gekennzeichnete Religionszugehörigkeit. Normative Passung bezeichnet die Art der Gruppenbildung, die im gegebenen Kontext am sinnvollsten erscheint. Westliche Konvertiten zum Sikhismus tragen bewusst die Insignien der Sikhzugehörigkeit möglichst sichtbar (5K oder khalsa): ungeschnittenes Haar (kesh), ein hölzerner Kamm (kanga), ein metallener Armreif (kara), eine spezifische Unterwäsche (kachera) und ein gebogener Kurzdolch (kirpan). Sikh-Migranten, deren nichtwestliche Ethnie deutlich ist, verbergen diese Zeichen eher.9 Kognitive Verfügbarkeit heißt, dass eine bestimmte soziale Kategorie schnell verfügbar ist, weil sie von der Person oder im Kontext häufig gebraucht wird oder sie früh in der Kindheit erworben wurde. Je häufiger beispielsweise in den Medien auf die Unterschiede zwischen Muslimen und Christen verwiesen wird, desto präsenter sind diese sozialen Kategorien und desto leichter dienen sie als Unterscheidungskriterium und damit Identifikationsmerkmal. Selbst die gute Absicht, über die fremde Religion in positiver Weise zu informieren, kann die Ingroup-outgroup-Phänomene durch die häufigere Aktivierung der Selbstkategorisierung verstärken und Vorurteile fördern, wenn dabei die Unterschiedlichkeit und nicht das Gemeinsame betont wird.

3.

Soziale Einflüsse auf die Selbstkategorisierung

Die verschiedenen Prinzipien der Selbstkategorisierung zeigen, wie die soziale Identität aufgrund unwillkürlicher Mechanismen entsteht oder betont wird. Darüber hinaus können Akteure bewusst ihre eigene soziale Kategorie wechseln. Oder der Inhalt und Umfang einer sozialen Kategorie kann für eine Diskurs8 Vgl. TURNER, John C., HOGG, Michael A., OAKES, Penelope J., REICHER; Stephen D., WETHERELL, Margaret S. (1987): Rediscovering the social group. A self-categorization theory. New York: Blackwell. 9 Vgl. JAKOBSH, Doris R. (1999): Conversion in the Sikh tradition. In: LAMB, Christopher, BRYANT, M. Darrol Bryant (Hg.), Religious conversion. Contemporary practices and controversies (S. 166 – 174). London: Cassell; und vgl. SCHRÖDER, Anna-Konstanze (2012): Rituale zur Konversion in den Religionen der Welt. In: LAUDAGE-KLEEBERG, Regina, SULZBACHER, Hannes (Hg.), Treten Sie ein! Treten Sie Aus! Warum Menschen Ihre Religion wechseln (S. 76 – 83). Berlin: Parthas.

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gemeinschaft verändert werden. Solche Prozesse der Identitätsarbeit beschreibt Günter Schlee in seinem Buch »Wie Feindbilder entstehen«.10

3.1

Taxonomie sozialer Kategorien

Laut Schlee muss bei einem Wechsel der sozialen Identität nicht notwendig die Sozialgemeinschaft gewechselt werden. Denn die gleichzeitig möglichen sozialen Kategorien sind in Taxonomien strukturiert. Dabei verhalten sich verschiedene Identitäten zueinander zum einen »paradigmatisch«: Eine soziale Kategorie wird betont, während andere abgeschwächt werden; so thematisiert ein Frauenbeauftragter vor allem das weibliche Geschlecht als Ursache von Benachteiligung, obgleich auch eine weniger gebildete Herkunftsfamilie oder ein Migrationshintergrund oder die Religionszugehörigkeit sogar stärkere Benachteiligungen nach sich ziehen können. Zum anderen stehen soziale Kategorien in einem »syntagmatischen« Verhältnis: Mehrere soziale Kategorien sind gleichzeitig aktiv ; wie zum Beispiel eine atheistische Sorbin mit deutscher Staatsbürgerschaft. Und drittens können verschiedene soziale Kategorien unterschiedliche Inklusivitätsgrade haben, wie ein Angehöriger der Fokularbewegung zugleich römisch-katholischer Konfession ist und einer christlichen Religion angehört.

3.2

Strategien des Identitätswechsels: Appell und Switching

Nach Schlee kann jeder Akteur mittels der zwei Mechanismen »Switching« und »Appell« seine soziale Identität im Rahmen der sozialkategorischen Taxonomie wählen. Beim Switching geht es darum, dass jemand von der ingroup zu einer outgroup wechselt. Die Person wählt zwischen zwei Kategorien, die nicht ineinander integriert werden können, so zum Beispiel der Wechsel zwischen zwei religiösen Traditionen wie Islam und Christentum. Im Mechanismus des Appells kann durch Rhetorik die Zugehörigkeit zu einer übergeordneten Gruppe betont werden. So kann ein Mitglied einer speziellen religiösen Gruppe, wie einer Baptistengemeinde, betonten, zu den Christen zu gehören. Diese beiden Mechanismen werden mit unterschiedlichen Zielen angewandt: Statusgewinn im Sinne der Social Identity Theory als ein eher individuelles Anliegen; aber auch Koalitionsbildung zur Vermeidung oder Befriedung von Konflikthandlungen als ein dynamischer Intergruppenprozess. Ein Mensch 10 Vgl. SCHLEE, Günther (2006): Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte (S. 51 – 63). München: C.H. Beck.

Was verbindet, trennt zugleich

67

gewinnt auch dadurch einen höheren Status, dass er oder sie zu einer exklusiveren (also kleineren) Gruppe gehört. Wenn sich also jemand zum Christentum zählt, die Person aber einen besonders hohen Status haben möchte, indem sie sich von besonders vielen anderen Gruppen abgrenzt und der eigenen Gruppe einen Elitestatus zuschreibt, ist es aus ihrer Sicht zielführender zu betonen, wie im oben genannten Beispiel, zu den Baptisten zu gehören und damit andere Christen als Mitglieder der outgroup abzuwerten.11

3.3

Cross-cutting ties durch die Gleichzeitigkeit mehrerer sozialer Kategorien

Die Prozesse des Switching und Appell ermöglichen, dass es Koalitionssysteme über soziale Kategorien hinweg geben kann. Schlee sieht darin den entscheidenden Grund, dass durch solche »cross-cutting ties« die gewaltsame Eskalierung von Konflikten verhindert werden kann. Aber selbst nach einer Eskalation ist eine Befriedung möglich oder muss gar notwendig entstehen: »Durch die Tatsache, dass wir multiple Kriterien für das Etablieren von sozialen Gruppen und Kategorien verwenden und dass diese einander überlappen können, müssen wir immer darauf gefasst sein, dass unsere Gegenüber in dem einen Kontext unsere Gegner, in einem anderen Kontext unsere Verbündeten sein können.«12 Dementsprechend können kontextspezifisch solche verbindenden Kategorien der sozialen Taxonomie betont werden, die Mitglieder einer früheren ingroup und outgroup integrieren, so zum Beispiel die gemeinsame Nationalität anstelle verschiedener Religionszugehörigkeiten. Für das religiöse Feld wird dies vor allem von Hans Küng und anderen Vertretern des »Projekt Weltethos« angestrebt13 oder auch im Umfeld von Vertretern des »Interreligiösen Dialogs« und der »Praktischen Religionswissenschaft«14 diskutiert. Diesem löblichen Anliegen widerspricht das Selbstkategorisierungsprinzip der normativen Passung. Nicht jede soziale Kategorie ist in gleicher Weise wählbar und verfügbar. Dies wird im Folgenden anhand der Wirk-

11 Diese ökonomischen Aspekte im Sinne von Kosten-Nutzen-Kalkülen der Gruppenwahl nehmen in Schlees Ansatz tatsächlich einen gleichberechtigten Stellenwert neben den sozionormativen Begründungen ein. 12 Vgl. SCHLEE 2006, 58. 13 Vgl. KÜNG, Hans, KUSCHEL, Karl-Josef (2010): Die Ringparabel und das Projekt Weltethos. Göttingen: Wallstein-Verlag. 14 Vgl. KLÖCKER, Michael, TWORUSCHKA, Udo (2008): Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf. Köln: Böhlau.

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mächtigkeit von religiösen Wahrheitsansprüchen und auch anhand der religiösen Legitimierbarkeit von Gewalt gegenüber anderen Religionen gezeigt.

4.

Desintegrierende Effekte des sozialen Identitätsmarkers Religion

Neben den psychischen Mechanismen, wie sie in der Social Identity Theory beschrieben werden, und den Strategien sozialer Zuordnung von Akteuren im sozialen Raum werden für Religionen spezifische Eigenschaften beschrieben, welche die Wahl und die Wählbarkeit der sozialen Identitätskategorie Religion beeinflussen. Im Folgenden wird ausführlich auf den Absolutheitsanspruch von Religionen und die religiös legitimierte Gewalt eingegangen.

4.1

Absolutheitsansprüche und rhetorische Ausweichstellen zur Konfliktvermeidung

Peter Schalk15 stellt fest, dass es in allen Religionen einen Wahrheitsanspruch gibt, auch dort, wo er explizit geleugnet wird. Das gilt zum Beispiel für den Buddhismus16 oder in der Wicca-Bewegung:17 Oftmals wird hier argumentiert, dass es keinen Wahrheitsanspruch in dieser Gruppe gebe, da sie eine für alle übergeordnete Wahrheit beinhalte, die alle anderen Wahrheiten integriere; oder sie sei tolerant gegenüber anderen Weltanschauungen, weil sie keinen Missionsanspruch habe. Zudem begründet Schalk auch für ethnische Religionen einen universalistischen Absolutheitsanspruch, der zwar auf einen bestimmten soziokulturellen Raum beschränkt ist, der darüber hinaus aber das Zentrum eines weltumfassenden Universums darstelle, dem andere Ethnien oder Weltanschauungen untergeordnet werden. Dabei stellt Peter Schalk auch fest, dass die Abgrenzung zu anderen Wahrheitsansprüchen nicht notwendig mit Gewalt verbunden sein muss. Vielmehr 15 Vgl. SCHALK, Peter (2009): Ist Konvivenz zwischen Religionen möglich? In: HASE, Thomas, GRAUL, Johannes, NEEF, Katharina, ZIMMERMANN, Judith (Hg.), Mauss, Buddhismus, Devianz. Festschrift für Heinz Mürmel zum 65. Geburtstag (S. 451 – 467). Marburg: Diagonal Verlag. 16 Ergänzend zu den Ausführungen bei Schalk 2009 vgl. FREIBERGER, Oliver, KLEINE, Christoph (2011): Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 465 – 467. 17 Vgl. ARTHUR, Shawn (2008): Proselytization or information? Wicca and internet use. In: HACKETT, Rosalind I. J. (Hg.), Proselytization revisited. Rights talk, free markets and culture wars (S. 409 – 430). London: Equinox.

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kommt von religiösen Spezialisten für den Konfliktfall eine Rhetorik der Ausweichstellen zum Einsatz: (1) Statt von einem Absolutheitsanspruch wird von der Festigkeit des eigenen Standpunktes gesprochen, um eine entsprechende religiöse Überlegenheitshaltung als unmoralisch abzuwerten, ohne sie tatsächlich verlassen zu müssen. (2) Der Absolutheitsanspruch und eine Einladung zur Übernahme der missionierenden Position werden angestrebt, aber eine entsprechende Reaktion kann durchaus in der Zukunft erfolgen, sodass ein möglicher Konfliktfall zeitlich verschoben wird. (3) Den eigenen Ansichten wird ein sehr unspezifischer Absolutheitsanspruch zugeschrieben. Weil dieses Absolute (wie etwa Liebe im Christentum oder Gerechtigkeit im Judentum) aber grundsätzlich aus moralischen Gründen positiv zu bewerten ist, braucht es nicht notwendig wegen seiner Ausschließlichkeit abgelehnt werden. (4) Explizit formulierte Absolutheitsansprüche in den religiösen Schriften werden umgedeutet. (5) Wahrheit als ontologisches Attribut wird relativiert, sodass der eigenen Religion zwar absolute Wahrheit zugeschrieben wird, aber andere Religionen durchaus mehr oder weniger wahre Anteile innehaben können.18 Dieses letztgenannte Argument bezeichnet Schalk auch als inklusiven Pluralismus. Dem setzt er das Konzept des exklusiven Pluralismus entgegen, der die Einzigartigkeiten verschiedener Religionen nebeneinander stellt und eine Missionsrhetorik zwar nicht aufhebt, aber sie mit weniger feindseliger Rhetorik formulieren lässt. Zudem beschreibt Schalk, dass Formulierungen zu Menschenrechten oder einer globalen Ethik den Absolutheitsanspruch verschweigen, was den Wertrelativismus einer säkularen, globalen, intellektuellen Elite widerspiegelt.19 Mit der Eigenschaft von Religionen, universale Wahrheit zu beanspruchen, werden die psychischen Prozesse sozialer Identifikation mit inhaltlichen Argumenten versehen: Die outgroup ist abzuwerten, weil ihre Position weniger wahr oder unwahr ist. Selbst dort, wo in einer Hierarchisierung verschiedener Religionen (inklusiver Pluralismus) eine Taxonomie religiöser Identitäten konstruiert wird, wird der eigenen Position eine universalistische Überlegenheit zugeschrieben. Die von Schalk aufgeführten rhetorischen Mittel zur Konfliktvermeidung zielen vor allem auf eine Abschwächung der outgroup-Abwertung und damit eine Verringerung der komparatistischen Passung ab, ohne sie tatsächlich aufzuheben. Das führt dazu, dass Religionen seltener der primäre Identitätsmarker sind, wie Schalk es ja für politische Texte zu den Menschenrechten darstellt und zugleich als Werterelativismus kritisiert: An der Spitze der Hierarchie eines inklusiven Pluralismus stehen säkulare Wertbegründungen. 18 Diese Hierarchisierung von Wahrheitsansprüchen führt SCHALK 2009 aus: Während dies in der Wissenschaftsgeschichte der Religionsforschung bereits als Fortschritt gegenüber Absolutheitsansprüchen eingeführt wurde, wird es heute als Orientalismus abgelehnt. 19 Vgl. SCHALK 2009.

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Demzufolge können Religionen die Integrationsfunktion in einer religionspluralen Gesellschaft nicht ausüben, müssen sie aber nicht notwendig verhindern.

4.2

Gewalt als eine Eigenschaft von Religionen

Hans G. Kippenberg20 stellt fest, dass Gewalt ein wesentlicher Bestandteil von Religionen ist. Dabei haben auch Rituale mit Gewalttaten, wie Opferrituale, eine sozial integrierende Funktion. Zudem kann eine Tötung als Handlung im Ritual heilig sein, während sie im Alltag verboten ist. Damit bekommt ein gewalttätiges Ritual zusätzliche eine kathartische Funktion. Darüber hinaus ist Gewalt in Religionen vor allem in der Sprache oder in der Rhetorik vorfindlich. Hier wird Gewalt ausgelebt, ohne dass sie in die Praxis umgesetzt werden muss. Allerdings kann die gewalttätige Rhetorik auch dazu dienen, dass Gewalthandlungen nachträglich legitimiert werden. Kippenberg stellt anhand der beschriebenen Beispiele religiöser Konflikte fest, dass Religionsgemeinschaften zu Gewalttätern werden, und dass die Verbindung mit politischen Zielen und Parteien sie zu zivilgesellschaftlichen Akteuren macht. Dabei motivieren die Symbolik des Märtyrertodes oder die heilsgeschichtliche21 Dimension des Kampfes zwischen gut und böse die Einzelnen zusätzlich zu Gewalttaten. Eine Eigenschaftszuschreibung zu spezifischen religiösen Gruppen als gewalttätig oder eine Apologetik von spezifischen Religionen als friedensstiftend lehnt Kippenberg ab. Vielmehr liefern Religionen die Interpretationen von Situationen, die dann zu Gewalthandlungen von Einzelnen und Gruppen führen können.

4.3

Desintegration durch Religionen und Social Identity Theory

Zusätzlich zum Absolutheitsanspruch einer religiösen ingroup legitimiert religiöse Gewaltsemantik Gewalttaten gegenüber religiösen outgroups. Das heißt, Religionen liefern nicht nur die normative, kontrastive oder pragmatische Passung zur sozialen Kategorisierung, sondern geben auch inhaltlich die Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Vertretern der sozialen Fremdkate20 Vgl. KIPPENBERG, Hans G. (2008): Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung; darin insbes. Kapitel 1. Einführung. Gewalt als religiöse Gemeinschaftshandlung (S. 11 – 27) und Kapitel 11. Schlussbetrachtung. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung (S. 198 – 207). 21 Vgl. die Verwendung des Begriffs »heilsgeschichtlich« als bezogen auf die Ausführungen zu »Religion als Heilsinteresse« bei RIESEBRODT, Martin (2007). Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen (S. 100 – 103). München: C.H. Beck.

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gorien vor. Während Peter Schalk die Rhetoriken zur Vermeidung von Konflikten untersucht, bezieht sich Hans G. Kippenberg auf die Semantiken zur rituellen Katharsis von Gewalttätigkeit, aber auch zur Legitimation von Gewalthandlungen. Beides ist Teil der Integrations- und Desintegrationsfunktion durch Religionen in der Gesellschaft, die jeweils den sozialen Aspekt von Idenitätskonstruktionen Einzelner bilden.

5.

Intrareligiöse versus interreligiöse Integration?!

Die psychologische Social Identity Theory im Minimalgruppen- und Realgruppenparadigma ermöglicht es gemeinsam mit der Sozialen Kategorisierungstheorie, die Integrationsfunktion von Religionen für den Einzelnen in der religionspluralen Gesellschaft zu verstehen. Die Social Identity Theory behauptet, dass Religionen als ingroups funktionieren und Menschen in die jeweilige religiöse Kategorie bzw. Gruppe integrieren. Dies funktioniert aber nur in Abgrenzung zu anderen religiösen Kategorien und Religionsgemeinschaften. Hier kann also nicht von einer Integrationsfunktion der Religionen in die Gesellschaft gesprochen werden. Allerdings erklärt dieser psychologische Zugang nicht allein die Prozesse und Wirkungen sozialer Gruppenbildung. Der Auswahl sozialer Kategorien sind Grenzen gesetzt durch die kulturell gegebene Taxonomie möglicher sozialer Identitäten, die nur zum Teil gleichzeitig möglich sind und kontextabhängig jeweils mit unterschiedlich großer Wahrscheinlichkeit zur Verfügung stehen. Und schließlich sind der allen Religionen innewohnende Absolutheitsanspruch sowie religiös legitimierbare, feindselige Handlungen eine zusätzliche Analyseebene, die die Integrationsfunktion von Religionen mitbestimmen und sie über die soziale Identitätstheorie hinaus erklären. Insbesondere in der Folge feindseliger Handlungen sind Integrationsprozesse mühsam, wie im Experiment zum Realgruppenparadigma beschrieben. Diskutiert man die Integrationsfunktion für Religionen im Zusammenhang mit der Social Identity Theory, so können aber auch Maßnahmen in Angriff genommen werden, um Konflikte zwischen Religionen zu verringern: Zunächst kann der Selbstwert des Einzelnen gestärkt werden, so dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht die Hauptquelle für das persönliche Selbstwertgefühl wird. Eine andere Möglichkeit ist es, eine gemeinsame Kategorie mit einem nichtreligiösen Inhalt zu betonen. Also nicht davon zu sprechen, dass Christen gegen Muslime stehen, sondern dass die Beteiligten derselben Nation oder Ethnie angehören. Eine weitere Maßnahme könnte sein, die Gewaltverbote in Religionen zu betonen. Und schließlich könnten mittels religiöser Rhetorik solche Aspekte betont werden, die einen exklusiven Pluralismus ermöglichen.

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Religionen integrieren vor allem den Einzelnen in eine spezifische Religionsgruppe und ermöglichen die gegenseitige Unterscheidung und Abwertung von Mitgliedern verschiedener Religionen, folgt man den Erklärungen der Social Identity Theory.

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Religion in der neuen Zeit: Konflikte im Epochenwandel

Die Beantwortung der Frage, ob wir in einer säkularisierten Zeit oder in einer der »wiedergekehrten« Religion leben, bestimmt die Art und Weise wie wir Konflikte interpretieren und mit ihnen umgehen. Die Reichweite solcher religionsbezogenen Meistererzählungen weist darauf hin, dass Intellektuelle, insofern sie die Bedeutung ihrer Zeit und damit auch genannte Meta- oder Großnarrative beschreiben, ein »historisches Narrativ ihrer eigenen Zeit« produzieren.1 Indem der Religion in diesem jeweiligen Zeithorizont eine bestimmte Rolle zugeschrieben wird, werden darüber hinaus Interpretationsangebote gemacht, wie Religion und Konflikte zu relationieren sind: Ob Religionen Konflikte verschärfen (was von ihren jeweiligen Gegnern kritisiert wird), ob sie solche entschärfen (was wiederum von ihren Befürwortern angeführt wird) sowie ob und wie Religionen im Konfliktmanagement einzubinden sind. Letzteres ist für die Gesellschaft insgesamt von Belang und die Religionswissenschaft ist eine der Instanzen, die zur Klärung zweifelsohne beizutragen hat, wie gerade dieser Tagungsband demonstriert. Auf dem »Jahrmarkt der Zeitdiagnosen«2 wird deutlich, wie religionswissenschaftliche Forschung auf der einen Seite und gesellschaftliche Diskurse über Religion auf der anderen sich im Konfliktmanagement vermischen und dabei konkrete, tagespolitische Relevanz erhalten. Die Narrative der Zeit stellen ein Element des Gerüsts dar, auf dem der Zusammenhang von Religion und Konflikten diachron konstruiert und im bescheidensten Falle detailliert untersucht wird. Im weniger bescheidenen Falle wird mindestens rhetorisch ein Umbruch konstatiert, infolgedessen alles umgedacht werden müsse.3 1 Vgl. ALEXANDER, Jeffrey C. (1995): Fin de SiÀcle Social Theory. Relativism, Reductionism and the Problem of Reason. London/New York: Verso. S. 13. 2 KAUBE, Jürgen (2013): Auf dem Jahrmarkt der Zeitdiagnosen. In: Frankfurt Allgemeine. 5. 1. 2013. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/essay-auf-demjahrmarkt-der-zeitdiagnosen-12014592.html, [05. 01. 2013]. 3 Vgl. OSRECKI, Fran (2011): Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld: Transcript.

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Im Folgenden wird es um die These gehen, der zufolge in jeder dieser genannten Meistererzählungen ein bestimmter Typ der Zeitlichkeit liegt, der sich in der Figur der »Schwelle«, des »Umbruchs«, der »Zäsur«, der »Wende« oder der »neuen Zeit« akzentuieren lässt. Diese besondere Zeitlichkeit wird selten genug beobachtet oder etwa hinsichtlich der Frage nach Religion und ihrem Zusammenhang mit Konflikten reflektiert. Genau dies soll hier vorgenommen werden. Dabei wird dem Verdacht nachgegangen, dass sowohl in der Säkularisierungsthese als auch in der Wiederkehr- oder Rückkehrthese ein zeitstrukturierendes Element erkennbar ist, welches seinen erzählerischen Gehalt negiert und sich – »stolz auf [seine] Modernität – als nicht-narrative[s] bezeichnet.«4 Anstatt in moderner Trennungsarbeit zwischen analytischer und fiktionaler oder erzählerischer Geschichtsschreibung zu unterscheiden zu versuchen, ist es lohnenswert, die unterschiedlichen erzählerischen Formen zu differenzieren, die in der Konstruktion der Zeit angewendet werden. Der diesen Meisternarrativen zugrundeliegende Chronotopos5 soll hier unter dem Begriff der »Schwellenerzählung« subsumiert und hinsichtlich seiner besonderen Rolle in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft analysiert werden. Nach Niklas Luhmann darf diese Form der Selbstbeschreibung, die sich in Epochenerzählungen kenntlich machen lässt, nicht als »Volksglauben der Intellektuellen« abgetan werden, da dies die Eigenheit der Geschichtserfahrung als Differenzerfahrung sowie der Selbstbeschreibung als Selbstsimplifikation übersieht. Stattdessen sollen derartige Selbstbeschreibungen als Prozesse gesehen werden, die auf einen Realitätsbezug nicht verzichten können, diesen aber stilisieren müssen, um dadurch für Prozesse der Selbstverständigung in der Gesellschaft etwas auszusagen.6 Vor diesem Hintergrund kommt »Zeit-Geschichte«, im Sinne der Historisierung der Zeit als solcher, in den Blick und es werden – um die Kernthese vorauszunehmen – die Engführung von religionsproduktiven Meisternarrativen und Konfliktanalyse in der Zeitdiagnostik sichtbar. Diese Zuschreibung von Religions- oder Mythenproduktivität in Meisternarrativen der Zeitdiagnostik beruht hauptsächlich auf einem diskursanalytischen Vorgehen, wie es etwa Jürgen Mohn im Sinne einer Ordnungsdiskursgeschichte oder Michael Bergunder im Sinne einer

4 RÜSEN, Jörn (1987): Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft. In: ROSSI, Pietro (Hg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung (S. 235). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 5 Zum Begriff des Chronotopos Vgl. BACHTIN, Michail M. (2008): Chronotopos. Berlin: Suhrkamp. Sowie: BENDER, John, WELLBERY, David E. (Hg.) (1991), Chronotypes: The Construction of Time. Stanford: Stanford University Press. 6 Vgl. LUHMANN, Niklas (1985): Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: GUMBRECHT, Hans-Ulrich, LINK-HEER Ursula (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie (S. 25 f.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Namensgeschichte vorgeschlagen haben.7 Indem Ordnungsdiskurse analysiert werden, schreibt sich die vorliegende Analyse in eine Profanierungsgeschichte ein, welche die Zeit dem Gebrauch der Menschen zurückzugeben versucht.8 Folgende Schritte werden dabei unternommen: Am Beispiel eines frühen Bruchs in der Religionsforschung, der von der interpretierten Religionslosigkeit der »primitiven« Völker zu ihrer Allgegenwärtigkeit bei denselben führte, wird die Konfliktbezogenheit solcher Neu-Benennungen oder Paradigmenwechsel eingeführt. In einem zweiten Schritt wird der gegenwärtige Diskurs über die »Rückkehr der Religion« hinsichtlich seiner semantischen Konfliktlinien untersucht. Dabei soll deutlich werden, dass das – in diesem Falle nicht nur wissenschaftliche – Sprechen über »neue Ordnungen« mit einer bestimmten Narrativität sowie einer Rhetorik der Neuheit einhergeht, welche welt- und zeitkonstituierende Komponenten beinhalten. Mit diesem Fokus sollen drittens Beispiele von Schwellen zu einer Analyse geführt werden, in der das spezifische Zeitkonzept systematisiert wird, da ähnliche Rhetoriken der Neuheit der Forschung aus anderen Bereichen bekannt sind, etwa derjenigen der Konversionsoder der Epochenerzählungen. Schließlich soll der Zusammenhang von Zeitlichkeit und dem Beschreiben von Konflikten deutlich gemacht werden.

Von der Abwesenheit zur Allgegenwärtigkeit der Religion in Afrika In der frühen Wissenschaftsgeschichte der afrikabezogenen Religionsforschung kann, was den generellen Status von Religion angeht, eine deutliche Wende bemerkt werden. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich anhand von zwei Zitaten verdeutlichen. Der französische Soziologe Charles Jean Marie Letourneau schreibt 1892: »Dans l’afrique australe, chez les Hottentots et les Cafres, la religion est presque nulle.«9 Dreissig Jahre später stellt der Kolonialbeamte Hubert Deschamps fest:

7 Vgl. MOHN, Jürgen (2011): Die Religion im Diskurs und die Diskurse der Religion(en). Überlegungen zu Religionsdiskurstheorien und zur religionsaisthetischen Grundlegung des Diskursfeldes Religion. In: LIEDHEGENER, Antonius; TUNGER-ZANETTI, Andreas; WIRZ, Stephan (Hg.): Religion – Wirtschaft – Politik. Forschungszugänge zu einem aktuellen transdisziplinären Feld (S. 83 – 110), Zürich / Baden Baden: Theologischer Verlag Zürich. Und BERGUNDER, Michael (2012): Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. Zeitschrift für Religionswissenschaft, 1/19, S. 3 – 55. 8 AGAMBEN, Giorgio (2005): Profanierungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 70 – 91. 9 LETOURNEAU, Charles Jean Marie (1892): La Sociologie d’aprÀs l’ethnographie. Paris: C. Reinwald. S. 279. »Im südlichen Afrika, bei den Hottentotten und den Kaffern, ist die Religion fast gleich null.« Übers. jeweils vom Autor.

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»Aucune institution existe (en Afrique noire), que ce soit dans le domaine social ou dans le domaine politique, voire mÞme en matiÀre ¦conomique, qui ne repose sur un concept religieux ou qui n’ait la religion pour pierre angulaire. Ces peuples, dont on a parfois ni¦ qu’ils aient une religion, sont en r¦alit¦ parmi les plus religieux de la terre.«10

Diese beiden Zitate verweisen in ihrer Gegensätzlichkeit auf eine markante Wende in der Religionsforschung Afrikas, welche von der Abwesenheit11 von Religion zur Anwesenheit oder sogar zur Allgegenwärtigkeit von Religion führt. Der Religionswissenschaftler David Chidester hat in »Savage Systems« aufgezeigt, dass dieser Bruch in Südafrika eng mit der Kolonialpolitik zusammenhängt, dass es sich hier also um einen semantischen Bruch im Kontext des Kolonialismus handelt.12 Er beschreibt, wie überall dort, wo ein Raum oder eine Grenze umkämpft waren, wo sich also etwa »Hottentotten« und Europäer feindlich gegenüberstanden, die Afrikaner nicht über Religion »verfügten«. Wurden die betreffenden Völker besiegt, so wird zum Teil schon nach wenigen Jahren über die Religion jener »Wilden« geschrieben. Daran ist deutlich die Konfliktbezogenheit abzusehen, die von Neubeschreibungen ausgeht. Ob Religion also einer Gruppe zugeschrieben oder abgesprochen wurde, ob man vor oder nach der gezeichneten Wende stand, hängt damit zusammen, wie konfliktreich die Situation war. In der Phase des expansiven Kolonialismus be10 »In Schwarzafrika gibt es keine einzige Institution, sei es im sozialen oder im politischen Leben oder selbst in den ökonomischen Bereichen, die nicht auf einem religiösen Konzept beruht oder die die Religion zum Angelpunkt hat. Diese Völker, denen man manchmal abgesprochen hat, eine Religion zu besitzen, sind in Wahrheit unter den religiösesten Völkern der Welt.« DELAFOSSE, Maurice (1925): Les Civilisations n¦groafricaines. Zitiert nach DESCHAMPS, Hubert (19653): Les Religions de l’Afrique noire. Paris: Presses universitaires de France. S. 5. 11 Damit soll nicht gesagt werden, dass das, was hier als Abwesenheitsdiskurse Afrikas bezeichnet wird, dadurch erledigt wäre. Eher sind Verschiebungen zu konstatieren, welche von der Abwesenheit von Religion zu derjenigen der Geschichte, der Vernunft, der Zivilisation oder der Entwicklung übergegangen sind. Deutlich geht dies aus der Rede von Nicolas Sarkozy hervor: »Le drame de l’Afrique, c’est que l’Homme africain n’est pas assez entr¦ dans l’Histoire. Le paysan africain, qui depuis des mill¦naires, vit avec les saisons, dont l’id¦al de vie est d’Þtre en harmonie avec la nature, ne conna„t que l’¦ternel recommencement du temps rythm¦ par la r¦p¦tition sans fin des mÞmes gestes et des mÞmes paroles. […] Jamais il ne lui vient — l’id¦e de sortir de la r¦p¦tition pour s’inventer un destin. […] Le problÀme de l’Afrique, c’est qu’elle vit trop le pr¦sent dans la nostalgie du paradis perdu de l’enfance.« SARKOZY, Nicolas (2008): Allocution de M. Nicolas Sarkozy, pr¦sident de la R¦publique franÅaise, prononc¦e — l’Universit¦ de Dakar, S¦n¦gal, le 26 juillet 2007. In: CHRÊTIEN, JeanPierre (Hg.), L’Afrique de Sarkozy. Un d¦ni d’histoire, Paris: Êditions Karthala. S. 195. 12 CHIDESTER, David (1996): Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa. Charlottesville / London: University Press of Virginia. Zur weiteren Diskussion des Zusammenhangs von Religionswissenschaft und Kolonialismus und der Debatte über »Völker ohne Religion« vgl. auch: KIPPENBERG, Hans G., STUCKRAD, Kocku von (2003): Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe. München: C.H. Beck. S. 59 – 69.

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schrieb man Religion in Afrika überwiegend als abwesend, wohingegen in den 1930er Jahren, als die Grenzen gezogen und die Bevölkerungen unter der kolonialen Herrschaft standen, Religion als Alteritätsmarker nicht mehr nötig war.13 Chidester zeigt, wie die Aberkennung von Religion als Alteritätsmarker eingesetzt und dadurch die betreffenden Völker enthumanisiert wurden, was die militärische Bekämpfung zusätzlich legitimierte. Entmenschlichungen führten also in der frühkolonialen Phase auch über die Absprache von Religion. In Chidesters Analyse bleiben die Transformationen auf europäischer Gegenseite weitestgehend unberücksichtigt. Der Bruch zwischen Abwesenheit und Allgegenwärtigkeit verläuft allerdings nicht nur entlang der kolonialen Grenzkonflikte, er verläuft auch parallel zu einer identitätsumbildenden Neuerung in Europa: Während bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein der Religionsbegriff in der Selbstbeschreibung Europas verwendet wurde, ist dies in den 1930er Jahren nicht mehr in breiter Form der Fall.14 Wir können also an Afrika den Niedergang von »Religion« als eine für Europas Selbstkonstitution notwendige Leitfigur beobachten. Diese wurde etwa durch die Kategorien »Vernunft«, »Wissenschaft«, »Zivilisation« oder »Fortschritt« ersetzt, wodurch diese wiederum Afrika ab- und Europa zugeschrieben wurden. Damit geht eine Verschiebung von »Religion« von der Seite der Rationalität zu derjenigen der Irrationalität einher, wobei auf die verschiedenen Unterscheidungsgrundlagen der Autoren zu verweisen ist. Religiös argumentierende Autoren – insbesondere Theologen und Missionare – sprachen Afrika Religion weiterhin ab oder operierten mit Begriffen wie »Aberglauben« und »Fetischismus«.15 Autoren, die sich einer wissenschaftlich-säkularen Idee verpflichtet fühlten, begannen zunehmend, den Religionsbegriff auf Afrika auszudehnen und ihn auf gemeinhin als Aberglauben bezeichnete Glaubenssysteme anzuwenden. Dies wird etwa bei Albert R¦ville sichtbar, der als erster Professor für Religionsgeschichte in Frankreich am CollÀge de France 1893 zwei Bände über die »Religion der nichtzivilisierten Völker« veröffentlichte.16 R¦ville steht in dieser durch die 13 Im erneuten Konfliktfall konnte die Zuschreibung von Religion durchaus plötzlich wieder zurückgenommen werden. Vgl. Chidester 1996, S. 20 – 29. 14 Diese Vereinfachung müsste natürlich hinsichtlich der jeweiligen Autoren spezifiziert werden. Während der Aufklärung verpflichtete Autoren schon früher bereit waren, Religion in Afrika zu beschreiben (etwa anhand von John Lubbock ersichtlich) hielten Theologen und Missionare länger daran fest, dass Religion in Afrika fehle, respektive dass der dortige »Aberglaube« nicht als species von Religion zu bezeichnen sei. 15 Zum Fetischismusbegriff vgl. SACHS, Reinhard (1990): Fetisch / Fetischismus. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (S. 423 – 428). Stuttgart: Kohlhammer. Bezüglich der Kontinuitäten in der kolonialen und postkolonialen Religionsforschung vgl. auch SHAW, Rosalind (1990): The Invention of »African Traditional Religion«. Religion, 20, S. 339 – 353. 16 Vgl. RÊVILLE, Albert (1983): Histoire des religions. Les religions des peuples non-civilis¦s. Tome I. Paris: Librairie Fischbacher.

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Bildungsreform in Frankreich nach den Gesetzen Jules Ferrys geforderten laizistischen Tradition der Religionsforschung nicht allein. Der Afrikadiskurs zeichnete und zeichnet sich in gewissem Maße bis heute durch die Feststellung einer Abwesenheit von etwas aus, was in Europa vorhanden ist. Afrika kann somit als das konstitutive Außen Europas beschrieben werden, womit die frühe afrikabezogene Religionsforschung zu einem Teil der europäischen Religionsgeschichte wird. Gleichwohl ist zu betonen, dass diese Asymmetrien auch Teil der afrikanischen Religionsgeschichte sind, deren Gewalt in anderen Formen bis heute fortbesteht. Schließlich wurden diese Asymmetrien auch in afrozentristischen Sichtweisen selbst fortgeschrieben, wie Valentin Mudimbe festgestellt hat.17 Die für die Thematik der Schwellenerzählungen nützliche Pointe liegt zum einen darin, dass ein neues Paradigma auch einen neuen Umgang mit Konflikten bedeutet. Zum anderen wurde deutlich, dass das neue Paradigma dem Konflikt nachfolgt, wenn erst nach einem militärischen Sieg über sie einer Volksgruppe Religion zugesprochen wurde. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Forschung der Politik nachfolge, sondern es sollen die Konsequenzen dargestellt werden, die mit der Verschiebung von »Religion« in einem diskursiven Feld einhergehen und die die Art und Weise beeinflussen, wie gesellschaftliche Konflikte »behandelt« werden. Als These kann somit festgehalten werden, dass durch den Blick auf den Paradigmenwechsel, auf die Schwelle, ein neuer Umgang mit Konflikten erkennbar wird. Durch den Paradigmenwechsels werden Konflikte einer Gesellschaft nicht nur neu interpretiert, sondern auch neu erzählt und bewältigt. Dies gilt es für den zweiten Schwellendiskurs im Auge zu behalten. Diese Schwelle wird im Gegensatz zur ersten offen thematisiert – ihre Schwellenartigkeit stellt gerade den Kern dessen dar, was inhaltlich behauptet wird.

Die Rückkehr der Religion Der französische Arabist und Soziologe Gilles Kepel eröffnete 1991 sein Buch »Die Rache Gottes« folgendermaßen: »Die siebziger Jahre waren für das Verhältnis von Religion und Politik, das im letzten Viertel unseres Jahrhunderts eine überraschende Veränderung erfährt, ein Jahrzehnt des Umbruchs. […] Etwa 1975 setzte auf breiter Front eine Gegenbewegung ein. Ein neuer religiöser Gedankenaustausch bildet sich heraus, der sich nicht länger an welt17 MUDIMBE, Valentin Y. (1988): The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge. Bloomington: Indiana University Press.

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lichen Wertvorstellungen orientiert, sondern die Gesellschaftsordnung durch eine längst überfällige Umgestaltung wieder auf eine sakrale Grundlage stellen will.«18

Nicht die hier anklingende Fundamentalismusdebatte steht im Folgenden im Zentrum, sondern die Periodisierungsversuche, welche gesellschaftliche Konflikte neu bezeichnen und dabei – so scheint es bis jetzt – auf deutliche Brüche angewiesen sind. Die »Rückkehr-der-Religion-Debatte« verfügt zwar über symbolträchtige Ereignisse und wird medial viel beachtet, schlägt sich aber im deutschsprachigen Raum in der Religionswissenschaft weder in quantitativen noch in qualitativen Studien nieder. Die für die Schweiz aktuellste Studie des Schweizerischen Nationalfonds hat das Diktum von der Rückkehr der Religionen entschieden zurückgewiesen und die religiös Distanzierten als einzige seit Jahren wachsende Gruppe markiert.19 Die Debatte scheint insgesamt in der religionswissenschaftlichen community keine Mehrheit zu finden.20 Auch Religionssoziologen sind sich nicht einig, »inwieweit es sich um einen Realitätswandel oder um einen Aufmerksamkeitswandel (oder beides) handelt.«21 Ein Beispiel aus der Religionswissenschaft, bei dem die Rückkehrthese anzutreffen ist, findet sich bei Martin Riesebrodt. Auch bei ihm sehen wir jedoch zwei Befunde, die das Dilemma dieser Art der Zeitdiagnostik verdeutlichen: Neben der Monographie über die »Rückkehr der Religionen«, in der Riesebrodt eine »krisentheoretische Religionsanalyse« skizziert22, äußert er sich in einem Aufsatz von 2005 dahingehend, dass »unsere Gegenwart zu einem gewissen Grade durch die wechselseitige soziale und ideologische Konstitution von Säkularismus und Fundamentalismus sowie eine Vielzahl von Zwischenpositionen geprägt« sei.23 Was

18 KEPEL, Gilles (1991): Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. München / Zürich: Piper. S. 13 – 14. 19 Vgl. STOLZ, Jörg (2012): Religion und Individuum unter dem Vorzeichen religiöser Pluralisierung. In: BOCHINGER, Christoph (Hg.), Religionen, Staat und Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt (S. 77 – 108). Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. URL: http://www.nfp58.ch/, [9. 1. 2013] 20 Pointiert bezeichnete etwa Olivier Roy die Rückkehr-Debatte als eine optische Illusion. Vgl. BURNAND, Fr¦d¦ric (2012): Die Rückkehr des Religiösen ist eine Illusion. URL: http:// www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/Die_Rueckkehr_des_Religioesen_ist_eine_Illusion.html?cid=33309318/, [23. 8. 2012]. Andere Beispiele für die Skepsis verschiedener Religionswissenschaftler sind etwa: Christoph Bochinger, Thomas Macho oder Michael Mitterauer in: POLAK, Regina (Hg.) (2002): Megatrend Religion? Neue Religiositäten in Europa. Ostfildern: Schwabenverlag. Mitterauer hält daselbst mit Bezug auf das Problem der »Wiederkehr« fest, dass sich die Religionsgeschichte grundsätzlich irreversibel verhält und nicht etwa in Zyklen verläuft. 21 BECK, Ulrich (2008): Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen. Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen, S. 37. 22 RIESEBRODT, Martin (20012): Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«. München: C.H. Beck. S. 51. 23 RIESEBRODT, Martin (2004): Was ist »religiöser Fundamentalismus«? In: SIX, Clemens,

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hier erstaunt, ist die Kluft zwischen der Rede von der »Rückkehr« der Religionen (worin implizit eine zeitliche Schwelle steckt) und den Befunden über eine religiöse Landschaft, welche durch Nuancierungen und Zwischenpositionen geprägt sei. Was also rechtfertigt die behauptete »Rückkehr«, was die behauptete »Wende«? Wenn wir nun das vorherige Beispiel aus dem Afrikadiskurs zum Vergleich herbeiziehen, so liegt der Verdacht nahe, dass die »Wende« sich nicht im Gegenstand ereignet, sondern dass sie einem bestimmten Bedürfnis im Umgang mit dem Gegenstand geschuldet ist.24 Damit sei nicht einem strengen Relativismus das Wort geredet, demzufolge wir lediglich Konstruktionen von Religion vor uns haben. Spätestens seit der Abstimmung über die Minarettinitiative in der Schweiz oder der Debatte über ein allfälliges Burka-Verbot in verschiedenen Ländern Europas ist deutlich geworden, dass als religiös interpretierte Symbole auch von religiös Distanzierten als Identitäts- und Konfliktmarker verwendet werden. Unbestritten ist auch, dass es politisch oder gesellschaftlich wirkmächtige Ereignisse gibt. Was hingegen zu der Irritation führt, um die es hier geht, ist die Behauptung, dass »danach alles anders ist«. Was hier verfolgt werden soll, ist der Versuch einer Schwächung der Dichotomie von positivistischem Reduktionismus und Relativismus. Es geht um die Geschichte, die erzählt, dass (und möglicherweise auch »weshalb«) danach alles anders geworden ist und welche Konsequenzen daraus für den Umgang mit Religion und Konflikten folgen.

Versuch einer Systematik der Schwellen Die zwei besprochenen Paradigmenwechsel im Religionsdiskurs haben auf unterschiedliche Art und Weise gezeigt, dass die Diskurse der Zivilgesellschaft semantische Räume darstellen, in denen Konflikte verortet werden. Der amerikanische Soziologe Jeffrey C. Alexander hat in »Fin de SiÀcle Social Theory« aufgezeigt, dass Intellektuelle solche historische Narrative nicht nur analysieren, sondern auch produzieren:

HAAS, Siegfried, RIESEBRODT, Martin (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung (13 – 32). Innsbruck: Studienverlag. 24 DaniÀle Hervieu-L¦ger hält einen wichtigen wissenschaftsimmanenten Grund für die Auflösung der Säkularisierungstheorie fest: »Es dauerte jedoch bis zum Beginn der 1970er Jahre, ehe die Dogmen der Säkularisierung, welche die Forschungspraxis der Religionssoziologie beherrschten, durch diese Reflexionen ins Wanken zu geraten begannen.« HERVIEULÊGER, DaniÀle (2004): Pilger und Konvertiten. Religion in Bewegung. Würzburg: Ergon. S. 138 f.

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»If intellectuals are to define the ›meaning‹ of their ›time‹, they must identify a time that preceded the present, offer a morally compelling account of why it was superseded, and tell their audience whether or not such a transformation will be repeated vis-—-vis the world they live in. This is, of course, merely to say that intellectuals produce historical narratives about their own time.«25

Alexander hat Möglichkeiten aufgezeigt, wie solche Erzählungen, die er »theoretisch-ideologische Perioden« nennt, zu analysieren sind.26 Er geht davon aus, dass jede Theorie des sozialen Wandels auf Codes, Narrative und Explanationen zurückgreift. Es stellt sich somit die Frage, wie der Gegenstand »Religion« im gesellschaftlichen Diskurs zugerichtet wird, welche Codes, Narrative und Explanationen dabei verwendet werden und welche Folgen dies für die Analyse von religionsbezogenen Konflikten hat. Dabei ist der Verdacht leitend, dass auch der Religionsdiskurs in seinen Meisternarrativen über das Narrativ von Schwellen, Wendepunkten oder Brüchen stilisiert wird. Dies wurde am Beispiel der Rückkehrthese exemplarisch dargestellt. Schwellen dienen insofern der Selbstverständigung der Gesellschaft. In den Worten Richard Koebners: »Unsere gegenwärtige Welt verstehen heißt in diesem Zusammenhang Kontraste sehen.«27 Dass Schwellennarrative eine besondere Wissensordnung darstellen, soll mit einem weiteren Vergleich verdeutlicht werden. Nach den oben eingeführten Paradigmenwechseln in der Wissenschaftsgeschichte und der Zeitdiagnostik soll uns der nächste Schritt in die Historiographie führen, genauer zu den Epochenerzählungen. Epochen stellen Zeiträume dar, die durch die »Schwelle« gebrochen werden und damit einen besonderen historischen Sinn herstellen.28 Die Epochenschwelle wie auch die Epochenerzählung selbst beruhen auf einer dreigliedrigen Erzählstruktur : Die Schwelle wird durch ein Ereignis ausgelöst, wobei sowohl ein Vorher, ein Zwischen (die Schwelle) als auch ein Nachher entsteht. Die Epoche wiederum ist sowohl am Anfang als auch am Ende durch eine Brechung charakterisiert. Die erste Brechung definiert die neue Epoche im Verhältnis zur früheren. Sie stellt, wie es auch das Zitat von Alexander beschreibt, alles je Dagewesene in Frage. Wie sich die neue Epoche äußert, kann

25 ALEXANDER 1995, S. 13. Für Alexander geht eine solche Produktion immer auch mit der Produktion von Mythen einher, da es um die Theoretisierung der Zukunft geht und dies nie allein über rationale Verfahren geschehen kann. 26 ALEXANDER 1995, S. 10. 27 KOEBNER, Richard (1990): Die Idee der Zeitwende (1941 – 1943). In: KOEBNER, Richard: Geschichte, Geschichtsbewusstsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nachlass. Institut für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv (Hg.), Gerlingen: Bleicher. S. 151. 28 Es ist hier daran zu erinnern, dass das griechische 1pow^ »Zäsur« oder »Haltepunkt« bedeutet. Daran wird der enge Zusammenhang zwischen der Zäsur und dem »Dazwischen« deutlich.

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jeweils nur spezifisch dargelegt werden.29 Auf die »alte Epoche« folgt ein Ereignis (oder mehrere) in Form einer Zäsur, nach der eine neue Zeitrechnung und eine neue Epoche folgt. Jedes Meisternarrativ setzt die Zäsur im Sinne eines Ursprungs dort, wo es seine Grundlegung finden soll. Auffällige Beispiele hierfür finden wir in der christlichen, aber auch in der jüdischen und der islamischen Zeitrechnung. In der gegenwärtigen Zeitdiagnostik scheint besonders die Formel 9/11 diese Stelle einzunehmen. Was also die Epochenschwelle als Erzählung zu charakterisieren scheint, ist eine bestimmte Form der Periodisierung, die in den drei Zeitabschnitten Vergleichsmöglichkeiten zu Handlungsschemata eröffnet, welche in der Religionswissenschaft einen kontinuierlichen und damit epochenunabhängigen Forschungsgegenstand darstellen: Übergangsriten und Konversionserzählungen. Die von Arnold van Gennep in den »rites de passage« als »liminale Phase« bezeichnete Zeitform scheint ein Äquivalent in verschiedenen Periodisierungen der Zeit zu finden.30 Der Epochenbruch erscheint in diesem Sinne als liminale Phase des »historischen Bewusstseins«.31 Damit sei nicht behauptet, dass die trinitarische Struktur universal sei. Es genügt der Verweis darauf, dass wir es mit einer gängigen und nicht nur auf textueller Basis funktionierenden Struktur zu tun haben. Mit Blick auf das zweite Äquivalent gelangen wir zur erklärungsbedürftigen These, dass gesellschaftliche Selbstbeschreibungsprojekte, wie etwa die Säkularisierungsthese oder die gegenwärtig medial breitgetretene Behauptung einer »Rückkehr der Religion« oder eines »postsäkularen« Zeitalters, in zeitlicher Hinsicht eine ähnliche Erzählstruktur aufweisen, wie sie auf der individuellen Ebene bei Konversionserzählungen auftritt. Wie die Konversionsforschung seit den 1980er Jahren gezeigt hat, kann das Gattungsmerkmal der Konversionserzählung als radikaler Wandel im Diskurshorizont definiert werden.32 Thomas Luckmann ergänzte diese von David Snow und Richard Machalek verwendete Fassung des radikalen Wandels durch die Engführung von Kanon (verstanden als Bestandteil eines gesellschaftlich objektivierten Wissensvorrates) und Kon29 Beispiele für die Modernisierungs-/Säkularisierungstheorie sind vielfach aufgearbeitet worden. Neben Alexander vgl. auch: DAVIS, Kathleen (2008): Periodization and Sovereignty : How Ideas of Feudalism and Secularization govern the Politics of Time. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. 30 VAN GENNEP, Arnold (1909): Les rites de passage. Êtude syst¦matique des rites de la porte et du seuil. Paris: E. Nourry. 31 Vgl. GUMBRECHT, Hans-Ullrich (1987): Posthistoire Now. In: GUMBRECHT, LINK-HEER (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie (S. 34 – 50). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 32 SNOW, David A., MACHALEK, Richard (1984): The Sociology of Conversion. Annual Review of Sociology, 10, S. 167 – 190.

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version: »Ohne Kanon keine Konversion.«33 Diese Gegenüberstellung kann im Hinblick auf die Thematik der Epochen erweitert werden: Ohne Epoche keine Schwelle. Neben den Ähnlichkeiten von Epochenschwellen, Konversionserzählungen und Übergangsriten kommt hier noch ein Letztes hinzu, womit sich der Kreis wieder schließt. Die beiden zu Beginn vorgestellten Paradigmenwechsel im Religionsdiskurs haben gezeigt, wie Konflikte auf den zeitlich verschiedenen Seiten einer Schwelle unterschiedlich verhandelt wurden. Kehren wir nun zu den Paradigmen zurück, jedoch nicht indem wir diese wieder wissenschaftshistorisch nachverfolgen, sondern indem wir die Erzählung des Paradigmenwechsels selbst hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit untersuchen. Das dreigliedrige Handlungsschema, welches an verschiedenen Schwellenerzählungen expliziert wurde, hat wiederum ein Äquivalent in der Paradigmenthese. Thomas S. Kuhn hat den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel als eine Abfolge von der Normalwissenschaft über erste Brüche in dieser, welche er mit dem Begriff der außerordentlichen oder revolutionären Phase bezeichnet, bis schließlich zum neuen Paradigma dargestellt. In der »Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen« findet sich zudem ein Hinweis auf die Parallele zum Bekehrungserlebnis: Kuhn selbst spricht von der »Bekehrung« zu einem neuen Paradigma.34 Man mag die Paradigmentheorie berechtigterweise nur begrenzt für ein in der Wissenschaftsforschung einsetzbares Konzept halten und ihr die von Ludwik Fleck eingeführten Konzepte des Denkkollektivs, des Denkstils und des Denkstilwandels vorziehen.35 Gleichwohl verwende ich hier den Begriff des Paradigmenwechsels zur Nuancierung einer postulierten Wende in der Wissenschaft oder im gesellschaftlichen Religionsdiskurs, zwar wissend, dass im religiösen Feld eher Kontinuitäten als Diskontinuitäten zu beobachten sind, aber daraus gerade den Verdacht schöpfend, dass in den Diskontinuitäten Schlüsselmomente des gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsprozesses zu sehen sind. Angesichts dieser Vergleichsmöglichkeiten lässt sich vermuten, dass wissenschaftliche Paradigmenwechsel als eine (eher) kollektiv verbreitete Form derjenigen Erzählform ähneln, die uns auf der individuellen Ebene als Konversionserzählung bekannt ist. Daraus folgt nicht, dass Paradigmenwechsel religiöse Erzählungen seien, sondern lediglich, dass sowohl in den Reden über neue wissenschaftliche Denkstile als auch in individuellen Konversionen, ge33 LUCKMANN, Thomas (1987): Kanon und Konversion. In: ASSMANN, Aleida, ASSMANN, Jan (Hg.), Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München: Wilhelm Fink. S. 39. 34 KUHN, Thomas S. (19762): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 168. 35 FLECK, Ludwik (1935): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Basel: Schwabe.

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schichtlichen Epochenumbrüchen und der Zeitdiagnostik »Schwellen« das zentrale Erzählmoment darstellen. Da Konfliktanalysen häufig, insbesondere in medialen und populären Formen, mit der Zeitdiagnostik verknüpft sind, beziehen sich die hier vorgenommen Überlegungen auf den Kern des Zusammenhangs von Religion und Konflikt. Es geht dabei keineswegs darum, den Anspruch auf historische »Wahrheit« (oder sprechen wir entspannter von Akkuratheit oder Objektivität als einem Richtwert im Weberschen Sinne) gänzlich zu verneinen oder jeglichen Unterschied zwischen fiktional-dichterischer und faktual-historischer Rede zu plätten. Die These geht lediglich dahin, dass die Art und Weise, wie Paradigmenwechsel und Epochenschwellen erzählt werden, mit der Art und Weise korrespondieren kann, wie Konversionen erzählt werden. Aus diesen Vergleichen lässt sich Folgendes schließen: Zur Zuspitzung und Klärung von Welt und Zeit ist eine »Schwelle« als Verzeitlichung eines epistemischen Bruchs in den verschiedensten Diskursen unerlässlich. Die Epoche wird erst aus der Epochenschwelle ersichtlich. Die individuelle Konversion plausibilisiert sich erst am biographischen Wendepunkt. Das neue Paradigma erschließt sich erst aus der Inkommensurabilität mit dem alten. Erzähltheoretisch gesprochen: Zum Skript einer erzählten Episteme gehört die Schwelle, gehört der Bruch unbedingt dazu. Dabei trägt die Berücksichtigung der Narrativität historischer, wissenschaftlicher und zeitdiagnostischer Texte der Tatsache Rechnung, dass »die stumpfe Kontingenz des Faktischen in kulturell signifikante narrative Strukturen überformt und vertraut gemacht wird.«36 Da sich im Handlungsschema einer Geschichte der Sinn dieser Geschichte verdeutlicht, scheint dies insbesondere im Bereich der Zeitdiagnostik eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu entfalten. Was aber hat dies mit realen Konflikten, Religionen und dem Umgang mit diesen zu tun? Die Verwissenschaftlichung weiter gesellschaftlicher Bereiche hat längst auch das Konfliktmanagement erfasst. Angesichts dieser an die Wissenschaft delegierten Zuständigkeiten scheint es kaum wünschenswert, von einer Art mit Konflikten umzugehen, zu einer anderen zu »konvertieren«.

Schwellen und der gesellschaftliche Umgang mit Konflikten Der zivilgesellschaftliche Diskurs stellt ein strukturiertes semiotisches Feld dar, in dem Konflikte verortet, akzentuiert und diagnostiziert werden. Diese Verortung wird dabei nicht nur durch die synchronen Akteure im Konflikt, sondern 36 MARTINEZ, Matias, SCHEFFEL, Michael (20098): Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck, S. 158.

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auch durch die Zeitstruktur bestimmt, die durch Erzähl- oder Handlungsschemata zugespitzt wird. Eine besondere Art der Zuspitzung finden wir, wie ich aufgezeigt habe, in den verschiedensten Variationen von Schwellenerzählungen. Für die Konfliktanalyse haben Schwellenerzählungen deshalb eine hohe Relevanz, weil sie – durch die Strukturierung des semiotischen Feldes und des historischen Bewusstseins – Konflikte akzentuieren und Handlungsschemata anbieten. Vor diesem Hintergrund möchte ich mit vier Thesen zum Zusammenhang von Religion und Konflikten schließen. Indem Religion als »zurückgekehrt« bezeichnet wird, erhält sie gegenwärtig ein neues Gewicht als konflikt(mit)bestimmender Faktor. Damit ist nicht gemeint, dass Religionen nicht sowohl schürend als auch entschärfend in Konflikten wirksam sein können. Hingegen ist gemeint, dass der epochisierende Rückgriff auf Religion als eines gegenwartsprägenden Elements dieser mehr Gewicht zuspricht, als jede empirische Einzelstudie beweisen kann. Man verlässt damit die Mikroanalyse und geht zur Produktion von Zeitdiagnostik über. Die weltdeutende Wirkung der Zeitdiagnostik, die in epochisierenden Religionsbeschreibungen wirksam wird, ist auf folgendes Problem zurückzuführen: Eine Trennung von religiösen und wissenschaftlichen Religionsdiskursen ist nicht durchzuhalten, wenn es in einem substantiellen und epochalen Sinne um die Rolle von »Religion« in Konflikten geht. Dies ist keineswegs eine Absage an die Möglichkeit religionswissenschaftlicher Analysen von Konflikten. An konkreten Beispielen sind empirisch gesättigte Analysen möglich und notwendig, was auf die Aufgabe der Religionswissenschaft verweist, Religion in nichtreligiöser Weise zu beschreiben. Solche Analysen äußern sich jedoch nicht in Bezug auf die Konfliktmächtigkeit von »Religion« per se, sondern in Bezug auf die jeweils untersuchten Religionsformen im jeweils untersuchten Konflikt. Die Reflexion der zeitstrukturierenden Inhalte und Handlungsschemata, ihrer Funktionsweise und historischen Genese, wie sie hier versucht wurde, kann deshalb dazu anleiten, den normativen Umgang mit diesen durchsichtiger zu gestalten.37 Pointierter ausgedrückt: Niemand will wissenschaftliche Gegenwartsanalysen mit Konversionen gleichsetzen – folglich sollten sie auch unterschiedlich erzählt werden. Denn »wer von der Realität einer Epochenwende [und den der Epoche je eigenen Konflikten] spricht, belastet sich mit dem Nachweis dafür, dass etwas definitiv entschieden wird.«38 37 STOLZ, Fritz (1997): Ausbreitungsstrategien und Universalisierungstendenzen in der europäischen Religionsgeschichte. In: FUHRMANN, Manfred, LUIBL, Hans J., MAINBERGER, Gonsalv K., HONECKER, Martin, STOLZ, Fritz (Hg.), Europa verstehen. Zum europäischen Gestus der Universalität, Theophil, Band 8. Zürich: Pano Verlag. S. 63. 38 BLUMENBERG, Hans (19961. erneuerte A.): Die Legitimität der Neuzeit, Vierter Teil: Aspekte der Epochenschwelle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 544.

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VAN GENNEP, Arnold (1909): Les rites de passage. Êtude syst¦matique des rites de la porte et du seuil. Paris: E. Nourry.

Religion im Kontext von Recht und Staat

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Geduldet, zugelassen oder aufgenommen? Religiöse Dissidenten im 19. Jahrhundert zwischen Gewissensfreiheit und Konzessionsprinzip

Religionsfreiheit als normative Größe Gewissens- beziehungsweise Religionsfreiheit ist eines der ältesten, sich bereits seit den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelnden Grundrechte, das in seiner staatsrechtlichen Ausformung einem starken Wandlungsprozess unterworfen war.1 Im Abschnitt »Religion und Religionsgesellschaften« der Weimarer Reichsverfassung, der bis heute im Grundgesetz seine fortwährende Gültigkeit hat, ist Religionsfreiheit in die Einzelrechte der Bekenntnisfreiheit, der Freiheit der Religionsausübung und der Freiheit der Vereinigung zu religiösen Verbänden beziehungsweise Religionsgemeinschaften gegliedert. Sie ist als umfangreiche Garantie zu verstehen, die den Einzelnen die rechtliche Möglichkeit gewährt, ihr Verhältnis zu religiösen Fragen nach Belieben zu gestalten und somit ihren religiösen und areligiösen Überzeugungen gemäß leben zu können. Dem Subjekt wird somit zugestanden, alles tun zu dürfen, was diese Überzeugungen fordern, und alles unterlassen zu dürfen, was sie verbieten, und in all diesen Beziehungen frei zu sein von staatlichem Zwang.2 Diese Bestimmungen lassen drei konstitutive Elemente des heutigen Verständnisses von Religionsfreiheit erkennen: Erstens haben diese Einzelrechte nach heutiger Rechtsprechung sowohl eine positive als auch negative Komponente und schützen nicht nur einen Glauben, 1 Vgl. BOROWSKI, Martin (2006): Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 8; KAUPISCH, Julia (2008): Das Grundrecht der Religionsfreiheit in seiner historischen Entwicklung. Werdegang in den norddeutschen Ländern. Frankfurt a. M.: Lang; FÜRSTENAU, Hermann (1891): Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland. Leipzig: Duncker & Humblot. 2 Vgl. BADURA, Peter (1989): Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz. Verfassungsfragen zur Existenz und Tätigkeit der neuen »Jugendreligionen«. Tübingen: Mohr, S. 29.

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sondern beziehen auch die Freiheit mit ein, einen Glauben oder eine Weltanschauung nicht zu haben und keiner Religionsgemeinschaft anzugehören beziehungsweise eine solche verlassen zu können. Anders als die bloße Glaubensfreiheit umfasst Religionsfreiheit nach heute geltendem Recht sowohl das forum internum als auch das forum externum und sichert den jeweiligen Grundrechtsträgern nicht nur die Freiheit des Glaubens oder Nichtglaubens, sondern auch deren Kenntlichmachung und die Freiheit des Sichverhaltenkönnens nach diesen Glaubensgrundsätzen. Dem zugrunde liegt drittens die Idee eines säkularen Staatswesens, in dem Religion kein Ferment der politischen Ordnung mehr darstellt. Die Idee des säkularen Staates, der sich um des religiösen Friedens willen zu religiös-weltanschaulicher Neutralität selbstverpflichtet, hat sich dabei heute zu einem Pfeiler des rechtsstaatlich-demokratischen Selbstverständnisses entwickelt.3 Die immer wieder aufflammenden Streitfragen um das Thema Religion, aktuell besonders im Bereich des Arbeitsrechts4, zeigen, dass die Inhalte und Grenzen der Religionsfreiheit auch heute immer wieder neu verhandelt werden. Allerdings haben diese Aushandlungsprozesse durch die Verankerung des Grundgesetzes heute einen konkret abgesteckten Rahmen bekommen. Dieser Rahmen setzt Maßstäbe, die über eine bloße juristische Form hinausreichen und sich kulturell überformt als universelle Werte institutionalisiert haben. So wird in gegenwärtigen innenpolitischen Debatten, meist in negativer Abgrenzung gegenüber dem Islam, immer wieder der säkulare Charakter europäischer Gesellschaftsordnungen betont. Während diese Säkularität hier für das normativ Gute im Sinne universeller Menschen- und Freiheitsrechte steht, wird der Islam, respektive Religion im Allgemeinen oft als Ausdruck rückständiger Barbarei gedeutet. Was sich hier zeigt, sind Vorstellungen des Menschen, des Staates, der Religion und des angemessenen Verhältnisses dieser Größen zueinander und ihrem Anspruch auf Macht und Autonomie; Vorstellungen, die oftmals in Form universeller Werte institutionalisiert nur noch bedingt auf ihre partikulare Entstehungsgeschichte verweisen. 3 Vgl. REUTER, Astrid (2007): Säkularität und Religionsfreiheit. Ein doppeltes Dilemma. Leviathan 32, S. 178 – 192, hier S. 178; BIELEFELDT, Heiner (2011): Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats. Verständnisse und Missverständnisse eines Verfassungsprinzips, Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte 4, S. 24 – 27. 4 Vgl. THÜSING, Gregor (2006): Kirchliches Arbeitsrecht. Rechtsprechung und Diskussionsstand im Schnittpunkt von staatlichem Arbeitsrecht und kirchlichem Dienstrecht. Tübingen: Mohr Siebeck; LINK, Christoph (2004): Antidiskriminierung und kirchliches Arbeitsrecht. In: KRAUSE, Rüdiger, VEELKEN, Winfried, VIEWEG, Klaus (Hg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa. Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer (S. 675 – 690). Berlin: Duncker & Humblot; SCHLIEMANN, Harald (2003): Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht. Kooperation oder Konfrontation? In: DABROWSKI, Martin, ROBBERS, Gerhard (Hg.), Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht (S. 19 – 44). Münster : Dialogverlag.

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Die folgenden Überlegungen werden das Thema »Religion als gesellschaftlicher Integrations- und Konfliktfaktor« in historischer Perspektive aufgreifen. Die Regelungen des heutigen Grundgesetzes sind nicht alleine das Resultat einer sich linear entfaltenden übergeordneten Ideengeschichte. Vielmehr spiegelt sich darin eine Vielzahl konfliktreicher Aushandlungsprozesse über die gesellschaftliche Bedeutung von Religion und ihrer Ausübungsfreiheit, die sich vor allem im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den Schnittstellen zwischen staatlicher und kirchlicher Ordnung und individuellen Freiheitsansprüchen entzündeten. Anders als in Frankreich oder auch den Vereinigten Staaten waren religiöse Freiheitsrechte in den deutschen Territorien nicht im Zuge revolutionärer Umwälzungen gewährt worden.5 Trotz des unverkennbaren Einflusses des naturrechtsphilosophischen und aufklärerischen Gedankenguts, trafen die grundrechtlichen Verbürgungen der konstitutionellen Ära auf eine weitgehend polizeistaatlich geprägte Rechtsordnung. Wie ich im Hinblick auf die rechtliche Stellung religiöser Dissidenten versuchen möchte nachzuzeichnen, entsprangen viele Konflikte nicht zuletzt einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen diesen neuen politischen Leitmotiven auf der einen und dem Fortbestehen alter christlich-absolutistisch Herrschaftsstrukturen auf der anderen Seite.

Von konfessionellen Auseinandersetzungen und dem Prinzip der Parität In historischer Perspektive erscheinen als entscheidende Wegmarken auf dem Weg zum heutigen Religionsrecht immer wieder die großen Friedensverträge nach den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die habsburgische Toleranzgesetzgebung unter Joseph II. und des Preußischen Allgemeinen Landrechts 1794, die Bestimmungen der Paulskirchenverfassung hin zu den Weimarer Kirchenartikeln.6 Heutige Vorstellungen von religiöser Freiheit sind in vieler Hinsicht eine Verallgemeinerung der Gewissens- und 5 Hiervon ausgenommen sind die linksrheinischen Gebiete, in denen auch nach Napoleons Niederlage der Code Civil in wesentlichen Teilen beibehalten wurde und zur direkten Rezeption französischer Revolutionsideen in den deutschen Territorien beitrug. Vgl. FEHRENBACH, Elisabeth (1983): Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napol¦on in den Rheinbundstaaten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 6 Vgl. Beiträge im Sammelband von GAERTNER, Joachim, GODEL, Erika (Hg.) (2007): Religionsfreiheit und Frieden. Vom Augsburger Religionsfrieden zum europäischen Verfassungsvertrag. Frankfurt a. M.: Lang; CAMPENHAUSEN, Axel Freiherr von, WALL, Heinrich de (Hg.) (20064): Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. München: Beck; CZERMAK, Gerhard, HILGENDORF, Eric (Hg.) (2008): Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung. Berlin: Springer, S. 1 – 12.

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Religionsfreiheit wie sie sich sukzessive aus den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts herausgebildet hat. Gleichzeitig überzeichnet diese Kontinuitätslinie jedoch den fundamentalen Bruch, den die alten Ordnungsvorstellungen mit der Herausbildung eines zunehmend säkular ausgerichteten Staatskirchenrechts im 19. Jahrhundert erfuhren.7 Obwohl die Gewissensfreiheit in der heutigen rechtlichen Debatte als eigenständiges, von der Religions- und Bekenntnisfreiheit weitgehend gelöstes und säkularisiertes Grundrecht aufgefasst wird, ist sie in ihrer historischen Entwicklung jedoch untrennbar mit diesen Begriffen verknüpft.8 Im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts hatte die Freiheit des Gewissens zunächst einmal vor allem den Sinn eines Abwehrrechts gegen unmittelbaren Glaubens- und Bekenntniszwang. Dieser Schutzbereich war jedoch eng umrissen. So zielte die so begriffene Gewissensfreiheit zunächst nur auf die Freiheit von Zwang zur Annahme oder Beibehaltung eines bestimmten Bekenntnisses und war trotz des Rechts der einfachen Hausandacht und des beneficium emigrationis maßgeblich auf das forum internum bezogen.9 Das hier zugrundeliegende Prinzip war keine Glaubensfreiheit im heutigen Verständnis, das heißt zur Selbstbestimmung bezüglich der Zugehörigkeit zu einem religiösen Glauben oder nichtreligiöser Weltanschauung befugt zu sein10, sondern richtete sich vor allem auf die Parität der drei im Reich anerkannten

7 Auch wenn Martin Heckel die Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens als »Ausgleichsordnung religiöser Freiheit und Gleichheit« hervorhebt, muss an dieser Stelle betont werden, dass diesem völlig andere Begriffe von Staat und Subjekt zugrunde liegen, als dies heute der Fall ist. Religionsfreiheit hatte bis ins 19. Jahrhundert einen sehr bescheidenen Bezugsrahmen und es lassen sich historische Beispiele ins Feld führen, die die »Selbstbeschränkung der Staatsgewalt auf gemeinsame säkulare Ziele« mehr als richtungsweisende Deklarationen, denn als unmittelbar wirkende Rechtsprinzipien erscheinen lassen. Vgl. HECKEL, Martin (2007): Vorwort. In: Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung. Der Sonderweg des deutschen Staatskirchenrechts vom Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zur Gegenwart, München: Verlag der bayrischen Akademie der Wissenschaften. Als Beispiel sei auf den preußischen Agendenstreit 1821 verwiesen, der deutlich zeigt, wie schwierig sich die Selbstbeschränkung durch die institutionellen Verflechtungen beispielsweise in Form des Landeskirchenregiments gestalten konnte. Vgl. GOETERS, Gerhard J. F., ROGGE, Joachim (Hg.) (1992): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 83 – 158. 8 Vgl. SCHOLLER, Heinrich (1958): Die Freiheit des Gewissens. Berlin: Duncker & Humblot, S. 116. 9 Vgl. BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang (1975): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 255. 10 Vgl. CONRING, Hans-Tjabert (1998): Korporative Religionsfreiheit in Europa. Eine Rechtsvergleichende Betrachtung. Frankfurt a. M.: Lang, S. 98.

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Konfessionen. Anhänger von Denominationen oder anderen als Sekten bezeichneten religiösen Gruppen unterstanden diesem Schutzbereich nicht.11 Maßgeblich unter dem Einfluss der Aufklärung kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich zu einer Ausdehnung dieses Rechtsumfangs. So gewährte Preußen als Vorreiter im Woellnerischen Religionsedikt12 als auch im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten die vollkommene Glaubensund Gewissensfreiheit, durch die der innere und häusliche Gottesdienst gewährleistet und eine Verfolgung aufgrund religiöser Ansichten, und damit auch das landesherrliche Ausweisungsrecht, ausgeschlossen wurde.13 Diese Ausdehnung hatte nachhaltigen Einfluss auf den Begriff der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die in der Folgezeit Eingang in die konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts fand.14 Allerdings beschränkte sich auch die in der sächsischen Verfassung von 1831 verankerte Gewissensfreiheit zunächst auf bloße Freiheit des Gewissens im forum internum, ohne dass daraus eine uneingeschränkte Bekenntnisfreiheit oder religiöse Kultus- beziehungsweise Korporationsrechte abgeleitet werden konnten.15 Gemeint war ein kleiner, klar begrenzter, privater, dem staatlichen Zugriff entzogener Bereich. Die gemeinsame Ausübung des Kultus war für Andersgläubige nur in eingeschränktem Maße möglich. Anhand der Staatsgesetzgebung wurde entschieden, welches Maß des »Gottesdienstschutzes« den einzelnen Gemeinschaften zugutekommen sollte. Dabei wurde zwischen öffentlicher Religionsausübung, Privatkultus oder bloßer Hausandacht unterschieden. Die öffentliche Religionsausübung gestand den Gemeinschaften das Recht zu, Gottesdienste und Ritualhandlungen im Rahmen öffentlicher Versammlungen durchzuführen. Dies galt allerdings nur für die im Sinne von §56 der Sächsischen Verfassung »aufgenommenen« Kirchen, also die Evangelisch-Lutherische Kirche, die Römisch-Katholische Kirche und die Evangelisch-Reformierte Kirche.16 Die nachträgliche Aufnahme von Religions11 Vgl. CONRAD, Hermann (1977): Religionsbann, Toleranz und Parität am Ende des alten Reiches. In: Lutz, Heinrich (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (S. 155 – 192), S. 169. 12 Vgl. WIGGERMANN, Uta (2010): Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen: Mohr Siebeck. 13 Vgl. Borowski 2006, S. 256. 14 Vgl. MÜLLER, Harald (2006): Zur rechtlichen Lage von Freikirchen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Spes Christiana 17, S. 21 – 44, hier S. 26 f. 15 Vgl. hierzu ausführlicher KAUPISCH 2008, S. 52 ff. 16 Vgl. das Mandat vom 16. Februar 1807 »Die Ausübung des Römisch-katholischen Gottesdienstes betreffend« abgedruckt in SEYDEWITZ, Paul (18903): Codex des im Königreiche Sachsen geltenden Kirchen- und Schulrechts. Leipzig: Tauchnitz, S. 99 und auch das Mandat vom 18. März 1811 »Die Gleichstellung der reformierten Religionsverwandten, hinsichtlich der öffentlichen Ausübung ihres Gottesdienstes, auch übrigen bürgerlichen und politischen Rechte, mit den Römischkatholischen und Augsburgischen Confessionsverwandten [sic] betreffend«, vgl. Seydewitz 18903, S. 101.

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gemeinschaften musste, wie im Falle der Deutsch-Katholiken, durch ein gesondertes Gesetz erfolgen.17 Juden, Griechisch-Katholische und Anglikaner waren im Königreich nicht aufgenommen, sondern lediglich anerkannt und damit nur berechtigt nicht-öffentliche Gottesdienste durchzuführen.18 Für die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften blieb die einfache Hausandacht. Hierzu wurden die Familie und maximal noch weitere zum Haushalt gehörige Personen wie die Hausangestellten gezählt.19 Trotz des unverkennbaren Einflusses der Aufklärung waren, wie eingangs erwähnt, die konfessionellen Verhältnisse in vielen Territorien bis weit ins 19. Jahrhundert immer noch durch den Status Quo des Westfälischen Friedensvertrages von 1648 geprägt. Eine Kirchenzugehörigkeit zu einem der anerkannten oder geduldeten Bekenntnisse war, vom tatsächlichen Glaubensstand gelöst, für alle Staatsangehörigen obligat und aufgrund der engen organisatorischen Verknüpfung von Staat und Kirche zum Teil unmittelbar mit dem Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte verbunden. Religiöse Freiheitsrechte bezogen sich darüber hinaus vornehmlich auf die drei großen Konfessionen, die im Westfälischen Frieden Anerkennung gefunden hatten. Die Duldung anderer Bekenntnisse war stets dem Ermessen des jeweiligen Landesherrn unterworfen. Die Reformation und die damit verbundene konfessionelle Pluralisierung der religiösen Landkarte hatten zwar zweifellos entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Gewissens- und Religionsfreiheit. Doch waren abgesehen vom ius emigrandi, welches auch eine subjektivrechtliche Komponente beinhaltete, die Corpora der Reichsstände stets die Träger von Rechten, nicht das Individuum als solches. Somit betont der Kirchenrechtler Dietrich Pirson zutreffend, dass das staatliche Recht erst lange Zeit nach der Reformation die religiöse Freiheit des Einzelnen, die heute als elementarer Bestandteil des Religionsrechts zu begreifen ist, zum Gegenstand staatlicher Normierungen machte.20 Dies ist eine Entwicklung, die sich in den deutschen Territorien im Grunde erst im 19. Jahrhundert verorten lässt.

17 Die Deutschkatholiken fanden ihre Aufnahme durch das am 2. November 1848 erlassene »Gesetz über die Rechtsverhältnisse der deutschkatholischen Glaubensgenossen«, vgl. Seydewitz 18903, S. 276. 18 Die Griechisch-Katholischen wurden mit dem Reskript vom 7. August 1815, Juden durch ein Gesetz vom 18. Mai 1837 und Anglikaner zumindest für die Stadt Dresden mit einem Beschluss vom 29. Mai 1839 anerkannt. Vgl. Seydewitz 18903, S. 107, 206 und 153. 19 Vgl. Seydewitz 18903, S. 150. Ferner auch BÖHME, Franz (1901): Die königlichen sächsischen Gesetze und Verordnungen betreffend die Dissidenten und religiösen Sekten. Leipzig: Roßberg & Berger, S. 1. 20 Vgl. PIRSON, Dietrich (1994): Die geschichtlichen Wurzeln des deutschen Staatskirchenrechts. In: LISTL, Joseph, PIRSON, Dietrich (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (S. 3 – 46). Berlin: Duncker & Humblot, S. 40.

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Vom Prinzip der Gewissenfreiheit zur Dissidentengesetzgebung 1870 Grundlegende Impulse gingen dabei von den Verfassungsbestrebungen im Zuge der Märzrevolution 1848/49 aus. Obwohl die Paulskirchenverfassung nach dem Scheitern der Revolution 1849 nie in Kraft trat und somit die rechtlichen Verhältnisse in vielen Territorien noch bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts weitestgehend unverändert blieben, können die dort in den »Grundrechten des deutschen Volkes« verankerten Paragraphen 144 – 151 als richtungsweisend für die weitere Ausgestaltung religiöser Freiheitsrechte im 19. Jahrhundert angesehen werden.21 Anders als die nicht in Kraft getretene Paulskirchenverfassung war in der späteren Verfassung des Deutschen Kaiserreiches vom 16. April 1871 kein Grundrechtsteil vorgesehen. Allein in dem Gesetz »Die Sicherung der Bekenntnisfreiheit« vom 3. Juli 1869 wurde auf religiöse Freiheits- beziehungsweise Gleichheitsrechte Bezug genommen.22 Diese Verordnung war bereits Teil der Verfassung des Norddeutschen Bundes und hatte nun über die Reichsgründung hinaus ihre fortwährende Gültigkeit behalten. Darüber hinausreichende Bestimmungen lagen nicht zuletzt aufgrund der starken föderalen Ausgestaltung des neuen Kaiserreiches noch immer im Kompetenzbereich der einzelnen Länder und so war die tatsächliche rechtliche Ausgestaltung dieses Grundsatzes weiterhin an die Verfassungen der Territorien geknüpft.23 Die religionsrechtlichen Strukturen in Sachsen beruhten demnach noch bis 1918 auf der Verfassungsurkunde des Königreichs vom 4. September 1831. Diese wurde jedoch im Laufe der Zeit durch kleinere Mandate oder Gesetze ergänzt und schrittweise erweitert.24 Vor diesem Hintergrund bekommen die Dissidenten21 Hervorzuheben sind die Gewährung voller Glaubens- und Gewissensfreiheit (§144), häuslicher und öffentlicher Religionsausübung (§145), die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichstellung religiöser Bekenntnisse (§146), die weitreichenden Selbstverwaltungsrechte der religiösen Gemeinschaften (§147) und die Etablierung der Zivilehe (§150). Text in HUBER, Ernst Rudolf (1961): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Deutsche Verfassungsdokumente 1803 – 1850. Stuttgart: Kohlhammer, S. 319 f. Ausführlicher hierzu vgl. u. a. Borowski 2006, S. 28 mit Fußnoten und KÜHNE, Jörg-Detlef (1985): Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Reichsleben, Frankfurt a. M.: Metzner. 22 Text bei HUBER, Ernst Rudolf (1964): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Deutsche Verfassungsdokumente 1851 – 1918. Stuttgart: Kohlhammer, S. 248. Demgemäß sollten alle »noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte« aufgehoben werden. 23 Vgl. Borowski 2006, S. 40. 24 Die Staatskirchengesetzgebung betreffen vor allem folgende Artikel der Sächsischen Verfassung: §32 (Gewissensfreiheit, Schutz der Gottesverehrung), §33 (Gesetz vom 3. Dezember 1868, Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Be-

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gesetze, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen deutschen Territorien erlassen wurden, besondere Bedeutung. Sachsen zählte mit der 1870 erlassenen Dissidentengesetzgebung neben Preußen und Baden zu einem der ersten Länder auf dem Gebiet des späteren Deutschen Kaiserreiches, das nach 1848 explizite Regelungen zum Kirchenaustritt und zum religiösen Vereinigungsrecht schuf.25 Neben der Regelung des Zivilstandes von Personen, die keiner anerkannten Religionsgemeinschaft angehörten, enthält das Gesetz mit Paragraphen 19, 20 und 21 Bestimmungen zum Kirchenaus- und übertritt sowie Ergänzungen zum Vereinsrecht von 1850, die die konfessionelle Lage im Königreich nachhaltig beeinflussten. Zum einen wurde religiös-dissidentischen Gruppierungen mit den darin enthaltenen Bestimmungen nicht nur die Möglichkeit geboten, unter bestimmten Voraussetzungen religiösen Kultus auszuüben, sich auf Vereinsebene zu institutionalisieren und somit das Spektrum der zugelassenen Religionsgemeinschaften um ein Vielfaches zu erweitern. Es kam darin auch erstmals eine für heutige gesellschaftliche Verhältnisse selbstverständliche Form der negativen Religionsfreiheit zum Tragen, nämlich die Möglichkeit, keiner religiösen Gemeinschaft anzugehören und seinen areligiösen und antireligiösen Überzeugungen auch auf institutioneller Ebene Ausdruck zu verleihen. Bisher war ein Austritt aus einer Kirche nur möglich gewesen, wenn ein Eintritt in eine andere, anerkannte Gemeinschaft folgte. Auf Grundlage von §32 der Sächsischen Verfassung sollte diesem »Gewissenszwang« nun ab-

kenntnis), §41 (in Evangelicis beauftragte Staatsminister), § 56 (Öffentliche Religionsausübung der aufgenommen Konfessionen), §57 (Ausübung des jus circa sacra und des jus episcopale), §59 (Unterordnung der Kirchendiener unter das Staatsgesetz), § 60 (Besonderer staatlicher Schutz des Kirchenvermögens). Hinzu kommen folgende Erlasse: Mandat vom 27. Februar 1827 (Übertritt von einer christlichen Konfession zur Anderen), Gesetz vom 1. November 1836 (Ehen unter Personen evangelischen und katholischen Glaubensbekenntnisses und die religiöse Erziehung von deren Kindern), Gesetz vom 8. März 1838 (Verpflichtung der Kirchen und Schulgemeinden zur Aufbringung des in Kirchen und Schulen erforderlichen Aufwandes), Gesetz vom 2. November 1848 (Aufnahme der Deutschkatholiken), Gesetz vom 8. März 1838 (Verpflichtung der Kirchen und Schulgemeinden zur Aufbringung des in Kirchen und Schulen erforderlichen Aufwandes), Gesetz vom 20. Juni 1870 (Einführung der Zivilstandsregister für Personen, die keiner anerkannten Religionsgemeinschaft angehören), Gesetz vom 16. April 1873 (Errichtung eines evangelisch-lutherischen Landeskonsortiums). Vgl. KAHL, Wilhelm (1894): Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik. Einleitung und allgemeiner Teil. Freiburg i. B.: Mohr, S. 210 – 213. Vgl. das Mandat vom 16. Februar 1807, »Die Ausübung des Römisch-katholischen Gottesdienstes betreffend« abgedruckt in Seydewitz 18903, S. 99 und auch das Mandat vom 18. März 1811, »Die Gleichstellung der reformierten Religionsverwandten, hinsichtlich der öffentlichen Ausübung ihres Gottesdienstes, auch übrigen bürgerlichen und politischen Rechte, mit den Römischkatolischen und Augsburgischen Confessionsverwandten [sic] betreffend«, vgl. Seydewitz 18903, S. 101. 25 Vollständiger Text vgl. BÖHME, Franz (1901).

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geholfen werden.26 Vor allem in den Bestimmungen zur Eheschließung, die erstmals auch Mischehen aller Bekenntnisse möglich machten, kam es zu einer Durchbrechung des Prinzips der Übereinstimmung von bürgerlichem Recht und den einschlägigen Bestimmungen der Kirche, wie es explizit auch in den Motiven der Gesetzesvorlage hervorgehoben wurde.27 Durch die Einführung der Zivilstandregister und die Ermöglichung des Kirchenaustritts wurde das Individuum stufenweise aus den Bindungen des Staatskirchentums und der großen Landeskirchen gelöst. Neben der Erweiterung der Religionsausübungsfreiheit wurde vor allem der persönlichen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit eine höhere Bedeutung beigemessen; und nicht nur der des Glaubens, sondern auch erstmals der des Nichtglaubens. Dies wurde dadurch möglich, dass religiöse Freiheitsrechte des Einzelnen nicht mehr über die Corpora der Reichsstände oder über die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften als solche abgeleitet wurden, sondern aus dem bürgerlichen Recht. Dies schützte zum ersten Mal auch Konfessionslosigkeit und negative Religionsfreiheit, die, wie eingangs erwähnt, heute wichtiger Bestandteil des Religionsrechts ist.

Von Gesetzen und gesellschaftlichen Spannungsfeldern Aus Sicht der Zeitgenossen wurde dies durchaus als neue Phase des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche wahrgenommen. So bezeichnete Superintendent Gotthard Victor Lechler die Vorlage zum Kirchenaustritt in der Landtagssitzung vom 8. Februar 1870 als Bestimmungen von »ungeheurer Tragweite«, die bedeutendes Gewicht für den Begriff und das Wesen des Staates nach sich zögen: »[…] mit dieser Bestimmung nimmt der Staat, indem er in einem einzelnen Punkte ein gewisses Princip [sic] aufstellt, genau genommen einen anderen Charakter an, als den bisher er getragen hat. Ich meine, es liegt etwas darin, ich möchte nicht zu viel sagen, aber doch von dem Begriffe des religionslosen Staates.«28 26 Vgl. SÄCHSISCHER LANDTAG (1870b): Mitteilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen während der Jahre 1869 – 1870. Zweite Kammer. Dresden: Teubner, S. 1845. So heißt es in den Motiven »[…] auf der anderen Seite übt man einen mit unserer Verfassung nicht vereinbaren Gewissenszwang, insofern man Staatsbürger an ein Glaubensbekenntniß [sic] äußerlich fesselt, dem sie innerlich fernstehen, und sie zur Vollziehung von kirchlichen Handlungen, wie Taufen, Trauungen, anhält, die zum Theile [sic] ihren besonderen kirchlichen Anschauungen nicht entsprechen. Solche Zustände entsprechen nicht der inneren Wahrheit und sind nicht geeignet, das rechte Verhältniß [sic] zwischen Kirche und Staat aufrecht zu erhalten und zu fördern.« 27 Vgl. Sächsischer Landtag 1870b, S. 1848. 28 Vgl. SÄCHSISCHER LANDTAG (1870a): Mitteilungen über die Verhandlungen des ordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen während der Jahre 1869 – 1870. Erste Kammer. Dresden: Teubner, S. 727.

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Trotz der Stärkung der individuellen und korporativen Komponente, die das Dissidentengesetz durch seine Bestimmungen beinhaltete, war der Staat des 19. Jahrhunderts jedoch weit davon entfernt, ein religionsloser zu sein. Die Praxis zeigt vielmehr, wie die neuen liberalen und protosäkularen Leitmotive mit den ins 19. Jahrhundert hineinreichenden christlich-absolutistischen Herrschaftsansprüchen, mitsamt ihren weitreichenden Kirchenaufsichts- und Kuratelrechten, in ein grundlegendes Spannungsverhältnis traten. Vor allem aus Sicht dissidentierender Minderheiten entstand eine zunehmende Diskrepanz zwischen diesen staatlichen Eingriffsmöglichkeiten und ihrer nachlassenden Legitimität.29 Für das Königreich Sachsen sind zahlreiche Repressionen gegen Baptisten und andere so genannte Sektierer überliefert. Wie nicht nur die Erlebnisse des baptistischen Predigers Karl Marscher aus Dresden zeigen können, ist behördlicherseits immer wieder gegen die »Störung des religiösen Friedens« vorgegangen worden.30 So erregte schon die Anbringung des Namens »Gemeinde gläubig getaufter Christen« über der Tür der Kapelle solch ein Aufsehen, dass dieser »versteckte Angriff auf die Landeskirche« mit einer Geldstrafe geahndet wurde.31 Versammlungen von Baptisten und Methodisten wurden wiederholt verboten, Personen der Zutritt zu angezeigten Veranstaltungen verwehrt und Zuwiderhandlung mit Geldstrafen belegt.32 Auch das Singen und Beten sowie das Erheben von Kollekten wurde beanstandet und der Ablauf von Gottesdiensten polizeilich überwacht.33 Ähnliche Vorkommnisse sind aus Planitz und Chemnitz überliefert.34 In Schneeberg ging 1896 gegen den Gärtnereibesitzer Franz Siebert eine Strafverfügung von 25 Mark ein. Dieser hatte sich schuldig gemacht, in der Wohnung des Maurers Müller in Hartmannsdorf über Religion gesprochen zu haben ohne vorherige Anzeige bei der Polizeibehörde.35 Die Beispiele ließen sich fortführen. Was sich hier und in den nachfolgenden gerichtlichen Auseinandersetzungen niederschlägt, ist nicht zuletzt das Fortwirken umfangreicher Kontroll- und Mitwirkungsrechte an kirchlichen Institutionen und Aktivitäten, wie sie noch zu Beginn des Jahrhunderts fester Bestandteil des staatlichen Herrschaftsanspruches gewesen sind.36 Die Gewis-

29 Vgl. Heckel 2007, S. 39. Ferner MASCHER, Karl (1898): Ist in Sachsen Religionsfreiheit? Ein Beitrag zu dieser Frage. Hamburg-Borgfelde: Oncken und GERLACH, Hermann (1899): Staatskirchentum und Religionsfreiheit. Unter besonderer Berücksichtigung der kirchlichen Zustände im Königreich Sachsen am Ende des 19. Jahrhunderts. Halle a. S.: Strein. 30 Vgl. Müller 2006, S. 37 und Mascher 1898. 31 Vgl. Mascher 1898, S. 6. 32 Vgl. Gerlach 1899, S. 31. 33 Vgl. Mascher 1898, S. 22, Gerlach 1899, S. 29. 34 Vgl. Müller 2006, S. 37. 35 Vgl. Mascher 1898, S. 24. 36 So unterlagen Kirchengesetze dem staatlichen Placet, kirchliche Ämter Nominations- und

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sensfreiheit wurde Anfang des 19. Jahrhunderts als so genanntes Grundrecht in viele Verfassungen aufgenommen. Diese Verfassungen stellten aber in den deutschen Territorien, im Gegensatz zu Nordamerika oder dem revolutionären Frankreich, die Staatsgewalt nicht auf eine völlig neue Grundlage, sondern modifizierten sie lediglich schrittweise. Dies hatte das lange Überdauern von vorkonstitutionellen Ermächtigungen zur Folge.37 Die Religionsausübungsfreiheit, im Speziellen die korporative Religionsfreiheit, stand trotz aller liberalen Zugeständnisse noch immer unter dem umfassenden Zugriff des Staates, wobei Subordination unter staatliche Herrschaft das maßgebliche Strukturprinzip darstellte. Erst mit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung und der durch sie vorgenommenen Trennung von Staat und Kirche traten die Prinzipien der weltanschaulichen Neutralität und der Koordination hinzu, die wichtige Elemente des heutigen Religionsrechts darstellen. Der Historiker Lothar GALL kennzeichnete das 19. Jahrhundert einmal als Epoche, die nicht durch Einheit und Geschlossenheit charakterisiert war, sondern vielmehr im staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich jeweils hochmoderne mit althergebrachten Bauformen vereinigte, »die, je nach Mischungsverhältnis, das Gesamtbild ganz unterschiedlich erscheinen ließen und es mit ihren Wandlungen wie in einem Kaleidoskop ständig veränderten.«38 An diesen Gedanken anknüpfend ist die Dissidentengesetzgebung von 1870 in einen grundlegenden dynamischen Wandlungsprozess zwischen Staat, Kirche und Individuum eingebettet, in dem die Zuständigkeitsverhältnisse und auch die Grenzen zwischen religiösen und säkularen Bereichen seit Beginn des 19. Jahrhunderts grundlegend neu bestimmt wurden. Dabei ist zu beobachten, wie sich auch hier alte Strukturen mit neuen Leitmotiven mischten und somit nicht selten zu konflikthaften Auseinandersetzungen führen konnten.

Literatur BADURA, Peter (1989): Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz. Verfassungsfragen zur Existenz und Tätigkeit der neuen »Jugendreligionen«. Tübingen: Mohr. BIELEFELDT, Heiner (2011): Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Präsentationsrechten, kirchliche Akte einer staatlichen Kirchenaufsicht mit maßgeblichen Beanstandungs- und Korrekturrechten der Behörden und Gerichte. Vgl. Heckel 2007, S. 39. 37 Vgl. GRIMM, Dieter (1988): Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auslösung des Deutschen Bundes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 134. 38 Vgl. GALL, Lothar (20095): Europa auf dem Weg in die Moderne 1850 – 1890. München: Oldenburg Verlag, S. 1.

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Rechtsstaats. Verständnisse und Missverständnisse eines Verfassungsprinzips, Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte 4, S. 24 – 27. BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang (1975): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. BÖHME, Franz (1901): Die königlichen sächsischen Gesetze und Verordnungen betreffend die Dissidenten und religiösen Sekten. Leipzig: Roßberg & Berger. BOROWSKI, Martin (2006): Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes. Tübingen: Mohr Siebeck. CAMPENHAUSEN, Axel Freiherr von, WALL, Heinrich de (Hg.) (20064): Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. München: Beck. CONRAD, Hermann (1977): Religionsbann, Toleranz und Parität am Ende des alten Reiches. In: Lutz, Heinrich (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit (S. 155 – 192). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. CONRING, Hans-Tjabert (1998): Korporative Religionsfreiheit in Europa. Eine Rechtsvergleichende Betrachtung. Frankfurt a. M.: Lang. CZERMAK, Gerhard, HILGENDORF, Eric (Hg.) (2008): Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung. Berlin: Springer. FEHRENBACH, Elisabeth (1983): Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napol¦on in den Rheinbundstaaten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. FÜRSTENAU, Hermann (1891): Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschland. Duncker & Humblot: Leipzig. GAERTNER, Joachim, GODEL, Erika (Hg.) (2007): Religionsfreiheit und Frieden. Vom Augsburger Religionsfrieden zum europäischen Verfassungsvertrag. Frankfurt a. M.: Lang. GALL, Lothar (20095): Europa auf dem Weg in die Moderne 1850 – 1890. München: Oldenburg Verlag. GERLACH, Hermann (1899): Staatskirchentum und Religionsfreiheit. Unter besonderer Berücksichtigung der kirchlichen Zustände im Königreich Sachsen am Ende des 19. Jahrhunderts. Halle a. S.: Strein. GOETERS, Gerhard J. F., ROGGE, Joachim (Hg.) (1992): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. GRIMM, Dieter (1988): Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auslösung des Deutschen Bundes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. HECKEL, Martin (2007): Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung. Der Sonderweg des deutschen Staatskirchenrechts vom Augsburger Religionsfrieden 1555 bis zur Gegenwart, München: Verlag der bayrischen Akademie der Wissenschaften. HUBER, Ernst Rudolf (1961): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Deutsche Verfassungsdokumente 1803 – 1850. Stuttgart: Kohlhammer. HUBER, Ernst Rudolf (1964): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Deutsche Verfassungsdokumente 1851 – 1918. Stuttgart: Kohlhammer.

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Die Bildung orthodoxer Kirchen in nichtorthodoxen Ländern am Beispiel Skandinaviens

Die christlich-orthodoxe Kirche steht in Ländern, die nicht primär orthodox geprägt sind, vor besonderen Herausforderungen. Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, die theoretische Frage dieses Bandes – ob Religion ein integrativer oder Konflikte hervorrufender Faktor sei – am Beispiel der orthodoxen Kirche zu analysieren. Außerdem stellt er sich der Aufgabe, die bisher wenig erforschte Präsenz orthodoxer Kirchen in Skandinavien sachgerecht darzustellen. Der Beitrag wird in drei Stufen versuchen, diese beiden Ziele zu erreichen. Nach einer allgemeinen religionswissenschaftlichen Charakterisierung des orthodoxen Christentums wird sich der zweite Teil mit den empirischen Fakten der Entstehung orthodoxer Gemeinschaften in den drei Ländern Norwegen, Schweden und Dänemark befassen.1 Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Wechselspiel zwischen einheimischen Konvertiten und Migranten mit christlich-orthodoxem Hintergrund. Der dritte Teil bildet einen Versuch, der Frage nach der integrierenden und/oder Konflikte schürenden Funktion der Religion in diesem konkreten Fall nachzugehen. Zunächst folgt eine allgemeine religionswissenschaftliche Einführung in das orthodoxe Christentum, welches lange von der kulturwissenschaftlichen Forschung vernachlässigt worden ist. Außer der theologischen Auseinandersetzung im Rahmen der so genannten »Ostkirchenkunde« und der Beschäftigung mit osteuropäischen Gesellschaften innerhalb der Geschichtswissenschaft wurde das orthodoxe Christentum von vielen Wissenschaftlern schlicht übersehen, obwohl ein Vergleich des orthodoxen Christentums als kulturelles Phänomen mit dem westlichen Christentum nahe liegen würde. Viele westliche Wissen1 Finnland fällt aus dieser Betrachtung heraus, weil es hier eine historisch gewachsene einheimische orthodoxe Kirche gibt, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, als das Großfürstentum Finnland Teil des Russischen Zarenreiches gewesen ist. Außerdem ist die orthodoxe Kirche, neben der lutherischen Kirche Finnlands, seit 1917 eine der beiden Staatskirchen Finnlands. Siehe z. B. LAITILA, Teuvo (2013): The Orthodox Church of Finland. In: LEUSTEAN, Lucian (Hg.), Eastern Christianity and Politics in the Twenty-First Century, Abingdon/Oxon: Routledge (im Erscheinen).

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schaftler »orientalisierten« die Orthodoxie; nannten sie rückständig und Jahrhunderte lang unveränderlich.2

Das orthodoxe Christentum aus religionswissenschaftlicher Perspektive Es ist nicht einfach eine religionswissenschaftliche Perspektive auf das orthodoxe Christentum anzuwenden. Einerseits unterscheidet sich die religionswissenschaftliche Herangehensweise von einer rein theologischen Perspektive dadurch, dass sie die Frage nach der (Un)vereinbarkeit der verschiedenen christlichen Kirchen nicht fokussiert. Während die Ostkirchenkunde in letzter Instanz immer die eigene Konfession als Vergleichsmoment bereithält und eventuelle Divergenzen oder Konvergenzen aufzuzeigen versucht, interessiert sich die Religionswissenschaft für die orthodoxen Gesellschaften als solche. Andererseits ist es das Anliegen einer religionswissenschaftlichen Perspektive, nicht ausschließlich die historischen Entwicklungen einer oder mehrerer orthodoxer Gesellschaften aufzuzeigen, sondern auch theologische Auseinandersetzungen und Verschränkungen mit anderen Gesellschaftsformationen in den Blickpunkt zu nehmen. Damit soll nicht behauptet werden, die beiden anderen genannten Disziplinen seien immer einseitig, sie setzen aber die orthodoxe Kirche als Religionsgemeinschaft in einem sozialen Umfeld nicht in das Zentrum ihrer Analysen, was dazu führt, dass manchmal für das orthodoxe Christentum relevante Aspekte nicht beachtet werden.3 Die orthodoxe Kirche versteht sich als die christliche Kirche, die den wahren Glauben seit der Zeit der Urkirche in den ersten Jahrhunderten nach Christus bewahrt hat. Ein wichtiges Merkmal der orthodoxen Kirche ist ihr Verständnis von Theologie als empirische Wissenschaft. Es geht ihr darum, die Liturgie ins Zentrum des Interesses zu rücken, statt bestimmte Dogmen und theologische Prinzipien richtig auszulegen. Die theologische Ausbildung ist daher in der orthodoxen Kirche weniger als theoretisch fundiertes Studium zu betrachten, sondern eher als ein »Lernberuf«, d. h. eine auf die Praxis ausgerichtete Aus2 Siehe AGADJANIAN, Alexander und ROUDOMETOF, Viktor (2005): Introduction. In: Dies. und PANKHURST, Jerry (Hg.), Eastern Orthodoxy in a global age: Tradition faces the twentyfirst century (S. 1 – 28). Walnut Creek, CA: AltaMira Press, S. 9; HANN, Chris und GOLTZ, Hermann (2010) Introduction: The Other Christianity? In: Dies. (Hg.), Eastern Christians in Anthropological Perspective (S. 1 – 29). Berkeley, CA et al.: University of California Press, S. 1 – 4. 3 Siehe HUTTER, Manfred (2012): Vergleichende Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. In: CONERMANN, Stefan (Hg.), Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« (S. 177 – 198). Bielefeld: transcript, S. 195.

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bildung. Für orthodoxe Theologen ist damit eine logisch nachweisbare Argumentation weniger aussagekräftig als eine im Geist der Kirche gemachte Verkündigung. Die scholastische Theologie des westlichen Mittelalters hat in der orthodoxen Kirche deshalb kaum einen Stellenwert; die Anerkennung eines großen theologischen Denkers erfolgt vielmehr über die allgemeine Feststellung seiner Teilhabe am göttlichen Geheimnis. Für die orthodoxe Theologie ist es das höchste Ziel des Menschen, Teilhabe an Gott zu erlangen, was nur durch »richtiges« Anbeten erreicht werden kann.4 Zentral im orthodoxen Glaubensleben ist die Eucharistie-Feier in der göttlichen Liturgie,5 die in vielen Kirchen täglich durchgeführt wird. Dieses Ritual bestätigt die Einheit aller orthodoxen Christen, denn die orthodoxe Kirche ist anders strukturiert als es zum Beispiel die katholische Kirche ist. Durch die besondere praxisorientierte Priesterausbildung wird in orthodoxen Gemeinden weniger eine Diskrepanz zwischen Geistlichen und Laien empfunden, obwohl der Priester meistens sehr geachtet wird, als derjenige, der die göttliche Liturgie durchführen kann und darf. In der Russischen Orthodoxen Kirche gibt es ein differenziertes System von Ehrengraden eines Priesters, die jeweils nach fünf Dienstjahren oder für besondere Dienste vergeben werden. Neben dem Priester, der meistens verheiratet ist, gibt es unverheiratete Mönche, die in Klöstern oder als Eremiten leben. Dies hat damit zu tun, dass die Entscheidung für oder gegen die Ehe vor der Priesterweihe fallen muss. Nach der Priesterweihe darf ein orthodoxer Priester nicht mehr heiraten. Ein Bischof muss aber unverheiratet sein. Für das Bischofsamt kommen deshalb hauptsächlich Mönche in Frage, oder in Einzelfällen auch verwitwete Priester. Die Bischöfe bilden die so genannte kirchliche Hierarchie, in der sie in einer Ehrenrangfolge stehen. Diese Rangfolge unterscheidet sich in den verschiedenen orthodoxen (Teil-)Kirchen. Jeder Bischof hat dieselbe Wertigkeit, unabhängig davon, welchen Ehrenrang er inne hat. In der Russischen Orthodoxen Kirche zum Beispiel ist der Patriarch von Moskau somit der »erste unter Gleichen« und hat keine direkte Jurisdiktionsmacht über irgendeinen anderen Bischof. Ein wichtiges Prinzip der Machtverteilung in der orthodoxen Kirche ist das russische Konzept des Sobornost’, der Konziliarität. Dieses besagt, dass das letzte Wort in der orthodoxen Kirche immer die Kirche als Gesamtheit besitzt. Es ist allerdings schwierig, in der Praxis den Willen der Gesamtkirche zu erkennen, da es seit dem Jahre 787 kein Ökumenisches (allumfassendes) Konzil in der orthodoxen Kirche mehr gegeben hat. Beschlüsse, die in einem lokalen Konzil 4 Vgl. THORBJØRNSRUD, Berit S. (2011): For ” bli lik Gud. Helligjøring som livsprosjekt i Den ortodokse kirke. [Um wie Gott zu werden. Heiligung als Lebensprojekt in der orthodoxen Kirche] Unveröffentlichtes Manuskript. 5 Eine gute (theologische) Einführung in das orthodoxe Christentum bietet TAMCKE, Martin (2007): Das orthodoxe Christentum. München: Beck.

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gefasst werden, sind nur für die jeweilige Teilkirche bindend. Es gibt seit nunmehr über hundert Jahren Versuche, ein neues, Panorthodoxes Konzil einzuberufen, welches unter anderem Fragen zu den verschiedenen Graden der Selbstständigkeit einer Teilkirche sowie zu der Organisation der orthodoxen Kirche in der Diaspora klären soll.6 Diese letzte Frage betrifft die Organisation der orthodoxen Gemeinschaften außerhalb der Gebiete der traditionellen orthodoxen Kirche(n). Sie soll hier näher beleuchtet werden: Bisher verstehen sich die orthodoxen Gemeinschaften in einem nicht orthodoxen Land meist als exilierter Teil einer oftmals ethnisch definierten Mutterkirche. Die ethnische Konnotation der orthodoxen Teilkirchen entstand im Zuge des ethnischen Nationalismus im Osten Europas im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Obwohl diese Entwicklung wiederholt theologisch angeprangert wird, sind die einzelnen Kirchen mit unterschiedlicher Intensität mit der dominierende Ethnie ihres Territoriums verbunden.7 Dies hat dazu geführt, dass sich zum Beispiel ein Rumäne automatisch der Rumänischen Orthodoxen Kirche näher fühlt als etwa der russischen, obwohl es dieselbe Kirche ist und er auch an der Eucharistie einer Russischorthodoxen Gemeinde teilnehmen könnte. Ursprünglich baute die orthodoxe Ekklesiologie stark auf territorial definierte kirchliche Jurisdiktionen, nach dem Prinzip »eine Stadt, ein Bischof«. Dieses territoriale Prinzip ist jedoch seit dem neunzehnten Jahrhundert zunehmend durch ethnisch konnotierte Jurisdiktionen in der kirchlichen Praxis ersetzt worden. Dies zeigt sich besonders stark in den traditionell nicht-orthodoxen Ländern Westeuropas und Nord-Amerikas. Die Mehrzahl der orthodoxen Immigranten sehen die orthodoxe Kirche als eine »ethnische« oder »nationale« Heimat in der Diaspora. Jede ethnische Gruppierung tendiert dazu, eigene kirchliche Diasporastrukturen aufzubauen, die sich hauptsächlich an Gläubige der jeweils eigenen Herkunft richten und an der eigenen Liturgiesprache und den eigenen kirchlichen Traditionen festhalten.8 Diese Strukturen stehen meist unter einem »Exarch« genannten Bischof, der für gewisse Bereiche außerhalb des eigentlichen Territoriums der Mutterkirche zuständig ist. Aus verschiedenen Gründen sind die russischen Diasporagemeinden zusätzlich in drei verschiedene Diasporastrukturen gesplittet. In den 1920er Jahren entstand die »Russische Orthodoxe Kirche im Ausland« (ROKA), die sich als Gegensatz zu der 6 Vgl. JENSEN, Anne (1986): Die Zukunft der Orthodoxie. Konzilspläne und Kirchenstrukturen. Zürich et al.: Benziger, S. 127 – 146. 7 Vgl. SUTTNER, Ernst Christoph (2003): Von »Kirchennationen« zu Nationalkirchen. Beobachtungen betreffs eines folgenschweren Paradigmenwechsels in Südosteuropa. In: Ders. (Hg.), Kirche in einer zueinander rückende Welt (S. 685 – 700). Würzburg: Augustinus. 8 Vgl. LEMOPOULOS, Georges (2008): Orthodox Diaspora in Europe: An attempt to describe a range of old and new issues. Derecho y religiûn, 3/2008, S. 55 – 72.

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sowjetisch dominierten Kirche in Russland verstand. Diese Kirche hat ihren Hauptsitz in den USA. Zweitens gibt es das in Paris ansässige »Exarchat der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa«, welches unter der Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel steht (Pariser Exarchat). Dieses Exarchat spaltete sich von der russischen Patriarchatskirche ab, als diese 1931 von ihren sich im Ausland befindenden Bischöfen eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Sowjetstaat einforderte. Die dritte Jurisdiktion ist die Kirche des Moskauer Patriarchats, die seit 1945 und besonders seit 1989 für die russischen Emigranten im Westen Gemeindestrukturen aufbaut. Die Auslandskirche und die Patriarchatskirche haben derzeit den langwierigen Prozess der Wiedervereinigung aufgenommen, während das Exarchat seine Selbständigkeit behalten möchte.9

Skandinavien Das orthodoxe Christentum ist in Skandinavien weniger verbreitet als beispielsweise in Frankreich und Großbritannien. Allerdings befindet sich die älteste russisch-orthodoxe Gemeinde außerhalb des ehemaligen russischen Imperiums in Stockholm. Schon im Jahre 1617 wurde hier eine Kirche ausschließlich für russische Handelsleute errichtet.10 Dies war die einzige orthodoxe Kirche Skandinaviens, bis 1884 die Alexander-Newski-Kirche in Kopenhagen erbaut wurde.11 Die dritte orthodoxe Kirche Skandinaviens wurde schließlich 1931 in Oslo errichtet. Alle drei Kirchen wurden von Gemeinden russischer Tradition genutzt. Sie waren zunächst für russische Handelsleute gedacht und kümmerten sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend auch um Flüchtlinge aus dem ehemaligen russischen Imperium. Im Zuge der oben genannten Auseinandersetzungen um die Kontrolle über die russische Orthodoxie 9 Vgl. RIMESTAD, Sebastian (2013): Jurisdiktionsstreitigkeiten der russischen Orthodoxie in Westeuropa. RGOW, 3/2013, S. 22 – 24; STRICKER, Gerd (2010): Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche in der Diaspora. Berlin: OEZ, S. 109 – 121. 10 Eine eigentliche Kirche für diese Gemeinde wurde erst 1768 erbaut. Das jetzige Kirchengebäude wurde 1907 errichtet. Vgl. HAGSTRÖM, Bengt (2005): L’Orthodoxie en SuÀde. In: CHAILLOT, Christine (Hg.), Histoire de l’Êglise orthodoxe en Europe occidentale au 20e siÀcle (S. 138 – 146). Paris: Dialogue entre orthodoxes, S. 138. 11 20 Jahre vorher hatte die dänische Prinzessin Dagmar den russischen Thronfolger, den späteren Zar Alexander III, geheiratet. Aus diesem Anlass wurde die Kathedrale, finanziert aus Russland, erbaut. Vgl. SEBBELOV, Poul (2005): L’Êglise orthodoxe au Danemark au 20e siÀcle. In: CHAILLOT, Christine (Hg.), Histoire de l’Êglise orthodoxe en Europe occidentale au 20e siÀcle (S. 127 – 130). Paris: Dialogue entre orthodoxes, S. 127; HVITHAMAR, Annika (2010): Orthodoxy in the Diaspora. The Russian Orthodox Church in Denmark. In: 2dUdjVV aV\YTYY S 6Sa_`V – Future of Religion in Europe (S. 35 – 36). St. Petersburg: Aletheia, S. 35 – 36.

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im Exil, fielen alle drei Gemeinden unter die Jurisdiktion des Pariser Exarchats – die Gemeinde in Oslo wurde sogar in dieser Jurisdiktion gegründet. Damit endet allerdings die gemeinsame Entwicklung in den drei Ländern. Auch die Aufnahme und Förderung »einheimischer«, d. h. ethnisch skandinavischer orthodoxer Gläubige wurde in den drei Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Dieser Prozess ist im norwegischen Fall am einfachsten zu beschreiben.12 1952 wurde der Schweizer Konvertit Therapon (Hümmerich) als neuer Gemeindepriester nach Oslo berufen. Da er selbst konvertiert war, lag ihm daran, die Gemeinde für Konvertiten offen zu halten. Als Therapon 1980 in den Ruhestand ging, übernahm Vater Johannes (Johansen), ein norwegischer Konvertit, das Amt des Gemeindepriesters. Er führt die Gemeinde heute noch als Propst des Pariser Exarchats für ganz Skandinavien und gilt als Bischofsanwärter innerhalb des Exarchats. Inzwischen unterstehen der Gemeinde in Oslo viele Filialgemeinden, die allesamt multinational ausgerichtet sind und viele Konvertiten beheimaten. Den seit 1990 entstandenen national geprägten Gemeinden der serbischen, russischen und rumänischen Immigranten in Norwegen wenden sich viel weniger Konvertiten zu. Wenn doch, dann meistens weil sie sich nicht primär aus religiösen Erwägungen der orthodoxen Kirche zuwenden, sondern aufgrund von Eheschließung, Urlaubserlebnissen oder Studienaufenthalten – d. h. die Konversion steht in Zusammenhang mit dem »kulturellen« Kontext der jeweiligen orthodoxen Kirche. In Dänemark wurde diese Entwicklung dadurch erschwert, dass einige einflussreiche Mitglieder der Kopenhagener Gemeinde einen Jurisdiktionswechsel in die Russisch Orthodoxe Kirche im Ausland (ROKA) befürworteten.13 Nach vielen innerkirchlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen erfolgte 1984 der gewaltsame Wechsel vom Pariser Exarchat hin zur deutlich stärker russischnational geprägten ROKA. Auch unter den Dänen gab es eine kleine Anzahl Konvertiten zur Orthodoxie, die sich in der ROKA nicht wohl fühlten. Besonders nach 1990, als eine neue Welle russischer Emigranten auch in Dänemark ankam, wurde die Situation für den profiliertesten dänischen Konvertiten, Poul Seb12 Die folgenden Ausführungen basieren auf ARENTZEN, Thomas (2005): L’Êglise orthodoxe dans la NorvÀge moderne. In: CHAILLOT, Christine (Hg.), Histoire de l’Êglise orthodoxe en Europe occidentale au 20e siÀcle (S. 131 – 137). Paris: Dialogue entre orthodoxes; JOHANSEN, Johannes (Hg., 2006): Den Ortodokse Kirke i Norge – Hellige Nikolai Menighet 75 ”r. 1931 – 2006. [Die orthodoxe Kirche in Norwegen – 75 Jahre Gemeinde Heiliger Nikolai] Oslo: Hl. Nikolai Menighet; Thorbjørnsrud 2011; sowie persönlicher Kommunikation mit Archimandrit Johannes Johansen (12. 12. 2011 und 30. 12. 2012). 13 Die folgenden Ausführungen basieren auf Sebbelov 2005; HVITHAMAR, Annika (2007): Nu skal vi tilbage til rødderne – konversion til den ortodokse kirke i Danmark. [Nun sollen wir zurück zu den Wurzeln – Konversion zur orthodoxen Kirche in Dänemark] In: MOGENSEN, Mogens S. und DAMSAGER, John H. M. (Hg.), Dansk konversionsforskning [Dänische Konversionsforschung] (S. 152 – 173). ærhus: Univers; Hvithamar 2010.

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belov, unhaltbar. Dieser kümmert sich nicht nur um das Wohl der dänischsprachigen Orthodoxen, sondern ist auch publizistisch aktiv. So ist das orthodoxe Christentum in den dänischen Medien überwiegend durch Poul Sebbelov präsent, obwohl er nur eine relativ kleine Gruppe (etwa 50 Gläubige, überwiegend dänische Konvertiten) der Orthodoxen in Dänemark vertritt.14 Diese Gruppe verließ 2001 die Gemeinde der Alexander-Newski-Kirche um eine eigene, dänisch-sprachige Gemeinde mit Unterstützung durch Propst Johannes (Johansen) in Oslo zu gründen. Sebbelov absolvierte ein Fernstudium am Pariser Institut für orthodoxe Theologie St. Serge und erhielt 2002 die Diakonweihe. Ein Jahr später wurde er zum Priester geweiht und betreut seitdem die neue Gemeinde, während die Alexander-Newski-Kirche eine Kirche der russischen Migranten geworden ist. Der schwedische Fall ist wiederum sehr viel komplizierter, hauptsächlich weil hier die orthodoxe Präsenz älter und in größerer Zahl vorhanden ist. Während in Norwegen und Dänemark schätzungsweise jeweils 9000 orthodoxe Christen leben, sind es in Schweden derzeit um die 150000.15 Allerdings bestehen die orthodoxen Gemeinden mehrheitlich aus Eingewanderten: nur zwischen 100 und 500 Norweger, bzw. Dänen sind orthodox, während es um die 4000 orthodoxe Schweden gibt. Die Anzahl der orthodoxen Gläubigen in Schweden ist schon seit den 1950er Jahren, früher als in den anderen beiden Ländern, durch griechische und jugoslawische (serbische) Arbeitsmigration rasant gestiegen.16 Die bestehende Gemeinde in Stockholm, die dem Pariser Exarchat seit dessen Gründung 1931 unterstand, konnte diese Migrationswelle nicht aufnehmen. Allerdings war nur ein einziger Geistlicher, der Grieche Eusebios Vittis, unter den Neuankömmlingen. Seit 1964 sollte er ganz Schweden betreuen, obwohl er lieber zurückgezogen als Mönch leben wollte. 1970 wurde er abgelöst durch die Errichtung des griechischen Exarchates für Schweden und ganz Skandinavien unter dem Patriarchat von Konstantinopel.17 Zwei Jahre zuvor wurde ein Schwede, der ehemals lutherische Pfarrer 14 Hvithamar 2010, S. 44. 15 Diese Zahlen sind Schätzungen aus vielen der erwähnten Quellen. Die konkrete Zahl der Gottesdienstbesucher ist um ein vielfaches kleiner. 16 Die folgenden Ausführungen basieren auf HALLONSTEN, Gösta (1992): Östkyrkor i Sverige – en översikt. [Ostkirchen in Schweden – eine Übersicht] Skellefte”: Artos; EK, Ignatios (1999): Ortodox kristen tro i Sverige. [Christlich-orthodoxer Glauben in Schweden] Uppsala: Pro Veritate, S. 112 – 126; Hagström 2005; sowie persönliche Kommunikation mit Priester Mikael Liljeström (19. 01. 2013 und ff.). 17 Nachdem Vittis 1973 in ein Kloster nach Griechenland ging, wurde er ein hoch geschätzter spiritueller Führer, der weit über die Grenzen Griechenlands hinaus bekannt war. Er starb im Jahre 2009 im Alter von 82 Jahren. Siehe z. B. TISHEL, Michael (Übers., 2010): Fr. Eusebios Vittis (+2009). URL: http://1pilgrim2greece.blogspot.de/2010/03/fr-eusebius-vittis-2009. html, [23. 01. 2013].

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Christofer Klasson, der stark in die ökumenische Arbeit der schwedischen Staatskirche mit eingebunden gewesen war, vom griechischen Exarchen für Großbritannien und Westeuropa zum orthodoxen Priester geweiht. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den serbischen Einwanderern eine religiöse Heimat zu bieten und unterhielt deshalb enge Beziehungen zu dem zuständigen serbischen Bischof Lavrentije Trifunovic, Exarch für Westeuropa. Dies führte zu Spannungen mit dem neu errichteten griechischen Exarchat für Schweden und ganz Skandinavien, was zum Übergang Klassons in die Jurisdiktion des serbischen Exarchats für Westeuropa führte. Ein zweiter ehemals lutherischer Pfarrer, der Schwede Ignatios Ek, wurde direkt vom serbischen Bischof Lavrentije zum Priester geweiht. Diese beiden Konvertiten waren maßgeblich am Aufbau der schwedisch-sprachigen Orthodoxie beteiligt, der hauptsächlich innerhalb der Jurisdiktion der Serbischen Orthodoxen Kirche stattfand. Allerdings gab es zwischen den beiden schwedischen Konvertiten Uneinigkeiten und Ignatios Ek verließ 1977 das serbische Exarchat, um sich in das griechische Exarchat einzugliedern. Ein Jahr später wechselte er zurück zum serbischen Exarchat, allerdings verblieb er von der 1976 errichteten »Schwedischen Orthodoxen Propstei« von Christofer Klasson unabhängig.18 Seitdem sowohl Klasson als auch Ek verstorben sind, gibt es in der schwedischen Orthodoxie viele Bemühungen um Einheit, zumindest auf der religiösen Ebene. Die unterschiedlichen administrativen Strukturen bestehen allerdings noch. So sind die Gemeinden der schwedischen Konvertiten entweder dem seit 1990 bestehenden serbischen Exarchat von Skandinavien direkt unterstellt, oder indirekt, über der Schwedischen Orthodoxen Propstei. Auch das Pariser Exarchat hat einige schwedisch-sprachige Gemeinden in unterschiedlichen Regionen Schwedens. Alle in Schweden ansässigen orthodoxen Gemeinden19 fingen 2010 an, ein gemeinsames einjähriges orthodoxes Theologiestudium am neu errichteten Seminar Sankt-Ignatios südlich von Stockholm anzubieten. Diese religiöse Einheit wird allerdings nicht von allen anerkannt. Es gibt, neben den beschriebenen orthodoxen Gemeinden, auch eine Gemeinde der so genannten »Wahren Orthodoxen Kirche Griechenlands«, eine von den anderen orthodoxen Kirchen nicht anerkannte konservative Gruppierung, die den an18 Ek wechselte 2004, drei Jahre nach seiner Pensionierung, nochmals die Jurisdiktion, diesmal zur Stockholmer Gemeinde des Pariser Exarchates, da er Angst hatte, »seine« Gemeinde würde durch den neuen Priester, den in Schweden geborenen ethnischen Serben Misha Jaksic, »zu serbisch« werden. Jaksic ist heute in Schweden der Sprecher der orthodoxen Kirchen im Koordinationsrat christlicher Kirchen und wird als aufgeklärter und über den Streitigkeiten stehender Ansprechpartner angesehen. 19 Inklusive den normalerweise separat betrachteten orientalischen Kirchen, die hauptsächlich im Nahen Osten beheimatet sind. Diese Kirchen erkennen das letzte Ökumenische Konzil von Chalcedon (787) nicht an und werden deshalb von einigen Vertretern der orthodoxen Kirche als schismatisch angesehen.

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deren Kirchen unerlaubte Neuerungen vorwirft. Auch die in den 1970er Jahren entstandene »Schwedische Orthodoxe Kirche« hat keine kirchenrechtliche Grundlage. Während letztere allerdings nahezu untergegangen ist, verfügt erstere über eine gut gepflegte Webseite, die den Eindruck erweckt, sie gehöre einer anerkannten Kirche an.20 Zum zweiten steht der alternde Metropolit Pavlos Menevisoglou, Exarch für Schweden und ganz Skandinavien des Patriarchats von Konstantinopel, den Einheitsbemühungen der schwedischen Orthodoxie skeptisch gegenüber. Obwohl 2009 entschieden wurde, dass regionale Bischofsversammlungen aller in einer Region tätigen anerkannten orthodoxen Bischöfe errichtet werden sollen,21 ist dies bis heute allein in Skandinavien noch nicht geschehen. Auch bei der Errichtung des Seminars Sankt-Ignatios ist das griechische Exarchat als einzige Gemeinde nicht beteiligt gewesen, obwohl es sie abgesegnet hat. Inwiefern dies auf die persönliche Einstellung des Exarchen zurückzuführen ist, oder gar mit seinem Alter zu tun hat, bleibt eine offene Frage.22 Die drei beschriebenen skandinavischen Fälle zeigen drei unterschiedliche Strategien, wenn es darum geht, konvertitenfreundliche orthodoxe Gemeinden in einem nicht-orthodoxen Land aufzubauen. Im norwegischen Fall wurde die bestehende Gemeinde von Konvertiten übernommen und in ihrem Sinne multinational weiterentwickelt. Für die Konvertiten erwies sich die Unterordnung unter das Pariser Exarchat orthodoxer Gemeinden russischer Tradition als Glücksfall, denn dieses Exarchat ist im Allgemeinen mehr auf Konvertiten eingestellt als die anderen, eher national konnotierten Diaspora-Kirchen. In Dänemark ist diese Strategie aus verschiedenen Gründen nicht zum Tragen gekommen. Grundsätzlich fehlten Persönlichkeiten mit der entsprechenden Einstellung in den entscheidenden Momenten, die in Norwegen vorhanden waren. Die dänische Konvertiten-Gemeinschaft, angeführt durch Poul Sebbelov, musste sich deshalb von der als »feindselig« angesehenen Gemeinde der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland loslösen, um eine neue Gemeinde von Grund auf zu errichten. Durch enge Kontakte mit der norwegischen Gemeinde des Pariser Exarchats beschloss die neue Gemeinde, sich ebenfalls diesem unterzuordnen. Die Entwicklung in Schweden ist durch viele sich teilweise widersprechende Strategien geprägt, die jedoch das Streben danach verbindet, einen Platz in den neu errichteten Strukturen der griechischen und/oder serbischen DiasporaKirchen zu finden. Dabei erwiesen sich die serbischen Strukturen als besser 20 Siehe www.ortodoxakyrkan.se. Auch auf der Videoplattform youtube ist diese Gruppierung viel stärker vertreten als die anderen orthodoxen Kirchen in Schweden. 21 Siehe SCHON, Dietmar (2011): Orthodoxe Bischofskonferenzen im Westen – ein ekklesiologisches Neuland? Ostkirchliche Studien, 2/2011, S. 292 – 326. 22 Pavlos Menevisoglou ist 1935 geboren und seit 1974 in diesem Amt. Damit ist er einer der dienstältesten Bischöfe des Patriarchats von Konstantinopel.

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geeignet. Die »norwegische« Strategie ist auch zum Tragen gekommen, da die Stockholmer Gemeinde des Pariser Exarchats von 1980 an vom konvertierten Priester Matias Norström geleitet wurde, der die Gemeinde konvertitenfreundlich machte. Allerdings übernahm nach seinem Tod 2005 ein ethnischer Bulgare, Priester Angel Velitchkov, die Gemeindeleitung, was wiederum die Multiethnizität der Gemeinde verdeutlicht. Der ehemalige lutherische Pfarrer Bengt Pohjanen verfolgte die »dänische« Strategie, als er im Laufe der 1990er Jahre eine neue Gemeinde, explizit multinational, in der Jurisdiktion des Pariser Exarchats in Överkalix in Nordschweden aufbaute, die zunächst als Filialgemeinde der Stockholmer Gemeinde fungierte, bis Pohjanen selbst 2004 zum Priester geweiht wurde. Die meisten schwedischen Konvertiten sind allerdings noch in der serbischen Jurisdiktion zu Hause. Die »schwedische Strategie«, der Aufbau eigener schwedisch-sprachiger Gemeinden innerhalb der Strukturen einer national konnotierten Diaspora-Kirche, kann als erfolgreich betrachtet werden. Die schwedisch-sprachige Orthodoxie ist jedenfalls größer und lebhafter als die norwegische und die dänische, obwohl das natürlich auch andere Gründe haben kann. Die enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen orthodoxen Kirchen in Schweden ist auch vielversprechend, was den Aufbau einer schwedischen Orthodoxie anbelangt. In Norwegen und Dänemark scheint das Verhältnis zwischen den Gemeinden verschiedener Jurisdiktionen etwas kühler bis nicht-existierend. In der übrigen orthodoxen Diaspora können diese drei Strategien ebenfalls beobachtet werden, allerdings handelt es sich dort meistens um eine Vermischung, da die Gemeinden und Ansichten vielfältiger sind. So findet sich innerhalb der Orthodoxie in Großbritannien eine Vielzahl von Konvertiten, die sich jedoch zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Strukturen angeschlossen haben. Bis in die 1950er Jahre war die erste Anlaufstelle die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland. Danach bekam die Kirche des Moskauer Patriarchats durch den charismatischen Londoner Metropoliten Anthony Bloom einen Aufschwung, bis in den 1970er Jahren der Trend zur griechischen Metropolie tendierte.23 Letztendlich verließ eine nicht unerhebliche Gruppe anglikanischer Geistlicher die Anglikanische Kirche Mitte der 1990er Jahre, primär aufgrund der dortigen Befürwortung der Frauenordination, und suchte die Aufnahme in die orthodoxe Kirche. Sie wurden vom Patriarchat von Antiochien aufgenom-

23 Dies ist die Auslegung des umstrittenen orthodoxen Priesters Andrew Phillips (ROKA), die sich allerdings auch durch andere Quellen bestätigen lässt. Siehe auch PAERT, Irina (2003): Crossing Confessional Boundaries: Western Europeans as Orthodox Christians. In: SUTTON, Jonathan und BERCKEN, Wil van den (Hg.), Orthodox Christianity and Contemporary Europe (S. 121 – 132). Leuven et al.: Peeters; Rimestad 2013.

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men, das vorher keine Präsenz auf den britischen Inseln gehabt hatte, wobei ihnen große Freiheiten in Stil und Brauch zugestanden wurden.24

Die orthodoxe Kirche als Integrations- oder Konfliktfaktor? Wie Dagmar Fügmann und Steffen Führding in ihren Beiträgen zu diesem Band anmerken, ist es unmöglich, die Frage nach dem Integrations- oder Konfliktpotenzial der Religion zu beantworten, ohne entweder einen normativen Maßstab anzusetzen, der Integration als erstrebenswert sieht, oder Religion als politisches Konstrukt zu konzeptualisieren. Im Falle der orthodoxen Christen außerhalb der Kerngebiete des orthodoxen Christentums stellt sich außerdem die Frage, ob eine innerorthodoxe Integration oder eine Integration in die allgemeine Gesellschaft gemeint ist. Wenn man von der innerorthodoxen Integration spricht, kann man feststellen, dass sich die Akteure auf der theologischen Ebene über das Ziel einig sind: »Es ist ein Ziel für alle, dass es am Ende weltweit lokale orthodoxe Gemeinden gibt, Gemeinden die alle orthodoxen Gläubigen eines Gebietes umfassen, ungeachtet deren Sprache und Nationalität.«25 Nur der Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist umstritten. Man könnte die These aufstellen, die innerorthodoxe Integration in Schweden sei gut vorangekommen, obwohl dort eine relativ hohe Vielfalt innerhalb der Orthodoxie vorherrscht. Dabei muss aber auch betont werden, dass in Schweden seit dem Jahre 2000 keine lutherische Staatskirche mehr besteht, während sie in Dänemark noch existiert und in Norwegen erst im Sommer 2012 abgeschafft worden ist. Mit anderen Worten ist religiöse Vielfalt in Schweden nicht mehr so stark durch die Sonderstellung der lutherischen Kirche geprägt, wie es in Dänemark und Norwegen der Fall ist. Andererseits könnte die gelungene innerorthodoxe Integration in Schweden auch darin ihre Ursache haben, dass sich dort mehr einheimische Konvertiten eingebracht haben, und zwar in verschiedenen Jurisdiktionsstrukturen. Es fänden sich also in der schwedischen Orthodoxie mehr aktive, integrationswillige Gemeindemitglieder, die mit der schwedischen politischen Kultur aufgewachsen sind und somit wissen, wie man sich effektiv in Entscheidungsfindungsprozesse einbringen kann. In Norwegen und Dänemark würde diese einheimische Vielfalt fehlen und stattdessen ein Beharren auf dem eigenen Recht vorherrschen. Die Religion spielt in diesen Integrationsbemühungen als Faktor eine untergeordnete Rolle. Nur das erwähnte Beharren auf dem eigenen Recht könnte 24 Vgl. Paert 2003, S. 128 – 131. 25 Persönliche Kommunikation mit Archimandrit Johannes Johansen, 12. 12. 2011. Siehe auch Lemopoulos 2008, bes. S. 57 – 58.

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als religiös motiviert bezeichnet werden. Es gibt die Tendenz einiger orthodoxer Theologen, das orthodoxe Christentum als über allen anderen religiösen Strömungen stehende Wahrheit zu konzeptualisieren. Am deutlichsten tritt dies in der Position des Griechisch-Amerikaners John Romanides hervor, der »Religion« als Nervenkrankheit erklärte, deren alleinige Kur das orthodoxe Christentum darstellen würde.26 Allerdings führt diese Haltung auch nur in den seltensten Fällen zu Konflikten, denn der offensive missionarische Drang fehlt im orthodoxen Christentum. Nur wenn orthodoxe Gruppierungen einander als schismatisch bezeichnen, können Konflikte entstehen. In den kleinen Gemeinden Skandinaviens kommt dies nicht oft vor, denn man kann sich problemlos umgehen. Die wachsende Anzahl einheimischer Konvertiten könnte dieses Konfliktpotenzial vergrößern, obwohl es auch zur wachsenden Integration führen könnte, wie das schwedische Beispiel zeigt. Wendet man sich der Integration in das gesellschaftliche Gefüge zu, zeigt sich ein ähnliches Bild. Allerdings ist in diesem Zusammenhang wieder stark zwischen den national konnotierten Gemeinden und denjenigen, die von Konvertiten frequentiert werden, zu unterscheiden. In ersteren ist die Integration in die »Gastgebergesellschaft« nur bedingt ein Ziel. Hier geht es vielerorts um eine »Heimat in der Fremde« und um die Bewahrung der eigenen Kultur. Manchmal sind die religiösen Zeremonien als Ausdruck des wahren Glaubens nur als Nebenerscheinung dessen zu betrachten. In den Konvertitengemeinden, andererseits, ist die Integration in und die Anerkennung durch die Gesamtgesellschaft ein wichtiges Ziel, nicht nur um die eigene Existenz zu gewährleisten, sondern auch um potenzielle neue Mitglieder gewinnen zu können. In beiden Fällen lässt sich Religion nur schwerlich als typischer Integrations- oder Konfliktfaktor einordnen. Vielmehr ist hier Religion ein Differenzfaktor, der zu Integrationsbemühungen anregen kann, oder als Konfliktauslöser vorgeschoben werden kann, ohne selbst an diesen Vorgängen teil zu haben.

Literatur AGADJANIAN, Alexander und ROUDOMETOF, Viktor (2005): Introduction. In: Dies. und PANKHURST, Jerry (Hg.), Eastern Orthodoxy in a global age: Tradition faces the twenty-first century (S. 1 – 28). Walnut Creek, CA: AltaMira Press. ARENTZEN, Thomas (2005): L’Êglise orthodoxe dans la NorvÀge moderne. In: CHAIL26 Siehe ROMANIDES, John (1997): The Cure of the Neurobiological Sickness of Religion. The Hellenic Civilization of the Roman Empire, Charlemagne’s Lie of 794, and his Lie Today. URL: http://romanity.org/htm/rom.02.en.the_cure_of_the_neurobiological_sickness_of_ rel.01.htm, [25. 01. 2013].

Die Bildung orthodoxer Kirchen in nichtorthodoxen Ländern

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Sarah J. Jahn

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug1

Die Bundesrepublik Deutschland garantiert mit Artikel 4 Absatz 1 und 2 Grundgesetz (GG) das verfassungsmäßige Recht auf Religionsfreiheit sowie durch Artikel 137 Absatz 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) in Verbindung mit Artikel 140 GG die Trennung zwischen Staat und Religionen. Darüber hinaus gibt es öffentliche Bereiche, in denen Staat und Religionen konkurrenzfrei zusammenarbeiten. Das dadurch entstehende »partnerschaftliche Verhältnis«2 von Staat und Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland wird als »offen«3 oder »hybrides System«4 beschrieben; kritische Stimmen nennen es »hinkend«5. Anhand der staatlichen Institution Strafvollzug und unter theoretischer Zuhilfenahme von Pierre Bourdieus »Feldtheorie«6 wird das »partnerschaftliche Verhältnis« analysiert. Gefragt wird sowohl nach religiösen Akteuren im Strafvollzug als auch nach speziellen staatlichen Verfahrensweisen mit religiösen Traditionen (Organisationen) und mit religiösen Bedürfnissen (Individuen). 1 Der Artikel stellt einen Materialausschnitt aus dem Projekt »Religion und Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland« vor, das von mir an der Universität Leipzig als Dissertation bearbeitet wird. Danken möchte ich an dieser Stelle Barbara Th¦riault für die kritische Lektüre und die anregende Diskussion sowie der Arbeitsgruppe »Grenzarbeiten am religiösen Feld« (Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne«, Universität Münster). In der Arbeitsgruppe habe ich zahlreiche theoretische Anschlussmöglichkeiten für mein Thema kennengelernt und diskutieren dürfen. 2 Der Begriff geht auf das Bundesverfassungsgericht zurück: »Partnerschaft zwischen Kirche und Staat«, BVerfGE 42, S. 312. 3 Unter anderem: HEINIG, Hans Michael (2011): Religionsverfassungsrecht mit Zukunft! Frankfurter Hefte, 4, S. 35. 4 ZACHARIAS, Diana (2005): Das deutsche Staatskirchenrecht vor den Herausforderungen der Gegenwart. Kirche & Recht: Zeitschrift für die kirchliche und staatliche Praxis, 3/4, S. 104. 5 STUTZ, Ulrich (1926): Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIII: nach den Denkwürdigkeiten des Kardinals Domenico Ferrata. Einzelausgabe aus den Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1925, Phil.-hist. Klasse, Nr. 3/4, S. 54. 6 Unter anderem: BOURDIEU, Pierre (1988): Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp und BOURDIEU, Pierre (2000): Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Konstanz: UVK.

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Sarah J. Jahn

Mittels der Feldtheorie Bourdieus werden alte und neue Akteure sichtbar sowie ihr Verhältnis zueinander aufgezeigt; der rechtliche Rahmen erklärt dabei die Möglichkeiten der Interaktionen sowie deren Hintergründe. Durch sein rechtliches und institutionelles Gefüge bietet sich der Strafvollzug in besonderer Weise an, da hier das Zusammenspiel von bundesdeutschem Verfassungs- und Verwaltungsrecht einerseits und föderalem Strafvollzugs- und Religionsrecht andererseits sowie das Abwägen und Anwenden von Rechten unmittelbar sichtbar wird. Es wird argumentiert, dass das rezente religiöse Feld der Bundesrepublik Deutschland von dem gegebenen Rechtsrahmen durchdrungen wird und der Verlust der religiösen Substanz durch Assimilation droht.

1.

Vorbemerkungen zu Pierre Bourdieu »Ich habe auf Weber zurückgegriffen, um den M’zab zu verstehen, einen Landstrich in der arabischen Wüste, in dem viele Karedschiten leben, Muslime, die sehr asketisch leben, fast ›puritanisch‹, eine Art »Protestanten des Islam«, eine religiöse Strömung …, das war wirklich verblüffend […].«7

Die Soziologie Max Webers prägt Bourdieus Arbeiten immens. Durch Kritik entwickelt er sie an bestimmten Punkten weiter. Zentrale Kritikpunkte von Bourdieu sind beispielsweise die angenommene »Autonomie, welche die religiöse Botschaft als spontan hervorgebrachtes Produkt der Inspiration begreift« sowie die »reduktionistische Theorie, welche […] einfach den direkten Reflex ökonomischer und sozialer Bedingungen sieht«8. Bourdieu setzt an diesen »Leerstellen« der Weberschen Theorie an, um sowohl eine Brücke zwischen empirischer Beobachtung und theoretischer Analyse unter Beachtung des Kontexts zu schlagen sowie die Beziehungen der von Weber erarbeiteten Idealtypen zueinander näher zu untersuchen. Er selbst nennt dies eine »Reformulierung der Weberschen Untersuchung in der Sprache des symbolischen Interaktionismus«9. Bourdieus Arbeiten beschäftigen sich mit der soziologischen Untersuchung von »sozialer Wirklichkeit«, die sich nach ihm in (Konflikt-)Feldern manifestiert, in denen die beteiligten Akteure vier verschiedenste Arten von Kapitalsorten besitzen und anhäufen (ökonomisch, sozial, kulturell und symbolisch), mit denen sie um soziale Anerkennung kämpfen.10 Dabei ist zu beachten, dass 7 8 9 10

Bourdieu 2000, S. 111. Bourdieu 2000, S. 11. Bourdieu 2000, S. 14. MEIREIS, Torsten (2004): Die Legitimierung des Willkürlichen im Medium symbolischen Kapitals. Pierre Bourdieus praxeologische Sicht der Religion. In: GABRIEL, Karl und

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

123

Akteure in Bourdieus Terminologie keine Menschen sind, sondern abstrakte Positionsinhaber bestimmter Merkmale von Kapitalien.11 Die Akteure sind geprägt durch einen jeweiligen Habitus, der die Wahrnehmung der Welt, individuell wie gesellschaftlich konstruiert.12 Die Kategorie »Feld« drückt dabei die Differenzierung der Gesellschaft, verstanden als »sozialer Raum«, in unterschiedliche Bereiche aus und ist im Gegensatz zu anderen Ansätzen, wie etwa dem systemtheoretischen von Niklas Luhmann, nicht abgeschlossen und selbstreferentiell, sondern per se dynamisch.13 Bourdieus Arbeiten werden vor allem in der soziologischen Biographie- und Ungleichheitsforschung rezipiert, aber auch in der Religionsforschung wird er vermehrt wahrgenommen und als Ausgangspunkt für empirische Forschungsprojekte verwendet.14 Seine religionssoziologischen Arbeiten gehen auf seine eingangs erwähnten Forschungen in Algerien zurück. Er greift das Argument Webers auf, dass Religion vor dem Hintergrund bestimmter Lebensweisen sozialer Gruppen betrachtet werden muss, bedient sich der von Weber erarbeiteten religiösen Akteure (Priester, Prophet, Zauberer, Laie) und erweitert das Tableau, indem er die jeweiligen Interaktionen zwischen den Akteuren aufzeigt. Die Positionen lassen sich auf diese Weise nicht isoliert bestimmen, sondern in Relation zueinander. Bourdieu selbst nennt diese Beziehungen »objektive Relationen«15, welche durch Differenzierung die unterschiedlichsten sozialen Felder entstehen lassen. Die entstandenen Felder haben dabei ihre je eigene Logik und übernehmen eine Vielzahl von Aufgaben.16 Bourdieus Überlegungen eignen sich damit für eine Analyse der Beziehung der verschiedenen religiösen Gruppen untereinander. Häufiger Kritikpunkt an Bourdieu ist seine Engführung zwischen Lebensstil und sozialer Position, die nicht zwangsläufig zutreffe. Auch sei sein Religionsbegriff zu ungenau und die Beziehungen der Akteure zu relationistisch gedacht. Es sei vielmehr nach der Abgrenzbarkeit der Relationen untereinander und der

11 12 13 14 15 16

REUTER, Hans-Richard (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie (S. 195 – 197). Paderborn [u.a.]: Schöningh, S. 195 f. Bourdieu 1988, S. 59 ff. BOURDIEU, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 191. KNEER, Georg (2004): Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich. In: NASSEHI, Armin und NOLLMANN, Gerd (Hg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich (S. 25 – 56). Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 28 f. Hier seien vor allem die Arbeiten von Helmut Bremer (Universität Duisburg Essen), Uta Karstein (Universität Leipzig), Boike Rehbein (Humboldt-Universität Berlin) und Heinrich Schäfer (Universität Bielefeld) genannt. BOURDIEU, Pierre und WACQUANT, Loc J. D. (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 127. Kneer 2004, S. 39 – 47.

124

Sarah J. Jahn

verschiedenen Felder zueinander sowie nach der Weite des Erkenntnisinteresses seines Ansatzes zu fragen.17 Vor allem die Abgrenzung und Beziehung der Felder sowie eine eindeutige Ein- und Zuordnung der Akteure sind bei der empirischen Anwendung von Bourdieus Ansatz problematisch. Während Bourdieu in zwei Dimensionen gedacht hat, müsste eigentlich in drei Dimensionen gedacht werden. Das heißt, dass Felder sich überschneiden und Akteure in verschiedenen Feldern mit verschiedenen Kapitalien und an verschiedenen Positionen anzutreffen sind. So ist zu erwähnen, dass es »das religiöse Feld«, wie es Bourdieu konzipiert hat, heute nicht mehr gibt. Genauso ist zu hinterfragen, ob es jemals in dieser Form existiert hat. Die Verwendung von Bourdieus Instrumentarien für die einführende Beschreibung des religiösen Feldes im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland ist aber sinnvoll, da durch die Einfachheit seines Modells doch die wichtigsten Akteure, Beziehungen und auch Probleme sichtbar werden, um das Verhältnis von Religion und Recht in seinen Verflechtungen eindeutig abbilden zu können. Ich werde also eine Adaption von Bourdieus Theorie des religiösen Feldes an dem Gegenstand »Religion im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland« vornehmen, bei der die präzise Verwendung meines Materials mehr im Vordergrund steht, als die Genauigkeit der Anwendung von Bourdieus Theorie. Bourdieu selbst nennt drei Momente der Untersuchung des Feldes: Zunächst müsse man die Position des zu untersuchenden Feldes im Verhältnis zur Macht analysieren. Danach müsse die objektive Struktur der Relationen zwischen den Positionen (Akteure oder Institutionen) untersucht werden. Als Letztes seien der Habitus und die Dispositionssysteme zu untersuchen, die zur Verinnerlichung der distinkten Typik von sozialen und ökonomischen Verhältnissen geführt haben.18 Aufgrund der gebotenen Übersicht und Kürze werde ich die Untersuchung von Habitus und Dispositionssystemen auf die Darstellung der Handlungsspielräume verkürzen. Das heißt, ich werde zunächst die Themen Religion und Strafvollzug analytisch in die Feldtheorie Bourdieus und empirisch in den bundesdeutschen Kontext verorten. Danach werde ich die religiösen Akteure im Strafvollzug vorstellen und diese anschließend anhand ihrer Handlungsmöglichkeiten analysieren. Dabei werde ich argumentieren, dass das religiöse Feld vor allem durch das Recht durchdrungen wird.

17 Unter anderem: REHBEIN, Boike (2007): Globalisierung, Soziokulturen und Sozialstruktur. Einige Konsequenzen aus der Anwendung von Bourdieus Sozialtheorie in Südostasien. Soziale Welt 58/2, S. 187 – 202. 18 Bourdieu 2000, S. 136.

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

2.

Kontextualisierung von Religion und Strafvollzug

2.1

Der Strafvollzug als Apparat

125

Bei der Anwendung von Bourdieus »Feldtheorie« auf den Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland ist zunächst zu fragen, auf welcher Ebene die Untersuchung stattfindet und in welches Feld bzw. welche Felder diese Institution einzubetten ist. Das Schwierige an Bourdieus Theorie ist, dass sie die Felder nach traditionellen sozialwissenschaftlichen Kategorien ordnet. So gibt es Felder für Politik, Religion, Wirtschaft, Medien, Recht et cetera. Der Strafvollzug bildet jedoch kein eigenes Feld, sondern tangiert mehrere Felder. Er ist ein Teil des rechtlichen Feldes, indem er durch dieses Feld erst einmal legitimiert wird. Er ist Teil des politischen Feldes, indem durch politische Agenden Recht und damit auch der Zweck von Strafvollzug umgesetzt werden. Durch religiöse und andere Akteure, sind auch diese Felder inhärent. Bourdieu selbst hat zu dieser operativen Schwierigkeit geschrieben, dass »totalitäre Systeme« wie Gefängnisse ein Feld zu einem Apparat werden lassen können, »wenn es dem Herrschenden gelingt, den Apparat und die Reaktionen des Beherrschten niederzuschlagen und zunichte zu machen, wenn alle Bewegungen ausschließlich von oben ausgehen, hören der Kampf und die Dialektik, die für das Feld konstitutiv sind, tendenziell auf«19. Das heißt in der Sprache Bourdieus ist der Strafvollzug ein Apparat, in dem mehrere Felder kumulieren. Weiterhin ist festzuhalten, dass der »Apparat Strafvollzug« eigentlich in der Mehrzahl zu gebrauchen ist, da in der Bundesrepublik Deutschland der Strafvollzug durch die Föderalismusreform 2006 Aufgabe der Länder ist. Jedes eigene Bundesland kann also ein eigenes Strafvollzugsgesetz (StVollzG) mit Haushaltsplan und Verwaltungsvorschriften et cetera erlassen. Für die sozialwissenschaftliche Forschung bedeutet dies zunächst, dass der verallgemeinernde Gehalt empirischer Aussagen über den Strafvollzug als Institution des Rechts an der Landesgrenze aufhört, insbesondere wenn es sich um ethnographische Erkenntnisse handelt.

2.2

Das religiöse Feld in der Bundesrepublik Deutschland

Kommen wir zu dem religiösen Feld in der Bundesrepublik Deutschland. Anders als bei dem Strafvollzug handelt es sich hier um ein wirkliches Feld im Sinne Bourdieus. Gibt es hier auf den ersten Blick keine Schwierigkeiten zur Operationalisierbarkeit, ist jedoch aus empirischer Sicht anzumerken, dass es sich 19 Bourdieu und Wacquant 1996, S. 13.

126

Sarah J. Jahn

auch hier um eine Vielzahl an Feldern handelt, da Religion in Deutschland eine Kultusangelegenheit ist und diese ebenfalls auf föderaler Ebene behandelt wird. Dies betrifft nicht die Regelungen zur Religionsfreiheit in Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetztes (GG), da diese Verfassungsrang haben und bundesweit gelten, jedoch aber die Anerkennung von Religionsgemeinschaften in einem öffentlich-rechtlichen Sinn. Dies zeigt sich beispielsweise an der Zahl der zugelassenen Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts (KöR) in den einzelnen Bundesländern:20 Bundesland Bayern

Anzahl KöR 17

Brandenburg Bremen

18 11

Baden-Württemberg Freie und Hansestadt Hamburg

28 18

Hessen Mecklenburg-Vorpommern

73 11

Niedersachsen Nordrhein-Westfalen

37 24

Rheinland-Pfalz Sachsen

22 23

Sachsen-Anhalt Saarland

17 13

Thüringen

12

Das heißt also, dass durch die föderale Struktur der Bundesrepublik bereits bei der analytischen und empirischen Kontextualisierung von Strafvollzug und Religion rechtliche Aspekte eine erhebliche Rolle spielen, nämlich bei der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religion, also dem Handlungsspielraum von Akteuren im religiösen Feld sowie bei der Verallgemeinerbarkeit empirischer Aussagen über den »Apparat Strafvollzug«. Beide Aspekte werden bei der weiteren Betrachtung noch eine Rolle spielen.

20 Bei der Aufzählung fehlen offizielle Zahlen von Berlin und Schleswig-Holstein. Vergleiche: BUNDESMINISTERIUM DES INNERN (2012): Kirche und Staat: http://www.bmi.bund.de/ DE/Themen/PolitikGesellschaft/KirchenReligion/StaatReligion/Kirchen/aktuelles_node.html, [11.05.12].

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

3.

Religiöse Akteure

3.1

Religiöse Akteure (empirisch)

127

Doch zunächst ist zu klären, wer denn überhaupt die religiösen Akteure im Strafvollzug sind. Im Rahmen meiner Feldforschungen in deutschen Strafvollzügen habe ich folgende religiöse Akteure gefunden: 1. Religiöse Insassen 2. Religiöse Bedienstete 3. Ehrenamtlich arbeitende Einzelpersonen mit religiösem Hintergrund 4. Katholische und evangelische Gefängnisseelsorge 5. Diakonische Dienste (Caritas, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche Deutschland) 6. Vereine mit religiösem Hintergrund (Religionsgemeinschaften als Vereine, Straffälligenhilfevereine mit religiösem Hintergrund) 7. Türkische Konsulate Alle genannten Akteure sind feste Bestandteile des religiösen Feldes innerhalb und außerhalb des Strafvollzugs. Insassen wie Bedienstete sowie ehrenamtlich arbeitende Personen mit religiösem Hintergrund sind als Einzelpersonen Teil der Gesellschaft. Die Gefängnisseelsorge sowie die diakonischen Dienste gehören zu den katholischen und evangelischen Kirchen. Die Vereine sind Teil der Zivilgesellschaft. Die Konsulate sind ein Teil der nationalen und internationalen Politik.

3.2

Religiöse Akteure (analytisch)

Nun ist zu fragen wie die empirischen Funde in das Schema von Bourdieu passen. Bourdieu benennt, wie eingangs genannt, in seinem religiösen Feld vier Akteure: Zauberer, Propheten, Priester und Laien. An dieser Stelle sei noch einmal wiederholt, dass die Akteure bei Bourdieu keine Menschen, sondern Positionsinhaber im idealtypischen Sinne Max Webers sind. Das heißt der Priester ist nicht zwangsläufig ein »ordinierter Glaubensbruder« im religiösen Sinn, sondern allgemein »Inhaber eines gesellschaftlich anerkannten und institutionalisierten Kapitals an religiöser Autorität«21 sowie »Mandatsträger einer geistlichen Körperschaft, die als solche das Monopol auf legitime Handhabung der Heilsgüter innehat«22. Demgegenüber gelten die Propheten und Zauberer als 21 Bourdieu 2000, S. 77. 22 BOURDIEU, Pierre (1992): Rede und Antwort. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 232.

128

Sarah J. Jahn

»Träger eines nicht garantierten, an ihre Person gebundenen religiösen Kapitals«23, »die ihr Amt als unabhängige Unternehmer außerhalb jeder Institution, also ohne institutionellen Schutz oder Garantie ausüben«24. Der Prophet stellt dabei kontinuierlich die Handlungen und Inhalte der Priesterschaft in Frage, während der Zauberer sporadisch auf unmittelbare Nachfragen reagiert25 und sich seine »magischen Interessen« im Gegensatz zu den religiösen Interessen der anderen Akteure durch den »eingegrenzten und unmittelbaren Charakter«26 abheben. Die empirischen Akteure Insassen (1) und Bedienstete (2), Gefängnisseelsorge (4) und diakonische Dienste (5) sind leicht einzuordnen. Die Insassen und Bediensteten sind eindeutig der Rubrik der Laien zugehörig, da zumindest in meiner Feldforschung keine der Einzelpersonen eine Disposition zum Zauberer oder Propheten hatte. Die Gefängnisseelsorge (4) sowie die diakonischen Dienste (5) stellen die Priesterschaft dar, da diese Mandatsträger der Kirche und als solche gesellschaftlich anerkannte und institutionalisierte religiöse Autorität sind, gleich ob Laie oder Geweihter im kirchenrechtlichen Sinn. Diffuser wird es bei den ehrenamtlichen Einzelpersonen (3) und Vereinen (6) sowie den türkischen Konsulaten (7). Um die Diffusität zu verstehen, stelle ich alle drei Akteure näher vor.

3.2.1 Ehrenamtliche Einzelpersonen mit religiösem Hintergrund Als ehrenamtlich arbeitende Person im Strafvollzug kann grundsätzlich jeder arbeiten, der keine Vorstrafen hat, den Sicherheitscheck besteht und, von den meisten Bundesländern vorgegeben und angeboten, einen Einführungskurs erfolgreich absolviert. Das Engagement von ehrenamtlichen Einzelpersonen im religiösen Bereich ist vielfältig und hängt stark von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Einrichtung ab. In den meisten Fällen kommen ehrenamtliche Einzelpersonen als Besuch zu festgeschriebenen Zeiten in die Anstalt, um mit bestimmten Insassen gezielt zu sprechen. Zustande gekommen ist der Kontakt entweder über Inserate oder über Organisationen der Straffälligenhilfe, die soziale Kontakte und Brieffreundschaften vermitteln. Im Zentrum dieses Angebots steht der soziale Kontakt. Andere ehrenamtliche Personen unterstützen die Angebote der Gefängnisseelsorge und der diakonischen Dienste, indem sie zusätzliche Gruppen- und 23 24 25 26

Bourdieu 2000, S. 78. Bourdieu 2000, S. 84. Bourdieu 2000, S. 84. Bourdieu 2000, S. 17.

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

129

Gesprächsangebote machen. Auch können ehrenamtliche Personen religiöse Traditionen vertreten, die im Strafvollzug weniger verbreitet sind. So wird die Betreuung von muslimischen Insassen oft von einzelnen ehrenamtlich arbeitenden Personen übernommen. Aufgrund der institutionellen Ungebundenheit ist diese Gruppe schwer als Akteur im Sinne von allgemeinen Positionen zu beschreiben. Auch durch die Vielfältigkeit der Angebote und den dahinterstehenden Interessen kann keine eindeutige Justierung in den Kategorien des religiösen Feldes vorgenommen werden. Oft sind es Laien, die aber auch manchmal Züge des Zauberers annehmen, wenn sie beispielsweise ein charismatisch-religiöses Selbstverständnis haben und, ähnlich wie die Vereine mit religiösem Hintergrund, Heilung von Sucht durch einen intensiven Jesusglauben und das tägliche Beten versprochen wird. 3.2.2 Vereine mit religiösem Hintergrund Vereine mit religiösem Hintergrund können Religionsgemeinschaften wie charismatische und freikirchliche Gruppierungen sein, die den öffentlich-rechtlichen Status der Körperschaft nicht anstreben oder nicht erhalten haben. Auch können es Moscheevereine, Suchthilfe- und Straffälligenhilfevereine sein.27 Hier entstehen ähnliche Probleme wie bei den ehrenamtlichen Einzelpersonen: Freikirchliche und charismatische Vereine verstehen sich oftmals in Opposition zur Kirche, weisen also eine Tendenz zum Propheten auf. Auch können sie in die Kategorie des Zauberers fallen, wenn sie ein ähnliches Selbstverständnis aufweisen wie die im oberen Abschnitt genannten ehrenamtlichen Einzelpersonen. Moscheevereine senden mitunter Imame oder Hodschas, so dass auch eine Einordnung zum Priester möglich wäre.28

27 Beispiele sind unter anderem der Suchthilfeverein »Blaues-Kreuz« e.V., die »Gefährdetenhilfe Scheideweg« e.V., die »Missionarische Gefährdetenhilfe Wendepunkt (MGW)« e.V. und das »Christliche Missionswerk Josua« e.V. 28 Allerdings sind muslimische Vereine seit 2012 nur in der Freien und Hansestadt Hamburg öffentlich-rechtlich anerkannt. Vergleiche den »Vertrag zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg, dem DITIB-Landesverband Hamburg, SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg und dem Verband der Islamischen Kulturzentren« (2012) sowie KLINKHAMMER, Gritt und DE WALL, Heiner (2012): Staatsvertrag mit Muslimen in Hamburg Die rechts- und religionswissenschaftlichen Gutachten. Bremen: Universität Bremen. Darüber hinaus hat das Bundesland Niedersachsen im Dezember 2012 eine »Vereinbarung zwischen den muslimischen Landesverbänden und dem Justizministerium zur muslimischen Seelsorge im Justizvollzug« unterzeichnet.

130

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3.2.3 Türkische Konsulate Während die Einordnung der beiden vorgenannten Akteure aufgrund der fehlenden institutionellen Zugehörigkeit, ihrer rechtlichen Lage und ihrem divergenten Selbstverständnis diffus scheint, ist eine Einordung der türkischen Konsulate noch schwieriger. Bundesdeutsche Praxis ist, dass über türkische Konsulate Hodschas aus der Türkei für vier Jahre nach Deutschland geschickt werden, um in türkischen Moscheevereinen zu wirken. Seit einigen Jahren ist es üblich, dass die Hodschas auch in die Strafvollzugsanstalten ihrer Region gehen und Koranlesungen anbieten. Die Hodschas werden von der Religionsbehörde in der Türkei ausgewählt und ausgebildet, die Justizministerien der Länder haben darauf keinen Einfluss.29 Hier ist es schwer überhaupt eine Kategorisierung im religiösen Feld vorzunehmen, da Konsulate im originären Sinn keine religiösen, sondern politische Akteure sind. Auch ist fraglich, inwiefern die Hodschas als Priester gelten. Sie haben zwar eine religiöse Ausbildung und begleiten ein religiöses Amt, aber wie bei den Vereinen ist zu erwähnen, dass es bislang bis auf die Freie und Hansestadt Hamburg keine öffentlich-rechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaft gibt.

4.

Handlungsoptionen

Bereits die Vorstellung der religiösen Akteure sowie der Versuch der Einordnung dieser auf dem »Schachbrett« des religiösen Feldes haben gezeigt, dass eine Kategorisierung in Bourdieus Sinne schwerfällt. Bei der Betrachtung der einzelnen Handlungsoptionen der religiösen Akteure innerhalb des Strafvollzugs wird es noch komplexer. Allgemein kann aber zunächst gesagt werden, dass die Handlungsoptionen der religiösen Akteure im »Apparat Strafvollzug« durch ihre rechtliche Position sowie ihrer Wahrnehmung und Deutung des Kapitals bestimmt werden.

29 Die Darstellung des Prozedere wurde von dem Konsul des Türkischen Konsulates in Hamburg dargestellt sowie von der muslimischen Betreuung in einer Anstalt: »Die [Hodschas] müssen sechs Monate zum Deutschkurs gehen. Da kommen vom Goethe-Institut die deutschen Leute, die einweisen in deutsches Benehmen, wie sie in Deutschland leben können oder müssen, wie sie sich anpassen müssen, wird innerhalb dieser sechs Monate alles gelernt. Und dann werden die bestimmt, wer wohin geht. Wenn der eine jetzt hier her kommt, das wird dann von deutschen Behörden bestimmt, zusammen mit türkischen Behörden und er darf dann nicht woanders hingehen. […] Diese Sicherheitsfrage, diese sagen wir mal, was sie eigentlich hier machen müssten, die deutschen Behörden, das wird in Ankara gemacht, über den türkischen Staat.«

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

4.1

131

Die rechtliche Position als Determinante

Fangen wir mit der rechtlichen Position an. Allen Akteuren gemein ist, dass sie dem Grundgesetz und den gegenstandsrelevanten Landesgesetzen verpflichtet sind. Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) findet sich sowohl in den Strafvollzugsgesetzen und den dazu gehörigen Verwaltungsvorschriften sowie in den Hausordnungen der Anstalten wieder. Die individuelle Religionsfreiheit gilt sowohl für die Insassen als auch für die Bediensteten insoweit, als dass der Strafvollzug im Zwecke nicht gefährdet ist, das heißt solange die Resozialisierung der Insassen sowie die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt nicht gefährdet sind. Die korporative Religionsfreiheit wird aber im Vornherein nur im beschränkten Maße umgesetzt. Das Grundgesetz sieht im Artikel 141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) in Verbindung mit Artikel 140 GG »Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten« vor, soweit ein Bedürfnis besteht. Dieses Gesetz gilt im Text für alle »Religionsgemeinschaften«30. In der Deutung gilt es für öffentlichrechtlich anerkannte Religionsgemeinschaften und faktisch umgesetzt wird es in fast allen Bundesländern mit den evangelischen und katholischen Kirchen. In der Praxis bedeutet das, dass die Bundesländer Verträge mit den evangelischen und katholischen Kirchen über die Ausübung von Seelsorge und diakonischen Aufgaben geschlossen haben. Ausnahmen bilden hier die Freie und Hansestadt Hamburg31 sowie das Bundesland Niedersachsen32, die jeweils Vertragsverhältnisse mit muslimischen Gemeinschaften eingegangen sind. Andere öffentlich-rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaften haben entweder keine Ambitionen im Strafvollzug flächendeckend tätig zu werden33 oder dürfen nicht 30 Die »Religionsgemeinschaft« wird explizit im Grundgesetz Art. 7 Abs. 3 (Religionsunterricht) genannt und gilt nach herrschender Meinung als Obergruppe für alle »Bekenntnisvereinigungen« sowie als Untergruppe für bestimmte »Religionsgesellschaften«. Das Urteil zum Rechtsanspruch muslimischer Religionsgemeinschaften auf Einführung von Religionsunterricht vom 23. 02. 2005 (BVerwG 6 C 2.04) spezifiziert diese Unterscheidungen. Die »Religionsgemeinschaft« wird danach als Untergruppe verstanden, da prinzipiell jede religiöse Tradition eine Gemeinschaft bilden kann, diese aber nicht zwangsläufig als Gesellschaft im rechtlichen Verständnis anerkannt wird. 31 Vergleiche: FREIE UND HANSESTADT HAMBURG (2007): »Gesetz zum Vertrag zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und der Jüdischen Gemeinde in Hamburg«, vom 27. November 2007. 32 NIEDERSÄCHSISCHES JUSTIZMINISTERIUM (2012): Vereinbarung zwischen dem Landesverband der Muslime in e. V., Schura Niedersachsen, vertreten durch Herrn Avni Altiner, dem DITIB Landesverband der Islamischen Religionsgemeinschaften Niedersachsen und Bremen e. V., vertreten durch Herrn Yılmaz KiliÅ und dem Niedersächsischen Justizminister, vertreten durch Herrn Minister Bernd Busemann. 33 Im Rahmen der Feldforschung waren es Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, der neuapostolischen Kirche, jüdische Gemeinschaften und baptistische Vereinigungen.

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tätig werden34. Religionsgemeinschaften, die nicht öffentlich-rechtlich anerkannt sind, haben nicht die Möglichkeit Seelsorge in einer institutionalisierten Form anzubieten. Das bedeutet, institutionalisiert sind religiöse Akteure durch das Recht. Auch ihr Handlungsspielraum wird durch geltendes Recht geregelt. Der Status der Gefängnisseelsorge ist beispielsweise insofern geregelt, als dass die Dienstaufsicht der Staat hat und die Fachaufsicht die Kirche. Das heißt, Seelsorger sind vom Staat bezahlt und in der inhaltlichen Ausübung der Kirche und damit auch dem Kirchenrecht verpflichtet. Dadurch gelten für sie nicht die normalen Regelungen des Dienstrechts innerhalb des Strafvollzugs. Sie können beispielsweise die Arbeitszeit frei bestimmen und unterliegen dem Seelsorgegeheimnis. Andere Bedienstete arbeiten im Schichtdienst oder haben Kernarbeitszeiten und sind gegenüber der Leitung und dem Gesetzgeber auskunftspflichtig. Die Kirchen erhalten ihre Legitimität also über geltendes Recht und nicht über das Einsetzen des eigenen Kapitals. Anders sieht es bei den Religionsgemeinschaften aus, die nicht öffentlich-rechtlich anerkannt sind. Dies gilt im Strafvollzug insbesondere für muslimische sowie kleinere charismatische und freikirchliche Vereinigungen. Wollen diese im Strafvollzug tätig werden, obliegt es der Anstaltsleitung, ob und inwiefern dies stattfinden kann.

4.2

Wahrnehmung und Deutung des Kapitals35

Die Entscheidung über die Zulassung eines neuen religiösen Akteurs hängt maßgeblich von der Wahrnehmung und Deutung seines Kapitals ab. Freikirchliche und charismatische Gruppen sind in den Anstalten meist sehr gut etabliert. Sie bewerben sich in der Regel als Verein mit bestimmten Projekten. Dies sind entweder therapeutische Projekte zur Suchtbewältigung, soziale Trainings, Bibelgruppen oder Gesprächsabende. Als Beispiel für die Etablierung hier die Beschreibung eines therapeutischen Angebots von einer religiösen Gruppe durch die Anstaltsleitung:

34 Beispielsweise haben die Zeugen Jehovas trotz Erstverleihung des Körperschaftsstatus 2006 (BVerwG 7 B 80.05) und Zweitverleihung in den meisten Bundesländern entweder eingeschränkten oder gar keinen Zutritt. 35 Die hier verwendeten Zitate stammen aus der Datenerhebung zu meinem Projekt »Religion und Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland« (Universität Leipzig). Die Daten werden anonymisiert und in Schriftdeutsch wiedergegeben.

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

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»Und das macht vielleicht auch nochmal eine Besonderheit der Anstalt aus, dass hier eine Vielzahl von Ehrenamtlichen tätig ist aus dem kirchlichen Bereich. Und insbesondere bei dieser Abteilung wo wir die Suchtmissbräuchler oder Suchtkrankengefangenen behandeln. Da haben wir eine Behandlungseinheit eingerichtet, die vom Blauen Kreuz getragen wird […].«

Anfragen von muslimischen Gruppen oder Insassen werden oft als Problem wahrgenommen: »Also wir haben zum Beispiel jetzt die Situation, dass im islamischen Bereich seit längerer Zeit an uns herangetragen wird, ob man hier so eine Art Freitagsgebet einrichten kann. Da haben wir Schwierigkeiten. Da haben wir auch in diesem Falle auch Herrn XXX [katholischer Gefängnisseelsorger] beteiligt. Das Problem ist, da fühlt sich von unseren offiziellen türkischen oder islamischen Ansprechpartnern keiner so richtig zuständig. Deshalb wissen wir nicht was das für Leute sind, die diese Maßnahme anbieten wollen. Deshalb wollen wir das nicht haben. Weil wir können das aus eigener Kenntnis nicht einschätzen, was da abläuft. Da gibt es Sprachschwierigkeiten. Da gibt es aber eben auch kulturelle Unterschiede. Dann ist das ja ein riesen Aufwand zu bestimmten Zeiten eine große Zahl von Gefangenen zusammen zu rufen […]. Dann sind wir da eher zurückhaltend. Die christlich orientierten Gruppen, die hier reinkommen, die sind seit langer Zeit hier tätig, auch Ansprechpartner über die jeweiligen Pfarrer und das läuft störungsfrei.«

Als etablierter religiöser Akteur werden stattdessen die türkischen Konsulate angesehen, die Hodschas in die Anstalten senden, um Koranlesungen anzubieten. Die Konsulate gehen aktiv auf die Anstalten zu. Rechtliche Basis ihrer Arbeit ist das Wiener Abkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD)36 und das Wiener Abkommen über konsularische Angelegenheiten (WÜK).37 Die Ansprechpartner sind dann entweder die Anstaltsleitungen selbst oder der Soziale Dienst: »Also wir haben auch ein gutes Verhältnis zum türkischen Generalkonsulat. Da bin ich als Verbindungsbeamter […] dabei. […] Also dieses Treffen der türkischen Gefangenen mit dem Hodscha hat natürlich auch einen sozialen Charakter. […] Das ist eher etwas Persönliches. Oder wenn die Hodschas zum Freitagsgebet kommen, wenn sie dann oben sitzen und diese Ansprache zum Volk wie in der Moschee machen. Das wird dann so gemacht. Das ist nicht rein Arabisch, es wird eher die soziale oder momentane Situation im Gefängnis angesprochen. Zwar Arabisch vorher, diese Gebetsdinge, eine Koranlesung ist immer dabei und auch Ausführungen aus dem Koran, aber auch die Normalität, was man als normaler Mensch in einer Moschee hört.« 36 Das WÜD wurde am 18. April 1961 in Wien abgeschlossen und ist seit dem 24. April 1962 in Kraft. Nachzulesen in: BUNDESGESETZBLATT (1964): Wiener Abkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD). Jahrgang 1964 Teil II Nr. 38, S. 959 ff. 37 Das WÜK vom 24. April 1963 trat erst 1967 in Kraft trat. Nachzulesen in: BUNDESGESETZBLATT (1971): Wiener Abkommen über konsularische Angelegenheiten (WÜK). Jahrgang 1971 Teil II Nr. 57, S. 1285 ff.

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Aber auch die etablierte Gefängnisseelsorge wird von den Anstalten unterschiedlich wahrgenommen. Dies zeigen allein schon die zwei folgenden Zitate von Anstaltsleitern aus unterschiedlichen Anstalten: »Die Anstaltsgeistlichen sind für uns, sagen wir mal, häufig so etwas wie der letzte Joker, wenn es darum geht, Zugang zu schwierigen Gefangenen zu finden. Sie sind auch eine wertvolle Unterstützung was die Organisation des Vollzuges angeht, das heißt sie unterstützen uns viel im Bereich von Begleitgängen und Ausgängen wo Leute, Gefangene eben, mit Begleitung die Anstalt verlassen dürfen, weil wir sie nicht alleine raus lassen wollen, wenn es darum geht irgendwelche Kontakte zu späteren Wohneinrichtungen zu finden, zu Drogen- und Therapieeinrichtungen oder überhaupt mal eine Möglichkeit zu haben, dass ein Mann vor seiner Entlassung vor die Tür kommt. Da spielen die Pfarrer auch in meinem Geschäftsbereich eine große Rolle.«

Und: »Also die können nicht in die sowohl eine als auch andere Richtung loslegen […], weil sie müssen ja auch die Zielsetzungen des Vollzuges verstehen und sehen wie weit die Seelsorge da auch ihren Platz ein Stück weit findet, neben den grundsätzlich geschützten Möglichkeiten einer Religion nachzugehen.«

4.3

Kampf um öffentliche Anerkennung

Wie an den Beispielen zu sehen ist, entscheidet sich der »Kampf um öffentliche Anerkennung« nicht im religiösen Feld selbst, sondern bereits außerhalb des Strafvollzugs, im rechtlichen Raum so wie es Bourdieu beschreibt. Innerhalb des Strafvollzugs entscheidet die Wahrnehmung und Deutung des religiösen Akteurs die Anerkennung durch die Anstalt, wobei die Kategorisierung weniger über religiöse, sondern vielmehr über soziale Deutungsmuster erfolgt. Eine Interaktion zwischen den religiösen Akteuren im Sinne Bourdieus innerhalb des Strafvollzugs findet also nur zwischen Insassen und Anbietern statt und nicht zwischen den Anbietern selbst. Die Wettbewerbssituation im Sinne Bourdieus verläuft also nicht horizontal, sondern vertikal, wobei entweder ein Angebot an die Anstaltsleitung gemacht wird oder die Nachfrage nicht von den eigentlichen Nutzern des Angebots (den Insassen), sondern von den Anstaltsleitungen selbst geregelt wird.

Religiöses Feld im rechtlichen Raum: Religion im Strafvollzug

5.

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Zusammenfassung: Die Durchdringung des religiösen Feldes durch das Recht

Durch meine Ausführungen ist deutlich geworden, dass weniger die religiösen Akteure selbst die »Spielregeln« des religiösen Feldes bestimmen, sondern vielmehr Rechtstexte und Rechtsinstanzen. Wenn Bourdieu also schreibt: »Die Grenzen des Feldes befinden sich dort, wo die Feldeffekte aufhören«38, ist zu fragen, ob das religiöse Feld in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt Feldeffekte hat. Wie dargestellt wurde, sind innerhalb des Strafvollzugs keine Feldeffekte zu bemerken. So bestimmen die Regeln andere Instanzen und nicht die religiösen Akteure selbst. Auch die öffentlich wie rechtlich etablierte evangelische und katholische Gefängnisseelsorge verliert an Anerkennung, vor allem in historischer Perspektive betrachtet. Waren Gefängnisseelsorger maßgeblich an der Entwicklung und Etablierung eines resozialisierenden Strafvollzugs beteiligt,39 müssen sie heute ihre einstige Alleinstellung mit neuen Akteuren teilen. Bourdieu schreibt dazu: »Heutzutage besteht also ein unmerklicher Übergang von den Geistlichen alten Schlags […] zu Mitgliedern von Sekten, Psychoanalytikern, Psychologen, Medizinern […], Lebensberatern und Sozialarbeitern. Alle sind Teil eines neuen Feldes von Auseinandersetzungen um die symbolische Manipulation des Verhaltens im Privatleben und die Orientierung der Weltsicht, und alle setzen sie in ihrer Praktik konkurrierende, antagonistische Definitionen der Gesundheit, der Heilung, der Kur von Leib und Seele um.«40

Im Strafvollzug sind die neuen Akteure vor allem die Fachdienste, bestehend aus Sozialarbeitern, Psychologen, Medizinern und Sozialtherapeuten oder religiösen Akteuren, die allerdings weniger wegen ihres religiösen Selbstverständnisses, sondern vielmehr durch ihre soziale Funktion wahrgenommen werden. Die Frage, ob die Verrechtlichung des religiösen Feldes dazu geführt hat, kann an dieser Stelle allerdings nicht beantwortet werden.

38 Bourdieu 1996, S. 131. 39 Vergleiche dazu die Ausführungen von JAHN, Sarah (2011): Gefängnisseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland. In: KLÖCKER; Michael und TWORUSCHKA, Udo (Hg.), Handbuch der Religionen, Ergänzungslieferung 29 (S. 1 – 31). Landsberg/Lech: Olzog und SCHAUZ, D¦sir¦e (2011): Seelsorge hinter Gittern. Rollenkonflikte von Gefängnisgeistlichen im langen 19. Jahrhundert. In: BRETSCHNEIDER, Falk, SCHEUTZ, Martin und WEIß, Stefan (Hg.), Personal und Insassen von »Totalen Institutionen« – zwischen Konfrontation und Verflechtung (S. 245 – 270). Leipzig: Universitätsverlag Leipzig. 40 Bourdieu 1992, S. 233.

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Landesverband der Muslime in Niedersachsen e. V., Schura Niedersachsen, vertreten durch Herrn Avni Altiner, dem DITIB Landesverband der Islamischen Religionsgemeinschaften Niedersachsen und Bremen e. V., vertreten durch Herrn Yılmaz KiliÅ und dem Niedersächsischen Justizministerium, vertreten durch Herrn Minister Bernd Busemann. REHBEIN, Boike (2007): Globalisierung, Soziokulturen und Sozialstruktur. Einige Konsequenzen aus der Anwendung von Bourdieus Sozialtheorie in Südostasien. Soziale Welt 58/2, S. 187 – 202. SCHAUZ, D¦sir¦e (2011): Seelsorge hinter Gittern. Rollenkonflikte von Gefängnisgeistlichen im langen 19. Jahrhundert. In: BRETSCHNEIDER, Falk, SCHEUTZ, Martin und WEIß, Stefan (Hg.), Personal und Insassen von »Totalen Institutionen« – zwischen Konfrontation und Verflechtung (S. 245 – 270). Leipzig: Universitätsverlag Leipzig. SCHÄFER, Heinrich (2004): Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologieund Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu. Frankfurt am Main: Lembeck. STUTZ, Ulrich (1926): Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIII: nach den Denkwürdigkeiten des Kardinals Domenico Ferrata. Einzelausgabe aus den Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1925, Phil.-hist. Klasse, Nr. 3/4. ZACHARIAS, Diana (2005). Das deutsche Staatskirchenrecht vor den Herausforderungen der Gegenwart. Kirche & Recht: Zeitschrift für die kirchliche und staatliche Praxis, 3/4, S. 101 – 132.

Religiöse Konflikte als Thema von Bildung und Wissenschaft

Christina Wöstemeyer

Darstellung religiöser Diversität im Schulbuch: Integrationsoder Konfliktpotential?

Religiöse Vielfalt in Deutschland Migrationsbewegungen sowie Individualisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse haben zu einer kulturellen und religiösen Pluralisierung der Gesellschaft in Deutschland beigetragen. Im Zuge der Arbeitsmigration ab den 1950ern entstand im noch überwiegend christlich geprägten Deutschland nach und nach ein heterogenes religiöses Feld. Besonders die religiöse Bandbreite des Islams und die verschiedenen orthodoxen Kirchen des Christentums wurden Teil der religiösen Landschaft Deutschlands, was in den 1990ern durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den damit verbundenen Einwanderungen noch verstärkt wurde. Auch der Buddhismus sowie verschiedene hinduistische Religionen fanden durch Migrationsbewegungen den Weg nach Deutschland. Während der 1960er- und 1970er-Jahre boomten die neuen religiösen Bewegungen aufgrund sozialer Wandlungsprozesse. Zum Ende des Jahrhunderts fanden außerdem Endzeitbewegungen und christliche Freikirchen großen Zulauf. Im Feld der so genannten Esoterik haben sich diverse Angebote auf dem religiösen Markt etabliert. Es kommt verstärkt zu religiösen Mehrfachidentitäten und fluiden Formen religiöser Zugehörigkeit.1 Auch der Teil der Bevölkerung, der keiner Religionsgemeinschaft angehört, ist nicht zwangsläufig der Gruppe der Nichtreligiösen zuzurechnen. Bezogen auf Religionslosigkeit stellt Deutschland einen Sonderfall dar : Der verhältnismäßig hohe Anteil der religionslosen Bevölkerung hängt in Deutschland mit dem starken Ost-West-Gefälle

1 Hierzu s. BOCHINGER, Christoph; ENGELBRECHT, Martin; GEBHARDT, Winfried (2005): Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der ›spirituelle Wanderer‹ als Idealtypus spätmoderner Religiosität. Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR), 13, S. 133 – 151. und s. auch LÜDDECKENS, Dorothea; WALTHERT, Rafael (Hg.) (2010): Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen. Bielefeld: transcript.

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zusammen, das durch die politische Handhabe in Bezug auf Religionen in der DDR bedingt ist.2 Das Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Gruppen und die Pluralität an religiösen und weltanschaulichen Lehren und Praktiken stellt die Gesellschaft vor Herausforderungen und mögliche Konfliktfelder. Kreuze im Klassenzimmer, Schöpfungslehre versus Evolutionstheorie im Biologieunterricht, Moscheebau – um nur ein paar Stichpunkte zu nennen. Seitens der Politik werden daher zunehmend Integrationsbemühungen sowie interreligiöse und -kulturelle Kompetenzen gefordert. So setzt sich auch Aygül Özkan (CDU) als Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration des Landes Niedersachsen dafür ein, die Wahrnehmung der Identität des Anderen zu stärken, wodurch Verständigung und ein friedliches Miteinander gefördert würden. Sie betont besonders, dass es sich bei Integration um einen Prozess handle, zu dem jede/r einen Beitrag zu leisten habe: »Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der – um im Bild zu bleiben – nicht nur auf einer ›Zweibahnstraße‹, sondern am besten auf dem Marktplatz stattfinden sollte. An einem Ort, der ausreichend Platz für Interaktion bietet. Integration erfordert Anstrengungen und Engagement von allen Seiten und auf allen Ebenen: von Bund, Ländern und Kommunen, von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen.«3

Dieses hier skizzierte Idealbild erfordert das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit religiöser und kultureller Vielfalt, wie es beispielsweise von den Grünen in Niedersachsen in ihrem Wahlprogramm 2013 dezidiert für die schulische Bildung gefordert wird.4 Das Verhalten der Menschen in Deutschland zu der beschriebenen Vielfalt lässt sich empirisch schwer fassen. Im Auftrag des Exzellenzclusters »Religion und Politik« der Universität Münster hat das Meinungsforschungsinstitut Emnid einen europaweiten Vergleich zur religiösen Toleranz der verschiedenen Länder erhoben, mit folgendem Ergebnis: Die Deutschen seien viel intoleranter gegenüber dem Islam und anderen nichtchristlichen Religionen als ihre west2 S. veranschaulichende Graphiken zur religiösen Vielfalt in Deutschland und weiterführende Erläuterungen dazu unter REMID (2012): Grafiken und Daten zur Mitgliedschaft der Religionen in Deutschland. URL: http://www.remid.de/index.php?text=info_zahlen_grafik, [30. 01. 2013]. 3 HAUSWEDELL, Corinna (2011): »Unsere Gesellschaft ist schon lange nicht mehr homogen…« Interview mit Aygül Özkan. URL: http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?dossierID=070#b, [30. 01. 2013]. und s. außerdem NIEDERSÄCHISCHES KULTUSMINISTERIUM (2013): Integration durch Bildung. URL: http://www.mk.niedersachsen.de/ portal/live.php?navigation_id=1853& article_id=5962& _psmand=8, [30. 01. 2013]. 4 Vgl. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NIEDERSACHSEN (2013): Gute Schulen für alle. URL: http://www.gruene-niedersachsen.de/landtagswahl/wahlprogramm/bildung/gute-schulenfuer-alle.html, [30. 01. 2013].

Darstellung religiöser Diversität im Schulbuch

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europäischen Nachbarn. In Westdeutschland fühlten sich 40 % durch fremde Kulturen und Religionen bedroht, in Ostdeutschland sogar 50 %.5 Eine ähnliche Bilanz zieht auch Volkhard Krech in seinem Kommentar zu den Ergebnissen des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung: Die Toleranz gegenüber religiöser und kultureller Diversität sei in Deutschland nicht besonders stark ausgeprägt – jedoch mit Ausnahme hochreligiöser Menschen, die ihre eigene Religiosität stärker kritisch reflektieren und fremde (religiöse) Lebensstile eher positiv anerkennen würden.6 Diese Studien geben jedoch wenig Aufschluss darüber, welche konkreten Vorstellungen und Ressentiments bezogen auf fremde religiöse Traditionen und Weltanschauungen in der Gesellschaft existieren. Als Forschungsfeld eignet sich hier besonders die Darstellung religiöser Diversität in Schulbüchern, da diese Bildungsmedien zugleich als Produkt und Produzent gesellschaftlichen Wissens fungieren: Gesellschaftliche Diskurse schlagen sich in den Darstellungen der Bücher nieder und die vermittelten Inhalte werden über die Schüler/-innen wiederum in die Gesellschaft getragen.

Schulbuchanalyse: Leitfragen und Gliederung Wodurch gelangen Menschen zu der Auffassung, eine bestimmte religiöse Richtung entspreche nicht gesellschaftlichen Normen und sei damit besonders konfliktträchtig? Oder anders herum gefragt: Welche Normen muss eine Religion in Deutschland erfüllen, um als integrationsfähig anerkannt zu werden? Wo werden in der Gesellschaft Bilder von Religionen und diesbezügliche Einstellungen geprägt? In diesem Aufsatz soll ein möglicher gesellschaftlicher Bereich herausgegriffen werden, der einen Beitrag zur Verhandlung von religionsbezogenen (Non-)Konformitätsvorstellungen und damit von Integrations- bzw. Konfliktpotential in der Öffentlichkeit leistet.7 Die staatliche Schule ist gerade der ausgezeichnete Ort interreligiöser Be5 Vgl. LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG BADEN-WÜRTTEMBERG (Hg.) (2011): Integrationsland Deutschland. Vielfalt leben und gestalten. Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung. Politik & Unterricht, 02/2011, S.11. URL: http://www.politikundunterricht.de/2_11/integrationsland.pdf, [30. 01. 2013]. 6 Vgl. KRECH, Volkhard (20082): Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft. Wie die Deutschen mit religiöser Vielfalt umgehen. In: BERTELSMANN STIFTUNG (Hg.): Religionsmonitor 2008 (S. 41). Gütersloh: Verlag Bertelsmann-Stiftung. 7 Ich verstehe die Einstufung eines Verhaltens als nonkonform als notwendige Bedingung dafür, dass sich eine interreligiöse Begegnung zu einem Konflikt zuspitzt. Das bedeutet allerdings nicht, dass Nonkonformität immer zu Konflikten führen muss, sondern nur ebendieses Potential in sich trägt.

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gegnung und Kompetenzvermittlung, da in kaum einer anderen Institution unserer Gesellschaft so viele kulturelle, ethnische, sprachliche und eben auch weltanschauliche Unterschiede aufeinandertreffen. Für den Umgang mit dieser Pluralität spielen das im Unterricht verwendete Material und die darin vermittelten Bilder und Kompetenzen eine wichtige Rolle. Geht es um den dezidierten Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Diversität, lohnt es sich besonders, konfessionelle Schulbücher des Religionsunterrichts unter die Lupe zu nehmen, wie er in den meisten Bundesländern in Deutschland unterrichtet wird.8 Hier findet sich eine Schnittstelle von Religion(en) und Bildung. Sie soll im Folgenden hinsichtlich nachstehender Leitfragen untersucht werden: Wie werden von der Bezugsreligion abweichende Religionen und Weltanschauungen im Medium Schulbuch dargestellt? Welche Normen und gesellschaftlichen Diskurse manifestieren sich im Unterrichtsmaterial? Inwiefern trägt das Material zur diversitätsbezogenen Kompetenzvermittlung9 bei? Anhand eines empirischen Einblicks in ausgewählte Schulbuchartikel (unter Hinzunahme der Lehrerhandbücher) soll auf die Darstellungen weltanschaulicher Vielfalt eingegangen werden. Die untersuchten Bücher richten sich an Schüler/-innen der Sekundarstufe I und sind für den konfessionell gebundenen evangelischen Religionsunterricht an Gymnasien sowie Gesamt- und Realschulen erarbeitet worden, wobei stets zwei Jahrgänge in einem Band zusammengefasst sind. Es handelt sich um die beiden Reihen der Bücher »Das Kursbuch Religion« (2005 – 2007 bei Calwer/Diesterweg erschienen) und »Religion entdecken – verstehen – gestalten« (2008 – 2010 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen), die häufig im Unterricht verwendet werden. Bevor ich mich den konkreten Schulbuchartikeln zuwende, möchte ich zunächst noch einige Informationen zur Konzeption und Multiplikation von evangelischen Schulbüchern geben und auf die in gegenwärtigen Bildungsdebatten verstärkt geforderte Kompetenzorientierung aus religionswissenschaftlicher Perspektive eingehen. Die folgenden empirischen Einblicke in das Unterrichtsmaterial werden abschließend zusammengefasst und in Form von Schlussthesen hinsichtlich der Kompetenzvermittlung verdichtet, vor deren

8 Neben dem traditionell konfessionell ausgerichteten Religionsunterricht gibt es weitere Formen der religionsbezogenen Bildung an öffentlichen Schulen. Dazu zählen Unterrichtsmodelle wie Werte und Normen in Niedersachsen, der Bremer Unterricht in »Biblischer Geschichte«, Lebenskunde-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg oder auch das Hamburger Konzept »Religionsunterricht für alle«. Hierzu s. GRÖTZINGER, Karl Erich, GLADIGOW, Burkhard, ZINSER, Hartmut (Hg.) (1999): Religion in der schulischen Bildung und Erziehung. LER – Ethik – Werte und Normen in einer pluralistischen Gesellschaft. Berlin: Berlin Verlag. 9 Dieser hier eingeführte Begriff wird im folgenden Kapitel ausführlich erklärt.

Darstellung religiöser Diversität im Schulbuch

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Hintergrund im Fazit der Frage nachgegangen wird, ob und inwiefern die Schulbuchartikel Integrations- oder Konfliktpotential implizieren.

Religionsschulbücher: Konzeption und Multiplikation Im Unterschied etwa zu einer wissenschaftlichen Monographie oder einem literarischen Werk ist ein Schulbuch in vielerlei Hinsicht ein kooperatives Gemeinschaftswerk unterschiedlicher Interessengruppen. So werden die evangelischen Religionsschulbücher der verschiedenen Verlage von Religionspädagogen und Religionsdidaktikern konzipiert, wobei diese sich nach den Kerncurricula und Kompetenzmodellen richten. Das Kultusministerium entwickelt Kerncurricula, die von der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) abgesegnet werden, bevor sie durch die Kultusministerkonferenz in Kraft gesetzt werden. Im Zuge der Diskussion um Bildungsstandards gab die EKD beim Comenius-Institut eine Expertise in Auftrag, welches ein Kompetenzmodell speziell für den evangelischen Religionsunterricht entwickelte.10 Im Unterricht kommen verschiedene Materialien ganz unterschiedlicher Quellen zum Einsatz, wobei die meisten Artikel von Theolog/-innen verfasst werden. Es werden aber auch Zeitungsartikel, Comics, religiöse Innensichten oder literarische Texte anderer Autor/-innen abgedruckt. Bevor die Lehrer/innen die Bücher im Unterricht einsetzen können, werden sie einem staatlichen Zulassungsverfahren unterzogen, wobei geprüft wird, ob sie den Anforderungen der Kerncurricula gerecht werden. Anschließend werden die Bücher im Einvernehmen mit der EKD in die Schulbuchkataloge der Kultusministerien aufgenommen und damit für den Religionsunterricht freigegeben.11 Es liegt dann an der jeweiligen Schule, welche Lernmittel sie aus diesem Katalog auswählt und anschafft. Die letztendliche Entscheidung, ob das jeweilige 10 S. ELSENBAST, Volker, FISCHER, Dietlind (2006): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I. Münster : Comenius-Institut. Das Modell prägte maßgeblich die Kompetenzorientierung des Lehrwerks »Das Kursbuch Religion«. Zur bildungspolitischen Debatte um Bildungsstandards s. außerdem KLIEME, Hermann et al. (2007): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin, Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Bildungsforschung. sowie s. SAJAK, Clauß Peter (Hg.) (2007): Bildungsstandards für den Religionsunterricht – und nun? Perspektiven für ein neues Instrument im Religionsunterricht. Berlin: LIT Verlag. 11 Vgl. KULTUSMINISTERKONFERENZ (2002): Zur Situation des Evangelischen Religionsunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Kultusministerkonferenz vom 13. 12. 2002. Bonn: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, S. 22 f.

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Schulbuch im Unterricht verwendet wird, liegt jedoch bei der Lehrkraft, die den Unterricht gestaltet. Sie stellt die Materialien aus dem ihr zur Verfügung stehenden Pool zusammen. Dabei hält sie sich nicht unbedingt an ein einzelnes Kursbuch, sondern kombiniert unterschiedliche Unterrichtsmaterialien miteinander. Dadurch können mögliche Defizite des Schulbuchs im konkreten Unterricht etwa durch Spezialmaterial wie zum Beispiel Arbeitshefte oder Materialkoffer aufgefangen werden. Der Inhalt eines Schulbuchs bildet also niemals den tatsächlich vermittelten Unterrichtsinhalt ab. Dass im Zentrum dieses Aufsatzes die Analyse von Schulbüchern steht und nicht etwa eine empirische Untersuchung faktischer Unterrichtsabläufe, hat folgenden Grund: Schulbücher sind die Umschlagsstelle von abstrakten bildungspolitischen und didaktischen Idealen in konkretes pädagogisches Handeln. Als solche sind sie in mindestens zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Insofern sich in Schulbüchern die in Kerncurricula und Kompetenzmodellen entworfenen Ideale konkretisieren, sind gerade sie der ausgezeichnete Untersuchungsgegenstand, um zu prüfen, wie sich innerhalb der Theorie entworfene Kompetenzideale an der schulischen Wirklichkeit erproben. Damit ermöglicht die Schulbuchanalyse aber nicht nur, die Umsetzung der didaktischen Anforderungen der Kultusministerien und der EKD am konkreten Material zu untersuchen, sondern vor allem im Umkehrschluss auch empirisch nachzuweisen, ob und wie diversitätsbezogene Kompetenzen letztlich im Schulbuch vermittelt werden. Schulbücher geben also keinen Aufschluss über den faktischen Unterricht, sondern über ein bildungspolitisches Ideal. Dieses wird daraufhin befragt, inwiefern es den innerhalb der Integrationsdebatte formulierten Forderungen nach interkulturellen Fähigkeiten im Umgang mit weltanschaulicher Pluralität und den daraufhin von mir aufgestellten diversitätsbezogenen Kompetenzen12 gerecht wird. Zum anderen sind Schulbücher Multiplikationsmedien. Der Inhalt eines Buches kann aufgrund seiner Reichweite einen beachtlichen Teil der Jugendlichen in Deutschland erreichen. Selbstverständlich sind die vielfältigen Wirkungen, die ein Schulbuch entfalten kann, im Einzelnen nicht bestimmbar und zudem auch abhängig davon, ob die Lehrkraft das Schulbuch im Unterricht überhaupt verwendet oder nicht. Gleichwohl birgt der Inhalt eines Religionsschulbuchs aber das Potential, die Meinungsbildung in Deutschland bezüglich zum Teil marginalisierter Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen entscheidend mitzuprägen.

12 S. folgendes Kapitel.

Darstellung religiöser Diversität im Schulbuch

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Kompetenzorientierung: Religionswissenschaftlicher Modellentwurf Versteht man die Religionswissenschaft als angewandte Fachdisziplin, die außerhalb der akademischen Wissenschaft gesellschaftlich relevant werden möchte, stellt das Feld der schulischen Bildung und darin die Vermittlung von diversitätsbezogenen Kompetenzen einen Bereich dar, in den sie sich mit ihrer fachlichen Expertise einbringen kann und sogar sollte.13 Um Vorurteilen vorzubeugen und einen differenzierten Blick auf die religiöse Landschaft zu fördern, kann die Religionswissenschaft ihre Erkenntnisse bezüglich religiöser Diversitätsforschung mittels einer schülerorientierten Fachdidaktik in den Unterricht integrieren. So kann zum Beispiel durch religionshistorische Vergleiche gezeigt werden, dass im Laufe der Geschichte verschiedene religiöse Gruppen kritisiert, marginalisiert und verfolgt wurden und die Stigmatisierung religiöser Minderheiten kein ausschließlich rezentes Phänomen darstellt. Vorstellbar wäre hier auch das Durchspielen von Konfliktlöseprozessen anhand von Planspielen, wie sie beispielsweise Anne Koch, Religionswissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erarbeitet hat.14 Begibt sich die Religionswissenschaft in diese Rolle als Akteurin, die Bildungsprozesse mitgestaltet, muss sie sich in bildungspolitischen Debatten positionieren und kann nicht mehr als in erster Linie deskriptive Wissenschaft fungieren, sondern entwickelt eine normative Zielgerichtetheit. Aus dieser Perspektive ist es zulässig, es als Anliegen der Religionswissenschaft zu formulieren, Menschen für die Vielfalt an religiösen und weltanschaulichen Lebensformen, die die Gegenwartskultur kennzeichnen, zu sensibilisieren und einen differenzierten vergleichenden Blick auf ebendiese zu entwickeln, um gegenseitiges Verstehen und friedliches Zusammenleben zu fördern und Konflikten vorzubeugen. So können auf religiöse Diversität bezogene Kompetenzen als notwendige Antwort auf die Anforderungen der religiösen Gegenwartskultur verstanden werden. Um den Begriff der »diversitätsbezogenen Kompetenzen« zu schärfen, habe ich ein 3-Dimensionen-Modell entwickelt, das als normative Folie zur Erfor-

13 Vgl. KRIESEL, Peter (1999): Anmerkungen zum Beitrag der Religionswissenschaft für die Allgemeinbildung der Schüler und Lehrkräfte in der Schule. In: GRÖTZINGER, Karl Erich, GLADIGOW, Burkhard, ZINSER, Hartmut (Hg.) (1999): Religion in der schulischen Bildung und Erziehung. LER – Ethik – Werte und Normen in einer pluralistischen Gesellschaft (S. 60). Berlin: Berlin Verlag. 14 S. KOCH, Anne (2006): Multireligiös und multikulturell. Kompetenz im religiösen Feld der Gegenwart. Ein Praxishandbuch und CD-Rom mit drei Religions-Kompetenz-Trainings. Frankfurt a.M.: IKO Verlag für interkulturelle Kommunikation.

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schung der in den Schulbüchern vermittelten Kompetenzen dienen soll. Das Modell setzt sich folgendermaßen zusammen: Den ersten Bereich bildet die Wissensdimension, bei der zum einen auf die Aneignung von Kenntnissen über religiöse Traditionen und Weltanschauungen in Geschichte und Gegenwart Wert gelegt wird (beispielsweise Entstehungskontext, Lehre, Jenseitsvorstellungen, Festtage, Rituale, Sozialform, struktureller Aufbau). Zum anderen sollen hier die Vielfalt und Dynamik der religiösen Gegenwartskultur (zum Beispiel konfessionelle Aufteilung, verschiedene Religiositätskonzeptionen) in ihren unterschiedlichen Kontexten kennengelernt werden. Es folgt als zweites die Methodendimension. Hier geht es darum, religiös konnotierte Sachverhalte zu deuten, vergleichen, analysieren und zu verstehen. Außerdem sollen religiöse Selbstverständnisse und Fremdzuschreibungen reflektiert werden und für Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Vorurteile sensibilisiert werden, um eine differenzierte eigene Meinungsbildung zu gewährleisten. Desweiteren sollen Kommunikationsfähigkeiten wie Diskussionsbereitschaft und die Befähigung, sich in Gesprächspartner hineinzuversetzen, sowie die Fähigkeit, Kritik zu äußern und annehmen zu können, erlernt werden. Diese bilden die Voraussetzung für die dritte Dimension, die Handlungsdimension. Hierbei geht es um den interaktiven Austausch zwischen Individuen verschiedener religiöser Orientierung und zwischen Individuen religiöser und nichtreligiöser Orientierung. Gemeinsame und trennende Aspekte werden dazu in einer Begegnung auf Augenhöhe herausgearbeitet. Dabei wird gleichzeitig die Konfliktlösefähigkeit geschult: Differenzen sollen angesprochen werden, um daraufhin gemeinsame Lösungsvorschläge zu entwickeln. Die Akteure lernen hier zugleich, Grenzen der eigenen Toleranz aufzuzeigen und zu begründen sowie Unterschiede aushalten zu können. Das Ziel, das diesem 3-Dimensionen-Modell zugrundeliegt, ist somit das Herausbilden eines konstruktiven und verantwortungsvollen Umgangs mit religiöser und weltanschaulicher Heterogenität auf der Grundlage der freiheitlichdemokratischen Grundordnung. Zwar liegen den Büchern bereits Kompetenzmodelle zugrunde, die speziell für den evangelischen Religionsunterricht konzipiert wurden, jedoch soll es hier nicht um die Frage gehen, inwiefern die Unterrichtsmaterialien den bildungstheoretischen Idealen der Kultusministerien und den religionspädagogischen Ansprüchen der EKD gerecht werden. Vielmehr interessiert hier, ob und wie die innerhalb des dreidimensionalen Modells entworfenen diversitätsbezogene Kompetenzen letztlich im Schulbuch vermittelt werden. Werden die Forderung und damit der Selbstanspruch seitens der Integrationspolitik umgesetzt, den konstruktiven Umgang mit religiöser und kultureller Diversität in Deutschland zu fördern?

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Schulbuchartikel: Darstellung religiöser Diversität Der folgende empirische Einblick ins Unterrichtsmaterial zeigt anhand von Beispielen, wie verschiedene religiöse Traditionen und Weltanschauungen im jeweiligen Buch behandelt werden, wobei die Darstellungen aus einer kritischen religionswissenschaftlichen Perspektive hinterfragt werden.

Christen gehen aufeinander zu Das erste Beispiel zeigt eine Darstellung der katholischen Kirche in dem evangelischen Religionsbuch »Das Kursbuch Religion 1« für das 5./6. Schuljahr.15 Ein Foto zeigt zwei Männer auf einem Tandem. Es stellt sich heraus, dass es sich um den katholischen und den evangelischen Pfarrer aus einem Ort handelt, die gemeinsame Projekte ihrer Kirchengemeinden vorantreiben. Im Text geht es um ein ökumenisches Schulprojekt, in dem evangelische und katholische Schüler/-innen in einem gemeinsamen Religionsunterricht christliche Vielfalt vor Ort erkunden sollen. In katholischen, methodistischen, evangelischen, baptistischen und anderen christlichen Gemeinden sollen die Schüler gemeinsam Interviews führen und Informationen zusammentragen, die sie anschließend im ökumenischen Unterricht vortragen. Durch die gemischtkonfessionellen Gruppen kommen sowohl Innen- als auch Außenperspektiven zum Tragen, so dass die einzelnen untersuchten Gemeinden von verschiedenen religiösen (oder auch nichtreligiösen) Blickwinkeln aus betrachtet werden. Dementsprechend gibt es in jeder Gruppe religiöse »Spezialisten« und »Laien« und die Schüler/-innen können sich gegenseitig ihre eigene religiöse Weltanschauung vor Ort erklären und gegebenenfalls Fragen an die Gemeindeleitung stellen. Dadurch werden analytisch-vergleichende Kompetenzen geschult. Aus dieser Projekteinheit können die Lernenden sowohl neues Wissen bezüglich Entstehungskontext, Lehre oder Sozialform beziehen, als auch das erworbene Wissen im konkreten Umgang mit religiöser Vielfalt vor Ort anwenden. Neben dem Wissenszuwachs werden auf diese Weise zusätzlich Handlungskompetenzen erworben. Das römisch-katholische Christentum wird in der Schulbuchreihe mehrfach thematisiert, wobei es sich dabei meistens um den Aspekt der Ökumene dreht, so dass es hauptsächlich in Verbindung mit dem evangelisch-landeskirchlichen 15 Vgl. SCHMIDT, Heinz, THIERFELDER, Jörg et al. (Hg.) (2005a): Das Kursbuch Religion 1. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 5./6. Schuljahr. Stuttgart, Braunschweig: Calwer, Diesterweg, S. 174 f.

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Christentum auftritt und eine stärkere Kooperation zwischen den beiden größten Konfessionen in Deutschland nahegelegt wird. Auch wenn die Gemeinsamkeiten stark herausgestellt werden, geht es zugleich immer wieder um die konfessionellen Unterschiede. Ein schwer überwindbarer Gegensatz wird im differenten Verständnis des Abendmahls und auch im strukturellen Aufbau der Kirchen gesehen. So findet beispielsweise an einer Stelle eine klare Abgrenzung von der hierarchischen Struktur der katholischen Kirchenämter statt.16 Im Gegensatz zur evangelischen Pluralität erscheint die katholische Kirche eher homogen. Innerkonfessioneller Facettenreichtum wird nur kurz angedeutet, indem ein Kapitel der Lebenswelt der Franziskaner gewidmet wird17 und die Altkatholische Kirche in einer Grafik erscheint.18 Im Ganzen erhalten die Lernenden jedoch einen verhältnismäßig breiten Einblick in den Katholizismus, der weniger als Konkurrent denn als Partner des Protestantismus dargestellt wird.

Jesus Freaks: Jesus ist cool Dieser kooperative ökumenische Unterton ist jedoch längst nicht bei allen Darstellungen innerchristlicher Vielfalt in dieser Schulbuchreihe anzutreffen. Das nächste Materialbeispiel aus »Das Kursbuch Religion 3« für die 9./10. Klasse verdeutlicht die normative Position der Bezugsreligion des Unterrichts gegenüber der dargestellten Religionsgemeinschaft der Jesus Freaks.19 Die Darstellung ist von diffamierenden Elementen durchzogen und auch in den Aufgabenstellungen findet eine gezielte Abgrenzung von dieser Religionsgemeinschaft statt. So wird zum Beispiel auf das Foto, das zwei Mitglieder vermutlich auf dem jährlich stattfindenden Freakstock-Festival zeigt, verwiesen und gefragt: »Was muss man von diesen Jugendlichen halten? Würdet ihr euch so kleiden wollen?«20. Der suggestive Unterton lässt die Position der Schulbuchautoren durchscheinen und gibt den Schüler/-innen die Antwort praktisch vor. Im Text heißt es außerdem:

16 Vgl. SCHMIDT, Heinz, THIERFELDER, Jörg et al. (Hg.) (2005b): Das Kursbuch Religion 2. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 7./8. Schuljahr. Stuttgart, Braunschweig: Calwer, Diesterweg, S. 204. 17 Vgl. Schmidt, Thierfelder 2005a, S. 82 ff. 18 Vgl. Schmidt, Thierfelder 2005b, S. 205. 19 Vgl. SCHMIDT, Heinz, THIERFELDER, Jörg et al. (Hg.) (2007): Das Kursbuch Religion 3. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 9./10. Schuljahr. Stuttgart, Braunschweig: Calwer, Diesterweg, S. 126. 20 Schmidt, Thierfelder 2007, S. 126.

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»Bei den Jesus Freaks passieren dubiose Dinge: Leute fallen in Ekstase um, andere erzählen von Heilungserlebnissen im Lobpreisgottesdienst, reden in Zungen oder beten ihre Wohnung gesund, weil sie glauben, dass der Teufel drin steckt. Homosexualität wird tendenziell für sündhaft gehalten, und auch an den Satan glaubt man irgendwie. Aber das alles soll nicht verbindlich sein.«21

Die hier verwendete Sprache scheint bewusst sehr umgangssprachlich gewählt worden zu sein. Damit wird sich zwar einerseits an den Sprachduktus, den die Jesus Freaks verwenden, angepasst; andererseits ist kein anderer Schulbuchartikel in dem Buch so verfasst worden, was hier als Abgrenzungsmechanismus verstanden werden kann. Außerdem sind die wertenden Tendenzen auffällig: »dubiose« Dinge wie Zungenreden oder Ekstase werden genannt, die auf die Schüler/-innen vermutlich zunächst fremd und abschreckend wirken sollen. Hinzu kommt, dass zweimal der Ausdruck Teufel bzw. Satan fällt, so dass eine große Bedeutung des »Satansglaubens« bei den Jesus Freaks suggeriert wird. Zuletzt werden die Mitglieder als homosexuellenfeindlich und ihr Glaube als unverbindlich dargestellt: »Inhaltlich wollen sich die Jesus Freaks nicht festlegen lassen. Alles ist möglich, Hauptsache, man glaubt an Jesus, und das radikal.«22 Indirekt wird auf diese Weise eine Beliebigkeit bezüglich des Glaubens vermittelt, der dadurch vage und instabil wirkt. Mit dem Adjektiv »radikal« wird extremes Denken oder Handeln assoziiert, da die Bezeichnung besonders im Bereich politischer Aktivitäten, die von der Norm abweichen, verwendet wird. Im Lehrerhandbuch werden in Ergänzung zum Schulbuchtext noch einige weitere Informationen bezüglich der Gründerperson, äußerer Merkmale und Lehre geliefert. Auch hier ist ein undifferenzierter diffamierender Unterton erkennbar : »Freaks sind ausgeflippte Typen, die irgendwie schräg sind. Jesus ist für sie cool, was mit souverän, bewunderungswürdig und nachahmenswert übersetzt werden kann.«23 Insgesamt findet also eine starke Abgrenzung zu dieser Gemeinschaft statt.

Als Muslim in der modernen Welt Das Material des Schulbuchs »Religion entdecken – verstehen – gestalten« zeigt wenige Innenperspektiven und ist durch die Fremdwahrnehmung anderer religiöser Weltsichten aus einer christlich-normativen Perspektive geprägt. Das veranschaulicht auch der Schulbuchartikel »Als Muslim in der modernen 21 Schmidt, Thierfelder 2007, S. 126. 22 Schmidt, Thierfelder 2007, S. 126. 23 PETRI, Dieter, RUPP, Hartmut, THIERFELDER, Jörg (Hg.) (2009): Das Kursbuch Religion 3. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 9./10. Schuljahr. Lehrermaterialien. Stuttgart, Braunschweig: Calwer, Diesterweg, S. 111.

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Welt«24, der bereits in der Überschrift eine konfliktäre Spannung zwischen Islam und Tradition einerseits und Moderne andererseits aufbaut. Dieses Motiv dient dem Schulbuchartikel insgesamt als roter Faden. Er gibt sich zwar als muslimische Innensicht aus, stellt jedoch einen fiktiven Schulbuchautorentext dar. Auf einem Foto sieht man einen jugendlichen Muslim mit seinem Vater und zwei Kopftuch tragende Mädchen, womöglich die jüngeren Schwestern, im Hintergrund. Die Mutter ist nicht präsent und in dem fiktiven Statement des Vaters scheint ein stark patriarchal gefärbtes Rollenverständnis durch. Dort heißt es: »Ich bin das Oberhaupt der Familie, was ich sage, müssen alle machen. Morgens, mittags und abends muss gebetet werden. Fernsehen, Radio, Kino oder eine Freundin oder Theater spielen sind nicht gut, das lenkt Fatih vom Lernen und Beten ab. Dann wird er vielleicht nicht Professor und auch nicht Rechtsanwalt.«25

Der Artikel bedient diverse Vorurteile und Klischees, wodurch ein stereotypes Bild einer muslimischen Familie (re-)produziert wird. Die Wissensdimension wird zwar ansatzweise bedient, so erfährt der/die Rezipient/-in zum Beispiel, dass das Gebet einen wichtigen Stellenwert im Islam einnimmt, jedoch bleibt dieses Wissen vage. Zudem wird der Pflichtcharakter der muslimischen Gebetspraxis durch die Verwendung des Verbs »müssen« besonders betont. Eine mögliche tiefere persönliche Bedeutung der muslimischen Lehre für den Lebensalltag und die eigene Spiritualität wird nicht thematisiert, stattdessen vermittelt der Text ein oberflächliches negatives Bild des Islam, das vermutlich einen abschreckenden Eindruck bei den Schüler/-innen hinterlässt. Ein interreligiöser Austausch auf der Grundlage des Artikels erscheint somit wenig zielführend.

Fluide Religion und Religionslose Es wäre angesichts der eingangs skizzierten religiösen Landschaft wünschenswert, dass die Behandlung alternativer Religions- und Spiritualitätsformen im Schulbuch einen angemessenen Raum erhält. Das ist jedoch in den hier untersuchten Schulbüchern nicht der Fall. Die Darstellung multipler Religiositätskonzeptionen etwa taucht in den Schulbuchreihen zum Beispiel gar nicht auf. Das liege nach Bochinger et al. daran, 24 KORETZKI, Gerd-Rüdiger ; TAMMEUS, Rudolf (Hg.) (20082): Religion entdecken – verstehen – gestalten. 7./8. Schuljahr. Ein Unterrichtswerk für den evangelischen Religionsunterricht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 108. 25 Koretzki, Tammeus 20082, S. 108.

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»dass ein bestimmtes, theologisch begründetes Bild von Kirchenstrukturen und Spiritualitätsmustern, in Katechismen und anderen kirchlichen Dokumenten auf das »Normalpublikum« heruntergebrochen, zum Maßstab gegenwärtiger Religiosität und religiöser Vergemeinschaftung erhoben wird. Dieses Bild ist nicht nur inkompatibel mit den Mustern nicht-kirchlicher und nichtchristlicher religiöser Gemeinschaften (die automatisch als negativ eingestuft werden, soweit sie nicht zufällig in dieses Bild hineinpassen), sondern es verfehlt auch die tatsächliche religiöse Befindlichkeit des Kirchenpublikums.«26

Durch die Nichtthematisierung multipler oder fluider religiöser Identitäten wird also eine wichtige Facette gegenwärtiger Religiosität verkannt. Auch Religionslose werden nicht erwähnt, wenn es dezidiert um interreligiösen/-weltanschaulichen Dialog geht, obwohl auch sie die religiöse Gegenwartskultur stark prägen und mit einem guten Drittel einen großen Teil der Gesellschaft ausmachen.

Schlussthesen und Fazit: Darstellung religiöser Diversität im Schulbuch – Integrations- oder Konfliktfaktor? Es lassen sich abschließend folgende Schlussthesen festhalten: Die Bezugsreligion des Unterrichts positioniert sich zu den behandelten Gemeinschaften im Schulbuch unterschiedlich, so dass die Art der Darstellung einer bestimmten Religionsgemeinschaft von dem jeweiligen Grad der Nähe zur EKD abhängig ist. Neben der graduellen Abgrenzung der Bezugsreligion zu den dargestellten Gemeinschaften einerseits besteht ein Wille zum interreligiösen Dialog27 andererseits – aber : nicht mit allen. Sowohl innerhalb christlicher Vielfalt gibt es starke Abgrenzungen (Jesus Freaks versus Katholizismus) als auch bezogen auf andere Religionen (Islam versus Christentum). Zwar wird hinsichtlich der Ökumene der integrative Effekt betont, aber in den Darstellungen von Muslimen und Jesus Freaks kommen verstärkt religiöse Konfliktlinien zum Vorschein, wobei die Bezugsreligion des Unterrichts den Maßstab für festgestellte Devianz darstellt. Neue Sozialformen von Religion werden im interreligiösen Zusammenhang nicht thematisiert und eine religionswissenschaftlich fundierte Dar-

26 Bochinger, Engelbrecht, Gebhardt 2005, S. 140. 27 Interreligiöse Dialogkompetenz bedeutet in den Schulbüchern, sich von einem eigenen religiösen Standpunkt aus über religiöse Gemeinsamkeiten und Unterschiede im interreligiösen Austausch zu verständigen. Vgl. Schmidt, Thierfelder 2007, S. 198. Die Verwendung des Dialog-Begriffs wird im Folgenden gewählt, wenn es dezidiert um (inter)religiöse Kompetenzvermittlung im Schulbuch geht, bei der eine religiöse Positionierung vorausgesetzt bzw. angestrebt wird.

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stellung von Religionen und Weltanschauungen kommt nur teilweise zum Tragen. Wenn es um Begegnungen mit religiöser Vielfalt und um die Vermittlung dialogischer Kompetenzen geht, wird die Position nichtreligiöser oder multipel religiöser Individuen in den behandelten Büchern größtenteils außen vorgelassen. Der in den Schulbüchern initiierte Dialog findet stattdessen hauptsächlich zwischen Personen und Institutionen statt, die ein monolithisches Religionsbild repräsentieren.28 Dabei setzen sich die Lernenden stets aus einer bestimmten Perspektive mit religiöser Vielfalt auseinander und vergleichen »ihre« Religion mit anderen religiösen Ausprägungen, wodurch Säkularisierungstendenzen entgegengewirkt und das eigene religiöse Profil geschärft wird. Dies dient in erster Linie der religiösen Identitätsausbildung bzw. der Stabilisierung der persönlichen Religiosität der Schüler/-innen. Bedenkt man, dass das Schulbuch ein Multiplikationsmedium ist und eine hohe Wirkmacht auf den Umgang mit religiöser Diversität und die Meinungsbildung der Schüler/-innen haben kann, macht es einen bedeutsamen Unterschied, ob eine bestimmte religiöse Tradition lediglich von einem partikularen Außenstandpunkt aus in den Blick genommen wird, oder ob, etwa in Form von Gegendarstellungen, auch einer Innenperspektive der religiösen Individuen Rechnung getragen wird. Zuständig für die Konzeption der Schulbücher sind in erster Linie die jeweilige Bezugsreligionsgemeinschaft und das zuständige Kultusministerium. Beide Institutionen hegen bestimmte Interessen, die sich im Unterrichtsmaterial niederschlagen. Die (von Kultusministerien und Kirchen favorisierten Kompetenzmodelle für den konfessionellen Religionsunterricht bzw. die daran orientierten) untersuchten Schulbücher legen ihren Schwerpunkt wie oben gezeigt auf die Vermittlung religiöser statt interreligiöser diversitätsbezogener Kompetenz, was an der konfessionell verfassten Ausrichtung des Unterrichts liegt. Man muss sich an dieser Stelle jedoch nochmals vor Augen führen, dass die Analyse der Schulbücher und die dadurch intendierten Kompetenzen wenig über den tatsächlichen Kompetenzerwerb bei Schüler/-innen aussagen, da die konkrete Unterrichtsgestaltung und die Materialauswahl in letzter Instanz von der Lehrperson ausgehen, die normalerweise nicht durchgängig und ausschließlich eine Schulbuchreihe im Unterricht bearbeitet. Ob die Darstellungen religiöser Diversität im Schulbuch eher integrationsfördernd wirken oder Konflikte entfachen, ist somit nicht eindeutig zu beantworten, zumal Integration bzw. integrationshemmende Konflikte nicht nur eine religiös-weltanschauliche Komponente aufweisen, sondern wesentlich komple28 Vgl. Methodenseite zum Thema Dialog in: Schmidt, Thierfelder 2007, S. 198. sowie vgl. Schmidt, Thierfelder 2005b, S. 226.

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xer sind. Deshalb ist darauf zu achten, dass Religion nicht zur alleinigen Ursache für gesellschaftliche Konflikte stilisiert wird. Religiöse Vielfalt in ihrer kulturellen Bedingtheit und ihren gesellschaftlichen Wechselbeziehungen als relevanten Integrationsfaktor wahrzunehmen und zu analysieren, stellt jedoch für integrationsbezogene Bildungsprozesse einen wichtigen Aspekt dar. Häufig spiegeln Schulklassen als mikrokosmisches Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse die dort vorfindbare Vielfalt religiöser, weltanschaulicher und kultureller Einstellungen wider, so dass diversitätsbezogene integrationsfördernde Kompetenzen für die Schüler/-innen bereits im Klassenverband eine wichtige Rolle spielen und damit der direkte Bezug zur Lebenswelt der Lernenden deutlich wird. In den meisten Bundesländern in Deutschland findet der Religionsunterricht allerdings konfessionell getrennt statt, so dass das Potential der heterogenen Klassenstrukturen für die interreligiöse Kompetenzvermittlung nicht ausgeschöpft wird. In Anbetracht der religiösen und kulturellen Pluralität in Deutschland wäre meines Erachtens eine Fokussierung auf diversitätsbezogene Kompetenzen sinnvoll, wie sie oben erläutert wurden. Diesen wird im konfessionellen Religionsunterricht jedoch nur unzureichend gerecht, so dass über ein anderes Unterrichtsformat nachgedacht werden muss, welches die dafür benötigten Kenntnisse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt. In ihrer Rolle als angewandte Wissenschaft ist es die Aufgabe der Religionswissenschaft, die interreligiöse diversitätsbezogene Kompetenzvermittlung in Bildungskontexten einerseits stärker wissenschaftlich zu erforschen und andererseits bildungspolitisch und -theoretisch mitzugestalten. Die Entwicklungen bezüglich der Toleranz gegenüber verschiedenen teils marginalisierten religiösen und weltanschaulichen Konzepten und deren gesellschaftlicher Integration hängen also maßgeblich von der Öffnung der Religionswissenschaft hin zu einer gesellschaftlich engagierten Disziplin ab.

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Ronald Pokoyski

Evolutionstheorie oder Schöpfungslehre, zwei konträre »Theorien« über die Entstehung des Lebens?

Auf der einen Seite die Evolutionstheorie und auf der anderen Seite die Schöpfungslehre – für einige sind dies die zwei Seiten ein und derselben Medaille, für andere sind es eher zwei Medaillen, aus ganz unterschiedlichen Epochen, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Bei der Evolutionstheorie handelt es sich um eine naturwissenschaftliche Theorie, etwas mit dem Kinder in Deutschland oftmals erst im Biologieunterricht ab der 9. Klasse in Kontakt kommen und anhand welcher ihnen auf naturwissenschaftliche Weise die Entstehung und die Entwicklung des Lebens auf der Erde nähergebracht wird. Dittmar Graf, Professor für Didaktik der Biologie, findet das problematisch. Seiner Meinung nach wäre es begrüßenswert, wenn Kinder bereits viel früher etwas über die Evolutionstheorie lernen.1 Bei einer Schöpfungslehre hingegen handelt es sich um die jeweils individuellen Vorstellungen der einer bestimmten Religion angehörigen Gläubigen, über die Entstehung der Welt und des Lebens. In den USA ebenso wie in Deutschland ist, wenn von Schöpfungslehre die Rede ist, vorwiegend die christliche Schöpfungslehre gemeint, wie sie in der »Heiligen Schrift« vor allem in Genesis eins und zwei zu finden ist. Mit dieser Vorstellung einer geschaffenen Welt kommen kleine Kinder zumeist bereits sehr früh in Kontakt, seien sie nun von Seiten ihres Elternhauses christlich vorgeprägt oder nicht. Erste Erfahrungen mit der Vorstellung von der Schöpfung der Welt machen Kinder oftmals bereits im Kindergarten. Entweder, da es sich um eine christliche Einrichtung handelt, oder weil ein christlich geprägter Erzieher die Geschichte der Erschaffung der Welt durch Gott erzählt und eventuell anhand bunter Bilder illustriert. Die Art der Auslegung der heiligen Texte ist entscheidend für die Frage wie Gläubige mit der Evolutionstheorie und deren Aussagen umgehen. Werden die 1 Vgl. IRLE, Katja (2009): Künftige Bio-Lehrer lehnen Darwin ab, auf: http://www.fr-online.de/ wissenschaft/interview-mit-dittmar-graf-kuenftige-bio-lehrer-lehnen-darwin-ab,1472788,3 243912.html, [03. 01. 2013].

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Texte der Bibel als Texte angesehen, die dem Schreibenden direkt von Gott eingegeben wurden? Oder wird die Bibel als Textsammlung verstanden, welche von Menschen verfasste Texte enthält; geschrieben vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Epoche und ihrem Lebensumfeld? Werden die Texte anhand wissenschaftlicher Methoden wie der historisch-kritischen Bibelexegese bearbeitet, die heute an allen deutschen staatlichen theologischen Fakultäten gelehrt wird? Oder werden die Texte wortwörtlich interpretiert und die Bibel für unfehlbar gehalten? Eine Annahme wie sie in christlich fundamentalistischen Kreisen anzutreffen ist. Claus Leggewie, Politologe an der Universität in Gießen schreibt, dass auch in Deutschland zahlreiche Menschen der Annahme sind, die Welt und somit auch die Menschen seien, anders als es die Evolutionstheorie lehrt, durch Gott geschaffen. Diese Einstellung ist nicht auf ein bestimmtes Lebensalter festgelegt, sondern lässt sich in allen Altersstufen nachweisen.2 Die Aussage Leggewies unterstützen verschiedene Umfragen, in denen nach den eigenen Überzeugungen bezüglich der Entstehung der Welt gefragt wurde. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IHA-GfK aus dem Jahr 2002, durchgeführt in Deutschland, Österreich und der Schweiz, ergab beispielsweise, dass 40 % der Befragten mit der Evolutionstheorie übereinstimmten. 21 % äußerten sich in Richtung einer theistischen Evolution. Ebenfalls 21 % gingen davon aus, dass die Welt und alles Leben von Gott vor nicht allzu langer Zeit, also vor ca. 10.000 Jahren, geschaffen worden sei.3 Laut einer Infratest Umfrage aus dem Jahre 2005 befürworteten 48,3 % der Befragten die Aussage, dass eine höhere Macht verantwortlich für die Erschaffung des Lebens auf der Erde sei. 49,2 % lehnten dies dagegen ab.4 Für die USA ergab eine Gallup Umfrage aus dem Jahre 2008, dass diejenigen zu einer Minderheit gehörten, die allein der Evolution zutrauten, den Menschen hervorgebracht zu haben. Gerade einmal 14 % gingen davon aus, dass dies so gewesen sei. 36 % glaubten an eine evolutionäre, aber durch Gott geleitete Entwicklung des Menschen über einen langen Zeitraum und eine Mehrheit von 44 % ging von einer durch Gott geschaffenen Menschheit innerhalb eines Zeitraums von weniger als 10.000 Jahren aus.5 Auch im Mutterland Darwins ist die Zustimmung zu einer rein evolutionären Entstehung nicht mehrheitsfähig. 48 % der dort durch die BBC Befragten ging von der Existenz der 2 Vgl. Interview mit Claus Leggewie im Deutschlandradio Kultur, mp3 auf http://ondemandmp3.dradio.de/file/dradio/2007/07/03/dkultur_200707031612.mp3, [04. 04. 2013]. 3 Vgl. Meinungsforschungsinstitut IHA-GfK, Hergiswil, Schweiz. In: Kutschera, Ulrich (2004): Streitpunkt Evolution. Darwinismus und Intelligentes Design, Münster LIT Verlag. 4 Vgl. Meinungsumfrage von Infratest für ZeitWissen, auf http://www.bio-pro.de/de/region/ rhein/magazin/02954/index.html, [04. 04. 2013]. 5 Gallup (2008) Graphik auf: http://www.spiegel.de/fotostrecke/darwins-evolutionslehre-wiedie-natur-das-leben-lenkt-fotostrecke-38936 – 3.html, [25. 01. 2013].

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Evolution aus. 22 % glaubten eher sogenannten kreationistischen Deutungen und 17 % fanden die Ideen des Intelligent Designs am attraktivsten.6 – Was aber sind Kreationismus und Intelligent Design?

Kreationismus – eine kurze Erläuterung Kreationismus ist der landläufigen Meinung nach ein ursprünglich rein amerikanisches Phänomen, entstanden im US-protestantischen Fundamentalismus während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Grund für die Entstehung war die Auseinandersetzung mit der durch Charles Darwin (1809 – 1882) veröffentlichten Evolutionstheorie in seinem Buch »On the Origin of Species« (1859). Zum Leitthema des amerikanischen Fundamentalismus wurde der Kreationismus in den 1920er Jahren, nachdem ihn William Jennings Bryan (1860 – 1925) quasi im Alleingang auf die Tagesordnung der fundamentalistischen Strömung setzte. Kurzgefasst kann gesagt werden, dass sich der Kreationismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gegen zahlreiche Aussagen der Evolutionstheorie wendet. Für Ronald Numbers7 ist eine wortwörtlich verstandene Bibel die Voraussetzung dafür, um von Kreationismus sprechen zu können. Eugenie Carol Scott8, setzt hingegen lediglich den Glauben an ein höheres, außerweltliches Wesen voraus, welches die Welt und die Lebewesen geschaffen hat. Während die erste mögliche Definition den Kreis der in Frage kommenden Glaubensvariationen stark beschränkt, eröffnet die Zweite die Möglichkeit einer sehr weiten Ausdehnung. Definition eins umfasst die kreationistischen Varianten des Langzeit- sowie des Kurzzeitkreationismus, während das Intelligent Design ausgespart wird. Das Intelligent Design gehört hingegen in das Kreationismuskontinuum nach Scott, genau wie die theistische Evolution. Bei dieser wiederum scheiden sich die Geister, ob tatsächlich von Kreationismus gesprochen werden kann. Die relevantesten Merkmale zur Unterscheidung von Lang- sowie Kurzzeitkreationismus stecken bereits in ihren Bezeichnungen. Anhänger des Lang6 Vgl. O.A. (2006): Mehrheit der Briten zweifelt an Evolution, auf: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/umfrage-mehrheit-der-briten-zweifelt-an-evolution-a-397456.html, [25.01. 2013]. 7 Numbers veröffentlichte unter anderem das Buch »The Creationists. The Evolution of scientific Creationism« (1992) und ist ein ausgewiesener Kenner des amerikanischen Kreationismus. 8 Scott ist eine langjährige Kritikerin des amerikanischen Kurzzeitkreationsimus sowie des Intelligent Design. Von ihr stammt unter anderem das Buch »Evolution vs. Creationism: An Introduction« (2004).

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zeitkreationismus gehen von einem, mit der Evolutionstheorie übereinstimmenden, langen Zeitraum aus, während dessen sich die Welt mit Gottes Hilfe entwickelt hat. Diese Entwicklung kann, wie es die langzeitkreationistische GapTheorie vorsieht, zwischenzeitlich unterbrochen worden sein. Diese Unterbrechung geschah durch eine Katastrophe, welche alles Leben auf der Erde zerstörte. Das neue Leben wurde später durch Gott auf der bereits lange existierenden und somit alten Erde geschaffen. Die ebenfalls in den Rahmen der Langzeittheorie einzuordnende Konkordanzhypothese sieht eine Schöpfung in sechs Tagen vor, genau wie es die Bibel beschreibt. Anders als von Vertretern des Kurzzeitkreationismus werden allerdings nicht sechs Tage mit je vierundzwanzig Stunden angenommen. Ein Schöpfungstag wird als Äon, also als ein langer Zeitraum oder ein Zeitalter verstanden. Insgesamt wird von sieben Zeitaltern ausgegangen. Derzeit befindet sich die Erde laut dieser Theorie im siebten Zeitalter. Eine dritte Variante des Langzeitkreationismus ist die sogenannte »Schöpfung auf Raten«. Diese Variante ähnelt am ehesten der Evolutionstheorie. Pflanzen- wie Tierarten entwickeln sich fortlaufend. Allerdings geschieht dies nicht auf rein natürliche Weise, sondern ist immer mit einem möglichen Eingreifen Gottes verbunden. Der Kurzzeitkreationismus und seine modernere Form, der wissenschaftliche Kurzzeitkreationismus, halten sich streng an eine wortwörtliche Bibelinterpretation und gehen bei den dort angegebenen Tagen von tatsächlichen weltlichen 24-Stunden-Tagen aus. Insgesamt kommen Vertreter des Kurzzeitkreationismus auf nicht mehr als einige tausend Erdenjahre seit ihrer Erschaffung. Berechnungen dieser Art hatte bereits der britische Theologe James Ussher (1581 – 1656) vorgenommen und die Entstehung der Welt auf den 23. Oktober 4004 v. Chr. datiert. Zwischen dem klassischen und dem durch den Amerikaner Henry M. Morris (1918 – 2006) begründeten wissenschaftlichen Kurzzeitkreationismus gibt es im Grunde einzig den Unterschied, dass die Anhänger des klassischen Kreationismus bei ihrer Argumentation gegen naturwissenschaftliche Erkenntnisse vorwiegend mit Bibelzitaten argumentierten und somit die Bibel allein ihre Argumentationsgrundlage bildete. Im heute meist vertretenen wissenschaftlichen Kurzzeitkreationismus setzten dessen Vertreter neben der Bibel stark auf naturwissenschaftliche Argumente, um naturwissenschaftliche Erkenntnisse entweder zu widerlegen oder in einem anderen Kontext erscheinen zu lassen. Als Weiterentwicklung und bisher neueste Variante im Kreationismuskontinuum gilt das Intelligent Design. Begründer der Intelligent Design Bewegung ist der Jurist Phillip E. Johnson (1940), der die Diskussion mit seinem Buch »Darwin on Trial« 1991 in Gang setzte. Intelligent Design proklamierte in den 1990er Jahren nicht religiös zu sein, sondern einen wissenschaftlichen Ansatz zu verfolgen, um die Entwicklung und Entstehung des Lebens auf der Erde zu

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erklären. Bei ihrer Argumentation verwiesen die Anhänger des Intelligent Designs auf einen intelligenten Designer, der das Leben designt habe. Jegliche Verweise auf die Bibel oder das Christentum wurden vermieden. Ziel war es mit der neuen Variante des Kreationismus in den Biologieunterricht der staatlichen Schulen in den USA zu gelangen, um eine Konkurrenzidee zur Evolutionstheorie zu bieten. Dieses Vorhaben scheiterte 2005 vor Gericht, welches entschied, dass es sich auch beim Intelligent Design um eine Religion und nicht um eine Wissenschaft handele.9 Der Grundgedanke des Intelligent Design besteht darin, dass die gesamte Welt designt ist. Dieses Design lässt sich überall in der Natur nachweisen. Eines der beliebtesten und dazu anschaulichen Beispiele ist das menschliche Auge. Nicht so bekannt, aber ebenso anschaulich, allerdings wohl eher für Biologen verständlich, ist das bakterielle Typ-III-Sekretionssystem. Der Anschaulichkeit halber bleiben wir daher in diesem Text beim menschlichen Auge. Das Auge scheint sehr kompliziert konstruiert zu sein. Zu kompliziert, um durch reinen Zufall und Mutationen entstanden zu sein, wie es die Evolutionstheorie annimmt. Und somit ergibt sich für Intelligent Designer der Rückschluss, es wurde designt. Der Grundgedanke des Designt-Seins lässt sich einige Jahrhunderte zurückverfolgen. Bisweilen wird William Paley (1743 – 1805), der wohl die bekannteste Variante des Design-Gedankens verfasste, auch als Vater des Intelligent Design bezeichnet. Neben dem Auge, welches auch Paley bereits als gutes Beispiel für Design erkannte, ist es wohl das Beispiel mit der in der Natur gefundenen Uhr, das anschaulich zu erklären versucht, dass zahlreiche Dinge in der Natur designt sein müssen.10 Kurz gesagt sagt dieses Beispiel: wer in der Natur eine Uhr findet, der wird davon ausgehen, dass ein Uhrmacher sie erdacht und hergestellt haben muss und dass sie nicht auf natürlichem Wege entstanden sein kann. Genau dies ist der Grundgedanke des Intelligent Design. Wie angesprochen, gehört für Scott auch die theistische Evolution ins Kontinuum des Kreationismus. Sofern die theistische Evolution zum Kreationismus gezählt werden soll, ist es diejenige Variante, die der Evolutionstheorie am nächsten kommt. So gut wie alle Annahmen der modernen Naturwissenschaften werden akzeptiert. Allerdings wird eine Zielgerichtetheit angenommen und die Mechanismen der Evolution gelten als von Gott geschaffen. Wie gezeigt wurde, besitzen Kreationisten eine Aversion gegen die Evolutionstheorie oder doch zumindest gegen einzelne Teile und Mechanismen der Theorie. Was aber ist nun genau das Außergewöhnliche an dieser Theorie, die es

9 Vgl. O.A. (o. J.): Intelligent Design in Schulen? Verfassungswidrig! auf: http://www.forumgrenzfragen.de/aktuelles/news/archiv/jonesurteil.php, [05. 01. 2013]. 10 PALEY, William: Natural Theology, 1802.

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wohl als einzige naturwissenschaftliche Theorie überhaupt, geschafft hat, in den USA einen »Kulturkampf« auszulösen?

Was ist die Besonderheit der Evolutionstheorie? Was ist das Besondere an Darwins Theorie? Dass es eine Besonderheit geben muss, scheint zumindest sicher. Hierzu braucht nur auf die zahlreichen Auseinandersetzungen, welche seit ihrer Veröffentlichung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Befürwortern und Gegnern ausgetragen wurden, verwiesen werden. Was aber unterscheidet die im 19. Jahrhundert in relativ kurzer Zeit sehr populär gewordene Evolutionstheorie von anderen naturwissenschaftlichen Theorien? Bei Darwins Evolutionstheorie handelte es sich bei Weitem nicht um die erste Theorie der sich während der Zeit der Aufklärung entwickelnden empirischen Naturwissenschaften. Und sie war auch nicht die erste, die am christlich/kirchlichen Weltbild rüttelte. Zu denken ist beispielsweise an die Erkenntnisse Galileo Galileis (1564 – 1642) für die Astronomie, Isaak Newtons (1643 – 1727) für die Physik oder auch Charles Lyell (1797 – 1875) in der Geologie. Wer waren diejenigen, die sich entweder für oder gegen die Evolutionstheorie aussprachen? Heute wird oftmals von den Naturwissenschaftlern auf der einen sowie den Theologen auf der anderen Seite gesprochen. Doch so einfach ist diese Unterscheidung nicht. Es gab durchaus naturwissenschaftlich berechtigte Kritik von Seiten der Naturwissenschaftler aber auch von naturwissenschaftlich versierten Theologen. Genau wie es religiös geprägte Kritik von Naturwissenschaftlern gab. Zur Kritik an der Evolutionstheorie Darwins im 19. Jahrhundert wäre daher zunächst zu unterscheiden, ob es sich um eine »rein« naturwissenschaftliche oder um eine religiös motivierte Kritik handelte. Letztere muss dann unterschieden werden nach einer naturwissenschaftlichen Kritik aus religiösen Gründen sowie einer rein theologischen Kritik. Während naturwissenschaftlich motivierte Kritik innerhalb der Wissenschaft durchaus gerechtfertigt und gewünscht war und ist, wissenschaftliche Theorien sind schließlich keine Dogmen, soll das Augenmerk auf die religiös motivierte Kritik gerichtet werden. Zwischen der Kirche und Naturwissenschaftlern wie Galilei oder Giordano Bruno (1548 – 1600) gab es immer Konflikte, sobald deren Entdeckungen und Theorien das bisherige kirchlich-religiöse Weltbild ins Wanken zu bringen drohten. Aber keiner dieser Konflikte war so tiefgreifend und ausdauernd wie bei der von Darwin entwickelten Evolutionstheorie. Darwins Theorie tangiert scheinbar zentrale christliche Glaubensinhalte. Hierbei spielt »scheinbar« eine wesentliche Rolle. Denn es stellt sich die Frage ob

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die Evolutionstheorie tatsächlich Glaubensinhalte berührt oder nicht? Darwins vorrangiges Ziel war es zumindest nicht, eine Theorie zu entwickeln, die darauf abzielte, die Kirche zu verärgern. Auch wenn gerade um die Figur Darwins und die Frage nach dessen eigener Religiosität ein beinahe ebensolcher Kampf tobt, wie um die Evolutionstheorie selbst. Gerade das Internet trägt zu den wüstesten Auseinandersetzungen bei. Beide Seiten versuchen Darwin auf ihre Seite zu ziehen und scheinen dabei ganz genau zu wissen was dieser meinte, auch wenn Darwin selbst sich doch nicht klar dazu äußerte, ob er nun religiös sei oder nicht. In einem Brief an John Fordyce aus dem Jahre 1879 bezeichnete Darwin sich eher als Agnostiker und schrieb er sei nie Atheist gewesen.11 Anhänger der Atheistenthese verteidigen bis heute ihre Annahme gern mit der Begründung, Darwin hätte sich nicht so äußern können wie er wollte, aus Angst vor der Kirche. Gegen diese Theorie, die sich nicht belegen lässt, sprechen mehrere Schriftstücke, die Darwin verfasste und die ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren und in denen er sich daher auch nicht zu verstellen brauchte.12 Im Grunde ist es jedoch irrelevant, ob Darwin nun religiös war oder nicht. Seine Theorie hatte nicht das Ziel den christlichen Glauben zu torpedieren. Darwin ging es darum herauszufinden, wie sich die Lebewesen entwickelten und wie dies auf naturwissenschaftliche Weise zu erklären sei. Zum Problem wurde es für Darwin, dass er seine Theorie noch nicht wirklich empirisch beweisen konnte. So musste er beispielsweise auf die Züchtung von Haustierrassen für eine unterstützende Erklärung zurückgreifen, da es noch nicht möglich war, den Artwandel durch Mutationen zu erklären. Gerade dieses, bedingt durch die Zeit nun aber nötige Ausweichmanöver, nutzen viele kreationistische Gegner noch heute um die Evolutionstheorie zu diskreditieren. Von Darwin selbst verschuldet, war dessen eigener Rückgriff auf lamarcksche Erklärungsmuster, bei der Veränderbarkeit der Lebewesen. Vielleicht geschah dies aber auch um den immensen Druck der Kritik von seiner Theorie zu nehmen, den seine Gegner ausübten. Dies führte neben einem neuen Lamarck-Hype nur zu einer Verwässerung von Darwins eigener Theorie. Mit seiner Idee der Anpassung und Veränderung der Lebewesen hatte er Recht. Nur beweisen konnte man es erst ca. 60 Jahre später, nachdem die DNA entdeckt worden war. Im Grunde war Darwin seiner Zeit also nur voraus. Dieser Rückgriff aber ließ die Evolutionstheorie zum Ende des 19. Jahrhunderts beinahe zu einem nur kurz aufglühenden Stern der Geschichte ohne weitere Strahlkraft werden.

11 Vgl. DARWIN CORRESPONDENCE PROJECT: Darwin Brief an Fordyce 7. 05. 1879 auf: http://www.darwinproject.ac.uk/entry-12041, [12. 01. 2013]. 12 Vgl. BLUME, Michael (2013): Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe, Freiburg im Breisgau: HERDER Spektrum. S. 50 f.

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Weltanschauliche Aufladung der Evolutionstheorie Der andere Aspekt, der die Kritik an der Evolutionstheorie befeuerte, war die Aufladung der rein naturwissenschaftlichen Theorie mit weltanschaulichen Ideen und Konstruktionen. Diese weltanschauliche Aufladung begann bereits kurz nach ihrer Erstveröffentlichung. Zu finden war diese auf beiden Seiten. Sowohl Befürworter wie Gegner konstruierten und interpretierten bisweilen Ideen und Vorstellungen in Darwins Theorie, die dieser selbst nicht zu entnehmen waren. Ganz vorne mit dabei war der deutsche Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel. Ein glühender Verehrer Darwins und absolut dogmatisch, wenn es um die Verteidigung der Evolutionstheorie ging. Haeckel verließ gern den Boden der Naturwissenschaften und füllte die Evolutionstheorie mit allerlei weltanschaulichen und religionsfeindlichen Ideen auf und baute sie so zu einem naturphilosophischen System aus. Gerade Haeckels Interpretationen der Evolutionstheorie waren es, die ihren Weg in die USA fanden, wo sie bei religiösen Gegnern auf fruchtbaren Boden trafen. Aber auch im Mutterland Darwins gab es hartgesottene Evolutionsverteidiger wie beispielsweise Darwins »Bulldogge«13Thomas Huxley (1825 – 1895), dessen legendäre Auseinandersetzung mit dem Bischof von Oxford Samuel Wilberforce (1805 – 1873) in zahlreichen literarischen Abhandlungen ihren Niederschlag gefunden hat. Auch wenn diese Auseinandersetzung nach Durchsicht der Protokolle der damaligen Sitzung der British Association for the Advancement of Science vermutlich nicht so dramatisch abgelaufen ist, wie später immer dargestellt. Wilberforce gehörte eher zu den Gegnern der Evolutionstheorie, die versuchten auf naturwissenschaftlicher Basis zu argumentieren. Er kritisierte vor allem die von Darwin verwendeten Methoden.14 Eine der negativen Folgen der Evolutionstheorie war ihre Übertragung aus der Natur auf die menschliche Gesellschaft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der sogenannte Sozialdarwinismus sehr populär und mit ihm Ideen zu Eugenik und Euthanasie. Auch hier war Haeckel ein führender Vertreter. So befürwortete er die gezielte Selektion von Schwachen sowie der Gesellschaft nicht dienlichen Menschen.15 In Texten wies er beispielsweise auf die Tötung schwacher Kinder bei den Spartanern hin.16 Die Nationalsozialisten übernahmen später gern Aussagen führender Sozialdarwinisten wie Haeckel. Für zahlreiche Vertreter eines christlichen Menschenbilds und einer christlichen Moral 13 Vgl. WUKETITS, Franz M. (2005): Darwin und der Darwinismus, München: C.H. Beck. S. 9. 14 Vgl. BRUSH, Jack E. (2008): Naturwissenschaft als Herausforderung für die Theologie, Zürich: Lit Verlag. S. 156. 15 Vgl. Brush 2008, S. 171. 16 Vgl. HAECKEL, Ernst (1904): Die Lebenswunder, Stuttgart: Kröner, S. 23.

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bedeuteten Haeckels Ansichten ein Schlag ins Gesicht, ganz gleich, ob sie nun die Evolutionstheorie an sich ablehnten oder nicht. Auch heute ist es problematisch, wenn auf Seiten der Naturwissenschaften aus der Evolutionstheorie mehr herausgeholt werden soll, als in ihr steckt. Und das trotz all der zusätzlichen neuen Erkenntnisse seit der Zeit Darwins. Richard Dawkins, einer der bekanntesten Religionskritiker, verlässt bei seiner Verteidigung der Evolutionstheorie gern einmal das Metier der Naturwissenschaft, um seine Kommentare mit unwissenschaftlichen Äußerungen zu ergänzen. Diese Aufladung mit nicht naturwissenschaftlichen Konstrukten führte unter anderem zu den falschen Annahmen über die Evolution auf Seiten des Kreationismus.

Falsch verstandene Evolutionstheorie An dieser Stelle können wir noch einmal auf Bischof Wilberforce zurückkommen. Seine Aussage über die Abstammung des Menschen vom Affen ist noch heute eine zentrale Aussage in kreationistischen Kreisen. Eine Aussage, die sich so jedoch bei Darwin nicht finden lässt und auch nie eine Rolle in der Evolutionsforschung spielte. Die korrekte evolutionstheoretische Aussage zu dieser Fehlinterpretation lautet, der heutige Mensch und die heutigen Menschenaffen besitzen im Laufe ihrer evolutionären Entwicklung gemeinsame Vorfahren. Eine falsch verstandene Evolutionstheorie führt in diesem Zusammenhang oft zu der fragwürdigen Aussage; »wenn die Evolutionstheorie stimmt, dann müssten sich ja die Affen im Zoo auch irgendwann zum Menschen weiterentwickeln.« Oder anders: »Wenn die Evolutionstheorie stimmt, warum gibt es dann überhaupt noch Affen und nicht bloß Menschen?« – Bei aller Polemik, die gerade in diesem Part der Auseinandersetzung mitschwingt, kann natürlich die Frage gestellt werden, was eigentlich so unangenehm an einer Abstammung aus dem Tierreich ist? Eine solche Abstammung hat aus kreationistischer Sicht weitreichende Folgen für die Menschheit und deren Moralvorstellungen. Wie Freud feststellte bedeutete die Abstammung aus dem Tierreich, die, nach Galileo Galilei, zweite große Depression für die Menschheit. – Die dritte verursachte Freud dann selbst.17 Doch bei Galilei und Freud handelt es sich bis heute nicht um die »Erzfeinde« des Kreationismus. Diese Position bleibt, so scheint es oft, Darwin überlassen. Nicht unschuldig daran ist genau diese Versetzung des Menschen ins Reich der Tiere. Bei einer wörtlich verstandenen Bibel widerspricht diese Abstammungstheorie dem Genesistext. Laut Reinhard Junker von der deutschen 17 Vgl. FREUD, Siegmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, auf: http:// gutenberg.spiegel.de/buch/926/18, [04. 04. 2013].

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Studiengemeinschaft Wort und Wissen, hat dies Folgen für die gesamte biblische Heilgeschichte. Sollte es keinen Adam gegeben haben, mit dem der Sündenfall der Menschheit einsetzte, so bedarf es auch keines Jesus Christus, der sich am Kreuz für die Sünden der Menschen opfert. Ohne Jesus und ohne dessen Opfer keine Wiederkehr, kein Endgericht und keine Erlösung. Die Heilsgeschichte des neuen Testaments wird quasi mit der Evolutionstheorie ad absurdum geführt und somit vollkommen wertlos. Die Bibel stellt den Zusammenhang zwischen dem Paradies und der Zerstörung des selbigen durch den Sündenfall klar heraus. Mit dieser Zerstörung halten all die negativen Eigenschaften des Menschen Einzug in die Welt. Der Mensch ist also verantwortlich für sein Handeln. Anders, so schreibt Junker, sieht es die Evolutionstheorie. Ihr zufolge sind die »sündigen Triebe« des Menschen »Überbleibsel der Vorstufen zum Menschen«18. Der Mensch ist somit nicht für seine Sünden verantwortlich und eine Errettung deshalb überflüssig. Im amerikanischen Fundamentalismus wurde Darwin zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Vater der vier p’s (prostitution, perversion, pornography, permissiveness) bezeichnet und galt als verantwortlich für den Werteverfall der Jugend.19 Diese zersetzende Wirkung der Evolutionstheorie auf die moralische Integrität der Gesellschaft wurde in fundamentalistischen Kreisen bereits im 19. Jahrhundert erkannt und setzt sich bis heute fort. Auch die so genannte Soziobiologie, die sich auf den Grundlagen der Evolutionstheorie entwickelte, steht konträr zu den fundamentalistischen Annahmen über die christliche Moral. Sie geht davon aus, dass es einzig die Gene sind, die den Menschen beeinflussen und für sein Handeln verantwortlich zeichnen. In der Evolution geht es um das Überleben der Gene und nicht um das individuelle Überleben einzelner Individuen. In dem hier besprochenen Zusammenhang ist die Soziobiologie von Bedeutung, da laut Edward O. Wilson die Gene auch für die Moral des Menschen verantwortlich sind, und der Mensch so gesehen für sein Verhalten gar nicht verantwortlich gemacht werden kann. Natürlich trugen auch diese Annahmen zu der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Evolutionstheorie in den letzten Jahren bei. Die Evolutionstheorie ist wohl die naturwissenschaftliche Theorie mit dem größten Maß an Fehlinterpretation und »Hineininterpretation« aufgrund religiöser Anschauungen. Der Vorwurf, Darwin habe die Theorie als Gegenentwurf zur christlichen Schöpfungslehre entworfen, gehört zu den ältesten. An dieser Stelle möchte ich nur kurz auf drei wichtige Vertreter des Kreationismus ein18 Ankündigung auf der Homepage von Christen für die Wahrheit, Vortrag von Reinhard Junker http://www.cft-online.de/aktuelles/Vortrag%20Dr.%20Junker.shtml, [06. 07. 2007]. 19 Vgl. JEßBERGER, Rolf (1990): Kreationismus – Kritik des modernen Antievolutionismus. Biologie und Evolution interdisziplinär, Berlin Verlag Paul Parey. S. 149.

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gehen. Bei diesen handelt es sich um die Amerikaner Henry M. Morris und Duane Gish (1921) sowie den Niederländer Willem J. Ouweneel (1944). Morris wird oft als der Vater des modernen wissenschaftlichen Kurzzeitkreationismus bezeichnet, der in den 1960er Jahren in den USA aufkam. Er schrieb das Buch »The Genesis Flood«20, welches den Grundstein für den modernen Kreationismus legte und auch immensen Einfluss auf den deutschen Kreationismus ausübte. Morris ist Gründer des ICR (Institut for Creation Research) einer der größten und wichtigsten Organisationen des Kurzzeitkreationismus. Neben der bereits angesprochenen Sicht auf die Bibel ist es ebenfalls von großer Bedeutung für die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der Evolutionstheorie, welche wissenschaftlichen Methoden akzeptiert werden. Für Morris stellen einzig das Experiment sowie die Beobachtung akzeptable naturwissenschaftliche Methoden dar. Womit er eine stark eingeschränkte wissenschaftliche Sichtweise vertritt. Zudem verlangt er eine Eingliederung Gottes in den naturwissenschaftlichen Deutungsrahmen – Gott als mögliche Hypothese. Unter diesen Voraussetzungen können wichtige Bestandteile der Evolutionstheorie, die zum Teil eben auch eine historische Wissenschaft ist, nicht akzeptiert werden. Historische Ereignisse, wie die Entstehung der Arten, sind weder experimentell noch mittels Beobachtung nachweisbar. Bei Morris trägt neben der naturwissenschaftlich sehr eingeschränkten Sicht, auch sein absoluter Biblizismus zu seiner Nichtakzeptanz der Evolutionstheorie bei. Den Rahmen all seiner wissenschaftlichen Arbeit stellt eine als historisches sowie naturwissenschaftliches Nachschlagewerk verstandene Bibel dar. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die den Tatsachenberichten der Bibel widersprechen, müssen somit falsch sein. Morris übernimmt in seinen Ansichten zahlreiche Auffassungen, die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts finden lassen. So ist für Morris beispielsweise das oberste Ziel der Evolutionstheorie, die Menschen von Gott und seiner Schöpfung zu entfernen. Mehrmals bezeichnete Morris die Evolutionstheorie zudem als Werk des Teufels.21 Der zweite Vertreter des amerikanischen Kurzzeitkreationismus ist Duane Gish. Salman Rushdie bezeichnete ihn einmal als den letzten Dinosaurier, der nur noch nicht mitbekommen hat, dass er bereits ausgestorben ist.22 Gish sieht die Naturwissenschaft als eine Art Werkzeug, mit dessen Hilfe es möglich ist, die Menschen zurück zu Gott zu führen. Heute gebe es keinen Glauben an Gott ohne die richtigen wissenschaftlichen Argumente für seine Existenz sowie dessen 20 MORRIS, Henry M., WHITCOMB, John C.: The Genesis Flood. The biblical Record and its scientific Implications, 1961 (Presbyterian & Reformed Publishing). 21 Vgl. Jeßberger 1990, S. 143. 22 Vgl. RUSHDIE, Salman (2009): Der Mond besteht nicht aus grünem Käse, auf: http:// www.egrund.de/weltbilder/artikel.htm, [24. 01. 2013].

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unfehlbare und irrtumslose Offenbarung, davon ist Gish überzeugt. Auch für ihn hat die Bibel einen unantastbaren Gültigkeitsradius. Sie ist über jeden Zweifel erhaben. Selbst andere, oftmals als ebenfalls kreationistisch eingestufte Positionen, wie beispielsweise den Langzeitkreationismus oder die theistische Evolution, lehnt Gish ab, da sie auf der einen Seite der Bibel sowie auf der anderen den wissenschaftlichen Fakten widersprechen. Für Gish stellt die Evolutionstheorie einen zielgerichteten Prozess dar, der als Endergebnis den Menschen quasi hervorgebracht haben muss. Wenn er allerdings die Schöpfungslehre mit der Evolution vergleicht, so wird Gish klar, dass die Evolutionstheorie viel weniger nachvollziehbar ist, als die Schöpfungslehre. Die Evolutionstheorie ist, hier schließt sich Gish zahlreichen anderen religiösen Gegnern der Theorie an, nicht nachweisbar, da unbeobachtbar sowie experimentell nicht überprüfbar und somit nicht wissenschaftlich. Dass es sich bei der Schöpfungslehre nicht um eine Wissenschaft handelt, gibt Gish zu. Sie ist mit den Mitteln der Wissenschaft weder beweisbar noch zu widerlegen. Ouweneel, der dritte Vertreter, beschreibt die Evolutionstheorie als ein Dogma, welches auf materialistischen und philosophischen Ideen aufbaut. Mit dieser Argumentation greift er auf Evolutionsbefürworter wie Haeckel zurück, die aus der Theorie eine Weltanschauung zu formen versuchten. Für Ouweneel ist beispielsweise die Behandlung des Todes durch die Vertreter der Evolutionstheorie nicht zu akzeptieren, da sich der Tod, den die Evolutionstheorie beschreibt, konträr zu dem der christlichen Vorstellung verhält. Der Tod, so die Kreationisten, kann nicht die Voraussetzung sein für neues irdisches Leben. Die Evolutionstheorie dagegen nimmt gerade, durch den Mechanismus der Selektion, den Tod als Voraussetzung für neues Leben an. In diesem Fall hätte Gott aber den Tod bewusst eingesetzt, um seine Ziele zu erreichen. Und zudem im Laufe der langen evolutionären Zeiträume tausende von Arten erschaffen und vernichtet. Dies ist nicht im Sinne der Bibel, so Junker.23 Der Tod entsteht erst mit dem Sündenfall des ersten Menschenpaares und ist für Junker ein Zeichen für das göttliche Gerichtshandeln.24 Gott kann also auch nicht, wie es im Sinne der theistischen Evolution wäre, den Tod als evolutionäres Werkzeug eingesetzt haben.25 Ähnliches gilt für den Kampf ums Überleben, auch dieser Kampf und der Sieg des vermeintlich Stärkeren passt nicht zu den Vorgaben der heiligen Schrift. Erst 23 Vgl. JUNKER, Reinhard (2007a): Evolution – Schöpfungsmethode Gottes? in: idea e.V., EvangelischeNachrichtenagentur : idea Dokumentation. Evolution oder Schöpfung? Wetzlar : IDEA Verlag. S. 20 – 22. S. 20. 24 Vgl. Junker 2007a, S. 21. 25 Vgl. JUNKER, Reinhard: Lehrt die Bibel eine junge Schöpfung? in: idea e.V., Evangelische Nachrichtenagentur (2007b): idea Dokumentation. Evolution oder Schöpfung? Wetzlar : IDEA Verlag. S. 22 – 26. S. 23.

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in der 5. Auflage seines Buchs übernahm Darwin von Herbert Spencer dessen »Survival oft the fittest«, welches scheinbar konträr zu christlichen Glaubensgrundsätzen steht. Anders als Ouweneel und auch andere Evolutionsgegner schreiben, sah Darwin nicht den Stärkeren als den Überlegenen, der sich im Kampf ums Überleben gegen den scheinbar Schwächeren durchsetzt. Vielmehr ging es ihm darum, dass sich das Lebewesen in einer bestimmten biologischen Nische durchsetzt, das den dort herrschenden Bedingungen am besten angepasst ist. In der Savanne überlebt der starke Löwe. In Meer dagegen hätte er gegenüber der scheinbar körperlich schwachen Qualle das Nachsehen. Bei all den genannten kreationistischen Vertretern lässt sich erkennen, dass die Evolutionstheorie mit eigenen weltanschaulichen Vorstellungen aufgeladen und interpretiert wird. Dies kann als typisch für alle kreationistischen Vertreter angesehen werden. Seit der Veröffentlichung der Evolutionstheorie durch Darwin hat es unterschiedliche theologische Versuche gegeben, mit der Evolutionstheorie und der Naturwissenschaft im Allgemeinen umzugehen. Dies beinhaltete Versuche der Vermittlung zwischen beiden Theorien bis hin zu einer völligen Entflechtung. Heute ist es vor allem der zunächst in den USA entstandene Kreationismus, der eine Gegenposition zur Evolutionstheorie aufrechterhält. Die evangelische sowie die katholische Kirche haben im Großen und Ganzen hingegen ihren Frieden mit der Evolutionstheorie geschlossen. Während noch im Jahre 1907 Papst Pius X. in seiner »Enzyklika Pascendi Dominici gregis«26 die Evolutionstheorie verurteilte, erklärte sein Nachfolger Papst Pius XII dreiundvierzig Jahre später in der »Enzyklika Humani generis«27 die Unvereinbarkeit von Glauben und Evolutionstheorie,28 stellte es aber den Wissenschaftlern frei, Untersuchungen »über den Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden, lebenden Materie« anzustellen.29 Eine evolutive Entstehung des Körpers gefährde also nicht den Glauben, die Seele aber stamme, laut Pius XII., von Gott. Einem Urteil über den Wahrheitsgehalt der Evolutionstheorie enthielt sich die Kirche damals.30 Im Jahre 1996 gab auch Papst Johannes Paul II. eine Erklärung zur 26 Vgl. PIUS X. (1907): Enzyklika Pascendi Dominici gregis, auf: http://www.vatican.va/ holy_father/pius_x/encyclicals/documents/hf_p-x_enc_19070908_pascendi-dominici-gregis_en.html, [24. 01. 2013]. 27 Vgl. PIUS XII. (1950): Enzyklika Humani generis, auf: http://stjosef.at/dokumente/humani_generis.htm, [24. 01. 2013]. 28 Vgl. TRACK, Joachim: Evolution oder Kreation? Erwägungen zum Verhältnis von Evolutionstheorie und christlichem Schöpfungsglauben, in: Siewing, Rolf (Hg.) (1987): Evolution : Bedingungen – Resultate – Konsequenzen, Stuttgart, New York: UTB. S. 475 – 498. S. 475 f. 29 Vgl. Pius XII 1950. 30 Vgl. LAUN, Andreas (2002): Anmerkungen zur Evolution aus der Sicht des Theologen, in: Weingartner , Paul: Evolution als Schöpfung? Ein Streitgespräch zwischen Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlern, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer. S. 53 f.

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Evolutionstheorie ab und bezeichnete sie »mehr als eine Hypothese«.31 Auch unter Papst Benedikt XVI. betont die katholische Kirche die Existenz der Evolution und hält an der Version einer theistischen Evolution fest.32 Zusammenfassend bleibt die Erkenntnis, dass bei der Frage, ob sich Glauben und Naturwissenschaft ausschließen oder nicht, immer die individuelle Einstellung zum eigenen Glauben, zu Religion und Religionen sowie zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Wissenschaft die zentrale Rolle spielt.

Literatur O.A. (o. J.): Intelligent Design in Schulen? Verfassungswidrig! auf: http://www.forumgrenzfragen.de/aktuelles/news/archiv/jonesurteil.php, [05. 01. 2013]. O.A. (2006): Mehrheit der Briten zweifelt an Evolution, auf: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/umfrage-mehrheit-der-briten-zweifelt-an-evolution-a-397456.html, [25. 01. 2013]. BLUME, Michael (2013): Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe, Freiburg im Breisgau: HERDER Spektrum. BRUSH, Jack E. (2008): Naturwissenschaft als Herausforderung für die Theologie, Zürich: LitVerlag. DARWIN CORRESPONDENCE PROJECT: Darwin Brief an Fordyce 7. 05. 1879 auf: http:// www.darwinproject.ac.uk/entry-12041, [12. 01. 2013]. GALLUP (2008) Graphik auf: http://www.spiegel.de/fotostrecke/darwins-evolutionslehre-wie-die-natur-das-leben-lenkt-fotostrecke-38936 – 3.html, [25. 01. 2013]. HAECKEL, Ernst (1904): Die Lebenswunder, Stuttgart: Kröner. IHA-GfK Meinungsforschungsinstitut, Hergiswil, Schweiz. In: Kutschera, Ulrich (2004) Streitpunkt Evolution. Darwinismus und Intelligentes Design, Münster LIT Verlag. INFRATEST für ZeitWissen, auf http://www.bio-pro.de/de/region/rhein/magazin/02954/ index.html, [04. 04. 2013]. IRLE, Katja (2009): Künftige Bio-Lehrer lehnen Darwin ab, auf: http://www.fr-online.de/ wissenschaft/interview-mit-dittmar-graf-kuenftige-bio-lehrer-lehnen-darwin-ab,14 72788,3243912.html, [03. 01. 2013]. JEßBERGER, Rolf (1990): Kreationismus – Kritik des modernen Antievolutionismus. Biologie und Evolution interdisziplinär, Berlin: Verlag Paul Parey. JOHANNES PAUL II. (1996): Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien, auf http://www.stjosef.at/dokumente/evolutio.htm, [20. 01. 2013]. JUNKER, Reinhard (2007a): Evolution – Schöpfungsmethode Gottes? in: idea e.V., Evangelische Nachrichtenagentur idea Dokumentation. Evolution oder Schöpfung? Wetzlar IDEA Verlag. S. 20 – 22. 31 Vgl. JOHANNES PAUL II. (1996): Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien, auf http://www.stjosef.at/dokumente/evolutio.htm, [20. 01. 2013]. 32 Vgl. SCHMITT, Stefan (2007): Evolution und Schöpfung: Papst weist Naturwissenschaft in die Schranken, auf: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/evolution-und-schoepfung-papst-weist-naturwissenschaft-in-die-schranken-a-476820.html, [03. 02. 2013].

Evolutionstheorie oder Schöpfungslehre, zwei konträre »Theorien«

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Religiöse Konflikte in und um (virtuelle(n)) Räume(n)

Julia Dippel

Ein Heiligtum »unter der Haube« – Die (Re-)konstruktion sakraler Räume als Konfliktfaktor

Wenn von Konfliktfaktoren im öffentlichen Raum in Bezug auf Religionen die Rede ist, denken viele zunächst vermutlich an Auseinandersetzungen um repräsentative Neubauten religiöser Minderheiten, zum Beispiel Moscheen in Mitteleuropa. Bei dem in diesem Aufsatz geschilderten Konflikt handelt es sich um ein ähnliches, jedoch umgekehrtes Phänomen: Es sollte nicht ein neuer Sakralbau einer religiösen Minderheit erbaut werden, sondern hier sollte ein von einer neuen religiösen beziehungsweise spirituellen Minderheit als sakral postulierter Raum vor einer Überbauung geschützt werden. Der als »Kubus-Streit« bezeichnete Konflikt zeigt exemplarisch ein relevantes Konfliktfeld: nämlich die (Re-)Konstruktion sakraler Orte im öffentlichen Raum seitens alternativer religiöser Minderheiten und die damit verbundenen Spannungsfelder. Der Streit um die Überbauung der als »Görresburg« und »Matronenheiligtum« bekannten Anlage mit einem Kubus aus Holz ereignete sich in den Jahren 2010 bis 2012 in der Gemeinde Nettersheim im Kreis Euskirchen in NordrheinWestfalen. Um den Kontext dieses Konfliktes zu verdeutlichen, werden zunächst die historischen Hintergründe der Matronenverehrung beleuchtet, bevor die gegenwärtige Rezeption der Matronen und der damit verbundene Kubus-Streit vorgestellt und analysiert werden.1

Die Matronenverehrung in der südlichen Germania inferior Im 1. – 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurden im romanisierten Mitteleuropa Votivsteine und Terrakotta-Statuetten zur Verehrung der zumeist als 1 Teile der hier vorgestellten Angaben bezüglich der rezenten Matronenverehrung beruhen auf noch unveröffentlichten empirischen Feldforschungen in den Jahren 2011/12 im Rahmen des Promotionsprojektes der Verfasserin.

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Matronae oder Matres bezeichneten Gottheiten angefertigt.2 Ein Zentrum des sogenannten Matronenkults war der südliche Teil der römischen Provinz Germania inferior – die heutige Eifelregion. Die hier gefundenen Darstellungen zeigen die Matronen fast ausschließlich als Triade: Zwei Frauen mit auffallenden Hauben sitzen links und rechts von einer Frau, die ihre schulterlangen Haare offen trägt. Die Hauben und die Kleidung weisen Merkmale der traditionellen Bekleidung des westgermanischen Stammes der Ubier auf.3 Diese Einordnung lässt vermuten, dass es sich bei den Äußeren um verheiratete oder verwitwete Frauen handeln muss, und somit die Mittlere unverheiratet ist. Zudem tragen die Matronen kleine Obstkörbe, Blumen, Ähren oder Kästchen auf ihren Schößen, wodurch sie in der archäologischen Literatur als frucht(-barkeits-)bringende Muttergottheiten identifiziert werden.4 Über die konkrete Kultpraxis weiß man nur wenig, da keine schriftlichen Zeugnisse – bis auf die Inschriften auf den Votivsteinen – gefunden wurden. Die bisher 8345 in diesem Gebiet gefundenen Weihinschriften für die ubischen Matronen sind in Latein verfasst. Es sind ca. 80 Beinamen bekannt, die je zur Hälfte germanischen und keltischen Sprachursprungs sind.6 Die latinisierten Namen der Dedikantinnen und Dedikanten waren zumeist ebenso germanischen oder keltischen Ursprungs, zumeist Angehörige der in römischen Diensten stehenden indigenen Oberschicht.7

2 Zur Datierung siehe vor allem RÜGER, Christoph B. (1987): Beobachtungen zu den epigraphischen Belegen der Muttergottheiten in den lateinischen Provinzen des Imperium Romanum. In: BAUCHHENSS, Gerhard, NEUMANN, Günter (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten. Ergebnisse eines Kolloquiums (S. 1 – 30). Köln: Rheinland-Verlag, S. 10 – 15 und BILLER, Frank (2010): Kultische Zentren und Matronenverehrung in der südlichen Germania inferior. Rahden: Leidorf, S. 266 – 271 und 307 – 310. 3 Zu Kleidung und Darstellung der Matronen siehe HORN, Heinz Günter (1987): Bilddenkmäler des Matronenkultes im Ubiergebiet. In: BAUCHHENß, Gerhard, NEUMANN, Günter (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten. Ergebnisse eines Kolloquiums (S. 31 – 54). Köln: Rheinland-Verlag, S. 36 f., Rüger 1987, S. 25 f. und Biller 2010, S. 298 – 301. 4 Zu den Attributen siehe Horn 1987, S. 45 – 47 und SCHAUERTE, Günther (1987): Darstellung mütterlicher Gottheiten in den römischen Nordwestprovinzen. In: BAUCHHENß, Gerhard, NEUMANN, Günter (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten. Ergebnisse eines Kolloquiums (S. 55 – 102). Köln: Rheinland-Verlag, S. 74 – 82. 5 Stand von Biller 2010, S. 21. 6 Näheres zu den germanischen Beinamen siehe NEUMANN, Günter (1987): Die germanischen Matronen-Beinamen. In: BAUCHHENß, Gerhard, NEUMANN, Günter (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten. Ergebnisse eines Kolloquiums (S. 103 – 132). Köln: Rheinland-Verlag, S. 103 – 132 und für die keltischen siehe SCHMIDT, Karl Horst: Die keltischen Matronennamen. In: BAUCHHENß, Gerhard, NEUMANN, Günter (Hg.), Matronen und verwandte Gottheiten. Ergebnisse eines Kolloquiums (S. 133 – 154). Köln: Rheinland-Verlag, S. 133 – 154. 7 Zur Analyse der Dedikantinnen und Dedikanten siehe Biller 2010, S. 282 – 289, Rüger 1987, S. 22 – 27 und GARMAN, Alex (2008): The Cult of the Matronae in the Roman Rhineland. An

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Die Inschriften sind sehr kurz und standardisiert verfasst. Die häufig zu findende Formel V S L M, votum solvit libens merito, weist darauf hin, dass die Dedikantinnen und Dedikanten ihr Versprechen gerne und nach ihrem Verdienst eingelöst haben. Die Votive wurden demnach gemäß einem Gelübde (ex voto) als Zeichen des Dankes für die Rettung aus einer Notlage erstellt. Worum genau gebeten wurde, ist bisher nicht letztendlich belegbar. Neben den schon erwähnten Attributen, die die Matronen auf ihrem Schoß tragen, finden sich hin und wieder Darstellungen von Opferszenen mit Baumfrüchten und Schweinen auf den Votivsteinen.8

Die »Matronenheiligtümer« der Eifel Die ab Ende des 19. Jahrhunderts gefundenen Votivsteine und Terrakotten waren in vielen Fällen keine alleinstehenden Funde, sondern wurden häufig in Verbindung mit einem Tempel(-bezirk) entdeckt. Die drei heute bekanntesten Tempelbezirke der südlichen Germania inferior sind die bei Zingsheim, Nöthen/ Pesch und Nettersheim, da sie in den 1970er Jahren teilrekonstruiert wurden und somit wieder sichtbar sind. Diese Anlagen sollen nun kurz vorgestellt werden.

1)

Der Tempelbezirk von Zingsheim

Schon 1895 wurden in der Flur Vor Hirschberg nahe Zingsheim, Gemeinde Nettersheim bei Feldarbeiten »Matronensteine« entdeckt.9 Jedoch fand man erst Anfang der 1960er die Fundamente eines gallo-römischen Umgangstempels. Die Ausgrabungen 196310 und 197611 legten Ausschnitte eines größeren Tempelbezirks frei, der als Kultzentrum für die Matronae Fachinehae vom 2.–4. Jahrhundert diente.12 1976 wurden die 4,50x3,70 Meter große cella und die Umgangsmauer um etwa einen Meter aufgemauert, um den Besucherinnen und Besuchern einen Über-

8 9 10 11 12

Historical Evaluation of the Archaeological Evidence. Lewiston: Edwin Mellen Press, S. 61 – 69. Vgl. Horn 1987, S. 45 – 47. Vgl. KLEIN, Josef (1895): Matronensteine aus Zingsheim. Bonner Jahrbücher, 96/97, S. 156 – 160. Vgl. SAGE, Walter (1964b): Ein neues Matronenheiligtum bei Zingsheim, Kreis Schleiden. Bonner Jahrbücher, 164, S. 297 – 302. Vgl. JÜRGENS, Antonius (1977): Grabungen und Restaurierungen archäologischer Denkmäler in Nettersheim. In: DAS RHEINISCHE LANDESMUSEUM BONN (Hg.), Sonderheft Januar 1977. Rheinische Ausgrabungen ’76 (S. 84 – 109). Köln: Rheinland-Verlag. Zur aktuellsten Auswertung der Befunde und Funde siehe Biller 2010, S. 181 – 197.

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blick zu geben. Der Eingang wurde nach Südosten gelegt. Eine Zuordnung, die allerdings aus den Funden nicht klar hervorgeht.13 Der Tempelbezirk von Zingsheim ist die kleinste der drei rekonstruierten Anlagen in der Eifel. Die Lage unweit eines Industriegebietes und der rekonstruierte Tempelbezirk selbst sind optisch wenig reizvoll. Auch die hier aufgestellte Replik eines Oberteils eines Weihealtars für die Matronae Fachinehae gehört zu den schlichtesten der aufgestellten Repliken, da er keine bildliche Darstellung der Matronen aufweist.14

2)

Der Tempelbezirk von Nöthen/Pesch

Im Gegensatz zum Tempelbezirk von Zingsheim steht die Anlage von Nöthen/ Pesch auf der Anhöhe des sogenannten »Addig« zwischen den Orten Bad Münstereifel-Nöthen und Nettersheim-Pesch. Diese wird umgangssprachlich »Heidentempel« genannt. Die Anlage ist die besterhaltene und flächenmäßig größte (beziehungsweise am weitesten rekonstruierte) der drei und liegt heute inmitten eines Waldes. Die Tempelanlage wurde zwischen 1913 und 191815 erstmals archäologisch untersucht. Nachgrabungen fanden 196216 statt. Die ursprünglichen Mauerreste des Tempelbezirks stammen den Analysen zufolge aus dem 1.–4. Jahrhundert. Die Anlage war hauptsächlich den Matronae Vacallinehae geweiht.17 Schon nach den ersten Grabungen in den 1910er Jahren wurde der Tempelbezirk so teilrekonstruiert, wie er sich heute Besucherinnen und Besuchern präsentiert: Einige Gebäude (unter anderem die Basilika, ein ummauerter Hof mit Jupitertempel, der gallo-römischen Umgangstempel, ein Profanbau und ein Brunnen) wurden 1 – 2 Meter aufgemauert. Fünf Votivsteinrepliken sind hier

13 Vgl. Jürgens 1977 und JÜRGENS, Antonius (1978): Zur Eröffnung restaurierter archäologischer Denkmäler in Nettersheim, Kreis Euskirchen. In: DAS RHEINISCHE LANDESMUSEUM BONN (Hg.), Sonderheft 1978. Ausgrabungen ’77 (S. 148 – 155). Köln: RheinlandVerlag. 14 Das Original befindet sich im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Publiziert unter anderem in RÜGER, Christoph B. (1977): Inschriften. In: DAS RHEINISCHE LANDESMUSEUM BONN (Hg.), Sonderheft Januar 1977. Rheinische Ausgrabungen ’76. Köln (u. a.): RheinlandVerlag, S. 109 und Biller 2010, S. 191. 15 Vgl. LEHNER, Hans (1919): Der Tempelbezirk der Matronae Vacallinehae bei Pesch. Bonner Jahrbücher, 125, S. 74 – 162. 16 Vgl. SAGE, Walter (1964a): Nachgrabungen in der ›Basilika‹ des Heidentempels bei Pesch, Gemeinde Nöthen, Kreis Schleiden. Bonner Jahrbücher, 164, S. 288 – 296. 17 Zur aktuellsten Auswertung der Befunde und Funde siehe Biller 2010, S. 198 – 264.

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insgesamt aufgestellt, zwei vor dem Umgangstempel und drei weitere stehen im ummauerten Hof.18

3)

Der Tempelbezirk von Nettersheim

Der Tempelbezirk bei Nettersheim wird umgangssprachlich »Görresburg« genannt. Der Name geht auf die alte Flurbezeichnung der Fundstätte zurück. Sie wurde 1909 entdeckt und noch im selben Jahr vom Provinzialmuseum Bonn freigelegt.19 1976/77 führte man erneut eine Untersuchung durch. Die jüngsten Untersuchungen fanden 2009 statt.20 Es wurde ein Tempelbezirk mit drei Gebäuden entdeckt. Bei dem größeren Gebäude handelt es sich auch hier um einen gallo-römischen Umgangstempel mit einer 6 m2 große cella. Die Funktion der beiden kleineren Gebäude ist nicht genau bekannt. Auf dem Gelände wurden über 40 Steine mit Inschriften, beziehungsweise Bruchstücke davon, gefunden. Neben zahlreichen Kleinfunden wurden vor allem Votivsteine für die Matronen in großer Zahl entdeckt, die belegen, dass hier die Matronae Aufaniae verehrt wurden. Die Befunde und deren Analyse lassen drauf schließen, dass die Anlage vom 2.–4. Jahrhundert intensiv genutzt wurde und anschließend zerfiel oder zerstört wurde. Sie befand sich in direkter Nähe zu einem römischen Siedlungsbezirk und bildet mit weiteren zahlreichen Siedlungs- und Straßenspuren den vicus Marcomagus.21 Nach den Grabungen der 1970er Jahren rekonstruierte man die Grundmauern der Anlage um einen Meter.22 Vor der cella stellte man drei Repliken der hier gefundenen Votivsteine für die Matronae Aufaniae auf.23

18 Alle bis auf ein Original befinden sich im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Publiziert unter anderem in Biller 2010, S. 44 f., 219 f. und LEHNER, Hans (1918): Die Antiken Steindenkmäler des Provinzalmuseums in Bonn. Bonn: F. Cohen, S. 131, 158, 161. Ein bei ZANGER, Octavia (1991): Mechernich-Weyer : Matronenstein unter Altarmensa entdeckt. Denkmalpflege im Rheinland, 3/7, S. 123 publizierter Votivstein wird in der Kirche von Mechernich-Weyer, seinem Fundort, aufbewahrt. 19 Vgl. LEHNER, Hans (1910): Das Heiligtum der Matronae Aufaniae bei Nettersheim. Bonner Jahrbücher, 119, S. 301 – 321. 20 Vgl. ORTISI, Salvatore u. a. (2012): Der römische vicus von Nettersheim. In: BENZ, Martin u. a. (Hg.), Kölner und Bonner Archaeologica. KuBA 1/2011 (S. 125 – 134). Berlin: Lit. Verlag. 21 Zur aktuellsten Auswertung der Befunde und Funde siehe Biller 2010, S. 29 – 53 und Ortisi 2012. 22 Vgl. Jürgens 1978. 23 Die Originale befinden sich heute im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Publiziert unter anderem in Lehner 1918, S. 131 – 134 und Biller 2010, 43 – 45.

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Die rezente Rezeption der Matronen In den 1970er Jahren wurden, wie oben schon erläutert, die drei vorgestellten Tempelanlagen in der Eifel teilrekonstruiert und Repliken der dort gefundenen Votivsteine zu Anschauungszwecken aufgestellt. Seitdem bezeugt eine Fülle an Hinterlassenschaften an den dort aufgestellten Votivsteinen ein Interesse und eine rituelle Hinwendung an die Matronen: Blumen, Obst, kleine Schmuckstücke, Steine, Kerzen und bunte Bänder. Diese Devotionalien drücken mehr als nur touristisches oder archäologisches Interesse an den Matronen aus. Rudolf Simek beschreibt die »fast heimliche Verehrung«24 wie folgt: »Die Verehrung, um die es hier geht, manifestiert sich im Anzünden von Kerzen, dem Niederlegen von Blumen und vielerlei Gaben an den Altären […]. Neben Kerzen, Blumen und Münzen, im Herbst auch oft Früchten, finden sich vereinzelt persönliche Gaben, ein billiges Armband etwa oder die Halskette eines Kindes, als Votivgaben auf den Altären der Göttinnen […]. Die Verehrung steht in ihrer Form der volkstümlichen katholischen Heiligenverehrung und, wenn auch weniger deutlich ausgeprägt, dem ebenfalls vorwiegend katholischen Totengedenken nahe, was sich schon rein äußerlich an den in beiden Kultformen verwendeten Grabkerzen zeigt.«25

In der feministisch geprägten Kunst, in der populärwissenschaftlichen und heimatkundlichen Literatur sowie in einigen Strömungen des Neopaganismus (zum Beispiel im kontinentalgermanisch orientierten Asatru26 und Wicca27) findet eine Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Matronen statt. Das vermutlich prägendste Werk ist das der als »Matronenexpertin« bekannten Heimatkundlerin Sophie Lange »Wo Göttinnen das Land beschützen. Matronen und ihre Kultplätze zwischen Rhein und Eifel« von 1994.28 Lange sieht den Ursprung der Matronen in einer vorzeitlichen matriarchal-naturreligiösen »Urreligion« der Großen Göttin.29 Die Matronen werden als starke Beschützerinnen, Muttergöttinnen, Fruchtbarkeitsspenderinnen, Schicksalsgöttinnen und Ahnenfrauen dargestellt,30 die bis heute »Macht, Würde und Weisheit«31 24 SIMEK, Rudolf (2003): Religion und Mythologie der Germanen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 11. 25 Simek 2003, S. 11. 26 Vgl. GARDENSTONE (2009): Germanischer Götterglaube. Asatru. Eine moderne Religion aus alter Zeit. Norderstedt: Books on Demand, S. 281 und BEYSS, Barbara (2011): Ex Imperio Ipsarum. Über den ubischen Matronenkult im Rheinland des zweiten Jahrhunderts. In: KLIEMANNEL, Holger (Hg.), Heidnisches Jahrbuch. Band 5. (S. 57 – 136). Rudolstadt: Edition Roter Drache. 27 Garman 2008, S. 81 f. 28 Vgl. LANGE, Sophie (1994): Wo Göttinnen das Land beschützten. Matronen und ihre Kultplätze zwischen Eifel und Rhein. Zell/Mosel: Rhein-Mosel Verlag. 29 Vgl. Lange 1994, S. 9 – 11. 30 Vgl. Lange 1994, S. 50 – 54.

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ausdrücken und »deren Solidarität [in ihrer Dreiheit] die göttliche Botschaft an die heutigen Frauen«32 ist. Lange zieht Parallelen zu Schicksalsgottheiten, wie den hellenistischen Moiren, den römischen Parzen oder den skandinavischen Nornen, da auch sie weibliche »göttliche Dreiheiten« bilden.33 Auch andere Autorinnen und Autoren verwenden diese Darstellung der Matronen als dreifache Göttin, die »nicht nur fruchtbare, schützende, liebevolle Kräfte […], sondern auch kriegerische«34 darstellen. In Analogie werden in den Matronen die drei Aspekte Jungfrau, Mutter und Alte der Göttinnen-Bewegung und WiccaTraditionen gesehen.35 Hinzu tritt die immer wieder aufkommende Interpretation der drei Jungfrauen der katholischen Tradition als »geheime« Weiterführungen der Matronen im Christentum (zum Beispiel Fides, Spes und Caritas oder Einbeth, Wilbeth und Worbeth).36 In der feministisch geprägten Kunst, insbesondere bei Marianne Pitzen, der Gründerin des Frauenmuseums in Bonn, stellen die Matronen ein beliebtes Motiv und eine Projektionsfläche dar.37 So wurden den Matronen schon mehrere Kunst-Ausstellungen gewidmet, wie etwa »meine Matronen« 2011 in Nettersheim,38 »MATRONIS – Auf den Spuren der alten Göttinnen« 2003 in Michelstadt39 oder »Matronis – Visionen zu einem regionalen Göttinnenkult« 2001 in Zülpich.40 Nach ersten Analysen des bisher gesammelten und hier nur kurz aufgeführten Materials liegt die Hypothese nahe, dass es sich bei diesem Phänomen vor allem um eine Form neopagan-matriarchal orientierter Religiosität handelt,

31 32 33 34 35 36

37 38 39 40

Lange 1994, S. 54. Lange 1994, S. 54. Vgl. Lange 1994, S. 24 – 26. FRANCIA, Luisa (2012): Die Göttin im Federkleid. Das weibliche Universum bei Kelten und Germanen. München: Wilhelm Heyne Verlag, S. 127. Vgl. HUTTON, Ronald (1999): The Triumph of the Moon. A History of Modern Witchcraft. Oxford: Oxford University Press, S. 36 – 42, 355 – 357. Vgl. DERUNGS, Kurt, FRÜH, Sigrid (20082): Der Kult der drei heiligen Frauen. Mythen, Märchen und Orte der Heilkraft. Grenchen b. Solothurn: Edition Amalia und KUTTER, Erni (2003): Der Kult der drei Jungfrauen. Eine Kraftquelle weiblicher Spiritualität neu entdeckt. Eine Kraftquelle weiblicher Spiritualität neu entdeckt. Norderstedt: Books on Demand. Zum Beispiel ihre Kunstwerke »Neue Gesellschaft« oder »Matronen-Parlament«, zu finden unter Frauenmuseum: Ateliers – Marianne Pitzen. URL: www.frauenmuseum.de/ateliers/ atelier1.htm, [13. 09. 2012]. meine Matronen. Ausstellungen im Kulturbahnhof, im alten Kloster und im Holzkompetenzzentrum in Nettersheim, 31.07.–04. 09. 2011. Matronis. Auf den Spuren der alten Göttinnen. Ausstellung im Odenwald-Museum Michelstadt. 20.09.–19. 10. 2003. Matronis. Visionen zu einem regionalen Göttinnenkult. Römerthermen Zülpich – Museum der Badekultur. 17.03.–29. 04. 2001.

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deren Nährboden die zweite Welle der Frauenbewegung und das Aufkommen der feministischen (Göttinnen-)Spiritualität41 ist. Besondere Aufmerksamkeit erlangten die in der Mehrheit weiblichen Anhänger dieses modernen »Matronenkults« im Zuge ihrer Protestaktionen 2010 und 2011 gegen den Bau eines Kubus aus Holz, welcher um die Görresburg in Nettersheim gebaut werden sollte.

Der »Kubus-Streit« Im Rahmen der Förderkulisse der »Regionale 2010« des Landes NordrheinWestfalen sollte das Projekt »Erlebnisraum Römerstraße – Agrippastraße I Via Belgica«42 umgesetzt werden. Mit diesem als regionaler Strukturfördermaßnahme gesehenem Projekt wurde angestrebt, die ehemaligen römischen Staatsstraßen im Rheinland im Gelände wieder erfahrbar zu machen und nicht zuletzt für den Tourismus in Wert zu setzen. Der römerzeitliche vicus Marcomagus, zu dem der Tempelbezirk Görresburg in Nettersheim gehört, sollte dabei im Rahmen des »Archäologischen Landschaftsparks Eifel« beziehungsweise des »Erlebnisraum Römerstraße« für die breite Öffentlichkeit sichtbar und zugänglich gemacht werden. Dabei waren u. a. an der Görresburg Schutzbauten vorgesehen, die nicht nur als Landmarken, sondern auch als Versammlungsund Informationsräume fungieren sollten. Man entschied sich laut Imke Ristow, Archäologin und Kulturreferentin der Gemeinde Nettersheim, gegen die Möglichkeit der Rekonstruktion, da zu viel Original-Substanz fehle und man nicht genau wisse, wie es damals ausgesehen habe. Es sollte nichts so dargestellt werden, wie es seinerzeit nicht war.43 In den Schutzbau sollten zudem didaktische und spielerische Mittel installiert werden, wie beispielsweise ein Periskop und Ausblicke: »Wenn die Besucher durch das Periskop blicken, sehen sie anhand einer Animation, wie die Aussicht zu römischer Zeit war. Im Ausblick sieht man dann im Vergleich die heutige Perspektive.«44 Das ungarische Architektur Studio Narmer, unter der Leitung 41 Vgl. FRANKE, Edith, MASKE, Verena: Frauenspiritualitäten. In: PITHAN, Annebelle u. a. (Hg.), Gender Religion Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt (S. 219 – 228). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 220 – 222. 42 Vgl. Regionale2010.de (2009): Erlebnisraum Römerstraße – Agrippastraße I Via Belgica. URL: http://www.regionale2010.de/de/projekte_neu/projektdetail/index.html?projekt_id= 24, [13. 09. 2012]. 43 Vgl. GREUEL, Michael (30. 06. 2010): Entwicklungskonzept. Ein archäologischer Landschaftspark. In: Kölner-Stadt-Anzeiger. URL: http://www.ksta.de/region/entwicklungskonzept-ein-archaeologischer-landschaftspark,15189102,12682604.html, [13. 09. 2012]. 44 Ristow nach Greuel 30. 06. 2010.

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von Zsolt Vasaros, plante dafür einen ca. 8 m3 großen würfelförmigen Schutzbau aus Holz über der größten cella des Tempelbezirks.45 Als im Juli 2010 der Entwurf für diesen »Kubus« veröffentlicht wurde, wurden zeitnah Bedenken laut, dass der geplante Bau unpassend sei.46 Am 5. August erhielten viele Frauen von der Vorsitzenden der »Gerda-Weiler-Stiftung e.V. für feministische Frauenforschung« Gudrun Nositschka eine E-Mail. Sie rief dazu auf ein Protestschreiben per Brief oder E-Mail an den Bürgermeister von Nettersheim, Wilfried Pracht, und den Gemeinderat zu senden, um gegen die geplante Überbauung des »Matronenheiligtums« mit einem Kubus zu protestieren.47 Infolgedessen trafen weit mehr als 100 Protestschreiben und Unterschriften aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus ein.48 Am 24. Oktober riefen Nositschka und die Geschichtenerzählerin Claudia Golomb erneut zum Protest auf.49 Daraufhin wurde am 15. November eine Informationsveranstaltung der Verwaltung im Nettersheimer Dorfsaal abgehalten. Es kamen etwa 200 Interessierte zusammen. Begleitet wurde die Veranstaltung von Protestaktionen: Auf Leinwänden prangten Protest-Slogans wie »Kubus nein!« und »Freiheit für die Göttinnen«; drei Frauen verkleideten sich als Matronen und versteckten sich unter einem Leinentuch, um auf die Verhüllung des Heiligtums aufmerksam zu machen.50 Am 16. Dezember wurde daraufhin von Ristow und Pracht ein Workshop mit 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern abgehalten, auf dem Ideen und Kriterien für einen neuen Planungswettbewerb gesammelt

45 Siehe rivaa – research institute for visualization of architecture and archaeology. URL: http://www.rivaa.hu, [13. 09. 2012] und Narmer ¦p†t¦szeti stffldiû: http://www.narmer.hu, [13. 09. 2012]. 46 Vgl. GREUEL, Michael (08. 09. 2010): Archäologie. Form passt nicht zum Matronenkult. In: Kölner-Stadt-Anzeiger. URL: http://www.ksta.de/region/archaeologie-form-passt-nichtzum-matronenkult,15189102,12640512.html, [13. 09. 2012]. 47 Vgl. ANONYMUS (2011): Das Matronenheiligtum ist in Gefahr. Eine Zusammenstellung der Aktionen und Zeitungsartikel. Auf: Godeweg. URL: http://www.godeweg.de/matronenheiligtum/Zeitungsberichte1_Aug_Sept2010.html, [13. 09. 2012]. 48 Vgl. NOSITSCHKA, Gudrun (10.2010): Bewahren: Das Matronenheiligtum Nettersheim. Eure Hilfe ist gefragt! In: Dieselbe: Rundbrief Nr. 03/2010 des Fördervereins Gerda-WeilerStiftung e.V. URL: http://www.gerda-weiler-stiftung.de/pdf/rundbrief_oktober2010.pdf, [13. 09. 2012]. 49 Nositschka 2010. 50 Vgl. HOTSE, Renate (17. 11. 2010): Matronenheiligtum. Keine »Freiheit für die Göttinnen«. In: Kölnische Rundschau. http://www.rundschau-online.de/euskirchen/matronenheiligtum-keine–freiheit-fuer-die-goettinnen-,15185862,15360666.html, [13. 09. 2012] und Greuel, Michael (16. 11. 2010): Streitthema. Für den Kubus sprach sich niemand aus. In: KölnerStadt-Anzeiger. URL: http://www.ksta.de/region/streitthema-fuer-den-kubus-sprach-sichniemand-aus,15189102,12617630.html, [13. 09. 2012].

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wurden. Zu diesem Workshop wurden explizit die »Matronen-Frauen« der Aktion Pro Matronis sowie Sophie Lange eingeladen.51 Bemerkenswert ist, dass der »Kubus-Streit« nicht nur in den regionalen Printmedien Aufmerksamkeit erlangte, sondern auch das Interesse von Rundfunk und Fernsehen weckte.52 Am 24. April 2012 wurde schließlich im Rahmen eines zweiten Workshops beschlossen, dass es keine Überbauung über der Görresburg geben solle. Stattdessen solle nun die schon bestehende teilrekonstruierte Mauer ein wenig erhöht und eine vierte Replik eines Votivsteins aufgestellt werden.53

Motive des Protestes Die Argumentationen der gegen den Kubus Protestierenden weisen eine Reihe von Motiven auf, die sich aus der nicht-offiziellen, individuell geprägten, aber recht intensiven religiös-spirituellen Nutzung eines gegenwärtig nicht als »religiöser Ort« ausgewiesenen Areals ergeben. Gegen die Überbauung der cella wurden Argumente genannt, die sich in vier Kategorien zusammenfassen lassen: Der Kubus sei erstens ein optischer Störfaktor, da er wie ein moderner Fremdkörper im Tempelbezirk wirke und das natürliche Landschaftsbild zerstöre. Zweitens wird er als emotionaler Störfaktor wahrgenommen: Er dominiere das Heiligtum und die Votivsteine und vertreibe die Menschen, die seit Jahren als Touristen gerade wegen des unverbauten »Heiligtums« Nettersheim besuchen und anderen diesen Platz empfehlen. Über dies hinaus sei der Kubus auch ein politischer Störfaktor, der weder ein Schutzbau noch eine Rekonstruktion sei, die einen solchen baulichen Eingriff nach dem Denkmalschutzgesetz Nordrhein-Westfalens rechtfertigen könne. Zudem sei er eine fragwürdige Ver(sch)wendung von Steuergeldern.54 Dazu sei er museums- und erlebnispädagogisch kontraproduktiv, da er den zukünftigen Forschungsdrang über die Bedeutung der drei cellae behindern würde. 51 Vgl. GREUEL, Michael (17. 11. 2010): Ausgrabungen. Ein Würfel in der Eifel eckt an. In: Kölner-Stadt-Anzeiger. URL: http://www.ksta.de/region/ausgrabungen-ein-wuerfel-in-dereifel-eckt-an,15189102,12617644.html, [13. 09. 2012]. 52 Vgl. West.Art Magazin (25. 01. 2011): Streit um Matronenheiligtum in der Eifel – Steine des Anstoßes. WDR. URL: http://www.wdr.de/tv/westart/dienstag/sendungsbeitraege/2011/ 0125/matronen.jsp, [10. 09. 2011, nicht mehr verfügbar] und WDR 3 Mosaik (2011): Kein Kubus auf Matronenheiligtum. URL: http://www.wdr3.de/mosaik/details/artikel/wdr-3mosaik-49.html, [02. 09. 2011, nicht mehr verfügbar]. 53 Vgl. NOSITSCHKA, Gudrun (25. 04. 2012): Matronenheiligtum. Auf: Godeweg. URL: http:// www.godeweg.de/matronenheiligtum/index.html, [13. 09. 2012]. 54 Nositschka 2010.

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Und schließlich wird der Kubus als spiritueller Störfaktor angesehen: Die »männliche« Form des Kubus sei nicht vereinbar mit dem »weiblichen« Matronenkult.55 Er sei eine Respektlosigkeit sowohl dem Heiligtum als auch den Menschen gegenüber, die es in der jetzigen Form aufsuchen und schätzen, und störe die Anlage als einen Ort der Besinnung für zahlreiche Menschen. Er lenke von der kulturellen Bedeutung der Matronen als Göttinnen ab. Die von Seiten der »Matronen-Frauen« konstatierte Sakralität des Matronenheiligtums wurde zwar als Argument im öffentlichen Streit nur implizit und scheinbar beiläufig aufgeführt, war jedoch in der Motivation der Kubus-Gegnerinnen und -Gegnern der wahrscheinlich entscheidende Faktor : Der Protest schloss nicht die neu entdeckten römischen Befestigungsanlagen, welche auch architektonisch sichtbar gemacht werden sollten, mit ein. So wurde in den Protestschreiben auch betont, dass man nicht generell gegen die Gestaltung des »Archäologischen Landschaftsparks Eifel« beziehungsweise des »Erlebnisraum Römerstraße« sei. Der ausschlaggebende Faktor für den Widerstand war, dass die hier vorgenommene (Re-)Konstruktion eines als sakral empfundenen Ortes und die mit ihm verbundene rituelle Nutzung durch den Kubus ge- oder gar zerstört worden wäre. Er hätte den ungestörten Zugang und die Ritualaktivitäten an diesem Ort womöglich unausführbar gemacht. Dieser Faktor war eingebettet in vorgelagerte, scheinbar rationale Argumente gegen den Bau des Kubus. Diese Vorgehensweise kann als Strategie der Matronenverehrerinnen und -verehrer angesehen werden, die sich jenseits der etablierten religiösen Traditionen, also als nonkonforme Religiosität, erleben lässt. Es wäre in diesem Falle als eine prophylaktische Schutzmaßnahme gegen mögliche Anfeindungen seitens der etablierten Mehrheit anzusehen, irrational und egoistisch Anspruch auf den Zugang der als heilig postulierten Görresburg zu legen. Bei Feldforschungen 2011 konnte beobachtet werden, dass es hinsichtlich der Durchführung ritueller Handlungen an diesem Ort Ausweichstrategien gab: So wurde zur Zeit der Sommersonnenwende am 21. Juni nicht die optisch ästhetischere und besser gelegene Görresburg oder der »Heidentempel« bei Pesch aufgesucht, sondern die kleine Anlage nahe des Zingsheimer Industriegebiets. Die hohe Frequentierung seitens konventioneller Touristinnen und Touristen an den beiden größeren Anlagen erschwert schon jetzt die Durchführung von Ritualen vor Ort. Zwar wird auch im privaten Raum der Matronen gedacht und ihnen wird gedankt, zum Beispiel durch Hausaltäre und Repliken einer Terrakotten-Statuette,56 jedoch scheint es unerlässlich zu sein an den Ort zurückzu55 Greuel 08. 09. 2010. 56 Eine Replik der in SCHAUERTE, Günther (1985): Terrakotten mütterlicher Gottheiten. Formen und Werkstätten rheinischer und gallischer Tonstatuetten der römischen Kaiserzeit.

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kehren, welcher der ursprünglichen, historischen Verehrung gilt: die antiken Tempelanlagen.

Schlussbetrachtung Der Religionswissenschaftler Martin Baumann, der sich mit der Etablierung immigrierter Religionen im öffentlichen Raum beschäftigt, stellte die These auf, »dass der öffentliche Raum ein sensibles und umkämpftes Terrain darstellt, in dem neue Religionsbauten von gesellschaftlich ausgegrenzten religiösen Gruppen zu Kristallisationspunkten von Protest und Abwehr werden. Religiöse Symbole von neu hinzutretenden Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum stellen etablierte Verhältnisse auf die Probe. Sie sind Zeichen der Neuverhandlung gesellschaftlicher Repräsentanz und Teilhabe.«57

In dem hier exemplarisch vorgestellten »Kubus-Streit« handelt es sich, wie anfangs erwähnt, um ein analoges, jedoch umgekehrtes Phänomen. Der Konflikt entspringt nicht durch einen sakralen Neubau, welcher von der etablierten Mehrheit angefochten wird, sondern hier soll ein von einer nonkonformen Minderheit als sakral postulierter, schon bestehender Raum geschützt werden. Ganz im Sinne des Paradigmenwechsels durch den Spatial Turn58, welcher die Hinwendung zum Raum als Untersuchungsgegenstand und Analysekategorie forderte, soll hier die Sicherung von öffentlichem Raum seitens neuer nonkonformer und vor allem neopaganer Gruppierungen ins Bewusstsein der deutschsprachigen Religionswissenschaft gerückt werden. Der »Kubus-Streit« steht exemplarisch für ein in Deutschland relativ neu auftretendes Phänomen: dem Eintritt nicht-etablierter, nonkonformer Religiosität in den öffentlichen Raum durch die (Re-)Konstruktion sakraler Orte und deren Verteidigung. Es ist somit zu beobachten, dass nonkonforme, neopagane Religionen dieselben Prozesse der Etablierung durchlaufen wie immigrierte Religionen; dazu gehört auch und ganz wesentlich die Gewinnung von Präsenz im öffentlichen Raum. Köln (u. a.): Rheinland-Verlag/Habelt., S. 337 f. publizierte Terrakotta-Statuette wird dazu häufig in Anspruch genommen. Das Original befindet sich im Römisch-Germanische Museum in Köln. Die Repliken dieser Terrakotte sind u. a. im dortigen Museumsshop erhältlich. 57 BAUMANN, Martin, TUNGER, Andreas (2011): Wenn Religionen Häuser bauen. Sakralbauten, Kontroversen und öffentlicher Raum in der Schweizer Demokratie. In: BAUMANN, Martin, NEUBERT, Frank (Hg.): Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft. Studien zur Neuformierung von Religion in der Gegenwart (S. 151 – 188). Zürich: Pano, S.154. 58 Vgl. KNOTT, Kim (2005): The Location Of Religion. A Spatial Analysis. London: Equinox Publishing.

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Veronika Lutz

»…unsere Sehnsucht zu Stein geworden« Repräsentative Sakralneubauten und das Konzept »öffentlicher Religion«

Einleitung Die Errichtung neuer Sakralbauten1 war in Deutschland lange Jahre im Grunde kein Thema. Vielmehr ging es häufiger um die Frage, wie man leer stehende Kirchengebäude, die aufgrund von Geld- und Mitgliedermangel aufgegeben worden waren, einer neuen Nutzung zuführen könnte.2 Jedoch ist seit etwas mehr als 20 Jahren zu beobachten, dass insbesondere zugezogene Religionsgemeinschaften in Deutschland vermehrt danach streben, repräsentative Sakralbauten zu errichten. Wo es sich eine Gemeinschaft leisten kann, möchte sie heraus aus den Hinterhöfen, den umfunktionierten Lagerhallen und Wohnhäusern, die wegen fehlender finanzieller Mittel und unsicherer Zukunftsaussichten lange Zeit der Ort des religiösen und sozialen Lebens waren. Die neuen Gebäude sollen dabei den Bedürfnissen der Gemeinschaften angepasst sein und als würdig empfunden werden. Gleichzeitig treten die Gemeinschaften aus den Hinterhöfen heraus in die Öffentlichkeit und werden dadurch sichtbar. Dass dies nicht immer unproblematisch abläuft, zeigen Beispiele wie die Auseinandersetzungen um die DI˙TI˙B Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld oder auch die Proteste gegen den Bau eines Minaretts in der Schweiz, die die sogenannte Minarett-Initiative und die Verankerung des Verbotes bezüglich des Baus von Minaretten in der Schweizer Verfassung nach sich zogen. In vielen Fällen, wie in Penzberg bei München, verläuft das Moscheebauprojekt hingegen friedlich und durch kluge Vorkehrungen wird Konflikten vorgebeugt. Im vorliegenden Beitrag wird der Prozess des Sichtbarwerdens von Religion in Form neuer, repräsentativer Moscheen3 in den Blick genommen. Dieser 1 Der Begriff »Sakralbau« ist zwar für eine Moschee nicht ganz geeignet, wird jedoch hier verwendet, da er die Ähnlichkeit mit anderen religiös und rituell genutzten Räumen wie Kirchen, Synagogen und Tempeln verdeutlicht und somit Vergleichbarkeit schafft. Zudem ist er eine weit verbreitete Bezeichnung für zu religiösen Zwecken bestimmte Gebäude. 2 Vgl. KRAFT, Sabine (2002): Islamische Sakralarchitektur in Deutschland. Münster : Lit., S. 6. 3 Mit »repräsentativ« sind solche Moscheen gemeint, die in den letzten Jahren in Deutschland

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Prozess und die neu entstandenen Bauten werden mit dem Konzept von »public religion« des Religionssoziologen Jos¦ Casanova analysiert. Es ergeben sich folgende Fragen: Inwiefern können neue Moscheebauten als Formen von »public religion« im Sinne des Konzeptes Jos¦ Casanovas beschrieben werden und kann sein Ansatz als Analyserahmen für neue Sakralbauten dienen? Zu diesem Zweck wird zunächst umrissen, was Casanova unter »public religion« versteht und es werden die wichtigsten Implikationen herausgestellt. Anschließend werde ich anhand zweier Moscheeneubauten versuchen, das Konzept zur Anwendung zu bringen. Dabei greife ich auf qualitative Interviews zurück, die in den Moscheevereinen in Penzberg und in Duisburg-Marxloh im Jahre 2010 geführt wurden.4 Beide Gemeinschaften besitzen eine Moschee, die durch ihr Minarett als solche erkennbar ist und welche in den letzten Jahren neu errichtet wurden. Die Bauten sind jedoch optisch verschieden und auch die Vereine unterscheiden sich durch ihre Gemeinschaftsstruktur voneinander, so dass sie sich gut für eine kontrastierende Analyse eignen.

»Public Religion« als Analyseansatz Jos¦ Casanovas Beschreibung von »public religion«, also öffentlicher Religion, ist aus seiner Kritik an der Säkularisierungsthese entstanden, die er in seinem Buch »Public Religions in the Modern World«5 von 1994 darlegt. Auslöser für die Kritik waren Phänomene in den 1980er Jahren, in denen Religionen in der öffentlichen politischen Sphäre agiert haben. Als Beispiel nennt er unter anderem die Rolle der katholischen Kirche in der Solidarnos´c´-Bewegung in Polen oder die Mobilisierung evangelikaler Christen in den USA in moralischen Fragen. Bei seiner Kritik unterteilt er die Säkularisierungsthese in ihre drei Kernaussagen, nämlich (1) der These von der strukturellen Differenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche, (2) der These vom Rückgang der Religiosität und der religiösen Praktiken und (3) der These von der Rückdrängung der Religion in die Sphäre des Privaten.6 Er kommt zu dem Schluss, dass die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Verlust gesellschaftlicher Funktionen der Reneu erbaut wurden, also keine Umbauten bestehender Gebäude sind und die deutlich durch ihr Erscheinungsbild als Moschee erkennbar sind. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Kuppel und Minarett nur eine mögliche Erscheinungsform darstellen. So sind zum Beispiel in Afrika und China Gebäude ohne Minarett üblich. 4 Die Interviews wurden von mir selbst im Rahmen meiner Masterarbeit an der Universität Hannover durchgeführt. 5 CASANOVA, Jos¦ (1994): Public Religions in the modern world. Chicago: University of Chicago Press. 6 Vgl. Casanova 1994, S. 19 – 39.

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ligion, die er nach wie vor als gegeben ansieht, nicht unbedingt eine Privatisierung zur Folge haben müsse, wie er an oben genannten Beispielen zeigt.7 Ein gänzliches Verwerfen der Säkularisierungsthese scheint ihm deshalb als nicht gerechtfertigt. Jedoch sieht er die Rückläufigkeit von Religiosität in Westeuropa ganz klar nicht in Modernisierung und Differenzierung begründet – dafür gibt es global gesehen zu viele Gegenbeispiele – sondern im jeweiligen Staat-KircheVerhältnis. Für Casanova liegt auf der Hand, dass dort, wo sich Kirchen gegen die moderne Differenzierung wehrten, auch die Religiosität zurückging.8 Dies muss jedoch als eine historische Option angesehen werden und nicht als struktureller Trend. In gleicher Weise trifft dies auch für die Privatisierung von Religion zu, weshalb aus seiner Sicht Säkularisierung und Privatisierung keine linearen, unaufhaltsamen und unumkehrbaren Prozesse sind. Auf dieser Grundlage kritisiert er eine normative Verwendung der Säkularisierungsthese, mit der Religion einen Ort in der Privatsphäre zugeschrieben wird.9 In seinem Buch versucht Casanova letztlich eine Antwort auf die Frage zu finden, welche angemessene und legitime Rolle Religionsgemeinschaften in den aktuellen politischen Diskursen und Entscheidungsfindungsprozessen westlicher, säkularer Gesellschaften spielen können. Er definiert ihren Ort auf der Ebene der Zivilgesellschaft in der sie als »öffentliche Religionen« agieren: »Die liberale Maxime, ›Religion ist eine Privatangelegenheit‹, ist zwar grundsätzlich richtig, kann aber nicht meinen, dass sich Religion nur mit Privatangelegenheiten und nicht auch mit öffentlichen Fragen befassen soll, oder sich nicht in die öffentlich ausgetragene Erörterung solcher Fragen, d. h. in den öffentlichen Bereich der Zivilgesellschaft einmischen darf.«10

Sein Ansatz von zivilgesellschaftlicher Teilhabe hat demnach eine stark politische Konnotation und weniger eine soziale. In dieser Hinsicht können Religionen in folgenden drei Fällen öffentlich werden: 1. Um die Religionsfreiheit zu verteidigen sowie alle anderen modernen Freiheiten und Rechte, 2. um moralische und ethische Fragen in die Diskussion der säkularen Sphären (Wirtschaft und Politik) einzubringen und schließlich, 3. um die traditionelle Lebenswelt vor staatlicher Einmischung zu schützen.11 7 Vgl. Casanova 1994, S. 19. 8 Vgl. Casanova 1994, S. 29. 9 Siehe unter anderem in CASANOVA, Jos¦ (2006): Secularization Revisited. A Reply to Talal Asad. In: SCOTT, David, HIRSCHKIND, Charles (Hg.), Powers of the Secular Modern. Standford (S. 12 – 30). California: Stanford University Press, S. 17 – 18. 10 CASANOVA, Jos¦ (2004): Religion und Öffentlichkeit. Ein Ost-/Westvergleich. In: GABRIEL, Karl, REUTER, Hans-Richard (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie (S. 271 – 293). Paderborn u. a.: Schöningh UTB, S. 292. 11 Vgl. Casanova 1994, S. 57 – 58.

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An diesen drei genannten Feldern zeigt sich, dass Casanova mit »public religion« auf Religionsgemeinschaften und ihr Handeln zielt, und weniger auf visuelle Sichtbarkeit von Religion in der Öffentlichkeit, beispielsweise – wie hier thematisiert – in Form von Sakralbauten. Eine Anschlussmöglichkeit ergibt sich jedoch wenn man beachtet, dass der Bau und seine visuelle Sichtbarkeit nicht losgelöst von der zugehörigen Religionsgemeinschaft sowie von seiner Entstehung und der lokalen Umwelt analysiert werden kann. Der Kontext, in dem der Bau (ent-)steht, muss somit mitgedacht werden. Um Casanovas Konzept operationalisierbar zu machen, wird es im Folgenden auf die Ebene der lokalen Religionsgemeinschaft übertragen. Dadurch kann sein Verständnis von öffentlicher Religion mit dem Phänomen der öffentlichen Sichtbarkeit neuer Moscheebauten in einen analytisch sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. So soll herausgefunden werden, welche Rolle der Bau bei der öffentlichen Teilhabe der Gemeinschaften im Sinne Casanovas einnimmt. Bei der Untersuchung der Gemeinschaften und den geführten Interviews wurde deshalb zunächst nach Botschaften, Wünschen und Forderungen gefragt, die sich auf den Neubau beziehen. Dadurch sollte eruiert werden, ob mit dem Bau Forderungen im Sinne der drei von Casanova genannten Punkte gestellt wurden. Daran schloss sich die Frage nach dem Grund für die Wahl eines öffentlich-sichtbaren Baus an. Des Weiteren wurden die Interviewpartnerinnen gebeten darzulegen, ob es im Zusammenhang mit dem Neubau die Notwendigkeit gab, auf Religionsfreiheit hinzuweisen, wie dies beispielsweise aufgrund eines Konflikts hätte notwendig werden können. Außerdem wurden sie gefragt, ob es in dieser Hinsicht eine Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften gab. Weitere Fragen waren: Äußert sich die Moscheegemeinschaft öffentlich zu moralischen und ethischen Themen und welche Rolle spielt der Moscheebau dabei? Kam es von staatlicher oder politischer Seite zu einer als illegitim empfundenen Einflussnahme bezüglich des Baus, gegen den sich die Gemeinschaft verteidigen musste, etwa wenn es um die Höhe des Minaretts ging? Welche Rolle spielten die Medien während der Bauphase und wie hat sich der Kontakt zur Nachbarschaft und der lokalen Öffentlichkeit gestaltet? Wie bereits erwähnt, legt Casanova einen Fokus auf das zivilgesellschaftliche Engagement im Sinne von politischer Teilhabe. Er räumt jedoch ein, dass Religionsgemeinschaften auch durch soziale Tätigkeiten einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft leisten können, hält diesen Aspekt aber für analytisch nicht interessant.12 Religiöse Gemeinschaften spielen aber gerade für Migrantinnen und Migranten eine wichtige Rolle wenn es darum geht, sich in der Aufnah12 Vgl. CASANOVA, Jos¦ (2003): What is a Public Religion? In: HECLO, Hugh, MCCLAY, Wilfred (Hg.), Religion returns to the Public Square. Washington: URL: https://portfolio.du.edu/portfolio/getportfoliofile?uid=105995, [19. 12. 2012], S. 7.

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megesellschaft zurechtzufinden.13 Hinzu kommt, dass Moscheen traditionell multifunktionale Gebäude sind, in der eine Vielzahl von Einrichtungen wie Bibliotheken und Bistros untergebracht sein können.14 Deshalb wurden auch Fragen nach dem sozialen Engagement, welches im Rahmen der Moschee stattfindet, gestellt.

Vorstellung der Moscheevereine Islamische Gemeinde Penzberg e.V. Die Islamische Gemeinde Penzberg15 wurde 1994 gegründet. Bevor der Neubau der Moschee als »Islamisches Forum« am 18. 09. 2005 eröffnet wurde, war die Gemeinschaft in den Räumen einer ehemaligen Metzgerei untergebracht. Diese hatten ihr etwa zehn Jahre als Gebetsraum gedient, bis der Verein den Plan fasste, einen eigenen Bau zu errichten. Durch den starken Zuwachs an Mitgliedern war die räumliche Situation immer beengter geworden und man empfand das Gebäude als nicht würdig. Die finanziellen Mittel der Gemeinschaft reichten jedoch nur für das Grundstück aus, das im Jahr 2000 erworben wurde. Für den Bau selbst konnte der Scheich des Emirats Sharjah, Sultan bin Mohammad al- Qasimi, als Geldgeber gewonnen werden. Die Gestaltung der Moschee wurde dem bosnischstämmigen Architekten Alen Jasarevic aus Augsburg übertragen, der selbst Muslim ist. Die Islamische Gemeinde Penzberg gehört keinem Dachverband an, ist sunnitisch und hat ein multiethnisches Klientel, das sich aus bosnisch-, albanisch- und türkischstämmigen Gläubigen zusammensetzt. Der Imam Benjamin Idriz stammt aus Mazedonien und spricht mehrere Sprachen, so dass die Freitagspredigten regelmäßig auf Deutsch, Bosnisch, Türkisch oder Albanisch gehalten werden. Die Umgangssprache in der Gemeinschaft ist Deutsch. Sie umfasst etwa 800 Mitglieder, wobei diese Zahl vermutlich nur einen Teil der Personen repräsentiert, die sich der Gemeinschaft zugehörig fühlen.16 Der Gebetsraum bietet auf der unteren Ebene Platz für ca. 350 Personen und auf der 13 Siehe beispielsweise JANSEN, Mechthild M., KEVAL, Susanna (2007): Religion und Migration – ein neues und ein altes Thema zugleich? In: NAGEL, Helga, JANSEN, Mechthild M. (Hg.), Religion und Migration (S. 17 – 28). Frankfurt a. M: VAS – Verlag für akademische Schriften, S. 17. 14 Vgl. Kraft 2002, S. 54 – 55. 15 Das Interview, aus dem diese Informationen unter anderem stammen, wurde mit Frau Gönül Yerli, der Vizedirektorin des Forums und Beauftragte für den Interreligiösen Dialog, geführt. 16 Zumeist ist nur das Oberhaupt einer Familie, also der Familienvater Mitglied, so dass die Zahlen entsprechend hochgerechnet werden müssen.

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Empore, die vor allem für die Frauen gedacht ist, für etwa 300. Zum Betreten der Räume benutzen die Besucherinnen und Besucher einen gemeinsamen Eingang. Die Stadt Penzberg liegt südlich von München in einem ehemaligen Kohlebergbaugebiet und hat etwa 16 000 Einwohner. Sie ist damit, wie Duisburg, eine alte Bergarbeiter-Stadt. Dies hat zur Folge, dass in der Stadt sehr viele unterschiedliche Nationalitäten vertreten sind.17

DI˙TI˙B Merkez Moschee Duisburg-Marxloh e.V. Die Gemeinschaft der Merkez Moschee in Duisburg-Marxloh18 besteht seit 1985 und ist laut Auskunft der Dialogbeauftragten Zehra Yilmaz die zweitälteste Moscheegemeinschaft in Duisburg. Sie hat 900 eingetragene Mitglieder, wobei auch hier die Zahl der sich zugehörig sehenden Personen höher liegen dürfte. Bis zum Neubau der Moschee war die Gemeinschaft in der alten Zechenkantine der Ruhrkohle AG untergebracht, die auf dem gleichen Gelände stand wie die heutige Moschee. Wie auch in Penzberg entschied man sich aufgrund der Raumknappheit für einen Neubau, da im Jahr 2000 eine Mitgliederzahl von 500 erreicht war, die Räume aber nur 100 – 150 Personen Platz boten. Der erste Spatenstich erfolgte am 22. 03. 2005, die Eröffnung des Gebäudes fand am 26. 10. 2008 statt. Die Gemeinschaft gehört der Dachorganisation DI˙TI˙B19 an und setzt sich folglich ethnisch aus türkischstämmigen Mitgliedern zusammen. Die Bauherrschaft hatte jedoch die Gemeinschaft selbst inne und nicht der Dachverband. Der Entwurf des Baus stammt von dem türkischen Architekten Cavit Sahin, die Ausführung erfolgte durch die deutsche Firma Ropertz & Partner. Für die Innenausstattung konnte der türkische Innenarchitekt Volkan Altinkaya gewonnen werden, da in Deutschland niemand mit der nötigen Expertise für die traditionelle Gestaltung des Innenraumes gefunden werden konnte. Finanziert wurde das Gebäude teilweise über die Europäische Union20 und über ein Städtebauprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen, die die Gemeinschaft nach ei17 Frau Gönül Yerli weist im Interview auf eine Ausstellung über Penzberg hin, die »Eine Stadt – 74 Nationen« hieß. Siehe auch URL: www.museum-penzberg.de/74nationen.0.html, [24. 09. 2012]. 18 Die Interviewpartnerin war Frau Zehra Yilmaz, Bildungsreferentin und Dialogbeauftragte der Gemeinschaft. 19 Die DI˙TI˙B (Diyanet I˙s¸leri Türk-I˙slam Birlig˘i), die Türkisch-Islamische Union, ist der größte Dachverband in Deutschland und untersteht dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei. 20 Bei dem Programm handelte es sich um das Fördermittel »Ziel-2 NRW 2000 – 2006« der Europäischen Union. Siehe auch URL: www.ziel2.nrw.de/0_2_Aktuelles/00_Newsmedia/ Schlussbericht_Phase_V_2000 – 2006.pdf, [14. 03. 2013].

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gener Auskunft zusammen mit 3,2 Millionen Euro unterstützten. Die restlichen 4,3 Millionen Euro musste die Gemeinschaft selbst aufbringen, was durch Mitgliedsbeiträge, Spendenakquise, die Einnahmen aus Vermietungen und die Aufnahme eines Kredits erfolgte. Die Alltagssprache ist aufgrund der Mehrzahl der Besucher Türkisch. Die Freitagspredigt wird auf Arabisch, alle anderen Predigten werden auf Türkisch gehalten. Wie in der Penzberger Gemeinschaft gibt es auch in Marxloh einen gemeinsamen Eingang für männliche und weibliche Besucher sowie eine Empore für die Frauen. Der Duisburger Stadtteil Marxloh ist stark türkisch geprägt, mit einem hohen Ausländeranteil (36,61 % im Jahre 2010). Es leben dort ca. 17 000 Menschen, also in etwa so viele wie in Penzberg. Auch Marxloh ist vom Bergbau geprägt, was sich unter anderem daran zeigt, dass die »Kumpelmentalität« im Stadtteil für eine gemeinsame Identität sorgt.21

Baustile und Raumkonzepte Wie auf den beiden Bildern (Abbildung 1 und 2) zu sehen, haben sich die Moscheegemeinschaften je für eine ganz unterschiedliche Ausgestaltung ihres Neubaus entschieden. Während in Marxloh ein traditioneller Baustil gewählt wurde, ging man in Penzberg neue gestalterische Wege. Der Kunsthistoriker Welzbacher sieht in der traditionellen Gestaltung von Moscheen mit Kuppel und Minarett die Fortschreibung einer europäischen romantisierenden und klischeehaften Vorstellung von muslimischen Bauwerken.22 Mit solchen Bauten würden Muslime sich selbst in die Rolle der Fremden begeben,23 wodurch die Moscheen zu »sichtbaren Symbolen der Desintegration«24 würden. Er bevorzugt die »Euroislam-Architektur« welcher er auch die Moschee in Penzberg zuordnet. Welzbacher bleibt jedoch einen empirisch fundierten Beleg für seine These schuldig. Versteht man »Integration« als »Teilhabe«25, so kann in den durchgeführten Interviews kein Indiz dafür gefunden werden, dass die eine Gemeinschaft integrierter wäre als die andere. Vielmehr entstand ein ähnliches Bild, wenn es um Offenheit gegenüber und Vernetzung mit Nachbarschaft und Stadt 21 Vgl. JENKER, Carolin (2008): Warum das Wunder in Marxloh funktioniert. URL: http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,586613,00.html, [29. 09. 2012]. 22 Vgl. WELZBACHER, Christian (2008): Euroislam-Architektur. Die neuen Moscheen des Abendlandes. Amsterdam: SUN, S. 36 – 43. 23 Vgl. Welzbacher 2008, S. 38. 24 Welzbacher 2008, S. 43. 25 Vgl. VORTKAMP, Wolfgang (2008): Integration durch Teilhabe. Das zivilgesellschaftliche Potenzial von Vereinen. Frankfurt a.M.; New York: Campus.

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(-teil) ging. Gleichzeitig wurden für die Gestaltung des Baus unterschiedliche Gründe angegeben. Auf die Frage, warum der Baustil so gewählt wurde, dass das Gebäude öffentlich als Moschee sichtbar und erkennbar ist, antwortete man in Penzberg: »(…) einen gleichberechtigten Ort zu haben, wo wir unsre Gottesdienste ausführen können, wo wir auch von außen wahrgenommen werden wollen, dass es hier Muslime in unserer Stadt gibt.« (Penzberg)26

Es sollte, genauso wie es Kirchen gibt, auch »selbstverständlich« (Penzberg) eine Moschee in Penzberg geben, die sich in das Stadtbild einfügt. Die Wahl des Baustils erfolgte aus dem Selbstverständnis der Gemeinschaft heraus: Man wünschte sich eine Moschee, die sich dezent ins Umfeld und das Stadtbild einfügt, nicht zu auffällig ist, aber den Betrachter trotzdem neugierig macht. Der Bau sollte als Bereicherung empfunden werden und nicht als Provokation oder als etwas, »zu dem man Abstand halten muss« (Penzberg). Dabei empfindet die Gemeinschaft es als legitim, in Deutschland anders zu bauen als beispielsweise in der Türkei und einen eigenständigen Typus der zeitgenössischen Moschee in Deutschland zu errichten. Dazu passt, dass man einen in Deutschland ansässigen Architekten mit bosnischen und muslimischen Wurzeln beauftragte. Alen Jasarevic wollte »der Gesellschaft hier zeigen, dass wir mithalten können, dass wir innovativ sein können, und dass wir unseren Glauben nicht als etwas althergebrachtes verstehen, sondern als etwas, was sich ständig entwickelt, und dadurch auch solche Gebäude schaffen kann«27. Mit der Moschee wollte man einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, »nicht nur zur muslimischen, sondern auch zur nichtmuslimischen«28, ein Ort, an dem man sich treffen und austauschen kann. In Duisburg-Marxloh, wo man einen traditionellen Baustil gewählt hat (siehe Abbildung 1), wollte der Verein eine »richtige Moschee« haben, die der Sehnsucht der Gläubigen begegnet; Ziel war zunächst nicht die öffentliche Sichtbarkeit: »Ich denke nicht, dass jetzt das Ziel war, man will öffentlich sichtbar sein, sondern man wollte eine Moschee mit Kuppel und Minarett bauen, weil das das Gebäude ist, was wir 40, 50 Jahre lang in der Migration vermisst haben, wir Deutschtürken hier. Das ist, das ist unsre Sehnsucht, ich nenn das immer, das ist unsre Sehnsucht zu Stein geworden, dargestellt, gebaut. Das ist wirklich was wir 40, 50 Jahre lang vermisst haben.« (Duisburg) 26 Zitate aus den Interviews werden mit den jeweiligen Ortsbezeichnungen gekennzeichnet. 27 ISLAMISCHE ZEITUNG (2005): IZ-»Begegnung« mit dem Architekten der neuen Penzberger Moschee, Alen Jasarevic. URL: http://www.islamische-zeitung.de/?id=6368, [19. 12. 2012]. 28 Islamische Zeitung 2005.

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Abb. 1: Außenansicht der Merkez Moschee, Duisburg-Marxloh. Bild: Veronika Lutz, 2010

So wird für die Interviewpartnerin Zehra Yerli Duisburg zu ihrem zu Hause: »Ne ich sag immer gern also Duisburg ist mein Zuhause und jetzt erst recht, weil es eben auch ne Moschee gibt« (Duisburg). Der traditionelle Bau wird mit Heimat verbunden und dadurch, dass man diesen Baustil nach Deutschland holt, wird die neue Heimat komplett. Dies deckt sich mit Martin Baumanns Erkenntnis, dass die »religiösen Stätten einen hohen identitätsstiftenden Wert« haben und »als ›Heimat in der Fremde‹«29 fungieren. Ein weiterer Grund für den Baustil war, dass die Gemeinschaft ein Gebäude haben wollte, das den Kindern das Bild einer »richtigen« Moschee vermitteln sollte. »Alles, diese Hinterhofmoscheen, die man nicht erkennen kann, immer versteckt, wo man sich manchmal sogar schämen muss, so Kellereingänge und so weiter, kein würdevoller Ort. Und ich seh das ja, wenn so die Besuchergruppen – wir haben ja sehr viele Schulklassen, die hier hinkommen – wenn die kommen und da sind muslimische Kinder mit dabei, wie die aufblühen, wie die hier aufblühen und sagen: Guck mal, das ist eine Moschee!« (Duisburg)

Der Grund zu bauen liegt bei beiden Gemeinschaften in der vorherigen beengten und als unwürdig empfundenen räumlichen Situation. Zudem möchte man für 29 BAUMANN, Martin (2000): Migration – Religion – Integration: buddhistische Vietnamesen und hinduistische Tamilen in Deutschland. Marburg: diagonal-Verlag, S. 175.

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die kommende Generation bauen, was auf eine langfristige Perspektive hindeutet. Migrantinnen und Migranten machen damit Deutschland zu ihrer religiösen Heimat. Rückkehrgedanken spielen hier keine Rolle mehr. In Duisburg hat man von Anfang an auf einen Muezzinruf verzichtet, da es vor Ort bereits in den 1990er Jahren einen Konflikt darum gegeben hatte, den man vermeiden wollte. Auch in Penzberg hat man von einem Muezzinruf abgesehen, er wurde jedoch stattdessen als Kalligraphie im Minarett verarbeitet (siehe Abbildung 2). Bei beiden Bauvorhaben kam es zu keiner als illegitim empfundenen Einflussnahme von staatlicher Seite und es konnten auch keine nennenswerten Konflikte verzeichnet werden. Hierzu haben sicherlich die vielen Aktivitäten zur Information der Nachbarschaft im Vorfeld und während der Bauphase beigetragen, wie nachfolgend noch ausgeführt wird.

Abb. 2: Außenansicht des Islamischen Forums, Penzberg. Bild: Veronika Lutz, 2010

In beiden Gemeinschaften wird die Moschee als multifunktionaler Ort mit sozialem Charakter verstanden, der neben dem Gebetsraum weitere Räume für Veranstaltungen, eine Bibliothek und ein Bistro beziehungsweise Restaurant umfasst.30 Beide Bauten sollen Offenheit und Transparenz ausstrahlen, was 30 Dies deckt sich mit Erkenntnissen aus anderen europäischen Studien wie BARTELS, Edien, DE JONG, Inge (2007): Civil Society on the Move in Amsterdam. Mosque Organizations in the Slotervaart District. Journal of Muslim Minority Affairs, 27/3, S. 455 – 471; BORELL,

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durch große Fenster unterstützt wird. Während man in Duisburg mit dem EUgeförderten Bildungs- und Begegnungszentrum ein fest installiertes Programm hat, darunter einen Raum für Jugendliche, verfolgt man in Penzberg eine andere Strategie: die Räume des Islamischen Forums sind multifunktional und man öffnet sie für Gruppen von außen, die sich einmieten können. Zudem werden die Mitglieder dazu ermutigt, die Angebote der Stadt wahrzunehmen: »[…] weil es uns einfach wichtig war, nicht immer hier zu sein, sondern auch mit dem Angebot der Stadt Penzberg das zu koppeln. Wir haben in Penzberg so viel Angebote für Jugend, für Kinder, meinetwegen auch für Frauen, dass wir gesagt haben, wir wollen hier nicht extrig [sic!] noch mal eine Plattform schaffen, wo wir dann sozusagen wieder unter uns wären.« (Penzberg)

Die »bekennende Moschee« Von Seiten der Moschee-Kritiker wird häufig unterstellt, dass es sich bei der typischen Bauweise um Architekturen der Macht handle.31 In den Interviews wurde hingegen von beiden Gesprächspartnerinnen der Wunsch nach einem würdevollen Ort für die Religionsausübung als zentraler Grund für den Neubau genannt. Die Botschaft der Islamischen Gemeinde in Penzberg soll darüber hinaus die einer »bekennenden Moschee« sein – ein Bekenntnis zu Deutschland. Die Gesprächspartnerin Gönül Yerli führt dazu aus: »also ich meine damit, dass mir die Moschee hier in Penzberg einfach wichtiger ist als die Moschee in der Türkei, oder die Moschee in meinem Herkunftsland, (…) und mit bekennend ist einfach zu sagen, die Moschee gehört hier in Penzberg und ich gehöre auch dazu.« (Penzberg)

Die Namensgebung streicht den Anspruch der Moschee in Marxloh heraus, als Zentralmoschee (Merkez) für den Duisburger Norden zu fungieren. Gleichzeitig ist das Gebäude für die Gemeinschaft ein Zeichen für Zugehörigkeit und Emanzipation: »ein Zeichen dafür, dass wir nicht länger als Ausländer gesehen werden von denen man erwartet, die sollen doch irgendwann zurückgehen. Wir sind zu einem Teil dieser Gesellschaft geworden, ob mans gewollt hat oder nicht, das ist die Realität. Und ich finds gut, dass eben diese Moschee zeigt, dass wir endlich akzeptiert sind in dieser Klas, GERDNER, Arne (2011): Hidden Voluntary Social Work. A Nationally Representative Survey of Muslim Congregations in Sweden. British Journal of Social Work, 41/5, S. 968 – 979 oder Kraft 2002. 31 Zum Beispiel Kelek zitiert in: BEINHAUER-KÖHLER, Bärbel; LEGGEWIE, Claus (2009): Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung. München: Beck’sche Reihe, S. 155.

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Gesellschaft, dass wir dazugehören. (…) Meistens wird man ja immer ausgebremst und wir sind die Minderheit, wir sind die Ausländer, die Gastarbeiter und wie man uns bezeichnet.« (Duisburg)

Symbolisch wird mit dem Verlassen des alten minderwertigen Gebäudes also auch das Verlassen des minderwertigen Status in der Gesellschaft angestrebt. Die Bauten sind dabei weniger mit Forderungen verbunden, als mit Statements für Integration und dem Bekenntnis zu Deutschland. Aber auch mit dem Wunsch nach Anerkennung und Selbstverständlichkeit. Dies ist auch was der iranischstämmige Niederländer Shervin Nekuee feststellt: »(…) the deepest motive behind it (dem Moscheebau, A.d.A.) is a very understandable and human one: the longing for recognition, the desire to be seen and appreciated«32.

Zivilgesellschaftliches Engagement und Kontakt zu Stadt und Nachbarschaft Anzumerken ist, dass der Baustil in beiden Fällen keine Auswirkung auf die Akzeptanz in der Bevölkerung hatte. Dies haben die Gemeinschaften so aus den Reaktionen gegenüber ihrem Bauvorhaben wahrgenommen. Vielmehr wird von den Interviewpartnerinnen der gute Kontakt zu und die Vernetzung mit wichtigen lokalen Akteuren für das gute Gelingen verantwortlich gemacht. So führten beide Moscheevereine im Vorfeld des Baus Aktionen durch, um die Bevölkerung zu informieren: In Penzberg gab es einen Tag der offenen Baustelle und in Marxloh den so genannten Rosen-Container. Man suchte die Zusammenarbeit mit Journalistinnen und Journalisten, Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitikern, benachbarten Kirchgemeinden und weiteren engagierten Einzelpersonen. So fanden und finden in beiden Gemeinschaften verschiedene Aktivitäten im Rahmen des interreligiösen Dialogs statt. In Penzberg gibt es die Möglichkeit, medizinische Praxen gemeinsam von Priester und Imam einweihen zu lassen. Andere Beispiele sind gemeinsame Friedensgebete oder Ausflüge. Der Neubau eröffnet den Gemeinschaften nun die Möglichkeit, die Nachbarn einzuladen und in den Kontakt zur Öffentlichkeit zu treten, was vorher aufgrund der Raumgröße nicht möglich war. Außerdem sind die Räume nun aus Sicht der Gemeinschaften vorzeigbar und geben keinen Anlass mehr dazu, sich für sie schämen zu müssen. Beide Interviewpartnerinnen haben den Eindruck, dass die benachbarte Bevölkerung den Bau akzeptiert hat und es ˘ DACI˙, Cihan 32 NEKUEE, Shervin (2009): Throw Open the Doors! In: ERKOC ¸ U, Ergün, BUG (Hg.), The mosque. Political, architectural and social transformations (S. 59). Rotterdam: NAi Publishers, S. 59.

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wird betont, dass die Nachbarn auch von »unserer Moschee«33 sprechen. Anwohner der Penzberger Moschee äußerten sich gegenüber der Gemeinschaft, dass sie sich freuen würden, wenn das Minarett im Ramadan beleuchtet ist.34 Beide Gemeinschaften haben Vertreterinnen und Vertreter in Arbeitsgruppen der Stadt, so ist Frau Yilmaz beispielsweise im Frauennetzwerk für den Duisburger Norden engagiert. Beide sind Träger von Integrationskursen. Darüber hinaus gibt es noch weitere Angebote wie Religionsunterricht für Kinder, Förderprogramme für Grundschüler oder Frauengruppen. Die Bildungs- und Begegnungsstätte in Marxloh bietet zudem Fortbildungen für die Lehrerausbildung, für Studienseminare und Krankenhauspersonal an, in denen der Umgang mit muslimischer Klientel thematisiert wird. Das Angebot wird zum Großteil ehrenamtlich durchgeführt, ist aber zunehmend durch Geldmangel begrenzt, unter dem die Gemeinschaften leiden. Es wird geäußert, dass man größere Pläne hätte, diese aber aus finanziellen Gründen nicht verwirklicht werden können. So bietet die neue Moschee zwar mehr Möglichkeiten hinsichtlich der Raumgröße, aber der Geldmangel, der unter anderem auch durch die Betriebskosten entsteht, setzt nun neue Grenzen. Man wünscht sich deshalb in beiden Gemeinschaften mehr staatliche Unterstützung der Aktivitäten und vor allem die staatliche Anerkennung einer muslimischen Dachorganisation als Körperschaft öffentlichen Rechts (KöR).35 Diese würde nicht nur eine Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften bedeuten und eine gesellschaftliche Anerkennung symbolisieren, 33 Dies wurden von den Interviewpartnerinnen sowohl in Penzberg als auch in Duisburg genannt. 34 Vgl. JASAREVIC, Alen (2009): Anders! Das Islamische Forum in Penzberg. Meine Erfahrungen als Architekt einer Moschee. In: BEINHAUER-KÖHLER, Bärbel; LEGGEWIE, Claus (2009), Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung (S. 99 – 111). München: Beck’sche Reihe, S. 109. 35 Der Körperschaftsstatus ist ein Begriff des Organisationsrechts der staatlichen Verwaltung und bezieht sich nicht nur auf Religionsgemeinschaften; auch eine Universität ist beispielsweise eine KöR. Der Status räumt dem Träger öffentlich-rechtliche Befugnisse ein und unter anderem Vorteile wie steuerrechtliche und gebührenrechtliche Begünstigungen. Nach dem Verfassungstext von 1918 sind die beiden großen christlichen Kirchen Körperschaften des öffentlichen Rechts. Andere Religionsgemeinschaften können diesen Status bei den Ländern beantragen. Dem Islam, der nach dem Grundgesetz als Religion anerkannt ist, kann der Körperschaftsstatus nicht verliehen werden, sondern nur einer in Deutschland existierenden muslimischen Gemeinschaft, bei der die inhaltlichen und organisatorischen Mindestvoraussetzungen für eine Religionsgemeinschaft gegeben sind (Zu den Anforderungen, die an eine solche Anerkennung gestellt werden, siehe beispielsweise WEBER, Hermann (2003): Muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz. In: OEBBECKE, Janberd (Hg.), Muslimische Gemeinschaften im deutschen Recht (S. 85 – 108). Frankfurt a. M.: Peter Lang oder KIPPENBERG, Hans G. (2000): Was spricht gegen die Anerkennung des Islam als einer weiteren deutschen Konfession? In: HANNEMANN, Tilman, MEIER-HÜSING, Peter (Hg.), Deutscher Islam – Islam in Deutschland (S. 106 – 116). Marburg: Diagonal-Verlag.).

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sondern durch »Kirchensteuer« und steuerliche Vergünstigungen auch Abhilfe auf finanzieller Ebene schaffen.

Öffentliche Sichtbarkeit und »public religion« Wie steht es nun konkret um die Implikationen, die Casanovas Konzept von »public religion« mit sich bringt? Nimmt man zunächst den Aspekt der Einforderung demokratischer Rechte in den Blick, so kann festgestellt werden, dass ein Konflikt um den Bau nicht als Katalysator dienen konnte, da es zu keinen nennenswerten Auseinandersetzungen gekommen war. Das Recht auf den Moscheebau aufgrund von Religionsfreiheit oder anderen demokratischen Rechten war gegeben und musste nicht eingefordert werden. In Penzberg fühlt man sich aus anderen Gründen in der Religionsfreiheit beschnitten: Die Gemeinschaft ist wegen des Kontakts zur Milli Görüs (IGMG) und zur Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD) in das Visier der bayerischen Verfassungsschützer geraten und wurde von 2007 bis 2010 im bayerischen Verfassungsschutzbericht genannt.36 Aus ihrer Sicht wurde ihr unrechtmäßig unterstellt, die Unterwanderung und Islamisierung der Gesellschaft zu planen. Die Interviewpartnerin hat deshalb den Eindruck, dass Religionsfreiheit in Deutschland für alle gilt, nur nicht für Muslime, da der Islam als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar verstanden wird. Dies wird von der Gemeinschaft als illegitim gewertet und man wehrte sich auch mit rechtlichen Mitteln gegen die Nennung im Verfassungsschutzbericht.37 Die Musliminnen und Muslime aus Penzberg fühlen sich abgestempelt, bevormundet und in eine Schublade gesteckt. Diese Erfahrung der Nicht-Akzeptanz auf staatlicher Ebene steht im starken Gegensatz zur erfahrenen Akzeptanz auf lokaler Ebene. »Man nimmt sich heutzutage das Recht zu sagen, Religionsfreiheit nicht für Muslime, weil die Muslime nicht kompatibel seien mit dem deutschen Grundgesetz, mit der bayrischen Verfassung, also können sie auch gar nicht Recht haben oder teilhaben an der Religionsfreiheit in unserem Lande. Und ich glaub das ist so dieses Dilemma, was wir Muslime auch derzeit erleben, dass alles was wir tun und lassen nicht nur ein Lippenbekenntnis ist sondern mit Herzblut man dahinter steht aber trotzdem man nicht ankommt. (…) Alleine die Tatsache, dass man dem islamischen Glauben angehört, ist schon Grund genug da misstrauisch zu sein.« (Penzberg)

Die Gemeinschaft der Merkez Moschee in Duisburg-Marxloh spürt die Bevormundung von einer anderen Seite. Anfragen und Aktionen von Wohlfahrts36 Siehe Verfassungsschutzberichte des Bayerischen Staatsministerium des Innern 2007 – 2011 unter URL: www.verfassungsschutz.bayern.de/service/berichte/, [25. 03. 2013]. 37 Im Verfassungsschutzbericht von 2011 wurde die Gemeinschaft nicht mehr genannt.

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verbänden und Universitäten erwecken bei ihr den Eindruck, dass geglaubt wird, sie seien selbst nicht in der Lage, etwas auf die Beine zu stellen. Man fühlt sich nicht als gleichberechtigter Partner. »Wir sind nicht mehr die Wasserträger, was haben wir davon als Institution? Wir sagen, wir wollen von Anfang an beteiligt werden, also nicht immer diese Objekte, sondern selber. Also wir sind nicht unmündig, wir wollen von Anfang an bei der Konzepterarbeitung gleichberechtigte Partner und dann kann man gucken: wenn ihr eine Stelle kriegt, kriegen wir auch ne Stelle oder so. Wir brauchen ja auch Gelder! (…) Ihr könnt ja von mir aus das ganze Projekt wissenschaftlich begleiten, dafür bringen wir dann die Jugendlichen, ist OK. Aber nicht diese Aufstülpung: ja, wir machen was für euch, ja, die armen Migranten, die wir jetzt retten müssen, integrieren müssen.« (Duisburg)

Auch in diesem Zusammenhang wird die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts als sehr wichtig erachtet. Auf der einen Seite geht es dabei um die Gleichstellung mit den anderen großen Religionsgemeinschaften, zum Beispiel in Fragen des Religionsunterrichts für muslimische Schülerinnen und Schüler, islamisch theologischer Lehrstühle oder bestimmter Sonderregelungen wie das Schächten. Auf der anderen Seite wären die bereits genannten finanziellen Vorteile für die Gemeinschaften wichtig. Casanova formuliert für Religionsgemeinschaften die Möglichkeit öffentlich zu werden, indem sie staatliche Regelungen in Frage stellen und als normativ kritisieren.38 Wenn also von muslimischen Dachverbänden die Anerkennung als KöR eingefordert wird, kann dadurch die gängige Anerkennungspraxis in Deutschland angefochten werden. Die Gemeinschaften selbst sehen sich nicht in der Lage und sind auch nicht in der geeigneten Position, solche Forderungen öffentlich zu stellen und voranzutreiben. Die Gemeinschaft in Penzberg hält die Islamkonferenz für das geeignete Gremium zur Artikulation solcher Ansinnen gegenüber Politik und Staat. Man fühlt sich jedoch aufgrund der aktuellen Zusammensetzung der Konferenz nicht adäquat vertreten. Da man sich keine Hoffnungen auf eine Einigung unter den Muslimen macht, wünscht man sich hier sogar ein Eingreifen des Staates, der »manch einen Muslim auch zu seinem Glück zwingen« (Penzberg) sollte. In Marxloh verweist man auf den Dachverband DI˙TI˙B. Dies geschieht auch, wenn beispielsweise Anfragen von Journalistinnen und Journalisten bezüglich aktueller politischer Fragen auf die Gemeinschaft zukommen. Man äußert sich nur zu Fragen, die die eigene Gemeinschaft betreffen und fühlt sich nicht zuständig, um repräsentativ für »die Muslime« zu sprechen.

38 Vgl. Casanova 1994, S. 5.

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»Jetzt ist es so, sobald irgendwo in der Welt zum Thema Islam was passiert, zum Beispiel vor einigen Jahren, der Streit um die Karikaturen, ne, am nächsten Tag sind die Medien bei uns: Was sagen Sie dazu? Na, also da müss’ man schon Rede und Antwort stehen, für alles was Muslime in der Welt falsch machen (lacht) ne, und wir sind ja eigentlich nicht repräsentativ, wir sind eine DI˙TI˙B-Einrichtung, das heißt unsere Zentrale ist in Köln. Dann verweisen wir einfach und sagen: rufen Sie doch bitte in DI˙TI˙B an. Also wenn Sie Fragen zu unserer Arbeit hier haben, zu der Begegnungsstätte, OK. Aber wir können nicht weltweit im Namen des Islam sprechen, da sind wir überfordert und das ist auch nicht unser Ansatz. Wir repräsentieren nicht die Muslime auf der ganzen Welt. (…) für politische Dinge als repräsentative Einrichtung für Muslime, für türkische Muslime, ist dann die DI˙TI˙B -Zentrale zuständig.« (Duisburg)

Ein ähnliches Bild zeichnet sich ab, wenn es um moralische Fragen geht. In den Interviews wurden solche Themen zwar nicht angesprochen. Auf der Internetseite der Gemeinschaft in Penzberg lässt sich jedoch ablesen, dass der Imam der Gemeinschaft, Benjamin Idriz, sich regelmäßig zu aktuellen Fragen des muslimischen Lebens in Deutschland äußert. So spricht er sich zuletzt gegen das Knabenbeschneidungsurteil39 aus, begrüßt die Initiative, islamische Feiertage40 einzuführen und verurteilt das islamfeindliche Video, welches 2012 auf Youtube veröffentlicht wurde und gewaltsame Proteste hervorgerufen hat41. Ob diese Mitteilungen über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus Gehör finden, konnte im Rahmen dieser Studie nicht untersucht werden. Hier sind jedoch Ansätze von dem zu erkennen, was Casanova »public religion« nennt. Festzuhalten ist, dass es eher der unabhängige Moscheeverein in Penzberg ist, der sich öffentlich äußert, als die auf den Dachverband verweisende Gemeinschaft in Marxloh. Welche Rolle dabei der neue Sakralbau spielt, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Zumindest hat er den Gemeinschaften ein größeres Maß an Aufmerksamkeit gebracht, das ihnen nun helfen kann, sich auch in anderen Fragen Gehör zu verschaffen. Der Bau kann jedoch sicherlich als Ausdruck der Identität gesehen werden. Eine Gemeinschaft, die vor dem Neubau nicht bereits Ansätze von Offenheit gezeigt hat, wird auch mit dem Bau nicht offen werden und umgekehrt. Der Bau kann bereits vorhandene Ansätze der Offenheit aber verstärken, da Möglichkeiten geschaffen werden. Betrachtet man die Zusammenarbeit mit den benachbarten Kirchgemeinden, so lässt sich feststellen, dass der Kontakt nach Einschätzung der Befragten von beiderseitigem Wohlwollen und guter Zusammenarbeit geprägt ist. Obwohl von 39 Vgl IDRIZ, Benjamin (18. 07. 2012): Religiöse Gebote und kulturelle (Miss)-Bräuche nicht vermischen! URL: http://www.islam-penzberg.de/185601/314008.html, [24. 09. 2012]. 40 Vgl. IDRIZ, Benjamin (10. 09. 2012): Anerkennung von islamischen Feiertagen. URL: http:// www.islam-penzberg.de/185601/317708.html, [24. 09. 2012]. 41 Vgl. IDRIZ, Benjamin (14. 09. 2012): Antiislamischer Film und die Reaktionen. URL: http:// www.islam-penzberg.de/185601/318408.html, [24. 09. 2012].

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beiden Gesprächspartnerinnen durchaus diagnostiziert wird, dass Religion keinen Platz im öffentlichen Leben hat, kann keine »Verbrüderung im Kampf gegen die Rückdrängung der Religion in die Privatsphäre« festgestellt werden. Frau Yerli aus Penzberg äußert den Eindruck, dass Religion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht erwünscht ist und macht dies am Beispiel des Kruzifixverbotes in Schulen fest. Frau Yilmaz beobachtet, dass in Moscheeführungen Menschen auf sie zukommen und ihr allgemeine Fragen zu Religion, zum Gottesglauben et cetera stellen. Sie fragt sich, warum die Menschen nicht zu ihrem eigenen Pfarrer gehen und hat den Eindruck, dass es in der Gesellschaft keinen Raum mehr gibt, um über religiöse Fragen zu sprechen. In dieser Hinsicht bestätigen sich Casanovas Beobachtungen.

Fazit Der Bau öffentlich sichtbarer Moscheen ist ein Zeichen dafür, dass die Säkularisierungsthese als unumkehrbarer Rückzug der Religion in die Privatsphäre nicht ohne weiteres für alle gesellschaftlichen Bereiche aufrechterhalten werden kann. Dieses Beispiel kann somit durchaus als Untermauerung der Erkenntnis Jos¦ Casanovas von der »Entprivatisierung« von Religion gesehen werden. Würden sich die Vereine für die Anerkennung eines nationalen Zusammenschlusses muslimischer Gemeinschaften als Körperschaft öffentlichen Rechts einsetzen, wären sie dadurch in der Lage, die gängige Praxis der unterschiedlichen Anerkennungsformen von Religionsgemeinschaften in Deutschland in Frage zu stellen und damit im Sinne Casanovas »öffentlich« zu werden. Aufgrund der rechtlichen Gegebenheiten und ihres eigenen Selbstverständnisses, für lokale Themen zuständig zu sein, tun sie dies aber nicht, sondern überlassen es den größeren Zusammenschlüssen, wie Dachverbänden oder Islamkonferenz. Es ist vielmehr der Wunsch nach Teilhabe und Gleichstellung, der unter anderem auch mit dem Neubau öffentlich zum Ausdruck gebracht wird. Damit bringen sich die Gemeinschaften öffentlich in Diskussionen um Integration und Gleichberechtigung ein – vor allem auf lokaler Ebene. Gerade in Penzberg, wo man unabhängiger ist, äußert man sich darüber hinaus zu bestimmten Fragen, die auch für die nicht-muslimische Öffentlichkeit von Interesse sind. Der neue Bau eröffnet ihnen durch die öffentliche Aufmerksamkeit eine größere Plattform und ermöglicht Entprivatisierung im Sinne Casanovas. Es bleibt deshalb zu beobachten, ob die Gemeinschaften dies auch in Zukunft nutzen und der Bau vielleicht noch mehr zu einem Katalysator für eine stärkere öffentliche Teilhabe werden wird oder ob Prozesse der Entprivatisierung von einem größeren, re-

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präsentativen Zusammenschluss von Muslimen getragen werden könnten. Dadurch könnte Entprivatisierung auch auf überregionaler Ebene stattfinden. Auf lokaler Ebene zeigt sich, dass Moscheegemeinschaften verstärkt sozial aktiv sind und dadurch an der Zivilgesellschaft teilhaben. Der neue Bau mit den vielfältig nutzbaren Räumlichkeiten bietet nun den Platz dafür. Dadurch kann ein Beitrag auch über die Vereinsgrenzen hinaus geleistet werden. Letztlich kann festgestellt werden, dass sich Casanovas »public religion« nur für die Analyse neuer Sakralbauten eignet, wenn das Konzept auf die lokale Ebene übertragen und feiner ausdifferenziert wird. Seine drei anfangs genannten Aspekte von »public religion« bleiben zu stark auf überregionale Kontexte ausgelegt, als dass sie ohne weiteres auf neue Sakralbauten angewandt werden könnten. Zudem ist es notwendig, die Sichtbarkeit des Baus nicht allein auf das Visuelle zu reduzieren, sondern die Gemeinschaft und ihre Einbettung in lokale Strukturen mitzudenken – eine reine Analyse der visuellen Sichtbarkeit des Baus greift hier zu kurz. Dann kann der Bau jedoch durchaus als Ausdrucksmittel für »public religion« gesehen werden.

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»…unsere Sehnsucht zu Stein geworden«

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Anna Neumaier

Zwischen Austausch und Abgrenzung: Narrationen von Konflikten und Koalitionen in religiösen Online-Diskussionsforen

Einleitung Man is a Religious Animal. […] He is the only animal that loves his neighbor as himself and cuts his throat if his theology isn’t straight. (Mark Twain, The Lowest Animal)

Religion als gesellschaftlicher Konflikt- oder Integrationsfaktor? Mark Twains Aussage klingt dabei, gleichwohl sehr zugespitzt, so aktuell wie nie. Religion, so wird gemeinhin angenommen, wirkt als Konfliktfaktor, was ihre Außengrenzen betrifft. Große wie kleine Konflikte – von blutigen Bürgerkriegen1 bis hin zum Moscheebaustreit in der Nachbarschaft2 – können dies exemplarisch belegen. Nach innen dagegen scheinen sie eine integrative Wirkung entfalten zu können: Innerhalb von Religionsgemeinschaften entsteht gesteigertes Vertrauen zueinander und können weitgreifende Unterstützungsleistungen verzeichnet werden3. Darüber hinaus wird ihr auf einer anderen Ebene auch ein allgemeineres 1 Siehe für eine prominente Deutung in diese Richtung HUNTINGTON, Samuel P. (1996): The clash of civilizations and the remaking of world order. New York, NY: Simon & Schuster. 2 Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung vgl. BAUMANN, Martin, TUNGER-ZANETTI, Andreas (2011): Wenn Religionen Häuser bauen. Sakralbauten, Kontroversen und öffentlicher Raum in der Schweizer Demokratie. In: BAUMANN, Martin, NEUBERT, Frank (Hg.), Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft. Studien zur Neuformierung von Religion in der Gegenwart (S. 151 – 188). Zürich: Pano; BAUMANN, Martin, TUNGER-ZANETTI, Andreas (2008): Migration und religiöses Bauen: zur Neuaushandlung des öffentlichen Raums. Kunst und Kirche, 4/71, S. 32 – 39. 3 Dies ist zum Beispiel die prominente These der letztjährigen Weihnachts-Titelgeschichte des Magazins »DER SPIEGEL« (»Warum glaubt der Mensch…und woran zweifelt er?«, Heft 52/ 2012), eine Diskussion findet sich aber u. a. auch bei HIRSCHMAN, Charles (2004): The Role of Religion in the Origins and Adaptation of Immigrant Groups in the United States. International Migration Review, 3/38, S. 1206 – 1233.

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sozialintegratives Potential zugeschrieben4 : Sowohl Wertvorstellungen als auch Unterstützungsleistungen können danach zudem zu einer über die Religionsgemeinschaft hinausreichenden besseren Integration beispielsweise von Migrantengruppen in breitere staatliche oder gesellschaftliche Kontexte führen. Für all diese Wirkungen aber sind klare Muster von Zugehörigkeit und Abgrenzung Voraussetzung, und zwar sowohl interreligiös als auch zwischen religiösen und säkularen beziehungsweise atheistischen Gruppen. Für eine religionswissenschaftlich differenzierte Betrachtung dürfen diese beiden Schneisen von Religion als Konflikt- und Integrationsfaktor nicht die einzigen durch das komplexere Feld konkreterer Bedeutungen und Auswirkungen von Religiosität sein. Gleichwohl dienen sie im Sinne des Themas des vorliegenden Bandes als mäeutischer Ausgangspunkt: Inwiefern lässt sich von Religion als Faktor für Konflikt und Integration sprechen? Um welche auslösenden Faktoren gruppieren sich Konflikte und Integrationsprozesse, wie formieren sich die beteiligten Parteien, was sind übliche Strategien der Abgrenzung oder Vergemeinschaftung? Diese Fragen sollen im Folgenden an einem sehr kleinen Feld exploriert werden: Religionsbezogenen Online-Diskussionsforen – also Online-Foren, die dem Austausch über alles rund um das Thema Religion dienen. Für die Analyse hat dieses Feld einen entscheidenden Vorteil: Ein Großteil der Interaktionen aller Beteiligten liegt schriftlich gespeichert und öffentlich einsehbar vor. Das Nachzeichnen der Konfliktlinien und Vergemeinschaftungen in der Diskussion religionsbezogener Themen wird so mit einer erheblich umfassenderen materialen Grundlage ausgestattet und erlaubt dadurch in besonderer Weise, Konfliktlinien, Koalitionsparteien und ihre jeweilige Entstehung beziehungsweise Aushandlung nachzuzeichnen. Gleichzeitig zeigt schon ein erster Blick in die Foren, dass sich dort der Austausch unter Gleichgesinnten über gemeinsame religionsbezogene Interessen und Fragen ebenso findet wie Auseinandersetzungen bis hin zu tiefgreifenden Konflikten über andere Fragen. Ich werde dafür im Folgenden einige kurze Worte zum Feld sagen, und dabei vor allem auf die medialen Charakteristika eingehen, die für das vorliegende Vorhaben besonders zentral sind. Danach werde ich in aller Kürze einige klas4 Weiterführend etwa bei BAUMANN, Martin (2004): Religion und ihre Bedeutung für Migranten. Zur Parallelität von »fremd«-religiöser Loyalität und gesellschaftlicher Integration. In: BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, Flüchtlinge und Integration (Hg.), Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft (S. 19 – 30). Berlin (u. a.): Bundesdruckerei; FONER, Nancy, ALBA, Richard (2008): Immigrant Religion in the U.S. and Western Europe: Bridge or Barrier to Inclusion? International Migration Review, 2/42, S. 360 – 392; WARNER, R. Stephen (2007): The Role of Religion in the Process of Segmented Assimilation. The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 1/612, S. 100 – 115.

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sische und neuere Theorien von (Online-) Gemeinschaften aufgreifen und am empirischen Material diskutieren. Im anschließenden Abschnitt werden anhand des Materials Konfliktlinien ebenso wie die sich ergebenden Koalitionen nachgezeichnet, und darüber hinaus die Frage thematisiert, wie diese Konflikte und Koalitionen von den Nutzern5 wahrgenommen werden und wie sich das zum Stand der Forschung zu Religion als Faktor für Integration oder Konflikt verhält.

Über religionsbezogene Online-Diskussionsforen Bei den untersuchten Online-Diskussionsforen handelt es sich um Foren, die sich ausschließlich oder primär religionsbezogenen Themen widmen und deren Betreiber sich als religiöse Akteure und ihre Plattform als Ort religionsbezogenen Austausches beschreiben.6 Wie sind solche Foren nun beschaffen? Im Grunde gilt hier wie in vielen Online-Foren: Es gibt mehrere thematisch gegliederte Unterforen, in denen sich dann die Diskussionsstränge (Threads) befinden, in denen jeweils ein spezifisches Thema diskutiert wird. In der Regel kann in einem solchen Forum jeder mitlesen; um schreiben oder Themen selbst eröffnen zu können, ist eine – meist sehr formlose – Registrierung notwendig. Neben der Angabe einer Email-Adresse und eines persönlichen Passworts ist dabei auch die Wahl eines Namens (»Nick« oder »Nickname«) erforderlich, dem dann alle Forenaktivitäten des Nutzers zugerechnet werden können. Die meisten Foren bieten darüber hinaus die Möglichkeit, ein eigenes Bild oder Foto einzustellen sowie eine Profilseite mit weiteren persönlichen Angaben (etwa: Wohnort, Alter, Hobbies, Sinnsprüche) einzurichten. In den Foren findet dann der schriftliche Austausch statt: In aller Regel sind alle Bereiche für alle registrierten Mitglieder einsehbar ; Ausnahmen sind oft solche Unterforen, in denen sich die Moderatoren der Foren untereinander austauschen und seltener Unterforen für spezielle Nutzergruppen, die für andere Nutzer unsichtbar sind. Der Austausch findet statt, indem ein Nutzer ein Thema eröffnet, also einen Eingangspost veröffentlicht, und andere Nutzer darauf schriftlich reagieren. Die Anordnung dieser Beiträge ist je nach Softwareeinstellung unterschiedlich, oft erscheinen aber einfach alle eingehenden Beiträge chronologisch untereinander. Viele Foren bieten darüber hinaus die Möglichkeit, private Nachrichten an einzelne Mitglieder zu versenden. Diese sind für andere Mitglieder nicht ein5 Wird hier und im Folgenden von »Nutzern« gesprochen, sind dabei immer Nutzer und Nutzerinnen gleichermaßen gemeint. 6 Für die Untersuchung wurden darüber hinaus einige weitere Samplingkriterien angewandt: Es wurden ausschließlich deutschsprachige Foren ausgewählt, solche, die dem christlichen Spektrum zuzuordnen sind sowie solche, die ein Minimum an aktuellen Aktivitäten aufweisen (mehrere neue Beiträge pro Tag).

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sehbar und funktionieren im Grunde ähnlich einer E-Mail, finden aber systemintern statt. Themen des Austausches ebenso wie einige Verhaltensregeln werden zunächst einmal von den Forenbetreibern vorgegeben. Die thematische Struktur ist dabei durch die Gliederung der Unterforen festgelegt. Darüber hinausgehende inhaltliche Vorgaben und Verhaltensregeln werden in der Hausordnung der Foren formuliert7. Die Foren haben durch ihr spezifisches religiöses Selbstverständnis, das in der Regel auch durch ihre Namensgebung und weitere beschreibende Elemente der Seite deutlich gemacht wird, in gewissem Sinne eine »Hausreligion«, also eine Religion, auf die sich die meisten thematischen Diskussionen beziehen, die im Rahmen der Auseinandersetzungen in der Regel nicht angegriffen werden soll und der naheliegenderweise – insofern es auch um den innerreligiösen und glaubensbezogenen Austausch gehen soll – die registrierten Mitglieder der Foren angehören sollten. Dies stellt nur in Ausnahmefällen eine fixe Regel dar, entspricht aber der inhärenten Logik dieser Online-Plattformen – ebenso wie bei christlichen Gemeindefesten in aller Regel auch vorrangig Mitglieder der jeweiligen Gemeinde anwesend sind. Die Vermutung läge nun nahe, dass hier der Fall einer homogenen religiösen Gemeinschaft vorliegt, in der ein gemeinschaftlicher Austausch stattfindet; gegebenenfalls sogar weitergehende Unterstützungsleistungen stattfinden, so dass sich eine über die Foren hinausgehende integrative Wirkung entfaltet. Nichtsdestotrotz finden sich online auch immer wieder Mitglieder anderer religiöser Traditionen ebenso wie solche Nutzer ein, die sich dezidiert als atheistisch oder säkular verstehen. Deren Motive für die Teilnahme sind unterschiedlich, in jedem Fall sorgen sie aber dafür, dass auch im Rahmen der Foren der Blick auf die Konstruktion einer religiösen Außengrenze geworfen werden kann: In einem einer spezifischen religiösen Tradition zuzuordnenden Raum finden sich solche Akteure ein, die sich offensichtlich von der entsprechenden Religion unterscheiden und abgrenzen. Die Hypothese liegt nahe, dass es zwischen diesen Gruppen zu Konflikten kommt – entweder grundsätzlicher Art oder zumindest an den Stellen, an denen es um die Diskussion jener Themen geht, in denen individueller Glauben und Glaubensüberzeugungen im Mittelpunkt stehen.

Zwischen Online-Communities und Gemeinschaftstheorie Fragt man nach der Bedeutung der Online-Foren für die religionsbezogenen Gesamtaktivitäten der Nutzer ebenso wie nach ihrem Potential für interne und 7 Hierzu mehr im Abschnitt zu Konflikten online.

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nach außen wirkende Integration, stellt sich schnell die grundsätzliche Frage nach dem gemeinschaftsbildenden Potential der Online-Foren. Dieses Thema wird vor allem ohne den Bezug auf Religion schon länger diskutiert: Von einem einheitlichen, schnell einsetzbaren und übertragbaren sozialwissenschaftlichen Konzept von Gemeinschaft kann kaum gesprochen werden: Nach sehr zentralen Ausgangspunkten bei Tönnies8 und Weber9 ist die Arbeit am Gemeinschaftsbegriff in der Mitte des letzten Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen abgeflaut.10 Erst in den letzten Jahren kamen verstärkt wieder Überlegungen auf, die auch auf Erklärungsansätze zu umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklungen – etwa Individualisierung, Eventisierung, Mediatisierung – rekurrieren. Insbesondere bei der Übertragung auf online vermittelte Kommunikation und Interaktion wird die direkte Anwendung klassischer Ansätze schwierig. Diese beinhalteten meist als ein zentrales Charakteristikum die räumliche Nähe oder das physische Beieinandersein – neuere Ansätze dagegen stellen dieses Charakteristikum zur Disposition und beziehen auch dezidiert nicht mehr lokal vermittelte Formen von Gemeinschaft mit ein; prominent zu nennen wären hier beispielsweise Ronald Hitzlers Konzept der posttraditionalen Gemeinschaft11, Andreas Hepps Entwurf einer translokalen oder deterritorialen Gemeinschaft12, oder, mit spezifischem Schwerpunkt auf kommunikative Zusammenhänge, Hubert Knoblauchs Konzept der Kommunikationsgemeinschaften13. Und zuletzt gibt es Ansätze, die sich unter dem 8 Vgl. TÖNNIES, Ferdinand (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. 9 Vgl. WEBER, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 29 ff. 10 Vgl. OPIELKA, Michael (20062): Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 56 f. 11 Vgl. HITZLER, Ronald (2008): Brutstätten posttraditionaler Vergemeinschaftung. Über Jugendszenen. In: HITZLER, Ronald, HONER, Anne, PFADENHAUER, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen (S. 55 – 72). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; HITZLER, Ronald, HONER, Anne, PFADENHAUER, Michaela (2008): Zur Einleitung. »Ärgerliche« Gesellungsgebilde? In: HITZLER, Ronald, HONER, Anne, PFADENHAUER, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen (S. 9 – 31). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 12 Vgl. HEPP, Andreas (2008): Medienkommunikation und deterritoriale Vergemeinschaftung. Medienwandel und die Posttraditionalisierung von translokalen Vergemeinschaftungen. In: HITZLER, Ronald, HONER, Anne, PFADENHAUER, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen (S. 132 – 150). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 13 Vgl. KNOBLAUCH, Hubert (2008): Kommunikationsgemeinschaften. Überlegungen zur kommunikativen Konstruktion einer Sozialform. In: HITZLER, Ronald. HONER, Anne, PFADENHAUER, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen (S. 73 – 88). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Schlagwort der »virtuellen Gemeinschaft« mit der medial beziehungsweise digital vermittelten Bildung von Sozialformen auseinandersetzen.14 All diese Ansätze verdienten eine ausführlichere Diskussion und Synopse, die nicht an dieser Stelle erfolgen kann; sie zeigen aber grundsätzlich, dass es auch in medial vermittelten, von lokalen Bezügen abgelösten Welten das Potential zur Bildung von gemeinschaftlichen Zusammenhängen gibt. Dies möchte ich statt durch eine theoretische Diskussion nun in aller Kürze am empirischen Material darlegen. Dies betrifft zunächst den Aufbau einer Nutzeridentität, der auch online stattfindet: Die Nutzer wählen bei der Registrierung einen Nicknamen, der von anderen Nutzern mit ihrer Person verbunden wird, ein Avatar ersetzt zumindest funktional die Zurechnung auf ein Bild des Gegenübers – in diesen Zusammenhängen von Anonymität zu sprechen wäre deshalb verfehlt, besser trifft für diese Kontexte zumindest der Begriff der Pseudonymität zu, denn Aussagen und Meinungen werden auf diese Weise zurechenbar, und für langfristigere Nutzer entsteht die Möglichkeit, sich in einem Netz von »Bekannten« zu bewegen: Und die sind ja alle auch – das sind ja alles Personen, die dahinterstehen, ja und wenn man sozusagen diese Informationsangebote kommentiert hat, gelesen hat […] also ich sag dann immer, man kennt ja seine Pappenheimer. Dann taucht ein Nickname auf, da weißte schon was der schreibt. (Moritz15)

Auf dieser Basis können dann auch intensive individuelle Beziehungen aufgebaut werden: 14 Vgl. als Ausgangspunkt der Debatte RHEINGOLD, Howard (1993): The virtual community. Homesteading on the electronic frontier. Reading, Mass.: Addison-Wesley Pub. Co, später u. a. BAYM, Nancy K. (1998): The Emergence of On-line Community. In: JONES, Steven G. (Hg.), Cybersociety 2.0. Revisiting Computer-Mediated Communication and Community (S. 35 – 68). London (u. a.): Sage Publications; DETERDING, Sebastian (2008): Virtual Communities. In: HITZLER, Ronald, HONER, Anne, PFADENHAUER, Michaela (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen (S. 115 – 131). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; ETZIONI, Amitai, ETZIONI, Oren (1999): Face-to-face and Computer-Mediated Communities. A Comparative Analysis. The Information Society 15, S. 241 – 248; THIEDEKE, Udo (2000): Virtuelle Gruppen. Begriff und Charakteristik. In: THIEDEKE, Ulrich (Hg.), Virtuelle Gruppen. Charakteristika und Problemdimensionen (S. 23 – 73). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag; WELLMAN, Barry (2000): Die elektronische Gruppe als soziales Netzwerk. In: THIEDEKE, Ulrich (Hg.), Virtuelle Gruppen. Charakteristika und Problemdimensionen (S. 134 – 167). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag; WARD, Katie J. (1999): Cyber-ethnography and the emergence of the virtually new community. Journal of Information Technology 14, S. 95 – 105. Für eine Übersicht s. auch DÖRING, Nicola (20032): Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen (u. a.): Hogrefe. 15 Alle Namen der Interviewpartner wurden anonymisiert.

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Hm, über die Zeit hinweg natürlich, dass man da Leute kennengelernt hat, mit denen man ganz engen Kontakt hatte, ham sich auch einige Freundschaften geschlossen […] und ich hab da wirklich eine meiner besten Freundinnen auch da kennengelernt – und, ja – und mittlerweile ist es einfach so zum Zeitvertreib – und eben dadurch – dass man da die Freunde hat und mir da auch zusammen so ne Gruppe haben – dass wir uns da übereinander austauschen… und miteinander austauschen, was uns so bewegt, wie’s uns geht. (Merle)

Das Zitat zeigt zudem schon, wie diese Beziehungen sich nicht auf einzelne Mitglieder beschränken, sondern sich größere Gruppen zusammenfinden können, die Anlaufstelle für einen gemeinschaftlichen Austausch (etwa über Befindlichkeiten) darstellen. Dabei muss aber nicht einmal der Aspekt lokaler Verbundenheit wegfallen: Von den Gesprächspartnern werden die OnlinePlattformen – die ja auch einen fix ansteuerbaren »Ort« im Internet mit einer festen (IP-)Adresse, einer eindeutigen Benennung und einigermaßen konstanter Beschaffenheit darstellen – immer wieder in Dimensionen von räumlicher Verortung beschrieben. Neben dem Aufbau von Sozialbeziehungen lassen sich auch verschiedene Formen konkreter Unterstützungsleistungen innerhalb der Gruppe der Forenmitglieder feststellen: Nutzer verwenden nicht nur viel Zeit darauf, lange Ratschläge zu den Problemen anderer Nutzer zu formulieren; sie bringen andere Forenmitglieder ins Krankenhaus oder zum Arzt oder leisten andere konkrete Hilfe. Auch Unterstützungsleistungen mit Religionsbezug lassen sich aufzeigen: Forenmitglieder übernehmen Patenschaften für die Kinder anderer Nutzer oder spenden für Nutzer oder Gemeinden in Not. Zuletzt finden auch spezifisch religiöse Unterstützungshandlungen statt – allem voran das klassische »Füreinander beten«: […] aber es ist dann eigentlich immer jemand da- äh, wie’s jetzt meiner Mutter so schlecht gegangen ist, wenn ich das halt- da hab ich im [Name eines spezifischen Forums, A.N.] ums Gebet gebeten //mhm// und dann weiß ich halt, die beten dafür. //ja// Und das is- äh… man fühlt sich auch nicht so alleine dann, mit den Dingen, wo man eigentlich eh nix ändern kann […] (Ilona)

Dabei stehen solche religiösen Unterstützungsleistungen nicht nur im Kontext individueller Bezüge, sondern finden zum Teil auch als gemeinschaftliche Aktivität statt, etwa in Form einer »Gebetskette«, also durch die Erstellung eines Threads, in dem jeder seine Bitte um ein Gebet posten kann, und andere dort entweder konkret schriftlich einen Gebetstext hinterlassen oder die Notiz, dass sie für den Nutzer und sein Anliegen gebetet hätten. Zuletzt findet sich aber auch die bereits angesprochene emotionale Bezugnahme auf die Online-Plattform und ihre Nutzer als Gemeinschaft. In den In-

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terviews wird beispielsweise beschrieben, dass man sich in einem Forum wohlfühlt und dies zur Verstetigung der eigenen Aktivität führt: […] das ist so ’ne [atmet aus] Sache die kann man ganz schwer beschreiben. Das ist so wie mit Menschen. Du triffst Menschen und mit denen kommst du gut klar, es gibt Menschen mit denen kommst du gar nicht klar. Und so ist es im Internet auch, du triffst Foren da wirst du irgendwie gar nicht warm, mit den Leuten nich, du hast das Gefühl die sind alle so unter sich und da dann gibt’s aber einfach Foren […] da fühlt man sich halt einfach wohl und da hab ich mich halt damals wohl gefühlt, hab halt angefangen zu schreiben […] (Melanie)

Auch im Kontext des im Zitat vorgenommenen Bezuges auf »das Forum«, der über die Beziehung zu einzelnen Nutzern oder kleinen Teilnutzergruppen hinausgeht und auf die Plattform als Entität verweist, wird konstatiert, dass man sich schon so lange oder häufig treffe, dass man einander vertrauen oder sich aufeinander verlassen könne. Die tiefe Verbundenheit geht teilweise so weit, dass der Vergleich mit der »Keimzelle der Gemeinschaft«16 aufkommt: [Es gibt Gruppen, A.N.], die auch selten mal jemand neues, irgendwie in ihre eingeschworenen Kreise reinlassen – was ich aber auch nachvollziehen kann. Also ich glaub, bei uns in der Gruppe würden wir auch nicht so schnell jemanden neues reinlassen. […] Das ist, ähm, ne Familien- also wir nennen die Gruppe Familiengruppe – wir ham einfach irgendwann mal gesagt wir sind irgendwie wie so eine kleine Familie. (Merle)

Die intensiven Beziehungen haben meist langanhaltende Aktivität und dementsprechend intensive Interaktion mit anderen Nutzern zur Grundlage. Darüber hinaus spielt aber auch das Gefühl einer Verbundenheit auf religiöser Basis eine wichtige Rolle: […] aber da fand ich es halt einfach toll, dass ich im Forum Leute getroffen habe, die eben das Gleiche glauben und ähm dass man sich einfach TRIFFT und auf nem – ja so nem gemeinsamen Nenner gefunden hat, wo man sich einfach unterhalten konnte und das war so mit das Ausschlagebenste. also wenn man Leute findet, die wirklich so – ja //mhm// glauben und auch ERLEBT haben zum Teil […] (Melanie) Das is unter Christen ja schon was anderes, also da ist es – das is sehr pauschal jetzt, aber ich glaube, so wie ich das bis jetzt erlebt hab […] ist es da schon ein ganz anderer Austausch und ne ganz andere Wertschätzung irgendwie. Also auch, weil man da auch mal auf Gott zu sprechen kommen kann, wenns um irgendwie Probleme geht oder so. (Merle)

Der gemeinsame, geteilte Glaube spielt hier also auch für die Praxis der Gemeinschaftsbildung eine Rolle, indem er als wichtiger Ausgangspunkt für gegenseitiges Verständnis angeführt wird. Religiöses Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits von persönlich-physischer Bekanntschaft ist damit ein wichtiger 16 Vgl. Tönnies 1963, S. 8.

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Integrationsfaktor für die Online-Community und die so stattfindende Interaktion schafft die Grundlage für Kommunikation, die dann über den religionsbezogenen Austausch hinausgeht und sich auf weitere Themen erstrecken kann. Aufgrund des bisher angeführten Materials erscheint es demnach nicht abwegig, von einer religiösen Online-Community mit Außengrenzen und nach innen gerichteten Vergemeinschaftungsprozessen zu sprechen, die entsprechendes Potential für das oben genannte Aufkommen von Konflikt und Integration mit sich bringt. Doch wird in den geführten Interviews immer wieder auch von innerhalb der Foren stattfindenden Konflikten berichtet. Auf diese möchte ich nun zu sprechen kommen.

Konflikte Einerseits berichten immer wieder Nutzer von weitgreifenden Konflikten, die teilweise ihre Lust an der Online-Beteiligung mindern oder zum Ausstieg aus den Foren führen, andererseits wird aber auch in den Threads die Allgegenwärtigkeit von internen Konflikten sichtbar, so dass bei besonders heiklen Themen schon die Angst vor einem potentiellen Konflikt zur vorauseilenden Mahnung führt. Wie schon angedeutet, stellen technische Vorgaben einerseits, mit Blick auf Konflikte aber vor allem die Reglements der Forenbetreiber sowie eingespielte Üblichkeiten des Austausches in den jeweiligen Foren einige Rahmenbedingungen für die sozialen Interaktionen dar. Das Miteinander in den Foren ist also nicht so frei und demokratisch, wie man in der von utopischen Vorstellungen geprägten Frühphase des Internets (und auch der Internetforschung)17 annahm. Mit ganz konkretem Bezug auf die Foren lassen sich jenseits technischer Vorgaben drei weitere Arten der Reglementierung festhalten: Zum Einen bestehen meist grundsätzliche Regeln, die in der »Hausordnung« des jeweiligen Forums festgelegt sind, und die bei der Registrierung zu akzeptieren sind. Diese umfassen meist eine allgemeine »Netiquette«, die etwa rassistische, sexistische und gewaltverherrlichende Aussagen ausschließt, aber in den Fällen der unter17 Vgl. beispielweise DIEDERICHSEN, Diedrich (2004): Verknüpfungskulturen – Die Dynamik des Internet und seiner Vorläufer. In: BIEBER, Christoph, LEGGEWIE, Claus (Hg.), Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüsselbegriff (S. 28 – 40). Frankfurt/Main: Campus, hier S. 28; MÜNCH, Richard, SCHMIDT, Jan (2005): Medien und sozialer Wandel. In: JÄCKEL, Michael (Hg.), Mediensoziologie. Grundfragen und Forschungsfelder (S. 201 – 218). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, hier S. 208; SCHRÖTER, Jens (2004): Das Netz und die virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine. Bielefeld: Transcript, S. 11.

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suchten Foren teilweise auch spezifische Paragraphen, die Respekt vor der betreffenden »Hausreligion« oder Religionen allgemein einfordern sowie teilweise Missionsversuche durch Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften untersagen. Zum Anderen wird die Einhaltung dieser Regeln von Moderatoren überwacht, etwaige regelübertretende Beiträge zensiert oder Nutzer für ebensolches Verhalten bestraft (etwa durch ein System von Abmahnungen, das in letzter Konsequenz zur Löschung eines Nutzeraccounts führt). Und zum Dritten, wie oben angedeutet, lassen sich darüber hinaus auch diskursive Selbstregelungskräfte beobachten: Dabei werden in den Foren noch über die Forenregeln hinausgehende Konventionen für den Umgang miteinander entwickelt und Verstöße dagegen eher informell, etwa durch negative Reaktionen oder Nichtbeachtung der betreffenden Nutzer oder Beiträge geahndet. In den Interviews und den Online-Diskussionen deutet sich schnell an, dass es typische oder wiederkehrende Konfliktthemen und -parteien gibt. Aufgrund der Anlage dieser religiösen Diskussionsforen, in denen viele Fragen der korrekten religiösen Lebensführung ebenso wie theologische Grundsatzthemen diskutiert werden sowie unter Aufgriff der in der Einleitung beschriebenen, üblicherweise wahrgenommenen Konflikte, an denen Akteure und Gruppierungen beteiligt sind, die primär mit dem Thema Religion in Verbindung gebracht werden, wären hypothetisch die folgenden Konfliktparteien zu erwarten: – Nutzergruppen, die verschiedenen Religionen angehören (darunter vermutlich jeweils auf der einen Seite die Angehörigen der »Hausreligion«), – Nutzergruppen, die verschiedenen Konfessionen oder anderen religiösen Subgruppen angehören, – und zuletzt religiöse und nicht-religiöse Nutzer. Von diesen Überlegungen ausgehend soll im Folgenden näher beleuchtet werden, wie die Konfliktlinien tatsächlich verlaufen und welche Koalitionen sich in der Realität der Online-Foren bilden.

…und Koalitionen Die empirische Analyse der Online-Diskussionen und der mit Forennutzern geführten Interviews ergibt hinsichtlich dieser Frage Aufschlussreiches: Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen gibt es in den Foren eher wenige. Die beiden anderen Konfliktlinien, die genauso über die Grenzen der »Hausreligion« oder -konfession hinausgehen, lassen sich dagegen schon besser nachzeichnen, was sich vermutlich auch mit der zahlenmäßigen Verteilung der Nutzergruppen erklären lässt (so scheinen beispielsweise deutlich mehr atheistische oder säkulare Nutzer die religionsbezogenen Foren zu

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nutzen als Angehörige anderer religiöser Traditionen). Bei genauerer Betrachtung aber offenbart sich noch eine Erzählung, die alle drei potentiellen Konfliktlinien überstrahlt: Diese lässt sich unter der Dichotomie von liberal und konservativ zusammenfassen. Das folgende Zitat eignet sich als Ausgangspunkt für die Entfaltung einzelner Bestandteile dieser Leitunterscheidung: […] kleinliche Fragen der Interpretation, da kann ich nur den Kopf schütteln sozusagen, //ja// weil äh Gott und der Glaube- […] wenn Gott so ein Kleinlichkeitskrämer wäre, wie manche offenbar vermuten, […] dann äh- das ist kein Gott für mich bitte… […] aber gut, das sind einige SEHR super-traditionalistische, wo ich nur nicht begreife, wie man leben kann, wenn man dieser Meinung ist. //mhm// Weil äh – [seufzt] da kann ich mich gleich umbringen…wenn ich der Überzeugung bin, dass das- und also jetzt auf solche kleine Einzelheiten, bin ich auch gar nicht imstande danach zu leben und wenn jede(s sowas dann) gleich eine schwere Sünde ist, also gut… //mhm// Hab meinen Volkschulunterricht, Erstkommunionsunterricht also noch vorkonziliar gehabt, weil ich bin jetzt 60, aber SO war der bei uns nicht. […] Ähh – gut ich, ich – ich akzeptiere, dass ihnen diese Dinge wichtig sind und dass sie das offenbar GLAUBEN, aber ich finds nicht mehr richtig, wenn man sozusagen mit meinem Glauben alle anderen dann gleich verurteilt. (Ilona)

Wenn man die untergeordneten Unterscheidungen, wie sie sich im Interviewausschnitt entfalten, einmal nachvollzieht, entfaltet sich ein größeres Bild – eines, das auf Narrative wie kleinlich, traditionalistisch, nicht lebbar, verurteilend, intolerant zurückgreift. Die impliziten Gegenstücke dazu wären also großzügig oder locker, modern, lebenskompatibel, liberal und tolerant. Im Kern findet an dieser Stelle (ebenso wie an anderen) also eine Selbstcharakterisierung als moderne(r), liberale(r) und tolerante(r) Gläubige(r) statt, und damit die Abgrenzung zu den strengen Traditionalisten als »den Anderen«. Ein wichtiger Unterpunkt dieser Dichotomie ist offenbar die »Alltagstauglichkeit« des Glaubens, die für viele Befragte eine zentrale Strategie der Abgrenzung darstellt.18 Diese Unterscheidungen strukturieren dabei nicht nur die Nutzerschaften innerhalb der Foren, sondern gehen auch in ihrer Tragfähigkeit darüber hinaus – etwa im Bezug auf die gesamte deutschsprachige Forenlandschaft:

18 Das heißt natürlich nicht, dass der strenge Glaube, der den anderen zugeschrieben wird, das nicht oder weniger sei – als Element einer größeren Konfliktlinie von liberal versus konservativ aber scheint dieses Narrativ sehr brauchbar zu sein, denn es ermöglicht die Bekräftigung, dass man am »normalen« Leben, am Leben der Mehrheitsgesellschaft teilhabe und religiöse Überzeugungen dem nicht im Wege stehen (müssen).

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[…] also ich glaub, dass da wirklich jetzt im deutschsprachigen Raum [Forumsname, A.N.] das einzige Forum ist, das da so jetzt eigentlich LIBERAL eingestellt ist. Also auch von den Leuten, die da halt posten, ähm hat- na gut, das ist jetzt alles subjektiv, aber aus meiner Sicht jetzt, ähm hat n sehr großer Anteil völlig normale, lebenstaugliche Meinungen, die jetzt äh – wirklich auch vernünftig sind, und jetzt nicht irgendwie in diesen Bereich gehen »wir haben das halt für uns gepachtet und die anderen sind«- NE? (Sarah)

Auch hier finden sich wieder die Unterscheidungen von liberal, normal, lebenstauglich und vernünftig auf der einen Seite, dogmatisch und fundamentalistisch auf der anderen. Andere Zitate legen aber auch weitergehend nahe, dass das Narrativ noch darüber hinaus geht, und etwa auch grundsätzlich Konfessionsgrenzen überschreitet, indem es eine »gemäßigte Mitte« verschiedener Traditionen »den Konservativen« gegenüberstellt, die dann beispielsweise sowohl evangelikal-freikirchliche als auch traditionelle katholische Gruppen umfassen. Und in einem letzten Schritt kann unter Verwendung dieses Narrativs auch die Grenze zwischen Religiösen und Atheisten aufgelöst werden, und der Gegensatz von gläubig und nichtgläubig zugunsten der beschriebenen Unterscheidung von liberal und konservativ zurücktreten: […] der eine dann, was weiß ich, Meditation sagt, und der andere sagt Gebet, das ist dann nicht so der große Unterschied. Da wo die großen Unterschiede sind, das ist da wo die Hardliner dann reinkommen, Fundamentalisten jeglicher Richtung, die es ja nun bei evangelischen, katholischen und atheistischen äh äh Glaubensrichtungen ja auch gibt […] das ist, ist meine Überzeugung, dass es SINNVOLL ist und richtig ist, wenn sich Menschen, die [3] für Ausgleich stehen, und für, ähm, Religionsfreiheit stehen und für Menschenrechte stehen, und äh, für – sich für die Dritte Welt einsetzen, zum Beispiel, wenn die sich über Konfessionsgrenzen, über solche Grenzen hinweg zusammenfinden. Und sehr oft merkt man dann, dass man, wenn man da Gemeinsamkeiten hat, plötzlich ganz andere-, Gräben ganz anders laufen. Dass man dann halt die, die Fundamentalisten jeder Sorte gegen sich hat. (Herbert)

Hier findet man also zum Einen noch einmal die Abgrenzung gegenüber »den Anderen«, die als Hardliner und Fundamentalisten benannt werden. Gleichzeitig wird ganz explizit eine neue Koalition benannt, die sich als Gegenstück dazu formiere: Diejenigen, deren vordringlichsten Werte Religionsfreiheit und Menschenrechte seien – unabhängig davon, ob sie nun religiös oder nichtreligiös sind oder unterschiedlichen Konfessionen angehören. Diese »Koalition der Toleranten« ist also für viele Forennutzer, aus welchem religiösen oder weltanschaulichen Lager sie auch kommen, wichtiges Identitätsmerkmal:

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Dass es sinnvoll ist – ich war heute Morgen auf ’ner Fahrraddemo gegen Rechts, die von ’ner evangelischen äh Gemeinde veranstaltet wurde, organisiert wurde und äh, äh, wo ich also, äh, gemeinsam mit ’nem evangelischem Pfarrer, äh, äh da in der ersten Reihe stand. Also, das ist für mich völlig klar, das ist der Platz, wo ich dann hingehöre. (Herbert)

Wie eine Folie liegt diese Grundeinstellung und Selbsterzählung über den anderen Einstellungen, und stellt dann auch die Maßgaben dar, anhand derer man sich selbst zugehörig fühlt.19 Eine letzte Konstruktion von Koalitionen und Konfliktlinien, die über übliche religiöse Grenzen hinausgeht und sich im Material gut aufzeigen lässt, ist die der Gruppe gebildeter, reflektierter Religiöser im Unterschied zu den »simplen« oder »unreflektierten« Religiösen.20 Diese Differenz ist mit der Konfliktlinie aus liberal und konservativ oft, aber längst nicht immer deckungsgleich: Ich bin eigentlich ähm äh würd ich mich schon als als eher sehr religiös bezeichnen, was jetzt nich heißt, dass man- also äh grad das [Titel eigener Publikation] is zum Beispiel auch so was, weil ich mich einfach über bestimmte Dinge in der Öffentlichkeit geärgert hab //mhm// und das Ziel war eigentlich eher den, den Mitgläubigen zu zeigen, dass man durchaus ein aufgeklärter, denkender und trotzdem frommer Katholik sein kann, das ist kein Widerspruch für mich. (Markus)

In diesem Fall würde der betreffende Nutzer sich im Zweifelsfall sogar als konservativ oder traditionell bezeichnen – und vielleicht rührt gerade daher die Erarbeitung dieser neuen Abgrenzung: Er ist zwar traditionell und nicht locker, konservativ und nicht liberal, aber mittels der explizit eingeforderten Reflexionsfähigkeit nimmt er trotzdem für sich in Anspruch, ein »aufgeklärter Frommer« zu sein. Als letzte Bastion der Othering-Strategien greift also der Verweis auf die mangelnde Kompetenz anderer Nutzer, ganz unabhängig von religiösen Ansichten und damit der Verortung zwischen konservativ und liberal eben diese 19 Insbesondere die atheistischen Nutzer religiöser Foren hätten eine Vielzahl spezifisch atheistischer Foren zur Auswahl – von diesen grenzen sie sich aber auch oft als zu dogmatisch und damit nicht koalitionsfähig in ihren Sinne ab. Auch diese werden also in der Narration dem Lager der weltanschaulichen »Fundamentalisten« zugeordnet. Dies macht noch einmal deutlich, dass nicht nur die Koalition der Liberalen, sondern auch die der Konservativen oder Fundamentalisten über die Grenzen eines Religionsbezugs hinausgeht. 20 Hierzu muss angefügt werden, dass der Bildungsstand unter den Forennutzern insgesamt auffällig hoch ist. Dies legt nicht nur eine statistische Erhebung unter den Nutzern der deutschsprachigen christlichen Foren nahe, nach der immerhin 6 Prozent der Umfrageteilnehmer/-innen eine Promotion vorweisen können, 40 Prozent einen (Fach-)Hochschulabschluss und weitere 20 Prozent Abitur als höchsten Abschluss – selbst wenn man hier methodische Vorbehalte aufgrund des angewandten Verfahrens der Selbstselektion geltend macht, zeigt sich auch in den Forendiskussionen selbst an vielen Stellen ein außergewöhnliches Diskussionsniveau (etwa bei der Auseinandersetzung um religionshistorische, kirchenrechtlich oder theologisch-exegetische Fragestellungen).

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Ansichten zu reflektieren. Diese Strategie ermöglicht dann auch – im Gegensatz zur anderen beschriebenen Abgrenzungserzählung – eine Koalition mit den »streng Gläubigen« jeglicher Richtung einzugehen. Man kann damit festhalten: Einerseits besitzen Online-Foren durchaus sowohl das Potential zur Bildung religiöser Gemeinschaften, von denen integrative Wirkung nach innen ausgehen kann, als auch lassen sich dort ausgeprägte Konfliktlinien rund um das Thema Religion auffinden. Andererseits entsprechen diese aber nicht den erwarteten Konfliktlinien, sondern führen zu veränderten Koalitionen: Religiöse Dogmen und theologische Differenzen sind hier vielfach weniger ausschlaggebend als solche Dichotomien, die sich auf den Grad der Religiosität beziehungsweise deren kritischer Reflexion durch die Nutzer beziehen.

Die andere Seite des Konflikts Neben dieser Herausarbeitung von zentralen Koalitionen und dazugehörigen Konfliktlinien, die jenseits üblicher Abgrenzungen verschiedener religiöser oder konfessioneller Traditionen verlaufen, soll an dieser Stelle zudem ein weiterer Blick auf den Sachverhalt geworfen werden: Wie wird in den untersuchten Online-Communities mit den existierenden Konflikten umgegangen und welche Strategien werden gefunden, sie möglicherweise sogar einzuhegen oder produktiv umzunutzen? Ausgehend von meinem Material kann von drei Arten der narrativen Fassung der Konflikte im Rahmen der Foren gesprochen werden. Die erste ist die Beschreibung des Konfliktes als pure Bedrohung für eine (Online-)Gemeinschaft: Viele Nutzer nehmen die Konflikte in den Gemeinschaften als sehr störend wahr, bis hin zu der Konsequenz, dass sie deshalb die Foren auch vorübergehend oder langfristig wieder verlassen: Entweder, weil die Einstellungen der Anderen sich so sehr von den eigenen unterscheiden, dass sie dies erschreckt und zudem zu tiefgreifenden inhaltlichen Auseinandersetzungen über religiöse Fragen führt und/oder auch, weil sie sich im Zusammenhang damit in ihrer persönlichen Lebensführung individuell angegriffen fühlen.21 Die zweite Fassung begreift den Konflikt als ein notwendiges Übel, die Gemeinschaft innerhalb der Foren aber als stärker : Auch in diesem Fall wird der Konflikt negativ beschrieben, aber narrativ so eingehegt, dass er als 21 So erzählt beispielsweise eine alleinerziehende Mutter, dass sie in der Online-Diskussion mit angeknabberten Äpfeln oder Autos mit Dellen verglichen wurde, was bei ihr zu einer längeren Abstinenz vom Forum führte.

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minder relevantes, gemeinschaftsinternes Übel begriffen wird. Narrative Strategien vergleichen die Gesamtheit der Forennutzer dann etwa mit einer Familie, in der man sich »mal zoffe«, aber der grundsätzliche Zusammenhalt dies überdauere Und es gibt halt auch die Contra-Meinungen, und viele gehen damit sehr gut um, find ich persönlich. //ja// Dass man sich mal zofft, ja, ok, äh, ich mein ich hab ne Familie, also, das is (wie) zwischen Geschwistern. (Cornelia)

oder verweisen darauf, dass man sich intern zwar streite, gegen Angreifer von außen aber zusammenhalte: […] das find ich dann auch ne äh, ganz ähm nette Sache eigentlich, dass man selbst merkt, wenn jetzt zwei, die eigentlich völlige verschiedene Positionen haben, und sich eigentlich gar nicht miteinander auch manchmal können, wenn dann n Neuer kommt und jemand von den beiden direkt doof ANMACHT und so auf ner grundsätzlichen Ebene […] wo man dann merkt, dass halt die User, die sich eigentlich sich die Köppe einschlagen, dann trotzdem auch MAL SO […] nach dem Motto: »Ich darf das zwar, ich darf [lacht], ich darf den doof anmachen, aber wenn da jetzt von außen jemand reinkommt, der sich das sofort rausnimmt, dann halten wir irgendwie doch zusammen!« (Sarah)

In diesem Fall sind die Außengrenzen der Forengemeinschaft demnach die stärkeren und werden vom Konflikt nicht infrage gestellt, vielmehr überdauert die Online-Gemeinschaft – etwa aufgrund der langen gemeinsamen Geschichte. Auch individuelle Beziehungen einzelner Nutzer zueinander beziehungsweise das daraus entstehende Netzwerk an Beziehungen innerhalb des Forums können hierfür ausschlaggebend sein, denn dies hat zur Folge, dass man andere Mitglieder auch als Person schätzt oder zumindest respektiert, und zwar unabhängig von ihren religiösen oder vielleicht auch nur weltanschaulichen Einstellungen, etwa für ihre grundsätzliche Hilfsbereitschaft oder ihren Humor. Die dritte narrative Strategie beschreibt den Konflikt schließlich in keiner Weise negativ : Dieser ist dann keine Gefahr für die Gemeinschaft, er erschafft sie vielmehr. Diese Strategie hängt eng mit der Gruppe derjenigen zusammen, die die Konfliktlinie von aufgeklärten und reflektierten zu unreflektierten und simplen Gläubigen und/oder Forennutzern ziehen, und für die ein essentieller Bestandteil der Selbstbeschreibung darstellt, dass sie in der Lage sind, auf hohem logischen, philosophischen oder theologischen Niveau über die eigenen Ansichten zu debattieren. Für diese Gruppe stellt der Konflikt beziehungsweise die Lust daran oft schon den Grund zum Einstieg dar :

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[…] dann bin ich an dem Forum dann mal hängen geblieben und zwar weil ich mich über irgendein Beitrag total geärgert hab. […] und darauf hab ich dann reagiert. Und dann hab ich mich angemeldet, hab dann darauf was geschrieben, dann hab ich erst mal gleich Prügel eingesteckt von irgendwelchen Leuten und da ich nich, nich so ganz so sofort auf der Stelle klein beigeb und immer sehr- sagen wir mal so [lacht] mit gewissem Rückgrat meine Meinung vertrete, hab ich mich davon eben nich einschüchtern lassen, sondern hab seitdem mitgemacht. (Markus)

Die – verbal auch sehr klare – Diskussion wird dann zum als spielerisch wahrgenommenen Schlagabtausch. Man schätzt nicht nur die Mitdiskutanden trotz der differierenden Meinungen, sondern respektiert sie gerade für die kompetente Beteiligung an der intellektuellen Auseinandersetzung daran: Da hab ich dann so ein paar, paar Dauerbrenner, die- mit denen man dann auch spielen kann, weil man weiß, dass es da Kontrahenten gibt, die sofort drauf anspringen. Das ist dann mehr so ne, so ne Unterhaltung. Das mach ich dann mal zwischen zwei Mandantengesprächen. […] Es gibt sozusagen auch- inzwischen hab ich viele Leute persönlich kennengelernt übers Internet, also über das Forum auch hier. Das ist ein ein großer- würd ich als Gewinn bezeichnen, weil diese Leute hätte ich sonst im wirklichen Leben ähm sicher nicht getroffen. […] streiten ist zu hart. Ich würd vielleicht äh so wie man sonst früher vielleicht Schach gespielt hätte mit jemanden, ne? (Markus)

Darüber hinaus kann die offene Austragung der Konflikte die Online-Gemeinschaften nicht nur erst erschaffen, sondern auch weiterhin stärken, indem sie so etwas wie eine Hierarchie herstellt, die einerseits die Gruppe in gewisser Weise zu festigen vermag und andererseits in sich einzelne Meinungsführer herausbildet, die wiederum die gesamte Gemeinschaft an ihren Außengrenzen verteidigen können. Zeigte sich im vorigen Abschnitt also, wie sich gegensätzlich zu naheliegenden Hypothesen neue Konfliktlinien und Koalitionen herausbilden, die jenseits von religiösen und konfessionellen Grenzen verlaufen, lässt sich dem nun darüber hinaus auch eine gesamte Umdeutung von Konflikt als negativem Ereignis im Rahmen sozialer Interaktion zu einer erwünschten Form des Austausches und sogar einem konstituierenden Moment religiöser Gemeinschaften hinzufügen. Die betreffenden Nutzer beschreiben zudem nicht nur gleichsam »religiöse Konfliktgemeinschaften«, sondern auch, dass ihnen gerade die Gelegenheit zum Austragen solcher Konflikte jenseits des Internets fehlt. Angesichts der sozialen Konstellationen in Kirchengemeinde oder Freundeskreis drängt sich die Hypothese auf, dass vielleicht gerade das Internet mit seinen medialen Charakteristika diese Form der Auseinandersetzung erleichtert: Zum Einen sind gerade Diskussionsforen technisch und in ihren weiteren Bedingungen (etwa die oben beschriebenen Hausregeln und normierte Sanktionsverfahren) für das Austragen von Meinungsverschiedenheiten optimiert. Zum Anderen erweist sich möglicherweise auch der Umstand, dass man sich nicht persönlich kennt – der für das Entstehen von Gemeinschaft gemeinhin als nachteilhaft betrachtet

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wird – hier als Vorteil, indem er ein sachbezogeneres Austragen von Konflikten ermöglicht.

Fazit Unter Rückbezug auf die Skizzierung üblicher Verständnisse von Religion als Integrations- und Konfliktfaktor sind nun zwei Perspektiven entwickelt worden: Einerseits die neuer Koalitionen und Differenzen im Konflikt, andererseits die einer neuen Wertung von Konflikt. Online-Diskussionsforen waren in diesem Fall das Feld, das als Mikrokosmos mit besonderen Voraussetzungen die Grundlage ebenso wie das Material für die Entwicklung dieser Thesen geboten hat. Die Frage drängt sich auf, ob die ausgeführten Analysen sich auch über das Feld hinaus von einer materialen zu einer formalen Theorie entwickeln lassen. Die Arbeit an dieser Frage muss an anderer Stelle geleistet werden, ausgehend von den vorliegenden empirischen Erkenntnissen sollen aber noch einige Überlegungen in den Raum gestellt werden: Zusammengenommen lassen sich unter den Forennutzern demnach drei Umgangsweisen mit Konflikt und Koalitionsbildung festhalten: Bei Nutzern, die in religiösen Foren vor allem eine Wertegemeinschaft suchen, in der man die gleichen Ansichten teilt und sich vorrangig gegenseitig unterstützt, führt Konflikt zum Abbruch oder zeitweisen Ausstieg aus der Online-Beteiligung. Von den Nutzern, die einen vornehmlich harmonischen Austausch über Religion suchen und das Forum mit einer Familie vergleichen, wird der Konflikt nicht geschätzt, aber akzeptiert, und es werden vornehmlich die Außengrenzen des Forums betont. Diejenigen unter den Nutzern, für deren Selbstverständnis die intellektuelle oder kritische Auseinandersetzung mit Religion oder religiösen Institutionen zentral ist, schätzen den Konflikt als intelligenten Zeitvertreib sowie als Schulung der eigenen Argumentationsfähigkeit und er führt bei ihnen zu einem intensiveren Online-Engagement. Diese drei (Ideal-)Typen lassen sich im Zweifelsfall ausgehend von ihren Bedürfnissen hinsichtlich und Ansprüchen in Bezug auf Religion und religiöse Angebote verallgemeinern. In diesem Zusammenhang ist dann aber die häufige Äußerung der dritten Gruppe, die Online-Foren als einzig möglichen Ort für die konfliktbehaftete Auseinandersetzung mit (auch der eigenen Religion) zu nutzen, ernst zu nehmen. Auseinandersetzungen entstehen also nicht nur dort, wo konträre Dogmen aufeinandertreffen, und auch nicht nur dort, wo sich verschiedene Weltanschauungen begegnen, sondern werden auch schon gezielt gesucht, sobald Religion und eigene Religiosität als Feld eigenverantwortlicher Auseinandersetzung begriffen wird. Insbesondere für diese Fälle kann man möglicherweise sogar sagen, dass Online-Foren und Offline-Gemeinden hier eine gute Arbeitsteilung gefunden haben.

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Legende der Interviewtranskription (Auszug) BeispielBeispiel… Beispiel [3] Beispiel BEISPIEL [Beispiel] (Beispiel)

Bricht Aussage ab (z. B. um neu anzusetzen) Pause, Stimme senkt sich (auslaufendes Ende) Pause, Länge 3 Sekunden (für Pausen ab 3 Sekunden) betontes Wort (wie es in normalen Sätzen ab und an vorkommt) stark betontes Wort (Wörter, die explizit vom Sprecher hervorgehoben werden) Sonstige Lautäußerung des/der Interviewten, zB [lacht], [seufzt] nicht ganz eindeutig zu verstehende Textteile

232 //Beispiel// Einwurf des/der Gesprächspartner/-in […] hier : gekürzte Stelle

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

David Atwood (M.A.) hat Religionswissenschaft, Geschichte und Wissenschaftsforschung in Basel, Zürich und Paris studiert. Zurzeit arbeitet er als Assistent für Religionswissenschaft an der Universität Basel. Sein Promotionsprojekt im Bereich der Fachgeschichte wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen neben der Fachgeschichte und der theoriebezogenen Arbeit auch die Religionsgeschichte Afrikas. Kirsten Bröcker (M.A.) hat Religionswissenschaft und Mittlere und Neuere Geschichte studiert. Sie ist Mitglied der Graduiertenklasse »Säkularitäten: Konfigurationen und Entwicklungspfade« der Universität Leipzig und schreibt derzeit ihre Dissertation zur Geschichte des Kirchenaustritts. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen religiöser Nonkonformismus seit der frühen Neuzeit sowie Kirchengeschichte des 19. und 20 Jahrhunderts. Julia Dippel (M.A.) hat Religionswissenschaft, Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Völkerkunde und Archäologie studiert. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Religionswissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Neopaganismus und Formen individualisierter Religiosität in Deutschland, Repräsentation von Religionen in den sogenannten Neuen Medien sowie Gender- und queerorientierte Religionsforschung. Dagmar Fügmann (Dr.) ist Religionswissenschaftlerin an der Philosophischen Fakultät II der Julius-Maximilians-Universität. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Theorie und Methode der Religionswissenschaft, Gender und Religion, Geschichte der Religionswissenschaft, Islam, neue Religionen und religiöse Bewegungen und Kulturanthropologie.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Steffen Führding (M.A.) hat in Hannover Religionswissenschaft, Geschichte und Politik studiert. Zurzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Fachgeschichte der Religionswissenschaft sowie Theorie- und Methodenfragen. Sarah J. Jahn (M.A.) hat Religionswissenschaft, Soziologie und Philosophie studiert. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Beziehung von Religion und Recht, die Strafvollzugsforschung sowie Methoden und Methodologien in der Religionsund Sozialforschung. Veronika Lutz (M.A.) hat an der Universität Bayreuth im Bachelorstudiengang »Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Religion« studiert und an der Leibniz Universität Hannover den M.A. im Studiengang »Religion im kulturellen Kontext« erworben. Zurzeit promoviert sie am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern zu muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz und in Österreich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Muslime in Europa sowie Religion und Öffentlichkeit. Astrid Mattes (MMag.a) hat Religionswissenschaft und Politikwissenschaft studiert. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen politische Dimensionen von Religion, Religion im Kontext von Migration, sowie Governance religiöser Diversität in Europa. Anna Neumaier (M.A.) hat Kultur-, Religions- und Musikwissenschaft an den Universitäten Bremen und Leipzig studiert und mit einer Arbeit zu apokalyptischen Narrativen im Nationalsozialismus graduiert. Derzeit lehrt und forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Dissertation befasst sich mit Transformationen des Religiösen in der Gegenwart am Beispiel religiöser Online-Nutzung. Weitere Arbeitsfelder sind qualitative Religionsforschung sowie deren didaktische Vermittlung. Ronald Pokoyski (M.A.) hat Religionswissenschaft und Geschichte studiert. Zurzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der religiöse Fundamentalismus, Naturwissenschaft und Religion sowie Religion und Gesundheit.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Sebastian Rimestad (Dr.) hat Politik- und Religionswissenschaft in Aberdeen, Tartu und Erfurt studiert und ist 2011 an der Universität Erfurt in der Religionswissenschaft promoviert worden. Dort arbeitet er derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit den Schwerpunkten Religion und Moderne, Orthodoxes Christentum und Nation – Identität – Religion. Anna-Konstanze Schröder, Diplom-Psychologin und Religionswissenschaftlerin, hat in Leipzig und Heidelberg studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Religionspsychologie (Konversion, Cognitive Science of Religion, Charisma) und christliche Erneuerungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Christina Wöstemeyer (M.A.) hat Religionswissenschaft, Kultur- und Erziehungswissenschaft in Marburg und Bayreuth studiert. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Sie beschäftigt sich mit der Erforschung religionsbezogener Bildungsprozesse sowie mit religiöser Gegenwartskultur in Deutschland.