Kompendium Wirtschaftsprivatrecht (Springer-Lehrbuch) (German Edition) 3662628716, 9783662628713

Dieses Buch vermittelt die Grundlagen des Wirtschaftsprivatrechts klar strukturiert, kompakt, praxisbezogen und fallorie

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Teil I: Bürgerliches Recht
1: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht
1.1 Das Bürgerliche Recht als Bestandteil des Wirtschaftsrechts
1.2 Bürgerliches Recht
1.3 Das Bürgerliche Gesetzbuch
1.3.1 Entstehung und Entwicklung
1.3.2 Grundlagen
1.3.2.1 Privatautonomie
1.3.2.2 Abstraktionsprinzip
1.3.3 Aufbau und Gliederung des BGB
1.4 Rechtsgeschäft
1.5 Willenserklärung
1.5.1 Bestandteile der Willenserklärung
1.5.2 Wirksamwerden von Willenserklärungen
1.6 Vertrag
1.6.1 Begriff des Vertrages
1.6.2 Abschluss von Verträgen
1.6.2.1 Vertragsangebote und ihre Annahme
1.6.2.1.1 Angebot
1.6.2.1.2 Annahme
1.6.2.1.3 Einigung
1.6.2.2 Vertragsschluss unter Einbeziehung von AGB
1.6.2.3 Schweigen im Rahmen des Vertragsschlusses
1.6.2.4 Form des Vertragsschlusses
1.6.2.5 Stellvertretung
1.6.2.5.1 Zulässigkeit der Stellvertretung
1.6.2.5.2 Abgabe einer eigenen Willenserklärung
1.6.2.5.3 Offenkundigkeit
1.6.2.5.4 Vertretungsmacht
1.6.2.5.5 Rechtsfolgen der Stellvertretung
1.6.2.6 Vertragsschluss im elektronischen Geschäftsverkehr
1.6.3 Unwirksame oder nichtige Verträge
1.6.3.1 Unwirksamkeit aufgrund eines Mangels in der Geschäftsfähigkeit
1.6.3.2 Unwirksamkeit aufgrund des bewussten Abweichens von Wille und Erklärung
1.6.3.3 Unwirksamkeit aufgrund des unbewussten Abweichens von Wille und Erklärung
1.6.3.3.1 Zulässigkeit der Anfechtung
1.6.3.3.2 Vorliegen eines Anfechtungsgrundes
1.6.3.3.3 Anfechtungserklärung
1.6.3.3.4 Anfechtungsfrist
1.6.3.3.5 Rechtsfolgen der Anfechtung
1.6.3.4 Unwirksamkeit aufgrund eines Formmangels
1.6.3.5 Unwirksamkeit aufgrund von Gesetzesverstoß, Sittenwidrigkeit und Wucher
1.6.4 Bedingung, Befristung, Termine und Fristen
1.6.5 Leistungsstörungen
1.6.5.1 Pflichten des Schuldners
1.6.5.2 Unmöglichkeit
1.6.5.3 Pflichtverletzung
1.6.5.4 Verzug
1.6.5.4.1 Schuldnerverzug
1.6.5.4.2 Gläubigerverzug
1.6.5.5 Exkurs: Rechtsfolge „Schadensersatz“
1.6.6 Erlöschen und Modifikation der Leistungspflicht
1.6.6.1 Erfüllung
1.6.6.2 Aufhebungsvertrag
1.6.6.3 Erlass und negatives Schuldanerkenntnis
1.6.6.4 Aufrechnung
1.6.6.5 Kündigung
1.6.6.6 Rücktritt
1.6.6.7 Widerruf
1.6.6.8 Störung der Geschäftsgrundlage
1.6.6.9 Zusammenfassung
1.6.7 Beteiligung Dritter am Vertrag
1.6.7.1 Abtretung
1.6.7.2 Schuldübernahme und Schuldbeitritt
1.6.7.3 Mehrheit von Gläubigern und Schuldnern
1.6.7.3.1 Gläubigermehrheit
1.6.7.3.2 Schuldnermehrheit
1.6.7.4 Vertrag zugunsten Dritter
1.6.8 Verjährung und Verwirkung
1.7 Lösungen zu den Fragen: Allgemeiner Teil des BGB und allgemeines Schuldrecht
2: Besonderes Schuldrecht
2.1 Kaufvertrag
2.1.1 Zustandekommen und Inhalt des Kaufvertrages
2.1.2 Pflichten der Vertragsparteien
2.1.2.1 Verkäufer
2.1.2.2 Käufer
2.1.3 Gefahrtragung bei Untergang der Kaufsache
2.1.4 Mängelhaftung des Verkäufers
2.1.4.1 Voraussetzungen der Mängelhaftung
2.1.4.2 Die Rechte des Käufers im Rahmen der Mängelhaftung
2.1.4.3 Exkurs: Garantie
2.1.5 Verbrauchsgüterkauf
2.1.6 Verbraucherverträge über Waren mit digitalen Elementen
2.1.7 Sonderformen des Kaufvertrages
2.2 Werkvertrag
2.2.1 Zustandekommen und Inhalt des Werkvertrages
2.2.2 Pflichten der Vertragsparteien
2.2.2.1 Werkunternehmer
2.2.2.2 Besteller
2.2.3 Gefahrtragung bei Untergang des Werkes
2.2.4 Mängelhaftung des Unternehmers
2.2.5 Sicherungsrechte des Unternehmers
2.2.6 Regelungen für Bauverträge
2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick
2.3.1 Tausch
2.3.2 Schenkung
2.3.3 Mietvertrag
2.3.4 Pacht
2.3.5 Leihe
2.3.6 Auftrag
2.3.7 Geschäftsbesorgungsvertrag
2.3.7.1 Allgemeiner Geschäftsbesorgungsvertrag
2.3.7.2 Zahlungsdienste als Sonderform
2.3.8 Verwahrung
2.3.9 Maklervertrag
2.3.10 Dienstvertrag
2.3.11 Verträge über digitale Produkte
2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte
2.4.1 Teilzahlungskauf
2.4.2 Finanzierter (Abzahlungs-)Kauf
2.4.3 Leasingvertrag
2.4.3.1 Operating-Leasing
2.4.3.2 Finanzierungs-Leasing
2.4.4 Factoringvertrag
2.4.5 Darlehensvertrag
2.4.5.1 Gelddarlehen
2.4.5.2 Verbraucherdarlehen
2.4.5.3 Sachdarlehen
2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte
2.5.1 Eigentumsvorbehalt
2.5.2 Sicherungseigentum
2.5.3 Sicherungsabtretung
2.5.4 Pfandrechte
2.5.5 Bürgschaft
2.5.6 Garantie
2.5.7 Zurückbehaltungsrecht
2.6 Lösungen zu den Fragen: Besonderes Schuldrecht
3: Gesetzliche Schuldverhältnisse
3.1 Geschäftsführung ohne Auftrag
3.1.1 Berechtigte GoA
3.1.2 Unberechtigte GoA
3.1.3 Unechte Geschäftsführung (Eigengeschäft und Geschäftsanmaßung)
3.2 Ungerechtfertigte Bereicherung
3.2.1 Leistungskondiktion
3.2.2 Nichtleistungskondiktion
3.2.3 Sonderfälle der ungerechtfertigten Bereicherung
3.2.3.1 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 1 S. 1 BGB
3.2.3.2 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 1 S. 2 BGB
3.2.3.3 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 2 BGB
3.2.3.4 Nichtleistungskondiktion gemäß § 822 BGB
3.3 Unerlaubte Handlung
3.3.1 Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 1 BGB
3.3.2 Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 2 BGB
3.3.3 Ausgewählte Einzeltatbestände unerlaubter Handlung
3.3.3.1 Eingriffe in das Unternehmen
3.3.3.2 Grundstücks- und Gebäudehaftung
3.3.3.3 Kreditgefährdung
3.3.3.4 Vorsätzliche sittenwidrige Schädigung
3.3.3.5 Haftung für den Verrichtungsgehilfen (Geschäftsherrnhaftung)
3.4 Lösungen zu den Fragen: Gesetzliche Schuldverhältnisse
4: Grundzüge des Sachenrechts
4.1 Eigentum und Besitz
4.2 Bewegliche Sachen
4.2.1 Eigentumsübertragung durch Rechtsgeschäft
4.2.2 Eigentumserwerb durch Gesetz
4.3 Unbewegliche Sachen (Grundstücke)
4.3.1 Allgemeines
4.3.2 Grundbuch
4.3.3 Erwerb und Veräußerung
4.4 Belastungen
4.4.1 Grundpfandrechte
4.4.1.1 Hypothek
4.4.1.2 Grundschuld
4.4.1.3 Rentenschuld
4.4.2 Dienstbarkeiten
4.4.3 Erbbaurecht
4.4.4 Vorkaufsrecht
4.4.5 Reallast
4.4.6 Altenteil
4.5 Eigentumsschutz
4.5.1 Herausgabeanspruch
4.5.2 Abwehranspruch: Beseitigung und/oder Unterlassung
4.5.3 Schadensersatzanspruch
4.6 Eigentümer-Besitzer-Verhältnis
4.7 Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Sachenrechts
Teil II: Handels- & Gesellschaftsrecht
5: Handelsrecht
5.1 Handelsrecht als Sonderprivatrecht der Kaufleute
5.2 Kaufmannsbegriff
5.3 Handelsregister
5.4 Firma
5.4.1 Begriff und Grundsätze
5.4.2 Firmenschutz
5.4.3 Haftung bei Inhaberwechsel
5.4.3.1 Inhaberwechsel unter Lebenden (§ 25 Abs. 1 und 2 HGB)
5.4.3.2 Inhaberwechsel von Todes wegen (§ 27 HGB)
5.4.3.3 Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB)
5.5 Hilfspersonen des Kaufmanns
5.5.1 Unselbständige Hilfspersonen (Vertretung des Kaufmanns)
5.5.1.1 Prokura
5.5.1.2 Handlungsvollmacht
5.5.1.3 Ladenvollmacht
5.5.2 Selbständige Hilfspersonen
5.5.2.1 Handelsvertreter
5.5.2.2 Kommissionär
5.5.2.3 Handelsmakler
5.5.2.4 Kommissionsagent
5.5.2.5 Vertragshändler
5.5.2.6 Franchisenehmer
5.6 Handelsgeschäfte
5.6.1 Allgemeine Regeln
5.6.1.1 Handelsbräuche und Handelsklauseln
5.6.1.2 Kaufmännische Sorgfaltspflichten
5.6.1.3 Zustandekommen von Handelsgeschäften
5.6.1.3.1 Kaufmännisches Bestätigungsschreiben
5.6.1.3.2 Schweigen auf ein Geschäftsbesorgungsangebot
5.6.1.3.3 Formerleichterungen
5.6.1.4 Grundsatz der Entgeltlichkeit und Zinsanspruch
5.6.1.5 Leistungserbringung
5.6.1.6 Kontokorrent
5.6.1.7 Eigentums- und Pfandrechtserwerb
5.6.1.8 Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht
5.6.2 Handelskauf
5.6.2.1 Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf
5.6.2.2 Spezifikationskauf
5.6.2.3 Fixhandelskauf
5.6.2.4 Untersuchungs- und Rügepflicht
5.6.3 Sonstige Handelsgeschäfte
5.6.3.1 Frachtgeschäft
5.6.3.2 Speditionsgeschäft
5.6.3.3 Lagergeschäft
5.7 Die kaufmännischen Orderpapiere
5.8 Internationaler Handelsverkehr
5.8.1 UN-Kaufrecht
5.8.1.1 Anwendungsbereich
5.8.1.2 Regelungsbereich
5.8.1.3 Lückenfüllung (Art. 7 Abs. 2 CISG)
5.8.1.4 Form
5.8.1.5 Vertragsschluss (Art. 14–24 CISG)
5.8.1.6 Pflichten und Rechtsbehelfe der Vertragsparteien
5.8.1.6.1 Pflichten des Verkäufers
Lieferpflicht (§§ 31 ff. CISG)
Vertragsgemäßheit der Ware (§§ 35 ff. CISG)
5.8.1.6.2 Übergabe der Dokumente (§ 34 CISG)
5.8.1.7 Rechtsbehelfe des Käufers
5.8.1.7.1 Pflichten des Käufers
Zahlung des Kaufpreises (§§ 54 ff. CISG)
Abnahme der Ware (§ 60 CISG)
5.8.1.7.2 Rechtsbehelfe des Verkäufers (Art. 61 ff. CISG)
5.8.2 Incoterms
5.9 Lösungen zu den Fragen: Handelsrecht
6: Gesellschaftsrecht
6.1 Gesellschaften und deren Einteilung
6.1.1 Begriff der Gesellschaft
6.1.2 Einteilung der Gesellschaften
6.2 Personengesellschaften
6.2.1 BGB-Gesellschaft/Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR)
6.2.1.1 Entstehung
6.2.1.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter
6.2.1.3 Gesellschafts-/Gesellschaftervermögen
6.2.1.4 Geschäftsführung und Vertretung
6.2.1.5 Haftung
6.2.1.6 Gesellschafterwechsel
6.2.1.7 Beendigung und Liquidation
6.2.2 Offene Handelsgesellschaft (oHG)
6.2.2.1 Entstehung
6.2.2.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter
6.2.2.3 Gesellschafts-/Gesellschaftervermögen
6.2.2.4 Geschäftsführung und Vertretung
6.2.2.5 Haftung
6.2.2.6 Gesellschafterwechsel
6.2.2.7 Beendigung und Liquidation
6.2.3 Partnerschaft
6.2.3.1 Entstehung
6.2.3.2 Rechte und Pflichten der Partner
6.2.3.3 Partner- und Partnerschaftsvermögen
6.2.3.4 Geschäftsführung und Vertretung
6.2.3.5 Haftung
6.2.3.6 Partnerwechsel
6.2.3.7 Beendigung und Liquidation
6.2.4 Kommanditgesellschaft (KG)
6.2.4.1 Entstehung
6.2.4.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter
6.2.4.3 Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen
6.2.4.4 Geschäftsführung und Vertretung
6.2.4.5 Haftung
6.2.4.6 Gesellschafterwechsel
6.2.4.7 Beendigung und Liquidation
6.2.5 Stille Gesellschaft
6.2.5.1 Entstehung
6.2.5.2 Rechte und Pflichte der Gesellschafter
6.2.5.3 Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen
6.2.5.4 Geschäftsführung und Vertretung
6.2.5.5 Haftung
6.2.5.6 Gesellschafterwechsel
6.2.5.7 Beendigung und Liquidation
6.3 Körperschaften
6.3.1 Verein
6.3.2 Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)
6.3.2.1 Entstehung
6.3.2.1.1 Gesellschaftsvertrag
6.3.2.1.2 Herstellen der Handlungsfähigkeit
6.3.2.1.3 Eintragung ins Handelsregister
6.3.2.1.4 Besonderheiten: Musterprotokoll und UG haftungsbeschränkt
6.3.2.1.5 Haftung der Beteiligten in den Gründungsphasen
6.3.2.2 Organe der GmbH
6.3.2.2.1 Geschäftsführer
6.3.2.2.2 Gesellschafterversammlung
6.3.2.2.3 Aufsichtsrat
6.3.2.3 Rechte und Pflichten der Gesellschafter
6.3.2.4 Haftung
6.3.2.5 Finanzverfassung der GmbH
6.3.2.6 Gesellschafterwechsel
6.3.2.7 Beendigung und Liquidation
6.3.2.8 Ein-Personen-GmbH
6.3.2.9 Exkurs zum Insolvenzrecht
6.3.2.9.1 Zweck des Regelinsolvenzverfahrens und Ereignisse im Vorfeld
6.3.2.9.2 Insolvenzverfahren – Ablauf bis zum Eröffnungsbeschluss
6.3.2.9.3 Insolvenzverfahren – Ablauf ab dem Eröffnungsbeschluss
6.3.3 Aktiengesellschaft (AG)
6.3.3.1 Entstehung
6.3.3.1.1 Satzung (Gesellschaftsvertrag)
6.3.3.1.2 Übernahme der Aktien
6.3.3.1.3 Herstellen der Handlungsfähigkeit
6.3.3.1.4 Erbringen der Leistungen
6.3.3.1.5 Eintragung ins Handelsregister
6.3.3.1.6 Qualifizierte Gründung
6.3.3.1.7 Haftung für Gründungsfehler
6.3.3.2 Organe der AG
6.3.3.2.1 Vorstand
6.3.3.2.2 Aufsichtsrat
6.3.3.2.3 Hauptversammlung
6.3.3.3 Rechte und Pflichten der Aktionäre
6.3.3.4 Haftung
6.3.3.5 Finanzverfassung der AG
6.3.3.6 Aktionärswechsel
6.3.3.7 Beendigung und Liquidation
6.3.4 Societas Europaea (SE)
6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen
6.4.1 Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA)
6.4.2 GmbH & Co. KG
6.5 Lösungen zu den Fragen: Gesellschaftsrecht
7: Konzernrecht
7.1 Konzernrecht als Sonderrecht der verbundenen Unternehmen
7.2 Verbundene Unternehmen
7.2.1 Mehrheitsbeteiligung
7.2.2 Abhängige und herrschende Unternehmen
7.2.3 Konzern
7.2.4 Wechselseitige Beteiligung
7.2.5 Vertragskonzerne im Aktienrecht
7.2.5.1 Unternehmensverträge/Beherrschungsvertrag
7.2.5.2 Unternehmensverträge/Gewinnabführungsvertrag
7.2.5.3 Unternehmensverträge/andere Unternehmensverträge
7.2.5.4 Konzernrechtliche Folgen
7.2.6 GmbH-Vertragskonzerne
7.2.7 Faktische Konzerne
7.2.7.1 Faktischer Konzern im Aktienrecht
7.2.7.2 Faktischer GmbH-Konzern
7.2.7.2.1 Qualifiziert faktischer GmbH-Konzern
7.2.7.2.2 Qualifiziert faktische AG-Konzern
7.3 Lösungen zu den Fragen: Konzernrecht
8: Grundzüge des Umwandlungsrechts
8.1 Regelungsgegenstand des UmwG
8.2 Umwandlungsfähige Rechtsträger
8.3 Umwandlungsarten
8.3.1 Verschmelzung
8.3.1.1 Verschmelzung durch Aufnahme
8.3.1.2 Verschmelzung durch Neugründung
8.3.1.3 Schutz der Anteilseigner/Gläubiger vor der Verschmelzung
8.3.1.3.1 Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage
8.3.1.3.2 Spruchverfahren
8.3.1.3.3 Schadensersatzansprüche
8.3.1.3.4 Austrittsrecht + Abfindung
8.3.1.3.5 Gläubigerschutz
8.3.1.4 Besonderer Teil des Verschmelzungsrechts
8.3.2 Spaltung
8.3.3 Vermögensübertragung
8.3.4 Formwechsel
8.3.5 Umwandlungsvorgang
8.3.6 Umwandlungsklauseln in Gesellschaftsverträgen
8.4 Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Umwandlungsrechts
Teil III: Arbeitsrecht
9: Individualarbeitsrecht
9.1 Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses
9.1.1 Privatrechtlicher Vertrag
9.1.2 Arbeitnehmer
9.1.2.1 Definition des Arbeitnehmers
9.1.2.2 Abgrenzung zu Selbständigen
9.1.2.3 Besondere Beschäftigtengruppen
9.1.2.3.1 Angestellte und leitende Angestellte
9.1.2.3.2 Arbeitnehmerähnliche Personen und Heimarbeiter
9.1.2.3.3 Auszubildende und Praktikanten
9.1.2.3.4 Leiharbeitnehmer
9.1.3 Arbeitgeber
9.1.4 Betrieb, Unternehmen und Konzern
9.2 Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses
9.3 Begründung des Arbeitsverhältnisses
9.3.1 Vertragsanbahnung
9.3.1.1 Stellenausschreibung
9.3.1.2 Bewerbungsgespräch
9.3.2 Vertragsschluss
9.3.2.1 Form des Arbeitsvertrages
9.3.3 Beteiligung des Betriebsrates bzw. des Sprecherausschusses
9.3.4 Abschlussgebote und -verbote
9.3.5 Mängel des Arbeitsvertrages
9.3.5.1 Nichtigkeit
9.3.5.2 Anfechtung
9.4 Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen
9.4.1 Vollzeitarbeitsverhältnis
9.4.2 Teilzeitarbeitsverhältnis
9.4.3 Job-Sharing
9.4.4 Abrufarbeitsverhältnis
9.4.5 Befristete Arbeitsverhältnisse
9.4.6 Probearbeitsverhältnis
9.5 Pflichten des Arbeitnehmers
9.5.1 Arbeitspflicht
9.5.2 Nebenpflichten des Arbeitnehmers
9.5.3 Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung
9.5.3.1 Schadensersatzansprüche
9.5.3.2 Haftungsbeschränkung (privilegierte Haftung)
9.5.3.3 Betriebsbußen bei Verstößen gegen die betriebliche Ordnung
9.5.3.4 Kündigung
9.6 Pflichten des Arbeitgebers
9.6.1 Vergütungspflicht
9.6.1.1 Vergütungsformen
9.6.1.2 Gesetzlicher Mindestlohn
9.6.1.3 Auszahlung der Vergütung
9.6.1.4 Vergütungspflicht trotz Nichtleistung der Arbeit („Lohn ohne Arbeit“)
9.6.1.5 Sicherung des Arbeitseinkommens
9.6.2 Nebenpflichten des Arbeitgebers
9.6.3 Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung
9.6.3.1 Klage auf Erfüllung
9.6.3.2 Schadensersatzansprüche
9.6.3.3 Besonderheiten beim Arbeitsunfall
9.6.3.4 Kündigung
9.7 Beendigung des Arbeitsverhältnisses
9.7.1 Beendigung ohne Kündigung
9.7.2 Beendigung durch Kündigung
9.7.2.1 Ordentliche Kündigung
9.7.2.1.1 Kündigungserklärung
9.7.2.1.2 Form
9.7.2.1.3 Frist
9.7.2.1.4 Anhörung des Betriebsrates und/oder der Schwerbehindertenvertretung
9.7.2.2 Außerordentliche Kündigung
9.7.2.3 Verdachtskündigung
9.7.2.4 Änderungskündigung
9.8 Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz
9.8.1 Anwendbarkeit des KSchG
9.8.2 Kündigungsgründe und soziale Rechtfertigung
9.8.2.1 Betriebsbedingte Kündigung
9.8.2.2 Personenbedingte Kündigung
9.8.2.3 Verhaltensbedingte Kündigung
9.8.3 Massenentlassungen
9.8.4 Betriebsübergang
9.9 Kündigungsschutz für bestimmte Arbeitnehmergruppen
9.10 Pflichten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses
9.10.1 Pflichten des Arbeitgebers
9.10.2 Pflichten des Arbeitnehmers
9.11 Lösungen zu den Fragen: Individualarbeitsrecht
10: Kollektivarbeitsrecht
10.1 Koalitionsfreiheit und -recht
10.1.1 Koalitionsfreiheit
10.1.2 Wirkung der Koalitionsfreiheit
10.2 Tarifautonomie: Tarifvertragsrecht und Tarifverträge
10.2.1 Tarifvertrag und Tarifvertragsparteien
10.2.2 Inhalt
10.2.3 Bindungswirkung
10.2.4 Arten von Tarifverträgen
10.3 Arbeitskampfrecht
10.3.1 Rechtsgrundlage
10.3.2 Streik, Aussperrung und Betriebsstillegung
10.3.2.1 Rechtmäßigkeit des Streiks
10.3.2.1.1 Tarifliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
10.3.2.1.2 Allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
10.3.2.1.3 Rechtsfolgen bei rechtswidrigem Streik
10.3.2.2 Rechtsfolgen für das Einzelarbeitsverhältnis
10.3.2.3 Rechtmäßigkeit der Aussperrung und Betriebsstillegung
10.3.2.3.1 Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
10.3.2.3.2 Rechtsfolgen bei rechtswidriger Aussperrung
10.4 Betriebsverfassung
10.4.1 Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen
10.4.2 Rechtsgrundlage: Betriebsverfassungsgesetz
10.4.2.1 Räumlicher Anwendungsbereich
10.4.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich
10.4.2.3 Persönlicher Anwendungsbereich
10.4.3 Betriebsrat als Organ der Betriebsverfassung
10.4.3.1 Wahl und Zusammensetzung des Betriebsrates
10.4.3.2 Rechtsstellung des Betriebsrates
10.4.3.3 Aufgaben und Befugnisse des Betriebsrates
10.4.4 Betriebsvereinbarungen
10.5 Lösungen zu den Fragen: Kollektivarbeitsrecht
Weiterführende Literatur
Bürgerliches Recht
Handelsrecht
Gesellschaftsrecht (mit Konzern- und Umwandlungsrecht)
Arbeitsrecht
Sachverzeichnis
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Dagmar Gesmann-Nuissl Kompendium Wirtschaftsprivatrecht Inklusive SN Flashcards Lern-App

123

Springer-Lehrbuch

Dagmar Gesmann-Nuissl

Kompendium Wirtschaftsprivatrecht

Dagmar Gesmann-Nuissl Fakultät Wirtschaftswissenschaften TU Chemnitz Chemnitz, Deutschland

ISSN 0937-7433     ISSN 2512-5214  (electronic) Springer-Lehrbuch ISBN 978-3-662-62871-3    ISBN 978-3-662-62872-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Das Wirtschaftsprivatrecht begleitet die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen der am Wirtschaftsleben beteiligten Akteure, die Verträge schließen, Leistungen austauschen, Zahlungen vornehmen, im Vertrieb agieren, Gesellschaften gründen und verbinden oder sich in Arbeitsverhältnissen bewegen. Als Querschnittsgebiet findet das Wirtschaftsprivatrecht seine Grundlagen im bürgerlichen Recht und ergänzt sich unternehmensbezogen sowie unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Relevanz um die zentralen Bereiche des Handels-, Gesellschafts- und Arbeitsrechts. Diese Rechtsgebiete den Studierenden der Wirtschaftswissenschaften, des Wirtschaftsrechts und anderer unternehmensnaher Studiengänge vorzustellen, ist das Ziel des vorliegenden Studienbuchs, welches obendrein auch Studierenden der Rechtswissenschaften eine erste Orientierung bieten kann. Es geht darum, die Studierenden mit den Grundlagen des Wirtschaftsprivatrechts vertraut zu machen und ihnen einen ersten Zugang zu diesem umfassenden und gleichsam bedeutsamen Querschnittrechtsgebiet zu verschaffen. Eine klare Struktur und einfache Sprache sowie zahlreiche Beispiele und Wiederholungsfragen unterstützen den Weg zum Lernerfolg. Das Kompendium wird durch einen Online-Zugang zu digitalen Karteikarten – Springer Nature Flashcards  – unterstützt, die ein ortsungebundenes Wiederholen und Lernen ermöglichen und Raum für weitere inhaltliche Ergänzungen bieten. Schnell und unkompliziert können gesetzgeberische Entwicklungen, wie das Mängelrecht für Verträge über digitale Produkte oder die bereits angekündigte Modernisierung des Personengesellschaftsrechts in das Werk integriert werden und selbiges über längere Zeit aktuell halten, was gerade für die Prüfungsvorbereitung wesentlich ist. Das Manuskript zum vorliegenden Kompendium hat sich über viele Jahre entwickelt. Die eine oder andere Graphik, der eine oder andere Beispielsfall hat bereits die Prüfungsvorbereitung von meinen Studierenden unterstützt, weshalb es Zeit war, nunmehr ein Lehrbuch aus den vorliegenden Materialien zu formen. Dabei gilt mein besonderer Dank Herrn Ass. jur. Stephan Kunitz der mich gewissenhaft bei der Aufbereitung der vorhandenen Materialien und der Erstellung des Manuskripts unterstützt hat. Danken möchte ich ferner Herrn Ass. jur. Julian Kanert, Herrn Ass. jur. Michael Rätze, Herrn Dipl.-jur. Philipp Röder sowie Frau Ass. jur. Stefanie Meyer, die das Manuskript sorgfältig gelesen und mit wertvollen Anmerkungen ergänzt haben. V

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Vorwort

Trotz aller Umsicht werden sicher kleinere Fehler zu Tage treten oder Ergänzungen seitens der Leser erwünscht sein, weshalb wir für Kritik und Anregungen jederzeit offen sind und uns sogar darüber freuen, weil es uns die Möglichkeit bietet, das Kompendium bedarfsgerecht weiter zu entwickeln. Chemnitz, Deutschland September 2021

Dagmar Gesmann-Nuissl

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Teil I  Bürgerliches Recht 1

 llgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines SchulA drecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3 1.1 Das Bürgerliche Recht als Bestandteil des Wirtschaftsrechts������������   4 1.2 Bürgerliches Recht������������������������������������������������������������������������������   5 1.3 Das Bürgerliche Gesetzbuch��������������������������������������������������������������   6 1.3.1 Entstehung und Entwicklung��������������������������������������������������   6 1.3.2 Grundlagen������������������������������������������������������������������������������   7 1.3.2.1 Privatautonomie ������������������������������������������������������   7 1.3.2.2 Abstraktionsprinzip��������������������������������������������������   9 1.3.3 Aufbau und Gliederung des BGB ������������������������������������������   9 1.4 Rechtsgeschäft������������������������������������������������������������������������������������  11 1.5 Willenserklärung��������������������������������������������������������������������������������  13 1.5.1 Bestandteile der Willenserklärung������������������������������������������  14 1.5.2 Wirksamwerden von Willenserklärungen ������������������������������  16 1.6 Vertrag������������������������������������������������������������������������������������������������  19 1.6.1 Begriff des Vertrages��������������������������������������������������������������  19 1.6.2 Abschluss von Verträgen��������������������������������������������������������  21 1.6.2.1 Vertragsangebote und ihre Annahme ����������������������  21 1.6.2.2 Vertragsschluss unter Einbeziehung von AGB��������  26 1.6.2.3 Schweigen im Rahmen des Vertragsschlusses ��������  30 1.6.2.4 Form des Vertragsschlusses��������������������������������������  31 1.6.2.5 ­Stellvertretung����������������������������������������������������������  33 1.6.2.6 Vertragsschluss im elektronischen Geschäftsverkehr ��������������������������������������������������������������������  41 1.6.3 Unwirksame oder nichtige Verträge����������������������������������������  47 1.6.3.1 Unwirksamkeit aufgrund eines Mangels in der Geschäftsfähigkeit ��������������������������������������������  49 1.6.3.2 Unwirksamkeit aufgrund des bewussten Abweichens von Wille und Erklärung ��������������������  52 1.6.3.3 Unwirksamkeit aufgrund des unbewussten Abweichens von Wille und Erklärung ��������������������  53 1.6.3.4 Unwirksamkeit aufgrund eines Formmangels ��������  59 VII

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1.6.3.5 Unwirksamkeit aufgrund von Gesetzesverstoß, Sittenwidrigkeit und Wucher��������������������������  59 1.6.4 Bedingung, Befristung, Termine und Fristen��������������������������  61 1.6.5 Leistungsstörungen ����������������������������������������������������������������  63 1.6.5.1 Pflichten des Schuldners������������������������������������������  63 1.6.5.2 Unmöglichkeit����������������������������������������������������������  68 1.6.5.3 Pflichtverletzung������������������������������������������������������  71 1.6.5.4 Verzug����������������������������������������������������������������������  75 1.6.5.5 Exkurs: Rechtsfolge „Schadensersatz“��������������������  81 1.6.6 Erlöschen und Modifikation der Leistungspflicht������������������  84 1.6.6.1 Erfüllung������������������������������������������������������������������  84 1.6.6.2 Aufhebungsvertrag��������������������������������������������������  86 1.6.6.3 Erlass und negatives Schuldanerkenntnis����������������  86 1.6.6.4 Aufrechnung������������������������������������������������������������  87 1.6.6.5 Kündigung����������������������������������������������������������������  88 1.6.6.6 Rücktritt ������������������������������������������������������������������  89 1.6.6.7 Widerruf ������������������������������������������������������������������  91 1.6.6.8 Störung der Geschäftsgrundlage������������������������������  92 1.6.6.9 Zusammenfassung����������������������������������������������������  93 1.6.7 Beteiligung Dritter am Vertrag������������������������������������������������  93 1.6.7.1 Abtretung ����������������������������������������������������������������  94 1.6.7.2 Schuldübernahme und Schuldbeitritt����������������������  98 1.6.7.3 Mehrheit von Gläubigern und Schuldnern��������������  99 1.6.7.4 Vertrag zugunsten Dritter���������������������������������������� 101 1.6.8 Verjährung und Verwirkung���������������������������������������������������� 102 1.7 Lösungen zu den Fragen: Allgemeiner Teil des BGB und allgemeines Schuldrecht �������������������������������������������������������������������� 104 2

Besonderes Schuldrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.1 Kaufvertrag ���������������������������������������������������������������������������������������� 110 2.1.1 Zustandekommen und Inhalt des Kaufvertrages�������������������� 110 2.1.2 Pflichten der Vertragsparteien ������������������������������������������������ 111 2.1.2.1 Verkäufer������������������������������������������������������������������ 111 2.1.2.2 Käufer���������������������������������������������������������������������� 113 2.1.3 Gefahrtragung bei Untergang der Kaufsache�������������������������� 113 2.1.4 Mängelhaftung des Verkäufers������������������������������������������������ 115 2.1.4.1 Voraussetzungen der Mängelhaftung ���������������������� 115 2.1.4.2 Die Rechte des Käufers im Rahmen der Mängelhaftung �������������������������������������������������������� 118 2.1.4.3 Exkurs: Garantie������������������������������������������������������ 121 2.1.5 Verbrauchsgüterkauf �������������������������������������������������������������� 125 2.1.6 Verbraucherverträge über Waren mit digitalen Elementen ���� 127 2.1.7 Sonderformen des Kaufvertrages�������������������������������������������� 129 2.2 Werkvertrag���������������������������������������������������������������������������������������� 132 2.2.1 Zustandekommen und Inhalt des Werkvertrages�������������������� 132 2.2.2 Pflichten der Vertragsparteien ������������������������������������������������ 134

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2.2.2.1 Werkunternehmer���������������������������������������������������� 134 2.2.2.2 Besteller ������������������������������������������������������������������ 134 2.2.3 Gefahrtragung bei Untergang des Werkes������������������������������ 135 2.2.4 Mängelhaftung des Unternehmers������������������������������������������ 136 2.2.5 Sicherungsrechte des Unternehmers �������������������������������������� 138 2.2.6 Regelungen für Bauverträge �������������������������������������������������� 138 2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick���������������������������������������������������� 138 2.3.1 Tausch ������������������������������������������������������������������������������������ 139 2.3.2 Schenkung������������������������������������������������������������������������������ 139 2.3.3 Mietvertrag������������������������������������������������������������������������������ 141 2.3.4 Pacht���������������������������������������������������������������������������������������� 146 2.3.5 Leihe �������������������������������������������������������������������������������������� 146 2.3.6 Auftrag������������������������������������������������������������������������������������ 147 2.3.7 Geschäftsbesorgungsvertrag �������������������������������������������������� 148 2.3.7.1 Allgemeiner Geschäftsbesorgungsvertrag �������������� 148 2.3.7.2 Zahlungsdienste als Sonderform������������������������������ 151 2.3.8 Verwahrung ���������������������������������������������������������������������������� 152 2.3.9 Maklervertrag�������������������������������������������������������������������������� 153 2.3.10 Dienstvertrag�������������������������������������������������������������������������� 154 2.3.11 Verträge über digitale Produkte���������������������������������������������� 155 2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte �������������������������������������������������� 162 2.4.1 Teilzahlungskauf �������������������������������������������������������������������� 163 2.4.2 Finanzierter (Abzahlungs-)Kauf �������������������������������������������� 164 2.4.3 Leasingvertrag������������������������������������������������������������������������ 168 2.4.3.1 Operating-Leasing���������������������������������������������������� 168 2.4.3.2 Finanzierungs-Leasing�������������������������������������������� 169 2.4.4 Factoringvertrag���������������������������������������������������������������������� 172 2.4.5 Darlehensvertrag �������������������������������������������������������������������� 177 2.4.5.1 Gelddarlehen������������������������������������������������������������ 178 2.4.5.2 Verbraucherdarlehen������������������������������������������������ 181 2.4.5.3 Sachdarlehen������������������������������������������������������������ 182 2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte�������������������������������������������������������� 183 2.5.1 Eigentumsvorbehalt���������������������������������������������������������������� 183 2.5.2 Sicherungseigentum���������������������������������������������������������������� 188 2.5.3 Sicherungsabtretung���������������������������������������������������������������� 191 2.5.4 Pfandrechte ���������������������������������������������������������������������������� 194 2.5.5 Bürgschaft ������������������������������������������������������������������������������ 197 2.5.6 Garantie���������������������������������������������������������������������������������� 204 2.5.7 Zurückbehaltungsrecht������������������������������������������������������������ 205 2.6 Lösungen zu den Fragen: Besonderes Schuldrecht���������������������������� 206 3

Gesetzliche Schuldverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3.1 Geschäftsführung ohne Auftrag���������������������������������������������������������� 212 3.1.1 Berechtigte GoA �������������������������������������������������������������������� 214 3.1.2 Unberechtigte GoA ���������������������������������������������������������������� 216

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3.1.3 Unechte Geschäftsführung (Eigengeschäft und Geschäftsanmaßung)�������������������������������������������������������������� 217 3.2 Ungerechtfertigte Bereicherung���������������������������������������������������������� 218 3.2.1 Leistungskondiktion���������������������������������������������������������������� 220 3.2.2 Nichtleistungskondiktion�������������������������������������������������������� 225 3.2.3 Sonderfälle der ungerechtfertigten Bereicherung ������������������ 228 3.2.3.1 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 1 S. 1 BGB �������������������������������������������������������������� 228 3.2.3.2 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 1 S. 2 BGB �������������������������������������������������������������� 230 3.2.3.3 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 2 BGB���������������������������������������������������������������������� 230 3.2.3.4 Nichtleistungskondiktion gemäß § 822 BGB���������� 231 3.3 Unerlaubte Handlung�������������������������������������������������������������������������� 232 3.3.1 Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 1 BGB ������������������������ 233 3.3.2 Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 2 BGB ������������������������ 239 3.3.3 Ausgewählte Einzeltatbestände unerlaubter Handlung���������� 240 3.3.3.1 Eingriffe in das Unternehmen���������������������������������� 240 3.3.3.2 Grundstücks- und Gebäudehaftung�������������������������� 241 3.3.3.3 Kreditgefährdung ���������������������������������������������������� 242 3.3.3.4 Vorsätzliche sittenwidrige Schädigung�������������������� 243 3.3.3.5 Haftung für den Verrichtungsgehilfen (Geschäftsherrnhaftung)������������������������������������������ 245 3.4 Lösungen zu den Fragen: Gesetzliche Schuldverhältnisse ���������������� 249 4

 rundzüge des Sachenrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 G 4.1 Eigentum und Besitz �������������������������������������������������������������������������� 254 4.2 Bewegliche Sachen ���������������������������������������������������������������������������� 257 4.2.1 Eigentumsübertragung durch Rechtsgeschäft������������������������ 257 4.2.2 Eigentumserwerb durch Gesetz���������������������������������������������� 266 4.3 Unbewegliche Sachen (Grundstücke) ������������������������������������������������ 268 4.3.1 Allgemeines���������������������������������������������������������������������������� 268 4.3.2 Grundbuch������������������������������������������������������������������������������ 270 4.3.3 Erwerb und Veräußerung�������������������������������������������������������� 272 4.4 Belastungen���������������������������������������������������������������������������������������� 275 4.4.1 Grundpfandrechte ������������������������������������������������������������������ 275 4.4.1.1 Hypothek������������������������������������������������������������������ 276 4.4.1.2 Grundschuld������������������������������������������������������������ 283 4.4.1.3 Rentenschuld������������������������������������������������������������ 287 4.4.2 Dienstbarkeiten ���������������������������������������������������������������������� 287 4.4.3 Erbbaurecht ���������������������������������������������������������������������������� 288 4.4.4 Vorkaufsrecht�������������������������������������������������������������������������� 288 4.4.5 Reallast������������������������������������������������������������������������������������ 289 4.4.6 Altenteil���������������������������������������������������������������������������������� 289 4.5 Eigentumsschutz �������������������������������������������������������������������������������� 289

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4.5.1 Herausgabeanspruch �������������������������������������������������������������� 289 4.5.2 Abwehranspruch: Beseitigung und/oder Unterlassung���������� 291 4.5.3 Schadensersatzanspruch���������������������������������������������������������� 292 4.6 Eigentümer-Besitzer-Verhältnis���������������������������������������������������������� 292 4.7 Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Sachenrechts�������������������� 295 Teil II  Handels- & Gesellschaftsrecht 5

Handelsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5.1 Handelsrecht als Sonderprivatrecht der Kaufleute������������������������������ 300 5.2 Kaufmannsbegriff ������������������������������������������������������������������������������ 302 5.3 Handelsregister ���������������������������������������������������������������������������������� 306 5.4 Firma �������������������������������������������������������������������������������������������������� 312 5.4.1 Begriff und Grundsätze���������������������������������������������������������� 312 5.4.2 Firmenschutz�������������������������������������������������������������������������� 313 5.4.3 Haftung bei Inhaberwechsel �������������������������������������������������� 315 5.4.3.1 Inhaberwechsel unter Lebenden (§ 25 Abs. 1 und 2 HGB)�������������������������������������������������������������� 316 5.4.3.2 Inhaberwechsel von Todes wegen (§ 27 HGB)�������� 321 5.4.3.3 Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB) �������������������������������������������������� 323 5.5 Hilfspersonen des Kaufmanns������������������������������������������������������������ 326 5.5.1 Unselbständige Hilfspersonen (Vertretung des Kaufmanns)���������������������������������������������������������������������������� 327 5.5.1.1 Prokura�������������������������������������������������������������������� 328 5.5.1.2 Handlungsvollmacht������������������������������������������������ 333 5.5.1.3 Ladenvollmacht�������������������������������������������������������� 337 5.5.2 Selbständige Hilfspersonen���������������������������������������������������� 338 5.5.2.1 Handelsvertreter ������������������������������������������������������ 339 5.5.2.2 Kommissionär���������������������������������������������������������� 346 5.5.2.3 Handelsmakler �������������������������������������������������������� 349 5.5.2.4 Kommissionsagent �������������������������������������������������� 351 5.5.2.5 Vertragshändler�������������������������������������������������������� 352 5.5.2.6 Franchisenehmer������������������������������������������������������ 353 5.6 Handelsgeschäfte�������������������������������������������������������������������������������� 357 5.6.1 Allgemeine Regeln������������������������������������������������������������������ 357 5.6.1.1 Handelsbräuche und Handelsklauseln �������������������� 358 5.6.1.2 Kaufmännische Sorgfaltspflichten �������������������������� 361 5.6.1.3 Zustandekommen von Handelsgeschäften�������������� 361 5.6.1.4 Grundsatz der Entgeltlichkeit und Zinsanspruch������������������������������������������������������������ 365 5.6.1.5 Leistungserbringung������������������������������������������������ 366 5.6.1.6 Kontokorrent������������������������������������������������������������ 366 5.6.1.7 Eigentums- und Pfandrechtserwerb ������������������������ 369 5.6.1.8 Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht ���������������� 371

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5.6.2 Handelskauf���������������������������������������������������������������������������� 373 5.6.2.1 Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf ���������������������� 374 5.6.2.2 Spezifikationskauf���������������������������������������������������� 376 5.6.2.3 Fixhandelskauf�������������������������������������������������������� 377 5.6.2.4 Untersuchungs- und Rügepflicht������������������������������ 378 5.6.3 Sonstige Handelsgeschäfte����������������������������������������������������� 382 5.6.3.1 Frachtgeschäft���������������������������������������������������������� 382 5.6.3.2 Speditionsgeschäft �������������������������������������������������� 383 5.6.3.3 Lagergeschäft ���������������������������������������������������������� 384 5.7 Die kaufmännischen Orderpapiere ���������������������������������������������������� 384 5.8 Internationaler Handelsverkehr���������������������������������������������������������� 387 5.8.1 UN-Kaufrecht ������������������������������������������������������������������������ 388 5.8.1.1 Anwendungsbereich������������������������������������������������ 388 5.8.1.2 Regelungsbereich ���������������������������������������������������� 390 5.8.1.3 Lückenfüllung (Art. 7 Abs. 2 CISG)������������������������ 391 5.8.1.4 Form������������������������������������������������������������������������ 392 5.8.1.5 Vertragsschluss (Art. 14–24 CISG)�������������������������� 393 5.8.1.6 Pflichten und Rechtsbehelfe der Vertragsparteien ������������������������������������������������������ 395 5.8.1.7 Rechtsbehelfe des Käufers�������������������������������������� 398 5.8.2 Incoterms�������������������������������������������������������������������������������� 408 5.9 Lösungen zu den Fragen: Handelsrecht���������������������������������������������� 410 6

Gesellschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 6.1 Gesellschaften und deren Einteilung�������������������������������������������������� 418 6.1.1 Begriff der Gesellschaft���������������������������������������������������������� 418 6.1.2 Einteilung der Gesellschaften ������������������������������������������������ 420 6.2 Personengesellschaften ���������������������������������������������������������������������� 423 6.2.1 BGB-Gesellschaft/Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR)�������������������������������������������������������������������������� 423 6.2.1.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 424 6.2.1.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter������������������ 426 6.2.1.3 Gesellschafts-/Gesellschaftervermögen ������������������ 427 6.2.1.4 Geschäftsführung und Vertretung���������������������������� 428 6.2.1.5 Haftung�������������������������������������������������������������������� 429 6.2.1.6 Gesellschafterwechsel���������������������������������������������� 430 6.2.1.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 431 6.2.2 Offene Handelsgesellschaft (oHG) ���������������������������������������� 433 6.2.2.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 434 6.2.2.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter������������������ 436 6.2.2.3 Gesellschafts-/Gesellschaftervermögen ������������������ 437 6.2.2.4 Geschäftsführung und Vertretung���������������������������� 438 6.2.2.5 Haftung�������������������������������������������������������������������� 443 6.2.2.6 Gesellschafterwechsel���������������������������������������������� 446 6.2.2.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 446

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XIII

6.2.3 Partnerschaft �������������������������������������������������������������������������� 447 6.2.3.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 447 6.2.3.2 Rechte und Pflichten der Partner������������������������������ 448 6.2.3.3 Partner- und Partnerschaftsvermögen���������������������� 449 6.2.3.4 Geschäftsführung und Vertretung���������������������������� 449 6.2.3.5 Haftung�������������������������������������������������������������������� 449 6.2.3.6 Partnerwechsel �������������������������������������������������������� 450 6.2.3.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 451 6.2.4 Kommanditgesellschaft (KG) ������������������������������������������������ 451 6.2.4.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 452 6.2.4.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter������������������ 453 6.2.4.3 Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen������������ 453 6.2.4.4 Geschäftsführung und Vertretung���������������������������� 454 6.2.4.5 Haftung�������������������������������������������������������������������� 455 6.2.4.6 Gesellschafterwechsel���������������������������������������������� 458 6.2.4.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 459 6.2.5 Stille Gesellschaft ������������������������������������������������������������������ 459 6.2.5.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 460 6.2.5.2 Rechte und Pflichte der Gesellschafter�������������������� 460 6.2.5.3 Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen������������ 461 6.2.5.4 Geschäftsführung und Vertretung���������������������������� 461 6.2.5.5 Haftung�������������������������������������������������������������������� 462 6.2.5.6 Gesellschafterwechsel���������������������������������������������� 462 6.2.5.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 462 6.3 Körperschaften������������������������������������������������������������������������������������ 464 6.3.1 Verein�������������������������������������������������������������������������������������� 464 6.3.2 Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)�������������������� 465 6.3.2.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 466 6.3.2.2 Organe der GmbH���������������������������������������������������� 475 6.3.2.3 Rechte und Pflichten der Gesellschafter������������������ 479 6.3.2.4 Haftung�������������������������������������������������������������������� 479 6.3.2.5 Finanzverfassung der GmbH ���������������������������������� 482 6.3.2.6 Gesellschafterwechsel���������������������������������������������� 484 6.3.2.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 485 6.3.2.8 Ein-Personen-GmbH������������������������������������������������ 486 6.3.2.9 Exkurs zum Insolvenzrecht�������������������������������������� 487 6.3.3 Aktiengesellschaft (AG) �������������������������������������������������������� 492 6.3.3.1 Entstehung���������������������������������������������������������������� 494 6.3.3.2 Organe der AG �������������������������������������������������������� 500 6.3.3.3 Rechte und Pflichten der Aktionäre ������������������������ 508 6.3.3.4 Haftung�������������������������������������������������������������������� 509 6.3.3.5 Finanzverfassung der AG���������������������������������������� 509 6.3.3.6 Aktionärswechsel���������������������������������������������������� 511 6.3.3.7 Beendigung und Liquidation������������������������������������ 511

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Inhaltsverzeichnis

6.3.4 Societas Europaea (SE)���������������������������������������������������������� 512 6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen ���������������������������������������������� 514 6.4.1 Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA)�������������������������� 514 6.4.2 GmbH & Co. KG�������������������������������������������������������������������� 515 6.5 Lösungen zu den Fragen: Gesellschaftsrecht�������������������������������������� 522 7

Konzernrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 7.1 Konzernrecht als Sonderrecht der verbundenen Unternehmen���������� 530 7.2 Verbundene Unternehmen������������������������������������������������������������������ 531 7.2.1 Mehrheitsbeteiligung�������������������������������������������������������������� 534 7.2.2 Abhängige und herrschende Unternehmen���������������������������� 536 7.2.3 Konzern���������������������������������������������������������������������������������� 538 7.2.4 Wechselseitige Beteiligung���������������������������������������������������� 540 7.2.5 Vertragskonzerne im Aktienrecht�������������������������������������������� 543 7.2.5.1 Unternehmensverträge/Beherrschungsvertrag �������� 543 7.2.5.2 Unternehmensverträge/Gewinnabführungsvertrag ����� 544 7.2.5.3 Unternehmensverträge/andere Unternehmensverträge������������������������������������������������������������ 544 7.2.5.4 Konzernrechtliche Folgen���������������������������������������� 545 7.2.6 GmbH-Vertragskonzerne�������������������������������������������������������� 545 7.2.7 Faktische Konzerne���������������������������������������������������������������� 547 7.2.7.1 Faktischer Konzern im Aktienrecht ������������������������ 547 7.2.7.2 Faktischer GmbH-Konzern�������������������������������������� 547 7.3 Lösungen zu den Fragen: Konzernrecht �������������������������������������������� 551

8

 rundzüge des Umwandlungsrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 G 8.1 Regelungsgegenstand des UmwG������������������������������������������������������ 553 8.2 Umwandlungsfähige Rechtsträger������������������������������������������������������ 554 8.3 Umwandlungsarten ���������������������������������������������������������������������������� 554 8.3.1 Verschmelzung������������������������������������������������������������������������ 555 8.3.1.1 Verschmelzung durch Aufnahme ���������������������������� 556 8.3.1.2 Verschmelzung durch Neugründung������������������������ 558 8.3.1.3 Schutz der Anteilseigner/Gläubiger vor der Verschmelzung�������������������������������������������������������� 558 8.3.1.4 Besonderer Teil des Verschmelzungsrechts ������������ 560 8.3.2 Spaltung���������������������������������������������������������������������������������� 560 8.3.3 Vermögensübertragung ���������������������������������������������������������� 565 8.3.4 Formwechsel �������������������������������������������������������������������������� 565 8.3.5 Umwandlungsvorgang������������������������������������������������������������ 566 8.3.6 Umwandlungsklauseln in Gesellschaftsverträgen������������������ 566 8.4 Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Umwandlungsrechts �������� 567

Teil III  Arbeitsrecht 9

Individualarbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 9.1 Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses���������������������������������������������� 571

Inhaltsverzeichnis

XV

9.1.1 Privatrechtlicher Vertrag �������������������������������������������������������� 572 9.1.2 Arbeitnehmer�������������������������������������������������������������������������� 573 9.1.2.1 Definition des Arbeitnehmers���������������������������������� 573 9.1.2.2 Abgrenzung zu Selbständigen���������������������������������� 575 9.1.2.3 Besondere Beschäftigtengruppen���������������������������� 578 9.1.3 Arbeitgeber ���������������������������������������������������������������������������� 581 9.1.4 Betrieb, Unternehmen und Konzern �������������������������������������� 581 9.2 Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses�������������������������������� 583 9.3 Begründung des Arbeitsverhältnisses ������������������������������������������������ 586 9.3.1 Vertragsanbahnung������������������������������������������������������������������ 586 9.3.1.1 Stellenausschreibung������������������������������������������������ 586 9.3.1.2 Bewerbungsgespräch����������������������������������������������� 589 9.3.2 Vertragsschluss������������������������������������������������������������������������ 593 9.3.2.1 Form des Arbeitsvertrages �������������������������������������� 593 9.3.3 Beteiligung des Betriebsrates bzw. des Sprecherausschusses �������������������������������������������������������������� 594 9.3.4 Abschlussgebote und -verbote������������������������������������������������ 594 9.3.5 Mängel des Arbeitsvertrages�������������������������������������������������� 596 9.3.5.1 Nichtigkeit���������������������������������������������������������������� 596 9.3.5.2 Anfechtung�������������������������������������������������������������� 597 9.4 Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen���������������������� 599 9.4.1 Vollzeitarbeitsverhältnis���������������������������������������������������������� 599 9.4.2 Teilzeitarbeitsverhältnis���������������������������������������������������������� 599 9.4.3 Job-Sharing ���������������������������������������������������������������������������� 601 9.4.4 Abrufarbeitsverhältnis������������������������������������������������������������ 601 9.4.5 Befristete Arbeitsverhältnisse ������������������������������������������������ 601 9.4.6 Probearbeitsverhältnis������������������������������������������������������������ 605 9.5 Pflichten des Arbeitnehmers �������������������������������������������������������������� 606 9.5.1 Arbeitspflicht�������������������������������������������������������������������������� 606 9.5.2 Nebenpflichten des Arbeitnehmers ���������������������������������������� 610 9.5.3 Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung ���������������������������������������� 611 9.5.3.1 Schadensersatzansprüche���������������������������������������� 611 9.5.3.2 Haftungsbeschränkung (privilegierte Haftung) �������������������������������������������� 612 9.5.3.3 Betriebsbußen bei Verstößen gegen die betriebliche Ordnung ���������������������������������������������� 615 9.5.3.4 Kündigung���������������������������������������������������������������� 616 9.6 Pflichten des Arbeitgebers������������������������������������������������������������������ 616 9.6.1 Vergütungspflicht�������������������������������������������������������������������� 616 9.6.1.1 Vergütungsformen���������������������������������������������������� 616 9.6.1.2 Gesetzlicher Mindestlohn���������������������������������������� 617 9.6.1.3 Auszahlung der Vergütung�������������������������������������� 618 9.6.1.4 Vergütungspflicht trotz Nichtleistung der Arbeit („Lohn ohne Arbeit“)������������������������������������ 618

XVI

Inhaltsverzeichnis

9.6.1.5 Sicherung des Arbeitseinkommens�������������������������� 622 9.6.2 Nebenpflichten des Arbeitgebers�������������������������������������������� 623 9.6.3 Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung ���������������������������������������� 625 9.6.3.1 Klage auf Erfüllung�������������������������������������������������� 625 9.6.3.2 Schadensersatzansprüche���������������������������������������� 625 9.6.3.3 Besonderheiten beim Arbeitsunfall�������������������������� 625 9.6.3.4 Kündigung���������������������������������������������������������������� 626 9.7 Beendigung des Arbeitsverhältnisses�������������������������������������������������� 626 9.7.1 Beendigung ohne Kündigung ������������������������������������������������ 627 9.7.2 Beendigung durch Kündigung������������������������������������������������ 628 9.7.2.1 Ordentliche Kündigung�������������������������������������������� 629 9.7.2.2 Außerordentliche Kündigung���������������������������������� 633 9.7.2.3 Verdachtskündigung������������������������������������������������ 637 9.7.2.4 Änderungskündigung���������������������������������������������� 638 9.8 Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz���������������������� 639 9.8.1 Anwendbarkeit des KSchG���������������������������������������������������� 639 9.8.2 Kündigungsgründe und soziale Rechtfertigung���������������������� 640 9.8.2.1 Betriebsbedingte Kündigung ���������������������������������� 641 9.8.2.2 Personenbedingte Kündigung���������������������������������� 644 9.8.2.3 Verhaltensbedingte Kündigung�������������������������������� 646 9.8.3 Massenentlassungen���������������������������������������������������������������� 650 9.8.4 Betriebsübergang�������������������������������������������������������������������� 650 9.9 Kündigungsschutz für bestimmte Arbeitnehmergruppen ������������������ 651 9.10 Pflichten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses���������������������������� 652 9.10.1 Pflichten des Arbeitgebers������������������������������������������������������ 652 9.10.2 Pflichten des Arbeitnehmers �������������������������������������������������� 654 9.11 Lösungen zu den Fragen: Individualarbeitsrecht�������������������������������� 654 10 Kollektivarbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 10.1 Koalitionsfreiheit und -recht ������������������������������������������������������������ 657 10.1.1 Koalitionsfreiheit ���������������������������������������������������������������� 658 10.1.2 Wirkung der Koalitionsfreiheit�������������������������������������������� 659 10.2 Tarifautonomie: Tarifvertragsrecht und Tarifverträge���������������������� 662 10.2.1 Tarifvertrag und Tarifvertragsparteien �������������������������������� 662 10.2.2 Inhalt������������������������������������������������������������������������������������ 663 10.2.3 Bindungswirkung���������������������������������������������������������������� 664 10.2.4 Arten von Tarifverträgen������������������������������������������������������ 667 10.3 Arbeitskampfrecht���������������������������������������������������������������������������� 668 10.3.1 Rechtsgrundlage������������������������������������������������������������������ 669 10.3.2 Streik, Aussperrung und Betriebsstillegung������������������������ 670 10.3.2.1 Rechtmäßigkeit des Streiks���������������������������������� 670 10.3.2.2 Rechtsfolgen für das Einzelarbeitsverhältnis������ 673 10.3.2.3 Rechtmäßigkeit der Aussperrung und Betriebsstillegung������������������������������������������������ 674 10.4 Betriebsverfassung���������������������������������������������������������������������������� 676

Inhaltsverzeichnis

XVII

10.4.1 Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen �������������������� 676 10.4.2 Rechtsgrundlage: Betriebsverfassungsgesetz���������������������� 677 10.4.2.1 Räumlicher Anwendungsbereich ������������������������ 678 10.4.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich �������������������������� 678 10.4.2.3 Persönlicher Anwendungsbereich������������������������ 678 10.4.3 Betriebsrat als Organ der Betriebsverfassung���������������������� 678 10.4.3.1 Wahl und Zusammensetzung des Betriebsrates�������������������������������������������������������� 679 10.4.3.2 Rechtsstellung des Betriebsrates�������������������������� 680 10.4.3.3 Aufgaben und Befugnisse des Betriebsrates�������� 682 10.4.4 Betriebsvereinbarungen ������������������������������������������������������ 685 10.5 Lösungen zu den Fragen: Kollektivarbeitsrecht�������������������������������� 687 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693

Abkürzungen

a. E. am Ende a. F. alte Fassung Abb. Abbildung ABR Registerzeichen des BAG für allgemeine Rechtsbeschwerdeverfahren Abs. Absatz Abschn. Abschnitt ADSp Allgemeinen Deutschen Spediteur Bedingungen AG Aktiengesellschaft AG Arbeitgeber AGB Allgemeine Geschäfts Bedingungen AGBG Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen AGG Allgemeines Gleichstellungsgesetz AktG Aktiengesetz Alt. Alternative ArbG Arbeitsgericht ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz ArbSchG Arbeitsschutzgesetz ArbSichG Arbeitssicherheitsgesetz ArbZG Arbeitszeitgesetz ARGE Arbeitsgemeinschaft Art. Artikel AÜG Arbeitnehmerüberlassungsgesetz AZR Registerzeichen des BAG für Revisionssachen B2B Business-to-Business B2C Business-to-Consumer BAG Bundesarbeitsgericht BBiG Berufsbildungsgesetz BDSG Bundesdatenschutzgesetz BEEG Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz BetrVG Betriebsverfassungsgesetz BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof XIX

XX

Abkürzungen

BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen bspw. beispielsweise BUrlG Bundesurlaubsgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BvL Registerzeichen für konkrete Normenkontrollen des BVerfG BZRG Bundeszentralregistergesetz bzw. beziehungsweise C2B Consumer-to-Business C2C Consumer-to-Consumer CFR Cost and Freight/Kosten und Fracht CIF Cost, Insurance and Freight/Kosten, Versicherung und Fracht CIP Carriage, Insurance Paid To/Frachtfrei versichert CISG UN-Convention on Contracts for the International Sale of Goods Co. Compagnie CPT Carriage Paid To/Frachtfrei d. h. das heißt DAP Delivered At Place/Geliefert benannter Ort DDP Delivered Duty Paid/Geliefert verzollt DepotG Depotgesetz DHL (unternehmen) Dalsey Hillblom Lynn DPU Delivered At Place Unloaded/Geliefert benannter Ort entladen DrittelbG Drittelbeteiligungsgesetz e. G. eingetragene Genossenschaft e. K. Eingetragener Kaufmann EBRG Gesetz über europäische Betriebsräte EDV Elektronische Datenverarbeitung eff. effektiv EGBGB Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche eIDAS-VO Verordnung über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt EntgFG Entgeltfortzahlungsgesetz ErbbauRG Erbbaurechtsgesetz EStG Einkommensteuergesetz EuGH Europäischer Gerichtshof EUR Euro EWIV Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung EXW Ex Works/Ab Werk FAS Free Alongside Ship/Frei Längsseite Schiff FCA Free Carrier/Frei Frachtführer

Abkürzungen

FernAbsG Fernabsatzgesetz ff. fortfolgende FOB Free On Board/Frei an Bord GbmHR GmbH-Rundschau GBO Grundbuchordnung GbR Gesellschaft bürgerlichen Rechts gem. Gemäß GenG Genossenschaftsgesetz GewO Gewerbeordnung GG Grundgesetz GmbH Gesellschaft mit beschränter Haftung GmbHG GmbH-Gesetz GoA Geschäftsführung ohne Auftrag GRC Grundrechtecharta GVG Gerichtsverfassungsgesetz GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen h.M. herrschende Meinung HAG Heimarbeitsgesetz HandwO Handwerksordnung HaustürWG Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften[1] HGB Handelsgesetzbuch HIV Humanes Immundefizienz-Virus HRVO Verordnung über die Führung des Handels-, Genossenschafts- und Partnerschaftsregisters[1] i. A. im Auftrag i. d. R. in der Regel i. L. in Liquidation i. S. im Sinne i. S. d. im Sinne des i. V. in Vertretung i. V. m. in Verbindung mit IG Interessengemeinschaft IHK Industrie- und Handelskammer IKEA Ingvar Kamprad Elmtaryd Agunnaryd Incoterms International Commerce Terms InsO InsolvenzOrdnung IPR Internationales Privatrecht JArbSchG Jugendarbeitsschutzgesetz Kap. Kapitel KBS kaufmännischen Bestätigungsschreiben kg Kilogramm KG Kommanditgesellschaft KGaA Kommanditgesellschaft auf Aktien km kilometer

XXI

XXII

Abkürzungen

KSchG Kündigungsschutzgesetz KStG Körperschaftssteuergesetz KWG Kreditwesengesetz LadSchlG Ladenschlussgesetz lit. litera LKW Lastkraftwagen Ltd. Limited Company MarkenG Markengesetz MiethöheG Miethöhegesetz MiLoG Mindestlohngesetz MitbestG Mitbestimmungsgesetz MuSchG Mutterschutzgesetz NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport NOM no oral modification clauses Nr. Nummer NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht oHG offene Handelsgesellschaft OLG Oberlandesgericht PartGG Partnerschaftsgesellschaftsgesetz PKW Personenkraftwagen pp per procura ppa per procura autoritate ProdHaftG Produkthaftungsgesetz RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rn. Randnummer ROM I-VO Rom 1 Verordnung S. Seite s. o. siehe oben SE Schadensersatz SE Societas Europae SEAG SE-Ausführungsgesetz SEBG SE-Beteiligungsgesetz SE-VO SE-Verordnung SGB Sozialgesetzbuch SigG Signaturgesetz SMS Short Message Service sog. sogenannt SprAuG Sprecherausschussgesetz SpruchG Spruchverfahrensgesetz StGB Strafgesetzbuch SUP Societas Unitas Europae t Tonnen TÜV Technischer Überwachungsverein TV Tarifvertrag

Abkürzungen

TVG Tarifvertragsgesetz TVG Tarifvertragsgesetz TzBfG Teilzeit- und Befristungsgesetz u. a. unter anderem u. v. m. und vieles mehr UG Unternehmergesellschaft UmwG Umwandlungsgesetz UN United Nations Urt. v. Urteil vom UStG Umsatzsteuergesetz usw. und so weiter UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb VerbrKrG Verbraucherkreditgesetz vgl. vergleiche VVG Versicherungsvertragsgesetz VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WahlO Wahlordnung WTO World Trade Organisation z. B. zum Beispiel z. T. zum Teil ZAG Gesetz über die Beaufsichtigung von Zahlungsdiensten ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ZPO Zivilprozessordnung ZVG Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung

XXIII

Teil I Bürgerliches Recht

1

Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

In unserem Alltag sind die am Wirtschaftsverkehr Teilnehmenden ständig darum 1 bemüht, ihre Beziehungen auszugestalten oder bestimmte Erfolge herbeizuführen. Sind diese Handlungen auf das Herbeiführen bzw. den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen ausgerichtet, so werden sie „Rechtsgeschäfte“ genannt. Damit diese Rechtsgeschäfte den gewünschten Erfolg erzielen oder die Wirtschaftsteilnehmer in der vorgestellten Weise rechtlich verpflichten können, genügt es allerdings nicht, nur vage zu agieren, sondern es müssen verbindliche Erklärungen getätigt (sog. „Willenserklärungen“) oder Abschlüsse vereinbart werden (sog. „Verträge“). Diese Willenserklärungen und Verträge müssen zudem mit unserer Rechtsordnung und dabei insbesondere mit dem bürgerlichen Recht in Einklang stehen, um am Ende auch Bestand zu haben. Denn was nützen ein vermeintlich guter Vertragsabschluss und ein darauf aufbauender Leistungsaustausch, wenn der Vertrag kurz darauf z. B. wegen eines Formmangels oder eines Verstoßes gegen Gesetzesoder Gewohnheitsrecht wieder außer Kraft gesetzt und rückabgewickelt werden muss. Daher kommt gerade dem Wissen um die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften eine besondere Bedeutung zu. Darüber hinaus sind genaue Kenntnisse zum Zustandekommen, der Gestaltung und der Beendigung von Rechtsgeschäften erforderlich, um rechtssicher am Wirtschaftsleben teilnehmen zu können. Das folgende Kapitel befasst sich daher nach einer kurzen Einführung in das (Wirtschafts-)Privatrecht ausführlich mit den Rechtsgeschäften, wie Willenserklärungen und Verträgen. Dabei wird insbesondere erläutert • was unter einem Rechtsgeschäft, einer Willenserklärung und einem Vertrag zu verstehen ist und worin die Unterschiede bestehen; • wie und durch wen Verträge geschlossen werden und aus welchen Gründen sie nichtig sein können; • welche Störungen sich bei der Vertragsabwicklung einstellen können und welche Rechtsfolgen daraus resultieren; © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_1

3

4

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

• wie man sich von Verträgen wieder lösen kann und welche gesetzlichen Beendigungsgründe es gibt; • inwieweit sich Dritte an Vertragsverhältnissen beteiligen können.

1.1

 as Bürgerliche Recht als Bestandteil D des Wirtschaftsrechts

Der Begriff „Wirtschaftsrecht“ umschreibt die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die den Aufbau und den Ablauf der Volkswirtschaft bestimmen. Das Wirtschaftsrecht ist daher keine klar abgrenzbare Rechtsmaterie, sondern beinhaltet sämtliche Regelungen, die für eine funktions- und problembezogene Sicherung der freien und sozialen Marktwirtschaft erforderlich sind und die teilweise dem öffentlichen und teilweise dem privaten Recht zuzuordnen sind (Abb. 1.1 und 1.2). 3 Während das Privatrecht den Teil der Rechtsordnung darstellt, der die Beziehungen der natürlichen und juristischen Personen unter- und zueinander auf der Grundlage der Gleichordnung regelt, befasst sich das öffentliche Recht überwiegend mit den staatlichen Organisationen sowie den Rechtsbeziehungen der natürlichen und juristischen Personen zum Staat und seinen staatlichen Einrichtungen; die Beziehungen sind dabei typischerweise von einem Über- und Unterordnungsverhältnis geprägt. 2

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Abb. 1.1  Öffentliches Recht

1.2  Bürgerliches Recht

5

3ULYDWUHFKW =LYLOUHFKW  EHWULIIWGLH5HFKWVEH]LHKXQJHQQDWUOLFKHUXQGMXULVWLVFKHU 3HUVRQHQXQWHUHLQDQGHU %UJHUOLFKHV5HFKWXQG 1HEHQJHELHWH

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Abb. 1.2 Privatrecht

Die Einordnung eines Sachverhalts zum Privatrecht oder zum Öffentlichen 4 Recht hat Bedeutung für die Wahl des entscheidungserheblichen (materiellen) Rechts. Ferner  – und dies ist insbesondere für die Rechtspraxis wichtig  – bestimmt sie den Zugang zum zuständigen Gericht, d. h. den Rechtsweg. Nach § 13 GVG gehören z. B. alle bürgerlichen (d. h. privatrechtlichen) Rechtsstreitigkeiten vor die ordentlichen Gerichte (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht, Bundesgerichtshof). Dagegen ist für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nach § 40 VwGO regelmäßig (Ausnahme bilden Verfassungsstreitigkeiten) der Verwaltungsgerichtsweg (Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, Bundesverwaltungsgericht) vorgesehen.

1.2

Bürgerliches Recht

Das bürgerliche Recht ist der Teil des (Wirtschafts-)Privatrechts, der für jeder- 5 mann gilt; es regelt allgemein und generell die Rechtsverhältnisse natürlicher und juristischer Personen (= Rechtssubjekte) untereinander und ist im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) niedergelegt (Abb. 1.3). Vom bürgerlichen Recht als der Grundlage des (Wirtschafts-)Privatrechts ist das 6 Sonderprivatrecht zu unterscheiden, welches auf den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts aufbaut und diese für bestimmte Teilbereiche abändert und ergänzt. So ist z. B. das Handelsrecht das Sonderprivatrecht der Kaufleute und der Handelsgesellschaften, das Arbeitsrecht das Sonderprivatrecht der abhängigen, unselbständigen Arbeitnehmer.

6

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Privatrecht, Bürgerliches Recht und Sonderprivatrecht

Bürgerliches Recht Allgemeines Privatrecht (zentraler Kern)

Privatrecht Sonderprivatrecht Handelsrecht: HGB Gesellschaftsrecht: GmbHG, AktG, … Arbeitsrecht: MuSchG, ArbZG, …

Abb. 1.3  Privatrecht, bürgerliches Recht und Sonderprivatrecht

7

Das bürgerliche Recht ist die Grundlage und der zentrale Kern des (Wirtschafts-)Privatrechts. Von ihm, als dem allgemeinen Teil des (Wirtschafts-)Privatrechts, haben sich die einzelnen Gebiete des Sonderprivatrechts herausgebildet und abgespalten. Diese sind trotz ihrer – zumindest formellen – Verselbständigung mit dem bürgerlichen Recht eng verflochten, sodass auch sie nur vor dem Hintergrund des allgemeinen (Wirtschafts-)Privatrechts – dem bürgerlichen Recht – zu verstehen sind. Deshalb sind die Kenntnisse des bürgerlichen Rechts gleichsam notwendige Voraussetzung für das Verständnis der verschiedensten Sonderprivatrechtsmaterien.

1.3

Das Bürgerliche Gesetzbuch

1.3.1 Entstehung und Entwicklung 8

9

Das für das bürgerliche Recht mit Abstand wichtigste Gesetz ist das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das am 18. August 1896 verkündet und am 1. Januar 1900 in Kraft getreten ist. Inzwischen wurden zwar eine Reihe von Vorschriften geändert und völlig neue Regelungen  – besonders für Rechtsbereiche, an die man damals noch nicht dachte  – in das BGB eingefügt (z.  B.  Recht der Zahlungsdienste §§ 675c ff. BGB; Reisevertragsrecht §§ 651a ff. BGB) oder dem BGB ergänzend zur Seite gestellt (z. B. WEG, ProdHaftG), doch hat sich das BGB in seinen Grundfundamenten in dieser langen Zeitspanne nicht verändert. Es hat bis heute seine zentrale Stellung im Rahmen des Privatrechts beibehalten. Aufgrund der Fähigkeit, selbst mit den modernsten Entwicklungen Schritt zu halten und regulatorische Antworten zu liefern, machen es zu einem gesetzgeberischen Meisterwerk. Dennoch gab es in der Vergangenheit auch größere Reformen, die oftmals europäisch veranlasst waren. Zum 1. Januar 2002 wurden beispielsweise zentrale Teile des BGB durch die große Schuldrechtsreform grundlegend verändert (und verein-

1.3  Das Bürgerliche Gesetzbuch

7

facht). Sie modernisierte neben dem Verjährungsrecht insbesondere das Leistungsstörungsrecht und das Gewährleistungsrecht beim Kauf- und Werkvertrag. Außerdem wurden im Zuge dieser Reform bereits bestehende dem Privatrecht zuordenbare Verbraucherschutzbestimmungen, die noch außerhalb des BGB angesiedelt waren (AGBG, VerbrKrG, HaustürWG, FernAbsG), in das Gesetzeswerk integriert. Eine weitere grundlegende Veränderung erfuhr das BGB durch die Umsetzung der europäischen Verbraucherrechterichtlinie [Richtlinie 2011/83/EU v. 25.10.2011] in nationales Recht im Jahr 2013. Die europaweite Angleichung des Widerrufsrechts bei Verbraucherverträgen sowie die Integration zahlreicher Regelungen zu besonderen Vertriebsformen im elektronischen Geschäftsverkehr (§§ 312 ff. BGB) sollten den europäischen Verbraucherschutz (v. a. im Onlinehandel) erneut verbessern und zudem einen positiven Einfluss auf den grenzüberschreitenden Handel ausüben.

1.3.2 Grundlagen Die Beständigkeit und Resilienz des BGB resultiert zum einen aus den zahlreichen, 10 sehr klug und allgemein formulierten Vorschriften, die in der Lage sind, selbst neuere politische, technologische und ökonomische Situationen zu erfassen. Zum anderen orientiert sich das BGB an der freiheitlich-liberalen Grundordnung, welche die individuelle Entfaltung seiner Rechtssubjekte in den Vordergrund rückt und diese über die Grundprinzipien der Gleichordnung (Gleichberechtigung) und der Selbstbestimmtheit stärkt.

1.3.2.1 Privatautonomie Das BGB bekennt sich zur Privatautonomie. Darunter versteht man die dem 11 Einzelnen durch die Rechtsordnung gewährte und auch verfassungsrechtlich (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG) gesicherte Möglichkeit, die Regelung seiner Lebensverhältnisse innerhalb der geltenden Rechtsordnung durch Rechtsgeschäfte, insbesondere durch Verträge, selbst zu bestimmen und auszugestalten. Die Privatautonomie manifestiert sich beispielsweise in der Vertragsfreiheit, die dem Einzelnen das Recht einräumt, selbst zu entscheiden, ob und mit wem er Verträge schließen will (sogenannte Abschlussfreiheit) und wie deren Inhalt aussehen soll (sogenannte Gestaltungsfreiheit). Darin liegt aber auch eine Gefahr. Denn wenn das Recht erlaubt, dass Rechts- 12 subjekte (Bürger, Unternehmer) unter Bezugnahme auf die Privatautonomie bzw. die Vertragsfreiheit mit Dritten Verträge kraft freier Willensbetätigung schließen und damit in ihrem Verhältnis zueinander verbindlich Recht setzen, könnten hierdurch überragende Interessen der Allgemeinheit oder grundlegende Wertentscheidungen der Rechtsordnung gefährdet werden. Als Beispiel sei das Kartell genannt, einem Zusammenschluss oder einer Vereinbarung von rechtlich und wirtschaftlich selbständigen Unternehmen mit dem Ziel über vertragliche Regelungen wie Preisabsprachen und ähnliches den Wettbewerb auszuschalten. Insofern müssen den gewährten Freiheiten Kontrollmechanismen gegenüber- 13 stehen, die eine missbräuchliche und gefährdende Ausübung der eingeräumten

8

14

15

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

­ reiheiten (z. B. durch Monopolisten) beschränken und gleichzeitig Sorge tragen, F dass die vorausgesetzte Gleichheit aller auch auf Dauer erhalten bleibt. Einer schrankenlosen Privatautonomie sind daher aus Gründen der Selbsterhaltung des freiheitlichen Systems Grenzen gesetzt, damit nicht die Autonomie aller zu einer Autonomie weniger auf Kosten der anderen wird. Begrenzt wird die Privatautonomie zum einen durch Rechtsvorschriften. So enthält z. B. das BGB neben einer Reihe zwingender Rechtsvorschriften, die dem Schutz einer einzelnen Partei dienen (z.  B. die §§  311b Abs.  2, 573 Abs.  4, 619 BGB), Vorschriften, die eine objektive Ordnungsfunktion haben und dadurch für die entsprechende Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in den entstehenden oder bestehenden Rechtsverhältnissen sorgen (z. B. die sachenrechtlichen Vorschriften der §§ 929 ff. BGB). Ferner existieren Rechtsvorschriften, die korrigierend wirken, indem sie die Gestaltungsfreiheit dort einschränken, wo sie missbraucht wird oder missbraucht werden könnte (z. B. die §§ 138, 242 BGB sowie die Formvorschriften §§ 125 ff. BGB). Innerhalb des BGB gibt es außerdem Vorschriften, die die Verbraucher als eine im Verhältnis zu Unternehmern typischerweise unterlegene Marktgruppe schützen und somit den Zweck verfolgen, Benachteiligungen, die sich aus der Ausübung der Privatautonomie ergeben, zu beseitigen (z. B. §§ 241a, 312 ff., 474 ff., 491 ff. BGB). Diese Regelungen greifen beim Vorliegen von Verbraucherverträgen ein, also Verträgen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher. Dabei ist „Verbraucher“ nach § 13 BGB „jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu Zwecken abschließt, die überwiegend weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können“. Da §  13 BGB nur Rechtsgeschäfte für selbständige berufliche Zwecke vom Verbraucherschutz ausschließt, ist auch der Arbeitnehmer Verbraucher (z. B. beim Kauf von Arbeitskleidung). Als „Unternehmer“ wird dagegen nach § 14 BGB eine natürliche oder juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft bezeichnet, „die bei Abschluss eines Rechtsgeschäftes in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt“. Erfasst sind demnach alle Personen, die am Markt planmäßig und dauerhaft Leistungen gegen ein Entgelt anbieten. Die Privatautonomie kann aber auch durch die Vertragsparteien selbst eingeschränkt werden. So setzen beispielsweise Wirtschaftsunternehmen, welche massenweise Verträge mit anderen Händlern oder Kunden abschließen, vorformulierte und formularmäßig vorbereitete Vertragstexte ein (sogenannte Allgemeine Geschäftsbedingungen), um standardisierte Massengeschäfte einheitlich und zumeist für sie vorteilhaft abzuwickeln. Der Kunde kann dann nur noch unter den vorformulierten Vertragsbedingungen abschließen, d. h. den vorgegebenen Vertragsinhalt akzeptieren oder vom Vertragsschluss Abstand nehmen. Einen maßgeblichen Einfluss auf den Vertragsinhalt hat der Kunde, sofern er sich den Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterwirft, nicht mehr  – seine Privatautonomie ist daher kraft Parteiwillens eingeschränkt. Die Rechtsprechung hat allerdings von Anfang an diese Form der Einschränkung der Privatautonomie zu Lasten des Kunden nur begrenzt zugelassen und inhaltlich kontrolliert (s.  o.); 1977 ist die interpretierende Rechtsprechung in das damals neu geschaffene AGB-Gesetz, welches durch die

1.3  Das Bürgerliche Gesetzbuch

9

Schuldrechtsreform in das BGB (§§  305  ff. BGB) integriert wurde, eingeflossen (Abschn. 1.6.2.2).

1.3.2.2 Abstraktionsprinzip Nicht immer einfach zu verstehen ist ein weiteres Grundprinzip des BGB, das sog. Abstraktionsprinzip. Es ordnet die Trennung von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft an und bestimmt darüber hinaus, dass die Wirksamkeit des Verfügungsgeschäfts von der Wirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts unabhängig ist. Das Verpflichtungsgeschäft ist das Rechtsgeschäft, durch das sich jemand zu einer Leistung oder Handlung verpflichtet, wie etwa der Kaufvertrag. Durch ihn verpflichtet sich der Verkäufer die Kaufsache zu übergeben und zu übereignen (§  433 Abs.  1 BGB) und der Käufer im Gegenzug zur Zahlung des Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB). Davon getrennt steht das sog. Verfügungsgeschäft als das Rechtsgeschäft, welches unmittelbar auf ein bestehendes Recht einwirkt, sei es durch Übertragung, Aufhebung, Inhaltsänderung oder Belastung. Im Beispiel des Kaufs liegen sogar zwei Verfügungsgeschäfte vor, zum einen das Übereignen der Kaufsache und zum anderen das Übereignen des Geldes. Die Besonderheit des Abstraktionsprinzips liegt nun darin, dass die Verfügungsgeschäfte (hier die beiden Übereignungen) vom Verpflichtungsgeschäft (hier der Kaufvertrag) unabhängig sind. Sollte also der Kaufvertrag unwirksam sein, bleiben die Verfügungen (sofern sie ihrerseits ordnungsgemäß erfolgt sind, §§ 929 ff. BGB Abschn. 4.2) trotzdem wirksam. Da ein solches Ergebnis allerdings manchmal unbefriedigend ist, hält das BGB mit den Regeln zur ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff. BGB) entsprechende Korrekturmechanismen bereit (Abschn. 3.2.1).

16

17

18

19

1.3.3 Aufbau und Gliederung des BGB Das BGB gliedert sich in fünf Bücher (Abb. 1.4) und folgt in seinem Aufbau dem 20 Prinzip „vom Allgemeinen zum Besonderen“, d. h. der Gesetzgeber hat, um das BGB nicht so umfangreich werden zu lassen, innerhalb der einzelnen Bücher das Gemeinsame mehrerer Regelungen ausgeklammert und „vor die Klammer“ gezogen, während er „in der Klammer“ das jeweils Besondere beließ. Beispiel

Im achten Abschnitt des Schuldrechts (§§ 433–853 BGB) werden die einzelnen Schuldverhältnisse behandelt. Das Gemeinsame aller oder mehrerer dieser sehr verschiedenen Schuldverhältnisse ist in den §§ 241–432 BGB vorweg behandelt. So wird beispielsweise im vierten Abschnitt des 2. Buches das „Erlöschen der Schuldverhältnisse“ (§§  362  ff. BGB) geregelt. Dort ist z.  B. bestimmt, unter welchen Voraussetzungen eine Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner auf Zahlung eines bestimmten Geldbetrages erlischt. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um einen Anspruch aus Kauf, Miete oder Werkvertrag handelt. ◄

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Gliederung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1. Buch 2. Buch

Allgemeiner Teil

§§

1

-

240 BGB

Schuldrecht

§§

241

-

853 BGB

§§ §§

241 433

-

432 BGB 853 BGB

854

- 1296 BGB

 

Allgemeines Schuldrecht Besonderes Schuldrecht

3. Buch

Sachenrecht

§§

4. Buch

Familienrecht

§§ 1297 - 1921 BGB

5. Buch

Erbrecht

§§ 1922 - 2385 BGB

Abb. 1.4  Aufbau und Gliederung des BGB

Diese Ausklammerungsmethode hat der Gesetzgeber nicht nur innerhalb der einzelnen Bücher durchgeführt, sondern über die einzelnen Bücher des BGB hinausgreifen lassen. Demgemäß ist das, was für das zweite bis fünfte Buch des BGB gemeinsam gilt, im Allgemeinen Teil des BGB (1. Buch) vorangestellt. Beispiel

So beginnen die Regeln zum Kauf in den §§ 433 ff. BGB mit den Pflichten der Vertragsparteien, die sich aus dem Kaufvertrag ergeben. § 433 BGB setzt einen Kaufvertrag voraus, sagt hingegen nicht, wie ein Vertrag zustande kommt. Diese Frage, die alle Verträge gleichermaßen betrifft (Kauf-, Werk-, Überweisungs-, Ehe- oder Erbvertrag), ist daher ausgeklammert und im Allgemeinen Teil des BGB enthalten (§§ 145 ff. BGB). ◄ 21

Außerdem hat der Gesetzgeber die Verweisungstechnik eingesetzt, um Wiederholungen zu vermeiden. Dabei wird in einzelnen Vorschriften auf andere Vorschriften Bezug genommen. Es kommt sogar vor, dass die Bestimmung, auf die verwiesen wird, ihrerseits weiterverweist. Beispiel

Abschreckende Beispiele für diese Verweisungstechnik sind § 2013 BGB oder § 650 BGB. Aber auch § 819 Abs. 2 BGB kann hier angeführt werden: Er setzt den Tatbestand des § 817 Satz 1 BGB voraus und „verweist“ auf § 819 Abs. 1 BGB; dieser „verweist“ auf § 818 Abs. 4 BGB, dieser wiederum auf die „allgemeinen Vorschriften“, zu denen § 292 BGB gehört, und § 292 BGB verweist seinerseits auf das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis der §§ 987 ff. BGB. ◄ 22

Das BGB, welches wie in Abb. 1.4. dargestellt gegliedert ist, folgt entsprechend der Intention des Gesetzgebers dem Lebensphasenmodell, d. h. das Gesetz soll den Menschen idealerweise von der Geburt an bis zum Tod begleiten können.

1.4 Rechtsgeschäft

11

Das erste Buch enthält den Allgemeinen Teil, also die Vorschriften, die – wie bereits erwähnt – für alle übrigen Bücher des BGB gelten, sofern diese keine abweichenden Spezialregelungen aufstellen. Der Allgemeine Teil beinhaltet in der Hauptsache Normen über natürliche und juristische Personen (z.  B.  Rechts- und Geschäftsfähigkeit), Sachen und Rechtsgeschäfte. Daran schließen sich Vorschriften über Fristen, Termine, Anspruchsverjährung und die Rechtsausübung an. Das zweite Buch umfasst das Recht der Schuldverhältnisse. Dies sind Sonderverbindungen zwischen einzelnen Personen, die durch Vertrag oder unmittelbar kraft Gesetzes entstehen. Das BGB regelt das Schuldrecht wiederum in der Weise, dass es die allgemeinen Vorschriften den besonderen voranstellt. Dabei enthält das allgemeine Schuldrecht generelle Regeln über das Entstehen, den Inhalt und das Schicksal des Schuldverhältnisses und der daraus resultierenden Forderung, während das besondere Schuldrecht einzelne, dem Gesetzgeber besonders wichtig erscheinende vertragliche und gesetzliche Schuldverhältnisse näher beschreibt. Das Sachenrecht im dritten Buch ordnet die Beziehung einer Person zu beweglichen oder unbeweglichen Sachen. Es enthält Regeln über die tatsächliche Sachherrschaft (Besitz), die rechtliche Sachherrschaft (Eigentum) sowie beschränkte dingliche Rechte (z. B. Hypothek, Grundschuld, Pfandrecht). Das im vierten Buch angesiedelte Familienrecht befasst sich mit dem Eherecht, dem Kindschafts- und Verwandtschaftsrecht sowie dem Vormundschafts- und Betreuungsrecht. Im fünften Buch regelt der Gesetzgeber schließlich das Erbrecht, also die vermögensrechtlichen Folgen des Todes eines Menschen. Es befasst sich insbesondere damit, wer an die Stelle des Verstorbenen tritt und welche Rechte und Pflichten derjenige hat.

1.4

Rechtsgeschäft

Das Rechtsgeschäft ist die auf die Herbeiführung eines Rechtserfolges (z. B. Ver- 23 tragsabschluss, Beendigung des Vertrages, Erlöschen einer Forderung) gerichtete Handlung. Es besteht aus einer oder mehreren rechtserheblichen Erklärungen, mit denen die handelnden Personen ihren rechtsgeschäftlichen Willen äußern, den sogenannten Willenserklärungen (Abschn. 1.5) Je nachdem, ob nun für das Auslösen des rechtlichen Erfolges die Willens- 24 erklärung einer einzelnen Person ausreicht oder ob die Willenserklärungen mehrerer (mindestens zweier) Personen dafür erforderlich sind, unterscheidet man zwischen einseitigen und mehrseitigen Rechtsgeschäften (Abb. 1.5). Einseitige Rechtsgeschäfte sind z.  B.  Kündigungserklärung, Anfechtungser­ klärung (§ 143 Abs. 1 BGB), Testamentserrichtung, Auslobung (§ 657 BGB). Mehrseitige Rechtsgeschäfte sind z. B. Verträge als übereinstimmende, wechselseitige Erklärungen mindestens zweier Personen; Gesamtakte als ü­ bereinstimmende, gleichgerichtete Willenserklärungen mindestens zweier Personen (z.  B. gemein-

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Überblick über die verschiedenen Arten von Rechtsgeschäften Rechtsgeschäfte

mehrseitige

einseitige

nicht empfangsbedürftige

empfangsbedürftige 

Kündigung

 

  

Verträge Gesamtakte Beschlüsse

Testament Auslobung

Abb. 1.5  Verschiedene Arten von Rechtsgeschäften

25

26

schaftliche Kündigungserklärung der Eheleute gegenüber dem Vermieter); Beschlüsse als gleichgerichtete Willenserklärungen mehrerer Personen (z. B. Vereinsbeschluss, Gesellschafterbeschluss). Bei den einseitigen Rechtsgeschäften wird weiter zwischen empfangsbedürftigen und nicht empfangsbedürftigen Rechtsgeschäften unterschieden. Die Kündigung ist beispielsweise ein einseitiges Rechtsgeschäft. Außerdem ist sie ein empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft, da der entsprechende Wille dem anderen mitgeteilt werden muss, sie also erst wirksam wird, wenn die Erklärung dem anderen zugeht. Auch das Testament ist ein einseitiges Rechtsgeschäft; doch weil zur Herbeiführung des bezweckten rechtlichen Erfolges (Regelung des Nachlasses) eine eigenhändig geschriebene und unterschriebene Erklärung (vgl. § 2247 Abs. 1 BGB) genügt, d. h. das Testament auch ohne Wissen der Erben wirksam werden kann, ist es ein einseitiges, nicht empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft. Das Rechtsgeschäft ist vom reinen Gefälligkeitsverhältnis, der geschäftsähnlichen Handlung und dem Realakt abzugrenzen. Beim reinen Gefälligkeitsverhältnis oder der Gefälligkeitszusage fehlt es – im Gegensatz zum Rechtsgeschäft  – am sogenannten Rechtsbindungswillen, also dem Willen des Zusagenden, sich durch seine Erklärung rechtlich zu binden und zu verpflichten. Demgemäß folgen aus der Nichteinhaltung einer solchen ­Gefälligkeitszusage auch keine rechtlichen Konsequenzen für den Zusagenden. Solche Gefälligkeitszusagen können gesellschaftlicher, familiärer oder nachbarschaftlicher Art sein. Ob eine Gefälligkeitszusage vorliegt oder doch schon eine rechtlich bindende Erklärung ist im Wege der Auslegung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte/-üblichkeit zu ermitteln (§§  133, 157 BGB). Hierbei sind die gesamten Umstände, insbesondere die zugrundeliegenden wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Interessen der Beteiligten zu berücksichtigen.

1.5 Willenserklärung

13

Beispiel

Besteht etwa die Verabredung zwischen den Studenten A und B aus Chemnitz gemeinsam an einer Vortragsveranstaltung in Berlin teilzunehmen und sagt der A dem B zu, diesen in seinem PKW mitzunehmen, dann ist dies nicht der Abschluss eines (rechtlich verbindlichen) Beförderungsvertrages, sondern hier spricht der A nur eine (rechtlich nicht bindende) gesellschaftliche Einladung aus. Kann der A diese Zusage nicht aufrechterhalten, so hat dies keine rechtlichen Konsequenzen für ihn (BGH 30, 46; NJW 92, 498 f.). ◄ Abzugrenzen ist das Rechtsgeschäft ferner von der geschäftsähnlichen Hand- 27 lung. Während das Rechtsgeschäft auf einer Willenserklärung mit entsprechendem Rechtsfolgewillen basiert, tritt bei der geschäftsähnlichen Handlung die Rechtsfolge unabhängig vom Willen des Handelnden allein aufgrund einer gesetzlichen Regelung ein. Beispiel

Die Aufforderung eines Verkäufers an einen Käufer, die ausstehende Kaufpreisrate zu erbringen (Mahnung), setzt ein willentliches Verhalten des Verkäufers voraus. Der Verzug des Käufers tritt jedoch nach § 286 Abs. 1 BGB kraft Gesetzes, also ohne einen darauf gerichteten Willen des Verkäufers ein, selbst wenn dieser im Moment der Mahnung an die Verzugsfolgen (Verzugszins) noch gar nicht denkt. ◄ Und schließlich ist das Rechtsgeschäft vom Realakt zu unterscheiden. Dabei 28 sind Realakte faktische Handlungen, an welche die Rechtsordnung, völlig unabhängig von einem entsprechenden Willen des Handelnden, Rechtsfolgen knüpft. Die Rechtsfolgen treten anders als beim Rechtsgeschäft gleichgültig davon ein, ob sie vom Handelnden gewollt sind oder nicht. Beispiel

Die Verarbeitung einer Sache ist eine Tathandlung, die augenscheinlich keine Willensäußerung darstellt, aber dennoch die Rechtsfolge auslöst, dass der Verarbeitende das Eigentum an dieser Sache erwirbt (§ 950 BGB). Diese Rechtsfolge tritt ein, unabhängig davon, ob sie der Verarbeitende will oder nicht. ◄

1.5

Willenserklärung

Die Willenserklärung ist – wie zuvor dargestellt – ein Grundelement des Rechtsgeschäftes, und zwar in dem Sinn, dass ein einseitiges Rechtsgeschäft aus nur einem solchen Element besteht, während mehrseitige Rechtsgeschäfte sich aus mehreren dieser Elemente zusammensetzen.

29

14

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

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Abb. 1.6  Überblick Willenserklärung

1.5.1 Bestandteile der Willenserklärung 30

Die „Willens-Erklärung“ ist dabei die Äußerung des auf einen Rechtserfolg gerichteten Willens (Abb. 1.6); sie besteht aus zwei Teilen: • dem äußeren (objektiven) Teil – der Erklärung und • dem inneren (subjektiven) Teil – dem Willen des Erklärenden

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Der objektive (äußere) Teil einer Willenserklärung ist der tatsächliche Erklärungsakt, als das äußerlich erkennbare Verhalten, das auf den Willen des Erklärenden schließen lässt, eine bestimmte Rechtsfolge herbeiführen zu wollen. Der Erklärende muss also seinen Willen, eine Rechtsfolge herbeiführen zu wollen, nach außen kundgetan haben. Ein solcher Kundgabeakt liegt vor, wenn ein objektiver Dritter aus den für ihn erkennbaren Verhaltensweisen auf den Geschäftswillen des Erklärenden schließen kann (sogenannter Erklärungstatbestand). Der Erklärungstatbestand kann ausdrücklich durch Schreiben oder Sprechen gesetzt werden, aber auch durch ein sonstiges nonverbales Verhalten (Zeigen, Winken, Kopfnicken usw.); die meisten Alltagsgeschäfte kommen ohne eine verlautbarte Vereinbarung durch konkludentes oder schlüssiges Verhalten zustande. Für die Rechtsbindung ist es gerade nicht erforderlich, dass der Wille ausdrücklich verlautbart wird. Beispiel

Die Äußerung des Kunden gegenüber einem Zeitungsverkäufer: „Ich hätte gerne die Financial Times“, ist eine auf den Abschluss eines Kaufvertrages ­gerichtete ausdrücklich verlautbarte Willenserklärung. Wenn der Verkäufer daraufhin dem

1.5 Willenserklärung

15

Kunden wortlos die Zeitung überreicht, das hingehaltene Geldstück entgegennimmt und das Wechselgeld herausgibt, liegt darin die konkludente Willenserklärung des Verkäufers, das Kaufvertragsangebot anzunehmen und die Einigung herbeizuführen. ◄ Um die Vertragspartner davor zu schützen, leichtfertig rechtliche Verpflichtungen 33 einzugehen, bestehen gelegentlich gesetzliche Vorschriften, welche die Wirksamkeit einer Willenserklärung davon abhängig machen, dass diese ausdrücklich oder sogar schriftlich erfolgt. So bedarf z. B. die Erteilung einer Prokura einer ausdrücklichen Erklärung (§ 48 HGB), das Schuldanerkenntnis (§ 781 BGB) und die Bürgschaft (§ 766 BGB) der Schriftform (Abschn. 1.6.2.4) Vom konkludenten Verhalten ist das Schweigen (Nichtstun) abzugrenzen, bei 34 dem sich der Erklärende gerade nicht bewusst entäußert, d. h. sich nicht ausdrücklich oder konkludent verhält. In einem solchen Fall liegt regelmäßig auch keine Willenserklärung vor, denn wer schweigt, setzt gerade keinen Erklärungstatbestand. Nur ganz ausnahmsweise wird das Schweigen in seiner Rechtswirkung einer Willenserklärung gleichgesetzt, und zwar, wenn dies vorher zwischen den Parteien vertraglich vereinbart wurde oder es nach dem Gesetz als Erklärung (Zustimmung oder Ablehnung) zu werten ist (z. B. §§ 108 Abs. 2 Satz 2, 455 S. 2 BGB; Schweigen eines Kaufmanns auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben). Die geäußerte Erklärung muss im subjektiven Teil der Willenserklärung vom 35 Willen des Erklärenden getragen sein. Allgemein weist dieser innere Tatbestand der Willenserklärung drei Bestandteile auf: • den Handlungswillen, als das Bewusstsein des Erklärenden überhaupt zu handeln. Der Erklärende muss wissen, dass er handelt, spricht, schreibt oder sich durch Gesten äußert; er muss das Bewusstsein und den Willen haben zu handeln. Der Handlungswille fehlt daher bei einem unbewussten Verhalten, z.  B. im Schlaf, bei Reflex oder unter Hypnose. • den Erklärungswillen, als das Bewusstsein und den Willen, am Rechtsverkehr teilzunehmen und irgendeine rechtlich relevante bzw. rechtserhebliche Erklärung abzugeben. Der Erklärende muss wissen, dass seiner Äußerung oder seinem Verhalten (irgendeine) rechtliche Erheblichkeit zukommen kann und er sich damit im Rechtsverkehr bindet (Rechtsbindungswille). • den Geschäfts- oder Rechtsfolgewillen, als den Willen, eine ganz bestimmte Rechtsfolge herbeiführen zu wollen. Der Rechtsfolgewillen geht dabei über das Erklärungsbewusstsein hinaus, weil nun der Wille des Erklärenden auf die Herbeiführung einer ganz bestimmten Rechtsfolge – etwa dem Abschluss eine konkreten Geschäft – gerichtet ist. Der Erklärende muss wissen, dass er durch seine Erklärung diese konkrete Rechtsfolge auslöst. Während der Handlungswille und der Erklärungswille jedenfalls zu den notwendigen Bestandteilen einer Willenserklärung gehören, soll nach einer teilweise vertretenen Meinung der Geschäftswille nicht dazu gehören. Dieser Meinung folgend würde das Fehlen des Geschäftswillens den Bestand der Willenserklärung unberührt lassen.

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36

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Im Zusammenhang mit dem Erklärungsbewusstsein bereiten die Fälle Schwierigkeiten, in denen der Handelnde vom Erklärungsempfänger missverstanden wird, weil dieser ein Handeln als Willenserklärung interpretiert, während dem Handelnden eigentlich das Bewusstsein des rechtserheblichen Handelns fehlte, z. B. weil er ein Erklärungszeichen unbewusst und ohne Rechtsbindungswille vornimmt. Zwar liegt in diesen Fällen aus der Sicht des Handelnden keine Willenserklärung vor (subjektiver Tatbestand des Erklärungswillens fehlt), doch aus dem das gesamte Privatrecht beherrschenden Grundsatz des Vertrauensschutzes folgt, dass das Handeln aus der Sicht des Erklärungsempfängers (Empfängerhorizont) bewertet wird. Der Empfänger einer Erklärung kann sich nämlich nur an die für ihn erkennbare Willensäußerung halten; er kann im Einzelfall nicht wissen, ob dem Verhalten ein rechtserheblicher Wille zugrunde liegt oder nicht. Außerdem ist jeder Teilnehmer am Rechtsverkehr im Hinblick auf sein rechtsgeschäftliches Handeln verpflichtet, die nach den Umständen gebotene Sorgfalt aufzuwenden, um missverständliche Erklärungen zu vermeiden. Beispiel

Winkt jemand auf einer Versteigerung einem Bekannten zu, so darf der Auktionator dieses Winken als Gebot interpretieren, obschon der Handelnde eine solche Erklärung gar nicht abgeben wollte (BGHZ 91, 324 „Trierer Weinversteigerung“). Die Auslegung des Erklärungszeichens „Winken“ richtet sich nach dem Empfängerhorizont – wie durfte der Auktionator dieses Winken verstehen. Das Gericht formulierte in seinem Urteil wie folgt: „… liegt eine Willenserklärung vor, wenn der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, dass seine Äußerung nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte als Willenserklärung aufgefasst werden durfte, und wenn der Empfänger sie auch tatsächlich so verstanden hat. …“ ◄ Eine Korrektur solcher Missverständnisse ist – und insofern ist die scheinbar bestehende Benachteiligung des Handelnden (hier des Winkenden) zunächst auch hinnehmbar – über das Rechtsinstitut der Anfechtung (Abschn. 1.6.3.3 ff.) möglich. ▶▶

Merke  Entscheidend für das Vorliegen einer Willenserklärung ist demnach, dass ein Wille in dem Sinne vorliegt, dass sich die erklärende Person rechtlich verbindlich verpflichten will und dass dieser Wille durch die objektive Erklärung gegenüber dem Vertragspartner (Empfänger der Erklärung) zum Ausdruck gebracht wird.

1.5.2 Wirksamwerden von Willenserklärungen 37

Willenserklärungen werden gemäß §§ 130–132 BGB durch Abgabe und – sofern empfangsbedürftig – durch Zugang wirksam (Abb. 1.7).

1.5 Willenserklärung

17

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Abb. 1.7  Wirksamwerden von Willenserklärungen

Unter „Abgabe“ versteht man die bewusste willentliche Entäußerung im 38 Rechtsverkehr. Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen sind abgegeben und werden bereits wirksam, wenn sich der Erklärende der Erklärung entäußert – sie vollendet, fertig gestellt, ausgesprochen, „in die Welt gesetzt“ – hat (z. B. Annahme eines Angebots in den Fällen der §§ 151, 152 BGB; Auslobung, § 657 BGB; Testament, § 2247 BGB). Empfangsbedürftige Willenserklärungen (z.  B.  Angebote und Annahmeerklärungen (§ 145 f. BGB); Erklärung der Minderung (§ 441 BGB), des Rücktritts (§ 349 BGB) oder der Anfechtung (§ 143)) sind abgegeben, wenn sich der Erklärende seiner Erklärung willentlich derart entäußert, dass er unter Zugrundelegung normaler Verhältnisse und ohne weiteres Zutun seinerseits mit dem Zugang beim Empfänger rechnen kann. Handelt es sich um eine mündliche Erklärung, ist sie abgegeben, wenn sie in Richtung auf den Empfänger ausgesprochen wurde, sodass der Empfänger sie vernehmen kann. Schriftliche Erklärungen sind abgegeben, wenn der Absender das Schriftstück so auf den Weg gebracht hat, dass er mit einer weiteren Beförderung in Richtung des Empfängers rechnen kann. Die Abgabe stellt bei den empfangsbedürftigen Willenserklärungen jedoch nur eine Wirksamkeitsvoraussetzung neben dem noch erforderlichen Zugang dar. Empfangsbedürftige Willenserklärungen leben von der Kommunikation. Um 39 den rechtlichen Erfolg zu bewirken, müssen sie auch wahrgenommen werden. Sie werden daher erst wirksam, wenn sie diesen Kommunikationszweck auch erfüllen. Solange dies nicht geschehen ist, bleiben sie ein einsamer Entschluss, der wieder geändert werden kann. Das Gesetz spricht daher davon, dass Willenserklärungen, die anderen gegenüber abzugeben sind, erst mit ihrem Zugang wirksam werden (§ 130 Abs. 1 BGB).

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

§ 130 Abs. 1 BGB regelt zwar ausdrücklich nur den Zugang unter Abwesenden, allerdings ist unter Berücksichtigung des dort verorteten Rechtsgedankens daraus auch der Zugang unter Anwesenden herleitbar. Unter Anwesenden  – worunter nicht nur die körperliche Anwesenheit zu verstehen ist, sondern auch die direkte Verhandlungssituation mittels Fernsprecheinrichtungen  – gehen verkörperte Erklärungen mit ihrer Übergabe bzw. ihrer Aushändigung an den Empfänger zu. Mündliche Erklärungen oder Erklärungen, die in konkludentem Verhalten zum Ausdruck kommen, gehen zu, sofern der Empfänger sie akustisch oder optisch richtig versteht (sogenannte Vernehmungstheorie). Im Geschäftsverkehr werden Willenserklärungen aber überwiegend schriftlich abgefasst und in Form von Schriftstücken oder elektronisch ausgetauscht. Die Erklärung erfolgt daher unter Abwesenden. Das BGB regelt in §  130 Abs.  1 S.  1 BGB, dass eine Willenserklärung unter Abwesenden in dem Zeitpunkt wirksam wird, in dem sie dem Erklärungsempfänger zugeht. Insofern erreichen die Erklärungen ihren Kommunikationszweck eigentlich erst, wenn sie der Partner zur Kenntnis genommen hat. Einem solchen Verständnis widerspricht jedoch der tiefere Sinn, der mit dem Merkmal „Zugang“ verfolgt wird, nämlich das Risiko des Verlusts der Erklärung zwischen Erklärendem und Empfänger angemessen und „fair“ zu verteilen. Käme es nämlich beim Zugang auf die tatsächliche Kenntnisnahme des Empfängers an, dann trüge der Erklärende nicht nur das „Transportrisiko“, sondern auch noch das Risiko für alle Umstände im Herrschaftsbereich des Empfängers, auf die er naturgemäß keinen Einfluss mehr hat. Daher erscheint es angemessen, das Risiko ab dem „Eindringen“ der Willenserklärung in den Herrschaftsbereich des Empfängers dem Empfänger aufzubürden. In diesem Sinne geht die Rechtsprechung daher davon aus, dass eine verkörperte Willenserklärung nicht erst durch Lesen zugegangen ist, sondern bereits dann, wenn sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt. Dabei erfordert „Zugang“, dass die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers gelangt sein muss, dass dieser unter normalen Umständen davon Kenntnis nehmen kann  – tatsächliche Kenntnisnahme des Empfängers ist dabei nicht erforderlich (vgl. etwa BGH NJW 2003, 3270; BAG NZA 2003, 158). Beispiel

Der Zugang erfolgt z. B. mit Aushändigung des Schriftstücks an den Empfänger oder an den „Empfangsboten“; mit dem Einwurf in den Briefkasten, sofern und sobald mit dessen Leerung zu rechnen ist (zu den üblichen Geschäftszeiten, nicht zu „Unzeit“, d.  h. nachts oder sonntags; wohl aber, wenn der Empfänger im Urlaub ist, es sei denn der Absender wusste von der Abwesenheit des Empfängers); mit dem Einlegen des Schriftstücks in das Postfach; mit Übermittlung eines Fernschreibens zu den üblichen Geschäftszeiten; mit dem Eingang einer E-Mail-Nachricht in die Mailbox (beim Eingang zur „Unzeit“ am folgenden Tag). Der Zugang scheitert u. a., bei einem Zurufen über zehn Reihen hinweg in einer voll besetzten Basketballhalle; bei berechtigter Annahmeverweigerung durch den Empfänger; bei Hinterlassung eines Benachrichtigungszettels über die versuchte Ablieferung eines Einschreibens. ◄

1.6 Vertrag

19

Eine besondere Behandlung erfährt eine Situation, in welcher der Empfänger den Zugang der Erklärung absichtlich vereitelt (z. B. unberechtigte Annahmeverweigerung) oder nachlässig keine geeignete Vorkehrung dafür trifft, dass ihn Erklärungen (rechtzeitig) erreichen können (z. B. keinen Nachsendeantrag stellt). In diesen Fallkonstellationen muss sich der Empfänger nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) und dem Rechtsgedanken des § 162 BGB so behandeln lassen, als sei die Erklärung rechtzeitig zugegangen – der Zugang der Erklärung wird einfach fingiert. Davon zu unterscheiden ist die berechtigte Annahmeverweigerung. Sie ist anzunehmen, wenn der empfangene Brief z. B. nicht ausreichend frankiert war und der Empfänger nun ein Nachporto zahlen müsste. Hier hat der Empfänger natürlich das Recht, folgenlos den Empfang und damit den Zugang zu verweigern. Nach § 131 Abs. 1 BGB müssen Erklärungen an Geschäftsunfähige (§ 104 BGB) dem gesetzlichen Vertreter zugehen. Das Gleiche gilt für Erklärungen an Minderjährige (§ 106 BGB), es sei denn, dass die Erklärungen für den Minderjährigen lediglich rechtlich vorteilhaft sind (§ 131 Abs. 2, Satz 2, Alt. 1 BGB) oder der gesetzliche Vertreter dem direkten Zugang zugestimmt hat (§ 131 Abs. 2, Satz 2, Alt. 2 BGB). § 130 Abs. 1 S. 2 BGB bestimmt, dass eine Willenserklärung nicht wirksam wird und damit deren Bindungswirkung entfällt, wenn sie vom Erklärenden rechtzeitig widerrufen wird. Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss die Widerrufserklärung (ebenfalls eine empfangsbedürftige Willenserklärung) dem Empfänger vor oder gleichzeitig mit der ersten Willenserklärung zugehen. Der Widerruf ist daher nicht rechtzeitig, wenn er später zugeht, selbst wenn der Empfänger von dritter Seite bereits vor Zugang der Willenserklärung vom Widerruf erfahren hat. Unabhängig davon kann ein Widerrufsrecht aufgrund vertraglicher Vereinbarung oder aufgrund gesetzlichen Vorschriften eingeräumt sein, welche die Widerrufsfrist großzügiger bemessen. Ein Beispiel für eine gesetzliche Regelung findet sich in den §§ 312g, 355 BGB, wonach Verbrauchern bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen und Fernabsatzverträgen ein 14-tägiges Widerrufsrecht gewährt wird.

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Fragen

1. Was ist ein Rechtsgeschäft, welche Arten kennt man? 2. Welcher Unterschied besteht zwischen einer Willenserklärung und einem Rechtsgeschäft? 3. Woraus setzt sich der Tatbestand einer (fehlerfreien) Willenserklärung zusammen? 4. Wann wird eine empfangsbedürftige schriftliche Willenserklärung wirksam?

1.6

Vertrag

1.6.1 Begriff des Vertrages Verträge sind mehrseitige Rechtsgeschäfte; an ihrem Zustandekommen sind 45 notwendigerweise mehrere Personen beteiligt. Der rechtliche Erfolg, der durch

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

den Vertrag herbeigeführt werden soll, tritt ein, weil ihn die Beteiligten (Vertragspartner) wollen. Hängt der Rechtserfolg vom gemeinsamen Willen der Vertragsparteien ab, dann müssen die abgegebenen Willenserklärungen (mindestens zwei) in Bezug aufeinander abgegeben werden und inhaltlich übereinstimmen. ▶▶

Merke  Ein Vertrag ist die von den Vertragspartnern einvernehmlich getroffene Regelung eines Rechtsverhältnisses, bei dem die Vertragsschließenden in der Herbeiführung eines von ihnen gemeinsam gewollten rechtlichen Erfolges übereinstimmen.

Hierin liegt nun auch ein wichtiger Unterschied zu dem ebenfalls mehrseitigen Rechtsgeschäft des „Beschlusses“ (z. B. im Rahmen einer Mitgliederversammlung), durch den die Beschließenden gebunden werden können, selbst wenn sie dem Inhalt nicht zugestimmt haben. 47 Es gibt, wie Abb. 1.8, zeigt, verschiedene Arten von Verträgen. 48 Die schuldrechtlichen Verträge nehmen unter den verschiedenen Vertragsarten den breitesten Raum ein. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass durch sie Forderungsbeziehungen zwischen den Vertragspartnern geschaffen werden. Der einseitig verpflichtende Vertrag begründet nur für eine Vertragspartei eine Leistungspflicht (z. B. Schenkungsversprechen oder Bürgschaft). Der zweiseitig oder mehrseitig verpflichtende Vertrag begründet für alle Vertragsparteien Leistungspflichten. Es wird weiter danach differenziert, ob die Pflichten der Vertragsparteien gleichwertig sind und in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen (sogenannte gegenseitige bzw. synallagmatische Verträge) oder ob nur einer Partei die den eigentlichen Inhalt des Vertrages bestimmenden Pflichten auferlegt sind (sogenannte unvollkommene mehrseitig verpflichtende Verträge). 46

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Abb. 1.8  Verschiedene Arten von Verträgen

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JHJHQVHLWLJ V\QDOODJPDWLVFK  YHUSIOLFKWHQGH9HUWUlJH

1.6 Vertrag

21

Beispiel

Gegenseitige (synallagmatische) Verträge sind beispielsweise: Kauf, Miete, Geschäftsbesorgungsvertrag, Darlehen, Gesellschaftsvertrag, Arbeitsvertrag  – bei diesen Verträgen ist die Grundidee „do ut des“ (ich gebe, damit du gibst). Unvollkommene mehrseitig verpflichtende Verträge sind beispielsweise: Schenkung, Leihe, zinsloses Darlehen, unentgeltliche Verwahrung – bei diesen Verträgen erbringt nur eine Partei die vertragsbestimmende Leistung, es kommt nur zum „ich gebe“. ◄ Die Unterscheidung zwischen gegenseitigen und unvollkommen zweiseitigen 49 Verträgen dient dabei nicht nur einem Selbstzweck, sondern hat erhebliche praktische Bedeutung. Denn im Hinblick auf die Anwendung der BGB-Vorschriften über Verträge muss stets die Frage beantwortet werden, ob sie nur für gegenseitige (sy­ nallagmatische) Verträge gelten (wie z. B. die §§ 320 ff., 326 BGB) oder aber für alle Verträge Gültigkeit aufweisen (wie z. B. die §§ 145–147 BGB). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es – wie Abb. 1.8 veranschaulicht – nicht 50 nur im schuldrechtlichen Bereich Rechtsgeschäfte in Form von Verträgen gibt, sondern auch auf anderen Gebieten des bürgerlichen Rechts, im Sachenrecht (Einigung nach § 929 BGB), im Familienrecht (Ehevertrag) und im Erbrecht (Erbvertrag). Welchem Bereich ein Vertrag letztlich angehört und wo die maßgeblichen Vorschriften zu finden sind, richtet sich dabei nach dem jeweiligen Vertragsgegenstand.

1.6.2 Abschluss von Verträgen 1.6.2.1 Vertragsangebote und ihre Annahme Ein Vertrag kommt durch zwei übereinstimmende, mit Bezug aufeinander ab- 51 gegebene Willenserklärungen der Vertragspartner zustande: • das Vertragsangebot (Offerte oder Antrag) und • die Annahme des Angebots. Aus dem Inhalt der beiden Erklärungen muss sich ergeben, dass sich die Ver- 52 tragspartner über den gewünschten Rechtserfolg einig sind. Da häufig, insbesondere bei mündlichen Verhandlungen und bei mehrfachen Briefwechseln, Unsicherheit darüber entsteht, ob die Parteien bereits rechtlich gebunden sind, sollen nachfolgend die wichtigsten Grundsätze über den Vertragsschluss behandelt werden. Abb.  1.9 bietet dabei einen ersten Überblick zum Vertragsabschluss. 1.6.2.1.1  Angebot Das Vertragsangebot (auch Antrag oder Offerte genannt) ist die erste der beiden für den Vertragsschluss erforderlichen (Willens-) Erklärungen. Mit ihm wird einem anderen der Abschluss eines Vertrages angetragen.

53

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

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Abb. 1.9  Überblick zum Vertragsschluss

54

Im Rahmen längerer Verhandlungen ist oftmals nicht sofort klar, welche Erklärung das Vertragsangebot darstellt. Das kann die Erteilung eines Auftrags sein (so wird der Begriff „Angebot“ häufig umgangssprachlich gebraucht) oder aber die Erklärung, eine bestimmte Ware liefern zu wollen oder eine Leistung zu erbringen. Welche Erklärung letztlich als Vertragsangebot zu qualifizieren ist, muss jedenfalls sehr gewissenhaft ermittelt werden, weil davon nicht nur der Zeitpunkt des Vertragsschlusses abhängen kann, sondern auch die sich daraus ableitenden Folgerechte und -pflichten (z. B. Fälligkeit der Leistungspflichten; Ausübung eines Gewährleistungsrechts). Beispiel

Die Aussage „Ich biete Ihnen das Fahrrad für 100 EUR zum Verkauf an“ kann genauso ein Vertragsangebot darstellen, wie die Aussage „Verkaufen Sie mir das Fahrrad für 80 EUR“. ◄ 55

Inhaltlich muss das Angebot hinreichend bestimmt sein. Es muss so konkret sein, dass der Empfänger es mit einem bloßen „Ja, ich bin einverstanden“ oder „Ich nehme an“ akzeptieren und damit den Vertragsschluss herbeiführen könnte. Das setzt voraus, dass das Angebot alle regelungsbedürftigen Hauptmerkmale abdeckt, die für den jeweiligen Vertragstyp wesentlich bzw. konstituierend sind (sogenannte „essentialia negotii“). Wesentlich sind z. B. bei einem Angebot zum Ab-

1.6 Vertrag

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schluss eines Kaufvertrages (§  433 BGB) neben den Vertragsparteien, der Kaufgegenstand und dessen Preis. Wie bei allen Willenserklärungen kann der Inhalt eines nicht hinreichend bestimmten Vertragsangebot noch durch Auslegung nach dem Empfängerhorizont („wie durfte es der Empfänger verstehen“) ermittelt (und gerettet) werden (§§ 133, 157 BGB). Nur unbestimmte und durch Auslegung nicht mehr bestimmbare Angebote sind wirkungslos. Beispiel

Bietet ein Verkäufer dem Käufer im Antiquariat ein bestimmtes Buch zum Kauf an, ohne einen Kaufpreis zu nennen, so hat der Verkäufer noch kein Vertragsangebot abgegeben, da der Kaufpreis zum konstituierenden Mindestinhalt eines Kaufvertrages gehört (vgl. § 433 BGB). Etwas anders würde jedoch gelten, wenn der Erklärung des Verkäufers durch Auslegung zu entnehmen wäre, dass er die Bestimmung des Kaufpreises dem Käufer oder einem Dritten (§§ 315 ff. BGB) überlassen wollte. ◄ Wer einem anderen die Schließung eines Vertrags anträgt, ist an den Antrag ge- 56 bunden, es sei denn, dass er die Gebundenheit ausgeschlossen hat (§ 145 BGB). Letzteres ist möglich, indem das Angebot z. B. mit dem Zusatz „unverbindlich“, „ohne obligo“ oder „freibleibend“ abgegeben wird. Die Bindungswirkung entfällt ebenso, wenn das Angebot abgelehnt wird oder wegen Zeitablaufs nicht mehr angenommen werden kann (§§ 146–148 BGB). Nicht alles was im täglichen Sprachgebrauch als „Angebot“ bezeichnet wird, ist 57 tatsächlich schon ein Vertragsangebot mit bindender Wirkung. Häufig fehlt es nämlich noch am Rechtsbindungswillen des Erklärenden, weil er lediglich eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten in die Welt setzt (sogenannte invitatio ad offerendum). Der Erklärende will damit nur auf eine Vertragsmöglichkeit aufmerksam machen (z.  B. durch Zeitungsanzeigen, Plakate, Übersenden von Preislisten und Katalogen, durch Schaufensterauslagen oder durch Werbetexte in elektronischen Medien), sich aber keinesfalls bereits rechtlich binden. Vielmehr will er die Entscheidung über den Vertragsschluss selbst in der Hand behalten und u. a. von der Überprüfung seiner eigenen Warenvorräte sowie der Bonität der Kunden abhängig machen. Würde man dagegen in der Auslage oder dem Katalog bereits ein rechtlich verbindliches Angebot erkennen wollen, würde jede Annahmeerklärung  – gleich wann und durch wen – den Vertragsschluss herbeiführen. Dem Antragenden wäre seine privatautonome und freie Entscheidung genommen. Beispiel

Im Fenster einer Bank hängt ein Plakat „Sparkredit zu 2,5 % eff. Zinssatz“. Der A ist erfreut, betritt die Bank und erklärt, dass er 100.000 EUR nehme. Würde man den Aushang als Angebot einordnen und die Erklärung des A als Annahme desselben, wäre die Entscheidungsfreiheit der Bank unangemessen eingeschränkt, wenn sie nun, ohne eine Kreditwürdigkeitsprüfung durchführen zu

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

dürfen, zur Auszahlung der Darlehensvaluta verpflichtet wäre. Daher stellt der Aushang lediglich eine Aufforderung dar, Angebote auf Abschluss eines Kreditvertrages an die Bank zu richten. Die Bank will sich durch das Plakat noch nicht rechtlich binden, sondern noch selbst entscheiden, ob sie ein durch das Plakat ausgelöstes Angebot – wie das des A – annimmt oder ablehnt. ◄ Ob der Erklärende mit Rechtsbindungswillen gehandelt oder lediglich eine invitatio ad offerendum abgegeben hat, muss ggf. durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ermittelt werden. Dabei sind auch die Verkehrssitte und die Interessenlage des Antragenden zu berücksichtigen. 59 Das Aufstellen eines Warenautomaten (z. B. der Süßwarenautomat im Bahnhof) stellt dagegen ein verbindliches Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages dar, wenngleich unter dem Vorbehalt, dass der Automat ordnungsgemäß funktioniert und bedient wird. Ähnliches gilt an Tankstellen, wo die betriebsbereite Zapfsäule das Angebot des Tankstellenbetreibers auf Abschluss eines Kaufvertrages zu dem auf der Zapfsäule angegebenen Preis und der vom Kunden zu bestimmende Treibstoffmenge verkörpert, dessen Annahme der tankende Kunde konkludent erklärt. 58

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1.6.2.1.2  Annahme Die Vertragsannahme ist ebenso wie das Angebot eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Sobald das Angebot (rechtzeitig) ausdrücklich oder konkludent angenommen wird, ist der Vertrag rechtswirksam geschlossen. Sofern der Anbietende eine Frist für die Annahmeerklärung bestimmt hat, kann das Angebot nur innerhalb dieser Frist angenommen werden (§  148 BGB); nach Ablauf der Frist erlischt das Angebot (§  146 BGB). Eine verspätete Annahmeerklärung leitet dagegen „eine neue Runde“ ein: Diese Erklärung gilt grundsätzlich als neues Angebot (wenn auch mit demselben Inhalt) in umgekehrter Richtung (§ 150 Abs. 1 BGB). Hatte der Anbietende dagegen keine Frist bestimmt, so gilt Folgendes: Angebote in mündlichen und telefonischen Verhandlungen können nur sofort angenommen werden (§ 147 Abs. 1 BGB), übersandte schriftliche Offerten nur bis zu dem Zeitpunkt, zu welchem der Absender den Eingang der Antwort unter regelmäßigen Umständen erwarten darf (§ 147 Abs. 2 BGB). Zu berücksichtigen ist dabei stets die Zeit, die etwa für die Postbeförderung und Prüfung des Angebots erforderlich ist. Trifft die Annahmeerklärung für den Vertragspartner erkennbar unverschuldet verspätet ein, z. B. weil die Postbeförderung für die Verspätung verantwortlich ist, dann hat er den Absender unverzüglich darüber zu unterrichten, dass dessen Annahmeschreiben verspätet eingegangen und daher keine vertragliche Verpflichtung eingetreten ist. Unterlässt oder verzögert er diese Benachrichtigung (Verspätungsanzeige), muss er sich so behandeln lassen, als sei der Vertrag wirksam zustande gekommen (§ 149 S. 2 BGB). Nachdem das Angebot einmal abgelehnt ist, kann es nachträglich nicht mehr angenommen werden. Überlegt der Empfänger es sich wieder anders und erklärt nach

1.6 Vertrag

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vorheriger Ablehnung nun doch noch sein Einverständnis, so gilt diese Erklärung wiederum als neues Angebot in umgekehrter Richtung. Die Annahme wird wirksam (d.  h. der Vertrag kommt zustande), wenn sie 65 ordnungsgemäß vernommen oder dem Anbietenden zugegangen ist, d.  h. so in seinen Verfügungs- oder Machtbereich gelangt ist, dass er unter normalen Umständen von ihr Kenntnis erlangen kann. Dieser Zugang ist nur dann entbehrlich, wenn der Anbietende nach der Verkehrssitte nicht erwarten kann, dass ihm die Annahme eigens erklärt wird oder wenn er auf eine solche Erklärung verzichtet hat (§ 151 BGB). Beispiel

Der Katalog eines Bürofachhandels B enthält die Aufforderung, Bestellungen mittels des beigefügten Formulars abzugeben. Der A füllt dieses Bestellformular aus und übersendet es elektronisch (= Angebot). Er erwartet nun nicht mehr, dass ihm gegenüber die Annahme erklärt wird oder ihm eine gesonderte Auftragsbestätigung zugeht. Nach § 151 BGB genügt die nach außen erkennbare und auf den Annahmewillen schließende Willensbetätigung des B, namentlich das Absenden der Waren (= Annahme). ◄ In der Praxis kommt es durchaus vor, dass der Empfänger das Angebot nicht 66 rundweg ablehnt, sondern dass er es mit Änderungen annehmen will. Eine Annahme mit Änderungen ist allerdings nur scheinbar eine Annahme; rechtlich ist sie eine Ablehnung, verbunden mit einem neuen Angebot (§ 150 Abs. 2 BGB). Beispiel

Bauunternehmer U bietet dem „Häuslebauer“ H an, für 10.000 EUR die Einfahrt zu pflastern = Angebot. Der H antwortet: „Einverstanden zum Preis von 9000 EUR“ = keine Annahme und damit kein Werkvertrag, sondern Ablehnung verbunden mit einem neuen Angebot (das der U annehmen kann oder nicht). ◄ Untätiges Schweigen auf ein Angebot bedeutet weder „ja“ noch „nein“; das An- 67 gebot erlischt mit Ablauf der Annahmefrist (s. o.). Etwas anderes gilt nur, wenn das Gesetz dem Schweigen einen Bedeutungsgehalt zumisst (z.  B. §  362 HGB Abschn. 5.6.1.3) oder die Parteien entsprechendes vereinbart haben. Jedes Angebot kann allerdings ohne eine ausdrückliche verbale Erklärung durch 68 konkludentes bzw. schlüssiges Verhalten angenommen werden, wenn dieses Verhalten aus der Sicht des Erklärungsempfängers als Annahme zu werten ist. Beispiel

Wer ein öffentliches Verkehrsmittel (Bus, S-Bahn) besteigt, erklärt konkludent – durch schlüssiges Verhalten – die Annahme des Beförderungsangebots zum ausgewiesenen Fahrpreis. ◄

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

1.6.2.1.3  Einigung Damit durch Angebot und Annahme ein wirksamer Vertrag zustande kommt, müssen sich die Parteien über alle wesentlichen Vertragsbestandteile einigen (sog. Konsensprinzip des bürgerlichen Rechts). Wesentliche Vertragsbestandteile sind beispielsweise beim Kauf der Kaufgegenstand und der Preis (§ 433 BGB), bei der Gesellschaft der Zweck und die Art der Förderung (§ 705 BGB), beim Maklervertrag das Objekt sowie der Nachweis der Gelegenheit und die Maklerprovision (§ 652 BGB). Überdies bedarf es stets einer individuellen Einigung darüber, welche Personen Vertragsparteien werden und welche Rolle (z. B. Käufer oder Verkäufer) sie übernehmen. Darüber hinausgehende Regelungen, etwa über den Ort der Lieferung, die Transportkosten oder über die Rechtsfolgen, die bei Mangelhaftigkeit der Sache ausgelöst werden, müssen nicht getroffen werden. Insoweit finden sich Regelungen im allgemeinen und besonderen Schuldrecht. 70 Bei Verhandlungen über umfangreiche Verträge wird eine Einigung oftmals nur Schritt für Schritt erzielt. Solange aber die Parteien nicht über alle Vertragspunkte einig sind (sogenannter offener Einigungsmangel/offener Dissens), ist der Vertrag nicht – auch nicht teilweise – geschlossen (§ 154 Abs. 1 BGB). 71 Es kommt jedoch vor, dass die Parteien glauben, schon vollständig einig zu sein, während sie in Wirklichkeit einen Punkt übersehen haben oder – wie sich erst später herausstellt  – etwas ganz Verschiedenes erklärt haben (sogenannter versteckter Einigungsmangel). In derartigen Fällen ist zu differenzieren: Wäre der Vertrag nicht ohne den offen gebliebenen Punkt geschlossen worden, so ist der ganze Vertrag ungültig. Andernfalls gilt das Vereinbarte und es ist zu prüfen, ob die Lücke im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung geschlossen werden kann (§  155 BGB i. V. m. §§ 133, 157 BGB). 69

Beispiel

Die A-Bank faxt an die B-Bank „Daimler-Aktien für 500  EUR“. Die B-Bank antwortet: „Einverstanden“. Später stellt sich heraus, dass beide Banken verkaufen wollten. Nach § 155 BGB kommt kein Vertrag zustande, da sich die Parteien über wesentliche Punkte nicht geeinigt hatten. K kauft von V „Haaksjöringsköd“, das auf den Dampfer Jessica verladen wird. Beide Parteien gehen davon aus, dass die mit „Haaksjöringsköd“ (norwegisch: Haifischfleisch) bezeichnete Ware Walfischfleisch ist, während es sich tatsächlich um Haifischfleisch handelt. Hier kommt ein Vertrag zustande, es gilt das Vereinbarte. Der übereinstimmende Wille der Parteien ist auf die Ladung (Walfischfleisch) gerichtet, unabhängig von der Falschbezeichnung (RGZ 99, 147 ff.). ◄ 72

1.6.2.2 Vertragsschluss unter Einbeziehung von AGB In allen erdenklichen Branchen findet man heute Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) als Vertragsbestandteile vor. Unternehmen stellen diese Bedingungen auf, um den Geschäftsverkehr zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Sie werden nicht für den Einzelfall ausgearbeitet, sondern sie sollen einer unbestimmten Anzahl von

1.6 Vertrag

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Geschäften zugrunde gelegt werden. Inhaltlich ändern oder ergänzen sie oftmals das Gesetzesrecht, zumeist zugunsten des Unternehmens, das die Bedingungen aufstellt; insbesondere die gesetzlich vorgesehene Haftung und die Gewährleistung werden häufig begrenzt oder ausgeschlossen. Der Begriff der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist in § 305 Abs. 1 BGB 73 legal definiert. Danach sind Allgemeine Geschäftsbedingungen „alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss des Vertrages stellt“. Dabei ist unerheblich, ob die Geschäftsbedingungen einen äußerlich gesonderten Bestandteil des Vertrages bilden oder in die Vertragsurkunde selbst aufgenommen werden, welchen Umfang sie haben, in welcher Schriftart und Sprache sie verfasst sind und welche Form der Vertrag hat. Selbst Einzelklauseln können als AGB gelten, sofern sie immer gleichlautend in einen Vertrag eingesetzt werden. Oftmals werden Formularverträge von Verbänden ausgearbeitet und den Mitgliedern zur Verfügung gestellt. Für die Anwendbarkeit der besonderen Regeln des BGB macht es keinen Unterschied, ob der Verwender selbst oder ein Dritter die Vertragsbedingungen vorformuliert hat. Ebenso ist nicht erforderlich, dass die Allgemeinen Geschäftsbedingungen bereits zuvor verwendet wurden. Entscheidend ist vielmehr, dass die Absicht besteht sie für eine Vielzahl von Verträgen einzusetzen. Die §§ 305 ff. BGB sind folglich auch dann anwendbar, wenn ein Verwender nur ein einziges Mal auf vorformulierte Vertragsbedingungen eines Verbandes zurückgreift oder zum ersten Mal eigene, für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen verwendet, solange er nur beabsichtigt, sie in der Zukunft nochmals einzusetzen. Hinsichtlich der beabsichtigten Verwendungsfälle („Vielzahl“) gibt es keine gesetzliche Festlegung, wenngleich die untere Grenze bei drei bis fünf liegen soll. Die Vertragsbedingungen müssen vom Verwender gestellt worden sein. AGB 74 liegen nicht vor, wenn sie von den Parteien im Einzelnen ausgehandelt wurden. Davon ist schon auszugehen, wenn der Verwender dem Vertragspartner die ernsthafte Möglichkeit eingeräumt hat, den Inhalt der Vertragsbedingungen zu beeinflussen, selbst wenn der Vertragspartner davon keinen Gebrauch gemacht hat und das Formular unverändert geblieben ist (vgl. BGHZ 104, 232 (236)). Bei Verträgen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher (Abschn. 1.3.2) gelten AGB regelmäßig als vom Unternehmer gestellt, es sei denn, dass sie ausnahmsweise durch den Verbraucher in den Vertrag eingeführt wurden (§ 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB). Weiterhin werden bei solchen Verträgen selbst solche ­vorformulierten Vertragsbedingungen einer Inhaltskontrolle nach §§  307 bis 309 BGB (s. u.) unterworfen, die nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind (§ 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB). AGB sind private Rechtsordnungen. Sie können daher für die Parteien eines Ver- 75 trages nur dann verbindlich werden, wenn vertraglich vereinbart wurde, dass sie in den Vertrag einbezogen werden, d. h. dass sie gelten sollen. Der Einbeziehungsvorgang ist gesetzlich in § 305 Abs. 2 BGB festgelegt. Hiernach werden die AGB Vertragsbestandteil, wenn

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

• der Verwender bei Vertragsschluss die andere Vertragspartei ausdrücklich auf die AGB hinweist oder – falls ein Hinweis wegen der Art des Vertrages unverhältnismäßig schwierig ist – die AGB deutlich sichtbar am Ort des Vertragsschlusses aushängt oder mit einem deutlich sichtbaren Hinweisschild auf sie Bezug genommen hat (z. B. in Parkhäusern, in öffentlichen Verkehrsmitteln) und • der Verwender der anderen Vertragspartei die Möglichkeit verschafft, in zumutbarer Weise vom Inhalt seiner AGB Kenntnis zu nehmen (sie müssen auch als „Kleingedrucktes“ lesbar und für den „rechtlich nicht vorgebildeten Durchschnittskunden“ verständlich sein) und • schließlich die andere Vertragspartei mit der Geltung der AGB einverstanden ist.

76

Ein Unternehmer (§ 14 BGB), der sich AGB gegenübersieht, bedarf eines so weitreichenden Schutzes nicht (§ 310 Abs. 1 BGB). Dennoch muss auch er zumindest auf die AGB verwiesen werden und der Geschäftspartner muss sich ihnen ausdrücklich oder durch ein entsprechendes Verhalten unterwerfen, mögen die AGB ihm im Einzelnen auch unbekannt sein. Dies kann allerdings auch stillschweigend geschehen. Wo AGB branchenüblich sind, werden sie selbst dann Vertragsbestandteil, wenn nicht besonders auf sie hingewiesen wurde (z.  B. im Bankverkehr, bei Versicherungsverträgen oder bei kommunalen Versorgungsbetrieben). Weiterhin können nur solche Klauseln Vertragsbestandteil werden, mit denen der Vertragspartner auch billigerweise rechnen konnte. Überraschende Klauseln, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrages, so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht rechnen musste – die also einen „Überrumpelungs-“ oder „Übertölpelungscharakter“ aufweisen – werden nicht Vertragsbestandteil (§ 305c Abs. 1 BGB). Beispiel

A kauft einen neuen PKW zum Listenpreis. Die dem Kaufvertrag zugrunde liegenden AGB enthalten die Klausel „Montags-/Bastlerauto. Alle Teile defekt. Daher Gewährleistung ausgeschlossen.“ Da nach der Verkehrsauffassung ein Käufer nicht damit rechnen muss, dass es sich bei einem Neuwagen um ein Montags-/Bastlerauto handelt und daher die Gewährleistung ausgeschlossen ist, ist eine solche Klausel für A überraschend; die Klausel entfaltet, da sie wegen § 305c Abs. 1 BGB nicht Vertragsbestandteil wird, ihm gegenüber keine Gültigkeit und der Verkäufer kann sich nicht auf den Ausschluss der Gewährleistung berufen. Ebenso wäre es überraschend, wenn der Käufer einer Waschmaschine in den zugrundeliegenden AGB eine Klausel vorfände, die ihn zu einem 3-jährigen Bezug von Waschmittel verpflichten würde. ◄ 77

Die AGB müssen ferner, damit sie Vertragsbestandteil werden können, bei Abschluss des Vertrages, d. h. mit Vertragsschluss vereinbart werden. Sie können

1.6 Vertrag

29

nicht nachträglich in einen bereits geschlossenen Vertrag einbezogen werden. Insofern genügt es nicht, erst auf Kassenzetteln, Quittungen, Rechnungen oder Lieferscheinen auf sie Bezug zu nehmen. Bestehen Unklarheiten in AGB gehen grundsätzlich zulasten des Verwenders; 78 sofern die Bedeutung einer Vertragsklausel dem Vertragspartner gegenüber nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht wird, ist sie unwirksam und kann somit auch nicht Vertragsbestandteil werden (§ 305c Abs. 2 BGB). Individuelle Vertragsvereinbarungen haben immer Vorrang vor AGB; davon 79 abweichende Bestimmungen in AGB sind unwirksam (§ 305b BGB). Das bedeutet, dass alles, was gesondert in einem Vertrag (z. B. in Auftrag oder Auftragsbestätigung) vereinbart wurde, nicht durch gleichzeitig beigefügte oder in Bezug genommene AGB wieder umgestoßen werden kann. So werden beispielsweise individuelle Festpreisabreden nicht durch formularmäßige Preisanpassungsklauseln berührt; die formularmäßige Preisanpassung kann nur wirksam werden, wenn keine anderslautende Individualvereinbarung getroffen wurde. Bleibt noch die Frage nach der Wirksamkeit von AGB. Zwar gestattet es die 80 Vertragsfreiheit grundsätzlich, Gesetzesrecht durch vertragliche Vereinbarungen – also auch durch vorformulierte AGB – abzuändern oder auszuschließen, doch kann diese Möglichkeit, wie bereits erwähnt (Abschn.  1.3.2), nicht grenzenlos gewährt werden. Die §§ 307–309 BGB unterwerfen daher diejenigen Klauseln der AGB, die vom Gesetzesrecht abweichen oder dieses ergänzen (§ 307 Abs. 3 S. 1 BGB), einer Inhaltskontrolle, mit dem Ziel, eine einseitige unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners – gleichgültig ob Unternehmer oder Verbraucher – zu verhindern. Dabei kommt der Generalklausel des § 307 BGB die wohl größte Bedeutung zu. Denn nach diesem generellen Kontrollmaßstab sind Klauseln in AGB unwirksam, wenn sie den Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine solche unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, • wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist, • wenn wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so eingeschränkt werden, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist, oder • wenn die Klausel nicht klar und verständlich ist. Beispiel

Unwirksam ist etwa die Klausel „Mündliche Abmachungen haben ohne schriftliche Bestätigung keine Gültigkeit“, denn sie ist mit den wesentlichen Grundgedanken des Vertragsschlusses nicht zu vereinbaren. Ebenso verhält es sich mit einer Klausel, über die der Verwender einen pauschalen Haftungsausschluss „auch für grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz“ bei der Verletzung von Leben, Körper und Gesundheit herbeiführen möchte. ◄

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Für den Rechtsverkehr gegenüber Verbrauchern (nicht gegenüber Unternehmern, § 310 Abs. 1 BGB) benennen die §§ 308 und 309 BGB zudem eine Reihe weiterer Klauseln, bei denen schon von Gesetzes wegen angenommen wird, dass eine unangemessene Benachteiligung vorliegt, mit der Folge der Unwirksamkeit dieser Bedingungen (sog. Klauselverbote). Dabei sind die in §  309 BGB genannten Klauseln stets, also unabhängig von einer richterlichen Wertung unwirksam, wohingegen die in § 308 BGB genannten Klauseln nur dann unwirksam sind, wenn sie auch nach einer wertenden Betrachtung zu einer unangemessenen Benachteiligung führen. Die in § 309 BGB benannten Verbote stellen in der Mehrzahl Konkretisierungen der in § 307 Abs. 2 BGB enthaltenen Rechtsgedanken dar. Sie betreffen zumeist Klauseln, die mit den wesentlichen Grundgedanken der Privatrechtsordnung nicht in Einklang zu bringen sind oder auf eine Aushöhlung von wesentlichen Rechten und Pflichten hinauslaufen. Für die Klauselverbote des § 308 BGB ist dagegen kennzeichnend, dass sie unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden, weshalb die Feststellung der Unwirksamkeit eine Wertung erfordert; sie sind in der Regel Konkretisierungen des §  307 Abs. 1 BGB. Beispiel

Unwirksam ist etwa die Klausel „Mängelrügen berechtigen den Käufer nicht, den Kaufpreis ganz oder teilweise zurückzubehalten“, wie § 309 Nr. 2 b BGB zeigt. ◄ 81

82

Die Rechtsfolgen der nicht ordnungsgemäßen Einbeziehung und der Unwirksamkeit von Klauseln sind in § 306 BGB geregelt. Sind AGB ganz oder teilweise nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam, so bleibt der Vertrag im Übrigen wirksam (§ 306 Abs. 1 BGB). An die Stelle der nicht einbezogenen oder unwirksamen Bestimmungen treten die gesetzlichen Regelungen (§  306 Abs.  2 BGB). Steht also fest, dass eine oder mehrere AGB-Klauseln unwirksam sind, so wird nicht das gesamte Vertragswerk hinfällig, sondern nur die jeweiligen Klauseln an deren Stelle sodann die entsprechende gesetzliche Regelung tritt; das Vertragswerk und die AGB bleiben im Übrigen in Kraft.

1.6.2.3 Schweigen im Rahmen des Vertragsschlusses Im Allgemeinen hat das Schweigen im Rechtsverkehr – und damit auch für den Vertragsschluss  – keine Bedeutung. So entfaltet beispielsweise ein Schreiben: „Wenn Sie nicht bis zum … ablehnen, sehe ich Ihr Schweigen als Zustimmung an“, grundsätzlich keine Wirkung, d.  h. reagiert der Empfänger des Schreibens nicht, so ist sein Verhalten auch nicht als Zustimmung zu werten. Ebenso wenig kann aus dem Zusenden unbestellter Waren von einem Unternehmer (§ 14 BGB) an einen Verbraucher (§ 13 BGB) ein Anspruch begründet werden (§ 241a Abs. 1 BGB). Hier ist es nicht einmal nötig, dass sich der Empfänger in irgendeiner Weise äußert. Er wird selbst dann nicht zur Zahlung verpflichtet, wenn sich der Absender die Rücksendung innerhalb einer Frist erbeten hat. Denn zur Rücksendung ist der

1.6 Vertrag

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Empfänger noch viel weniger verpflichtet, nicht einmal, wenn Porto und Verpackung für die Rücksendung beigefügt waren. Obwohl der Absender durchweg Eigentümer der versandten Ware bleibt, hat er nach § 241a Abs. 2 BGB zumeist auch keinen Anspruch auf Rückgabe der Ware nach § 985 BGB (Eigentumsherausgabe) oder Ansprüche auf Herausgabe gezogener Nutzungen. Der Empfänger darf die Ware behalten oder kann sie sogar vernichten. Eine konkludente Annahme ist darin nicht zu sehen (so die nicht unumstrittene h.  M. [vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, § 241 a Rn. 7; MK/Finkenhauer, BGB, § 241 a Rn. 33.]). Der Gesetzgeber wollte einen umfassenden Anspruchsausschluss bei Zusendung unbestellter Ware schaffen und hat daher alle erdenklichen Vindikationslagen ausgenommen (auch kein §  812 BGB, keine Ansprüche aus GoA etc.). Insofern kann es in Fallgestaltungen zwischen Unternehmer und Verbraucher nur dann zu einem Vertragsschluss und einem Anspruch auf Zahlung kommen, wenn der private Empfänger ausdrücklich (!) seine Annahme erklärt.

1.6.2.4 Form des Vertragsschlusses Bezogen auf die äußere Form des Vertragsschlusses gilt im Grundsatz, dass Verträge 83 formfrei geschlossen werden können, es sei denn, der Gesetzgeber hat ausdrücklich die Einhaltung einer besonderen Form vorgeschrieben (sogenannte gesetzliche Formerfordernisse). Beispiel

Der Kaufvertrag über ein Grundstück bedarf nach § 311b Abs. 1 S. 1 BGB der Beurkundung durch einen Notar. Nach § 518 Abs. 1 BGB ist das Versprechen, jemandem etwas zu schenken, ebenfalls in notarieller Form abzugeben. Ein Testament muss im Regelfall entweder zur Niederschrift eines Notars errichtet oder eigenhändig vom Erblasser geschrieben und unterschrieben werden (§ § 2231, 2247 BGB). Eine Bürgschaftserklärung einer Privatperson hat in schriftlicher Form zu erfolgen (§ 766 S. 1 BGB). ◄ Die gesetzlichen Formerfordernisse verfolgen dabei den Zweck:

84

• sicherzustellen, dass der Inhalt des Geschäftes genau festgehalten und damit beweisbar wird (Beweisfunktion); • die Erklärenden auf die rechtliche Bedeutung ihres Verhaltens hinzuweisen und sie vor Übereilung zu bewahren (Warnfunktion); • zu gewährleisten, dass ein unbeteiligter Dritter mitwirkt, der die Beteiligten rechtlich belehrt und berät (Beratungsfunktion); • eine Kontrolle zum Schutz übergeordneter öffentlicher Interessen zu ermöglichen (Kontrollfunktion). Als gesetzliche Formerfordernisse sind die Schriftform, die elektronische 85 Form, die Textform, die notarielle Beurkundung und die öffentliche Beglaubigung bekannt.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Sofern das Gesetz die Schriftform vorschreibt (z. B. § 766 BGB, § 492 BGB), ist es erforderlich, dass der Erklärende die Urkunde eigenständig aufsetzt und eigenhändig unterzeichnet (§ 126 Abs. 1 BGB). Sofern ein Vertrag schriftlich geschlossen werden muss (z.  B.  Haus- und Wohnungsmietverträge über ein Jahr, vgl. §  550 BGB), haben beide Parteien die Urkunde handschriftlich zu unterzeichnen (§ 126 Abs. 2 BGB). Die Schriftform kann durch die elektronische Form ersetzt werden, sofern dies nicht gesetzlich ausgeschlossen ist (§ 126 Abs. 3 BGB). Die elektronische Form erfordert nach § 126a BGB das Versehen eines elektronischen Dokumentes mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, die auf dem Zertifikat (Art.  3 Nr.  15 eIDAS-VO (EU) Nr.  910/2014) eines qualifizierten Vertrauensdiensteanbieters (Art. 3 Nr. 17 eIDAS-VO) beruht und von einer sicheren Signaturerstellungseinheit (Art. 3 Nr. 23 eIDAS-VO) ausgegeben wird. Eine qualifizierte elektronische Signatur (Art.  3 Nr.  12, 25  ff. eIDAS-VO) lässt sich einem einzigen, durch sie identifizierbaren Schlüsselinhaber zuordnen. Nur er kann sie unter Verwendung einer sicheren Signaturerstellungseinheit erzeugen und eine gewünschte Datenverknüpfung herstellen oder nachträglich verändern. Bei einem Vertrag müssen die Parteien jeweils ein gleichlautendes Dokument in der nach §  126a Abs.  1 BGB bezeichneten Weise elektronisch signieren (§  126a Abs.  2 BGB). Allerdings ist bei der Mehrzahl der Formvorschriften die Verwendung der elektronischen Form ausgeschlossen (z. B. §§ 623, 766 S. 2 BGB). Dagegen ist die elektronische Form z. B. bei der Abtretung einer Hypothek (§ 1154 Abs. 1 BGB) zulässig. Ist Textform vorgeschrieben (z. B. Mieterhöhungsverlangen nach § 558a Abs. 1 BGB), muss nach § 126b BGB eine lesbare Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist, auf einem dauerhaften Datenträger abgegeben werden. Dies kann nach § 126b S. 2 Nr. 1 und 2 jedes Medium sein, dass es dem Empfänger ermöglicht, die Erklärung in irgendeiner Weise sicher und unverändert aufzubewahren (z. B. eine Urkunde oder aber ein elektronischer Datenträger). Durch den Verzicht auf die eigenhändige Unterschrift oder einer qualifiziert elektronischen Signatur ist insbesondere die Übermittlung durch elektronische Dokumente (z.  B.  E-Mail) möglich. Fordert das Gesetz die notarielle Beurkundung (z. B. Erwerb und Auflassung eines Grundstücks gemäß § 311b BGB; Gründungsvertrag einer GmbH nach § 2 GmbHG), so muss der gesamte Vertrag oder die gesamte rechtsgeschäftliche Erklärung vom Notar beurkundet und in seiner Gegenwart unterschrieben werden (§ 128 BGB). Der Ablauf der Beurkundung ist im Beurkundungsgesetz geregelt. Ist die öffentliche Beglaubigung gesetzlich abverlangt (z. B. Anmeldung zum Vereinsregister nach § 77 BGB oder Anmeldung zur Eintragung ins Handelsregister nach § 12 HGB), so wird – im Unterschied zur notariellen Beurkundung – nur die Echtheit der Unterschrift bzw. eines Handzeichens unter einer bereits abgefassten Erklärung beglaubigt; d. h. der Notar oder eine andere dazu berufene öffentliche Institution bestätigt lediglich, dass die Unterschrift von der Person herrührt, die die Erklärung abgegeben hat (§ 129 BGB). Wird das gesetzliche Formerfordernis von den Vertragschließenden nicht eingehalten, dann ist das Rechtsgeschäft nichtig (§ 125 S. 1 BGB), d. h. von Anfang

1.6 Vertrag

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an (ex tunc) unwirksam. Nur bei Arbeits- und Gesellschaftsverträgen wirkt die Geltendmachung von Formnichtigkeit ex nunc, um deren komplizierte Rückabwicklung zu vermeiden. Vom Grundsatz der Formnichtigkeit weicht der Gesetzgeber allerdings in man- 87 chen Fällen wieder ab, indem er eine Heilung des Formmangels durch Erfüllung zulässt – z. B. bei der Bürgschaft durch Erfüllung der Hauptverbindlichkeit durch den Bürgen (§  766 S.  3 BGB), bei der Schenkung durch Bewirken der Leistung (§ 518 Abs. 2 BGB), beim Verbraucherdarlehensvertrag mit Inanspruchnahme des Darlehens (§ 494 Abs. 2 BGB) oder beim Grundstückskaufvertrag durch Auflassung und Eintragung (§ 311b Abs. 1 S. 2 BGB). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es durchaus sinnvoll sein kann, kraft 88 Parteivereinbarung für ein Formerfordernis zu sorgen. Insbesondere wenn es sich nicht nur um Geschäfte des täglichen Lebens handelt, wie etwa der Kauf und Verkauf eines Einzelhandelsgeschäftes. Hier ist die Vereinbarung der Schriftform sinnvoll, um von vornherein Streitigkeiten über den Inhalt der komplexen Absprachen zu vermeiden und Beweisschwierigkeiten weitgehend auszuschalten.

1.6.2.5 Stellvertretung Das BGB gewährt mit den §§ 164 ff. BGB die Möglichkeit, dass jemand für einen 89 anderen rechtsgeschäftlich handelt. Dies ist auch sinnvoll, da sowohl tatsächliche Gründe (z. B. Abwesenheit, fehlende Sachkunde, Vielschichtigkeit des Wirtschaftslebens), als auch rechtliche Gründe (z.  B. die Unfähigkeit zur Abgabe gültiger Willenserklärungen) den Abschluss von Rechtsgeschäften durch eine Hilfsperson erforderlich machen können. Die Stellvertretung bedeutet insoweit rechtsgeschäftliches Handeln anstelle eines anderen mit Wirkung für und gegen diesen, d. h. die Wirkungen des Rechtsgeschäftes treffen nicht den Stellvertreter (Vertreter), sondern denjenigen, der den Stellvertreter für sich handeln lässt (Vertretenen oder Geschäftsherr). Damit der Vertragsschluss mit Wirkung für und gegen den Vertretenen (Ge- 90 schäftsherrn) herbeigeführt werden kann, müssen allerdings die in § 164 BGB genannten und in Abb. 1.10 dargestellten Voraussetzungen vorliegen. 1.6.2.5.1  Zulässigkeit der Stellvertretung Im Grundsatz ist eine Vertretung bei allen Rechtsgeschäften zugelassen. Es gibt al- 91 lerdings einige wenige Fälle, in denen das Gesetz die Abgabe von Willenserklärungen durch einen Vertreter von vornherein ausschließt, weil es sich um höchstpersönliche Rechtsgeschäfte handelt, wie z.  B. die Errichtung eines Testaments (§  2064 BGB), die Schließung eines Erbvertrages (§  2274 BGB) oder die Eheschließung (§ 1311 BGB). 1.6.2.5.2  Abgabe einer eigenen Willenserklärung Als Stellvertreter handelt nur derjenige, der eine eigene Willenserklärung abgibt. 92 Wer das Rechtsgeschäft nicht selbst tätigt, sondern nur eine fremde Erklärung des Geschäftsherrn überbringt bzw. deren Zugang bewirkt, ist lediglich Bote  – kein Vertreter.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

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Abb. 1.10  Voraussetzungen der Stellvertretung

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Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Hilfspersonen  – Stellvertreter oder Bote – ist bedeutsam, da nur der Vertreter rechtsgeschäftlich handelt und daher zumindest beschränkt geschäftsfähig sein muss (§ 165 BGB), während der Bote, der lediglich eine Übermittlungsfunktion wahrnimmt („Brief auf Beinen“), auch geschäftsunfähig sein kann (Abschn. 1.6.2.1). Bote kann daher auch schon ein fünfjähriges Kind sein; insofern gilt der Merksatz: „Ist das Kindlein noch so klein, so kann es doch schon Bote sein“. Beispiel

Klein Erna (E) – 6 Jahre alt – geht in das Lädchen um die Ecke und sagt: „Einen Gruß vom Papa, ich soll ihm eine Flasche Cola holen“ und reicht dem Ladeninhaber 2 EUR. L händigt der E die Flasche Cola sowie das Wechselgeld aus. Hier ist E als Botin ihres Vaters unterwegs, und zwar im Hinblick auf die Willenserklärungen des Vaters als Erklärungsbotin und im Hinblick auf die Willenserklärungen des L als Empfangsbotin. Dass E geschäftsunfähig ist, spielt keine Rolle. Die vorgenommenen Rechtsgeschäfte sind daher wirksam. ◄ Die Unterscheidung wird des Weiteren relevant, wenn eine eingesetzte Hilfsperson ihre Befugnisse überschreitet, denn §  177 BGB und die Möglichkeit zur nachträglichen Genehmigung eines Geschäfts durch den Geschäftsherren gilt nur für den Vertreter, nicht für den Boten.

1.6 Vertrag

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Und schließlich ist in diesem Zusammenhang auch auf die wichtige Unterscheidung zwischen einem Empfangsvertreter (§ 164 Abs. 3 BGB) und einem Empfangsboten hinzuweisen, da je nach Empfangstypus unterschiedliche Rechtsfolgen ausgelöst werden können, obschon sie eigentlich dasselbe tun, nämlich eine Willenserklärung entgegennehmen. Die Unterscheidung hat jedoch Bedeutung für den Zeitpunkt des Zugangs von Willenserklärungen: Hält sich der Empfangsvertreter/-bote im Machtbereich des Empfängers auf, so geht die Willenserklärung zu, wenn sie in den Machtbereich des Empfängers (regelmäßig dessen Wohnung oder Geschäftsräume) gelangt, unabhängig davon, ob sie von einem Vertreter oder Boten entgegengenommen wird. Nimmt die Hilfsperson die Willenserklärung jedoch außerhalb des Machtbereichs des Empfängers entgegen, so wird sie beim Empfangsvertreter sofort wirksam, während sie beim Einschalten eines Empfangsboten erst in dem Zeitpunkt wirksam wird, in welchem nach dem regelmäßigen Lauf der Dinge mit der Weiterleitung an den Geschäftsherrn zu rechnen ist. Dies wiederum kann bedeutsam werden, wenn noch ein Widerruf erklärt werden soll, der – wie bereits oben dargelegt – gemäß § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB vor oder gleichzeitig mit der Willenserklärung zugehen muss. Ob eine Hilfsperson Stellvertreter oder Bote ist, hängt davon ab, wie sie auf Ge- 94 heiß des Geschäftsherrn auftritt bzw. falls sie dies nicht tut, wie sie für den Dritten erkennbar auftritt. Dabei ist der Empfängerhorizont entscheidend, d. h. wie durfte der unbeteiligte Dritte das Auftreten und die Abgabe der Erklärung einordnen. Wenn das äußere Auftreten und die Begleitumstände auf eine eigene Erklärung des Handelnden mit Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Auswahl des Geschäftspartners, des Geschäftsgegenstandes oder des Geschäftsabschlusses schließen lassen, liegt eine Stellvertretung nahe. Sofern es an einer solchen Entscheidungsfreiheit zu fehlen scheint (z. B. aufgrund des Alters) und sich der Eindruck manifestiert, dass lediglich eine bereits fertige, fremde Willenserklärung übermittelt werden soll, ist der Handelnde als Bote zu qualifizieren. 1.6.2.5.3  Offenkundigkeit Der Stellvertreter muss „in fremdem Namen handeln“, also die Willenserklärung 95 im Namen des Vertretenen abgeben, d. h. er muss zum Schutz des Geschäftspartners deutlich machen, dass er für einen anderen rechtsgeschäftlich tätig werden will (sog. „Offenkundigkeitsprinzip“). Dabei muss der Vertreter jedoch nicht immer ausdrücklich erklären, dass er für einen anderen handelt. Es genügt bereits, wenn sich dieses aus den äußeren Umständen ergibt (§ 164 Abs. 1 S. 2 BGB). Beispiel

Die Bankangestellte schließt einen Überweisungsvertrag zweifellos im Namen der Bank ab (sog. „Handeln für den Geschäftsinhaber“). Wird die Überweisung fehlerhaft ausgeführt, hat der Kunde ausschließlich Ansprüche gegen die Bank und nicht gegen die Bankangestellte. ◄ Lässt sich allerdings weder aus der Erklärung noch aus den Umständen ent- 96 nehmen, dass jemand für einen anderen auftritt, muss er es sich auch gefallen las-

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sen, selbst als Geschäftspartner behandelt zu werden; hat er einen Vertrag abgeschlossen ohne seine Stellung hinreichend erkennbar werden zulassen, wird er daher selbst aus diesem verpflichtet und berechtigt (sog. Eigengeschäft des Vertreters nach § 164 Abs. 2 BGB). Als zulässige Durchbrechung des Offenkundigkeitsprinzips gilt das sog. „Geschäft, für den, den es angeht“ Hier macht der Vertreter nicht deutlich, dass er für einen anderen handelt, so dass das Offenkundigkeitsprinzip eigentlich nicht gewahrt wäre. Allerdings ist gemeinhin anerkannt, dass bei den „Bargeschäften des täglichen Lebens“, die üblicherweise sofort beidseitig erfüllt werden, der Geschäftspartner keines Schutzes durch das Offenkundigkeitsprinzip bedarf. Ihn interessiert es nicht, wer sein Vertragspartner ist. Insofern kann es in diesen Fallgestaltungen ausnahmsweise dem Handelnden überlassen bleiben, ob er sich erklärt bzw. die Wirkungen seiner Erklärung bei sich oder einem Dritten eintreten lässt. Beispiel

Fritz Fröhlich erwirbt am Kiosk an der Ecke eine Zeitschrift, die er seiner Tante Erna ins Krankenhaus bringen soll. Hier ist es dem Kioskbesitzer gleichgültig, ob sein Vertragspartner Fritz Fröhlich ist oder dessen Tante Erna. Insofern muss er auch nicht über das Offenkundigkeitsprinzip geschützt werden. ◄ 1.6.2.5.4  Vertretungsmacht Der Vertreter muss schließlich mit Vertretungsmacht ausgestattet sein. Vertretungsmacht umschreibt dabei die Befugnis, für einen anderen handeln zu dürfen. Sie kann sich aus dem Gesetz ergeben oder rechtsgeschäftlich eingeräumt sein. 99 Eine gesetzliche Vertretung ist insbesondere dort angeordnet, wo natürliche oder juristische Personen selbst nicht in der Lage sind, rechtsgeschäftlich zu handeln. So haben z.  B. die Eltern das minderjährige Kind zu vertreten (§  1629 Abs.  1 S.  2 BGB), der Geschäftsführer die GmbH (§ 35 Abs. 1 GmbHG) und der Vorstand die AG (§ 78 Abs. 1 AktG). Der Umfang der Vertretungsbefugnis ist dabei zumeist im Gesetz selbst festgelegt. 100 Die durch Rechtsgeschäft erteilte Vertretungsbefugnis bezeichnet man als Vollmacht (§ 166 Abs. 2 BGB). Sie hängt in ihrem Umfang regelmäßig vom P ­ arteiwillen ab (Ausnahme: handelsrechtliche Vollmachten, bei denen zum Schutz des Rechtsverkehrs der Umfang gesetzlich vorbestimmt ist (Abschn.  5.5)) und kann daher auch sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. 98

Beispiel

Eine erteilte Generalvollmacht ermächtigt zur Vornahme aller Rechtsgeschäfte des Vollmachtgebers; eine Gattungsvollmacht zur Vornahme einer bestimmten Art von Geschäften; die Spezialvollmacht zur Vornahme eines speziellen Rechtsgeschäfts; eine Prozessvollmacht zur Vornahme prozessbezogener Handlungen; die Prokura zur Vornahme aller gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäfte und Rechtshandlungen, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit sich bringt (§§ 49, 50 HGB).

1.6 Vertrag

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Bei mehreren Vertretern kann bestimmt werden, dass sie nur gemeinsam vertretungsberechtigt sein sollen (sog. Gesamtvertretung). Sie müssen dann nicht notwendig gemeinsam auftreten; es genügt, wenn einer im Einzelfall allein handelt und die anderen zustimmen. ◄ Die Vollmacht ist einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung (es gelten die §§ 104 ff. BGB) und sie kann grundsätzlich formlos (§ 167 Abs. 2 BGB) durch Erklärung gegenüber dem Vertreter (sog. Innenvollmacht, § 167 Abs. 1, 1. Alt. BGB) oder durch Erklärung gegenüber dem Geschäftspartner (sog. Außenvollmacht, §  167 Abs.  1, 2. Alt.  BGB) erteilt werden; selbst durch einfache mündliche Erklärung oder schlüssiges Verhalten (ausdrückliche Erteilung nötig bei Prokura). Nur in einigen wenigen Ausnahmefällen ist die Schriftform oder die notarielle Form angeordnet (u. a. bei einer Vollmacht bei Grundbuchantrag, §§ 29, 30 GBO oder zur Ausschlagung einer Erbschaft, § 1945 Abs. 3 BGB). Der Vollmacht liegt regelmäßig ein Rechtsverhältnis zwischen Vollmachtgeber und Bevollmächtigtem zugrunde (sog. Innen- oder Grundverhältnis), z.  B. ein Arbeitsverhältnis (§  611 BGB), ein Auftrag (§  662 BGB) oder ein Geschäftsbesorgungsvertrag (§  675 BGB). Dennoch ist die Vollmacht in ihrer Entstehung hiervon zu trennen; sie ist in ihrer Entstehung und Fortgeltung abstrakt, wenngleich eine gewisse Abhängigkeit zum zugrundeliegenden Rechtsverhältnis bestehen bleibt (§ 168 S. 1 BGB). Wegen der rechtlichen Selbständigkeit (Abstraktheit) der Vollmacht wirken sich Beschränkungen oder Mängel im Innenverhältnis (z.  B. im Rahmen des Dienstverhältnisses) auf die erteilte Vollmacht nicht aus, d. h. die durch Vollmacht eingeräumte Vertretungsmacht bleibt nach außen hin bestehen, selbst wenn das zugrundeliegende Rechtsverhältnis Mängel aufweist oder sich der Bevollmächtigte über Beschränkungen im Innenverhältnis hinwegsetzt. Insofern kann ein Bevollmächtigter im Außenverhältnis den Geschäftsherren wirksam verpflichten, obschon er im Innenverhältnis nicht oder nicht mehr befugt ist. Diese (übergeordnete) Wirkung der Vollmacht soll allerdings nicht mehr gelten, wenn der Bevollmächtigte und der Dritte einverständlich zur Schädigung des Vertretenen zusammenwirken (sog. Kollusion) oder der Bevollmächtigte seine Vertretungsmacht bewusst zur Schädigung des Vertretenen missbraucht. Die Vollmacht erlischt wenn das der Vollmacht zugrunde liegende Rechtsverhältnis zwischen dem Geschäftsherrn und dem Bevollmächtigten vollständig endet (§ 168 S. 1 BGB), z. B. wenn der Prokurist entlassen wird oder wenn die Frist einer nur befristet erteilten Vollmacht verstreicht oder wenn die Vollmacht widerrufen wird (§ 168 S. 2 BGB). Der Widerruf der Vollmacht ist jederzeit entweder gegenüber dem Bevollmächtigten als auch gegenüber dem Dritten möglich (§§ 168 S. 3, 167 Abs. 1 BGB), es sei denn, dass sich aus dem Innenverhältnis etwas anderes ergibt. Da aber der Dritte von einem Widerruf gegenüber dem Bevollmächtigten mitunter keine Kenntnis erlangt, sind zu dessen Schutz die §§  170–173 zu berücksichtigen. Eine nicht (mehr) bestehende Vollmacht wird hiernach im Interesse des gutgläubigen Dritten als fortbestehend angesehen (Rechtsscheinvollmacht), bis

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

der Vollmachtgeber den einmal gesetzten Rechtsschein in der gesetzlich vorgegebenen Weise beseitigt: • Nach § 170 BGB gilt die Vollmacht, die gegenüber dem Dritten erklärt wurde (sog. Außenvollmacht), so lange als fortbestehend, bis diesem gegenüber auch das Erlöschen vom Vollmachtgeber angezeigt wird. • Ist die Bevollmächtigung durch besondere Mitteilung an den Dritten oder öffentlich bekannt gemacht worden (z.  B. besondere Ankündigung des Vertreterbesuchs, Eintragungen ins Handelsregister), wird ein gutgläubiger Dritter so lange in seinem Vertrauen auf das Bestehen der Vollmacht geschützt, bis der durch die Mitteilung oder Bekanntmachung erzeugte Rechtsschein in derselben Weise, wie er erfolgt ist, widerrufen wird (§ 171 BGB). • Wer dem Vertreter eine Vollmachtsurkunde aushändigt, die der Vertreter dem Dritten vorlegt, setzt einen Rechtsschein, der alleine durch Rückgabe der Vollmachtsurkunde oder durch „Kraftloserklärung“ beseitigt werden kann (§§ 172, 176 BGB). Durch die vorgenannten gesetzlichen Regelungen wird also der Dritte in seinem Vertrauen auf den (Fort-)Bestand der erteilten Vollmacht geschützt, es sei denn, er kannte das Erlöschen der Vertretungsmacht bei Vornahme des Rechtsgeschäftes oder hätte es kennen müssen (§ 173 BGB). Eine nicht bzw. nicht mehr bestehende Vollmacht wird im Interesse eines gut108 gläubigen Dritten ebenso als bestehend angesehen, wenn der Vertretene in zurechenbarer Weise irgendeinen Rechtsschein für eine bestehende Vollmacht gesetzt hat. Die Rechtsprechung hat hierfür die Grundsätze der Duldungs- und Anscheinsvollmacht entwickelt: • Eine Duldungsvollmacht liegt vor, wenn eine wirksame Bevollmächtigung fehlt, der Vertretene aber das Handeln seines Vertreters kennt, ihn gewähren lässt und es duldet, d. h. nicht aktiv dagegen einschreitet, obwohl er es könnte. • Bei einer Anscheinsvollmacht weiß der Vertretene dagegen nichts vom Auftreten des vermeintlichen Vertreters, er hätte aber bei pflichtgemäßer Sorgfalt davon Kenntnis erlangen und es verhindern können. Sofern der Vertragspartner auf einen solchen Rechtsschein vertraut und selbst nicht bösgläubig ist, werden diese Fallgestaltungen so behandelt, als habe der zu Vertretene eine wirksame Vollmacht erteilt. Beispiel

Die Steuerberaterin S bestellt im Namen ihres Chefs C, beim Büroartikelversand B immer wieder Stifte, Papier und Druckerkartuschen für ihren Privatbedarf. C bezahlt die Rechnungen fortlaufend, ohne deren Inhalt zu prüfen. Erst durch Zufall erfährt er vom Handeln der S und fragt, ob er die Rückzahlung der Beträge von B verlangen kann.

1.6 Vertrag

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Dies ist nicht möglich. S hatte zwar keine ausdrückliche Vollmacht zum Abschluss der Kaufverträge von C erhalten. Allerdings hätte C bei pflichtgemäßer Sorgfalt und Prüfung der Rechnungen erkennen und verhindern können, dass S in seinem Namen Bestellungen tätigte. Da B scheinbar darauf vertraute und auch darauf vertrauen durfte, dass S Vollmacht besaß, liegt ein Fall der sog. Anscheinsvollmacht vor. Die Kaufverträge sind daher wirksam zulasten des C zustande gekommen. ◄ Neben dem Vorliegen der Vertretungsbefugnis (durch Gesetz oder Vollmacht) ist 109 es für eine ordnungsgemäße Stellvertretung außerdem erforderlich, dass die Erklärung des Vertreters „innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht“ erfolgt. Ist das Rechtsgeschäft nicht vom Umfang der erteilten (bzw. gesetzlich vorgegebenen) Vertretungsmacht umfasst, handelt es sich um einen Missbrauch der Vertretungsmacht. Abb.  1.11 zeigt den Vertragsschluss durch Stellvertretung am Beispiel eines 110 Kaufvertrages. 1.6.2.5.5  Rechtsfolgen der Stellvertretung Nur wenn alle Voraussetzungen der wirksamen Stellvertretung vorliegen, der Ver- 111 treter innerhalb bestehender Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen eine eigene Willenserklärung abgibt, wirkt das vom Vertreter vorgenommene Rechtsgeschäft ausschließlich für und gegen den Vertretenen (§ 164 Abs. 1 S. 1 BGB). Handelt der Vertreter hingegen ohne Vertretungsmacht, ist ein gesetzlicher 112 Lösungsweg vorgesehen, der die Interessenkollision zwischen dem Vertrauensinteresse des Dritten und dem Schutzinteresse des Vertretenen auflöst: 6WHOOYHUWUHWXQJDP%HLVSLHOHLQHV.DXIYHUWUDJHV

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Abb. 1.11  Stellvertretung am Beispiel eines Kaufvertrages

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Der ohne Vertretungsmacht abgeschlossene Vertrag ist zunächst einmal schwebend unwirksam (§  177 Abs.  1 BGB) und hängt von der (nachträglichen) Genehmigung des Vertretenen ab. Erteilt der Vertretene die Genehmigung, dann wird der Vertrag für und gegen ihn wirksam. Verweigert er sie, dann bleibt der Vertrag endgültig unwirksam und die Rechte des Dritten – des vermeintlichen und vertrauenden Vertragspartners – bestimmen sich nach §  179 BGB und hängen im Umfang von der Redlichkeit des Vertreters sowie der Schutzwürdigkeit des Dritten ab. Nach §  179 Abs.  1 BGB ist der Vertreter, der den Mangel seiner Vertretungsmacht kannte, dem Dritten gegenüber zu Schadensersatz oder Erfüllung verpflichtet, d. h. der Dritte kann nach seiner Wahl (§ 262 BGB) den Vertreter auf Schadensersatz oder Vertragserfüllung in Anspruch nehmen. Beispiel

Geschäftsmann G erteilt seinem Angestellten A eine Vollmacht zum Kauf einer Computeranlage beim Bürohändler B. Während des Bestellvorgangs entschließt sich A spontan dazu, die alte Telefonanlage des G an B zu verkaufen, die der B auch umgehend und gewinnbringend an seinen Kunden K weiterveräußert. In dieser Konstellation ist der Kaufvertrag über die Computeranlage wirksam zwischen G und B zustande gekommen, da A die notwendige Vollmacht zum Kauf besaß (§ 164 BGB). Dagegen ist der Vertrag über die Telefonanlage schwebend unwirksam, weil A hier ohne Vertretungsmacht handelte (§  177 Abs.  1 BGB). Genehmigt der G das Handeln des A, wird der Vertrag im Nachhinein wirksam. Verweigert er dagegen die Genehmigung, treten die Rechtsfolgen des § 179 Abs. 1 BGB ein und der B könnte wahlweise Erfüllung oder Schadensersatz von A verlangen. Da der A die Telefonanlage aber nicht verschaffen kann, weil sie G gehört, verbleibt es bei einem Schadensersatzanspruch des B gegen den A in Höhe des entgangenen Gewinns. ◄ Kannte der Vertreter den Mangel seiner Vertretungsmacht hingegen nicht, so haftet er nach § 179 Abs. 2 BGB nur auf Ersatz des Vertrauensschadens, d. h. er muss lediglich die Aufwendungen tragen, die der Dritte im Vertrauen auf das bevorstehende Geschäft getätigt hat (z.  B.  Porto, Versand- oder Transportkosten, Anreisekosten). Der Vertreter haftet dagegen nach § 179 Abs. 3 BGB überhaupt nicht, wenn der Dritte das Fehlen der Vertretungsmacht kannte oder kennen musste; der Dritte ist in diesem Fall nicht schutzwürdig. 113 Neben dem Fehlen der Vertretungsbefugnis gibt es auch Situationen, in welchen der Vertreter zwar eine gesetzliche oder vertraglich eingeräumte Vertretungsbefugnis besitzt, diese aber überschreitet bzw. missbraucht. Davon ist beispielsweise auszugehen, wenn der Vertreter entgegen einer vereinbarten Beschränkung im Innenverhältnis nunmehr grenzenlose Rechtsgeschäfte im Außenverhältnis tätigt und dabei den Geschäftsherren wirksam verpflichtet.

1.6 Vertrag

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In einer solchen Fallgestaltung, in denen der Vertrag zwischen dem Geschäftsherren und dem Dritten trotz einer bestehenden Innenbeschränkung zustande kommt, weil alle Voraussetzungen der wirksamen Stellvertretung vorliegen (§ 164 BGB), verbleibt nur mehr ein Schadensersatzanspruch des Geschäftsherren gegen den Vertreter. Die Tatsache, dass sich der Vertreter über die Beschränkungen im Innenverhältnis bzw. der Vereinbarung über den Umfang der Vertretungsbefugnis hinwegsetzt, begründet eine Pflichtverletzung des Grundverhältnisses (z.  B. des Auftrags- oder Arbeitsverhältnisses). Beispiel

Geschäftsmann G erteilt seinem Angestellten A eine Vollmacht zum Kauf einer Computeranlage beim Bürohändler B. Dabei legt er ein Preislimit in Höhe von 1000 EUR fest, das nicht überschritten werden soll. Nachdem A einige Anlagen angesehen hat, schließt er im Namen des G mit B einen Kaufvertrag über eine Anlage zu 1500 EUR. Da A eine Vertretungsbefugnis besitzt, kommt ein Kaufvertrag zwischen G und B im Außenverhältnis wirksam zustande (§ 164 BGB). Allerdings ist der A dem G im Innenverhältnis zu Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 BGB verpflichtet, weil er die Weisung des G missachtet hat und ihm deshalb eine Pflichtwidrigkeit im Arbeitsverhältnis vorzuwerfen ist. ◄ Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass alle Vertreter einem Selbst- 114 kontrahierungsverbot unterliegen, d. h. es ihnen verboten ist, mit sich selbst Geschäfte im Namen des Vertretenen abzuschließen (§ 181 BGB). Dieses Verbot greift auch ein, wenn der Vertreter zwei Personen gleichzeitig vertritt und als Vertreter des einen mit sich selbst als Vertreter des anderen ein Geschäft abschließt. Rechtsgeschäfte, die gegen dieses Verbot verstoßen, sind unwirksam, falls sie der Vertretene nicht rückwirkend genehmigt; es gelten die §§  177–179 BGB.  In Gesellschafts- und Arbeitsverträgen wird allerdings vielfach von der Möglichkeit einer Befreiung von der Beschränkung des § 181 BGB Gebrauch gemacht.

1.6.2.6 Vertragsschluss im elektronischen Geschäftsverkehr Für einen Vertragsabschluss im elektronischen Geschäftsverkehr (sog. E-­Commerce) 115 gelten im Hinblick auf die Einigung und das Zustandekommen des Vertrages grundsätzlich die allgemeinen Regeln der §§ 145 ff. BGB (Abschn. 1.6.2.1), wenngleich die Eigenart des Vertragsschlusses via Internet auch einige nennenswerte Besonderheiten bereithält. Nahezu allen vertragsrechtlichen Fragen vorgelagert ist im elektronischen Ge- 116 schäftsverkehr die Gewährleistung der Authentizität der rechtsgeschäftlichen Willenserklärung. Der Empfänger einer elektronischen Erklärung muss sich sicher sein können, dass diese vollständig und unverfälscht vom angegebenen Urheber stammt. Insofern sind Identifizierungsarchitekturen eine notwendige Infrastruktur des E-Commerce.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Dieses Bedürfnis hat der Gesetzgeber erkannt und den Vertragspartnern zur Unterstützung einer fälschungssicheren Kommunikation im Internet die Möglichkeit eröffnet, Willenserklärungen elektronisch sowie rechtssicher zu signieren. Natürliche Personen nutzen hierfür die „elektronischen Signatur“, juristische Personen das „elektronische Siegel“. Die betreffenden Regelungen befanden sich ursprünglich im Signaturgesetz von 1997 (SiG), dem weltweit ersten Gesetz, das die elektronische Signatur umfassend und ausführlich regelte. Mittlerweile hat die eIDAS-­Verordnung (EU) Nr. 910/2014 als einheitliche europäische Regelung das SigG abgelöst, ohne allerdings den bestehenden Sicherheitsrahmen zu verändern. Die einem elektronisch geschlossenen Vertrag zugrundeliegenden Willenserklärungen sind oftmals nur noch willentlich erzeugte Impulse. Das kann auf der Seite des Kunden z. B. der bestätigende Mausklick oder das Betätigen der Return-­ Taste sein. Auf der Seite der Anbieter werden nach Eingang eines Angebots mitunter gar keine Menschen mehr tätig, sondern es kommt zu reinen „Computererklärungen“. Diese aufgrund entsprechender Programmierung automatisch erstellten und dem Empfänger übermittelten Erklärungen (sog. Autoresponder) gelten, trotzdem es ihnen an einer vom Willen getragenen Erklärung eines Menschen mangelt, dennoch als vollwertige Willenserklärungen. Im E-Commerce bahnt sich der Vertragsschluss oftmals über Leistungs-„Angebote“ in Form von Waren- und Dienstleistungsverzeichnissen auf der Homepage des Anbieters an. Diese Leistungsverzeichnisse sind entgegen ihrer Bezeichnung oftmals keine Vertragsangebote i. S. d. § 145 BGB. Vielfach besteht nämlich noch das Interesse des Internet-Anbieters, vor Vertragsabschluss sowohl seine eigene Lieferfähigkeit als auch die Bonität des Kunden überprüfen zu können; den Willen sich rechtlich zu binden, wird er vom Prüfergebnis abhängig machen. Deshalb handelt es sich bei den Leistungsverzeichnissen (ähnlich wie bei Katalogen) lediglich um Einladungen an einen nicht konkret bezeichneten Personenkreis zur Abgabe von Angeboten („invitatio ad offerendum“). Werden seitens der Kunden Angebote abgegeben, so ist deren Zugang vom Internetanbieter zu bestätigen (§ 312i Abs. 1 BGB). Hierfür werden häufig sog. Auto­ responder (Auto-Reply) eingesetzt, die dem Kunden eine automatische Antwort auf seine Bestellung zukommen lassen. Im Einzelfall kann dabei unklar sein, welchen Erklärungsgehalt eine solche Autoresponder-Nachricht besitzt. Es kann sich um eine einfache Zugangsbestätigung handeln oder um eine bindende Willenserklärung (Annahme des Angebots), die sodann den Vertragsschluss herbeiführen würde. Der Wesensgehalt der automatisierten Erklärung ist daher zu bestimmen, indem sie nach dem objektiven Empfängerhorizont ausgelegt wird (§§ 133, 157 BGB). Dabei sind Formulierungen wie „die Bestellung wird bald ausgeliefert“ oder „die Bestellung wird umgehend auf den Weg gebracht“ schon als Annahmeerklärung zu werten, während die Formulierung „die Bestellung ist aufgenommen“ lediglich als Zugangsbestätigung gilt.

1.6 Vertrag

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Beispiel

Die Buchhandlung B bietet einige ihrer Bücher auf der eigenen Homepage an. Kunde K wählt sich das Buch „Der kleine Rechtswissenschafter“ für 20 EUR aus, gibt die erforderlichen Daten in der vorgesehenen Bestelloberfläche ein und sendet das elektronische Formular per Mausklick ab. In einem solchen Fall ist die Auflistung der Bücher auf der Homepage noch kein Angebot der B, sondern lediglich eine „inventatio ad offerendum“. Erst der K erklärt mit dem Ausfüllen des elektronischen Formulars auf der Bestelloberfläche das Angebot zum Kauf des Buches und bewirkt den Zugang der Erklärung bei der B mittels des Mausklicks und damit verbundenen elektronischen Signals. Die B kann das Angebot nun annehmen oder nicht. Beabsichtigt sie die Annahme, so kann diese unmittelbar durch eine automatisierte Computererklärung „Ihre Bestellung ist eingegangen, der Versand wird vorbereitet“ erfolgen oder aber sie bestätigt zunächst nur den Zugang der Bestellung und gibt anschließend das Buch in den Versand, womit sie konkludent die Annahme erklären würde. ◄ Elektronische Willenserklärungen gelten als Erklärungen unter Abwesenden (§ 147 Abs. 2 BGB) und müssen daher zugehen. Sie sind zugegangen, wenn sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt sind und mit der Kenntnisnahme unter normalen Umständen gerechnet werden kann, also dann, wenn mit dem Abruf aus dem elektronischen System zu rechnen ist. Bei einem Mailbox-System ist die Erklärung in den Machtbereich gelangt, wenn die Erklärung dort zum Abruf durch den Empfänger gespeichert wurde bzw. für ihn bereitliegt. Im Normalfall wird hierfür auf die üblichen Geschäftszeiten abgestellt. Bei einem automatisierten Betrieb „rund um die Uhr“ wird man allerdings den Zugang am „Tag des Eingangs“ annehmen können. Bei elektronischen Willenserklärungen verkürzt sich außerdem die in §  147 Abs.  2 BGB angelegte Annahmefrist. Aufgrund der technologisch bedingten Möglichkeiten des schnellen Buchungs- und Bestellmediums Internet darf auch mit ­einer kurzen Überlegungsfrist und einer raschen Antwort gerechnet werden; die Annahmefrist kann daher deutlich verkürzt sein. Beim elektronischen Vertragsschluss gelten weitere Besonderheiten (Informations- und Widerrufsrechte), die sich zum einen aus dem Fernabsatzvertragsrecht (§§ 312c ff. BGB) und zum anderen dem Recht des elektronischen Geschäftsverkehrs (§ 312i BGB) ergeben, um den Schutz der Verbraucher weiter zu stärken. §  312c Abs.  1 BGB enthält die Definition des Fernabsatzvertrages. Danach sind Fernabsatzverträge Verträge, bei denen der Unternehmer (§ 14 BGB) oder eine in seinem Namen oder Auftrag handelnde Person und der Verbraucher (§ 13 BGB) für die Vertragsverhandlungen und den Vertragsschluss ausschließlich Fernkommunikationsmittel i. S. des § 312 c Abs. 2 BGB (u. a. Telefon, Fax, E-Mails, SMS, Rundfunk, Tele- und Mediendienste) verwenden. Zentrales Element des Fernabsatzvertrages ist demnach die körperliche Abwesenheit der Vertragsparteien sowie der nur mediale Kontakt zwischen ihnen bei der Vertragsanbahnung und dem Vertragsabschluss. Da der Verbraucher in solchen Situationen die Vertragsinhalte

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

nicht „face to face“ verhandelt und außerdem den Vertragsgegenstand nicht in Augenschein nehmen kann, soll er aus der Sicht des Gesetzgebers einen besonderen Schutz erfahren. Hierfür werden dem Unternehmer besondere Informationspflichten aufgebürdet und dem Verbraucher ein starkes Widerrufsrecht einräumt. §§  312d Abs.  1, 312  f Abs.  2 BGB gelten als die zentralen Normen für die Informationspflichten des Unternehmers bei Fernabsatzverträgen, wobei § 312d BGB die vorvertraglichen und §  312  f Abs.  2 BGB die nachvertraglichen Informationspflichten normiert. Welche Informationen dem Verbraucher zu übermitteln sind, ergibt sich aus Art. 246a § 1 Abs. 1 EGBGB, der u. a. Informationen zu wesentlichen Eigenschaften des Produkts, der Identität des Vertragspartners, zu Preis und Lieferkosten benennt. Ebenso muss die Widerrufsbelehrung (als Teil der Pflichtinformationen) gemäß Art.  246a §  1 Abs.  2 EGBGB enthalten sein. Für Finanzdienstleistungsverträge ergeben sich zudem spezielle Pflichten aus Art. 246b EGBGB. Für die Nichtbeachtung vorgenannter Informationspflichten bestimmen die fernabsatzrechtlichen Vorschriften nur sehr wenige Rechtsfolgen. Nach §  356 Abs. 3 BGB beginnt die Widerrufsfrist nicht zu laufen, solange der Unternehmer den Verbraucher nicht über sein Widerrufsrecht belehrt hat (Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bzw. Art. 246b § 2 Abs. 1 EGBGB). Nach § 312e BGB kann der Unternehmer Fracht-, Liefer- oder Versandkosten sowie sonstige Kosten nur dann ersetzt verlangen, wenn er den Verbraucher zuvor über die entstehenden Kosten belehrt hat (Art. 246a § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EGBGB). Andere Sanktionsmechanismen kennt das Fernabsatzrecht bei Verletzung der Informationspflichten nicht, wenngleich daneben die allgemeinen Grundsätze des BGB bei Pflichtverletzungen gelten: • Das unter Verletzung der Informationspflicht zustande gekommene Geschäft bleibt gültig. • Wird der Kunde unzureichend oder fehlerhaft unterrichtet, kann das die Auslegung der Willenserklärung beeinflussen (§§  133, 157 BGB) oder ein Anfechtungsgrund gegeben sein (§ 119 BGB). • Die Informationspflichtverletzung kann zu einer Haftung aus §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB i. V. m. 280 BGB führen (Abschn. 1.6.5). • In lauterkeitsrechtlicher Hinsicht können Verstöße gegen §  312d BGB die Möglichkeit einer Unterlassungsklage nach § 2 UKlaG begründen. Auch regeln die Belehrungspflichten gem. Art.  246a EGBGB bei Fernabsatzverträgen das Marktverhalten i. S. d. § 3a UWG, so dass ein Verstoß gegen die verbraucherschützenden Informationspflichten abgemahnt und wettbewerbsrechtlich sanktioniert werden kann. Neben die Informationspflichten des Unternehmers tritt das besondere Widerrufsrecht des Verbrauchers nach §  312g Abs.  1 BGB.  Dabei verweist §  312g Abs. 1 BGB zunächst ganz allgemein auf das Widerrufsrecht für Verbraucherverträge in § 355 BGB und nimmt anschließend in § 312g Abs. 2 BGB bestimmte Verträge wieder von dessen Anwendung aus (insbesondere Verträge, bei denen dem Unternehmer die vollständige Rückabwicklung des Vertrages nicht zumutbar ist).

1.6 Vertrag

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Die Ausgestaltung, Ausübung und die Folgen des verbraucherschützenden Widerrufsrechtes werden sodann in den §§ 355 ff. BGB geregelt. Hier finden sich neben der einleitenden Vorschrift (§ 355 Abs. 1 BGB) insbesondere Regelungen zur Dauer und zum Beginn der 14-tägigen Widerrufsfrist (§  355 Abs.  2, 356 Abs. 2 und 3 BGB) sowie zum Erlöschen des Widerrufsrechts (§ 356 Abs. 4 und 5 BGB). Die Widerrufsfrist beginnt bei Fernabsatzgeschäften erst nach ordnungsgemäßer Belehrung (§ 356 Abs. 3 BGB und Art. 246a § 1 Abs. 2 EGBGB), wobei ein Muster für eine rechtskonforme Widerrufsbelehrung dem EGBGB als Anlage 1 beigefügt ist. Welche Rechtsfolgen ein ausgeübter Widerruf auslöst, ist allgemein in § 355 Abs. 3 BGB und speziell für Fernabsatzverträge in § 357 BGB normiert. Beim sog. elektronischen Geschäftsverkehr bedient sich der Unternehmer 124 zum Zwecke des Abschlusses eines Vertrages über die Lieferung von Waren oder über die Erbringung von Dienstleistungen der Telemedien (§ 312i Abs. 1 BGB). Der sachliche Anwendungsbereich ist damit deutlich enger als der des Fernabsatzrechts. Im Rahmen des § 312i BGB geht es z. B. um das Teleshopping oder den „klassischen Online-Einkauf“ und damit um Vertragsschlüsse die per E-Mail, über Online-­ Shops oder anderen telemedialen Verkaufsplattformen zustande kommen, unabhängig davon, ob dies über einen mobilen Browser, per App, SMS oder über eine Bluetooth-Schnittstelle geschieht. Anders als beim Fernabsatzvertrag ist damit nicht jedes Fernkommunikationsmittel erfasst; Verträge, die per Brief, Telefax oder Telefon abgeschlossen werden, fallen gerade nicht in den Anwendungsbereich des § 312i BGB. Auch im Rahmen des elektronischen Geschäftsverkehrs werden dem Unternehmer eine Reihe von Pflichten in den §§ 312i, 312j BGB auferlegt. Dabei sind die in § 312i BGB normierten „allgemeinen Pflichten“ immer zu erfüllen, gleichgültig ob der Vertragspartner Verbraucher ist oder nicht, wohingegen die in § 312j BGB benannten „besonderen Pflichten“ nur bei Verträgen mit Verbrauchern einzuhalten sind. Im Rahmen der allgemeinen Pflichten, muss der Unternehmer seinen Kunden • angemessene, wirksame und zugängliche technische Mittel zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe der Kunde vor Abgabe seiner Bestellung einen Eingabefehler erkennen und berichtigen kann (§ 312i Abs. 1 Nr. 1 BGB). Darunter fällt beispielsweise die übersichtliche Darstellung des elektronischen Warenkorbs verbunden mit einer Berichtigungsoption, wobei es bezogen auf letzteres auch für ausreichend erachtet wird, wenn der Kunde durch den „Zurück-Button“ seines Browsers wieder auf die vorherige Seite kommt, um den Inhalt seines Warenkorbs zu ändern (vgl. Schirmbacher in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, § 312i Rn. 35). • die in Art. 246c EGBGB abverlangten Informationen rechtzeitig vor Abgabe seiner Bestellung klar und verständlich mitteilen (§ 312i Abs. 1 Nr. 2 BGB). Dazu gehören nach Art.  246c EGBGB Informationen zu den technischen Abläufen (Nr. 1), der Verfügbarkeit des Vertragstextes (Nr. 2), den vorhandenen Möglichkeiten, um Eingabefehler erkennen und berichtigen zu können (Nr. 3), der Ver-

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

tragssprache (Nr.  4) sowie zu Verhaltenskodizes, denen sich der Unternehmer unterwirft, sowie den elektronischen Zugang zu diesen Regelwerken (Nr. 5). • den Zugang einer Bestellung unverzüglich auf elektronischem Wege zu bestätigen (§ 312i Abs. 1 Nr. 3 BGB). • die Möglichkeit verschaffen, die Vertragsbestimmungen einschließlich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei Vertragsschluss in zumutbarer Form abzurufen und in wiedergabefähiger Form zu speichern (§ 312i Abs. 1 Nr. 4 BGB). Dabei genügt es nicht, den Hinweis auf die AGB irgendwo auf der Homepage zu platzieren, vielmehr muss er auch bei flüchtiger Betrachtung auffindbar sein. Das kann z. B. durch gut sichtbare Icons/Hyperlinks erfolgen oder – was in der Praxis bevorzugt wird  – das Auslösen der Bestellung wird von der Bestätigung des Kunden über die Kenntnisnahme der AGB abhängig gemacht. Verstößt ein Unternehmer gegen diese allgemeinen Pflichten aus § 312i Abs. 1 S.  1 BGB führt dies nicht zur Unwirksamkeit des Vertrages. Mangels einer ausdrücklichen Regelung finden die allgemeinen Bestimmungen des Schuldrechts Anwendung, nach denen dem Kunden allenfalls ein Schadensersatzanspruch nach §§ 311 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB zustehen könnte, sofern der Pflichtverstoß ursächlich für den  – aus Kundensicht ungünstigen  – Abschluss des Vertrages war (Abschn. 1.6.5). Ferner kommen Unterlassungsansprüche gem. § 2 UKlaG oder § 8 UWG in Betracht. §  312j BGB bestimmt die (weiteren) besondere Pflichten bei Geschäften im elektronischen Geschäftsverkehr mit Verbrauchern, die  – im Gegensatz zu den Pflichten aus § 312i BGB – zugleich notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen des Vertrags sind (§ 312j Abs. 4 BGB). Danach muss der Unternehmer • spätestens bei Beginn des Bestellvorgangs klar und deutlich angeben, ob Lieferbeschränkungen bestehen und welche Zahlungsmittel akzeptiert werden (§ 312j Abs. 1 BGB). • dem Verbraucher gem. § 312j Abs. 2 BGB die Informationen gem. Art. 246a § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 (wesentliche Eigenschaften der Ware), Nr. 4 (Gesamtpreis der Ware oder der Dienstleistung), Nr. 5 (bei Abonnement-Verträgen den Gesamtpreis pro Abrechnungszeitraum), Nr.  11 (gegebenenfalls die Laufzeit des Vertrages) und Nr. 12 (gegebenenfalls die Mindestdauer der Verpflichtung) EGBGB, unmittelbar bevor der Verbraucher seine Bestellung abgibt, klar und verständlich in hervorgehobener Weise zur Verfügung stellen. • den Bestellvorgang so gestalten, dass der Verbraucher seine Zahlungspflicht bestätigt, z.  B. über einen Button „zahlungspflichtig bestellen“ (§  312j Abs.  3 S. 1 BGB). Fragen

5. Geben Sie eine Beschreibung des Begriffs „Vertrag“! 6. A bietet der B-Bank eine EDV-Anlage für 12.000 EUR an. Die B-Bank antwortet, sie sei mit dem Angebot einverstanden, wolle allerdings nur

1.6 Vertrag

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11.000 EUR zahlen. Auf das Schreiben der B-Bank reagiert der A nicht mehr. Ist ein Vertrag zustande gekommen? 7. Der A bekommt vom Buchhändler B ein Buch mit Preisangabe zugeschickt, ohne es bestellt zu haben. A beginnt das Buch zu lesen, schreibt Bemerkungen an den Rand und legt es nach einer Weile verärgert weg, weil es ihm überhaupt nicht gefällt. B verlangt von A den Kaufpreis für das Buch. Zu Recht? 8. Von welchen Voraussetzungen ist eine wirksame Stellvertretung abhängig? 9. Welche Rechtsfolgen treten ein, wenn ein Vertreter ohne Vertretungsmacht handelt?

1.6.3 Unwirksame oder nichtige Verträge Unsere Rechtsordnung kennt eine Reihe von Fällen, in denen Willenserklärungen, 125 Verträge und sonstige Rechtsgeschäfte unwirksam oder nichtig sind, weil sie an rechtlichen Mängeln leiden. Die Gründe, weswegen die Rechtsordnung diese Geschäfte missbilligt, sind dabei teils bei den handelnden Personen, teils in der Art, der Form oder dem Inhalt des Geschäftes zu suchen. Einen Überblick über die wichtigsten Unwirksamkeits- bzw. Nichtigkeits- 126 gründe zeigen Abb. 1.12 sowie Abb. 1.13 aus denen sich ferner entnehmen lässt, an welcher Stelle im Gesetz die rechtlichen Regelungen zur Unwirksamkeit/ Nichtigkeit zu finden sind und ob der Gesetzgeber eine Heilungsmöglichkeit vorgesehen hat, d. h. das Rechtsgeschäft noch nachträglich wirksam gemacht werden kann.

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Abb. 1.12  Unwirksamkeitsgründe und Heilungsmöglichkeiten I

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

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Abb. 1.13  Unwirksamkeitsgründe und Heilungsmöglichkeiten II

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Unwirksamkeit und Nichtigkeit unterscheiden sich. Während ein nichtiges Rechtsgeschäft unter so schweren Mängeln leidet, dass das Gesetz ihm von Anfang an keine Rechtswirkung mehr zugesteht und es auch nicht mehr als heilbar gilt (z. B. Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot, § 134 BGB), kann ein unwirksames Rechtsgeschäft noch nachträglich geheilt werden (z.  B.  Vertragsschluss eines Minderjährigen durch Genehmigung des gesetzlichen Vertreters, §  108 BGB). Bis zu der Entscheidung, ob von der eingeräumten Heilungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird, ist ein solches Rechtsgeschäft „schwebend unwirksam“. Das schwebend unwirksame Rechtsgeschäft kann also durch Ausübung der eingeräumten Heilungsmöglichkeit wirksam werden (z. B. das fehlende Formerfordernis beim Schenkungsversprechen durch Vollzug der Schenkung, § 518 Abs. 2 BGB). Wird von der Heilungsmöglichkeit dagegen kein Gebrauch gemacht (z. B. die Zustimmung des Berechtigten endgültig verweigert, § 108 Abs. 2 BGB), dann wird das Rechtsgeschäft endgültig unwirksam und steht einem nichtigen gleich; es löst dann auch keine Rechtswirkungen mehr aus. Alle Lieferungen, Arbeiten und Zahlungen, die auf der Basis endgültig unwirksamer oder nichtiger Rechtsgeschäfte erbracht wurden, sind ohne Rechtsgrund erbracht. Wer jedoch etwas ohne Rechtsgrund erworben hat, ist ungerechtfertigt bereichert und muss das Erlangte wieder zurückgeben, oder – wenn er es nicht mehr hat – dessen Wert ersetzen (§§ 812 ff. BGB Abschn. 3.2). Nachfolgend sollen nun einige für das allgemeine Privatrecht besonders wichtige Unwirksamkeits- und Nichtigkeitsgründe (Abschn.  1.6.2.4) etwas näher betrachtet werden.

1.6 Vertrag

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1.6.3.1 Unwirksamkeit aufgrund eines Mangels in der Geschäftsfähigkeit Die Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte wirksam vorzunehmen. 129 Nur eine geschäftsfähige natürliche Person kann durch eigene Willenserklärungen wirksam Rechte erwerben und Pflichten begründen, also auch Verträge abschließen. Die Geschäftsfähigkeit hängt dabei vom Alter des Menschen und von seiner geistigen Verfassung ab. Geschäftsunfähige Personen können weder rechtsgeschäftlich handeln (§ 104 130 BGB), noch kann ihnen gegenüber eine rechtswirksame Willenserklärung abgegeben werden (§ 131 Abs. 1 BGB). Wer als geschäftsunfähig gilt, regelt § 104 BGB abschließend. Es sind Kinder unter sieben Jahren (Nr. 1) sowie Personen, die sich in einem nicht nur vorübergehenden, sondern einem dauerhaften Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden (Nr. 2). Willenserklärungen, die von solchen geschäftsunfähigen Personen abgeben wer- 131 den, sind nach § 105 Abs. 1 BGB nichtig, d. h. von Anfang an unwirksam (Ausnahme: § 105 a BGB). § 105 Abs. 2 BGB dehnt den Anwendungsbereich dieser Nichtigkeitsregel weiter aus, indem er feststellt, dass auch Willenserklärungen nichtig sind, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit (z. B. Epilepsie, Volltrunkenheit) abgegeben werden. Auch solche Willenserklärungen sind nichtig, obschon hier kein Geschäftsunfähiger gehandelt hat. Beispiel

Ein 5-jähriges Kind ist rechtsfähig, d.  h. es besitzt die Fähigkeit Träger von Rechten und Pflichten zu sein (§ 1 BGB) und könnte daher auch schon Eigentümer oder Erbe sein. Allerdings ist es noch nicht geschäftsfähig (§ 104 Nr. 1 BGB), d. h. es kann keine rechtserhebliche Willenserklärung abgeben, es kann weder Spielzeug kaufen noch verschenken. Ein gesunder 20-Jähriger ist zwar rechts- und geschäftsfähig (§ 1 BGB, kein Fall des §  104 BGB). Wenn er allerdings sein Cabriolet nachts im Vollrausch verkauft, ist seine Willenserklärung nach § 105 Abs. 2 BGB unwirksam. ◄ Beschränkt geschäftsfähig sind Minderjährige, die das siebente Lebensjahr 132 vollendet haben, aber noch nicht volljährig, also 18 Jahre alt sind (§§ 106, 2 BGB). Sie dürfen zwar am Rechtsverkehr teilnehmen, werden aber durch das Gesetz aufgrund ihrer Unerfahrenheit vor nachteiligen Wirkungen ihrer Handlungen geschützt. Willenserklärungen eines Minderjährigen bedürfen für ihre Wirksamkeit grund- 133 sätzlich der vorherigen Zustimmung des gesetzlichen Vertreters („Einwilligung“ i. S. d. § 183 S. 1 BGB), es sei denn, sie sind für ihn lediglich rechtlich vorteilhaft (§ 107 BGB). Rechtlich vorteilhaft (nicht wirtschaftlich!) sind allerdings nur ganz wenige Willenserklärungen (z.  B. die Annahme einer Schenkung ohne Auflagen; Eigentumserwerb ohne Lasten). Die allermeisten Rechtsgeschäfte begründen dagegen rechtliche Verpflichtungen (Haupt- und Nebenpflichten), die das Geschäft rechtlich nachteilig und damit zustimmungspflichtig werden lassen.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Beispiel

Einem Minderjährigen wird ein Fahrrad geliehen. Das Entgegennehmen des Fahrrads mag für ihn wirtschaftlich vorteilhaft sein, denn er muss sich keines kaufen. Darauf kommt es aber nicht an, sondern nur auf die rechtliche Einordnung. Da die vereinbarte Leihe für ihn auch die Verpflichtung begründet, das Fahrrad zurückzugeben (§§ 598, 604 BGB), ist die auf die Leihe ausgerichtete Willenserklärung rechtlich nachteilig und damit von der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters abhängig. ◄ Die Einwilligung ist eine einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung und bis zur Vornahme des Rechtsgeschäfts frei widerruflich (§ 183 BGB). Sie kann dem Minderjährigen oder dem anderen Vertragsteil gegenüber erklärt werden (§  182 Abs. 1 BGB). Ihr Umfang richtet sich nach dem erklärten Willen des gesetzlichen Vertreters, wobei sie für ein einzelnes konkretes Rechtsgeschäft erteilt werden kann (z. B. Kauf eines Videospiels) oder für einen bestimmbaren, begrenzten Kreis von Rechtsgeschäften (sog. beschränkten Generalkonsens). Beispiel

Die Eltern des minderjährigen Studenten S überlassen ihm monatlich 600 EUR, damit er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Damit erteilen sie die (vorweggenommene) Einwilligung in alle Rechtsgeschäfte, die diesem Ziel dienen. ◄ 134

Einen Sonderfall des begrenzten Generalkonsenses regelt der sog. Taschengeldparagraph (§ 110 BGB). Danach gilt ein vom Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geschlossener Vertrag als von Anfang an wirksam, wenn der Minderjährige die vertragsgemäße Leistung mit Mitteln bewirkt (hat), die ihm zu diesem Zweck oder zu freier Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von Dritten überlassen worden sind. Raten- bzw. Abzahlungsgeschäfte sind davon nicht umfasst, selbst wenn der Minderjährige die Raten aus seinen monatlichen Zuwendungen bestreiten könnte. Beispiel

Der 10-jährige M kauft sich von seinem Taschengeld in Höhe von 10 EUR ein Lotterielos. Würde er mit dem Los 1000  EUR gewinnen, so darf er das Geld ­behalten. Würde er allerdings von diesem Geld einen Computer erwerben, wäre dieser Kauf nicht mehr von der ursprünglichen Einwilligung gedeckt, da sich das Geschäft außerhalb dessen bewegt, was sich die Eltern bei Überlassung der Mittel vorgestellt hatten. ◄ 135

Sofern ein Minderjähriger einen Vertrag ohne die vorherige Zustimmung des gesetzlichen Vertreters schließt, hängt dessen Wirksamkeit von der nachträglichen Zustimmung des gesetzlichen Vertreters ab („Genehmigung“, vgl. §  184 Abs.  1

1.6 Vertrag

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BGB). Der Vertrag ist – weil zu diesem Zeitpunkt weder seine Wirksamkeit noch seine Unwirksamkeit feststeht  – schwebend unwirksam. Erteilt der gesetzliche Vertreter die Genehmigung, gegenüber dem Minderjährigen oder seinem Vertragspartner (§ 182 Abs. 1 BGB) wird das Rechtsgeschäft von Anfang an wirksam (§ 184 Abs. 1 BGB); verweigert er die Genehmigung, wird das Rechtsgeschäft endgültig unwirksam (§§ 107, 108 BGB). Wird der Minderjährige im Schwebzustand volljährig, kann er die Genehmigung selbst erteilen (§ 108 Abs. 3 BGB). Um den Schwebzustand und die Rechtsunsicherheit zu beenden, kann der Vertragspartner den gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen zu einer Erklärung über die Genehmigung auffordern (§ 108 Abs. 2 S. 1 BGB). In einem solchen Fall kann die Genehmigung dann nur noch ihm gegenüber erteilt oder verweigert werden; jede vorhergehende oder dem Minderjährigen gegenüber erteilte Genehmigung verliert ihre Wirkung. Außerdem gilt die Genehmigung als verweigert, wenn sie seitens des gesetzlichen Vertreters nicht innerhalb von zwei Wochen erteilt wird (§ 108 Abs. 2 S. 2 BGB; Erklärungsfiktion des Schweigens Abschn. 1.5). Der Vertragspartner des Minderjährigen hat im Schwebezustand außerdem die Möglichkeit, seine Willenserklärung gegenüber dem Minderjährigen oder dessen gesetzlichen Vertretern zu widerrufen (§ 109 Abs. 1 BGB). Letzteres setzt allerdings voraus, dass er die Minderjährigkeit nicht kannte oder der Minderjährige wahrheitswidrig die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters behauptete. Bei einseitigen Rechtsgeschäften (z.  B. die Kündigung) kommt es nicht zum beschriebenen Schwebezustand. Vielmehr sind einwilligungsbedürftige einseitige ­ Rechtsgeschäfte bei fehlender vorheriger Zustimmung unwirksam (§ 111 Abs. 1 BGB). In den §§ 112, 113 BGB billigt das Gesetz dem Minderjährigen für zwei Lebensbereiche die volle Geschäftsfähigkeit zu (sog. partielle Geschäftsfähigkeit). Sofern er von seinem gesetzlichen Vertreter oder dem Vormundschaftsgericht zum Betrieb eines Erwerbsgeschäftes ermächtigt wurde, kann er nach § 112 BGB nahezu alle Rechtsgeschäfte wahrnehmen, die der Geschäftsbetrieb mit sich bringt (sog. Handelsmündigkeit). Ausgenommen sind u. a. die Veräußerung und Belastung von Grundstücken, das Eingehen von Wechselverbindlichkeiten und das Erteilen von Prokura. Daneben erklärt § 113 BGB den Minderjährigen auch für solche Geschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche die Eingehung oder Aufhebung eines gestatteten Dienst- oder Arbeitsverhältnisses anbetreffen oder die Erfüllung der sich daraus ergebenden Verpflichtungen (z. B. Gehalt entgegen nehmen; Gehaltskonto einrichten; branchenübliches Wettbewerbsverbot auf sich nehmen; Arbeitsverhältnis kündigen oder der Gewerkschaft beitreten). Beispiel

Der 15-jährige M kauft sich ohne Einwilligung seiner Eltern im Sportgeschäft des S ein Fahrrad. Wie ist die Rechtslage, wenn a. die Eltern das Rechtsgeschäft nicht genehmigt haben? b. M das Fahrrad von seinem angesparten Taschengeld bezahlt? c. M zunächst nur eine Anzahlung tätigt und die Restsummen in den nächsten Monaten in Raten von seinem Taschengeld bezahlen will?

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Lösungen a. Das Rechtsgeschäft zwischen M und S ist gemäß § 108 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam, da M nach § 106 BGB beschränkt geschäftsfähig ist und ohne die Zustimmung seiner Eltern als die gesetzlichen Vertreter (§§  1626 Abs. 1 S. 1, 1629 Abs. 1 S. 1 BGB) handelte. Die Zustimmung wäre aber gemäß § 107 BGB notwendig gewesen, da der Kaufvertrag dem M nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil verschafft – er muss schließlich den Kaufpreis bezahlen. Sofern die Eltern auch nachträglich keine Genehmigung erteilen, kommt kein gültiger Vertrag zwischen M und S zustande. Da nun die Leistungen ohne Rechtsgrund ausgetauscht wurden, sind diese zurück zu gewähren. M muss das Fahrrad an den S zurückgegeben und S kann von M die Rückzahlung des Kaufpreises verlangen (§ 812 BGB). b. Der Vertrag zwischen M und S ist wirksam zustande gekommen, da der M den Kaufpreis aus Mitteln bewirkt, die ihm von seinen Eltern zur freien Verfügung überlassen wurden (§ 110 BGB). c. Zwischen M und S ist noch kein Vertrag zustande gekommen, da § 110 BGB voraussetzt, dass die vertragsmäßige Leistung vollständig erbracht wird („… mit Mitteln bewirkt …“). Der Vertrag ist daher zunächst schwebend unwirksam und seine Gültigkeit hängt von der Genehmigung der Eltern ab. Leistet M dagegen alle Ratenzahlungen, so wird der Vertrag mit Zahlung der letzten Rate rückwirkend wirksam, weil M dann seine vertragsmäßige Leistung (vollständig) bewirkt hat. ◄

1.6.3.2 Unwirksamkeit aufgrund des bewussten Abweichens von Wille und Erklärung 140 Wenn ein Erklärender eine Willenserklärung abgibt und sich insgeheim vorbehält, die Erklärung zwar wie eine solche aussehen zu lassen, aber das Erklärte nicht oder modifizieren zu wollen, liegt ein sog. geheimer Vorbehalt vor („böser Scherz“). Hierfür bestimmt § 116 S. 1 BGB das sich der Erklärende an seiner geäußerten (und nach außen kundgegebenen) Erklärung festhalten lassen muss. Sein anderslautender (innerer) Entschluss, den der Erklärungsempfänger nicht kennen kann, entfaltet keine Wirkung. Nur sofern der Erklärungsempfänger den Vorbehalt kennt, entfällt auch dessen Schutzbedürfnis und das Gesetz ordnet die Nichtigkeit der Erklärung an (§ 116 S. 2 BGB). Beispiel

Bankier A fällt es schwer, die Kreditanfrage seines Nachbarn abzulehnen, und er sagt ihm deshalb einen Überbrückungskredit in Höhe von 20.000 EUR zu. Er behält sich dabei insgeheim vor, den Kredit wegen formeller Mängel scheitern zu lassen. In einem solchen Fall ist die Kreditzusage des A gegeben. Sein geheimer Vorbehalt ist nach § 116 Satz 1 BGB unbeachtlich; er muss den Kredit auszahlen. ◄ 141

Eine Erklärung, die im Einverständnis des Erklärungsempfängers nur zum Schein abgegeben wird, um den Eindruck eines wirksamen Rechtsgeschäftes zu erwecken, ist nichtig (§ 117 Abs. 1 BGB). Sofern das Scheingeschäft – wie häufig

1.6 Vertrag

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der Fall  – nur ein anderes, von den Parteien wirklich gewolltes (dissimuliertes) Rechtsgeschäft verdecken soll, ist dieses verdeckte Rechtsgeschäft relevant, da es von den Parteien wirklich gewollt war (§ 117 Abs. 2 BGB); seine Wirksamkeit bestimmt sich nach den allgemeinen Gültigkeitsvoraussetzungen (z.  B.  Formerfordernisse). Beispiel

A und B wollen einen Kaufvertrag über ein Hausgrundstück zum Preis von 200.000 EUR schließen. Im notariell beurkundeten Kaufvertrag wird ein Kaufpreis von 100.000 EUR angegeben, um Kosten und Steuern zu sparen. In diesem Fall sind die notariell beurkundeten Erklärungen nach § 117 Abs. 1 BGB nichtig. Das tatsächlich gewollte, verdeckte Rechtsgeschäft ist aber ebenfalls unwirksam, da es nicht notariell beurkundet wurde und damit unter einem Formmangel leidet (§ 311b Abs. 1 S. 1 BGB). Wird der Formmangel allerdings durch Auflassung und Eintragung geheilt (§ 311 Abs. 1 S. 2 BGB), kann das verdeckte Rechtsgeschäft wirksam werden (§ 117 Abs. 2 BGB). ◄ Eine nicht ernst gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abgegeben 142 wird, der Mangel der Ernsthaftigkeit werde erkannt („guter Scherz“ im ­Unterschied zu § 116 BGB), ist nichtig (sog. Scherzerklärung, § 118 BGB). Sie löst allerdings gegenüber demjenigen, der dennoch auf die Ernsthaftigkeit der Erklärung vertraut und deshalb bereits Aufwendungen tätigt, Schadensersatzverpflichtungen nach § 122 Abs. 1 BGB aus. Beispiel

Die Angestellte A vergaß morgens die Tür hinter sich zu schließen. Ihr humoriger Chef C, der schon mehrfach auf notwendige Energiesparmaßnahmen hinwies und mit mehreren anderen Kollegen im Raum stand, rief mit einem Augenzwinkern: „Liebe Frau A, weil Sie haben die Türe erneut offen gelassen, sind sie heut’ sofort entlassen“. A sucht nach Dienstschluss einen Anwalt auf. Die Erklärung des C ist nach § 118 BGB nichtig. Allerdings muss er nach § 122 Abs. 1 BGB Schadensersatz leisten, also die Kosten des anwaltlichen Beratungsgesprächs ersetzen. ◄

1.6.3.3 Unwirksamkeit aufgrund des unbewussten Abweichens von Wille und Erklärung Ist dem Erklärenden bei seiner Willenserklärung ein Irrtum unterlaufen, d.  h. es 143 kommt es zu einem unbewussten Abweichen von Wille und Erklärung, ist die Willenserklärung zunächst einmal wirksam. Denn derjenige, der eine Willenserklärung ohne Erklärungsbewusstsein abgibt und dies nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte hätte erkennen können, soll ebenso an seiner Willenserklärung festgehalten werden wie derjenige, der eine nur missverständliche Willenserklärung

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

abgibt, die nach §§ 133, 157 BGB ausgelegt wird und dabei mitunter einen anderen Bedeutungsgehalt erlangt als den, den der Erklärende ihr beilegen wollte. Dem Erklärenden wird aber unter ganz bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit gewährt, die auf einem Irrtum beruhende Willenserklärung anzufechten und sie mit rückwirkender Kraft (ex tunc) wieder „aus der Welt zu schaffen“; eine wirksam angefochtene Willenserklärung ist nichtig (§  142 Abs. 1 BGB). 1.6.3.3.1  Zulässigkeit der Anfechtung Anfechtbar sind nur Willenserklärungen und geschäftsähnliche Handlungen, nicht dagegen Realakte. Die Anfechtung ist ausgeschlossen, soweit die Willenserklärung auslegungs145 fähig ist (Vorrang der Auslegung) und ebenso, falls Sonderregelungen bestehen, die der Anfechtung vorgehen (z. B. 437 ff. BGB). 144

Beispiel

Weist eine Kaufsache einen Mangel auf, fehlt ihr zumeist auch eine verkehrswesentliche Eigenschaft i. S. des § 119 Abs. 2 BGB. Sofern die Sache bereits übergeben wurde, kann der Käufer nur noch kaufrechtliche Gewährleistungsrechte nach §§  437  ff. BGB geltend machen und nicht mehr die Anfechtung wegen des Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft aus § 119 Abs. 2 BGB erklären. ◄ 146

1.6.3.3.2  Vorliegen eines Anfechtungsgrundes Eine wesentliche Voraussetzung für die wirksame Anfechtung ist das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes. Der Gesetzgeber hat – damit die Anfechtung von ungewollt fehlerhaften Willenserklärungen nicht ausufert und das Vertrauen des allgemeinen Rechtsverkehrs in die Beständigkeit einer Erklärung nicht generell gefährdet wird – die Anfechtungsgründe eng beschränkt und abschließend geregelt. Nicht jeder Irrtum berechtigt daher zur Anfechtung; insbesondere der Irrtum im Rechtsgrund (sog. Motivirrtum) oder hinsichtlich der Rechtsfolgen (sog. Rechtsfolgenirrtum) gilt nicht als zulässiger Anfechtungsgrund. Beispiel

Gerd kauft beim Möbelhändler M einen Schrank für 1000 EUR in der Erwartung, seine Tochter werde bald mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Es kommt anders und die Beziehung wird aufgelöst. Gerd möchte anfechten, er habe sich schließlich geirrt. Hier liegt ein Motivirrtum vor, der nicht zur Anfechtung berechtigt; Gerd wollte einen Schrank für 1000 EUR kaufen und hat dies auch getan. Der Versicherte V streitet sich wegen eines Unfalls mit den Versicherungsgesellschaften A, B und C. Nach ein paar Monaten kann er sich mit B außergerichtlich einigen und schließt einen sog. Vergleich. Als A und C weiterhin Forderungen an V richten, wundert er sich, weil er glaubte, durch seinen Ver-

1.6 Vertrag

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gleich seien alle Versicherungsansprüche beseitigt worden; V will daher den für ihn „wertlosen“ Vergleich anfechten. Ein Anfechtungsrecht steht ihm nicht zu, denn der V irrte sich über die Rechtsfolgen des Vergleichs. ◄ Als gesetzlich geregelte Anfechtungsgründe gelten: • Erklärungsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB: Der Erklärende äußert ein anderes Erklärungszeichen als das Gewollte – er verspricht, verschreibt oder vergreift sich in seiner Erklärung. Beispiel

K benötigt für seinen Urlaub australische Dollar. Er ruft daher bei seiner Bank an und bestellt 10.000 AUD, wobei er eigentlich nur 1000 AUD sagen wollte. A will sein Fahrrad für 530  EUR verkaufen und schreibt versehentlich 350 EUR. ◄ • Inhaltsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB: Der Erklärende benutzt zwar das richtige Erklärungszeichen, irrt sich aber über dessen Bedeutung. Er versteht unter dem von ihm bewusst verwendeten Ausdruck etwas anderes, als dies allgemein üblich ist und vom Erklärungsempfänger verstanden werden durfte. Beispiel

Der Kunde benötigt eine ec-Karte; er glaubt, die richtige Bezeichnung dafür sei „Kreditkarte“ und bestellt eine solche bei seiner Bank. ◄ • Identitätsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1. BGB: Der Erklärende irrt sich in der Person, die er in seiner Erklärung bezeichnet hat. Beispiel

Die Bankangestellte A verwechselt die Kunden Meier und Maier, weshalb sie dem fast mittellosen Kunden Meier einen Kredit zusagt, der eigentlich dem vermögenden Kunden Maier zur Verfügung gestellt werden sollte. A möchte den preisgekrönten Tischler Müller mit der Ausstattung seines Bürogebäudes beauftragen. Nach einem Blick in die Gelben Seiten schickt er seinen Auftrag versehentlich an einen namensgleichen Tischlereibetrieb. ◄ • Kalkulationsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1. BGB: Bei einem Kalkulationsirrtum ist zwischen einem unbeachtlichen verdeckten Kalkulationsirrtum und einem beachtlichen offenen Kalkulationsirrtum zu unterscheiden. Legt der Erklärende lediglich den Endpreis offen, ohne dass er die Kalkulationsgrundlage kundgibt, handelt es sich um einen verdeckten Kalku­ lationsirrtum, der nicht zur Anfechtung berechtigt, da aus der Sicht des objektiven Erklärungsempfängers genau das, was der Erklärende erklären wollte, auch

147

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erklärt wurde. Wird die Kalkulationsgrundlage allerdings offen gelegt und wird somit auch Teil der Erklärung (offener Kalkulationsirrtum), dann ist der Willensmangel erkennbar und damit anfechtbar. Beispiel

Der Malermeister M weist auf seiner Rechnung nur den Endbetrag von 2000 EUR aus, wobei er  – wie er später feststellt  – die dem Auftrag zugrunde gelegten Stundenlöhne zu niedrig angesetzt hat. Hier liegt ein verdeckter und unbeachtlicher Kalkulationsirrtum vor; die Anfechtung ist nicht möglich. Wäre dagegen in der Abschlussrechnung die Lohnkalkulation beigefügt und die Falschberechnung transparent, würde ein offener Kalkulationsirrtum vorliegen, der den M zur Anfechtung berechtigen würde. ◄ • Übermittlungsirrtum gemäß § 120 BGB: Nicht der Erklärende selbst, sondern der zur Übermittlung eingesetzte Bote (Übermittlungsperson oder -einrichtung) unterliegt einem Irrtum bei Weitergabe der Erklärung. Beispiel

Der in der Beschaffungsabteilung verantwortliche V bittet seine Sekretärin A, dem B zu sagen, dass dieser 200 Einheiten Papier bestellen soll. A fertigt eine Notiz, die den B anweist, 2000 Einheiten Papier zu bestellen. ◄ • Eigenschaftsirrtum gemäß § 119 Abs. 2 BGB: Der Erklärende irrt sich über die Eigenschaften einer Person oder einer Sache, die im Rechtsverkehr als wesentlich angesehen wird. Der Eigenschaftsirrtum ist damit ein Sonderfall des Motivirrtums, da die Fehlvorstellung nicht bei der Willensentäußerung, sondern bei der Willensbildung entsteht. Trotzdem soll er beachtlich sein, wenn sich der Irrtum auf wertbildende Faktoren bezieht, die vom Erklärenden erkennbar dem Vertrag zugrunde gelegt wurden und aus der Sicht des Erklärungsempfängers zum Inhalt des konkreten Geschäfts gehören. Beispiel

Die Personalabteilung stellt den A als Kassierer ein, nachdem dieser erklärte bislang keine Vermögensstraftaten begangen zu haben. Später stellt sich aber he­ raus, dass A bereits wegen Unterschlagung vorbestraft ist. Der Häuslebauer H geht nach Auskunft des Bauträgers B von der Bebaubarkeit des Grundstücks aus. Nach einigen Monaten stellt sich heraus, dass das Grundstück im Wasserschutzgebiet liegt und daher nicht bebaut werden darf. ◄ • Arglistige Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB: Der Erklärende wird zu einer Willenserklärung veranlasst, die er bei Kenntnis der tatsächlichen Umstände nicht abgegeben hätte.

1.6 Vertrag

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Beispiel

Der Beschaffungsabteilung eines Krankenhauses wurden gefälschte Testreihen vorgelegt, um sie zur Bestellung einer Substanz zu bewegen. ◄ • Widerrechtliche Drohung gemäß § 123 Abs. 1 BGB: Der Erklärende wird durch eine Drohung in Form des In-Aussicht-Stellens eines Übels zur Willenserklärung veranlasst. Dieser Eingriff in die Willensfreiheit durch Herbeiführen einer Zwangslage berechtigt ebenfalls zur Anfechtung. Beispiel

Der Medien-Großkunde K droht seiner Bank mit einer negativen Imagekampagne, wenn sie ihm keine Sonderkonditionen einräumen würde. ◄ Neben den genannten Anfechtungsgründen soll an dieser Stelle noch kurz auf 148 Konstellationen eingegangen werden, die zwar nicht zur Anfechtung berechtigen, aber oftmals mit den Anfechtungsregeln in Verbindung gebracht werden. • Beiderseitiger Motivirrtum Die Parteien gehen übereinstimmend von einer irrigen Vorstellung aus und hätten bei Kenntnis der Sachlage den Vertrag so nicht geschlossen. In einem solchen Fall ist die Anfechtung ausgeschlossen. Stattdessen kann der Vertrag möglicherweise aufgrund einer Störung der Geschäftsgrundlage angepasst werden (§ 313 BGB Abschn. 1.6.6.8). Beispiel

Bei Berechnung eines Wechselkurses legen sowohl der Bankangestellte B als auch der Kunde K einen falschen Umrechnungskurs zugrunde. V verkauft dem K einen echten van Gogh für 1,8 Mio. EUR. Beide Parteien gehen davon aus, dass das Bild auf dem freien Markt für 2 Mio. EUR gehandelt wird. Wegen eines Kunstraubes sinkt der Marktpreis allerdings plötzlich auf nur 1 Mio. EUR, weshalb K deutlich Zuviel gezahlt hat. Die Anfechtung soll in beiden Fällen nicht möglich sein. Stattdessen kann die Anpassung des Vertrages mit der deutlich flexibleren Rechtsfolge aus § 313 BGB ermöglicht werden. Begründet wird dies damit, dass es häufig vom Zufall abhängt, wer als erster anficht mit der dann unbilligen Rechtsfolge, dieser Person alleine den Ersatz des Vertrauensschadens nach § 122 Abs. 1 BGB aufzuerlegen. ◄ • Beiderseitiger Irrtum in der Bezeichnung Die Parteien gehen übereinstimmend von einer falschen Bezeichnung aus, sind sich allerdings im tatsächlich Gewollten einig. Eine solche Falschbezeichnung schadet nicht (falsa demonstratio non nocet), weil sich die Parteien eigentlich über das tatsächlich Gewollte einigen.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Beispiel

Der K bestellt 5000 Rand und meint, das wäre die Bezeichnung für nigerianische Sorten. Der Bankangestellte B glaubt dies ebenfalls und bestellt daher 5000 nigerianische Sorten bei der Zentralbank. Beide Parteien gehen von der nigerianischen Währung aus und haben sich darauf geeinigt; einer Anfechtungsmöglichkeit bedarf es daher nicht. ◄ 149

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151

1.6.3.3.3  Anfechtungserklärung Liegt ein Anfechtungsgrund der oben bezeichneten Art vor, so muss die Anfechtung dem Vertragspartner gegenüber erklärt werden (§ 143 BGB). Die Anfechtung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung und als sog. Gestaltungsrecht grundsätzlich unwiderruflich sowie bedingungs- und befristungsfeindlich. Der Anfechtungsgegner  – so die Begründung  – soll endgültig wissen, woran er ist. Die Anfechtung muss in der Erklärung nicht als solche bezeichnet werden; es genügt, wenn die Erklärung ihrem Inhalt nach eindeutig erkennen lässt, dass sich der Erklärende wegen eines Irrtumns nicht an den Inhalt der Willenserklärung gebunden fühlt. 1.6.3.3.4  Anfechtungsfrist Die Anfechtungsfrist bestimmt sich je nachdem, welcher Anfechtungsgrund gegeben ist, nach § 121 BGB oder § 124 BGB. Nach § 121 BGB, der ausschließlich die Anfechtungsgründe nach §§ 119, 120 BGB erfasst, muss die Anfechtung „ohne schuldhaftes Zögern“, d. h. unverzüglich nach Kenntnis des Irrtums erfolgen. Dabei sind die berechtigten Interessen der Beteiligten sowie die Umstände des Einzelfalls (z. B. Einholen des Rats eines Rechtskundigen) zu berücksichtigen. Bei Vorliegen eines Anfechtungsgrundes aus §  123 BGB hat der Anfechtende etwas länger Zeit; die Anfechtungserklärung muss dann binnen eines Jahres ab dem Zeitpunkt, zu dem die Täuschung entdeckt wird bzw. die Zwangslage aufhört, erfolgen (§ 124 BGB). Nach zehn Jahren ist allerdings aus Gründen der Rechtssicherheit jede Anfechtung ausgeschlossen. 1.6.3.3.5  Rechtsfolgen der Anfechtung Die Anfechtung bewirkt die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts von Anfang an (§ 142 BGB „ex tunc“). Die Rechtslage ist nach einer wirksam erklärten Anfechtung demnach so anzusehen, als wäre die Erklärung niemals abgegeben, der Vertrag niemals geschlossen worden. Eine Ausnahme hiervon machen in Vollzug gesetzte Arbeits- oder Gesellschaftsverhältnisse. Hier entfaltet die Anfechtung lediglich eine Wirkung „ex nunc“, d. h. die Nichtigkeit tritt mit der Erklärung für die Zukunft ein. Begründet wird diese Ausnahme insbesondere damit, dass sich solche komplexen Rechtsverhältnisse nur schwer nach § 812 BGB in die Vergangenheit rückabwickeln lassen.

1.6 Vertrag

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Neben der Nichtigkeitsfolge kann der Anfechtungsgegner vom Anfechtenden 152 Schadensersatz verlangen (§ 122 BGB). Es wird ihm der Schaden ersetzt, den er erleidet, weil er auf die Gültigkeit des Rechtsgeschäftes vertraute (sog. Vertrauensschaden). Hierzu zählen neben den aufgewendeten Vertragskosten auch die Nachteile, die daraus resultieren, dass ein Alternativgeschäft nicht zustande gekommen ist (z. B. entgangener Gewinn, § 252 BGB). Den Vertrauensschaden können natürlich nur diejenigen Personen geltend machen, die irrtümlich Erklärungsempfänger wurden; diejenigen, die andere getäuscht oder bedroht haben, verdienen keinen Vertrauensschutz für den Fall, dass das Geschäft wieder wegfällt, weil es der Getäuschte oder Bedrohte anficht. Sie sind im Gegenteil meist selbst ­schadensersatzpflichtig.

1.6.3.4 Unwirksamkeit aufgrund eines Formmangels Rechtsgeschäfte, die gegen ein gesetzliches oder vertraglich vereinbartes Form- 153 erfordernis verstoßen, sind nichtig (§ 125 BGB), es sei denn, der Formmangel ist heilbar und wird geheilt (Abschn. 1.6.2.4) 1.6.3.5 Unwirksamkeit aufgrund von Gesetzesverstoß, Sittenwidrigkeit und Wucher Rechtsgeschäfte, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen, sind gem. §  134 154 BGB von Anfang an nichtig; es sei denn, dass sich aus dem Gesetz etwas anderes ergibt. Dabei führt nicht jeder Verstoß gegen eine der unzähligen Gesetzesvorschriften schon zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts. Vielmehr ist darüber hinaus erforderlich, dass die Rechtsordnung gerade den Inhalt des vorgenommenen Rechtsgeschäftes missbilligt. Ob der Verstoß gegen das Gesetz auch zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäftes führen soll oder andere Rechtsfolgen vorgesehen sind, entscheidet sich dabei nach dem Sinn und Zweck des einschlägigen Verbotsgesetzes. Beispiel

Gemüsehändler G verkauft noch nach Ladenschluss Obst und Gemüse an den Kunden K. Damit verstößt G zwar gegen das Ladenschlussgesetz (LadSchlG), welches den Verkauf außerhalb der allgemeinen Ladenschlusszeiten untersagt (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 LadSchlG). Dieses Gesetz will aber nicht verhindern, dass G überhaupt Obst und Gemüse verkauft; vielmehr soll aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes der Verkauf nur zu bestimmten Zeiten erfolgen. Damit berühren Sinn und Zweck des LadSchlG das Kaufgeschäft nicht, es bleibt wirksam. Schmuckhändler S verkauft dem Kunden K gestohlene Schmuckstücke. Da das Strafrecht den Ankauf von gestohlenen Sachen unter Strafe stellt (§  259 StGB) und damit der Straftatbestand geradewegs den Ankauf gestohlener Waren verbietet, folgt aus § 134 BGB die Nichtigkeit des Kaufgeschäfts. ◄ Unwirksam sind ferner Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen 155 (§ 138 Abs. 1 BGB). Dabei ist der Begriff der „guten Sitten“ auslegungsbedürftig. Die Rechtsprechung verwendet die Formel: „Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt.“

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Da diese Formel sehr unbestimmt ist, bedarf sie der Konkretisierung im Einzelfall; in der Rechtsprechung haben sich zahlreiche Fallgruppen/-beispiele herausgebildet, u. a.: • Gemeinschaftswidrige Rechtsgeschäfte bzw. Rechtsgeschäfte, die gegen die anerkannte Ordnung verstoßen: z. B. Kaufvertrag über ein Radarwarngerät; Vertrag zur Durchführung einer strafbaren Werbung; Vertrag über den Erwerb eines Doktortitels. • Knebelungsverträge, die im Übermaß die persönliche und geschäftliche Hand­ lungsfreiheit der Beteiligten beschränken (insbesondere deren wirtschaftliche Selbständigkeit oder Persönlichkeitsentfaltung): z. B. Bierlieferungsvertrag mit einer Gaststätte über 20 Jahre hinaus. • Verträge, die die Schwäche des Vertragspartners oder die eigene Machtposition missbräuchlich ausnutzen: z. B. Sicherungsverträge, die zu einer Übersicherung führen und zugleich Gläubiger des Kunden (Schuldner) gefährden; Bürgschaft eines finanziell stark überforderten Familienmitglied unter Ausnutzen seiner emotionalen Verbundenheit. • Verletzung von Standesregeln: z. B. ist es sittenwidrig, wenn sich ein Rechtsanwalt als Hausverwalter bei der Vergabe von Werkaufträgen eine Provision („Schmiergeld“) versprechen lässt. 156

Sittenwidrigkeit sind auch wucherische Rechtsgeschäfte (§  138 Abs.  2 BGB). Ein solches liegt vor, wenn jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung (z. B. Darlehen) Vermögensvorteile (z. B. Zinsen) versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen. „Wucher“ setzt demnach objektiv ein besonders auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung voraus und subjektiv eine entsprechende ausbeuterische Einstellung des Wucherers. Liegen diese Voraussetzungen – und damit der Wuchertatbestand – vor, ist das Rechtsgeschäft nichtig. Beispiel

Wucher wurde z.  B. angenommen bei: Verkauf eines Grundstücks mit einem Wert von 32.000 EUR zu 69.000 EUR; Arbeitslohn von 6,50 EUR/Std. bei einem Tariflohn von 10,00 EUR/Std.; Provision in Höhe von 225.000 EUR für einen Kredit in Höhe von 230.000 EUR. ◄ Fragen

10. A erhält zu seinem 17. Geburtstag von seinen Eltern 250 EUR, damit er sich davon ein Smartphone kaufen kann. Er erwirbt ein solches Gerät von H zu einem Preis von 249 EUR und bezahlt sofort. Einige Tage danach erfährt H, dass A minderjährig ist. Er bittet daraufhin schriftlich die Eltern, ihm mitzuteilen, ob sie mit dem Kauf einverstanden wären. Die Eltern antworten nicht. Wie ist die Rechtslage?

1.6 Vertrag

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11. A bietet dem B schriftlich seinen Kleintransporter zum Kauf an. Als Kaufpreis will er 21.000  EUR angeben, vertippt sich aber und schreibt 12.000 EUR. Da er in Eile ist, liest er das Schreiben nur flüchtig durch und gibt es zur Post. Der B nimmt das Angebot an. Der Schreibfehler stellt sich heraus, als der Kaufpreis bezahlt werden soll. Der B, welcher besonderen Wert auf das Fahrzeug legt, erklärt sich bereit, auch 21.000 EUR zu zahlen. Doch A, der inzwischen ein noch besseres Angebot für sein Kfz erhalten hat, will seine Erklärung zurücknehmen. Zu Recht? 12. Welche Folgen hat ein Betrug (§ 263 StGB) für die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts?

1.6.4 Bedingung, Befristung, Termine und Fristen Zu den zahlreichen Möglichkeiten der Vertragsgestaltung gehört auch die Verein- 157 barung einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung. Dadurch machen die Vertragsparteien die Wirksamkeit des Rechtsgeschäftes vom Eintritt eines zukünftigen ungewissen Ereignisses abhängig. Wird ein Rechtsgeschäft unter einer aufschiebenden Bedingung vorgenommen, so hängt dessen Wirksamkeit von dem Eintritt dieser Bedingung ab, wird also soweit – bis zum Eintritt der Bedingung – aufgeschoben (§ 158 Abs. 1 BGB). Beispiel

Durch die Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts (§ 449 BGB) steht die Eigentumsübertragung der Kaufsache unter der aufschiebenden Bedingung der vollständigen Zahlung des Kaufpreises. Der Kaufvertrag auf Probe steht unter der aufschiebenden Bedingung der Billigung des Kaufgegenstands durch den Käufer (§ 454 BGB). Ein Mietaufhebungsvertrag kann unter der aufschiebenden Bedingung abgeschlossen werden, dass der Mieter einen Nachfolger findet. ◄ Wird ein Rechtsgeschäft unter einer auflösenden Bedingung vorgenommen, endet die Wirksamkeit mit dem Eintritt der Bedingung und der frühere Rechtszustand wird wiederhergestellt (§ 158 Abs. 2 BGB). Beispiel

Ein Fall der auflösenden Bedingung findet sich z.  B. bei der Sicherungsübereignung einer Sache zum Zweck der Kreditsicherung. Hier vereinbaren die Parteien in der Sicherungsabrede, dass eine bewegliche Sache nur vorläufig, bis zur vollständigen Tilgung der Raten (= auflösende Bedingung), an den Verkäufer übereignet wird. Ein weiteres Beispiel bilden Zeitverträge, bei welchen der Zeitpunkt des Vertragsendes an ein zukünftiges, unsicheres Ereignis gebunden wird (z. B. Wiederverheiratungsklausel in einem Ehevertrag). ◄

158

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Im Unterschied zur Bedingung können die Vertragsparteien die Wirksamkeit des Rechtsgeschäftes auch von einem zukünftigen gewissen Ereignis abhängig machen; sie können eine Zeitbestimmung (= Befristung) treffen und damit für die Wirksamkeit des Rechtsgeschäftes einen verbindlichen Anfangs- oder Endtermin festlegen (§ 163 BGB). Eine Befristung wird häufig bei Dauerschuldverhältnissen vereinbart, indem ein Arbeitsvertrag, ein Kreditvertrag oder ein Vertrag über die regelmäßige Belieferung mit Waren auf eine bestimmte Zeit abgeschlossen wird. Die Verträge enden infolge der Befristung dann mit Zeitablauf, ohne dass eine ­Kündigungserklärung erforderlich wäre. Die Abgrenzung zur Bedingung ist nicht immer einfach. Beispiel

Verspricht A dem B, an ihn – nicht auch an dessen Erben – monatlich 400 EUR zu zahlen, wenn der Vater des B stirbt, so hängt die Verpflichtung nicht nur vom Tod des Vaters, sondern auch davon ab, dass B seinen Vater überlebt. Das ist jedoch ungewiss, daher handelt es sich um eine Bedingung. Soll der A dagegen jedenfalls dazu verpflichtet sein, an B oder dessen Erben zu zahlen, kommt es nur auf den Tod des Vaters des B an, also auf ein gewisses Ereignis; hier handelt es sich also um eine Befristung. ◄ Die Vertragsparteien können ferner Termine vereinbaren, wenn sie festlegen wollen, dass zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt etwas geschehen soll, z. B. indem sie einen bestimmten Tag für eine Geldzahlung oder für eine Warenlieferung festlegen. 161 Sofern gesetzliche oder vertragliche Fristen festgelegt werden, handelt es sich um einen Zeitraum, der von bestimmten Zeitpunkten (z.  B.  Anfangs- und Endtermin) oder Ereignissen begrenzt wird. Fristen spielen insbesondere im Prozessrecht, beim Begründen und Erlöschen von Rechten sowie bei der Berechnung der Verjährung eine Rolle. 160

Beispiel

Der Eigentumserwerb erfolgt durch Ersitzung, wenn jemand eine Sache zehn Jahre gutgläubig im Eigenbesitz hat (§ 937 BGB). Nach Ablauf einer Frist von drei Jahren, beginnend mit dem Ende des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den Anspruch begründenden Umständen Kenntnis erlangt hat, verjährt der Anspruch des Verkäufers auf Zahlung des Kaufpreises regelmäßig (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB). ◄ Der Beginn einer Frist bestimmt sich nach § 187 BGB. Danach wird bei der Fristberechnung der Tag nicht mitgerechnet, in welchen das Ereignis fällt, das die Frist in Gang setzt, z. B. der Tag der Ablieferung einer Ware für die zweijährige Verjährungsfrist zur Geltendmachung von Gewährleistungsrechten (§  438 Abs.  1 Nr.  3, Abs.  2 BGB). Sofern allerdings der Tagesbeginn der für den Fristumfang maßgebliche Zeitpunkt ist, wird dieser Tag mitgerechnet, wie beispielsweise bei der Berechnung des Lebensalters.

1.6 Vertrag

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Das Fristende bestimmt sich gemäß § 188 BGB nach dem Ablauf des letzten Tages, der letzten Woche, des letzten Monats oder des letzten Jahres des festgelegten Zeitraumes. Fällt der letzte Tag einer Frist auf einen Sonnabend, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, so endet die Frist am darauffolgenden Werktag (§ 193 BGB). Beispiel

Sofern der Kunde mit seiner Bank am Montag eine Wochenfrist für einen Geldtransfer vereinbart hat, endet die Transferfrist am darauffolgenden Montag, sodass ein Verzug der Bank unter den Voraussetzungen der § 286 BGB ab Dienstag eintritt. ◄

1.6.5 Leistungsstörungen 1.6.5.1 Pflichten des Schuldners Von einer „Leistungsstörung“ spricht man, wenn ein Schuldner seine Leistungs- 162 pflicht aus einem Schuldverhältnis (§  241 BGB)  – hier aus dem Vertrag  – nicht, nicht rechtzeitig oder schlecht erfüllt. • Unmöglichkeit/Nichtleistung (Abschn. 1.6.5.2) Der Schuldner kann seine Leistung nicht erbringen. • Pflicht-/Vertragsverletzung (Abschn. 1.6.5.3) Der Schuldner verletzt Obhuts-, Rücksichtnahme- oder Sorgfaltspflichten i. S. d. § 241 Abs. 2 BGB. • Schuldnerverzug/Verzögerung der Leistung (Abschn. 1.6.5.4) Der Schuldner leistet nicht termingerecht, obschon es ihm möglich gewesen wäre. Um eine solche Leistungsstörung festzustellen, muss bei jedem Schuldverhältnis zuvor geprüft werden, welche Verpflichtungen sich im Einzelnen für den Schuldner aus dem konkreten Schuldverhältnis ergeben. Denn nur wenn die Pflichten bekannt sind, kann anschließend entschieden werden ob sie nicht, schlecht oder nicht rechtzeitig erfüllt wurden. Dabei kann zwischen Hauptleistungspflichten sowie zwischen leistungsbezogene und nicht leistungsbezogene Nebenpflichten differenziert werden. Als Hauptleistungspflicht gelten diejenigen Leistungspflichten, die den Ver- 163 tragstyp kennzeichnen, und ferner solche, die nach dem erklärten Willen der Vertragsparteien von besonderem Interesse sind. Diese Pflichten, die in einem Handeln oder Unterlassen bestehen können (§ 241 Abs. 1 BGB), stehen bei gegenseitigen Verträgen zueinander im Austauschverhältnis (Synallagma). Beispiel

Hauptleistungspflichten im Kaufvertrag sind nach §  433 BGB die Pflicht des Verkäufers zur rechts- und sachmängelfreien Übereignung der Kaufsache und die Pflicht des Käufers zur Zahlung des Kaufpreises.

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Hauptleistungspflichten des Mietvertrages sind gemäß § 535 BGB die Pflicht des Vermieters zur Gebrauchsüberlassung des Mietobjekts und die Pflicht des Mieters zur Zahlung des vereinbarten Mietzinses. ◄ 164

Neben die Hauptleistungspflicht treten mitunter leistungsbezogene Nebenpflichten, welche der Vorbereitung, Durchführung und Sicherung der H ­ auptleistungspflichten dienen und damit dem vertraglichen Leistungsinteresse des Gläubigers. Sie können vertraglich vereinbart werden, sich aber auch ohne besondere Vereinbarung aus dem Gesetz (z. B. § 666 BGB) oder aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ergeben. Leistungsbezogene Nebenpflichten kann der Gläubiger selbständig einklagen. Beispiel

Die Abnahme der Kaufsache ist leistungsbezogene Nebenpflicht des Käufers (§ 433 Abs. 2 BGB). Weiterhin kann eine vertraglich vereinbarte Nebenleistungspflicht des Käufers im Kaufvertrag die Art und Weise der Kaufpreiszahlung sein, z.  B.  Ratenzahlung, Höhe der Raten, Beginn und Dauer der Ratenzahlung, Zinsen usw. Eine gesetzlich angeordnete leistungsbezogene Nebenpflicht des Verkäufers ist die Verpflichtung zur Erteilung von Auskünften und zur Übergabe von Beweisurkunden (Lageplan) an den Käufer beim Grundstücksverkauf. ◄ 165

Nicht-leistungsbezogene (sonstige) Nebenpflichten sind schließlich in § 241 Abs. 2 BGB angesprochen. Danach ist jede Vertragspartei zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet. Zu diesen Rücksichtsnahmepflichten gehören typischerweise Obhuts-, Sorgfalts-, Aufklärungs-, Hinweis- und Informationspflichten des Schuldners. Derartige Pflichten können  – anders als die vorgenannten  – bereits bei Anbahnung des Vertragsverhältnisses oder bei der Aufnahme geschäftlicher Kontakte entstehen (vgl. § 311 Abs. 2 BGB). Auf die Einhaltung solcher Schutzpflichten hat der Gläubiger keinen direkten (Erfüllungs-) Anspruch, allerdings macht sich der Schuldner bei Verletzung einer solchen Pflicht schadensersatzpflichtig (§ 280 Abs. 1 BGB). Beispiel

Der Monteur ist verpflichtet, bei Ausführung seiner Arbeiten nicht die Einrichtungsgegenstände des Gläubigers zu beschädigen. ◄ 166

Um festzustellen, ob der Schuldner seine Leistungspflichten aus dem Rechtsverhältnis vertragsgemäß erfüllt hat – nämlich am rechten Ort, zur rechten Zeit und in der rechten Art und Weise – müssen Leistungs- und Erfolgsort, Leistungszeit und Leistungsgegenstand auch hinreichend bestimmt sein. Dabei werden die notwendigen Informationen häufig in sog. Leistungsbeschreibungen von den Vertragspartnern festgelegt oder sie folgen – sofern eine

1.6 Vertrag

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entsprechende Leistungsbeschreibung fehlt – aus dem Gesetz; die gesetzlichen Vorschriften sind insoweit dispositiv. Leistungsort ist der Ort, an dem der Schuldner die vertraglich geschuldete Leis- 167 tung vorzunehmen hat. Dagegen ist Erfolgsort der Ort, an dem der vertraglich geschuldete Erfolg eintritt. Beide Orte können, müssen aber nicht zusammenfallen. In aller Regel werden die Vertragsparteien den Leistungs- und Erfolgsort exakt festlegen, wobei die Vereinbarung ausdrücklich oder konkludent erfolgen oder sich aus den Umständen des Einzelfalls ergeben kann. Zudem finden sich in den Vorschriften zu den einzelnen Vertragsarten Bestimmungen zum Leistungs- und Erfolgsort, die – weil dispositiv – vertraglich abänderbar sind. Hinsichtlich des Leistungsortes unterscheidet man zwischen: 168 • Holschuld (§ 269 BGB), • Bringschuld (Vertrag), • Schickschuld (Vertrag). Das Gesetz geht von der Holschuld aus, wonach der Schuldner die Leistung bereithält und der Gläubiger diese dort abholen muss (§ 269 Abs. 1 und 2 BGB); Leistungs- und Erfolgsort liegen demnach beim Schuldner. Das bedeutet: Haben die Vertragsparteien den Leistungsort nicht (Abb.  1.14) hinreichend bestimmt, liegt

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

automatisch eine Holschuld vor und die Leistung hat am Wohn- oder Geschäftssitz des Schuldners zu erfolgen. Vereinbaren die Parteien abweichend von der gesetzlichen Vorgabe eine Bringschuld, muss der Schuldner den Leistungsgegenstand an den vertraglich festgelegten Ort bringen; in aller Regel ist dies der Wohn- oder Geschäftssitz des Gläubigers. Bei der Bringschuld liegen Leistungs- und Erfolgsort beim Gläubiger. Aus der Vereinbarung, dass der Schuldner die Kosten einer Versendung des Kaufgegenstandes übernimmt, kann jedoch noch nicht auf die Vereinbarung einer Bringschuld geschlossen werden. Denn auch im Versandhandel ist im Zweifel vom gesetzlichen Regelfall, der Hohlschuld (§  269 Abs.  1 und 2 BGB), auszugehen. Leistungsort bleibt der Wohnsitz des Schuldners. Dieser verpflichtet sich die Wäre zu versenden (Schickschuld) und übernimmt die Kosten (§ 269 Abs. 3 BGB). Vereinbaren die Parteien eine Schickschuld, liegt der Leistungsort wie bei der Holschuld am Wohn- oder Geschäftssitz des Schuldners, allerdings ist der Erfolg beim Gläubiger zu bewirken; Leistungs- und Erfolgsort fallen daher auseinander. Nach dem Willen des Gesetzgebers sind Geldschulden grundsätzlich Schickschulden (§ 270 Abs. 1 BGB). In der Regel werden die Vertragspartner neben dem Leistungsort auch die 169 Leistungszeit vereinbaren. Sie ist u.  a. für den Eintritt des Verzugs und dessen Rechtsfolgen von Bedeutung (Abschn. 1.6.5.4). Hinsichtlich der Leistungszeit wird zwischen Fälligkeit und Erfüllbarkeit unterschieden. Der Zeitpunkt der Fälligkeit ist der Zeitpunkt, in welchem der Schuldner leisten muss und der Gläubiger die Leistung fordern kann. Erfüllbar ist eine Schuld ab dem Zeitpunkt, ab welchem der Schuldner frühestens leisten darf. In der Praxis fallen diese beiden Zeitpunkte oftmals zusammen. Die Parteien können die Fälligkeit der Leistung vereinbaren. Haben die Par170 teien sie nicht ausdrücklich vereinbart, gilt § 271 Abs. 1 BGB, wonach die Leistung stets sofort zu bewirken ist. Gelegentlich finden sich auch in den Vorschriften zu den einzelnen Vertragsarten besondere Fälligkeitsregeln, die dann für die Leistungszeit bestimmend sind (z.  B.  Mietzins zu Beginn, spätestens bis zum dritten Werktag, § 556b Abs. 1 BGB; Darlehenszinsen nach Ablauf eines Jahres, § 488 Abs. 2 BGB). Wird die Fälligkeit durch Parteivereinbarung hinausgeschoben, dann handelt es sich um eine Stundung. Beispiel

Falls keine Vereinbarung zur Leistungszeit vorliegt, sind die Vertragsparteien zur „sofortigen“ Leistung verpflichtet (§ 271BGB). Eine Vereinbarung dahingehend, den Leistungsgegenstand „am 15.05.“ zu liefern, verpflichtet den Verkäufer zur Lieferung genau an diesem Termin. Eine Vereinbarung dahingehend „binnen 3 Tagen“ zu liefern, verpflichtet den Verkäufer in diesem Zeitfenster zu liefern (z. B. Montag zu Mittwoch, aber spätestens Mittwoch). Eine Vereinbarung dahingehend, den Leistungsgegenstand „möglichst bald zu liefern“ ist unkonkret und bedarf der Auslegung: „Möbel möglichst bald zu

1.6 Vertrag

67

liefern“ erfordert eine Lieferung spätestens nach 8 Wochen (OLG Nürnberg NJW 1981, 1104); „Fahrzeug schnellstmöglich zu liefern“, lässt den Lieferanspruch spätestens nach 3 Monaten fällig werden (OLG Köln, NJW-RR 1992, 561). ◄ §271 Abs. 2 BGB hält eine Auslegungsregel betreffend die Erfüllbarkeit bereit. 171 Danach kann der Schuldner die Leistung im Zweifel vor dem vereinbarten Zeitpunkt bewirken, was jedoch jedenfalls voraussetzt, dass dies auch mit den Gläubigerinteressen vereinbar ist. Beispiel

Der Darlehensnehmer D kann nicht ohne weiteres die Darlehensvaluta vor dem Fälligkeitszeitpunkt an die B-Bank zurückzahlen, da dies bedeuten würde, dass die B-Bank einen Teil ihrer einkalkulierten Zinsen verlieren würde. ◄ Die Art und Weise der Leistung wird durch die Vertragsparteien festgelegt, in- 172 dem sie insbesondere den Leistungsgegenstand bestimmen. Hierbei kann es sich um eine Stückschuld oder um eine Gattungsschuld handeln. Eine Schuld eigener Art ist die Geldschuld (§§ 244, 245 BGB). Eine Stückschuld (Speziesschuld) liegt vor, wenn sich die Vertragsparteien 173 über den Leistungsgegenstand in der Weise geeinigt haben, dass nur ein ganz bestimmter Gegenstand die Erfüllung des Vertrages bewirken soll. Beispiel

Kaufvertrag über die Ernte eines konkreten Weinberges, über eine bestimmte Schiffsladung, ein konkretes Schmuckstück oder über ein gebrauchtes Kraftfahrzeug. ◄ Eine Gattungsschuld liegt dagegen vor, wenn der Leistungsgegenstand gerade 174 nicht individuell bestimmt ist, sondern sich die Vertragsparteien dahingehend einigen, dass der Schuldner den Leistungsgegenstand aus einer nach bestimmten Merkmalen festgelegten Gattung mittlerer Art und Güte leisten soll (§  243 Abs.  1 BGB), wobei Gattungsmerkmale nach Art, Zahl, Maß, Gewicht, Qualität usw. bestimmt sein können. Beispiel

Kaufverträge über Waren aus serienmäßiger Herstellung (1000 Schrauben, Büromöbel aus einer bestimmten Serie), Gebrauchsartikel nach Katalog, 30 Zentner Äpfel, Wertpapiere einer bestimmten Sorte. ◄ Die Gattungsschuld wird im Zeitpunkt der Konkretisierung einer Stückschuld gleichgestellt. Vor der Konkretisierung liegt das Beschaffungs- und Leistungsrisiko beim Schuldner und erst durch die Konkretisierung wird die Sache zum Leistungs-

175

68

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

gegenstand des zwischen den Parteien abgeschlossenen Vertrages (§  243 Abs.  2 BGB) mit der Folge, dass die Leistungsgefahr (z. B. eines zufälligen Untergangs des Gegenstandes) auf den Gläubiger übergehen kann. Beispiel

Geschuldet ist „eine Steige Riesling“. Dann wäre der Verkäufer zur Lieferung von Wein mittlerer Art und Güte aus der Gattung „Riesling“ verpflichtet, solange ein entsprechender Warenbestand vorhanden ist. Allerdings kann sich seine Lieferverpflichtung auch auf eine „ganz konkrete Steige Riesling“ beschränken (er schuldet nur diese konkrete Steige Wein), sofern aus der Gattungsschuld eine Stückschuld geworden ist (Konkretisierung nach § 243 Abs. 2 BGB). ◄ 176

Die Konkretisierung – also die Umwandlung der Gattungs- zur Stückschuld – tritt ein, wenn der „Schuldner das seinerseits Erforderliche getan hat“ (§ 243 Abs. 2 BGB). Letzteres geschieht regelmäßig durch Aussonderung (und damit Individualisierung) des Gegenstandes aus der Vielzahl gleicher Gegenstände einer Gattung. Die Aussonderung kann dabei auf verschiedene Weise erfolgen, z. B. durch einen Aufkleber, der den Namen oder die Kennziffer des Käufers enthält, durch die Bereitstellung zur Auslieferung der Kaufsache innerhalb des Warenlagers, durch die Verpackung des Gegenstandes zum Zweck des Versands oder durch Übergabe an eine Transportperson. Ob der Schuldner das seinerseits Erforderliche getan hat, richtet sich aber auch nach der vereinbarten Leistungsverpflichtung, die ihrerseits davon abhängt, ob es sich um eine Hol-, Schick- oder Bringschuld handelt. • Bei der Holschuld (§  269 BGB) hat der Schuldner das zur Konkretisierung seinerseits Erforderliche getan, wenn er den Leistungsgegenstand am Leistungsort aussondert, bereitstellt und dieses dem Gläubiger mitteilt. • Bei der Bringschuld muss der Schuldner den Leistungsgegenstand beim Gläubiger anbieten. • Bei der Schickschuld hat der Schuldner das zur Konkretisierung Erforderliche getan, wenn er den Leistungsgegenstand aussondert und an die Transportperson übergibt.

177

Sofern der Schuldner dem Gläubiger die geschuldete Leistung bzw. den Leistungsgegenstand am Leistungs- und Erfolgsort zur Leistungszeit ordnungsgemäß anbietet und der Gläubiger sie annimmt, ist der Vertrag erfüllt und die Leistungspflicht des Schuldners erlischt (§ 362 Abs. 1 BGB); die Leistungsgefahr geht auf den Gläubiger über und der Schuldner wird von seiner Verpflichtung zur Leistung frei.

178

Wird dem Schuldner die Erbringung der Leistung unmöglich oder wird sie so erschwert, dass ihm die Erbringung der Leistung unzumutbar ist, wird der Schuldner

1.6.5.2 Unmöglichkeit

1.6 Vertrag

69

von der Leistungspflicht befreit (§ 275 BGB). Dieser Vorgang (Befreiung von der Leistungspflicht) hat natürlich auch Auswirkungen auf die Verpflichtung zur Gegenleistung (wer nichts erhält, muss grundsätzlich auch keine Gegenleistung erbringen) und kann zudem einen Schadensersatzanspruch begründen. Nach § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf die Leistung ausgeschlossen, d. h. 179 der Schuldner wird von seiner Leistungspflicht befreit, sofern die Leistung dem Schuldner oder jedermann physisch unmöglich ist. Der Schuldner wird also von seiner Leistungspflicht befreit, unabhängig davon, ob die Leistung nur ihm (subjektiv) unmöglich ist oder von niemandem erbracht werden kann (objektive Unmöglichkeit), ob das Leistungshindernis vor oder nach Vertragsschluss eingetreten ist und ob der Schuldner die Unmöglichkeit zu vertreten hat. Beispiel

Nach Vertragsschluss wird das verkaufte Auto bei einem Unfall völlig zerstört (objektive Unmöglichkeit). Der geschuldete Gegenstand wurde gestohlen, der Dieb ist unauffindbar (subjektive Unmöglichkeit). ◄ Wenn die Leistung zwar theoretisch möglich ist, aber kein vernünftiger Gläubi- 180 ger die Leistungserbringung ernsthaft erwarten kann („praktische“ oder „faktische“ Unmöglichkeit), kann der Schuldner nach §  275 Abs.  2 BGB die Leistung verweigern, wenn deren Erbringung einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde. Dabei ist der Aufwand am Leistungsinteresse des Gläubigers zu messen. Beispiel

Der Verkäufer verliert die verkaufte, aber noch nicht übereignete Taucheruhr beim Surfen auf dem Bodensee. Die Bergung ist zwar möglich, wäre aber mit Kosten verbunden, die kein vernünftiger Mensch auf sich nehmen würde (§ 275 Abs. 2 BGB). ◄ Eine Sonderregelung für den Fall, dass der Schuldner seine Leistung persönlich zu 181 erbringen hat (insbesondere im Rahmen von Arbeits- und Dienstverträge) trifft § 275 Abs. 3 BGB: Der Schuldner kann seine Leistung auch dann verweigern, wenn eine Abwägung des entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers ergibt, dass die Leistung dem Schuldner nicht zugemutet werden kann. Beispiel

Eine Sängerin möchte wegen einer schweren Erkrankung ihres Kindes nicht auftreten. ◄ Besteht ein Leistungshindernis nach § 275 Abs. 1 BGB erlischt die Leistungs- 182 pflicht des Schuldners ohne weiteres. In den Fällen des § 275 Abs. 2 und Abs. 3 BGB kann der Schuldner wählen, ob er die Leistung (dennoch) erbringt oder sich auf sein Leistungsverweigerungsrecht beruft.

70

183

184

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Zu klären ist dann allerdings, was mit der ursprünglich vereinbarten Gegenleistungsverpflichtung des Gläubigers geschieht und ob der Gläubiger vom Schuldner Schadensersatz anstatt der ursprünglich geschuldeten Leistung verlangen kann. Auf die dafür maßgeblichen Vorschriften verweist § 275 Abs. 4 BGB. Für den Fall, dass zwischen Leistung und Gegenleistung ein Austauschverhältnis (Synallagma) besteht, regelt § 326 BGB das Schicksal der Gegenleistung: Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten, wird regelmäßig auch der Gläubiger von der Verpflichtung zu seiner Leistung (Gegenleistung) frei (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB). Allerdings kann ausnahmsweise der Schuldner, obwohl er von seiner eigenen Leistungspflicht nach § 275 BGB freigeworden ist, seinen Anspruch auf die Gegenleistung des Gläubigers behalten. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Gläubiger allein oder weit überwiegend für den Umstand, der zur Unmöglichkeit führte, verantwortlich ist, oder aber der Gläubiger sich zum Zeitpunkt der Unmöglichkeit im Annahmeverzug (§  293 BGB, Abschn.  1.6.5.4) befand (§  326 Abs.  2 BGB). Außerdem behält der Schuldner seinen Anspruch auf die Gegenleistung, falls die sogenannte Preisgefahr (das Risiko, trotz ausbleibender Leistung zahlen zu müssen) auf den Gläubiger übergegangen ist (z.  B. im Rahmen eines Versendungskaufes, Abschn. 2.1). Neben die Primäransprüche Leistung und Gegenleistung  – die regelmäßig erlöschen  – können Sekundäransprüche des Gläubigers treten, insbesondere weil dessen Interesse an der Erfüllung der Leistungspflicht verletzt wird (z. B. weil dieser den Leistungsgegenstand bereits mit Gewinn weiter veräußert hat). Der Schuldner muss den Gläubiger so stellen, wie er stünde, wenn er seine Leistung ordnungsgemäß erbracht hätte. Ist die Leistung nach Vertragsschluss unmöglich geworden, kann der Gläubiger gem. §§ 283 S. 1, 280 Abs. 1 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen. § 283 S. 1 BGB stellt dabei klar, dass auch das Nichtleistenkönnen wegen Unmöglichkeit eine Pflichtverletzung ist. Der Schadensersatzanspruch setzt jedoch voraus, dass der Schuldner die Unmöglichkeit zu vertreten hat, was allerdings nach § 280 Abs. 1 S. 1, 2 BGB vermutet wird. Bestand das Leistungshindernis bereits vor Vertragsschluss, kann der Gläubiger gemäß § 311a Abs. 2 BGB ebenfalls Schadensersatz statt der Leistung und Aufwendungsersatz geltend machen, es sei denn, der Schuldner kannte das Leistungshindernis bei Vertragsschluss nicht und hat seine Unkenntnis auch nicht zu vertreten (§  311a Abs.  2 S.  2 BGB). Dabei ist zu beachten, dass der Schuldner möglicherweise bereits deshalb seine Unkenntnis zu vertreten hat, weil er eine Garantie für die Leistungserbringung übernommen hat (§  276 Abs. 1 S. 1 a. E. BGB). § 285 Abs. 1 BGB räumt dem Gläubiger schließlich einen Anspruch auf Herausgabe des Surrogates ein. Der Gläubiger kann dasjenige, was der Schuldner aufgrund des Umstandes, dessentwegen er nicht mehr zur Leistung verpflichtet ist, von einem Dritten erlangt, heraus verlangen (sog. „stellvertretendes commodum“).

1.6 Vertrag

71

Beispiel

A verkauft ein Originalgemälde vom Künstler Brockhage (Wert: 10.000 EUR) für 9000 EUR an den C. Bevor C das Gemälde abholen kann, wird es bei einem Hausbrand komplett zerstört. Das Bild war mit 10.000 EUR versichert. C kann nun von A die Abtretung des Anspruchs gegen die Versicherung nach § 285 BGB verlangen. Im Gegenzug bleibt C dann allerdings zur K ­ aufpreiszahlung verpflichtet (§  326 Abs.  3 BGB) und weitergehende Schadensersatzansprüche stehen dem C dann womöglich nicht mehr zu (§ 285 Abs. 2 BGB). ◄

Rechtsfolgen der Unmöglichkeit Unmöglichkeit • Grundsätzliches Erlöschen der Primäransprüche • Leistungspflicht des Schuldners entfällt (§ 275 Abs. 1 BGB) Konkretisierung (§§ 243, 269 BGB) • Gegenleistungspflicht des Gläubigers entfällt ebenfalls (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB) Ausnahme (§ 326 Abs. 2 BGB): Vertretenmüssen des Gläubigers/Annahmeverzug (§ 293 ff. BGB) oder abweichende Gefahrtragungsregeln, §§ 446, 447 Abs. 1 BGB Gläubiger hat nur noch sekundäre Ansprüche (§ 275 Abs. 4 BGB) Nachträgliche Unmöglichkeit (§ 275 BGB) • Schadensersatz statt der Leistung (§ 280 Abs. 1 und 3, § 283 BGB) • Ersatz vergeblicher Aufwendungen (§ 284 BGB) • Bei Teilunmöglichkeit: Rücktritt (§ 326 Abs. 5 BGB)

Anfängliche Unmöglichkeit (§ 311a BGB) • Schadensersatz statt der Leistung (§ 311a Abs. 2 BGB) • Ersatz vergeblicher Aufwendungen (§ 284 BGB) • Bei Teilunmöglichkeit: Rücktritt (§ 326 Abs. 5 BGB)

 Rechtsfolgen der Unmöglichkeit

1.6.5.3 Pflichtverletzung Erfüllt der Schuldner seine Verpflichtungen nicht dem Inhalt des Schuldverhält- 185 nisses entsprechend (nicht in der rechten Art und Weise bzw. nicht wie geschuldet), greifen die allgemeinen Regeln des Leistungstörungsrechts. Dabei ist § 280 Abs. 1 BGB die zentrale Vorschrift: Hiernach ist der Schuld- 186 ner, der seine Pflichten aus einem Schuldverhältnis oder vorvertraglichen Schuldverhältnis verletzt, dem Gläubiger zum Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verpflichtet, es sei denn, der Schuldner hat die Pflichtverletzung nicht zu vertreten.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Voraussetzung eines solchen Schadensersatzanspruchs ist demnach: • • • • 187

188

ein Schuldverhältnis (selbst ein nur vorvertragliches), eine Pflichtverletzung Eintritt eines Schadens aufgrund Pflichtverletzung sowie das Vertretenmüssen des Schuldners.

§ 280 BGB setzt zunächst einmal voraus, dass zwischen dem Anspruchsinhaber und dem Anspruchsgegner ein Schuldverhältnis besteht. Ein solches Schuldverhältnis kann rechtsgeschäftlich entstehen (z.  B.  Abschluss eines Kaufvertrages, §  433 BGB) oder sich kraft Gesetzes ergeben (z. B. unerlaubte Handlung, § 823 BGB). Nach § 311 Abs. 2 BGB ist auch ein vorvertragliches Schuldverhältnis ausreichend. Ein solches entsteht durch • die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, wobei kein persönlicher Kontakt erforderlich ist (z. B. Verkaufsprospekte), • der Herstellung eines geschäftlichen Kontaktes, also u. a. bereits mit dem Betreten fremder Geschäftsräume, falls der Kunde zumindest grundsätzlich bereit ist, über einen Vertragsschluss zu verhandeln, • sowie durch ähnliche geschäftliche Kontakte, z.  B. eine dauernde Geschäftsbeziehung. In diesen vorvertraglichen Schuldverhältnissen ergeben sich die Pflichten aus §  241 Abs.  2 BGB, es sind Obhuts-, Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflichten. Diese Pflichten können verletzt werden und, sofern sich daraus kausal ein Schaden beim Anspruchsgegner ergibt, Schadenersatzansprüche nach §  280 Abs.  1 BGB auslösen. Beispiel

Ein Kunde betritt ein Ladenlokal, um einzukaufen. Bevor er das Warenregal erreicht, rutscht er auf dem zuvor frisch gebohnerten Boden aus und verletzt sich: am Handgelenk. Sofern ein Hinweis auf diese Gefahrensituation fehlte, kommt es zur Haftung des Ladeninhabers aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB. ◄ 189

Eine Pflichtverletzung i. S. d. § 280 Abs. 1 BGB ist jedes Verhalten, das objektiv nicht den Anforderungen aus dem Schuldverhältnis entspricht. Daher ist § 280 BGB anwendbar bei der Verletzung einer Haupt-, Neben-, Leistungs- oder Schutzpflicht; §  280 BGB erfasst alle vorstellbaren Arten von Pflichtverletzungen. Hält das besondere Schuldrecht besondere Regelungen für bestimmte Pflichtverletzungen vor (z. B. Sachmangel beim Kauf), folgt die Anwendbarkeit des § 280 BGB erst aus der dortigen Verweisvorschrift (z. B. § 437 Nr. 3 BGB). Auch das Vorliegen weiterer Voraussetzungen kann Bei bestimmten Arten von Pflichtverletzungen kann das Vorliegen weiterer Voraussetzungen erforderlich sein (§ 280 Abs. 2 und 3 BGB). Als Pflichtverletzungen kommen daher in Betracht:

1.6 Vertrag

73

• Nichtleistung wegen Unmöglichkeit (Abschn. 1.6.5.2), • Verzug mit einer Leistung (der Schuldner liefert die bestellte Ware verspätet Abschn. 1.6.5.4), • Schlechtleistung (der Schuldner liefert mangelhafte Ware; Abschn. 2.1) • Verletzung nicht leistungsbezogener Pflichten, wie z.  B. einer Sorgfaltspflicht gem. § 241 Abs. 2 BGB (der Maler zerstört im Zuge seiner Malerarbeiten eine Fensterscheibe des Kunden). Der Schuldner macht sich durch eine Pflichtverletzung, die kausal zu einem 190 Schaden führt, schadensersatzpflichtig, sofern er diese Pflichtverletzung zu vertreten hat. Nach §  276 Abs.  1 BGB hat der Schuldner grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Eine strengere oder mildere Haftung kann sich aus anderen Bestimmungen (z. B. § 287 S. 2 BGB) oder aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos, ergeben. Außerdem haftet der Schuldner für das Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, derer er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient (sogenannte Erfüllungsgehilfen), § 278 S. 1 BGB. Erfüllungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen des Schuldners bei der Erfüllung einer Verbindlichkeit als dessen Hilfsperson tätig wird. Beispiel

Der Inhaber des Malergeschäfts führt die Malerarbeiten nicht selbst aus, sondern schickt seinen Gesellen, der dabei die Fensterscheibe versehentlich zerstört. Dieses Verschulden des Gesellen muss sich der Geschäftsinhaber nach § 278 S. 1 BGB zurechnen lassen und haftet daher nach § 280 BGB. ◄ Das Vertretenmüssen des Schuldners wird nach §  280 Abs.  1 S.  2 BGB vermutet, d. h. der Schuldner müsste, um die Schadensersatzpflicht abzuwenden, dartun und beweisen, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Liegen alle Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch nach §  280 191 Abs.  1 BGB vor, ist hinsichtlich des Schicksals des (ursprünglichen) Erfüllungsanspruchs zu differenzieren (Abb. 1.15): • Verlangt der Schuldner Schadensersatz statt der Leistung, erlischt der ursprüngliche Erfüllungsanspruch nach §  281 Abs.  4 BGB.  Bevor der Gläubiger einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung geltend machen kann, muss er grundsätzlich dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung gesetzt haben. Dies liegt insbesondere im Interesse des Schuldners: Dieser hat möglicherweise bereits erhebliche persönliche oder finanzielle Anstrengungen unternommen, um die Leistung zu erbringen und will nicht ohne weiteres seinen Anspruch auf die vereinbarte Gegenleistung verlieren und zu allem Überfluss noch den Schaden des Gläubigers ersetzen müssen.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Haftung für Pflichtverletzung (§ 280 BGB): Leistungsbezogene Pflichten Ausbleiben der Leistung, mangelhafte Leistung

§ 275 BGB Leistungsbefreiung nach § 275 Abs. 1 (Unmöglichkeit), Einreden nach §§ 275 Abs. 2 u. 3 BGB

§ 311a Abs. 2 BGB (anfängliche Leistungsbefreiung) Schadensersatz statt Leistung, wahlweise Aufwendungsersatz

Verspätete Leistung

§ 286 BGB Verzug

§§ 281, 323 BGB Nichtleistung nach erfolglosem Ablauf einer angemessenen Frist, Erfüllungsverweigerung

§§ 280 Abs. 1 u. 3, 283 BGB (nachträgliche Leistungsbefreiung) Schadensersatz statt Leistung, wahlweise Aufwendungsersatz

§§ 280 Abs. 1 u. 3, 281, 283 BGB Schadensersatz statt Leistung, wahlweise Aufwendungsersatz,

§§ 280 Abs. 1 u. 2, 286 BGB Ersatz des Verzugsschadens

§ 323 BGB Rücktritt, § 325 BGB Kombination

Abb. 1.15  Haftung für Pflichtverletzungen I – Leistungsbezogene Pflichten

• Liegt die Pflichtverletzung darin, dass der Schuldner wegen Unmöglichkeit nicht leisten kann, ist die Geltendmachung des Erfüllungsanspruchs ohnehin ausgeschlossen (§ 275 Abs. 1 bis 3 BGB). Auch hier kann der Gläubiger statt der Leistung Schadensersatz verlangen, §§  280 Abs.  1 und 3, 283 BGB (bei Eintreten des Leistungshindernisses nach Vertragsschluss) bzw. § 311a Abs. 2 BGB (bei Eintreten des Leistungshindernisses vor Vertragsschluss). • Leistet der Schuldner nicht rechtzeitig, kann der Gläubiger gemäß §§  280 Abs. 1 und 2, 286 BGB seinen Schaden ersetzt verlangen und weiterhin seinen Erfüllungsanspruch geltend machen. Will der Gläubiger aber nicht endlos auf seine Leistung warten, kann er dem Schuldner eine angemessene Frist zur Leistung setzen. Verstreicht diese Nachfrist erfolglos, kann der Gläubiger einen Anspruch wegen Schadensersatzanspruch statt der Leistung geltend machen (§ 281 Abs.  1 S.  1 BGB). Handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag, kann der Gläubiger auch vom Vertrag zurücktreten (§ 323 BGB). • Verletzt der Schuldner eine nicht leistungsbezogene Pflicht (§  241 Abs.  2 BGB), kann der Gläubiger an der Erfüllung des Vertrages festhalten und über § 280 Abs. 1 BGB Ersatz für den durch die Pflichtverletzung entstandenen Schaden verlangen (Abb. 1.16). Ist die Pflichtverletzung aber so gravierend, dass man dem Gläubiger ein Festhalten am Vertrag nicht mehr zumuten kann, kann dieser gemäß den §§ 282, 280 Abs. 1 und 3 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen. Des Weiteren kann der Gläubiger bei einem gegenseitigen Vertrag nach § 324 BGB zurücktreten.

1.6 Vertrag

75

+DIWXQJIU3IOLFKWYHUOHW]XQJ † %*% /HLVWXQJVXQDEKlQJLJH3IOLFKWHQ 9HUOHW]XQJYRQ6FKXW] XQG2EKXWVSIOLFKWHQ

†$EV%*% Nebenpflichten aus Schuldverhältnis (pW)

††$EV$EVX%*% Schutzpflichten aus vorvertraglichem Schuldverhältnis ohne primäre Leistungspflichten (cic)

8Q]XPXWEDUNHLWGHU+DXSWOHLVWXQJIU GHQ*OlXELJHULQIROJH3IOLFKWYHUOHW]XQJ ††$EVX%*% Schadensersatz statt Leistung, wahlweise Aufwendungsersatz,

††$EV%*% Schadensersatz

†%*% Rücktritt

Abb. 1.16  Haftung für Pflichverletzungen II – Leistungsunabhängige Pflichten

Beispiel

Der Malermeister M führt zwar die mit Gläubiger G vereinbarten Malerarbeiten gut aus, beschädigt aber auf dem Weg in die Wohnung des G ständig das Treppenhaus sowie Einrichtungsgegenstände des G. Ist dies dem G nicht mehr zumutbar, kann er einen anderen Maler beauftragen und die damit verbundenen Mehrkosten dem M in Rechnung stellen. ◄ • Anstelle von Schadensersatz statt der Leistung kann der Gläubiger nach § 284 BGB auch Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung gemacht hat und auch billigerweise machen durfte. Beispiel

Der Gläubiger hat einen Hundewelpen gekauft, der ihm im Alter von acht Wochen übergeben werden soll. In der Zwischenzeit erwirbt der Gläubiger für den kleinen Liebling bereits teure Hundehalsbänder, Körbchen und sonstige Ausstattungsgegenstände. Kann der Welpe durch ein Verschulden des Verkäufers nicht übergeben werden, schuldet der Verkäufer Ersatz der entsprechenden Kosten auch dann, wenn die Kosten den Wert des Welpen weit übersteigen. ◄

1.6.5.4 Verzug In einem gegenseitigen Vertrag können sowohl der Schuldner als auch der Gläubi- 192 ger mit ihrer Leistungspflicht in Verzug geraten, sprich die Leistung schuldhaft verzögern („nicht zur rechten Zeit“). Der Eintritt des Verzuges kann eine Schadens-

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

ersatzpflicht begründen und das Schuldverhältnis inhaltlich verändern, insbesondere das Haftungsrisiko für den zufälligen Untergang der geschuldeten Leistung auf die in Verzug geratene Partei verlagern.

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1.6.5.4.1  Schuldnerverzug Ein Schuldnerverzug liegt vor, wenn die in § 286 BGB genannten Voraussetzungen gegeben sind: • • • •

194

195

Bestehen eines fälligen Anspruchs, Mahnung oder Mahnungsersatz, zu vertretendes Nichtleisten, kein Ausschluss durch Einrede.

Der Schuldnerverzug setzt zunächst das Vorhandensein eines fälligen Anspruchs voraus (§ 286 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Leistung ist fällig, wenn der Gläubiger sie verlangen kann, der Schuldner sie erbringen muss. Die Fälligkeit bestimmt sich dabei nach § 271 Abs. 1 BGB („sofort“). Sofern sich nicht aus der Parteivereinbarung (z. B. Zahlung bei Lieferung), Gesetz (z. B. §§ 579, 641 BGB) oder den Umständen etwas anderes ergibt, ist die Leistung sofort fällig. Falls die Vertragsparteien durch Vereinbarung eine andere Leistungszeit festgelegt haben oder die Leistung gestundet, d. h. der Fälligkeitszeitpunkt hinausgeschoben wurde, ist der Anspruch erst mit Erreichen dieses Zeitpunkts fällig. Der Gläubiger muss den Schuldner nach Eintritt der Fälligkeit mahnen, d. h. er hat ihn bestimmt und eindeutig zur unverzüglichen Leistungserbringung aufzufordern (§ 286 Abs. 1 BGB). Bei der Mahnung handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige Erklärung, die keiner Form bedarf. Erst durch die Zustellung der Mahnung (Leistungsklage oder Zahlungsbefehl stehen ihr gleich) gerät der Schuldner in Verzug. Eine Mahnung vor Fälligkeit ist unbeachtlich. Die Mahnung ist entbehrlich, wenn der Leistungszeitpunkt kalendermäßig bestimmt ist oder der Leistung ein Ereignis vorauszugehen hat und eine angemessene Zeit für die Leistung bestimmt ist, die sich mit einem Kalender berechnen lässt (§ 286 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB). Ferner erscheint eine Mahnung zwecklos und ist daher nicht erforderlich, wenn der Schuldner bereits die Erfüllung der Leistung endgültig und ernsthaft verweigert hat (§ 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB). Auch eine Interessenabwägung kann den sofortigen Verzugseintritt rechtfertigen (§  286 Abs.  2 Nr.  4 BGB), wenn sich beispielsweise aus der Natur der geschuldeten Leistung die besondere Dringlichkeit ergibt. Auch ohne Mahnung gerät der Schuldner einer Geldforderung spätestens 30 Tage nach Fälligkeit und Zugang einer Rechnung in Verzug, ein Verbraucher (§ 13 BGB) muss allerdings auf diesen Umstand in der Rechnung besonders hingewiesen werden (§ 286 Abs. 3 S. 1 BGB). Beispiel

Die Parteien schließen einen Kaufvertrag ab. Die Lieferung des Kaufgegenstandes steht noch aus.

1.6 Vertrag

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Haben die Parteien zur Leistungszeit nichts vereinbart, ist eine Mahnung erforderlich, um den Käufer in Verzug zu setzen. Haben die Parteien „Lieferung innerhalb einer Woche nach Vertragsschluss“ vereinbart, ist gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 2 BGB keine Mahnung erforderlich. Haben die Parteien „Lieferung bis zum 31. März“ vereinbart, ist die Mahnung entbehrlich und der Käufer gerät ohne Mahnung ab dem 1. April in Verzug. ◄ Verzug tritt nur ein, wenn der Schuldner nicht leistet und sein Nichtleisten zu 196 vertreten hat, was allerdings widerlegbar vermutet wird (§ 286 Abs. 4 BGB). Der Verzug ist ausgeschlossen, wenn dem Schuldner eine Einrede, also ein 197 Leistungsverweigerungsrecht zusteht, beispielsweise die Einrede des Zurückbehaltungsrechts (§  273  BGB), die Einrede des nicht erfüllten Vertrages (§  320 BGB) oder die Einrede der Verjährung (§ 214 BGB). Bei Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen kann der Gläubiger – je nach 198 Umständen – zwischen verschiedenen Rechtsfolgen wählen. Er kann • weiterhin Erfüllung begehren und daneben Verzugszinsen (§ 288 Abs. 1 und 2 BGB), Zinsschadensersatz (§  288 Abs.  3 und 4 BGB) oder Verzögerungsschadensersatz (§§  280 Abs.  2, 286 BGB) geltend machen (Schadensersatz neben Leistung); • nach Ablauf einer Nachfristsetzung die Erfüllung ablehnen und Schadensersatz statt Leistung verlangen (§§ 280 Abs. 3, 281 BGB) oder • vom Vertrag zurücktreten (§§ 323 Abs. 1, 326 Abs. 5 BGB; ohne Fristsetzung beim absoluten Fixgeschäft, § 283 BGB). Macht der Gläubiger den Verzögerungsschadensersatz geltend, ist der Schuld- 199 ner nach §§ 280 Abs. 1 und Abs. 2, 286 BGB verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, der durch die Verzögerung der Leistung verursacht wurde: Er muss den Gläubiger so stellen, wie er bei rechtzeitiger Erfüllung stünde. Unter diesen Verzögerungsschaden fallen entgangener Gewinn, den der Gläubiger bei rechtzeitiger Leistung des Schuldners hätte erzielen können (§ 252 BGB), Mehraufwendungen, die dem Gläubiger z. B. für die Anmietung einer Ersatzsache entstanden sind, oder Rechtsverfolgungs- sowie Inkassokosten. Dieser Anspruch auf Verzögerungsschadensersatz tritt neben den auch weiterhin bestehenden Erfüllungsanspruch gegen den Schuldner („Schadensersatz neben Leistung“). Beispiel

Käufer K bestellt beim Händler H ein Auto, das dieser vereinbarungsgemäß bis zu seinem Geschäftsbeginn am 1.9. liefern soll. H gerät jedoch mit der Lieferung in Verzug, weshalb K am 2.9. ein Ersatzfahrzeug anmieten muss. Der K möchte das Fahrzeug auch weiterhin haben. Allerdings hat der H die Kosten für das Mietfahrzeug nach §§ 280, 286 BGB zu tragen. ◄

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Hat der Gläubiger dem Schuldner erfolglos eine angemessene Nachfrist zur Erfüllung gesetzt (sozusagen als letzte Gelegenheit zur Vertragserfüllung), so kann er mit Ablauf dieser Nachfrist die Leistung auch ablehnen und Schadensersatz statt der Leistung verlangen (§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Nachfristsetzung ist nach § 281 Abs. 2 BGB entbehrlich und der Schadensersatzanspruch statt Leistung entsteht sofort, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert oder wenn besondere Umstände in beidseitigem Interesse die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruches rechtfertigen (z. B. in sog. „just-in-time“-Lieferbeziehungen). Das in § 281 Abs. 1 S. 1 BGB geforderte Verschulden wird erneut widerlegbar vermutet (§§ 280 Abs. 1 S. 2, 276, 278 BGB). Der geschuldete Schadensersatz statt der Leistung umfasst den Ersatz des positiven Interesses, d. h. der Gläubiger ist vermögensmäßig so zu stellen, wie er ohne die Pflichtverletzung bei ordnungsgemäßer Erfüllung in Natur stünde (§ 249 Abs. 1 BGB). Anstelle des Schadensersatz statt Leistung kann der Gläubiger auch einen Aufwendungsersatz verlangen (§ 284 BGB). Beispiel

Der Hersteller H hat mit seinem Zulieferer Z eine „just-in-time“-Lieferbeziehung vereinbart. Die Zulieferprodukte müssen pünktlich geliefert werden, damit sie der H sofort und ohne Zwischenlagerung weiterverarbeiten kann. Als der Z nicht liefert, stockt die Produktion, weshalb H seinen Abnehmern nicht rechtzeitig liefern kann. Er wird von diesen auf Schadensersatz und Zahlung von Vertragsstrafen in Anspruch genommen. Da vorliegend die Nachfristsetzung entbehrlich ist, weil die Erfüllung zu einem späteren Zeitpunkt keinen Sinn mehr macht, kann der H Schadensersatz statt Leistung geltend machen und den kompletten Schaden, der durch Stillstand der Produktion entsteht, ersetzt verlangen. ◄ 201

Bei einem gegenseitigen Vertrag kann der Gläubiger zudem nach erfolgloser Fristsetzung von dem Vertrag zurücktreten (§ 323 Abs. 1 BGB). Beispiel

Die B-Bank (B) bestellt einen Geldzählautomaten bei dem Lieferanten L. Wenn die Lieferung nicht erfolgt, gerät L unter den Voraussetzungen des § 286 BGB – Fälligkeit, Mahnung, Verschulden – in Verzug. B könnte an dem Vertrag festhalten und nur den Verzögerungsschaden (z. B. Stundenlohn der manuell zählenden Aushilfskraft) geltend machen. Falls sie allerdings von dem Vertragsverhältnis zu L Abstand nehmen will, um den Automaten beim zuverlässigeren X zu bestellen, müsste sie dem L eine angemessene Nachfrist zur Erfüllung setzen. Erst mit Verstreichen der Frist könnte B vom Vertrag zurücktreten. ◄

1.6 Vertrag

79

Kommt der Schuldner mit einer Leistung in Geld in Verzug, so ist der ge- 202 schuldete Betrag gemäß § 288 Abs. 1 BGB mit 5 % über dem Basiszinssatz (§ 247 BGB)1 zu verzinsen. Handelt es sich um ein Geschäft, an dem keine Verbraucher beteiligt sind (C2C), so liegt der Verzugszins bei 9 % über dem Basiszinssatz (§ 288 Abs. 2, 247 BGB). Der Gläubiger kann ferner nach § 288 Abs. 3 BGB aus einem anderen Rechtsgrund dazu berechtigt sein, höhere Zinsen zu verlangen (z. B. weil es in AGB festgelegt wurde) sowie nach § 288 Abs. 4, 247 BGB einen darüber hinausgehenden Schaden geltend machen (z. B. weil der Gläubiger zur Überbrückung des Zahlungsverzugs ein höherverzinstes Bankdarlehen aufnehmen musste). Ferner tritt mit dem Verzug eine Erweiterung der Haftung des Schuldners ein. 203 Während des Verzugs hat der Schuldner nicht nur jede Fahrlässigkeit zu vertreten, sondern auch für Zufall (§ 287 S. 2 BGB). Daher haftet er u. a. bei einem zufälligen Untergang der geschuldeten Leistung. 1.6.5.4.2  Gläubigerverzug Von einem Gläubigerverzug (= Annahmeverzug) spricht man, wenn der Gläubiger 204 die ihm vom Schuldner ordnungsgemäß angebotene Leistung nicht annimmt (§§ 293 ff. BGB). „Ordnungsgemäß angeboten“ bedeutet dabei, dass dem Gläubiger die Leistung so angeboten wurde, „wie sie zu bewirken ist“ (§ 294 BGB), d. h. zur rechten Zeit (Erfüllbarkeit der Leistung), am rechten Ort (Hol-, Bring- oder Schickschuld) und in der rechten Art und Weise (richtige Menge und Beschaffenheit). Hierbei muss es sich um ein tatsächliches Angebot des Schuldners handeln, d. h. die Leistung muss noch möglich sein (in Abgrenzung zur Unmöglichkeit, Abschn. 1.6.5.2) und in einer Weise angeboten werden, dass der Gläubiger nur noch „zuzugreifen“ braucht. 205 Die Voraussetzungen des Gläubigerverzugs sind demnach: • Schuldverhältnis, • Anbieten der Leistung durch den Schuldner an den Gläubiger (§§ 294–296 BGB), • Nichtannahme der angebotenen (und noch möglichen) Leistung seitens des Gläubigers. Der Verzug des Gläubigers ändert nichts an der Verpflichtung des Schuldners, die 206 geschuldete Leistung auch weiter zu erbringen. Der Gläubigerverzug löst aber eine Reihe von Rechtsfolgen zugunsten des 207 Schuldners aus: • Minderung des Verschuldensmaßstabes (§ 300 Abs. 1 BGB), • Gefahrübergang (§ 300 Abs. 2 BGB), • Wegfall der Verzinsung (§ 301 BGB), 1  Der Basiszinssatz ist ein variabler Zinssatz, der für die Bewertung von Kapitaldienstleistungen dient und zu Beginn eines jeden Halbjahres von der Deutschen Bundesbank nach Vorgaben der Europäischen Zentralbank neu berechnet und amtlich bekannt gemacht wird.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

• Berechtigung zur Hinterlegung und Versteigerung (§§ 372, 383 BGB), • Anspruch auf Mehraufwendungen, z.  B.  Lager- und Unterhaltungskosten (§ 304 BGB). 208

In der Praxis wird der Gläubigerverzug daher bedeutsam, wenn dem Schuldner wegen des Gläubigerverzugs zusätzliche Kosten entstehen (§ 304 BGB) oder der Leistungsgegenstand z. B. nach Eintritt des Verzugs beschädigt wird oder untergeht (§  300 BGB). Hier verändern sich Gefahrtragung und Haftungsmaßstab. Der Schuldner muss jetzt z. B. nicht mehr für jede Fahrlässigkeit einstehen, sondern nur noch für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Beispiel

Der Händler H liefert zum vereinbarten Zeitpunkt ein Fernsehgerät an den Wohnsitz des Bestellers B.  Dieser ist allerdings bei Anlieferung des Fernsehgeräts nicht wie vereinbart vor Ort. Daher macht sich H wieder auf den Rückweg. Auf dem Rückweg wird das Gerät durch einen Unfall, an dem H nur ein leichtes Mitverschulden trägt, vollständig zerstört. In diesem Fall wird H von seiner Leistungspflicht frei (§§ 275 Abs. 1, 300 Abs. 2 BGB) und behält seinen Anspruch auf die Gegenleistung uneingeschränkt (§§ 326 Abs. 2, 300 Abs. 1 BGB). ◄

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 Rechtsfolgen der Verspätung der Leistung I – vom Schuldner zu vertreten

1.6 Vertrag

81

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 Rechtsfolgen der Verspätung der Leistung II – vom Schuldner nicht zu vertreten

1.6.5.5 Exkurs: Rechtsfolge „Schadensersatz“ Die Verpflichtung Schadensersatz zu leisten ist – wie zuvor sichtbar wurde – eine häufige Rechtsfolge. Unter Schaden ist dabei jeder Nachteil zu verstehen, den jemand durch ein bestimmtes Ereignis an seinem Vermögen oder an seinen sonstigen rechtlich geschützten Gütern erleidet. In Abgrenzung zu Aufwendungen kann man kurz formulieren: Schaden ist jede unfreiwillige Vermögenseinbuße an Gütern, während Aufwendungen Vermögenseinbußen sind, die freiwillig entstehen. Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre (§ 249 Abs. 1 BGB) – die sog. Naturalrestitution. Die Norm schützt also das Interesse des Geschädigten an der Integrität der Gesamtheit seiner Güter – materieller, wie immaterieller Natur. Dieses Interesse wird daher auch als Integritätsinteresse bezeichnet. Dabei ist zu beachten, dass § 249 BGB keine eigene Anspruchsgrundlage darstellt, sondern nur auf der Rechtsfolgenseite klarstellt, „wie“ ein Schaden zu ersetzen ist. Entsprechend dem Grundsatz der Naturalrestitution ist zunächst der („natürliche“) Zustand ohne die Beschädigung wiederherzustellen, wobei davon ausgegangen wird, dass der Schaden auch vom Schädiger selbst beseitigt bzw. ausgeglichen wird.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Beispiel

A beschädigt das Fenster (Wert: 30  EUR) des B durch einen unglücklichen Schuss mit dem Fußball. Nach dem Wortlaut des § 249 BGB müsste A das Fenster selbst reparieren (oder es ersetzen). Lediglich den Wert der Scheibe in Geld zu ersetzen, ist danach nicht ausreichend. ◄ 213

In bestimmten (nachgelagerten) Konstellationen kann der Gläubiger anstatt der Naturalrestitution auch Geldersatz verlangen und damit den Schaden kompensieren: • Nach § 250 Abs. 1 BGB kann der Geschädigte dem Schuldner eine angemessene Frist zur Wiederherstellung des natürlichen (ursprünglichen) Zustandes setzen und dabei erklären, dass er nach Fristsetzung die Naturalrestitution ablehnt. Danach kann er Schadensersatz in Geld verlangen. Beispiel

Wie vor. B verlangt von A die Reparatur des Fensters binnen einer Woche. A kommt dem nicht nach. Daraufhin verlangt B von A die Reparaturkosten in Höhe von 60 EUR. ◄ • Bei Sach- oder Personenschäden ist der Gläubiger berechtigt, Ersatz in Geld zu fordern (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB). Hierdurch soll verhindert werden, dass Laien einen Schaden unsachgemäß beseitigen. Beispiel

Der A trifft mit seinem Schuss nicht das Fenster, sondern den B an seiner Hand, so dass dessen Finger gebrochen ist. B muss jetzt natürlich nicht dulden, dass der A versucht, seinen Finger zu richten. Vielmehr kann er sich direkt an einen Arzt wenden und anschließend die Heilbehandlungskosten von A gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB ersetzt verlangen. ◄ • Ebenso kann Ersatz in Geld gefordert werden, wenn die (Wieder-) Herstellung des ursprünglichen Zustandes nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist (§ 251 BGB). Beispiel

Das Fahrzeug des A (Zeitwert 10.000  EUR) erleidet bei einem Unfall mit B einen Totalschaden. Die Naturalrestitution ist nicht mehr möglich. A kann Wertersatz von B in Höhe des Zeitwertes des Wagens zum Unfallzeitpunkt verlangen (§ 251 Abs. 1 BGB). Das Fahrzeug des X (Zeitwert 10.000  EUR) wird durch einen Unfall beschädigt. Die Reparaturkosten würden 15.000 EUR betragen. Damit ist ein sog.

1.6 Vertrag

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wirtschaftlicher Totalschaden (Reparaturkosten  >  130  % des Fahrzeugwertes) gegeben. X kann daher die Naturalrestitution wegen Unverhältnismäßigkeit verweigern und stattdessen Wertersatz in der Höhe des Zeitwertes des Wagens zum Unfallzeitpunkt verlangen (§ 251 Abs. 2 Satz 1 BGB). ◄ Ist der Schadensersatz in Geld zu leisten, bemisst sich die zu leistende Kompen- 214 sation nach der sog. Differenzhypothese. Nach ihr wird der Wert der Vermögenslage ohne den Eintritt des „schädigenden Ereignisses“ mit deren Zustand nach dem Schadenseintritt verglichen. Die dabei zu Tage tretende „Wert“-Differenz entspricht dann der Höhe des entstandenen Schadens und bestimmt zugleich die Anspruchshöhe. Bei der Berechnung der Schadenshöhe ist ferner zu ermitteln, ob dem Geschädigten ein Gewinn entgangen ist. Der entstandene Verlust ist nach § 252 BGB ebenfalls in den Schadensersatzanspruch einzubeziehen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Gläubiger durch den Schadenseintritt nicht besser gestellt werden darf, sondern sich der Anspruch nur auf den Betrag erstrecken kann, der nach „dem gewöhnlichen Lauf der Dinge“ erzielt worden wäre (Bereicherungsverbot). Als immaterielle Schäden werden Schäden bezeichnet, die nicht im Vermögen 215 des Betroffenen entstehen (z.  B. psychische Belastungen; Ehrverletzungen). Bei ihnen ist nach §§  253 Abs.  1, 249 Abs. 1 BGB Naturalrestitution möglich (z. B. Widerruf der Ehrverletzung) und unter den Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 BGB kann auch Geldersatz (z. B. Schmerzensgeld) verlangt werden. Beispiel

Der A verursacht einen Unfall. Dabei wird der B schwer verletzt und behält bleibende Schäden in seiner Beweglichkeit. B hat gegen A einen Anspruch auf Ersatz seiner Behandlungskosten aus §§ 823 Abs. 1, 249 Abs. 2 BGB sowie auf Schmerzensgeld (§§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB). ◄ Anspruchsreduzierend wirkt unter Umständen die Mitverantwortung des 216 Geschädigten am Schadenseintritt (§ 254 BGB). Soweit den Geschädigten ein Mitverschulden an dem Schaden trifft, ist der Schadensersatzanspruch um den Teil des Mitverschuldens zu mindern. Eine reine Mitverursachung ist dafür jedoch noch nicht ausreichend. Vielmehr müssen die Maßstäbe des Verschuldens am Schädigungsbeitrag angelegt werden, die in § 276 BGB für die Verantwortlichkeit des Schuldners normiert sind. Daher setzt eine Minderung des Schadensersatzbetrages zumindest Fahrlässigkeit seitens des Schadensersatzgläubigers voraus. Beispiel

Wie vor. Allerdings hat der A den Unfall nicht allein verursacht. B ist zu schnell gefahren und trägt daher 50  % der Verantwortung am Unfallhergang. Infolgedessen wird der Ersatzanspruch des B nach § 254 BGB um die Hälfte gekürzt. ◄

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Fragen

13. V verkauft dem K einen PKW. Beide kommen überein, dass das Fahrzeug am nächsten Tag von K abgeholt werden soll. In der Nacht wird das Fahrzeug aus der verschlossenen Garage des V von einem Unbekannten entwendet. Das Fahrzeug des V ist gegen Diebstahl versichert. Wie ist die Rechtslage? Wie wäre zu entscheiden, wenn der Diebstahl durch ein fahrlässiges Verhalten des V ermöglicht worden wäre? 14. Welche Rechte hat der Gläubiger, wenn der Schuldner in Verzug kommt? 15. Unter welchen Umständen kommt der Gläubiger in Verzug? 16. Der A möchte ein Konto bei der B-Bank eröffnen. Beim Betreten der Bank fällt er über einen Teppich im Eingangsbereich, der nicht ausreichend befestigt ist. Er erleidet einen Armbruch, der ärztlich behandelt werden muss. Ferner kann er in den nächsten Wochen sein Auto nicht benutzen und hat Ausgaben für Nahverkehrsmittel. A verlangt seinen Schaden von der B-Bank ersetzt. Zu Recht?

1.6.6 Erlöschen und Modifikation der Leistungspflicht 217

Die Leistungspflicht des Schuldners kann aus unterschiedlichen Gründen – durch rechtlich erhebliche Handlungen oder Willenserklärungen  – entfallen und dabei auch das Schuldverhältnis als Ganzes zum Erlöschen bringen.

1.6.6.1 Erfüllung Die Erfüllung ist das Bewirken der geschuldeten Leistung (§ 362 Abs. 1 BGB). Der Schuldner wird von seiner Leistungspflicht frei, wenn er oder ein Dritter (§ 267 BGB) den vertraglich übernommenen Leistungserfolg herbeigeführt haben, d.  h. die geschuldete Leistung vollständig, am rechten Ort (= Leistungsort), zur rechten Zeit (= Leistungszeit) und in der rechten Art und Weise (= Leistungsart) an den Gläubiger erbracht wurde. Wird die geschuldete Leistung dem Gläubiger nicht am Leistungsort oder nicht 219 zum Fälligkeitszeitpunkt angeboten, ist der Gläubiger auch nicht verpflichtet, die Leistung anzunehmen – er kann in diesem Fall weder in Annahmeverzug geraten noch tritt die Erfüllungswirkung ein. 220 Wird die geschuldete Leistung nicht an den Gläubiger sondern an einen Dritten erbracht, kann die Erfüllungswirkung nicht eintreten, selbst wenn der Schuldner nur versehentlich an den Dritten leistet; der Schuldner bleibt vielmehr weiterhin dem Gläubiger gegenüber zur Leistung verpflichtet. Anderes gilt nur, wenn der Dritte zur Entgegennahme der Leistung mit Wirkung für den Gläubiger ermächtigt ist. Diese Ermächtigung kann rechtsgeschäftlich erteilt sein (z. B. in AGB) oder sich aus dem Gesetz (§§ 1074, 1282 BGB) ergeben. Ferner kann dem Schuldner eine Abtretungsanzeige (auch nachvertraglich) zugehen, die ihm gestattet, mit befreiender Wirkung an den Dritten als neuen Gläubiger (= Zessionar) zu leisten (Abschn. 1.6.7.1). 218

1.6 Vertrag

85

Der Schuldner ist nicht zu Teilleistungen berechtigt (§ 266 BGB), es sei denn, 221 die Vertragsparteien haben etwas anderes vereinbart oder es greifen gesetzliche Ausnahmen (z.B. § 497 Abs. 3 S. 2 BGB). Die Erfüllungswirkung kann daher bei Teilleistungen auch nicht teilweise eintreten, wenn diese vom Gläubiger als solche nicht angenommen wird. Bestehen in dem Rechtsverhältnis zwischen dem Gläubiger und dem Schuld- 222 ner mehrere gleichartige Leistungspflichten, z. B. Geldforderungen des Gläubigers aus verschiedenen Verträgen mit dem Schuldner, hat dieser das Recht, eine Tilgungsbestimmung zu treffen. Nach seiner Wahl kann er auf die eine oder andere fällige Forderung leisten (§ 366 Abs. 1 BGB). Sofern der Schuldner keine Bestimmung trifft, gilt die gesetzliche Anrechnungsvorschrift nach § 366 Abs. 2 BGB.  Unter mehreren fälligen Forderungen wird zuerst diejenige mit der geringsten Sicherheit getilgt, dann die dem Schuldner lästigere und zuletzt jede Schuld verhältnismäßig. Eine andere als die geschuldete Leistung hat keine Erfüllungswirkung und der 223 Gläubiger ist auch nicht verpflichtet, diese Leistung anzunehmen. Nur in dem Fall, dass der Gläubiger sich dazu bereit erklärt, eine andere als die geschuldete Leistung an Erfüllung statt anzunehmen, kann die Erfüllungswirkung nach § 364 Abs. 1 BGB eintreten. Ein solches Einverständnis kann auch konkludent erteilt werden, etwa indem der Gläubiger auf Geschäftsbriefen und Rechnungen seine Bankverbindungen aufführt. Beispiel

Im bargeldlosen Zahlungsverkehr erhält der Gläubiger einer Kaufpreisforderung nicht den geschuldeten Geldbetrag, sondern durch Gutschrift auf seinem Girokonto eine Forderung gegen die Bank (= Leistung an Erfüllung statt). Der Autohändler H verkauft dem Kunden K ein Neufahrzeug und erklärt sich im Gegenzug bereit, das alte Fahrzeug des K „in Zahlung zu nehmen“, weshalb der K nur noch einen reduzierten Kaufpreis entrichten muss (Gebrauchtfahrzeug = Leistung an Erfüllung statt auf einen Teil des ursprünglichen Kaufpreises). ◄ Sofern im Voraus kein Einverständnis des Gläubigers vorliegt, eine andere als die 224 geschuldete Leistung anzunehmen, ist jede andere als die geschuldete Leistung aus Sicht der Parteien nur der Versuch einer Erfüllung (Erfüllungsversuch). Diese Leistung erfolgt erfüllungshalber (§ 364 Abs. 2 BGB). Bei der Leistung erfüllungshalber ist – anders als bei der Leistung an Erfüllung statt – erst einmal abzuwarten, ob die Verwertung der Forderung oder eines Gegenstandes überhaupt den gewünschten Erfolg erzielen. Die neue Forderung oder das Verwertungsrecht treten daher neben die ursprüngliche Leistungspflicht und der Gläubiger startet lediglich den Versuch, sich daraus zu befriedigen. Erst im Erfolgsfall führt dies zum Erlöschen der Primärverpflichtung. Die Leistung erfüllungshalber hat für den Gläubiger den Vorteil, dass die alte Forderung und alle dafür bestellten Sicherheiten fortbestehen.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Beispiel

Der Schuldner zahlt auf eine Kaufpreisforderung mit einem Scheck und erbringt dadurch eine Leistung erfüllungshalber. Der Gläubiger wird nun versuchen, sich aus diesem Scheck zu befriedigen, kann aber, falls der Scheck mangels Deckung nicht eingelöst wird, auf die Kaufpreisforderung, die auch weiter bestehen bleibt, zurückgreifen (ähnliches gilt bei Kreditkartenzahlung, Wechsel oder Forderungsabtretung). ◄ 225

226

1.6.6.2 Aufhebungsvertrag In gleicher Weise, wie ein Vertrag zustande kommt, kann er von den Vertragsparteien durch eine entsprechende Vereinbarung wieder aufgehoben werden. Der Aufhebungsvertrag, der auf das Erlöschen des Schuldverhältnisses gerichtet ist, bedarf regelmäßig keiner besonderen Form, selbst dann nicht, wenn der aufzuhebende Vertrag einer bestimmten Form bedurfte (Ausnahme: Arbeitsvertrag und Grundstücksgeschäfte, sofern schon dingliche Verfügungen getroffen wurden). 1.6.6.3 Erlass und negatives Schuldanerkenntnis Das Schuldverhältnis erlischt, wenn der Gläubiger dem Schuldner durch Vertrag die Schuld erlässt (§ 397 Abs. 1 BGB). Mit dem Begriff „Schuldverhältnis“ ist die konkrete Forderungsbeziehung zwischen Gläubiger und Schuldner gemeint. Voraussetzung für das Erlöschen ist – wie die gesetzliche Regelung klarstellt – ein Vertrag zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner über die Aufhebung der Forderung; ein nur einseitiger Verzicht des Gläubigers auf seine Forderung reicht nicht aus. Ein solcher Verzicht kann dann allenfalls als Angebot zum Abschluss eines Erlassvertrages gewertet werden, welches vom Schuldner angenommen werden kann oder nicht. Beispiel

Händler H und Kunde K vereinbaren den Erlass einer bestehenden Kaufpreisschuld. Ist der vereinbarte Schuldenerlass wirksam (es liegen insbesondere keine Unwirksamkeitsgründe vor), erlischt die Forderung. ◄ 227

Das Erlöschen einer bestehenden Schuld tritt ferner ein, wenn der Gläubiger durch Vertrag mit dem Schuldner anerkennt, dass das Schuldverhältnis nicht mehr besteht und er gegen den Schuldner daher keine Forderung mehr hat (§ 397 Abs. 2 BGB). Man spricht insoweit von einem „negativen Schuldanerkenntnis“. Im Unterschied zum Erlassvertrag gehen dabei beide Vertragsparteien vom Nichtbestehen des Schuldverhältnisses aus. Beispiel

Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses erklärt der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber, dass aus dem Arbeitsvertrag keine weiteren Forderungen mehr gegen den Arbeitgeber bestehen (sog. Ausgleichsquittung). ◄

1.6 Vertrag

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1.6.6.4 Aufrechnung Haben zwei Personen gegeneinander fällige Geldforderungen, können sie, um den Zahlungsverkehr zu vereinfachen, die geschuldeten Beträge gegeneinander aufrechnen. Die Schulden erlöschen damit in der Höhe, wie sie sich aufrechenbar gegenüberstehen (§ 389 BGB). Wer den größeren Betrag schuldete, muss nur noch die Differenz zahlen. In der Praxis werden fast ausschließlich Geldforderungen gegeneinander aufgerechnet, wenngleich die Aufrechnung auch bei anderen gleichartigen Leistungen möglich ist. Die Aufrechnung setzt eine sog. Aufrechnungslage voraus (§ 387 BGB): Zwei Personen müssen einander Leistungen schulden (Gegenseitigkeit der Forderung). Die Forderungen müssen ferner von derselben Beschaffenheit sein (Gleichartigkeit der Forderungen; z. B. zwei Geldforderungen). Außerdem muss die Forderung des Aufrechnenden (= Gegenforderung) fällig und durchsetzbar sein, insbesondere darf ihr keine Einrede (z. B. Zurückbehaltungsrecht) entgegenstehen (§ 390 BGB). Und schließlich muss die Forderung, gegen die aufgerechnet wird (= Hauptforderung), wirksam und erfüllbar sein (fällig muss sie nicht sein), d. h. sie muss bestehen und darf nicht gepfändet sein (§ 392 BGB). Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist die Aufrechnung überhaupt möglich. Die Aufrechnung ist ein Gestaltungsrecht und erfordert daher eine formlose Erklärung des Schuldners gegenüber dem Gläubiger oder umgekehrt (§  388 S.  1 BGB). Die Erklärung muss das Wort „Aufrechnung“ nicht verwenden, es reicht aus, wenn erkennbar wird, was gemeint ist. Nach §  389 BGB erlöschen die aufgerechneten Forderungen in dem Zeitpunkt, in dem sie sich erstmals aufrechenbar gegenüber gestanden haben. Die Tilgungswirkung tritt daher zum Zeitpunkt der Aufrechnungslage, nicht der -erklärung ein. Die Rechtsstellung eines Aufrechnenden wird selbst durch eine nachträgliche Pfändung der Hauptforderung nicht beeinträchtigt. Beispiel

A hat wegen einer Beratungsleistung eine Forderung gegen B in Höhe von 1000 EUR. Der B hat eine fällige Kaufpreisforderung gegen A über 3000 EUR. Sowohl A als auch B könnten die Aufrechnung erklären. Als Folge der Aufrechnungserklärung erlischt die Forderung A gegen B und teilweise auch die Forderung B gegen A, so dass im Ergebnis B von A noch 2000  EUR verlangen kann. Wie vor, nur wurde die Forderung Kaufpreisforderung des B gegen A von einem Gläubiger des B gepfändet. Hier kann der B nicht mehr aufrechnen, weil er infolge der Pfändung die Forderung gegen den A nicht mehr einziehen darf („er hat sie verloren“). A hingegen kann nur dann nicht aufrechnen, wenn er seine Forderung gegen den B erst nach der Pfändung erworben hat oder wenn seine Forderung gegen B erst nach Pfändung fällig geworden ist. Dagegen bleibt die Aufrechnungsmöglichkeit des A erhalten, wenn bereits vor der Pfändung die Aufrechnungslage bestanden hat. Dies ist der Fall, wenn A seine Forderung gegen B vor der Pfändung erlangt hat und diese auch fällig geworden ist. ◄

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Gegen unpfändbare Forderungen (§§ 394 BGB, 850 ZPO) und Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung (§  393 BGB) kann nicht aufgerechnet werden, weil in diesen Fällen sichergestellt werden soll, dass der Berechtigte die geschuldeten Beträge auch vollumfänglich erhält. Beispiel

Der Arbeitgeber hat gegen seinen Arbeitnehmer eine Schadensersatzforderung. Er kann nicht gegen den unpfändbaren Teil des Lohn- oder Gehaltsanspruchs aufrechnen (§ 394 BGB). S schuldet dem G aus Kaufvertrag 100 EUR. Da der G den S bei einem Gerangel verletzt hatte, besitzt S einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 100 EUR gegen G aus § 823 BGB. S darf die Aufrechnung erklären, G hingegen wegen § 393 BGB nicht. ◄ Die Verjährung hindert die Aufrechnung im Allgemeinen nicht. Auch eine verjährte Forderung kann gegen eine nicht verjährte Forderung aufgerechnet werden, wenn sich beide Forderungen schon vor der Verjährung aufrechenbar gegenüberstanden (§ 215 BGB). Dagegen kann mit Forderungen, gegen die der Schuldner ein anderes Leistungsverweigerungsrecht hat (z. B. ein Zurückbehaltungsrecht), nicht aufgerechnet werden. 234 Neben den gesetzlichen Aufrechnungsverboten kann die Aufrechnung auch durch Vertrag ausgeschlossen werden. Häufig finden sich entsprechende Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Ihre Wirksamkeit richtet sich dann im Allgemeinen nach den §§ 305 ff., 307 BGB; im nichtunternehmerischen Geschäftsverkehr sind derartige Klauseln allerdings unwirksam, sofern dem Vertragspartner die Befugnis genommen wird, mit unbestrittene oder rechtskräftig festgestellte Forderungen aufzurechnen (§§ 309 Nr. 3, 310 Abs. 1 BGB). 233

1.6.6.5 Kündigung Von den Rechtshandlungen, durch die ein Vertrag beendet werden kann, ist die Kündigung wohl eine der wichtigsten. Durch dieses Gestaltungsrecht können Verträge, die auf unbestimmte Zeit geschlossen sind (sog. Dauerschuldverhältnisse, wie z. B. Gesellschafts-, Dienst-, Werk- oder Versicherungsverträge), für die Zukunft beendet werden, selbst wenn sie bis zur Kündigung ordnungsgemäß erfüllt wurden. 236 Die Kündigung ist  – im Gegensatz zum Aufhebungsvertrag  – eine einseitige empfangsbedürftige (Vertragsaufhebungs-)Erklärung, die zu ihrer Wirksamkeit nur deren Abgabe und den Zugang voraussetzt. Dass der Empfänger die Kündigung annimmt, ist dagegen nicht erforderlich. Der Kündigende muss auch nicht unbedingt das Wort „kündigen“ gebrauchen. Entscheidend ist vielmehr, dass man seiner Erklärung deutlich und unmissverständlich entnehmen kann, dass er wünscht, den Vertrag zu beenden. Die Kündigung kann dabei prinzipiell in jeder Form  – schriftlich, telefonisch oder mündlich – erfolgen, es sei denn, das Gesetz sieht ein besonderes Formerfordernis vor (z.  B.  Kündigung einer Wohnung, §  568 BGB) 235

1.6 Vertrag

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oder ein solches wurde zuvor zwischen den Parteien ausdrücklich vereinbart. Eine unter einer Bedingung ausgesprochene Kündigung („ich kündige, falls Sie nicht …“) ist dagegen unwirksam. In aller Regel muss in einer bestimmten vertraglich vereinbarten (z. B. „bis zum 237 15.“ „zum Ende eines Monats“) oder gesetzlichen Frist (z. B. § 488 Abs. 3 BGB) gekündigt werden („ordentliche Kündigung“). Die Kündigung kann nur wirksam werden, wenn diese Frist auch eingehalten wurde. Eine nicht fristgerecht erklärte Kündigung kann im Einzelfall als fristgerecht gelten, wenn deren Zugang schuldhaft vereitelt wurde, etwa indem der Adressat der Kündigung sein Geschäft verlegt oder seine neue Adresse gegenüber der Post verschweigt (Abschn. 1.5). Mitunter ist bei der nicht fristgerechten Kündigung eine Umdeutung in eine Kündigung zum „nächst möglichen Zeitpunkt“ denkbar (§ 140 BGB). Ungeachtet einer ordentlichen Kündigungsfrist kann jeder auf Dauer ge- 238 schlossene Vertrag, der ein enges Zusammenwirken zwischen den Vertragsparteien erfordert, unter besonderen Umständen auch ohne die Einhaltung einer Frist sofort gekündigt werden („außerordentliche Kündigung“). Für bestimmte Verträge ist dieses Recht speziell vorgesehen (u. a. §§ 626 Abs. 1, 543 oder 723 Abs. 1 BGB), ansonsten gilt § 314 Abs. 1 BGB. Hiernach kann ein Dauerschuldverhältnis durch Kündigung beendet werden, sofern ein wichtiger Grund (im Sinne einer schwerwiegenden Pflichtverletzung) vorliegt, der es einem Vertragspartner unzumutbar macht, noch länger an dem Dauerschuldverhältnis festzuhalten. Bei Pflichtverletzungen aus dem Vertragsverhältnis kann eine Abmahnung des Kündigungsberechtigten erforderlich werden (§ 314 Abs. 2 BGB). Beispiel

In einem Franchiseverhältnis hält sich der Franchisenehmer F wiederholt – und nach einer Abmahnung – nicht an die vom Franchisegeber G aufgestellten Vorschriften zur Ausgabe von Speisen und Getränke sowie an die von dem Franchisegeber vorgeschriebenen Qualitätsnormen und -richtlinien zur Bedienung und Sauberkeit in dem Restaurantbetrieb (angelehnt an: BGH NJW 1985, 1894  f. (McDonald’s)). In dem Verhalten des F liegt eine schwerwiegende Pflichtverletzung, die eine außerordentliche Kündigung nach § 314 BGB rechtfertigt. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragspartnern ist erschüttert, die Abmahnung schon erfolgt, so dass das Vertragsverhältnis nunmehr für die Zukunft beendet werden kann. ◄

1.6.6.6 Rücktritt Der Rücktritt ist ebenfalls auf Beendigung und Rückabwicklung eines Ver- 239 trages gerichtet. Er unterscheidet sich von der Kündigung dadurch, dass er einen Vertrag rückwirkend beseitigt. An dessen Stelle tritt sodann ein anderes (gesetzliches) Schuldverhältnis, wonach die Parteien verpflichtet sind, einander die empfangenen Leistungen zurück zu gewähren (Rückgewährschuldverhältnis). Wäh-

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

rend die Kündigung also das Schuldverhältnis als Ganzes für die Zukunft beendet, wird der Vertrag beim Rücktritt in ein sog. Rückabwicklungsverhältnis umgestaltet, nach welchem bereits erbrachte Leistungen zurückzuführen sind (§ 346 Abs. 1 BGB). 240 Das Rücktrittsrecht kann sich gemäß §  346 Abs.  1 BGB aus einem vertraglichen Vorbehalt einer Partei (Rücktrittsklausel) ergeben oder gesetzlich begründet sein. Nach dem Gesetz kann bei einem gegenseitigen Vertrag der Gläubiger u. a. zurücktreten, • wenn der Schuldner die Leistung nicht vertragsgemäß erbracht hat und eine Fristsetzung zur Nacherfüllung erfolglos war (§ 323 Abs. 1 BGB; s. a. die Verweise in §§ 437, 634 BGB), • wenn dem Schuldner die Leistung gemäß § 275 Abs. 1, 2, 3 BGB unmöglich wurde (§ 326 Abs. 5 BGB), • wenn der Schuldner eine nichtleistungsbezogene Pflicht nach § 241 Abs. 2 BGB verletzt und dem Gläubiger ein Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten ist (§ 324 BGB). Der Rücktritt ist  – wie eine Kündigung  – eine einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung. Das Rücktrittsrecht wird ausgeübt, indem der Berechtigte dem Vertragspartner den Rücktritt erklärt. Die Erklärung kann dabei mündlich oder schriftlich abgegeben werden und wird – wie die Kündigung – wirksam, sobald sie vernommen worden oder zugegangen ist. Sie ist ebenfalls bedingungsfeindlich. Eine Frist muss im Allgemeinen nicht eingehalten werden, es sei denn eine ver242 tragliche Regelung sieht eine solche Frist zur Ausübung des Rücktrittsrechts vor. In einem solchen Fall soll der Rücktrittsgegner außerdem die Möglichkeit haben, einen möglichen Schwebezustand zu beenden, indem er dem Rücktrittsberechtigten eine angemessene Frist setzt, um sich zu erklären. Nach Ablauf dieser Frist ist der Rücktritt ausgeschlossen (§ 350 BGB). 241

Beispiel

Der A kauft bei dem B eine Rechneranlage. Im Kaufvertrag hat er sich ausdrücklich ein Rücktrittsrecht vorbehalten, falls der B in den nächsten vier Wochen eine solche Anlage günstiger anbietet. Da B nach 14 Tagen ein günstigeres Angebot bewirbt, fordert er den A auf, sich binnen drei Tagen zu erklären, ob er sein Rücktrittsrecht ausüben wird. Der A reagiert nicht, weshalb nun sein vertraglich eingeräumtes Rücktrittsrecht ausgeschlossen ist (§ 350 BGB). ◄ 243

Im Falle eines Rücktritts erlöschen die Leistungspflichten, soweit sie noch nicht erbracht sind und es entsteht bezüglich der bereits erbrachten Leistungen und gezogenen Nutzungen (z.  B.  Früchte und Gebrauchsvorteile) eine Verpflichtung zur Rückgewähr (§ 346 Abs. 1 BGB). Sofern die Herausgabe eines Gegenstandes oder einer Leistung nach der Natur des Erlangten ausgeschlossen ist, der empfangene Gegenstand verbraucht oder verkauft wurde, sich verschlechtert hat oder

1.6 Vertrag

91

untergegangen ist, hat der Rückgewährschuldner dafür Wertersatz zu leisten (§ 346 Abs. 2 BGB). Die Verpflichtung zum Wertersatz entfällt in den Fällen des § 346 Abs. 3 BGB.

1.6.6.7 Widerruf Bei bestimmten Vertriebsformen und Vertragsarten (z. B. außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossene Verträge und Fernabsatzgeschäfte, §§ 312b, 312c BGB) besteht typischerweise die Gefahr, dass ein Verbraucher (§ 13 BGB) unüberlegt und übereilt einen Vertrag abschließt, der für ihn inhaltlich nachteilig ist oder ihn finanziell zu überfordern droht. Deshalb soll er sich gemäß §§ 355 Abs. 1 S. 1, 312g BGB durch einen Widerruf von einem solchen Vertrag lösen können. Ihm wird sozusagen eine Überlegungsfrist eingeräumt. Der Widerruf muss binnen 14 Tagen erklärt werden (§ 355 Abs. 2 S. 1 BGB), wobei zur Fristwahrung die rechtzeitige Absendung des Widerrufs genügt (§ 355 Abs.  1 S.  5 BGB). Die Widerrufsfrist beginnt mit dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses (§ 355 Abs. 2 S. 2 BGB), soweit nichts anderes bestimmt ist. Solche abweichenden Bestimmungen enthalten § 356 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 für außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und Fernabsatzverträge, § 356a Abs. 1 bis 4 für Teilzeit-Wohnrechteverträge und ähnliche Vertragsarten, § 356b Abs. 1 bis 3 für Verbraucherdarlehensverträge sowie § 356c für Ratenlieferungsverträge. Sofern der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausübt, sind die empfangenen Leistungen unverzüglich zurück zu gewähren (§ 355 Abs. 3 BGB). Die §§ 357 ff. enthalten für die jeweiligen Vertragstypen Sonderregeln bezogen auf die Rechtsfolgen des Widerrufs. Das vorbeschriebene Widerrufsrecht steht einem Verbraucher bei folgenden Geschäften zu: • Außergeschäftsraumvertrag (§ 312b BGB). Ein solcher Vertrag liegt vor, wenn der Vertrag bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers (§  14 BGB) an einem Ort geschlossen wird, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist (§ 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB; z. B. Fußballplatz) oder der Verbraucher unter diesen Umständen sein Angebot abgegeben hat (§ 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB). Ein Außergeschäftsraumvertrag ist auch anzunehmen, wenn der Vertrag zwar in den Geschäftsräumen des Unternehmers oder durch Fernkommunikationsmittel geschlossen wurde, der Verbraucher aber unmittelbar zuvor außerhalb der Geschäftsräume vom Unternehmer persönlich und individuell angesprochen wurde (§ 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB). Ferner ist gem. § 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BGB ein Außergeschäftsraumvertrag gegeben, wenn der Vertrag auf einem Ausflug geschlossen wurde, der von dem Unternehmer oder mit seiner Hilfe organisiert wurde, um beim Verbraucher für den Verkauf von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen zu werben und mit ihm entsprechende Verträge abzuschließen (z. B. Kaffeefahrt). • Fernabsatzvertrag (§ 312c BGB). Abschn. 1.6.2.6.

244

245

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

• Teilzeit-Wohnrechtevertrag, einem Vertrag über ein langfristiges Urlaubsprodukt, einem Vermittlungsvertrag oder einem Tauschsystemvertrag (§ 485 BGB). • Verbraucherdarlehensvertrag (§ 495 Abs. 1 BGB). • Ratenlieferungsvertrag (§  510 Abs.  2 BGB). Dies umfasst insbesondere Verträge, die regelmäßige Lieferungen von Sachen gleicher Art zum Gegenstand haben (z. B. Zeitschriftenabonnements).

1.6.6.8 Störung der Geschäftsgrundlage Parteien, die einen Vertrag schließen, gehen vom Vorhandensein und Fortbestehen grundlegender wirtschaftlicher und tatsächlicher Verhältnisse aus, ohne dass diese Annahmen ausdrücklich Vertragsinhalt werden. Ändern sich diese Geschäftsgrundlagen in völlig unvorhergesehener Weise und helfen gesetzliche Instrumente (wie z. B. die Anfechtung) nicht weiter, so kann es im Einzelfall unbillig sein, weiterhin auf das Erbringen der Leistungen zu bestehen. Es kann für eine Vertragspartei unzumutbar sein, am Vertrag festzuhalten. Daher wird unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§  242 BGB) und unter bestimmten Voraussetzungen der zivilrechtliche Grundsatz „Verträge sind einzuhalten“ durchbrochen und die Möglichkeit zur Anpassung der vertraglichen Verpflichtungen gewährt. 249 Die Voraussetzungen unter denen eine Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 1 und 2 BGB) vorliegt, sind: 248

• beide Parteien haben einen Umstand zur Geschäftsgrundlage des Vertrages gemacht, der sich nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, • die Parteien hätten den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt abgeschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, • einer Partei kann es unter Berücksichtigung aller Umstände nicht zugemutet werden, am Vertrag festzuhalten. Beispiel

Eine erhebliche Geldentwertung wegen politischer Unruhen beeinträchtigt das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung (sog. Äquivalenzstörung). Nach Vertragsschluss kommt es zu Beschaffungshindernissen, weil eine Naturkatastrophe den Abbau der Materialien erschwert (sog. Leistungserschwernis). Der zwischen A und B geschlossene 10-Jahres-Pachtvertrag über eine Gaststätte in der Nähe einer Fabrik wird sinnlos, da die Fabrik infolge einer Insolvenz schließt und ansonsten keine Kundschaft zu erwarten ist (sog. Zweckstörung). ◄ 250

Derjenige, dem ein Festhalten am Vertrag aus vorgenannten Gründen nicht mehr länger zugemutet werden kann, hat einen Anspruch auf Anpassung des Vertrages (§ 313 Abs. 1 BGB). Ist eine solche Anpassung nicht möglich oder einem Vertragspartner nicht zumutbar, so kann die benachteiligte Partei zurücktreten (§  313 Abs.  3 S.  1 BGB) oder  – bei Dauerschuldverhältnissen  – denselben kündigen (§ 313 Abs. 3 S. 2 BGB).

1.6 Vertrag

93

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Abb. 1.17  Beendigung und Anpassung I

Grund

Voraussetzungen

Rücktritt

Rücktrittserklärung und Rücktrittsgrund; es entsteht ein Rückgewährschuldverhältnis

Kündigung

Kündigungserklärung und Ablauf der Kündigungsfrist (= ordentliche Kündigung) oder Kündigungserklärung und Kündigungsgrund (= außerordentliche Kündigung)

Widerruf

Widerrufserklärung und Widerrufsrecht; es entsteht ein Rückgewährschuldverhältnis

Anfechtung

Anfechtungserklärung und Anfechtungsgrund; das angefochtene Rechtsgeschäft ist von Anfang an nichtig

Störung der Geschäftsgrundlage

Veränderung oder Fehlen von Umständen, die Geschäftsgrundlage des Vertrages waren; der Vertrag kann angepasst oder gekündigt werden

Abb. 1.18  Beendigung und Anpassung II

1.6.6.9 Zusammenfassung Abb. 1.17 und 1.18 gewähren einen abschließenden Überblick zur Beendigung und 251 Anpassung von Verträgen.

1.6.7 Beteiligung Dritter am Vertrag In der Regel wird ein Vertrag zwischen den Parteien ausgeführt, die ihn ab- 252 geschlossen haben. Doch es gibt auch Konstellationen, in denen ein Gläubiger- oder ein Schuldnerwechsel stattfindet, weil die Forderung auf einen Dritten übertragen wird (§ 398 BGB) oder ein Dritter der Schuld beitritt oder sie übernimmt (§§ 414, 415 BGB). Ferner können auf einer Vertragsseite mehr als eine Person stehen, sog.

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

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Abb. 1.19  Abtretung am Beispiel der Kaufpreisforderung

Gläubiger- oder Schuldnermehrheit im Sinne der §§ 420–432 BGB, z. B. weil zwei und mehr Personen einen Vertrag abschließen (z. B. Ehegatten erwerben ein Haus oder eine Personengesellschaft handelt) oder daraus verpflichtet werden. Schließlich kann auch vereinbart werden, dass ein Dritter, der am Vertragsschluss nicht beteiligt war, berechtigt ist, Leistung an sich selbst zu verlangen (Vertrag zugunsten Dritter, § 328 BGB).

1.6.7.1 Abtretung Durch Abtretungsvertrag (= Zession) wird eine Forderung von dem alten Gläubiger (= Zedent) auf einen neuen Gläubiger (= Zessionar) übertragen (§ 398 S. 1 BGB). Die Abtretung bewirkt den Übergang der Forderung vom Zedenten auf den Zessionar (§ 398 S. 2 BGB; Abb. 1.19). Der Schuldner ist an der Abtretung nicht beteiligt. 254 Die Voraussetzungen einer wirksamen Abtretung sind: 253

• • • •

Abtretungsvertrag, Bestimmtheit der Forderung, Abtretbarkeit der Forderung (kein Verbot), Zedent muss Inhaber der Forderung sein.

Der Abtretungsvertrag enthält die Einigung des Zedenten mit dem Zessionar hinsichtlich der Übertragung einer Forderung; er bedarf keiner Form (Ausnahme: § 1154 BGB; eine durch Hypothek gesicherte Forderung erfordert eine schriftliche Abtretungserklärung und die Übergabe des Hypothekenbriefes). 256 Gegenstand des Abtretungsvertrages kann nur eine nach Inhalt, Höhe und Person des Schuldners hinreichend bestimmte Forderung sein. Das schließt auch be255

1.6 Vertrag

95

dingte und befristete Forderungen ein, ebenso Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen (z.  B.  Lieferbeziehung). Selbst zukünftige Forderungen können abgetreten werden (sog. Vorausabtretung), sofern sie im Zeitpunkt ihres Entstehens bereits zweifelsfrei bestimmt werden können. Beispiel

Der Händler H hat einen Anspruch gegen den Kunden K auf Kaufpreiszahlung in Höhe von 5000 EUR und eine Zahlungspflicht gegenüber dem Lieferanten L über 3000 EUR. H kann seiner Zahlungspflicht nachkommen, indem er seinem Lieferanten erfüllungshalber die Kaufpreisforderung gegen seinen Kunden bis zu einem Betrag von 3000 EUR abtritt. Ist die Kaufpreisforderung noch nicht fällig, ist die Abtretung zwar möglich, aber der Zessionar kann die Zahlung auch erst ab Fälligkeit verlangen. ◄ Auch wenn nahezu jede Forderung abtretbar zu sein scheint, gibt es auch Abtretungsverbote. Die Zession ist unzulässig:

257

• bei unpfändbaren Forderungen (§ 400 BGB, §§ 850 ff. ZPO), • bei Forderungen, die mit der Abtretung ihren Leistungsinhalt verändern würden, • bei Forderungen, die mit der Person des Schuldners untrennbar verknüpft sind („höchstpersönliche Ansprüche“), • in gesetzlich angeordneten Fällen (z. B. § 613 S. 2 BGB) sowie • bei Forderungen, die einem vertraglichen Abtretungsverbot unterworfen wurden (§ 399 BGB). Der Zedent muss Inhaber der Forderung sein. Ein Forderungserwerb vom Nicht- 258 berechtigten kraft guten Glaubens, wie er beim Eigentumserwerb an beweglichen Sachen (§§ 932 ff. BGB) oder Grundstücken (§ 892 BGB) möglich ist, gibt es bei der Forderungsabtretung (Besonderheiten im Wertpapierrecht ausgenommen) nicht. Sofern der Zedent Inhaber der abzutretenden Forderung ist, wird infolge des Ab- 259 tretungsvertrags der Zessionar anstelle des Zedenten Forderungsinhaber (§  398 BGB). Außerdem gehen – als weitere Rechtsfolge – alle Nebenrechte, insbesondere Sicherungsrechte (z. B. Bürgschaften, Pfandrechte) auf den Zessionar über (§ 401 BGB). Dagegen verbleiben die sogenannten Gestaltungsrechte (Anfechtungs-, Kündigungs- und Rücktrittsrechte) auch weiter beim Zedenten, denn die Abtretung bewirkt nur den Forderungsübergang, nicht dagegen einen Wechsel der Vertragspartei. Deshalb besteht auch der Vertrag zwischen dem Zedenten (= Altgläubiger) und dem Schuldner fort. Beispiel

Für die Kaufpreisforderung V gegen K verbürgt sich der Bürge B.  V tritt die Forderung anschließend an den Dritten D ab. Leistet der K im Fälligkeitszeitpunkt nun nicht an den D, kann dieser den Bürgen in Anspruch nehmen, da das Sicherungsrecht mit der Forderung auf den D übergegangen ist (§ 401 BGB). ◄

96

260

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

Da der Schuldner am Abtretungsvertrag nicht mitwirkt, enthält das Abtretungsrecht in den §§ 404–410 BGB einige Schutzvorschriften zu seinen Gunsten: • Der Schuldner soll durch den Forderungsübergang keine Nachteile erlangen. Hätte er dem Zedenten Einwendungen und Einreden entgegenhalten können, bestehen diese nach der Abtretung auch gegenüber dem Zessionar fort (§ 404 BGB). Beispiel

Die Forderung war im Zeitpunkt der Abtretung gestundet. Der Schuldner kann die Einrede der Stundung auch gegenüber dem Zessionar geltend machen. ◄ • Der Schuldner wird ferner davor geschützt, dass ihm durch die Abtretung eine Aufrechnungsmöglichkeit genommen wird (§  406 BGB). Deshalb kann der Schuldner auch dann noch aufrechnen, wenn vor der Abtretung zwar eine Aufrechnungslage bestand, die Aufrechnung aber noch nicht erklärt war. Beispiel

Im Geschäftsverhältnis zwischen A und B besteht eine fällige Forderung des A gegen B in Höhe von 5000 EUR und eine fällige Forderung B gegen A in Höhe von 3000 EUR. Noch bevor B die Aufrechnungserklärung abgibt, tritt A (Zendent) seine Forderung gegen B an den C (Zessionar) ab, sodass C Inhaber der Forderung über 5000 EUR gegen B wird. Ungeachtet dieser Abtretung kann B, da die Aufrechnungslage bereits vor Abtretung bestand, gegenüber C die Aufrechnung erklären. Damit erlöschen die Forderungen in Höhe von 3000  EUR (§ 389 BGB). Im Ergebnis besteht nur noch eine Forderung des C gegen B in Höhe von 2000 EUR. ◄ Der Schuldner kann selbst dann noch aufrechnen, wenn er seine Forderung erst nach der Abtretung erworben hat, aber von der Abtretung keine Kenntnis hatte. Nur wenn die Forderung des Schuldners nach Kenntnis von der Abtretung und später als die abgetretene Forderung fällig wird, scheitert die Aufrechnungsmöglichkeit. Denn in den Fällen, in denen der Schuldner die Abtretung kennt, bevor die Aufrechnungslage entsteht, ist sein Vertrauen in die Aufrechnungsmöglichkeit nicht mehr schutzwürdig. • Die Abtretung kann grds. in Form einer offenen oder einer stillen Zession erfolgen. Während eine offene Abtretung dem Schuldner mitgeteilt wird, erfährt er im Falle der stillen Zession von der Abtretung nichts. Eine solche stille Zession kommt insbesondere dem wirtschaftlichen Interesse von Kaufleuten entgegen, die ihre Kreditwürdigkeit nicht durch eine Offenbarung der Abtretung gefährden wollen. Leistet der Schuldner an den bisherigen Gläubiger (Zedenten), der wegen der zuvor erfolgten Abtretung Nichtberechtigter ist, greift § 407 BGB: Der Zes-

1.6 Vertrag

97

sionar muss die Leistung des Schuldners an den Zedenten in Unkenntnis der Abtretung gegen sich gelten lassen; es tritt Erfüllung der Verbindlichkeit ein (sog. befreiende Zahlung). Dasselbe gilt für jedes andere Rechtsgeschäft, das nach der Abtretung zwischen dem Schuldner und dem Zedenten hinsichtlich der Forderung getätigt wird. Ist die Forderung des Zedenten gegen den Schuldner Gegenstand eines Rechtsstreits und ergeht das klageabweisende Urteil erst nach der Abtretung, so muss der Zessionar selbst dieses Urteil gegen sich gelten lassen. Der Zessionar kann die Zahlung wegen des klageabweisenden Urteils nicht mehr vom Schuldner fordern (§ 407 Abs. 2 BGB). Die befreiende Zahlung an den Nichtberechtigten führt zu einer typischen Bereicherungssituation: Der bisherige Gläubiger erlangt etwas, was nicht ihm, sondern eigentlich dem neuen Gläubiger zusteht, der selbst keinen Anspruch mehr darauf hat. Hier korrigiert der § 816 Abs. 2 BGB, nach welchem der Zedent als Nichtberechtigter das Erlangte an den Zessionar herausgeben muss (Abschn. 3.2.3.3). Beispiel

Der Käufer K zahlt eine noch offene Kaufpreisforderung an den Verkäufer V. Allerdings hatte der V die Forderung bereits zuvor und ohne den K zu informieren an den Dritten D abgetreten. Wenn K nun an V leistet, erfüllt er seine Kaufpreisverpflichtung – er wird frei (§ 407 BGB). Dem D verbleibt allerdings das Recht, die an V geleistete Geldzahlung heraus zu verlangen (§ 816 Abs. 2 BGB). ◄ • Bei mehrfacher Abtretung wird der Schuldner ebenfalls geschützt, denn er soll nach wie vor die Leistung nur einmal erbringen müssen. Zwar kann die Forderung wirksam nur einmal abgetreten werden, denn bei der zweiten Abtretung ist der Gläubiger nicht mehr Inhaber der Forderung, sodass der Abtretungsvertrag unwirksam ist. Doch kann der Schuldner, sofern ihm nur die zweite Abtretung mitgeteilt wird, die Unwirksamkeit des Abtretungsvertrages nicht erkennen. Nach erfolgter Abtretungsanzeige kann der Schuldner daher befreiend an den Dritten leisten, der ihm als Zessionar mitgeteilt wurde (§ 408 BGB). • Zeigt der Gläubiger dem Schuldner die Abtretung an, muss er die angezeigte Abtretung auch dann gegen sich gelten lassen, wenn sie nicht erfolgt oder nicht wirksam ist (§ 409 BGB). Der Schuldner könnte in einem solchen Fall schuldbefreiend an den vermeintlichen Zessionar leisten. • Solange der Zedent dem Schuldner die Abtretung nicht angezeigt hat, kann der Schuldner jede Zahlung an den Zessionar verweigern sowie Mahnungen und Kündigungen zurückweisen, sofern ihm nicht eine Abtretungsurkunde mit der Unterschrift des Zedenten vorgelegt wird (§ 410 BGB). Eine häufige Erscheinungsform der Abtretung ist die sog. Sicherungszession 261 (Abschn. 2.5.2). Dabei dient die Abtretung einer Forderung dem Zweck, eine Darlehensforderung gegenüber einem Kreditgeber zu sichern. Falls das Darlehen wesentlich höher ist, als die einzelnen bestehenden Forderungen des Zedenten gegenüber seinem Schuldner, kann die Sicherungszession als Globalzession ver-

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

einbart werden und erfasst dabei alle – auch künftigen – Forderungen des Zedenten aus dem Rechtsverhältnis mit einem Schuldner, z.  B. aus dem Girovertrag des Schuldners mit seiner Bank. Beispiel

Der Unternehmer U benötigt zur Erweiterung seiner Betriebsstätte einen Kredit. Die Kreditsicherung gegenüber der Bank erfolgt, indem der Unternehmer alle Forderungen, die er aus Warenlieferungen an seinen Hauptabnehmer H (= Schuldner) hat, im Voraus an seine Bank abtritt (= Globalzession). ◄ Die Vereinbarung einer solchen Sicherungszession ist für beide Vertragsparteien – U und die Bank – von Vorteil. Der U erhält finanzielle Mittel, ohne dass der H, dem die Abtretung nicht mitgeteilt wird, vom Kreditgeschäft und den Geldsorgen des U etwas erfährt; der H leistet vielmehr – wie bisher auch – seine Zahlungen auf das Geschäftskonto des U. Der Vorteil der Bank liegt darin, dass sie im Fall, dass der U seinen Kreditverpflichtungen nicht nachkommt, die Kaufpreisforderungen des U gegen H aus abgetretenem Recht als eigene geltend machen kann; sie muss daher keinen Haftungsausfall befürchten. 262 Aus dieser den Kreditsicherungsvereinbarungen zugrunde liegenden Interessenlage sowie aus Gründen einer dauerhaften Liquiditätsbeschaffung hat sich ferner das sog. Factoring Geschäft (= Forderungskauf) entwickelt (Abschn. 2.4.4). Der Unternehmer verbessert durch Vorfinanzierung von abgetretenen Außenständen seine Liquidität und verlagert den Aufwand des Forderungseinzugs auf die Factoring-­Gesellschaft. Zum Zweck der Abwicklung eines umfangreichen Zahlungsverkehrs kann 263 schließlich auch eine Inkassozession vereinbart werden. In einem solchen Fall erfolgt die Abtretung der Forderung zur Einziehung in eigenem Namen (z.  B. der behandelnde Arzt tritt seine Honorarforderung an eine Verrechnungsstelle ab). Im Gegensatz dazu beinhaltet die bloße Einzugsermächtigung noch keine solche Abtretung, da in diesem Fall die Forderung nicht übertragen wird, sondern die Einziehung in fremdem Namen erfolgt.

1.6.7.2 Schuldübernahme und Schuldbeitritt Nicht nur aufseiten des Gläubigers kann dessen Rechtsstellung auf Dritte übertragen werden (Abtretung), sondern ein solcher Wechsel ist auch aufseiten des Schuldners möglich. Dabei wird durch Vertrag die Schuld auf einen neuen Schuldner übertragen („befreiende Schuldübernahme“ i. S. der §§ 414 ff. BGB). 265 Während es allerdings dem Schuldner bei einer Abtretung regelmäßig gleichgültig ist, an wen er künftig zu leisten hat, weshalb auch seine Mitwirkung verzichtbar ist, wird es dem Gläubiger auf die Zahlungsfähigkeit des neuen Schuldners geradewegs ankommen. Er möchte sicherstellen, dass er seine Leistung erhält. Daher ist bei der Schuldübernahme  – im Unterschied zur Abtretung  – das Auswechseln des Schuldners nur mit Einverständnis des Gläubigers möglich: Entweder vereinbart der Gläubiger höchst selbst mit dem neuen Schuldner (Dritter, 264

1.6 Vertrag

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Übernehmer), dass der neue Schuldner an die Stelle des bisherigen Schuldners tritt (§ 414 BGB), oder er genehmigt den ohne seine Beteiligung zustande gekommenen Übernahmevertrag zwischen dem neuen und alten Schuldner (§ 415 BGB). Der neue Schuldner (Übernehmer) kann nach § 417 Abs. 1 BGB dem Gläubiger 266 die Einwendungen entgegenhalten, die sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen dem Gläubiger und dem alten Schuldner ergeben (z. B. Stundungsabrede). Anders als bei der Abtretung erlöschen bei der Schuldübernahme die für die 267 Schuld bestellten Sicherheiten, wie Pfandrechte und Bürgschaften. Die Hypothek fällt an den Grundstückseigentümer zurück (§ 418 Abs. 1 BGB). Die Sicherheiten bleiben nur ausnahmsweise bestehen, sofern die Sicherungsgeber seine Sicherheit auch nach dem Schuldnerwechsel aufrechterhalten will (§ 418 Abs. 1 S. 3 BGB). Von der Schuldübernahme zu unterscheiden ist der sog. Schuldbeitritt (bzw. die 268 Schuldmitübernahme), der gesetzlich nicht geregelt ist. Hierbei wird vertraglich bestimmt, dass jemand neben dem bisherigen Schuldner in das Schuldverhältnis eintritt. Es findet somit kein Austausch von Schuldnern statt, sondern es kommt ein weiterer Schuldner hinzu. Da sich mit dem Schuldbeitritt der Wert der Forderung verbessert, muss auch kein Einverständnis des Gläubigers eingeholt werden. Mit der Schuldübernahme werden Schuldner und Schuldbeitretender Gesamtschuldner (Abschn. 1.6.7.3), d. h. der Gläubiger kann sich nach seinem Belieben ganz oder teilweise an den einen oder den anderen halten (§ 421 BGB). Der Schuldbeitritt kann auch aus dem Gesetz folgen, z. B. § 613a Abs. 1 BGB sowie § 28 Abs. 1 HGB („tritt ein“).

1.6.7.3 Mehrheit von Gläubigern und Schuldnern 1.6.7.3.1  Gläubigermehrheit Das BGB kennt drei Formen von Gläubigermehrheiten:

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• Teilgläubiger (§ 420 BGB), • Gesamtgläubiger (§ 428 BGB), • Gläubigergemeinschaft (Gesamthandsgläubiger, § 432 BGB). Bei der Teilgläubigerschaft sind mehrere Personen Gläubiger einer teilbaren 270 Leistung. Eine Leistung ist teilbar, wenn sie ohne Wertminderung und ohne Beeinträchtigung des Leistungszwecks zerlegt werden kann. Die Gläubiger dieser Leistung sind daran nach § 420 BGB anteilsmäßig zu gleichen Teilen berechtigt. Beispiel

Der Unterhalt der Zwillinge K1 und K2 wird in einer Summe (600 EUR) ausgezahlt. Dennoch sind K1 und K2 anteilsmäßig zu gleichen Teilen (je 300 EUR) an dieser Zahlung berechtigt. ◄ Bei einer Gesamtgläubigerschaft kann jeder Gläubiger die ganze Leistung an 271 sich selbst herausverlangen, der Schuldner muss sie jedoch nur ein einziges Mal

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

leisten. Dabei kann er nach seinem Belieben an jeden Gläubiger leisten (vgl. § 428 BGB); er wird durch die Leistung an einen beliebigen Gesamtgläubiger frei. 272 Bei einer Gläubigergemeinschaft können die Gläubiger die Leistung nur an alle Gläubiger zur Gesamthand einfordern, der Schuldner kann nur an alle gemeinsam leisten (vgl. § 432 BGB). Die Art und Weise der Aufteilung der Leistung erfolgt im Innenverhältnis der Gläubiger und ist für den Schuldner vollkommen irrelevant. Beispiel

A, B und C sind Gesellschafter einer GbR. Aus einem Kaufvertrag ergibt sich ein Kaufpreisanspruch der GbR gegen den K.  A kann diese Zahlung von K einfordern, allerdings nur zu Händen der GbR, nicht an sich persönlich. ◄ 1.6.7.3.2  Schuldnermehrheit Schulden mehrere eine teilbare Leistung, so liegt im Zweifel eine sog. Teilschuld vor (§ 420 BGB). Jeder Schuldner ist nur zur Leistung des Anteils verpflichtet, der auf ihn entfällt. 274 Eine Gesamtschuld entsteht durch Gesetz oder durch Vertrag. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass mehrere Schuldner zur Erbringung einer Leistung verpflichtet sind. Der Gläubiger kann diese Leistung nur einmal fordern. Dabei kann er sich aussuchen, ob er alle Schuldner anteilig in Anspruch nehmen will oder auch nur einen in voller Höhe (§ 421 BGB). Wenn einer der Gesamtschuldner die Leistung an den Gläubiger bewirkt, erlischt die Forderung durch Erfüllung. Im Innenverhältnis sind die übrigen Gesamtschuldner in Höhe ihres Anteils zum Ausgleich verpflichtet (§ 426 Abs. 1 BGB). In aller Regel haben sich die Gesamtschuldner mangels abweichender Vereinbarung zu gleichen Anteilen verpflichtet. Ein solches Gesamtschuldverhältnis wird z. B. bei der Gründung einer Personengesellschaft gesetzlich angeordnet, ebenso wenn mehrere Personen aus einer unerlaubten Handlung verantwortlich sind (§ 840 BGB). Es kann aber auch vertraglich vereinbart werden, um dem Gläubiger durch eine Mehrheit von Schuldner eine größere Sicherheit einzuräumen (z. B. im Mietvertrag werden mehrere Mieter  – etwa die Eheleute  – oder im Darlehensvertrag mehrere Darlehensnehmer gebunden). 273

Beispiel

A und B gründen eine offene Handelsgesellschaft (oHG). Die oHG erlangt Rechtsfähigkeit kraft Gesetzes und kann daher auch einen Kaufvertrag abschließen. Falls die oHG danach verpflichtet ist, einen Kaufpreis in Höhe von 2000 EUR zu zahlen, haften A und B auch als Gesellschafter der oHG gesamtschuldnerisch für die bestehende Kaufpreisforderung (§ 128 HGB). Der Verkäufer V (= Gläubiger der Kaufpreisforderung) hat einen Anspruch gegen A und B als Gesamtschuldner in Höhe von 2000 EUR. Er kann sich wahlweise an A oder B wenden und von jedem den vollen Kaufpreis fordern. Sofern A die geforderten 2000 EUR zahlt, entsteht ihm ein Ausgleichsanspruch gegen B in Höhe von 1000 EUR aus § 426 Abs. 1 BGB. ◄

1.6 Vertrag

101

Nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit können die Gesamtschuldner im Innenverhältnis untereinander die Ausgleichspflicht auch anderweitig festlegen (§  426 Abs. 1 BGB). Insbesondere die Gesellschafter von Personengesellschaften treffen häufig abweichende Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag. Beispiel

A und B haben im Gesellschaftsvertrag vereinbart, dass der Verlustanteil von A 25 % beträgt. Zahlt A an einen Gesellschaftsgläubiger z. B. den geschuldeten Kaufpreis in Höhe von 2000  EUR, entsteht  – entsprechend seinem Verlustanteil – ein Ausgleichsanspruch gegen B in Höhe von 1500 EUR. ◄ Soweit ein Gesamtschuldner die Leistung an den Gläubiger bewirkt und von den übrigen Schuldnern Ausgleich verlangen kann, geht die Forderung des Gläubigers gemäß §  426 Abs.  2 BGB auf ihn über (sog. Legalzession). Dieser gesetzliche Forderungsübergang hat den Vorteil, dass auch die akzessorischen Sicherungsrechte – wie beispielsweise eine Bürgschaft – bestehen bleiben, sodass die auf den ausgleichsberechtigten Gesamtschuldner übergegangene Forderung im Einzelfall besser gesichert ist als der Ausgleichsanspruch. Beispiel

Der V hat eine Kaufpreisforderung gegen die oHG in Höhe von 100.000 EUR, die durch eine Bürgschaft des C gesichert ist. A begleicht nun die Kaufpreisforderung in voller Höhe. Dadurch geht die Forderung des V gegen die oHG – d. h. auch gegen B in Höhe von 50.000 EUR – auf A über, die durch die Bürgschaft des C gesichert bleibt. ◄ Von einer gemeinschaftlichen Schuld ist die Rede, wenn eine Leistung nur (und 275 zwar unteilbar) durch ein gemeinschaftliches Zusammenwirken mehrerer Schuldner erbracht werden kann (z.  B. die Theatergruppe muss das Stück gemeinsam aufführen).

1.6.7.4 Vertrag zugunsten Dritter In einem Vertrag kann auch vereinbart werden, dass die geschuldete Leistung nicht 276 an den Gläubiger erbracht wird, sondern ein Dritter das Recht erwerben soll, die Leistung zu fordern (sog. Vertrag zugunsten Dritter). Zu unterscheiden sind dabei zwei Konstellationen: Beim echten Vertrag zugunsten Dritter (§§ 328 ff. BGB) erhält der Dritte einen eigenen (einklagbaren) Anspruch auf die Leistung gegen den Schuldner, während beim unechten Vertrag zugunsten Dritter ein solcher eigener Leistungsanspruch des Dritten fehlt. Hier wird der Schuldner lediglich dazu verpflichtet, an einen Dritten zu leisten; der Dritte hat aber  – selbst bei Ausbleiben der Leistung  – kein Forderungsrecht gegenüber dem Schuldner. Beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter geht es um die Ein- 277 beziehung dritter Personen in den Schutzbereich eines Vertragsverhältnisses. Liegt

102

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

ein Vertrag mit Schutzwirkung vor, bleibt es zwar dabei, dass der Anspruch auf die Leistung nur dem Gläubiger zusteht, allerdings sind auch dritte Personen derart in die vertraglichen Schutz- und Obhutspflichten (vgl. § 241 Abs. 2 BGB) einbezogen, dass ihnen bei Verletzung derselben eigene Schadensersatzansprüche zustehen (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3 und 2, 241 Abs. 2 BGB). Die Vereinbarung ist daher genau darauf zu untersuchen, ob es sich um einen Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte handelt (§ 311 Abs. 3 S. 2 BGB). Ein Anspruch auf Schadensersatz entsteht, sofern • sich der Dritte in der Leistungsnähe des Vertrages befindet und der Schlechtleistung ebenso ausgesetzt ist, wie der Gläubiger; • sich das Schutzinteresse des Gläubigers auch auf den Dritten erstreckt; • der Schuldner dies erkennen konnte und • der Dritte schutzbedürftig ist.

Beispiel

Das Kind des Mieters M verletzt sich im Hausflur an einer scharfkantigen Bruchstelle des Treppenabgangs. Hier ist das Kind zwar nicht selbst Vertragspartei des Mietverhältnisses (§ 535 BGB), aber in den Vertrag einbezogen. Es befindet sich in Leistungsnähe des Mietvertrages, da es die Wohnung in gleicher Weise wie der M nutzt. Ferner erstreckt sich das Schutzinteresse des M auf das Wohl des Kindes, was auch der Vermieter erkennen kann. Insofern ist ein Ersatzanspruch gegeben. ◄

1.6.8 Verjährung und Verwirkung Jeder schuldrechtliche Anspruch unterliegt der Verjährung (§ 194 Abs. 1 BGB). Die Verjährung führt dabei nicht zum Erlöschen des Anspruchs, sondern der Schuldner hat lediglich das Recht, seine Leistung zu verweigern; ihm steht die Einrede der Verjährung zu (§ 214 Abs. 1 BGB). 279 Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt nach § 195 BGB drei Jahre. Sie beginnt grundsätzlich mit dem Schluss des Jahres zu laufen (31.12., 24:00 Uhr), in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen (§  199 Abs.  1 BGB). Entstanden ist ein Anspruch, sobald er geltend gemacht werden kann, also im Zeitpunkt der Fälligkeit. Bei einigen Ansprüchen gelten nach dem Gesetz andere Anknüpfungen (z. B. Abnahme, § 634a Abs. 2 BGB) oder andere Verjährungsfristen (z. B. §§ 196, 197, 199 Abs. 2, 438, 634a BGB). Insofern müssen immer die anspruchsbezogenen Tatbestände genau überprüft werden, ob dort modifizierende Regelungen enthalten sind. 278

1.6 Vertrag

103

Beispiel

Der K erwirbt bei dem Verkäufer V eine Schrankwand, die er am 10.10. abholt. Da nichts anderes vereinbart wurde, ist der Kaufpreisanspruch sofort fällig (§ 271 BGB). Die Verjährung dieses Zahlungsanspruchs beginnt mit dem Schluss des Jahres, in welchem der Kauf getätigt wurde (31.12., 24:00 Uhr). Die Werkstatt W hat am 10.10. eine Reparatur am Fahrzeug des F erbracht. Mit der Abnahme des F am 11.10. ist nicht nur der Werklohn fällig (§§ 641, 631 Abs. 1 BGB). sondern es beginnt auch die Verjährungsfrist für Mängelrechte des Bestellers Verjährungsfrist für Mängelrechte des Bestellers (§§  634a Abs.  2, 634a Abs. 1 Nr. 1 BGB). ◄ Die kenntnisabhängige Regelverjährung nach § 199 Abs. 1 BGB wird in § 199 Abs.  2, 3 BGB durch zwei verschiedene kenntnisunabhängige Verjährungsfristen modifiziert. Hiernach verjähren  – unabhängig vom Wissen oder verschuldeten Nichtwissen des Gläubigers – z. B. Schadensersatzansprüche, die nicht auf einer Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen (§ 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB), und sonstige Ansprüche (§ 199 Abs. 4 BGB; z. B. Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung) spätestens zehn Jahre nach ihrer Entstehung. Der Beginn anderer Verjährungsfristen ist zudem in den §§ 200, 201 BGB geregelt. Bei Ansprüchen, die nicht der regelmäßigen Verjährung unterliegen (z. B. Anspruch auf Übertragung von Grundstückseigentum, vgl. § 196 BGB), beginnt die Verjährungsfrist direkt mit der Entstehung des Anspruchs (§ 200 S. 1 Hs. 1 BGB). Titulierte Ansprüche (§ 197 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 BGB) – es liegt bereits ein rechtskräftiges Urteil oder ein Vollstreckungsbescheid vor – verjähren nach § 201 BGB erst nach dreißig Jahren; solange kann aus dem Titel vorgegangen werden. Die Verjährung kann schließlich gehemmt sein (§§ 203–211 BGB) oder völlig neu beginnen (§ 212 BGB). Bei der Hemmung (z. B. durch Verhandlungen zwischen den Parteien über den Anspruch oder bei Erhebung einer Klage) läuft die Verjährungsfrist nach Beendigung der Hemmung weiter. Von der Verjährung ist die Verwirkung zu unterscheiden, nach welcher eine verspätete Rechtsausübung wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben (§  242 BGB) unzulässig sein kann. Zwar wird allein durch die Tatsache, dass ein Recht längere Zeit nicht ausgeübt wird, dessen Bestand nicht beeinträchtigt, doch kann seine Ausübung unzulässig sein. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verpflichtete aus dem Verhalten des Rechtsinhabers entnehmen musste, dass dieser sein Recht nun nicht mehr ausüben würde. Eine Verwirkung kommt daher in Betracht, wenn trotz einer noch laufenden, i. d. R. langen Verjährungsfrist der Verpflichtete nach dem Verhalten des Rechtsinhabers mit einer Inanspruchnahme nicht mehr rechnen musste und sich darauf eingerichtet hat bzw. einrichten durfte. Beispiel

Der Bankkunde K beschädigt in der Schalterhalle der B-Bank eine Vitrine. Dabei entsteht ein Schaden von 500 EUR, den K sofort ersetzen will. In der Bank ver-

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104

1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

tröstet man ihn jedoch mit den Worten: „Das ist alles halb so wild, falls wir an eine Schadensregulierung denken, werden wir uns schriftlich bei Ihnen melden.“ Erst nach zwei Jahren und elf Monaten verlangt die B-Bank den Schaden ersetzt. Der K muss jedoch nun nicht mehr zahlen, da die Ansprüche der B-Bank verwirkt sind. Zwar verjähren deliktische Schadensersatzansprüche nach §§ 195,  199 BGB in drei Jahren, d.  h. grundsätzlich besteht ein Anspruch der B-Bank. Doch wegen der Äußerung noch in der Schalterhalle, verbunden mit dem langen Zuwarten, durfte der K davon ausgehen, dass man die Sache auf sich beruhen lassen werde. Die Geltendmachung des Ersatzanspruchs verstößt gegen Treu und Glauben. ◄ Fragen

17. Wodurch unterscheiden sich Rücktritt und Kündigung voneinander? 18. A hat eine Kaufpreisforderung in Höhe von 7000 EUR gegen B. Am 1. März tritt er diese Forderung an die X-Bank ab. Weil einer seiner Gläubiger, der G, den A sehr bedrängt, tritt er diesem die gleiche Forderung am 2. März noch einmal ab. G ist überzeugt, dass A noch Inhaber der Forderung war. G eilt sofort zu B und kassiert die 7000 EUR. Als am 5. März die X-Bank von B Zahlung der ihr abgetretenen 7000  EUR verlangt, beruft er sich auf die Zahlung an G. Muss B noch einmal an die X-Bank zahlen?

1.7

 ösungen zu den Fragen: Allgemeiner Teil des BGB und L allgemeines Schuldrecht

1. Ein Rechtsgeschäft ist ein Rechtsakt, der eine gewollte Rechtsfolge hervorbringt. Man unterscheidet zwischen einseitigen und mehrseitigen Rechtsgeschäften und innerhalb der einseitigen zwischen den empfangsbedürftigen und den nicht empfangsbedürftigen. 2. „Rechtsgeschäft“ ist der Oberbegriff, der sich mit dem der Willenserklärung inhaltlich deckt, wenn es sich um ein einseitiges Rechtsgeschäft handelt; bei mehrseitigen Rechtsgeschäften allerdings darüber hinaus reicht. 3. Eine Willenserklärung besteht aus einem objektiven Tatbestand, dem äußeren Akt der Kundgabe des Willens (Erklärungstatbestand) und dem subjektiven Tatbestand, dem Willen des Erklärenden. Der subjektive Tatbestand setzt sich aus einem Handlungswillen, Erklärungswillen und einem Rechtsfolgen- bzw. Geschäftswillen zusammen. Der objektive und der subjektive Tatbestand stimmen bei einer fehlerfreien Willenserklärung in der Weise überein, dass der Erklärende das will, was er (objektiv gewertet) erklärt. 4. Eine empfangsbedürftige schriftliche Willenserklärung wird wirksam, wenn sie ordnungsgemäß abgegeben wurde und in den Machtbereich des Empfän-

1.7  Lösungen zu den Fragen: Allgemeiner Teil des BGB und allgemeines Schuldrecht

105

gers gelangt ist, so dass dieser unter normalen Umständen von ihr Kenntnis nehmen kann. 5. Der Vertrag ist die von den Vertragspartnern einverständlich getroffene Regelung eines Rechtsverhältnisses. Die Vertragschließenden stimmen in Herbeiführung eines von ihnen gemeinsam gewollten rechtlichen Erfolges überein. 6. Nein, denn B hat den Antrag des A nicht angenommen, sondern abgelehnt und ihrerseits einen (neuen) Antrag zum Abschluss eines Vertrages (Kaufpreis 11.000 EUR) an A gerichtet. Da A diesen Antrag nicht angenommen hat, ist kein Vertrag zustande gekommen. 7. B hätte einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises nach §  433 Abs.  2 BGB, wenn zwischen ihm und dem A ein Kaufvertrag über das Buch geschlossen worden wäre. In der Übersendung des Buches ist das Angebot zu einem entsprechenden Vertrag zu sehen. Eine Annahme durch den A erfolgt hier nicht ausdrücklich. Man könnte in der Eintragung der Randbemerkungen eine konkludente Annahme der Offerte sehen. Allerdings widerspricht das dem Zweck des § 241a Abs. 1 BGB, der Verbraucher vor der Belästigung durch die Zusendung unbestellter Waren schützen und gleichzeitig wettbewerbswidrige Handlungen von Unternehmern sanktionieren will. Ein Vertrag ist deshalb nicht zustande gekommen. B hat keinen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises. 8. Der Vertreter muss innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen eine eigene Willenserklärung abgeben oder für diesen empfangen. 9. Das Geschäft ist zunächst schwebend unwirksam und hängt im Hinblick auf seine Wirksamkeit von der Genehmigung des Vertretenen ab. Genehmigt er das Rechtsgeschäft, wird es für und gegen ihn gültig. Verweigert er die Genehmigung, ist das Rechtsgeschäft für den Vertretenen unwirksam; die Rechtsfolgen bestimmen sich im Übrigen nach § 179 BGB. 10. Der Kaufvertrag zwischen A und H ist wirksam zustande gekommen; die Minderjährigkeit des A steht dem nicht entgegen, da es sich um einen Fall des § 110 BGB handelt. Dass die Eltern des A auf die schriftliche Frage nach ihrem Einverständnis mit dem Vertrag nicht antworten, ändert an diesem Ergebnis nichts. Die Vorschrift des §  108 Abs.  2 BGB findet auf einen mit Einwilligung des gesetzlichen Vertreters geschlossenen Vertrag keine Anwendung. Die in § 110 BGB getroffene Regelung stellt eine besondere Form der konkludent erteilten Einwilligung des gesetzlichen Vertreters dar. 11. Es handelt sich um einen typischen Fall eines Erklärungsirrtums, weil A etwas erklärte (Kaufpreis 12.000  EUR), was er nicht wollte (er wollte 21.000 EUR angeben). Ein solcher Irrtum berechtigt zur Anfechtung gemäß §  119 Abs.  1 Alt.  2 BGB.  Diese Anfechtung soll dem Erklärenden die Möglichkeit eröffnen, sich von der Erklärung, die nicht seinem Willen entspricht, zu lösen. Ein schutzwürdiges Interesse an einer Anfechtung ist jedoch nicht anzuerkennen, wenn sich der Anfechtungsgegner bereit erklärt, die Willenserklärung so gelten zu lassen, wie der Irrende sie tatsächlich ge-

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1  Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts und Allgemeines Schuldrecht

wollt hat. Wenn also der B damit einverstanden ist, den gewünschten Kaufpreis zu zahlen, entfällt das Anfechtungsrecht des A. 12. Zwar liegt ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot vor (§ 263 StGB), welcher die Nichtigkeit des Vertrages nach sich ziehen könnte. Da der rechtliche ­Geschäftspartner aber dennoch ein Interesse an der Wirksamkeit des Vertrages haben kann, ist dieser nicht automatisch nichtig. Der Vertrag ist aber gem. §  123 BGB anfechtbar, so dass der Betrogene die Wirksamkeit des Vertrages selbst in der Hand hat. 13. Der nach dem Kaufvertrag dem K zustehende Anspruch auf Übergabe und Übereignung des PKW (§ 433 Abs. 1 BGB) erlischt nach § 275 Abs. 1 BGB, da V die Übergabe des PKW unmöglich geworden ist. K hat jedoch einen Anspruch nach § 285 Abs. 1 BGB auf Abtretung des dem V zustehenden Anspruchs gegen seinen Versicherer. K wird seinerseits von seiner Vertragspflicht zur Zahlung des vereinbarten Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB) nach § 326 Abs. 1 BGB frei; dies gilt jedoch nach § 326 Abs. 3 BGB nicht, wenn K den Anspruch nach § 285 Abs. 1 BGB geltend macht. 14. Gerät der Schuldner mit seiner Leistung in Verzug, dann kann der Gläubiger neben seinem Anspruch auf Erbringung der vertraglichen Leistung seinen Verzugsschaden nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB geltend machen. Wird Geld geschuldet, dann kann der Gläubiger nach § 288 BGB in jedem Fall (ohne Nachweis eines Schadens) die Verzinsung in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz verlangen. Der Gläubiger kann weiterhin dem Schuldner eine Frist zur Nacherfüllung setzen und nach deren erfolglosem Verstreichen Schadensersatz statt der Leistung verlangen (§  281 Abs.  1 BGB). Handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag, dann kann der Gläubiger auch vom Vertrag zurücktreten (§ 323 Abs. 1 BGB). 15. Der Gläubiger kommt in Verzug, wenn er die mögliche Leistung, die ihm der leistungsberechtigte Schuldner zur rechten Zeit, am rechten Ort und in der rechten Art und Weise anbietet, nicht annimmt. 16. Mit dem Betreten der Bank durch den A zum Zwecke einer Kontoeröffnung war zwischen A und der B-Bank ein vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB) zustande gekommen, das die B-Bank zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des A verpflichtete (§ 241 Abs. 2 BGB). Die B-Bank hat mit der mangelnden Befestigung des Teppichs schuldhaft (§ 276 BGB) diese Pflicht verletzt. Das war für die Verletzung des A und den hie­ raus entstandenen Schaden ursächlich, so dass die Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs nach § 280 Abs. 1 BGB vorliegen. 17. Der Rücktritt gestaltet das Vertragsverhältnis in ein Rückgewährschuldverhältnis um, das die Vertragsparteien verpflichtet, die bereits empfangenen Leistungen zurückzugewähren; noch bestehende Erfüllungsansprüche erlöschen. Die Kündigung beendet das Schuldverhältnis für die Zukunft; eine Rückabwicklung für die in der Vergangenheit vorgenommenen Leistungen findet nicht statt. 18. Die X-Bank kann von B nur Zahlung verlangen, wenn sie Inhaberin der Forderung ist. Die Forderung ist ihr durch Vertrag mit dem bisherigen Gläu-

1.7  Lösungen zu den Fragen: Allgemeiner Teil des BGB und allgemeines Schuldrecht

107

biger A am 1. März abgetreten worden; die Forderung bestand und stand A auch noch am 1. März zu. Die Forderung war auch bestimmt, sodass hinsichtlich ihrer Übertragung keine Bedenken bestehen. Die Voraussetzungen einer wirksamen Abtretung liegen vor, die X-Bank ist Forderungsinhaberin geworden (§ 398 BGB). –– Als A die Forderung am 2. März nochmals an G abtrat, war A nicht mehr Inhaber der Forderung. Es fehlt an einer wichtigen Voraussetzung der Abtretung, sodass diese zweite Abtretung an G unwirksam war; der gute Glaube des G an das Zustehen der Forderung wird nicht geschützt. –– Als der B an G zahlte, so zahlte er also nicht an den Gläubiger – Gläubigerin war die X-Bank – sondern an einen nichtberechtigten Dritten; es ist fraglich, ob er dennoch von seiner Schuld befreit wurde (§ 362 BGB). –– Da der Schuldner B bei Zahlung an G von der Abtretung an die X-Bank keine Kenntnis hatte, kann zu seinen Gunsten eine Schuldnerschutzvorschrift des Abtretungsrechts eingreifen. Es kommt § 408 Abs. 1 BGB in Betracht. Im Fallbeispiel wurde eine abgetretene Forderung noch einmal an einen Dritten – hier G – abgetreten. Der Schuldner B hat an den Dritten G geleistet. Nach § 408 Abs. 1 BGB finden zugunsten des Schuldners B die Vorschriften des § 407 BGB dem früheren Erwerber (= dem wirklichen neuen Gläubiger) gegenüber entsprechend Anwendung. Das heißt, dass die wirkliche Neugläubigerin, die X-Bank, die Zahlung des Schuldners B an den nichtberechtigten G gegen sich gelten lassen muss, wenn der B von der Abtretung an die X-Bank – wie hier – keine Kenntnis hatte. B muss somit nicht noch einmal an die X-Bank zahlen.

2

Besonderes Schuldrecht

Während im vorangegangen Kapitel noch ganz allgemein die Grundlagen des Ver- 285 trages, insbesondere seine Bestandteile, dessen Entstehung, Gestaltung, Störung und Beendigung behandelt wurde, geht es in dem nun folgenden Kapitel darum darzustellen, welche wichtigen Vertragsarten es gibt. Dabei werden nicht nur die gesetzlich geregelten Vertragsformen betrachtet (z. B. Kauf-, Werk- und Dienstvertrag), sondern auch die sog. „arteigenen“ und „gemischten Verträge“(z. B. Leasing und Factoring). Sie sind Folge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, für die das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 keine speziellen Regelungen bereithält, sondern die im Wesentlichen von den Vertragsschließenden rechtlich ausgestaltet werden. Je nach Art der Hauptleistungspflichten lassen sich verschiedene Vertragstypen unterscheiden: • • • • • •

Veräußerungsverträge (Kauf, Schenkung), Gebrauchsüberlassungsverträge (Miete, Leihe, Leasing), Dienst- und Werkleistungsverträge, Geschäftsbesorgungsverträge, Geld- und Kreditverträge (Darlehen) oder Schuldsicherungsverträge.

Die vorgenannten Vertragstypen werden Sie nach Abschluss des Kapitels kennen gelernt haben, wenngleich sie entsprechend ihrer Bedeutung für den Wirtschaftsalltag zum Teil ausführlicher (Kauf-, Werk-, Finanzierungs- und Sicherungsgeschäfte) und zum Teil nur überblicksartig vorgestellt werden. Am Ende des Kapitels werden Sie wissen, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Zielsetzung die verschiedensten Verträge geschlossen werden, welche besonderen Rechte und Pflichten (insbesondere Mängel- bzw. Gewährleistungsrechte) sich aus ihnen ableiten, in welcher Weise sich die Beteiligten wieder von ihnen lösen können und welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_2

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2  Besonderes Schuldrecht

2.1 Kaufvertrag 2.1.1 Zustandekommen und Inhalt des Kaufvertrages Beim Kaufvertrag, der die rechtliche Grundlage für den wirtschaftlichen Austausch von Kaufgegenständen gegen Geld bildet und zu den wichtigsten Vertragsarten zählt, handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag. Durch ihn verpflichtet sich der Verkäufer zur Übergabe und Übereignung des Kaufgegenstandes (§  433 Abs.  1  BGB), der Käufer zur Abnahme des Kaufgegenstandes und Zahlung des Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB). Das Zustandekommen eines Kaufvertrages setzt daher die Einigung der Parteien über den Kaufgegenstand und den Kaufpreis voraus, die zumeist formfrei erfolgen kann und nur in Ausnahmefällen einer besonderen Form bedarf (z. B. notarielle Beurkundung nach § 311b Abs. 1 S. 1 BGB bei Grundstückskaufverträgen). 287 Gegenstand eines Kaufvertrages können bewegliche und unbewegliche Sachen (§ 433 Abs. 1 BGB), Rechte und sonstige Gegenstände (§ 453 Abs. 1 BGB) sein (Abb. 2.1). 288 Von einem Sachkauf spricht man beim Kauf von beweglichen Sachen in allen erdenklichen Aggregatzuständen (z. B. Baumaterial, Maschinen und technische Geräte, Warenlager, Flüssigkeiten) sowie Sachgesamtheiten (z. B. Briefmarkensammlung). Ferner können Tiere (§ 90a BGB) sowie unbewegliche Sachen (Immobilien, bebaute und unbebaute Grundstücke) Gegenstand eines Sachkaufs sein. Wird ein Kaufgegenstand von den Vertragsparteien durch individuelle Merkmale konkret bestimmt, liegt ein sog. „Stückkauf“ (auch „Spezieskauf“) vor. Ist der Kaufgegenstand nur der Gattung nach bestimmt, handelt es sich um einen sog. Gattungskauf (= Genuskauf). 286

Beispiel

Bestellt der Bankkunde K am Schalter anhand eines Kataloges eine Gedenkmünze, so handelt es sich um einen Gattungskauf. Sieht er allerdings in der Vitrine im Schalterraum eine gebrauchte oder individuell verzierte Gedenkmünze und wählt gerade diese als Kaufobjekt aus, so liegt ein Stückkauf vor. ◄

.DXIJHJHQVWDQG 5HFKWH 5HFKWVNDXI

6DFKHQ6DFKJHVDPWKHLWHQ 6DFKNDXI

*DWWXQJVNDXI

Abb. 2.1 Kaufgegenstände

6WFNNDXI

6RQVWLJH YHUP|JHQVZHUWH 3RVLWLRQHQ

2.1 Kaufvertrag

111

Der Rechtskauf hat die Übertragung von Rechten, wie z. B. Forderungen, Wert- 289 papieren, Gesellschaftsanteilen, Erbbau- oder Grundpfandrechten zum Gegenstand. Dabei ist die Abgrenzung zwischen einem Rechts- und einem Sachkauf zuweilen schwierig. So handelt es sich beispielsweise beim Kauf von Wertpapieren primär um einen Rechtskauf; allerdings liegt hinsichtlich der Papiere als solche gleichzeitig auch ein Sachkauf vor. Als sonstige vermögenswerte Positionen können z. B. Geschäftsgeheimnisse, 290 ein Kundenstamm oder auch ein Unternehmen als Ganzes Gegenstand eines Kaufvertrages sein.

2.1.2 Pflichten der Vertragsparteien 2.1.2.1 Verkäufer Die Hauptpflicht des Verkäufers besteht bei einem Sachkauf darin, dem Käufer 291 die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu übergeben und dem Käufer das Eigentum an der Kaufsache zu verschaffen (§ 433 Abs. 1 BGB). Der Verkäufer ist verpflichtet, dem Käufer den unmittelbaren Besitz an der veräußerten Sache (Sachherrschaft i. S. des § 854 Abs. 1 BGB) einzuräumen, wobei abweichende Vereinbarungen möglich sind (§ 854 Abs. 2). Zudem muss er das Eigentum verschaffen, wobei sich die Eigentumsübertragung unabhängig vom Kaufvertrag nach sachenrechtlichen Regeln vollzieht (Abb.  2.2). Bei beweglichen Sachen erfolgt sie durch Einigung (über den Übergang des Eigentums) und Übergabe gemäß §§ 929 ff. BGB, bei unbeweglichen Sachen (Grundstücken) durch Einigung und Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch gemäß § 873 BGB (Kap. 4). An dieser Stelle sei nochmals auf das sog. Abstraktionsprinzip hingewiesen, wonach das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft, durch welches sich die Vertragsparteien zur Erbringung ihrer Leistungen verpflichten (hier der Kaufvertrag), vom Kaufvertrag und Eigentumsübertragung

Verkäufer

Kaufvertrag gem. § 433 BGB

wird Eigentümer des Geldes

Eigentumsübertragung gem. § 929 ff. BGB

ist Eigentümer der Kaufsache

Eigentumsübertragung gem. § 929 ff. BGB

Übergabe und Übereignung des Geldes

Übergabe und Übereignung der Kaufsache

Abb. 2.2  Kaufvertrag und Eigentumsübertragung

Käufer

ist Eigentümer des Geldes

wird Eigentümer der Kaufsache

112

2  Besonderes Schuldrecht

sachenrechtlichen Verfügungsgeschäft abzugrenzen ist, auch wenn erst die wirksamen Verfügungen die Verpflichtung des Verkäufers aus § 433 Abs. 1 BGB erfüllen. Zumeist fallen Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft beim Sachkauf zeitlich zusammen; die Kaufsache wird dem Käufer direkt übergeben, so dass dieser den Besitz, also die tatsächliche Gewalt über die Sache (§ 854 BGB) erlangt und zudem das Eigentum durch Einigung nach § 929 BGB erwirbt. Beispiel

A kauft in der Buchhandlung des B ein Lehrbuch zum bürgerlichen Recht. Das Buch wird dem A noch im Geschäft übergeben und übereignet. ◄ Es kann aber auch Konstellationen geben, in denen das Verfügungsgeschäft zeitverschoben erst nach dem Abschluss des Kaufvertrages, also des Verpflichtungsgeschäftes, erfolgt. Beispiel

Das Buch ist in der Buchhandlung nicht mehr vorrätig und muss daher von B beim Großhändler bestellt werden. Der Kaufvertrag ist mit der verbindlichen Bestellung des A und der erklärten Bereitschaft des B, es für A zu beschaffen, zustande gekommen (Einigung nach §§  433, 145  BGB). Die Übereignung (§ 929 BGB) und mit ihr die Erfüllung der Verkäuferpflicht aus § 433 Abs. 1 BGB kann erst an einem der nächsten Tage erfolgen, wenn das Buch tatsächlich an A übergeben und übereignet werden kann. ◄ 292

Beim Rechtskauf ist der Verkäufer verpflichtet, dem Käufer das Recht frei von Rechtsmängeln zu verschaffen (§§ 453 Abs. 1, 433 Abs. 1 BGB). Sofern das veräußerte Recht zum Besitz einer Sache berechtigt, ist zudem die Sache mangelfrei zu übergeben. Auch beim Rechtskauf ändert der Kaufvertrag, d. h. das Verpflichtungsgeschäft, allein noch nichts an der Rechtsinhaberschaft, als der Befugnis, über das Recht verfügen zu können. Das Recht ist zwar verkauft, aber noch nicht übertragen. Der Verkäufer erfüllt seine Verpflichtung erst durch die Abtretung der Forderung gemäß §§  398  ff.  BGB; die Abtretung ist also das Verfügungsgeschäft, welches beim Rechtskauf neben den Kaufvertrag tritt. Beispiel

Der A hat eine Mietzinsforderung gegen seinen Mieter M. Da er schnell Geld benötigt, verkauft er diese Forderung an seinen Nachbarn B (§ 453 Abs. 1, 433 Abs. 1 BGB). Damit der B auch darüber verfügen kann, muss A dem B die Forderung außerdem abtreten (§ 398 BGB). ◄ 293

Neben die Hauptpflichten aus § 433 Abs. 1 BGB treten mitunter sog. Nebenpflichten, die sich aus dem Gesetz (z.  B.  Kostentragung bei Übergabe, §  448 Abs. 1 BGB), besonderen Vereinbarungen (z. B. betreffend die Art und Weise der

2.1 Kaufvertrag

113

Verpackung) oder allgemein aus Treu und Glauben ergeben können. Zu Letzterem gehören insbesondere Aufklärungs- und Informationspflichten (z.  B.  Belehrung über den Gebrauch einer Sache, Warnung vor Gefahren) sowie Schutz- und Sorgfaltspflichten (z. B. Pflege, Obhut und Verwahrung, wenn die Kaufsache erst später abgeholt wird).

2.1.2.2 Käufer Die Hauptpflicht des Käufers besteht darin, dem Verkäufer den vereinbarten 294 Kaufpreis zu zahlen und – beim Sachkauf – die gekaufte Sache auch abzunehmen (§ 433 Abs. 2 BGB). Die Abnahmepflicht ist eigentlich nur eine leistungsbezogene Nebenpflicht; sie kann jedoch zur Hauptleistungspflicht werden, wenn dies ausdrücklich vereinbart wurde oder wenn es dem Verkäufer erkennbar auf die Abnahme ankommt (z. B. wegen hoher Lagerkosten oder verderblicher Ware). Neben die Abnahmepflicht können weitere Nebenpflichten des Käufers treten, 295 insbesondere Kostentragungspflichten, sofern dies im Gesetz angeordnet und nicht vertraglich abbedungen ist (z.  B.  Beurkundungs- und Auflassungskosten, §  448 Abs. 2 BGB).

2.1.3 Gefahrtragung bei Untergang der Kaufsache Es kann durchaus vorkommen, dass eine gekaufte Sache ohne Verschulden des Ver- 296 käufers oder Käufers untergeht, bevor der Kaufvertrag abgewickelt ist. Dann stellt sich die Frage, wer das Risiko des Untergangs trägt? Der Käufer, er müsste dann den Kaufpreis zahlen, ohne etwas dafür zu erhalten oder der Verkäufer, er würde keinen Kaufpreis erhalten, hätte allerdings auch die Kaufsache verloren? Das Kaufrecht hält hier besondere Vorschriften vor, die das allgemeine Leistungsstörungsrecht (Abschn. 1.6.5.2) ergänzen. Nach dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht – um es kurz zu wiederholen – 297 gilt, dass das Risiko der Unmöglichkeit regelmäßig der zur Leistung Verpflichtete trägt. Geht der Kaufgegenstand (Stückschuld) unter, wird der Verkäufer von seiner Leistungspflicht frei (§ 275 Abs. 1 BGB). Der Käufer trägt die sog. Leistungsgefahr (er erhält nichts). Die Preis- bzw. Gegenleistungsgefahr trifft dagegen den Verkäufer, da er im Falle der Unmöglichkeit seiner Leistung nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB seinen Kaufpreisanspruch verliert (§ 326 Abs. 1 BGB). Denn: Kann der Verkäufer nicht mehr leisten, dann soll ihm auch kein Anspruch auf den Kaufpreis zustehen (Abschn. 1.6.5.1). Diese allgemeinen Prinzipien zur Preis- bzw. Gegenleistungsgefahr werden 298 durch die §§ 446, 447 BGB im Kaufrecht durchbrochen, sofern der zufällige Untergang eintritt, wenn • die Kaufsache bereits übergeben, aber noch nicht übereignet wurde (§  446 S. 1 BGB); • die Kaufsache bei einem Versendungskauf bereits an die jeweilige Transportperson ausgehändigt wurde (§ 447 Abs. 1 BGB).

114

2  Besonderes Schuldrecht

In den beiden Fallkonstellationen hat der Verkäufer seine Leistungspflichten gegenüber dem Käufer noch nicht vollständig erfüllt, das Eigentum ist noch nicht verschafft, sodass er eigentlich auch das Risiko des zufälligen Untergangs zu tragen hätte, er seinen Kaufpreisanspruch verlieren müsste. Aber nach Auffassung des Gesetzgebers sind in den vorgenannten Konstellationen die Übergabehandlungen bereits so weit vorangeschritten, dass die Gefahr des zufälligen Untergangs bereits im Verantwortungsbereich des Käufers liegen soll. Daher soll der Käufer (anstelle des Verkäufers) die Preisgefahr tragen und die Gegenleistung erbringen müssen. Dies gilt nach §§ 474 Abs. 2, 475 Abs. 2 BGB nicht bei einem Verbrauchsgüterkauf (Abschn. 2.1.5). 299 Die Sonderregelung des § 446 S. 1 BGB betrifft den Fall, dass die Kaufsache zwar übergeben, d. h. Besitz übertragen worden ist, aber ein Eigentumsübergang noch nicht erfolgt ist. Typisch ist der Kauf unter Eigentumsvorbehalt nach 449 Abs. 1 BGB. Beispiel

Der V lieferte dem K am 1.2. eine Computeranlage. Da der K noch nicht bezahlen kann, behält sich der V bei Übergabe sein Eigentum vor (§ 449 BGB). Am 5.2. wird die Anlage durch ein Feuer, das weder V noch K zu vertreten haben, zerstört. V kann dem K nun kein Eigentum mehr verschaffen, so dass er nach § 275 Abs. 1 BGB von seiner Leistungspflicht frei geworden ist. Nach den allgemeinen Grundsätzen würde V nun auch seinen Anspruch auf die Gegenleistung verlieren und der K von seiner Zahlungspflicht befreit (§ 326 Abs. 1 BGB). Wegen der Sonderregelung in § 446 S. 1 BGB bleibt der K jedoch weiter zur Kaufpreiszahlung verpflichtet. Mit der Übergabe der Kaufsache ist nämlich die Preisgefahr schon auf ihn übergegangen. ◄ 300

Wird eine Sache nicht unmittelbar vom Verkäufer an den Käufer übergeben, sondern eine Transportperson eingeschaltet, ist §  447  BGB angesprochen, der bestimmt: Versendet der Verkäufer die Sache auf Verlangen des Käufers an einen anderen Ort als dem Erfüllungsort, tritt der Gefahrübergang ein, sobald der Verkäufer die Sache dem Spediteur, dem Frachtführer oder an eine andere ordnungsgemäß ausgewählte Transportperson (z. B. Post, DHL) übergibt (§ 447 Abs. 1 BGB). Typisch ist der Versendungskauf, d. h. wenn sich der Käufer die Waren zuschicken lässt. Beispiel

Die S-Bank in München kauft Möbel bei M in Hamburg. Auf Wunsch der S-Bank werden die Möbel mit einer Spedition nach München geliefert. Auf der Fahrt verunglückt der LKW – die Möbel sind zerstört. M wird von seiner Leistungspflicht frei, da die Stücksachen (konkretisierte Gattungssachen „Möbel“) nach Vertragsschluss untergegangen ist (§  275 Abs.  1  BGB). Es stellt sich die Frage nach der Gegenleistung. Nach §  326 Abs. 1 BGB wäre auch der Käufer von seiner Gegenleistung befreit, weil auch er den Untergang der Möbel nicht zu verschulden hat. Allerdings macht §  447 Abs. 1 BGB hiervon eine Ausnahme. Die Preis- oder Gegenleistungsgefahr geht

2.1 Kaufvertrag

115

auf den Käufer über, wenn M die Möbel dem Spediteur übergibt. Daher muss M nicht mehr liefern, erhält aber den Kaufpreis von der S-Bank. Die S-Bank kann sich im Hinblick auf ihren Schaden (Verlust in Höhe des Kaufpreises) an die Spedition halten (§§ 281 BGB, 461 HGB). ◄

2.1.4 Mängelhaftung des Verkäufers 2.1.4.1 Voraussetzungen der Mängelhaftung Im Kaufrecht gibt es ein spezielles Leistungsstörungsrecht für Fälle, in denen der 301 Verkäufer schlecht oder anders als vereinbart leistet. Dieses kaufrechtliche (Mängel-)Gewährleistungsrecht ist in den §§ 434 ff. geregelt. Es baut auf dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht auf (Abschn. 1.6.5), da dem Verkäufer ebenfalls eine vertragliche Pflichtverletzung vorzuwerfen ist – er leistet jetzt zwar und auch rechtzeitig, allerdings weist der Kaufgegenstand entgegen § 433 Abs. 1 S. 2 BGB Sachoder Rechtsmängel auf. § 434 BGB definiert nicht direkt was ein Mangel ist, sondern beschreibt umge- 302 kehrt, wann bei einer Kaufsache zumindest kein Mangel vorliegt, nämlich wenn sie den subjektiven, den objektiven und den Montageanforderungen entspricht. Umgekehrt hat die Kaufsache gemäß § 434 Abs. 1  BGB einen Sachmangel, wenn sie bei Gefahrübergang diese Anforderungen nicht aufweist, d.h. gerade nicht den subjektiven, den objektiven und den Mängelanforderungen entspricht. In subjektiver Hinsicht ist das der Fall, wenn sie aus der Sicht des Käufers negativ von dem Zustand abweicht, den die Parteien bei Abschluss des Kaufvertrages ausdrücklich oder konkludent vereinbart haben, eine Abweichung der „Ist“- von der „Soll“-Beschaffenheit vorliegt (§ 434 Abs. 2 Nr. 1). Beispiel

Im Kaufvertrag zwischen dem Hersteller H und dem Zulieferer Z werden in einem Lastenheft die Größe und das Material der zu liefernden Metallbolzen genau beschrieben. Weicht die Größe der gelieferten Metallbolzen von den Angaben im Lastenheft ab, liegt ein Sachmangel vor. ◄ Gerade bei alltäglichen Geschäften wird über die Beschaffenheit der Kaufsache 303 oftmals nicht gesprochen, sondern  – wenn überhaupt  – darüber, „was die Sache können soll“. Deswegen wird beim Fehlen einer konkreten Vereinbarung zur Beschaffenheit ein Sachmangel auch dann angenommen, wenn sich die Kaufsache nicht für die vertraglich vereinbarte Verwendung eignet (§  434 Abs.  2 Nr. 2 BGB). Beispiel

Der Zulieferer Z liefert Bauteile und Metallbolzen, die der Hersteller H in seinem Werk zusammenfügt. Wurde keine Vereinbarung zur exakten Größe der Metallbolzen getroffen, können diese mangelhaft sein, wenn sie sich ob ihrer Größe nicht zur Montage der Bauteile eignen. ◄

116

304

2  Besonderes Schuldrecht

Haben die Parteien weder über die Beschaffenheit noch über den Verwendungszweck gesprochen, bestimmt sich die Soll-Beschaffenheit nach objektiven Kriterien. Abzustellen ist dann u.a.  auf die Eignung zur gewöhnlichen Verwendung (§ 434 Abs. 3 Nr. 1 BGB) oder die übliche Beschaffenheit. Danach ist die Kaufsache z.B. sachmangelfrei, wenn sie eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen gleicher Art üblich ist und deshalb von einem Durchschnittskäufer erwartet werden kann. Die objektiven Anforderungen an die Kaufsache können sich ferner aus einem zuvor erhaltenen Muster ableiten (§ 434 Abs. 3 Nr. 3 BGB) oder aus einer allgemeinen durchschnittlichen Käufererwartung (§ 434 Abs. 3 Nr. 4 und 5 BGB). Beispiel

Der K kauft beim Händler H eine Ölwanne für sein Fahrzeug. Sollte sich herausstellen, dass die Ölwanne leckt, liegt ein Sachmangel vor, da der Kaufsache die Eignung zur gewöhnlichen Verwendung fehlt. Der K erwirbt ein Radiogerät. Beim Auspacken stellt er fest, dass das Steckdosenkabel, also ein objektiv erwartbares Zubehörteil fehlt. ◄ 305

Die Erwartung eines Käufers wird auch durch die Art und Weise beeinflusst, wie ein Produkt beworben wird. Deswegen erstreckt sich die Gewährleistungshaftung nach § 434 Abs. 3 Nr. 2 b) BGB auch auf die schutzwürdige Erwartungshaltung des Käufers, die dieser aufgrund öffentlicher Äußerungen und Werbeaussagen des Verkäufers, des Herstellers oder dessen Gehilfen erworben hat. Die Kaufsache muss daher die Eigenschaften besitzen, die der Käufer nach öffentlichen bzw. werblichen Aussagen (z. B. Werbespots, Plakate, Flyer) erwarten durfte, andernfalls liegt ein Sachmangel vor. Werbung, die keinen Eigenschaftsbezug aufweist oder die erkennbar nicht ernst gemeint ist („Red Bull verleiht Flügel“), begründet keine Haftung. Ebenso ist der Verkäufer nicht haftbar, wenn er die Äußerungen nicht kannte oder nicht kennen musste (§ 434 Abs. 3 S. 3 BGB). Beispiel

Der Automobilhersteller A preist seine neue Fahrzeugklasse auf Werbeplakate mit einem Kraftstoffverbrauch von 4 l auf 100 km an, weshalb der K ein Fahrzeug von A erwirbt. Sollte sich herausstellen, dass die Fahrzeuge im allgemeinen Durchschnitt 6 l auf 100  km verbrauchen, liegt ein Sachmangel vor (BGHZ 132, 55). Da nach § 434 Abs. 1 BGB die subjektiven und objektiven Anforderungen an die Kaufsache kumulativ vorliegen müssen, kann es sein, dass eine Sache zwar die zwischen Käufer und Verkäufer vereinbarte Beschaffenheit hat, aber sich nicht zur gewöhnlichen Verwendung eignet. In einem solchen Fall wäre sie als mangelhaft einzustufen. ◄ 306

 § 434 Abs. 4 BGB stellt schließlich auf die Montageanforderungen ab. Danach muss die Kaufsache, um als mangelfrei zu gelten, obendrein sachgemäß montiert werden. Erfolgt die Montage unsachgemäß, steht der Fehler bei der Montage des Kaufgegenstandes durch den Verkäufer oder seinem Erfüllungsgehilfen einem

2.1 Kaufvertrag

117

subjektiven oder objektiven Sachmangel gleich, selbst wenn durch die unsachgemäße Montage die Beschaffenheit der eigentlichen Kaufsache nicht beeinträchtigt wird. Handelt es sich um einen Kaufgegenstand, den der Käufer selbst montieren soll, liegt ein Sachmangel vor, wenn die Montageanleitung fehlerhaft ist und die Montage deshalb nicht fehlerfrei erfolgen konnte (§ 434 Abs. 4 Nr. 2 BGB).   Beispiel

V verkauft dem K einen Indoor-Whirlpool und übernimmt dessen Installation, wobei er den Wasseranschluss unsachgemäß montiert. Deshalb dringt Wasser in die Technikeinheit des Pools ein und führt zur Beschädigung des Heizmoduls. ◄ Weiterhin steht es nach § 434 Abs. 5 BGB einem Sachmangel gleich, wenn der 307 Verkäufer eine andere Sache (= Aliudlieferung) oder eine zu geringe Menge liefert. Schließlich ist es erforderlich, dass der Sachmangel „bei Gefahrübergang“ vor- 308 liegt (§ 434 Abs. 1 S. 1 BGB). Für Mängel, die erst nach Gefahrübergang auftreten, muss der Verkäufer nicht einstehen. Zeitpunkt des Gefahrübergangs ist regelmäßig die Übergabe der Kaufsache an den Käufer oder die Schlüsselübergabe (Gedanke des § 438 Abs. 2 BGB) bzw. Eintragung ins Grundbuch bzw. Register (§ 446 BGB). Beim Versendungskauf findet der Gefahrübergang bei Übergabe an die Transportperson statt (§ 447 BGB). Mitunter ist es für den Käufer allerdings schwer, zu beweisen, dass der Sachmangel schon bei der Übergabe vorhanden war. Deshalb hält das Gesetz mit § 477 BGB eine Sonderregel für den sog. Verbrauchsgüterkauf (Abschn. 2.1.5) vor. Danach wird vermutet, dass der Sachmangel bei Gefahrübergang vorgelegen hat, sofern er sich in den ersten 6 Monaten nach Vertragsschluss zeigt. Das gilt allerdings nicht mehr, wenn die Vermutung mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar ist (z. B. bei leicht verderblicher Ware oder einem Unfallschaden bei einem Neufahrzeug). Von einem Rechtsmangel ist auszugehen, wenn ein Dritter in Bezug auf den 309 Kaufgegenstand Rechte gegen den Käufer geltend machen kann, die der Käufer im Kaufvertrag nicht übernommen hat (§ 435 S. 1 BGB). In Betracht kommen u. a. Eigentums-, Besitz- und Gebrauchsrechte Dritter (z.  B.  Pfandrecht, Grundpfandrecht, Immaterialgüterrecht), ebenso schuldrechtliche Verpflichtungen, die dem Käufer nun entgegengehalten werden können (z.  B.  Rechte des Mieters „Kauf bricht Miete nicht“). Einem Rechtsmangel steht es ferner gleich, wenn im Grundbuch ein Recht eingetragen ist, das nicht besteht (§ 435 S. 2 BGB). Wurden bei einem Kaufvertrag über eine Forderung (Rechtskauf i. S. der §§ 453 Abs. 1, 433 BGB) keine weiteren Vereinbarungen im Kaufvertrag getroffen, haftet der Verkäufer nur für deren rechtlichen Bestand (Verität), nicht jedoch auch für deren tatsächliche Durchsetzbarkeit (Bonität). Beispiel

V verkauft dem K ein Grundstück, das mit einem Nießbrauchrecht des N belastet ist. V verkauft dem K ein Grundstück mit Obstbäumen zur freien Nutzung, das der P noch für zwei Jahre gepachtet hat (§§ 581 Abs. 2, 566 BGB). ◄

118

2  Besonderes Schuldrecht

2.1.4.2 Die Rechte des Käufers im Rahmen der Mängelhaftung Verletzt der Verkäufer seine Verpflichtung aus dem Kaufvertrag, weil er eine mangelhafte Sache liefert, stehen dem Käufer die Gewährleistungsrechte aus § 437 BGB zu, sofern sie nicht vertraglich ausgeschlossen wurden (z. B. in AGB) oder deren Inanspruchnahme verjährt ist (§  438  BGB). Danach kann der Käufer entweder Nacherfüllung verlangen (§ 437 Nr. 1 BGB), vom Vertrag zurücktreten (§ 437 Nr. 2 BGB), den Kaufpreis mindern (§ 437 Nr. 2 BGB) oder Schadens-/Aufwendungsersatz (§ 437 Nr. 3 BGB) verlangen. 311 Auch wenn es aus § 437 BGB nicht direkt ersichtlich wird, muss der Käufer bei der Geltendmachung seiner Ansprüche eine bestimmte Reihenfolge einhalten. Auf der ersten Stufe ist die Nacherfüllung zu begehren, da der Gesetzgeber dem Verkäufer zunächst einen weiteren Erfüllungsversuch gestattet („Recht zur zweiten Andienung“). Erst wenn die Nacherfüllung abgelehnt wird oder scheitert, kann der Käufer auf einer zweiten Stufe wahlweise Rücktritt, Minderung oder Schadensersatz geltend machen. 312 Der Anspruch auf Nacherfüllung (§§ 437 Nr. 1, 439 BGB) gilt gewissermaßen als Fortsetzung des ursprünglichen Anspruchs auf mangelfreie Lieferung. Der Käufer kann nach seiner Wahl Nachbesserung (Beseitigung des Mangels im Sinne einer Reparatur) oder Ersatzlieferung (Lieferung einer mangelfreien Sache) verlangen (§ 439 Abs. 1 BGB). Begehrt der Käufer Ersatzlieferung, muss er die mangelhafte Sache an den Verkäufer zurückgeben (§§ 439 Abs. 6, 346 Abs. 1 BGB). Weiterhin schuldet er dem Verkäufer eine Nutzungsvergütung, wenn er die mangelhafte Sache trotz des Mangels benutzt hat (§§ 439 Abs. 6, 346 Abs. 1 und 2 BGB). Der Verkäufer trägt die mit der Nacherfüllung verbundenen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten (§ 439 Abs. 2 BGB). Er kann zudem die vom Käufer gewählte Form der Nacherfüllung verweigern, wenn sie für ihn unmöglich geworden (§ 275 Abs. 1 BGB) oder mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden ist (§ 439 Abs. 4 BGB). In einem solchen Fall verbleibt dem Käufer zunächst die andere Art der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 4 S. 3 BGB) sowie alle weiteren in § 437 BGB genannten Gewährleistungsrechte. 313 Der Käufer kann nach §§ 437 Nr. 2 Alt. 1, 440, 323 Abs. 1 BGB den Rücktritt vom Vertrag erklären und damit die Rückabwicklung der erbrachten Leistungen verlangen. Allerdings muss zuvor gemäß § 323 Abs. 1 BGB eine angemessene Frist zur Nacherfüllung (= das Überwinden der ersten Stufe) gesetzt worden sein. Diese Fristsetzung ist entbehrlich, wenn: 310

• der Verkäufer die Nacherfüllung ernsthaft und endgültig verweigert (§  323 Abs. 2 Nr. 1 BGB), • es sich um ein Fixgeschäft handelt (§ 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB), • besondere Umstände (z.  B. mangelhafte Saisonware) den sofortigen Rücktritt rechtfertigen (§ 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB), • es offensichtlich ist, dass die Nacherfüllung nicht in angemessener Zeit erfolgen wird (§ 323 Abs. 4 BGB), • die Nacherfüllung unmöglich ist (§ 326 Abs. 5 BGB), • der Verkäufer die Nacherfüllung unter Hinweis auf den unverhältnismäßigen Aufwand verweigert (§ 440 S. 1 Alt. 1 BGB),

2.1 Kaufvertrag

119

• die Nacherfüllung fehlgeschlagen (dies wird bei dem zweiten erfolglosen Versuch der Nachbesserung angenommen, § 440 S. 2 BGB) oder dem Käufer nicht zuzumuten ist (§ 440 S. 1 Alt. 2 BGB). Ein Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn es sich um einen unerheblichen Mangel handelt (§ 323 Abs. 5 S. 2 BGB; z. B. fehlender Aschenbecher bei einem Neuwagenkauf zum Preis von 135.000 EUR). Nach erfolgtem Rücktritt sind die empfangenen Leistungen jeweils zurückzugewähren gem. § 346 Abs. 1 BGB. Möchte der Käufer die Sache trotz des Mangels behalten, so kann er den Kauf- 314 preis mindern (§§  437 Nr.  2 Alt. 2, 441  BGB). Das Minderungsverlangen wird hinsichtlich seiner Voraussetzungen dem Rücktritt gleichgestellt, sodass auch hier grundsätzlich eine Fristsetzung zur Nacherfüllung vorangehen muss (= das Überwinden der ersten Stufe; § 441 Abs. 1 BGB). Gemindert werden kann jedoch auch bei unerheblichen Mängeln (§ 441 Abs. 1 S. 2 BGB). Der geminderte Kaufpreis wird nach §  441 Abs.  3  BGB berechnet. Danach verhält sich der Kaufpreis zum geminderten Preis wie der Wert ohne Mangel zum Wert mit Mangel:



Kaufpreis mit Mangel ( = geminderter Kaufpreis ) Wert mit Mangel = Wert ohne Mangel Kaufpreis ohne Mangel ( = vereinbarter Kaufpreis ) Geminderter Preis =



Wert mit Mangel × vereinbarter Kaufpreis Wert ohne Mangel

Beispiel

V und K schließen einen Kaufvertrag über einen Aktenvernichter, der in mangelfreiem Zustand 100 EUR wert ist. Der Kaufpreis soll 80 EUR betragen; K bezahlt sofort. Der Aktenvernichter ist allerdings – wie sich herausstellt – mangelhaft, sein Wert beträgt nur noch 50  EUR.  K verlangt die Minderung des Kaufpreises, womit sich V einverstanden erklärt. Nach § 441 Abs. 3 BGB beträgt der geminderte Preis 40 EUR. Da der K bereits den vollen Kaufpreis gezahlt hat, kann er den überzahlten Differenzbetrag in Höhe von 40  EUR zurückfordern, § 441 Abs. 4 S. 1 BGB. ◄ Schließlich kann der Käufer bei Verschulden des Verkäufers nach näherer Maß- 315 gabe des allgemeinen Leistungsstörungsrechts wahlweise Schadensersatz (§ 437 Nr. 3 Alt. 1 i. V. m. §§ 440, 280, 281, 283 und 311 a BGB) oder Aufwendungsersatz (§ 437 Nr. 3 Alt. 2 i. V. m. § 284 BGB) verlangen. In der mangelhaften Lieferung liegt eine Pflichtverletzung des Verkäufers i. S. d. § 280 Abs. 1 BGB. Das Vertreten müssen des Verkäufers (widerlegbare Vermutung) muss sich auf die mangelhafte Lieferung oder das Ausbleiben der Nacherfüllung beziehen. Bezogen auf die Rechtsfolge „Schadensersatz“ kann der Käufer wählen: Entweder er macht den „kleinen Schadensersatz“ geltend und behält die mangelhafte Sache (Schadensersatz statt der „beeinträchtigten“ Leistung: Kaufpreis abzüglich Wert der Sache), oder er verlangt den „großen Schadensersatz“, muss dann aber die Sache an den Verkäufer zurückgeben und den vereinbarten Kaufpreis zahlen (Schadensersatz statt der „gesamten“ Leistung: Wert der Sache).

120

2  Besonderes Schuldrecht

Beispiel

Die B kauft für ihre Hausangstellte einen gebrauchten PKW. Durch Zufall erfährt sie nach wenigen Tagen, dass der PKW entgegen den Zusicherungen des Autohändlers A in einen Unfall verwickelt war und in dessen Autohaus repariert wurde. Die B macht Schadensersatz nach §  437 Nr.  3  BGB i.  V.  m. §§  440, 280 BGB geltend. Im Erfolgsfall kann sie entweder das Fahrzeug behalten und den Minderwert (Kaufpreis minus Verkehrswert) als Schadensersatz von A verlangen oder den PKW zurückgeben und als Schadensersatz den Geldbetrag für ein gleichwertiges Fahrzeug einfordern. ◄ Der Käufer kann alternativ zum Schadensersatz statt Leistung nach § 284 BGB Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen. Es geht um vergebliche (sog. „frustrierte“) Aufwendungen, die auf einen Vertragsschluss gerichtet waren, sich aber als unnötig herausstellen, weil der Vertrag nicht zustande kommt. Ersatzfähig sind sie nur, soweit sie der Käufer „billigerweise tätigen durfte“. § 284 BGB ist damit auch die einzige Anspruchsgrundlage, die „vergeblich getätigte Vertragskosten“ (z. B. Beurkundungs- und Notarkosten) erstattet. Beispiel

Der Käufer erklärt den Rücktritt von einem Fahrzeugkauf, nachdem er entdeckt hat, dass die Bremsen defekt sind. Er verlangt vom Verkäufer Erstattung der gezahlten Zulassungs- und Überführungskosten (§§  448 Abs.  1, 284  BGB; vgl. NJW 2005, 2848). ◄ 316

Die Sachmängelhaftung des Verkäufers ist gesetzlich ausgeschlossen, wenn der Käufer den Sachmangel bei Abschluss des Kaufvertrages positiv kennt oder wenn er den Mangel infolge grober Fahrlässigkeit nicht kennt. Grob fahrlässig handelt der Käufer, wenn seine Unkenntnis auf einer besonders schweren Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt beruht. Letzteres gilt nicht, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen hat (§ 442 Abs. 1 Satz 1 BGB; Angaben „ins Blaue hinein“ reichen aus). Erfolgt der Sacherwerb im Wege des Pfandkaufs, gelten weitere Besonderheiten (vgl. § 445 BGB). Beispiel

Der K kauft von seinem Arbeitskollegen A einen gebrauchten PKW. Dabei achtet er nicht auf die Angaben auf der TÜV-Plakette. Erst nach ein paar Tagen stellt er fest, dass die Hauptuntersuchung schon vor einem Monat fällig gewesen wäre. Hier wären Gewährleistungsrechte des K ausgeschlossen, da er es fahrlässig versäumt hat, die TÜV-Plakette zu überprüfen. ◄ 317

Ein Haftungsausschluss kann außerhalb des Verbrauchsgüterkaufs (§  475 Abs.  1  BGB) auch vertraglich vereinbart werden; der Käufer kann durch eine vertragliche Vereinbarung auf die Geltendmachung seiner gesetzlichen Mängel-

2.1 Kaufvertrag

121

rechte ganz oder teilweise verzichten (z. B. durch die Aufnahme der Klausel „gekauft wie besichtigt“, wobei die Reichweite der Klausel genau zu ermitteln ist). Erfolgt eine Haftungsbeschränkung durch AGB, sind die Grenzen der §§ 305 ff. BGB zu beachten (z. B. Verbotsklauseln §§ 308 Nr. 8, 309 Nr. 7a BGB). Beispiel

Der K kauft von seinem Arbeitskollegen einen gebrauchten PKW. Sie vereinbaren „gekauft wie besichtigt“. Damit hat der K nur auf seine gesetzlichen Gewährleistungsansprüche wegen äußerlich erkennbarer Mängel verzichtet, während die Haftung des Verkäufers für versteckte Mängel, die einem (nichtfachmännischen) Käufer regelmäßig verborgen bleiben (z. B. defekte Ölwanne), weiterhin fortbesteht. ◄ Auf eine haftungsausschließende Vereinbarung kann sich der Verkäufer hingegen nicht berufen, wenn er den Sachmangel arglistig verschwiegen, oder eine Beschaffenheitsgarantie abgegeben hat (§ 444 BGB). Die Mängelansprüche des Käufers verjähren regelmäßig in zwei Jahren ab Ab- 318 lieferung (§ 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB). In bestimmten Fällen gilt eine längere Verjährungsfrist: • fünf Jahre ab Übergabe beim Kauf von Bauwerken (438 Abs.  1 Nr.  2 a, Abs. 2 BGB) oder Sachen, die üblicherweise für Bauwerke verwendet werden (z. B. Fenster, Türen, Stahlträger) und eine Mangelhaftigkeit des Bauwerks begründen (438 Abs. 1 Nr. 2 b, Abs. 2 BGB); • 30 Jahre bei Ansprüchen wegen Rechtsmängeln, wie Herausgabe- oder Löschungsansprüche Dritter wegen dinglicher Rechte (§ 438 Abs. 1 Nr. 1 a BGB); • drei Jahre ab Kenntnis bzw. grob fahrlässiger Unkenntnis vom Mangel, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen hat (§§  438 Abs.  3, 195, 199 BGB). Abb.  2.3 und  2.4 fassen die zuvor erläuterten Käuferrechte nochmals in einer Übersicht zusammen. Abb. 2.5 sowie Abb. 2.6 verdeutlichen den Ablauf einer Schadensersatzforderung.

2.1.4.3 Exkurs: Garantie Mit dem Begriff „Garantie“ wird umgangssprachlich oftmals die gesamte Gewähr- 319 leistungssituation umschrieben. Dies ist jedoch falsch. Denn die gesetzliche Gewährleistung des Verkäufers (§§ 434 ff. BGB) ist streng von der freiwilligen Beschaffenheits- und Haltbarkeitsgarantie nach § 443 Abs. 1 BGB zu trennen. Bei einer Herstellergarantie übernimmt der Hersteller eine Garantie für die Be- 320 schaffenheit der Sache (Beschaffenheitsgarantie) oder dafür, dass die Sache über eine bestimmte Dauer eine bestimmte Beschaffenheit behält (Haltbarkeitsgarantie). Dabei kommt im Rahmen des üblichen Garantiekartensystems zwischen dem Käufer und dem Hersteller (vertreten durch den Händler) ein Garantievertrag zustande. Die

122

2  Besonderes Schuldrecht

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Abb. 2.3  Käuferrechte im Überblick I

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Abb. 2.4  Käuferrechte im Überblick II

2.1 Kaufvertrag

123

Anspruchsgrundlagen für vertragliche Schadensersatzforderungen am Beispiel des Kaufrechts (Teil 1 von 2) Ist ein Mangel ursächlich für den Schaden? Ja § 437 Nr. 3 BGB i.V.m. … Bei Nacherfüllung entfällt der Schaden (= Mangelschaden)

Bei Nacherfüllung entfällt der Schaden nicht (= Mangelfolgeschaden) §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1 BGB oder §§ 437 Nr. 3, 311a Abs. 2 BGB

Nacherfüllung unmöglich Nachträglich §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1, 283 BGB

Anfänglich §§ 437 Nr. 3, 311a Abs. 2 BGB

Nacherfüllung möglich Schadensersatz statt der ganzen Leistung §§ 437 Nr. 3, 280 Abs.1, 281 BGB

Schadensersatz statt der Leistung §§ 437 Nr. 3, 280 Abs.1, 281 BGB

Abb.  2.5  Anspruchsgrundlagen für vertragliche Schadensersatzforderungen am Beispiel des Kaufrechts I

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Abb. 2.6  Anspruchsgrundlagen für vertragliche Schadensersatzforderungen am Beispiel des Kaufrechts II

124

2  Besonderes Schuldrecht

vom Händler an den Käufer weitergegebene Garantiekarte stellt das Angebot des Herstellers auf Abschluss eines Garantievertrags dar, welches der Käufer r­ egelmäßig durch das Ausfüllen der Garantiekarte mit Händlerstempel oder stillschweigend annimmt. Der Umfang der Garantie richtet sich nach den Garantiebedingungen, die auf der Garantiekarte ausgewiesen sind oder sich aus sonstigen Erklärungen des Herstellers ergeben können (z. B. Werbeaussagen). Tritt der Garantiefall ein – d. h. hat die Sache nicht die versprochene Beschaffenheit  – treten neben die Gewährleistungsansprüche gegen den Verkäufer die Ansprüche aus der Garantie gegen den Hersteller, die zumeist auf Ersatzlieferung oder Nachbesserung lauten. 321 Bei der Haltbarkeitsgarantie übernimmt der Erklärende – der Hersteller oder Verkäufer – die Garantie für eine bestimmte Haltbarkeitsdauer der Kaufsache. Tritt ein Sachmangel im Geltungszeitraum der Garantie auf, wird vermutet, dass der Sachmangel die Rechte aus der Garantie begründet (§ 443 Abs. 2 BGB): Der Käufer muss nun nicht mehr beweisen, dass der in der Garantiezeit aufgetretene Mangel in sachlicher und zeitlicher Hinsicht unter die Garantie fällt. Beispiel

Der Verkäufer von Dachziegeln gibt eine Garantie von 30 Jahren auf die Haltbarkeit der verkauften Dachziegel. Stellt sich nach 25 Jahren, also längst nach Ablauf der Gewährleistungsfrist (sie beträgt 5 Jahre), die Mangelhaftigkeit der Dachziegel heraus, kann der Käufer Ersatz verlangen. ◄ 322

Derartige Garantieversprechen sind selbständige Verträge mit der Verpflichtung, für einen bestimmten Erfolg einzustehen oder eine Schadensgefahr zu ­übernehmen. Tritt der versprochene Erfolg nicht ein, hat der Käufer Schadensersatzansprüche, auch wenn den Hersteller/Händler kein Verschulden trifft. Diese Ersatzansprüche verjähren – soweit nichts anderes vereinbart ist – erst in drei Jahren. +HUVWHOOHUXQG+lQGOHUJDUDQWLH +HUVWHOOHU

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2.1 Kaufvertrag

125

2.1.5 Verbrauchsgüterkauf Die §§ 474 ff. BGB enthalten modifizierende Vorschriften für den sog. Verbrauchs- 323 güterkauf. Um einen solchen handelt es sich, wenn ein Verbraucher (§ 13 BGB) eine bewegliche Sache von einem Unternehmer (§ 14 BGB) kauft (§ 474 Abs. 1 S. 1 BGB). Davon umfasst sind ferner Konstellationen, in denen der Unternehmer neben dem Verkaufsgeschäft noch untergeordnete Werk- und Dienstleistungen erbringt (§ 474 Abs. 1 S. 2 BGB; z. B. Aufbau eines Schrankes, Installation einer Solaranlage). • Verbraucher ist nach § 13 BGB jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, das weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Der von der natürlichen Person verfolgte Geschäftszweck muss also in ihrer Privatsphäre liegen (z. B. Kauf von Freizeitkleidung) oder im Bereich der unselbständigen Berufstätigkeit (z. B. Kauf von Arbeitskleidung). • Unternehmer ist nach § 14 BGB eine natürliche oder juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss des Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Der Verbrauchsgüterkauf und die Anwendung der §§ 474–477, 479 BGB setzen 324 demnach ein B2C-Geschäft voraus. Die Vorschriften gelten nicht für Verträge, die Verbraucher untereinander („C2C-Geschäft“) oder Unternehmer untereinander („B2B-Geschäft“) schließen oder für Verträge, in denen ein Verbraucher an einen Unternehmer verkauft („C2B-Geschäft“). Liegt ein Verbrauchsgüterkauf vor, so wird der private Käufer in besonderem 325 Maße geschützt. Diese besonderen verbraucherschützenden Bestimmungen verändern die allgemeinen kaufrechtlichen Regeln zugunsten des Käufers: • Nach §§ 474 Abs. 2, 475 Abs. 2 BGB geht beim Versendungskauf (Schickschuld) entgegen § 447 BGB die Preisgefahr nicht schon mit der Aushändigung an die Transportperson auf den Käufer über, sondern erst unter den Bedingungen des § 446 BGB (tatsächliche Übergabe bzw. Annahmeverzug), es sei denn, der Käufer hat die Initiative ergriffen und eine dem Verkäufer unbekannte Transportperson beauftragt. • Gemäß § 475 Abs. 3 BGB schuldet der Käufer bei Rückgabe einer mangelhaften Sache im Rahmen der Nacherfüllung keinen Nutzungsersatz im Sinne von §§ 439 Abs. 5, 346 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Abs. 2 BGB. • Tätigt der Verbraucher Aufwendungen im Rahmen der Nacherfüllung, hat er das Recht auf einen Vorschuss (§ 475 Abs. 4 BGB).

126

2  Besonderes Schuldrecht

• Die Gewährleistungsrechte dürfen nur bedingt zum Nachteil des Verbrauchers vertraglich abbedungen werden (§ 476 Abs. 1 BGB; z. B. Ausschluss der Mängelhaftung „gekauft wie besehen“). Ausnahmen gelten für Schadensersatzansprüche (§ 476 Abs. 3 BGB) sowie Bestimmungen über die objektiven Anforderungen an die Sache (§ 476 Abs. 1 S. 2 BGB). • Bei Mängeln, die innerhalb des ersten Jahres nach Übergabe der Sache auftreten, wird vermutet, dass diese bereits bei Gefahrübergang vorhanden waren (§ 477 BGB). Diese Vermutung gilt allerdings nicht, wenn sie mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar ist. • Eine Garantieerklärung muss einfach und verständlich abgefasst sein und alle notwendigen Hinweise zu deren Geltendmachung enthalten (§ 479 BGB). 326

Mit § 478 BGB i. V. m. §§ 445a, 445b BGB wird dem Verkäufer die Möglichkeit eingeräumt, Aufwendungen, die er im Zusammenhang mit Gewährleistungsansprüchen des Käufers aus einem Verbrauchsgüterkauf zu tragen hat (z. B. Aufwendungen für Nachbesserung oder Ersatzlieferung), gegenüber seinem Lieferanten geltend zu machen (Regressanspruch in der Lieferkette). Auch diese Regelungen dienen dem Verbraucherschutz, da sie die Bereitschaft des Verkäufers erhöhen, die Gewährleistungsansprüche seines Käufers aus §§  434  ff.  BGB auch zu erfüllen. Ferner gleichen sie Ungerechtigkeiten aus, die zum Teil durch die verbraucherschützenden Vorschriften selbst entstehen. Beispiel

Der Baumarkt B verkauft Akku-Schrauber, die er von seinem Lieferanten L erhalten hat, unter anderem an den Kunden K, der nach 4 Monaten seine Gewährleistungsrechte wegen eines Mangels geltend macht. Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob der Akku-Schrauber von Anfang an mangelhaft war, ­allerdings spricht für den K die Vermutung des § 477 BGB, weshalb B den Akku-­ Schrauber zurücknehmen muss. Will der B nun seinerseits den Akku-Schrauber seinem Lieferanten L zurückgeben, so würde die Vermutung des § 477 BGB in seinem Rechtsverhältnis zu L nicht gelten, da sowohl B als auch L Unternehmer sind und damit die §§ 474 ff. BGB keine Anwendung finden. Der B müsste dementsprechend die Nachteile alleine tragen. Hier schließen nun die §§ 445a, 478 BGB eine Lücke; der B kann seine Nachteile an den L weiterleiten, so dass am Ende auch der L die verbraucherschützenden Vorschriften gegen sich gelten lassen muss, obwohl weder er noch sein Abnehmer (hier B) Verbraucher sind. ◄ 327

Bei Ausübung des Verkäuferregresses in der Lieferkette nach §§  445a, 445b BGB gilt, • dass der Verkäufer nach § 445a Abs. 1 BGB vom Lieferanten Ersatz aller Aufwendungen verlangen kann, die er im Rahmen der Nacherfüllung gegenüber dem Käufer zu tragen hatte;

2.1 Kaufvertrag

127

• dass er dem Lieferanten keine Frist zur Nacherfüllung mehr setzen muss, sondern sofort Rückzahlung des Kaufpreises begehren kann (§ 445a Abs. 2 BGB); • dass die Regressansprüche des Unternehmers gegen den Lieferanten frühestens zwei Monate nach dem Zeitpunkt verjähren, in dem der Unternehmer die Ansprüche des Verbrauchers erfüllt hat (§ 445b Abs. 2 BGB). Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass das Mängelrecht des Käufers tatsächlich bestehen muss, sich dessen Gewährleistungsanspruch auf eine neue Sache erstreckt und die Vorschrift des § 377 HGB unberührt bleibt (§ 445a Abs. 1–4 BGB). Außerdem – auch dies ist vorab zu prüfen – könnte der Lieferant seine Verpflichtungen vertraglich begrenzt haben. Letzteres ist zulässig, sofern dem Verkäufer ein „gleichwertiger Ausgleich“ eingeräumt wurde (§ 478 Abs. 2 BGB). Beispiel

Der Baumarkt B verkauft nach eineinhalb Jahren Liegezeit einen Akkuschrauber des Lieferanten L an den K. Nach einem weiteren Jahr macht der K Mängel an seinem Akkuschrauber geltend, die zur Rückabwicklung des Kaufes führen. Nach § 438 BGB (Verjährungsfrist bei beweglichen Sachen = zwei Jahre) wären mögliche Regressansprüche des B gegen L in der Lieferkette eigentlich verjährt. Um diese „Verjährungsfalle“ für den B zu beseitigen, verlängert § 445b Abs. 2 BGB die Verjährung in der Lieferkette auf zwei Monate nach dem Zeitpunkt, in dem der Unternehmer (hier: B) die Ansprüche des Verbrauchers (hier: K) erfüllt hat. B könnte demnach seine Ansprüche auf Rückabwicklung weiterhin gegenüber L betreiben. ◄

2.1.6 Verbraucherverträge über Waren mit digitalen Elementen Als Verbraucherverträgen über Waren mit digitalen Elementen gelten Verträge zwischen Unternehmern (§ 14 BGB) und Verbraucher (§ 13 BGB), die Waren mit digitalen Elementen zum Gegenstand haben (§§ 475a – 475e BGB). Darunter versteht man Waren, die in einer Weise digitale Produkte enthalten oder mit ihnen verbunden sind, dass sie ihre Funktionen ohne diese digitalen Produkte nicht erfüllen können (§ 327a Abs. 3 S. 1 BGB), wie z. B. ein Smartphone, dessen Funktion sich ohne sein Betriebssystem als digitales Element nicht erfüllen ließe. Für diese Art von Verträgen gelten insbesondere bezüglich des Sachmangelrechts einige verbraucherschützende Besonderheiten. Nach § 475b Abs. 2 BGB ist die Ware mit digitalen Elementen frei von Sachmängeln, wenn sie zunächst die allgemeinen Anforderungen an die Sachmängelfreiheit bei Waren nach § 434 BGB erfüllt. Darüber hinaus müssen zum Schutz der Verbraucher weitere Anforderungen erfüllt sein, um von einer Mangelfreiheit ausgehen zu dürfen:

328

329

128

2  Besonderes Schuldrecht

• Für die digitalen Elemente müssen die im Kaufvertrag vereinbarten Aktualisierungen während des nach dem Vertrag maßgeblichen Zeitraums bereitgestellt werden (subjektive Anforderung; § 475b Abs. 3 BGB). • Ferner sind dem Verbraucher während eines Zeitraums, den er aufgrund der Art und des Zwecks der Ware und ihrer digitalen Inhalte sowie unter Berücksichtigung der Art des Vertrags und der Umstände erwarten kann, die Aktualisierungen zur Verfügung zu stellen, die für den Erhalt der Vertragsmäßigkeit der Ware erforderlich sind; hierüber ist er obendrein zu informieren (objektive Anforderung; § 475b Abs. 4 BGB). • Schließlich muss die Ware mit digitalen Elementen den Installationsanforderungen entsprechen (§ 475b Abs. 6 BGB). Ebenso wie bei den allgemeinen kaufrechtlichen Regelungen sind die Anforderungen seitens des Verkäufers kumulativ zu erfüllen. Die spezifischen Aktualisierungsund Informationspflichten sind derzeit gesetzlich nicht weiter ausgestaltet, weshalb man zum Schutz der Verbraucher vorerst von einem Zeitraum der üblichen Nutzungs- und Verwendungsdauer der Waren mit digitalen Elementen auszugehen hat (z.  B. ein Smartphone hat derzeit eine durchschnittliche Nutzungsdauer von drei Jahren; ein Tablet ca. fünf Jahre). Beispiel

Der K kauft sich bei dem Unternehmen U einen 3-D-Drucker, für dessen Nutzung Steuerungsdaten erforderlich sind, die nur auf dem Server des U bereitgestellt werden. Ohne die Steuerungsdaten kann der 3-D-Drucker nicht genutzt werden. Als nach einem halben Jahr die Druckvorgänge mangelhaft ausgeführt werden, stellt K zufällig in einem Gespräch mit einem Bekannten fest, dass er die notwendigen Aktualisierungen der Drucker-Software nicht erhalten hat. Der 3-D-Drucker ist mangelhaft nach (§§ 434, 475b Abs. 4 BGB). 330

Neben den Modifikationen in den Mängelansprüchen des Käufers, die der § 475d BGB für den Rücktritt (Abs. 1) und den Schadensersatz (Abs. 2) vorsieht, gelten auch für die Verjährung der Mängelansprüche Besonderheiten: • Bei der dauerhaften Bereitstellung digitaler Elemente verjähren Ansprüche wegen eines Mangels nicht vor dem Ablauf von zwölf Monaten nach dem Ende des Bereitstellungszeitraums (§ 475e Abs. 1 BGB). • Ansprüche wegen der Verletzung der Aktualisierungspflicht verjähren nicht vor dem Ablauf von zwölf Monaten nach dem Ende des Zeitraums der Aktualisierungspflicht (§ 475e Abs. 2 BGB).

331

Bei Waren mit digitalen Elementen ist schließlich die Beweislast verbraucherfreundlicher geregelt. Ist die dauerhafte Bereitstellung der digitalen Elemente im Kaufvertrag vereinbart und zeigt sich der Sachmangel während der Dauer der Bereitstellung oder innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren nach Gefahrübergang so wird nach § 477 Abs. 2 BGB vermutet, dass die digitalen Elemente bereits während der bisherigen Dauer der Bereitstellung mangelhaft waren.

2.1 Kaufvertrag

129

Beispiel

Würde im vorgenannten Beispiel kein Gespräch mit dem Bekannten stattgefunden haben, aber die Qualität des Druckvorgangs nach einem Jahr und 9 Monaten merklich schlechter werden, so wird vermutet, dass die digitalen Elemente der Ware schon während der Dauer ihrer Bereitstellung mangelhaft waren (§  477 Abs. 2 BGB).

2.1.7 Sonderformen des Kaufvertrages Das Gesetz enthält einige besondere Formen des Kaufes, die man von- und unterei- 332 nander abgrenzen muss. Bei einem Kauf auf Probe (oder nach Besichtigung) steht die Billigung der 333 gekauften Sache im Belieben des Käufers (§ 454 BGB). Der Kaufvertrag wird daher unter der aufschiebenden Bedingung der Billigung durch den Käufer geschlossen, wobei dem Käufer die Sache zur Untersuchung übergeben wird. In aller Regel wird zudem eine Frist vereinbart, innerhalb derer der Käufer erklären muss, ob er den Kauf gegen sich gelten lassen möchte oder nicht (§ 455 BGB). Die Billigung steht im Belieben des Käufers, sie richtet sich nicht nach objektiv nachprüfbaren Kriterien. Daher kann der Käufer auch eine einwandfreie Sache grundlos ablehnen. Äußert sich der Käufer bis Fristablauf nicht, gilt sein Schweigen als Billigung des Kaufgegenstandes. Lehnt er hingegen die Sache nach Untersuchung ab, ist mangels Billigung die aufschiebende Bedingung nicht eingetreten und der Kaufvertrag nicht zustande gekommen (§ 158 Abs. 1 BGB). Beispiel

Der Textilhersteller T erwirbt einen elektrischen Webstuhl von V auf Probe. Obwohl dieser ganz hervorragend funktioniert und auch die Arbeit des T erheblich erleichtert, gibt er ihn mit den Worten „er habe es sich anders überlegt“ an V zurück. Hier ist der Kaufvertrag nicht zustande gekommen, obwohl keinerlei objektiven Gründe für die Nichteignung des Webstuhls vorhanden waren. ◄ Vom Kauf auf Probe muss der Prüfungskauf und der Kauf mit Umtauschbe- 334 rechtigung unterschieden werden. Welche Art des Kaufes von den Parteien gewollt ist, ist durch Auslegung der Vereinbarung zu ermitteln (§§ 133, 157 BGB). Bei einem Prüfungskauf steht die Billigung der Kaufsache nicht im Belieben des Käufers. Die Kriterien, anhand derer er die Billigung versagen kann, sind zumeist vertraglich festgelegt (z. B. Eignung zu einem bestimmten Gebrauch). Jedenfalls müssen aber objektive Gründe nachgewiesen werden, weshalb sich die Kaufsache für den Käufer nicht eignet. Der Kaufvertrag wird bei einem Prüfungskauf entweder unter der aufschiebenden Bedingung eines positiven Prüfungsergebnisses oder unter der auflösenden Bedingung einer begründeten Ablehnung geschlossen. Eine Besonderheit des Kaufs auf Probe ist, dass die Preisgefahr hier trotz Übergabe (§ 446 BGB) nicht beim Käufer liegt, denn dieser muss nach einem etwaigen zufäl-

130

2  Besonderes Schuldrecht

ligen Untergang der Sache nur seine Billigung versagen, um sich seiner Verpflichtung zur Kaufpreiszahlung zu entziehen. Beispiel

Der Textilhersteller T müsste bei einem vereinbarten Prüfungskauf objektive Gründe vortragen, weshalb sich der Webstuhl nicht zum Gebrauch eignet. ◄ Beim Kauf mit Umtauschberechtigung handelt es sich um einen unbedingten Kaufvertrag, der mit Abschluss für beide Parteien voll wirksam und demnach bindend ist. Dem Käufer wird jedoch die Möglichkeit eingeräumt, gegen Rückgabe der (unversehrten) Kaufsache eine andere zu verlangen. Das Umtauschrecht ist ein Gestaltungsrecht, welches der Verkäufer einräumen kann (nicht muss). Zumeist soll der Umtausch nur innerhalb einer bestimmten vereinbarten Frist möglich sein. Geht die Kaufsache unter oder wird sie beim Käufer wesentlich verschlechtert, so ist der Umtausch ausgeschlossen. Hier trägt also – anders als beim Kauf auf Probe – der Käufer nach Übergabe der Kaufsache die Gefahr des zufälligen Unterganges. Beispiel

Die K kauft für ihren Ehemann eine Hose. Da sie nicht genau weiß, ob die Hose ihrem Ehemann gefallen wird, räumt ihr die Verkäuferin die Möglichkeit zum Umtausch bei Nichtgefallen ein. ◄ 335

Der Verkäufer kann sich in einem Kaufvertrag auch das Recht zum Wiederkauf (Rückkauf) vorbehalten, wobei er dieses Recht bei beweglichen Sachen bis zum Ablauf von drei Jahren durch einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber dem Käufer ausüben kann (§ 462 BGB). Die Vertragsparteien können davon abweichende Wiederkaufsfristen vereinbaren; regelmäßig treffen sie überdies Regelungen über den Wiederkaufspreis sowie zur Haftung des Wiederverkäufers. Durch Ausübung des Wiederkaufsrechts tritt die Bedingung ein, der Rückkaufvertrag wird also voll wirksam und die Parteien treffen die in § 433 BGB genannten Verpflichtungen. Der Käufer (= Wiederverkäufer) muss die Sache herausgeben und übereignen und der Verkäufer (=  Wiederkäufer) ist verpflichtet, den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen. Ist in der Wiederverkaufsvereinbarung kein Kaufpreis festgelegt, so hat der Wiederkäufer im Zweifel den im ursprünglichen Kaufvertrag vereinbarten Preis zu zahlen (§ 456 Abs. 2 BGB). Hat der Wiederverkäufer Verwendungen auf den Kaufgegenstand gemacht, die den Wert des Gegenstandes erhöht haben, so hat der Wiederkäufer diese auf Verlangen zu ersetzen (§ 459 S. 1 BGB). Hat der Wiederverkäufer den Kaufgegenstand mit einer Einrichtung versehen, so kann er diese wegnehmen (§§ 459 S. 2, 258 BGB). Aufgrund der Wiederkaufsvereinbarung trifft den Käufer (=  Wiederverkäufer) auch schon vor Ausübung des Wiederkaufsrechts die Pflicht zur Erhaltung der Kaufsache. Verletzt der Käufer seine Erhaltungspflicht schuldhaft, so ist er dem Verkäufer zum Schadensersatz verpflichtet, § 457 Abs. 2 S. 1 BGB. Das Gleiche gilt, wenn er den Gegenstand wesentlich verändert hat. Ist der Kaufgegenstand un-

2.1 Kaufvertrag

131

verschuldet verschlechtert oder unwesentlich verändert worden, so hat der Käufer weder Schadensersatz zu leisten noch eine Minderung des Kaufpreises zu befürchten (§ 457 Abs. 2 S. 2 BGB). Verfügt der Käufer nach Vereinbarung eines Wiederkaufsrechts über den Kaufgegenstand, so ist er nach Ausübung des Rechts verpflichtet, die durch die Verfügung begründeten Rechte Dritter zu beseitigen (§ 458 BGB). Beispiel

Der V besitzt eine wertvolle Uhr, die er von seinem Vater geerbt hat. Weil er sich in Geldnot befindet, verkauft er die Uhr an seinen Nachbarn N für 1. 500 EUR. Weil er an der Uhr hängt, vereinbart er mit N, die Uhr am 31.12. zum Preis von 1600 EUR zurück zu kaufen. ◄ Eine häufige Vereinbarung betrifft das Vorkaufsrecht, welches auch zugunsten 336 eines Dritten vertraglich festgelegt werden kann (§§ 463 ff. BGB). Derjenige, dem ein Vorkaufsrecht an einer Sache eingeräumt wurde (Vorkaufsberechtigter), kann in die Bedingungen eintreten, zu denen der Verkäufer (Vorkaufsverpflichteter) die Sache einem Dritten verkauft hat (§ 464 BGB). Es ist sozusagen die Berechtigung, in einen Vertragsschluss von außen hineinzugrätschen. Der Vorkaufsberechtigte kann sein Recht ausüben, sobald der Vorkaufsverpflichtete mit einem Dritten einen Kaufvertrag über den Kaufgegenstand schließt. Das Vorkaufsrecht, welches nicht übertragbar ist, wird dabei durch einfache Erklärung gegenüber dem Vorkaufsverpflichteten ausgeübt. Mit der Ausübung des Vorkaufsrechts kommt dann der Kaufvertrag zu den Bedingungen zustande, welche der Vorkaufsverpflichtete mit dem Dritten vereinbart hatte. Kann der Vorkaufsverpflichtete die Sache nicht mehr verschaffen, weil er sie bereits wirksam veräußert und übereignet hat, ist er dem Vorkaufsberechtigten zum Schadensersatz verpflichtet. Da der Vertrag mit dem Dritten bei Ausübung des Vorkaufsrechtes scheitert, macht sich der Vorkaufsverpflichtete mitunter diesem gegenüber schadensersatzpflichtig. Es empfiehlt sich daher für den Vorkaufsverpflichteten, den Verkauf an den Dritten entweder unter die Bedingung zu stellen, dass der Vorkaufsberechtigte sein Recht nicht ausübt, oder ein Rücktrittsrecht für den Fall der Ausübung des Vorkaufsrechts zu vereinbaren. Eine solche Bedingung hat keine Auswirkung gegenüber dem Vorkaufsberechtigten (§  465  BGB), da ansonsten dessen Vorkaufsrecht vereitelt würde. Beim Fixkauf ist vereinbart, dass der Verkäufer genau zu einem bestimmten 337 Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Frist zu liefern hat. Dabei kommt es darauf an, dass der Vertrag mit der Einhaltung der Lieferzeit „stehen und fallen“ soll. Im Handelsverkehr übliche Fixklauseln sind: „fix“, „präzise“ oder „genau“, nicht dagegen „binnen kürzester Frist“ oder „sofort“. Wird der vorgegebene Termin nicht eingehalten, darf der Käufer ohne weiteres zurücktreten; ein In-Verzug-Setzen ist nicht mehr erforderlich (vgl. § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt schließen die Parteien einen unbeding- 338 ten Kaufvertrag und vereinbaren dabei den sog. Eigentumsvorbehalt. Letzteres be-

132

2  Besonderes Schuldrecht

deutet, dass die Übereignung der Kaufsache nach § 929 S. 1 BGB unter der aufschiebenden Bedingung der vollständigen Kaufpreiszahlung gestellt wird (Auslegungsregel des § 449 Abs. 1 BGB). Der Käufer wird also erst dann Eigentümer der Kaufsache, wenn er den Kaufpreis vollständig gezahlt hat (§ 158 Abs. 1 BGB). Normalerweise bedarf ein Verkäufer keiner Sicherung seiner Kaufpreisforderung, denn nach § 320 BGB kann er die von ihm geschuldete Leistung, also Übereignung und Übergabe des Kaufgegenstandes, bis zur Kaufpreiszahlung verweigern („Zug um Zug“-Leistung). Oftmals werden aber bewusst Ratenzahlungen vereinbart oder der Verkäufer stundet dem Käufer die Kaufpreiszahlung. Wenn er jetzt die Sache vollständig übergibt und übereignet, läuft er Gefahr, dass er zwar sein Eigentum verliert, aber den Kaufpreis nicht erhält. Insofern bedarf der Verkäufer einer Sicherheit; ein probates Mittel stellt der in § 449 BGB geregelte Eigentumsvorbehalt dar, d. h. der Verkäufer behält zunächst einmal sein Eigentum. Er ist im Hinblick auf die Kaufpreiszahlung durch das weiterhin bestehende Eigentum an der Kaufsache gesichert. Der Käufer, der nur eine Anwartschaft erwirbt und noch kein Eigentum an der Sache, kann sie nicht als Berechtigter weiterveräußern und übereignen. Sofern Gläubiger des Käufers in die Sache vollstrecken wollen, kann der Verkäufer gegen diese Vollstreckung gemäß § 771 ZPO vorgehen. Im Falle der Insolvenz des Käufers hat der Verkäufer die Möglichkeit der Aussonderung, § 47 InsO (Abschn. 2.5.1). Fragen

1. Nennen Sie die Hauptpflichten der Vertragsparteien bei einem Sachkauf! 2. Was zeichnet einen Verbrauchsgüterkauf aus? 3. Was ist das „Recht zur zweiten Andienung“? 4. Verbraucher V bestellt im Internet bei Unternehmer U ein Wasserbett. Um es auszuprobieren, füllt er es mit Wasser und testet es für eine Stunde. Danach erklärt er den Widerruf und fordert U zur Rückzahlung des Kaufpreises auf. Dieser will lediglich einen Teilbetrag erstatten, da das Bett aufgrund der Befüllung mit Wasser nicht mehr als ‚neu‘ zu verkaufen sei. Zu Recht?

2.2 Werkvertrag 339

Das Werkvertragsrecht (§§ 631 ff. BGB) ist neben dem Kaufrecht eines der bedeutendsten Rechtsgebiete im Wirtschaftsprivatrecht und ebenfalls im Besonderen Teil des Schuldrechts geregelt.

2.2.1 Zustandekommen und Inhalt des Werkvertrages 340

Durch einen Werkvertrag verpflichtet sich der Werkunternehmer zur Herstellung (und Verschaffung) des versprochenen Werkes, d. h. zur Herbeiführung eines bestimmten Arbeitsergebnisses für den Besteller. Im Gegenzug verpflichtet sich der

2.2 Werkvertrag

133

Besteller zur Abnahme des vertragsgemäßen Werkes (§ 640 Abs. 1 BGB) sowie zur Leistung der Vergütung (§ 631 Abs. 1 BGB). Der Begriff „Unternehmer“ wird im Rahmen des Werkvertragsrechts in einem 341 von § 14 BGB abweichenden Sinne gebraucht; als Unternehmer wird im Rahmen der § 631 ff. BGB nur derjenige bezeichnet, der eine Werkleistung verspricht. Gegenstand des Werkvertrages kann sowohl die Herstellung oder Veränderung 342 einer Sache (z. B. Errichtung oder Renovierung eines Gebäudes; Reparatur eines Fahrzeugs), als auch ein anderer durch Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg (z. B. Erstattung eines Gutachtens, Berechnung einer Statik; Beförderung von Personen und Gütern) sein (§ 631 Abs. 2 BGB). Im Unterschied zum Dienstvertrag (§§ 611 ff. BGB) wird im Rahmen des Werkvertrags nicht lediglich die Tätigkeit bzw. Arbeitsleistung als solche geschuldet (Abschn. 2.3.10), sondern ein Arbeitsergebnis als Erfolg der Arbeitsleistung. Auf einen Vertrag, der die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweg- 343 licher vertretbarer Sachen (§ 91 BGB) zum Gegenstand hat, findet ausschließlich Kaufrecht Anwendung (§ 650 S. 1 BGB; z. B. serienmäßig angefertigte Schränke als Katalogware), ggf. einschließlich der Sonderregeln zum Verbrauchsgüterkauf (Abschn.  2.1.5). Verpflichtet sich der Unternehmer hingegen zur Lieferung einer von ihm individuell gefertigten beweglichen Sache, kommen sowohl kaufvertragliche, als auch bestimmte werkvertragliche Bestimmungen (§§ 642, 643, 645, 649, 650 BGB) nebeneinander zur Anwendung (§ 651 S. 3 BGB; z. B. Anfertigung eines Maßanzugs durch einen Schneider). Daher ist zu fragen, welche Leistungsverpflichtung dem Vertrag das besondere Gepräge gibt und der Vertrag entweder dem Kaufoder Werkvertragsrecht zuzuordnen ist. Bei der Herstellung unbeweglicher Sachen (z. B. Bau eines Hauses), unkörperlicher Werke (z. B. Erstellung eines Gutachtens) sowie bei Reparaturarbeiten an bereits vorhandenen (gebrauchten) Sache (z. B. Reparatur eines Fahrzeugs; Modifizierung von Software) bleibt alleine das Werkvertragsrecht anwendbar. Beispiel

K bestellt für den Eingangsbereich ihres Einfamilienhauses beim Schreiner S einen handgeschnitzten Bauernschrank = Werkvertrag. Bestellt die T-AG für die Geschäftsräume ihrer Zweigstelle Büromöbel, so werden diese regelmäßig serienmäßig hergestellt, auch wenn einzelne Wünsche der Bestellerin hinsichtlich Größe, Höhe, Form, Farbe und Konstruktion berücksichtigt werden = Kaufvertrag. ◄ Dem Vertrag kann ein Kostenanschlag zugrunde gelegt werden (§ 649 BGB). 344 Zu differenzieren ist zwischen einem unverbindlichen und einem verbindlichen Kostenanschlag, die bei Überschreitung unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen. Bei einem unverbindlichen Kostenanschlag hat der Unternehmer dem Besteller unverzüglich anzuzeigen, wenn sich eine wesentliche Überschreitung des veranschlagten Preises  – das wird bei ca. 15–20  % angenommen  – abzeichnet (§  649 Abs. 2 BGB). Kommt er der Anzeigepflicht nicht nach, macht sich der Unternehmer

134

2  Besonderes Schuldrecht

schadensersatzpflichtig (§§ 280 Abs. 1 BGB), ferner steht dem Besteller ein Kündigungsrecht nach Maßgabe des § 648 BGB zu (§§ 649 Abs. 1 BGB). Liegt ein verbindlicher Kostenanschlag vor (z.  B.  Festpreisgarantie), ist das Werk zu dem vereinbarten Preis zu errichten; der Besteller muss sich nicht auf eine Preiserhöhung einlassen. 345 Bei bestimmten standardisierten Werkleistungen haben sich Allgemeine Geschäftsbedingungen etabliert, die regelmäßig in die Werkverträge einbezogen ­werden. Als Beispiel kann die Verdingungsordnung für Bauleistungen (VOB) genannt werden, die häufig bei Bauverträgen (§ 650a ff. BGB), d. h. bei Verträgen zwischen Bauherren und Bauunternehmen einbezogen wird. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass bei sog. Verbraucherbauverträgen (§§ 650i ff. BGB) verbraucherschützende Grenzen einzuhalten sind (§ 650o BGB).

2.2.2 Pflichten der Vertragsparteien 346

2.2.2.1 Werkunternehmer Der Unternehmer ist verpflichtet, dem Besteller das Werk frei von Sach- und Rechtsmängeln zu beschaffen (§ 633 Abs. 1 BGB); die mangelfreie Herstellung des Werkes ist Hauptleistungspflicht des Werkunternehmens. Hinzu treten Nebenpflichten, die sich aus dem jeweiligen Vertragszweck unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ergeben können (§§ 241 Abs. 2, 242 BGB), wie Schutz-, Sicherungsund Instruktionspflichten.

2.2.2.2 Besteller Der Besteller hat die vereinbarte Vergütung zu entrichten (§ 631 Abs. 1 BGB) und das vertragsgemäß hergestellte Werk abzunehmen (§ 640 Abs. 1 BGB). 348 Regelmäßig wird die zu leistende Vergütung bei Vertragsschluss festgelegt. Sollte die Vergütungsabrede fehlen, gilt sie als stillschweigend vereinbart, wenn die Herstellung des Werkes den Umständen nach nur gegen Entgelt zu erwarten ist (§  632 Abs.  1  BGB). Dabei richtet sich die Höhe der Vergütung nach der branchenspezifischen Taxe (z. B. Honorarordnung für Architekten und Ingenieure; Gebührenordnungen), ansonsten gilt die übliche Vergütung am Ort der Werkleistung als vereinbart (§ 632 Abs. 2 BGB). Nach § 632 Abs. 3 BGB ist ein Kostenanschlag im Zweifel nicht zu vergüten, es sei denn, die Vergütung wurde ausdrücklich vereinbart. Die Vergütung wird erst bei Abnahme fällig (§ 641 Abs. 1 BGB). Vorab kann der Unternehmer jedoch für vertragsgemäß erbrachte Leistungen vom Besteller eine Abschlagszahlung in der Höhe verlangen, in der der Besteller durch die Leistung einen Wertzuwachs erlangt hat (§ 632a Abs. 1 S. 1 BGB). Letzteres kann sich unter den Bedingungen des § 632a Abs. 1 S. 5 BGB auch auf Stoffe oder Bauteile erstrecken, die bereits angeliefert oder eigens angefertigt und bereitgestellt wurden (z. B. Anlieferung von Türen). 349 Der Besteller ist verpflichtet, das vertragsgemäß hergestellte Werk abzunehmen (§ 640 Abs. 1 BGB) und ggf. bei dessen Herstellung mitzuwirken (§ 642 BGB). 347

2.2 Werkvertrag

135

Unter Abnahme versteht man die körperliche Entgegennahme und Anerkennung (Billigung) des Werkes als im Wesentlichen vertragsgemäß erbrachte Leistung. Die Billigung kann ausdrücklich (z. B. in Form eines Abnahmeprotokolls) oder konkludent (z. B. vorbehaltlose Zahlung des Werklohnes) erfolgen. Ist nach der Beschaffenheit des Werks die Abnahme ausgeschlossen, tritt an deren Stelle der Billigung die Vollendung des Werks (§ 646 BGB; z. B. Personenbeförderung durch die Bahn). Unwesentliche Mängel berechtigen den Besteller nicht dazu, die Abnahme zu ­verweigern (§ 640 Abs. 1 S. 2 BGB). Stellt der Besteller hingegen gravierende Mängel an dem Werk fest und nimmt es dennoch an, so verliert er unter den Bedingungen des § 640 Abs. 3 BGB seine Gewährleistungsrechte. In welchem Zeitraum die Abnahme durch den Besteller zu erfolgen hat, wird regelmäßig im Werkvertrag festgelegt (z.  B. „binnen zwei Wochen“). Erfolgt die Abnahme durch den Besteller nicht in der vereinbarten Frist, so bestimmt §  640 Abs. 2 BGB, dass das Werk als abgenommen gilt, wenn der Unternehmer dem Besteller nach Fertigstellung des Werks eine angemessene Frist zur Abnahme gesetzt und der Besteller die Abnahme nicht innerhalb dieser Frist unter Angabe mindestens eines Mangels verweigert hat. Die Abnahme löst verschiedene Rechtfolgen aus: • • • •

Fälligkeit der Vergütung (§ 641 Abs. 1 BGB), Verzinsungspflicht des Bestellers (§ 641 Abs. 4 BGB), Übergang der Preisgefahr auf den Besteller (§ 644 Abs. 1 S. 1 BGB), Beginn der Verjährung für bestimmte Mängelansprüche (§ 634a Abs. 2 BGB).

2.2.3 Gefahrtragung bei Untergang des Werkes Bis zur Abnahme trägt der Unternehmer die Leistungs- und Vergütungsgefahr 350 (§ 644 Abs. 1 S. 1 BGB). Wird das Werk unmöglich oder geht unter (§ 275 BGB), verliert der Unternehmer regelmäßig seinen Anspruch auf Vergütung (§  326 Abs. 1 BGB). Ausnahmsweise bleibt der Besteller zur Zahlung verpflichtet, wenn er für den zur Unmöglichkeit führenden Umstand verantwortlich ist (§ 326 Abs. 2 S. 1 BGB) oder die Preisgefahr (Vergütungsgefahr) bereits auf ihn übergegangen ist (§§ 644, 645 BGB). Für eine zufällige Verschlechterung oder Zerstörung des vom Besteller gelieferten Stoffes muss der Unternehmer nicht einstehen (§ 644 Abs. 1 S. 3 BGB), ebenso wenig, wenn Anweisungen des Bestellers zum Untergang des Werkes geführt haben (§ 645 Abs. 1 BGB). Beispiel

Der A beauftragt den Schreiner S mit verschiedenen Holzarbeiten. Bereits fertig gestellte Holzteile (Türen und Fenster) werden vor dem Einbau in der Garage des A zwischengelagert. Als sich ohne Verschulden des A Benzin in dessen Garage entzündet, brennen die Erzeugnisse nieder. S verlangt Vergütung seiner bereits geleisteten Schreinerarbeiten.

136

2  Besonderes Schuldrecht

In vergleichbaren Fällen hat die Rechtsprechung einen Anspruch des S aus § 645 BGB analog angenommen, da die Gefahr für den Untergang aus der Sphäre des A herrührt (umstritten). ◄

2.2.4 Mängelhaftung des Unternehmers Die Gewährleistungsvorschriften beim Werkvertrag sind von ihrer Systematik mit denen des Kaufvertrages vergleichbar. 352 Der Unternehmer ist verpflichtet, dem Besteller das Werk frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen (§ 633 Abs. 1 BGB). Ein mangelhaftes Werk muss der Besteller nicht abnehmen, vielmehr behält er bis zur mangelfreien Erstellung des Werkes seinen originären Erfüllungsanspruch aus § 631 Abs. 1 BGB. Der Besteller muss sich daher weder auf eine Nachbesserung (§  635 Abs.  1 S.  1  BGB) noch auf die sonstigen Gewährleistungsrechte (§ 634 BGB) einlassen. 353 Nach der Abnahme folgen die Rechte des Bestellers aus §§ 634 ff. BGB, sofern das Werk einen Sach- oder Rechtsmangel aufweist. Dabei hat das Werk hat einen Sachmangel, wenn es nicht die vertraglich vereinbarte Beschaffenheit besitzt (§  633 Abs.  2 S.  1  BGB). Fehlt eine Beschaffenheitsvereinbarung, ist das Werk mangelhaft, wenn es sich nicht für die im Vertrag vorausgesetzte, sonst für die gewöhnliche Verwendung eignet (§  633 Abs.  2 S.  2  BGB). Dem Werk haftet ein Rechtsmangel an, wenn Dritte Rechte gegen den Besteller geltend machen können (§ 633 Abs. 3 BGB; z. B. Verletzung von geistigem Eigentum). 354 Liegt ein Mangel im beschriebenen Sinne vor, hat der Besteller nach § 634 BGB die folgenden Ansprüche, die ebenso wie beim Kaufrecht zweistufig ausgestaltet sind: 351

• Der Besteller muss zunächst einen Anspruch auf Nacherfüllung geltend machen, den der Unternehmer nach seiner Wahl durch die Beseitigung des Mangels oder die Herstellung eines neuen Werkes erfüllen kann (§§ 634 Nr. 1, 635 BGB). • Nach erfolgloser Fristsetzung zur Nacherfüllung kann der Besteller den Mangel auch selbst beseitigen – sog. Selbstvornahme – und Ersatz der hierfür erforderlich gewordenen Aufwendungen verlangen (§§ 634 Nr. 2, 637 BGB). Dabei obliegt die Art und Weise der Selbstvornahme dem Besteller, der überdies vom Unternehmer einen Kostenvorschuss in Höhe der voraussichtlichen Mängelbeseitigungskosten geltend machen kann (§ 637 Abs. 3 BGB). • Ferner kann der Besteller vom Vertrag zurücktreten (§§ 634 Nr. 3 Alt. 1, 636, 323, 326 Abs.  5  BGB) oder die Vergütung mindern (§§  634 Nr.  3 Alt. 2, 638 BGB). • Wegen schuldhafter Schlechtleistung kann der Besteller schließlich nach den allgemeinen Vorschriften Schadensersatz fordern, wobei neben den Mangel- und Mangelfolgeschäden (z. B. Beseitigung der sich wellenden Tapete; Körperverletzung, wegen Versagens der reparierten Bremsen) auch die Schadensermittlungskosten eingeschlossen sind (§§ 634 Nr. 4, 636, 280 ff. BGB).

2.2 Werkvertrag

137

Dem Besteller stehen die in §  634  BGB bezeichneten Rechte nicht mehr zu, 355 wenn er den Werkmangel bei Abnahme kennt und sich seine Rechte bei der Abnahme nicht vorbehalten hatte (§ 640 Abs. 3 BGB). Die Gewährleistungsansprüche des Bestellers verjähren nach §  634a Abs.  1 356 Nr. 1 BGB in zwei Jahren, wenn die Leistung des Unternehmers in der Herstellung, Wartung oder Veränderung einer Sache oder in der Erbringung von Planungs- oder Überwachungsleistungen hierfür besteht. Soweit diese Arbeiten sich auf ein Bauwerk beziehen, beträgt die Verjährungsfrist fünf Jahre (§ 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB). Die Verjährung beginnt mit der Abnahme (§  640  BGB) des Werkes (§  634a Abs. 2 BGB). 0lQJHOKDIWXQJGHV:HUNXQWHUQHKPHUV 7HLOYRQ 0DQJHOYRU$EQDKPH 6DFKPDQJHO †$EV%*% RGHU5HFKWVPDQJHO †$EV%*% YRU$EQDKPH

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 Mängelhaftung des Werkunternehmers I 0lQJHOKDIWXQJGHV:HUNXQWHUQHKPHUV 7HLOYRQ 0DQJHOQDFK$EQDKPH 6DFKPDQJHO †$EV%*% RGHU5HFKWVPDQJHO †$EV%*% QDFK$EQDKPH YRUUDQJLJ EHLEHKHEEDUHQ0lQJHOQ

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138

2  Besonderes Schuldrecht

2.2.5 Sicherungsrechte des Unternehmers 357

Dem Unternehmer, der in der Regel vorleistungspflichtig ist, steht für seine Forderung aus dem Werkvertrag ein gesetzliches Pfandrecht an den von ihm hergestellten oder ausgebesserten Sachen des Bestellers zu, soweit sie sich noch in seinem Besitz befinden (sog. Werkunternehmerpfandrecht, §  647  BGB). Das Werkunternehmerpfandrecht ist ein gesetzliches Pfandrecht, auf das nach § 1257 BGB die Vorschriften über ein rechtsgeschäftliches Pfandrecht (§§ 1204 ff. BGB) entsprechend Anwendung finden (Abschn. 2.5.4); es kann nicht gutgläubig erworben werden. Beispiel

Der A hat sein defektes Fahrzeug zur Reparatur in die Werkstatt des U gebracht. Wenn A sich weigert, die Reparatur zu zahlen und sich das Fahrzeug noch bei dem U befindet, kann dieser ein Pfandrecht an dem Fahrzeug ausüben, was seine Forderung gegen A hinreichend absichert. ◄ 358

Bezieht sich der Werkvertrag auf die Herstellung eines Bauwerks oder Teile davon, kann der Unternehmer vom Besteller fordern, dass dieser ihm für seine vertraglichen Forderungen sowie für mögliche Restvergütungsansprüche eine Sicherungshypothek am Baugrundstück des Bestellers bestellt (§ 650e BGB). Die Sicherungshypothek entsteht dabei nicht kraft Gesetzes, sondern muss rechtsgeschäftlich begründet werden (§§ 873, 1184 BGB).

2.2.6 Regelungen für Bauverträge 359

Mit Wirkung zum 01.01.2018 sind die §§ 650a – 650o BGB in Kraft getreten, die erstmals Regelungen für Bauverträge in das BGB integriert haben. Umfasst sind dabei nicht alle Verträge über Leistungen auf Baustellen, sondern nur bestimmte Vertragsformen mit den ihnen typischen Leistungsinhalten, dem „Bauvertrag“ (§ 650a BGB) und dem „Verbraucherbauvertrag“ (§ 650i BGB). Für diese Vertragstypen werden seitdem spezielle Vorschriften vorgehalten, die den allgemeineren werkvertraglichen Vorschriften vorgehen. Fragen

5. Welche Rolle spielt die „Abnahme“ beim Werkvertrag?

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick Nachfolgend werden weitere Vertragsformen vorgestellt. Dabei richtet sich die Reihenfolge nicht nach ihrer Bedeutung, sondern nach der Stellung im Bürgerlichen Gesetzbuch.

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

139

2.3.1 Tausch Beim Tausch verpflichten sich die Parteien gegenseitig zum Austausch von Sachen 360 (z. B. Ware gegen Ware), Forderungen oder sonstigen Rechten (§ 480 BGB). Auf den Tausch sind die Vorschriften über den Kauf entsprechend anzuwenden, soweit sie nicht den Kaufpreis anbetreffen. Beispiel

Azubi A steht kurz vor der Prüfung zum Bankkaufmann. Sein Arbeitskollege K, der die Prüfung gerade hinter sich gebracht hat, tauscht seine Bücher zur Prüfungsvorbereitung gegen ein Computerspiel ein. Falls in den Büchern Seiten fehlen, das Tauschobjekt also fehlerhaft ist, kann A die Gewährleistungsrechte aus §§ 480, 437 Nr. 1 bis 4 BGB geltend machen. ◄

2.3.2 Schenkung Die Schenkung ist in den §§  516  ff.  BGB geregelt. Danach verpflichtet sich der 361 Schenker, dem Beschenkten einen Vermögenswert aus seinem Vermögen unentgeltlich zuzuwenden (§ 516 Abs. 1 BGB). Es handelt sich um einen einseitig verpflichtenden Vertrag (sog. Schenkungsvertrag), da nur der Schenker eine Leistung erbringen muss. Zuwendungsgegenstand können Sachen, Sachgesamtheiten oder Rechte sein 362 und die Schenkung muss unentgeltlich erfolgen, d. h. objektiv gesehen eine Bereicherung des Beschenkten zur Folge haben. Die Unentgeltlichkeit ist bei einer „belohnenden Schenkung“ regelmäßig gegeben und selbst bei der Gewährung eines zinslosen Darlehens noch zu bejahen. Allerdings kann die Zuwendung nicht mehr als unentgeltlich angesehen werden, wenn sie unter einer Bedingung, zu einem „Freundschaftspreis“ oder zu einem symbolischen Preis (z. B. Schenkung eines Unternehmens zu einem Preis von 1 EUR) geleistet wird. Der Schenkungsvertrag ist nach § 518 Abs. 1 BGB notariell zu beurkunden. In 363 § 518 Abs. 2 BGB wird allerdings klargestellt, dass ein Formmangel, welcher die Nichtigkeit der Schenkung zur Folge hätte (§ 125 BGB), durch das Bewirken der versprochenen Leistung geheilt wird. Insofern kann die in der Praxis häufigste Form der „Handschenkung“ niemals formnichtig sein, da hier die Verpflichtungs- und Erfüllungshandlung zusammenfallen. Beispiel

Ein Vater schenkt seinem Sohn zum 18. Geburtstag einen PKW und ein Sparbuch mit 5000 EUR und übergibt beides sofort. ◄ Die Erfüllung des Schenkungsversprechens kann seitens des Schenkers verweigert werden (sog. Einrede des Notbedarfs), wenn durch den Vollzug der Schenkung der angemessene Unterhalt des Schenkers oder eine ihm kraft Gesetzes

364

140

2  Besonderes Schuldrecht

o­ bliegenden Unterhaltsverpflichtungen gefährdet würden (§ 519 Abs. 1 BGB). Dabei ist unerheblich, ob der Schenker seinen Notbedarf selbst verursacht hat oder ob er das Vorliegen des Notbedarfs bereits zum Zeitpunkt der Schenkung vorhersehen konnte. Ist die Schenkung bereits vollzogen und der Schenker unverschuldet verarmt, kann er, um den Notbedarf (Unterhalt und Unterhaltsverpflichtungen) zu sichern, das Geleistete auch zurückfordern (§§  528, 529, 812  ff.  BGB). Der Rückforderungsanspruch ist ausgeschlossen, wenn der Schenker seine Bedürftigkeit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat oder wenn zur Zeit des Eintritts seiner Bedürftigkeit die Schenkung zehn Jahre zurück liegt. Das Gleiche gilt, soweit der Beschenkte bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, das Geschenk herauszugeben, weil andernfalls sein Unterhalt oder die Erfüllung der ihm kraft Gesetzes obliegenden Unterhaltspflichten gefährdet würden. 365 Nach § 530 Absatz 1 BGB kann der Schenker ein Schenkungsversprechen widerrufen, wenn sich der Beschenkte durch eine schwere Verfehlung gegen den Schenker oder seiner nahen Angehörigen schuldig gemacht hat (z. B. Androhung körperlicher Gewalt, körperliche Misshandlung, schwere Beleidigungen) und dabei in subjektiver Hinsicht die Dankbarkeit vermissen lässt, die der Schenker erwarten darf. Selbst bei solchem grobem Undank kann der Schenker die Schenkung nicht widerrufen, wenn es sich um eine sog. Pflicht- oder Anstandsschenkung handelt (z. B. Geburtstagsgeschenk in üblichem Rahmen). Der Widerruf erfolgt durch einfache Erklärung gegenüber dem Beschenkten; eine notarielle Beurkundung ist nicht erforderlich (§ 531 Abs. 1 BGB). Der Widerruf ist nach § 532 BGB ausgeschlossen, wenn der Schenker dem Beschenkten verziehen hat oder wenn seit dem Zeitpunkt, in welchem der Widerrufsberechtigte von dem Eintritt der Voraussetzungen seines Rechts auf Widerruf Kenntnis erlangt hat, ein Jahr verstrichen ist. 366 Der Schenker haftet für Sach- und Rechtsmängel nur insoweit, als er sie arglistig verschwiegen hat (§§ 523, 524 BGB). 367 Eine besondere Art der Schenkung ist die Schenkung unter Auflage (§ 525 BGB). Hier wird der Schenkung eine Bestimmung hinzugefügt, nach welcher der Beschenkte zu einer Leistung – Tun oder Unterlassen – verpflichtet wird, die auf der Grundlage und aus dem Wert der Zuwendung erfolgen soll. Dadurch wird der Unterschied zu einer entgeltlichen Vereinbarung deutlich, da es sich bei der Auflage keinesfalls um eine Gegenleistung handelt. Für den Fall, dass der Wert der geschenkten Sache die Höhe der für die Auflage erforderlichen Aufwendungen nicht deckt, ist der Beschenkte zur Verweigerung der Auflage berechtigt (§  526  BGB). Unterlässt der Beschenkte die Vollziehung der Auflage, kann der Schenker das Geschenk wieder herausverlangen (§§ 527, 812 ff. BGB). Beispiel

Der Beschenkte erhält ein Haus mit Grundstück mit der Auflage geschenkt, dem Schenker daran einen Nießbrauch zu bestellen; hierbei handelt es sich um eine Schenkung mit Auflage.

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

141

Erhält der Beschenkte dagegen 10.000  EUR geschenkt, verbunden mit der Verpflichtung, regelmäßig den Rasen zu mähen und die Büsche zu schneiden, liegt in der Absprache eine Verpflichtung zu einer echten Gegenleistung. Es handelt sich daher um einen gemischten Vertrag mit Dienstleistungs- und Schenkungselementen; eine Schenkung unter Auflagen liegt hingegen nicht vor. ◄

2.3.3 Mietvertrag Der Mietvertrag ist ein entgeltlicher Gebrauchsüberlassungsvertrag auf Zeit 368 und in den §§ 535 ff. BGB geregelt; besondere Regeln für Mietverhältnisse über Wohnraum finden sich in den §§ 549 bis 577a BGB. Der Mietvertrag kann sich auf bewegliche (z. B. E-Skooter) und unbewegliche 369 Sachen (z.  B.  Wohnung, Geschäftslokal), Sachgesamtheiten (z.  B.  Aushubgerätschaft, möbliertes Zimmer) oder Sachteile (z. B. Hauswand für Reklame) beziehen und kommt formlos zustande, indem sich die Parteien über das Mietobjekt, die Höhe des Mietzinses und die Vertragsdauer einigen. Lediglich für Mietverträge über Grundstücke und Wohnräume, die länger als ein Jahr abgeschlossenen werden, ist die Schriftform erforderlich (§§ 550 S. 1 BGB, 578 Abs. 1 BGB). Ein Formmangel dabei führt nicht – wie üblich – zur Nichtigkeit des Mietvertrages, sondern er gilt zunächst als für unbestimmte Zeit geschlossen und kann frühestens zum Ablauf eines Jahres nach Überlassung gekündigt werden (§§ 550 S. 2, 578 BGB). Die Hauptpflichten des Vermieters bestehen darin, dem Mieter die Mietsache 370 in einem gebrauchsfähigen Zustand zu überlassen und während des Mietverhältnisses für deren vertragsgemäße Nutzbarkeit zu sorgen, d. h. den Erhalt zu gewährleisten und Beeinträchtigungen zu beseitigen (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB; Instandhaltungspflicht). Gerade die Pflicht zur Vornahme von sog. Schönheitsreparaturen wird oftmals im Mietvertrag auf den Mieter übertragen; bei Formularverträgen ist die Grenze des § 307 BGB zu berücksichtigen, d. h. keine „unangemessene Benachteiligung“ des Mieters. Die Instandhaltungsverpflichtung gilt allerdings nur für die „normale Abnutzungserscheinungen“. Schäden, die der Mieter darüber hinaus verursacht, fallen nicht mehr unter § 535 Abs. 1 AS. 2 BGB. Sie stellen ggf. eine Pflichtverletzung des Mieters wegen vertragswidrigem Gebrauch dar und begründen einen Schadensersatzanspruch des Vermieters nach § 280 BGB. Beispiel

Der V vermietet eine Wohnung an den M. Sofern an den Wänden plötzlich Wasserflecken auftauchen, ist der Vermieter V verpflichtet, den Schaden zu suchen und die Wasserleitung reparieren zu lassen. Hängt der M in der Küche einen Schrank auf und trifft mit seinem Bohrhammer eine Wasserleitung, so liegt in dieser Handlung ein vertragswidriger Gebrauch der Mietsache; den entstandenen Schaden hat nunmehr der Mieter M zu ersetzen. ◄

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2  Besonderes Schuldrecht

Kommt der Vermieter mit der Instandhaltung in Verzug oder ist Eile geboten, kann der Mieter nach §  536a Abs.  2  BGB den Mangel selbst beseitigen und die notwendigen Aufwendungen vom Vermieter ersetzt verlangen (siehe außerdem: § 539 Abs. 1 BGB). Neben den allgemeinen Schutz- und Sorgfaltspflichten (§  241 Abs.  2  BGB; z. B. sicherer Zugang zur Wohnung; hinreichende Beleuchtung des Treppenhauses) hat der Vermieter als gesetzliche Nebenpflicht die Lasten der Mietsache zu tragen (§ 535 Abs. 1 S. 3 BGB; z. B. Grundsteuer, Straßenanliegergebühren), wenngleich auch diese zumeist vertraglich auf den Mieter abbedungen werden (Grenze bei Formularverträgen: § 307 BGB). Der Mieter ist verpflichtet, den vereinbarten Mietzins zu entrichten (§  535 Abs. 2 BGB), d. h. die Grundmiete sowie die vereinbarten Nebenkosten bzw. Betriebskostenumlage. Die Höhe der Grundmiete ist grundsätzlich frei vereinbar, wenngleich bei der Wohnraummiete zum Schutz des Mieters durchaus Sonderregelungen auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene bestehen können (§ 556d BGB; zur verfassungswidrigen „Mietbremse/-deckel“: BVerfG Beschl. v. 25.03.2021–2 BvF 1/20). Bezogen auf die Nebenkosten, die in Form von sog. Betriebskosten umgelegt werden (§ 556 Abs. 2 BGB), ist insbesondere die „Verordnung über die Aufstellung von Betriebskosten“ zu beachten (§ 556 Abs. 1 BGB), aus welcher sich ergibt, welche Betriebskosten überhaupt vom Vermieter auf den Mieter anteilig übertragen werden dürfen (gestattet sind z. B. Grundsteuer, Müllgebühren; Pflege der Außenanlagen; nicht gestattet sind z. B. Verwalterkosten, da sie in der Verordnung nicht genannt werden). Die Fälligkeit der Miete bestimmt sich entweder nach dem Gesetz (§§  556 b Abs. 1, 579 Abs. 1 BGB) oder kann frei vereinbart werden; regelmäßig wird aber eine Vorleistungspflicht vereinbart. Sollte der Mieter an der Ausübung seines Gebrauchsrechts verhindert sein, entbindet ihn das nicht von seiner Verpflichtung, den Mietzins pünktlich zu entrichten (§ 537 BGB). Der Mieter darf die Mietsache nur vertragsgemäß nutzen (§ 541 BGB), eine Gebrauchsüberlassung an Dritte, z. B. eine Untervermietung, ist nur mit Erlaubnis des Vermieters zulässig (§§ 541, 553 Abs. 1 BGB). Im Rahmen seiner Schutz- und Obhutspflichten hat er ferner dafür zu sorgen, dass die von ihm genutzte Mietsache in ordnungsgemäßem Zustand verbleibt. Ihn trifft eine unverzügliche Anzeigepflicht, sofern Beeinträchtigungen der Mietsache drohen oder bereits eingetreten sind (§ 536c Abs. 1 BGB). Unterlässt er diese Mangelanzeige, wird er dem Vermieter gegenüber schadensersatzpflichtig (§ 536c Abs. 2 BGB). Schließlich treffen ihn Duldungspflichten bezüglich des Zugangs zur Mietsache, wenn Instandhaltungsoder Modernisierungsmaßnahmen vom Vermieter eingeleitet werden (§§  555a, 555d BGB). Zur Sicherung des Mietzinses kann eine Mietkaution vereinbart werden (§ 551 BGB). Zudem entsteht bei Abschluss des Mietvertrages über Grundstücke und Räume ein gesetzliches Vermieterpfandrecht an den eingebrachten Sachen des Mieters (§ 562–562d, 578 BGB).

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

143

Weist die vermietete Sache einen (Sach-)Mangel auf, der ihre Tauglichkeit zum 375 vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt oder erheblich mindert (§  536 Abs.  1  BGB) oder fällt eine zugesicherte Eigenschaft zu einem späteren Zeitpunkt weg (§ 536 Abs. 2 BGB), kann der Mietzins nach einer Anzeige gegenüber dem Vermieter ganz oder teilweise herabgesetzt werden (Minderung des Mietzinses); auf ein Verschulden kommt es ebenso wenig an, wie auf ein Nacherfüllungsbegehren (Abb. 2.7). Lediglich unerhebliche Mängel bleiben davon unberücksichtigt (§  536 Abs.  1 S. 3 BGB; z. B. die Tapete ist an einer kleinen Stelle lose). Hat der Vermieter den Mangel zu vertreten (z.  B. das gemietete Gebäude ist aufgrund bewusst in Kauf genommener Baumängel feucht) oder kommt er mit dessen Beseitigung trotz einer entsprechenden Aufforderung durch den Mieter in Verzug, kann der Mieter zusätzlich Schadensersatz verlangen (§ 536a Abs. 1 BGB). Umfasst sind der Mangelund Mangelfolgeschaden sowie die Aufwendungen für eine Ersatzvornahme (§ 536a Abs. 2 BGB) (Abb. 2.8). Beispiel

Die B-GmbH mietet von V in der Innenstadt gelegene Geschäftsräume. Der schriftlich verfasste Vertrag hat eine Laufzeit von zehn Jahren. Da die Heizung während der ersten beiden Januarwochen nicht funktioniert und die B-GmbH den V mehrmals aufforderte, den Schaden zu beheben, mindert sie den Mietzins bis zur Behebung des Schadens (= Mietminderung). Nach einer weiteren Woche beauftragt die B-GmbH einen Klempner und verlangt die Werkforderung von V ersetzt (= Ersatzvornahme). ◄

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Abb. 2.7  Mängelhaftung im Mietvertrag I

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144

2  Besonderes Schuldrecht

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Abb. 2.8  Mängelhaftung im Mietvertrag II

Die §§ 536 ff. BGB gelten auch für den Fall, dass der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache durch Rechte Dritter (z. B. Dienstbarkeiten) ganz oder teilweise unmöglich wird (§ 536 Abs. 3 BGB; Rechtsmangel). 377 Die Mängelhaftung ist ausgeschlossen, wenn der Mieter den Mangel der Mietsache bei Vertragsschluss kannte (§ 536b BGB) oder ein vertraglicher Gewährleistungsausschluss vorliegt. Letzterer ist allerdings nichtig, wenn der Vermieter den Mangel arglistig verschweigt (§ 536d BGB). 378 Veränderungen und Verschlechterungen der Mietsache, die durch den vertragsgemäßen Gebrauch herbeigeführt werden, hat der Mieter grundsätzlich nicht zu vertreten (§ 538 BGB). Allerdings wird – wie bereits erwähnt – diese Regelung oftmals abbedungen, so dass der Mieter Schönheitsreparaturen, Renovierungen und kleinere Instandsetzungen auszuführen hat. Macht der Mieter dagegen in vertragswidriger Weise von der Mietsache Gebrauch, hat der Vermieter den Mieter zunächst aufzufordern, die (konkret zu bezeichnende) vertragswidrige Nutzung zu unterlassen (Abmahnung). Setzt der Mieter trotz der Abmahnung sein vertragswidriges Verhalten fort, kann er klageweise auf Unterlassen in Anspruch genommen werden (§ 541 BGB). 379 Das Mietverhältnis endet, wenn es auf eine bestimmte Zeit eingegangen wird, durch Zeitablauf (§§  542 Abs.  2, 575  BGB) oder, wenn der Vertrag auf unbestimmte Zeit abgeschlossen wird, durch ordentliche Kündigung unter Einhaltung der Fristen (§§  542 Abs.  1, 573c, 580a  BGB). Bei ordentlicher Kündigung von Wohnraum sind weitere Einschränkungen im Gesetz vorgesehen, wie z.  B. die Schriftform der Kündigung (§ 568 BGB) oder das Vorliegen eines berechtigten Interesses (§ 573 Abs. 2 BGB, z. B. Eigenbedarf, s. a. § 577a Abs. 1 BGB). Während eine Befristung des Mietvertrages das Recht zur ordentlichen Kündigung aus376

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

145

schließt, bleibt die außerordentliche Kündigung bei einem befristeten Mietvertrag zulässig. Die Parteien können das Mietverhältnis schließlich auch einvernehmlich durch einen Aufhebungsvertrag beenden (§ 311 BGB). Beide Parteien haben jederzeit das Recht zur fristlosen außerordentlichen Kündigung, wenn ein wichtiger Grund vorliegt, also dem Kündigenden die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr zugemutet werden kann (§ 543 Abs. 1 BGB). Der Mieter kann insbesondere dann fristlos kündigen, wenn der Vermieter den vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache nicht gewährt oder abredewidrig entzieht (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB). Dagegen hat der Vermieter ein außerordentliches Kündigungsrecht, wenn der Mieter durch Vernachlässigung der ihm obliegenden Sorgfalt die Mietsache erheblich gefährdet und der Vermieter hierdurch in seinen Rechten verletzt wird (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB) oder wenn der Mieter mit der Zahlung eines erheblichen Teils der Miete in Verzug ist (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB; zweimonatiger Zahlungsverzug). Für Mietverhältnisse über Wohnraum sind weitere Gründe zur fristlosen Kündigung in § 569 BGB aufgeführt, insbesondere die nachhaltige Störung des Hausfriedens (§  569 Abs. 2 BGB). Die Mietvertragsparteien können bei der Geschäftsraummiete sowohl die Kündigungsgründe als auch die Kündigungsfristen und -termine vertraglich abweichend von der gesetzlichen Regelung gestalten. Von dieser Möglichkeit wird in der Praxis häufig Gebrauch gemacht, sodass die gesetzlichen Regelungen nur bei unwirksamer oder fehlender Vertragsgestaltung anzuwenden sind. Nach Beendigung des Mietverhältnisses ist der Mieter verpflichtet, die Mietsache zurückzugeben (§ 546 BGB). Bei verspäteter Rückgabe bleibt der Mieter auch weiter zur Mietzahlung verpflichtet und der Vermieter kann weiteren Schaden ersetzt verlangen, der ihm z. B. durch die Nichteinhaltung von Folgemietverträgen entstanden ist. Selbst bei einer Beendigung des Mietvertrages durch Kündigung wird das Mietverhältnis stillschweigend verlängert, wenn der Mieter den Mietgebrauch fortsetzt und der Vermieter nicht binnen zwei Wochen widerspricht (§ 545 BGB). Weder der Tod des Vermieters noch der Verkauf der Mietsache haben Einfluss auf das Mietverhältnis. Der Rechtsnachfolger (Erbe bzw. Käufer) tritt gemäß §§ 566 Abs. 1, 564, 578 BGB in die Rechte und Pflichten des Vermieters ein („Kauf bricht Miete nicht“). Fragen

6. Welche Rechte hat der Mieter bei Mängeln der vermieteten Sache? 7. M mietet von V eine Neubauwohnung. Infolge eines für V nicht erkennbaren Fehlers an der Stromleitung kommt es kurz nach dem Einzug zu einem Brand, bei dem einige Möbel des M und das Pedelec seiner Frau zerstört werden. Herr und Frau M verlangen von V Ersatz ihrer Schäden. Mit Recht?

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2  Besonderes Schuldrecht

2.3.4 Pacht Mit dem Pachtvertrag verpflichtet sich der Verpächter, dem Pächter den Gebrauch des Pachtgegenstandes nebst Fruchtziehung gegen Entgelt zu gewähren (§ 581 BGB). 385 Der Pachtvertrag richtet sich weitgehend nach den Vorschriften zur Miete (§ 581 Abs. 2 BGB). Die Unterschiede sind daher geringfügig: 384

• Pachtgegenstand können nicht nur bewegliche und unbewegliche Sachen, sondern auch Rechte (z. B. eine Jagdberechtigung) sein („Gegenstand“, § 581 Abs. 1 S. 1 BGB). • Der Pächter ist nicht nur zum Gebrauch, sondern auch zur Fruchtziehung (§ 99 BGB) berechtigt. • Der Pächter hat, anders als in § 535 Abs. 1 S. 2 BGB, das Inventar der Pachtsache selbst instand zu halten (§ 582 Abs. 1 BGB) und bei Landpachtverträgen sogar die Lasten (z. B. Steuern, Nießbrauchrechte Dritter) zu tragen (§ 586a BGB). • Die Kündigungsrechte und -fristen sind gegenüber dem Mietverhältnis modifiziert (§§ 584, 584a, 594a BGB). Beispiel

A verpachtet seine Obstwiesen an den Nachbarn B, der die Bäume nun ernten und das Obst verbrauchen bzw. verwerten darf. Es gelten die Vorschriften des Mietrechts, sofern sich aus den §§  582  ff.  BGB nichts anderes ergibt (§  581 Abs. 2 BGB). ◄

2.3.5 Leihe 386

Bei der Leihe handelt es sich um einen unvollkommenen zweiseitigen Vertrag, durch den sich der Verleiher verpflichtet, dem Entleiher den Gebrauch einer Sache unentgeltlich zu gestatten (§ 598 BGB). Beispiel

Der S darf in seinem Winterurlaub die Ski von seinem Freund F nutzen, der ihm diese unentgeltlich überlässt – es liegt eine Leihe i. S. d. § 598 BGB vor. Würde der S die Ski an seinem Skiort von der Firma Ski-Verleih Berggaudi „ausleihen“, läge ein Mietvertrag i. S. d. § 535 BGB vor, da der Ski-Verleih für die zeitweise Überlassung der Ski ein Entgelt verlangt. ◄ 387

Der Verleiher ist zur unentgeltlichen Gestattung des Gebrauchs verpflichtet. Er hat nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten; für leichte Sorgfaltspflichtverletzungen muss er nicht einstehen (§ 599 BGB). Für Sach- und Rechtsmängel haftet er auf Schadensersatz, wenn er sie arglistig verschwiegen hat (§ 600 BGB).

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

147

Beispiel

Der skiunerfahrene A leiht sich vom erfahrenen Ski-Experten E eine Skiausrüstung für seinen Winterurlaub. E will dem A allerdings eins auswischen und gibt ihm völlig untaugliche Ski mit auf den Weg. Erst auf der Piste stellt auch der A fest, dass die Ski überhaupt nicht rutschen. Um seinen Urlaub angemessen fortsetzen zu können, mietet er beim Ski-Verleih Berggaudi taugliche Ski zum Preis von 300 EUR. Zuhause angekommen verlangt er von E Schadensersatz. Der Anspruch ist berechtigt. Hier liegt eine Leihe (und nicht nur ein Gefälligkeitsverhältnis) vor und da der E dem A die Untauglichkeit der Ski arglistig verschwiegen hat, ist er ihm zu Schadensersatz verpflichtet. ◄ Pflichten des Entleihers entstehen erst, nachdem er die Sache erhalten hat; es 388 gibt gerade keine Gegenleistung! Der Entleiher hat die Erhaltungskosten zu tragen (§  601  BGB) und darf die entliehene Sache nur wie vereinbart gebrauchen, insbesondere darf er sie nicht an Dritte weitergeben (§ 603 BGB). Gebraucht der Entleiher die Sache vertragswidrig oder beschädigt sie, kann der Verleiher nach vorheriger Abmahnung auf Unterlassung klagen oder fristlos kündigen; er kann ggf. Schadensersatz verlangen. Für eine normale Verschlechterung im Rahmen des vertragsmäßigen Gebrauchs muss der Entleiher jedoch nicht einstehen. Nach Ablauf der vereinbarten Zeit muss der Entleiher die entliehene Sache zurückgeben (§ 604 BGB). Der Verleiher kann vorher kündigen oder Rückgabe verlangen, falls er die Sache unvorhergesehen dringend braucht (§ 605 Nr. 1 BGB). Ist die Dauer der Leihe nicht bestimmt, kann der Verleiher die Sache jederzeit zurückfordern (§ 604 Abs. 3 BGB).

2.3.6 Auftrag Durch einen Auftrag (=  unvollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag) ver- 389 pflichtet sich der Beauftragte dazu, ein Geschäft unentgeltlich für den Auftraggeber zu besorgen (§ 662 BGB). Gegenstand des Auftrags ist daher die unentgeltliche Besorgung eines Geschäftes, worunter jede fremdbezogene, rechtsgeschäftliche oder tatsächliche Tätigkeit zu verstehen ist (z. B. Beaufsichtigung des Hundes bei urlaubsbedingter Abwesenheit des Tierhalters; Mitwirkung an einem Theaterstück für den krankheitsbedingt ausgefallenen Freund). Dabei muss das Geschäft „für den Auftraggeber“ besorgt werden, also jedenfalls dessen Interessen fördern, wobei das Geschäft daneben auch fremden Interessen dienen kann. Da es sich bei dem Auftrag um ein unentgeltliches Rechtsgeschäft handelt, ist 390 die Abgrenzung zur reinen Gefälligkeit oftmals problematisch. Daher muss stets überprüft werden, ob ein Rechtsbindungswille des Erklärenden vorliegt (Abschn. 1.4).

148

2  Besonderes Schuldrecht

Beispiel

A erklärt sich bereit, die Blumen des Nachbarn N während dessen urlaubsbedingter Abwesenheit zu gießen. Dafür stellt der N seine Blumen vor die Tür. In der Erklärung des A liegt eine reine Gefälligkeitszusage, ohne Rechtsbindungswille. Handelt es sich beim Nachbarn des A um die Gärtnerei G und der Inhaber G bittet den A, während seiner Abwesenheit die Gartenbauanlage regelmäßig zu wässern und zu düngen, da die wertvollen Bestände keinen Schaden nehmen sollen, liegt ein Auftrag vor. Die Verpflichtung des A geht hier – schon ob des objektiven Werts der Pflanzenbestände – weit über die Zusage einer reinen Gefälligkeit hinaus. ◄ Der Beauftragte ist dazu verpflichtet, das übernommene Geschäft persönlich auszuführen (§§  662, 664  BGB). Er hat das ihm übertragene Geschäft sorgfältig auszuführen (§  662  BGB), alle Weisungen des Auftraggebers zu beachten (§ 665 BGB), ihm gegenüber Auskunft und Rechenschaft abzulegen (§ 666 BGB) sowie alles herauszugeben, was er aus der Geschäftsbesorgung erlangt hat (§ 667 BGB). 392 Wegen der Unentgeltlichkeit der Geschäftsbesorgung entfällt zwar eine Vergütungspflicht, allerdings muss der Auftraggeber dem Beauftragten die Aufwendungen ersetzen, die dieser in Erfüllung des Auftrags getätigt hat (§  670  BGB); auf Verlangen ist auch Vorschuss zu leisten (§ 669 BGB). 391

Beispiel

Müsste im vorigen Beispiel der A nach einer Woche weiteren Dünger im Fachmarkt erwerben, da G nicht genug bereitgestellt hatte, wären die Aufwendungen des A von G zu ersetzen. A hat die Mittel zum Zweck der Ausführung des Auftrags aufgewandt und durfte den Erwerb des Düngers auch nach den Umständen für erforderlich halten. ◄ Der Auftrag kann vom Auftraggeber jederzeit widerrufen und vom Beauftragten jederzeit gekündigt werden (§ 671 BGB). 394 Das Auftragsrecht ist im Rahmen der Wirtschaftsprivatrechts durchaus von Bedeutung, da auf die Regelungen immer wieder dann verwiesen wird, wenn Aufwendungen in fremden Interesse getätigt und ersetzt werden sollen (z. B. in den §§ 27 Abs. 3, 675 Abs. 1, 713, 1835 Abs. 1, 2218 Abs. 1 BGB). 393

2.3.7 Geschäftsbesorgungsvertrag 395

2.3.7.1 Allgemeiner Geschäftsbesorgungsvertrag Der Geschäftsbesorgungsvertrag ist ein gegenseitiger Vertrag, der auf eine entgeltliche, selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Interesse des Auftraggebers ge-

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

149

richtet ist. Im Einzelnen gehören dazu die Bankgeschäfte, wie beispielsweise Einlagen-, Kredit-, Diskont-, Effekten-, Depot-, Giro- und Kreditkartenverträge, ferner Baubetreuungs- und Bauträgerverträge, Betriebsführungsverträge, Geschäftsführerverträge, Kommissions- und Speditionsgeschäfte, Verträge über Rechts- oder Steuerberatung und ähnliche Vereinbarungen. Das Gesetz regelt den allgemeinen Geschäftsbesorgungsvertrag in §  675 396 Abs. 1 BGB nur insoweit, als festgelegt wird, dass auf einen Dienst- oder Werkvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, vorrangig Auftragsregeln (Abschn. 2.3.6) Anwendung finden. Der entgeltliche Geschäftsbesorgungsvertrag ist • Dienstvertrag, wenn die Geschäftsbesorgung nur das Tätigwerden für den Auftraggeber zum Inhalt hat (z. B. steuerrechtliche Beratung). • Werkvertrag, wenn außer der Tätigkeit noch ein Erfolg geschuldet ist (z. B. Anlage von Vermögenswerten). Im Unterschied zum Auftrag erfolgt die Übernahme einer Geschäftsbesorgung gegen Zahlung einer Vergütung, sodass eine entgeltliche Auftragsübernahme vorliegt. Die Hauptleistungspflichten richten sich entweder nach Sondervorschriften bestimmter Geschäftsarten (z. B. Zahlungsdienste nach §§ 675c ff. BGB) oder nach den Vereinbarungen der Parteien, seien es Individualvereinbarungen oder AGB; ergänzend sind je nach Art der Geschäftsbesorgung die Dienst- oder Werkvertragsvorschriften anwendbar. Außerdem bestehen die auftragstypischen Nebenleistungspflichten zur sorgfältigen und sachkundigen Ausführung des fremden Geschäfts und zur Loyalität gegenüber dem Auftraggeber, welche in einzelnen Branchen spezielle Konkretisierungen erfahren haben (z.  B. das Bankgeheimnis oder die Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte und Steuerberater). Der Geschäftsbesorger ist ferner zur Auskunftserteilung gegenüber dem Auftraggeber verpflichtet und nach Maßgabe der vertraglichen Vereinbarungen weisungsgebunden. Er kann allerdings im Interesse des Auftraggebers von den Weisungen abweichen (§§ 665, 666 BGB). Wer zur Durchführung einer bestimmten Geschäftsbesorgung öffentlich bestellt wird (z. B. Notare, Treuhänder, Wirtschaftsprüfer), muss die Ablehnung eines solchen Auftrags unverzüglich anzeigen (§ 663 BGB). Schließlich müssen nach § 675a BGB alle natürlichen und juristischen Personen, die zur Geschäftsbesorgung öffentlich bestellt sind oder sich dazu öffentlich erboten haben, ihren Kunden schriftlich und unentgeltlich Informationen über Entgelte und Auslagen zu standardisierten Dienst- und Werkleistungen zur Verfügung stellen (sog. Vorabinformationspflicht). Standardgeschäfte sind bei Verwendung von AGB bzw. Preistafeln zu vermuten; nicht hingegen, wenn eine Preisfestsetzung nach § 315 BGB erfolgt oder die Entgelte und Auslagen gesetzlich verbindlich geregelt sind (z. B. RVG, HOAI). Zur Übermittlung der Vorabinformationen ist Text-

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2  Besonderes Schuldrecht

form i. S. des § 126 b BGB, d. h. eine elektronische Übermittlung, gestattet. Für deren Bereitstellung darf dem Interessenten keine Gegenleistung abverlangt werden, es sei denn, der Geschäftsbesorger erbringt Leistungen über seine ­Verpflichtung aus §  675a  BGB hinaus (z.  B. wenn er Informationen entgegen §  269  BGB auf Wunsch per Brief versendet). Zahlungsdienstleister, wie z. B. Kreditinstitute (§ 1 KWG) sowie ihnen gleichgestellte Unternehmen werden obendrein gesetzlich dazu verpflichtet, über Ausführungsfristen, Wertstellungszeitpunkte, Referenzkurse und weitere Einzelheiten, die durch Rechtsverordnungen näher konkretisiert sind, zu informieren (§ 675d BGB i. V. m. Art. 248 §§ 1–16 EGBGB). 401 Praktisch besonders relevant ist der Aufwendungsersatzanspruch nach § 670 BGB, der dem Geschäftsbesorger neben dem vertraglich vereinbarten Entgelt den Ersatz seiner in Ausübung der Geschäftsbesorgung entstandenen Vermögensopfer (z. B. Auslagen, eingegangene Verpflichtungen oder Bestellung von Sicherheiten für den Auftraggeber) sichert. Der Aufwendungsersatzanspruch beinhaltet beispielsweise Telefon- und Portokosten, Kosten eines Sachverständigen zur Feststellung von Schäden, Einsatz von Futtermittel oder Treibstoff, Kontoführungsgebühren und ähnliche Aufwendungen, wie auch den Regressanspruch des Bürgen. Auf Verlangen des Geschäftsbesorgers ist der Auftraggeber ferner zu Vorschusszahlungen verpflichtet (§ 669 BGB). Beispiel

Ein Kaufmann unterhält ein Geschäftskonto bei seiner Bank. Er erteilt hinsichtlich der Miete für seine Büroräume einen Dauerauftrag. Der Dauerauftrag ist ein Geschäftsbesorgungsvertrag. Infolgedessen entstehen vertragliche Entgelt- und gesetzliche Aufwendungsersatzansprüche der Bank (= Geschäftsbesorger) gegen den Kaufmann (§§ 675c, 670 BGB). ◄ 402

Der Geschäftsbesorgungsvertrag kann vom Auftraggeber widerrufen und vom Geschäftsbesorger gekündigt werden. Da allerdings die Vertragsgestaltung weitgehend den Vertragsparteien überlassen bleibt, der Geschäftsbesorgungsvertrag kann als Dienst- oder Werkvertrag ausgestaltet werden (§ 675 Abs. 1 BGB), ergibt sich als weitere Konsequenz, dass ergänzend die Kündigungsvorschriften aus dem Dienstvertrags- (§§ 620 ff. BGB; Abschn. 2.3.10) oder Werkvertragsrecht (§§ 648, 648a BGB; Abschn. 2.2) gelten. Bei einer fristlosen Kündigung durch den Geschäftsbesorger ist zum Schutz des Auftraggebers §  671 Abs.  2  BGB anwendbar (§  675 Abs.  1  BGB). Der Geschäftsbesorger darf ohne wichtigen Grund nicht zur Unzeit kündigen, sonst wird er schadensersatzpflichtig (§ 671 Abs. 2 S. 2 BGB). Wichtige Gründe, die eine vorzeitige Kündigung rechtfertigen, sind z. B. Krankheit des Geschäftsbesorgers oder Unausführbarkeit des Geschäfts. Eine unzeitige Kündigung liegt allerdings auch nur dann vor, wenn der Auftraggeber das Geschäft nicht selbst übernehmen und auch nicht durch einen anderen ausführen lassen kann.

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

151

2.3.7.2 Zahlungsdienste als Sonderform Mit der Umsetzung der Richtlinie 2007/64/EG wurde das Recht der Zahlungs- 403 dienste in das BGB integriert, welches zuletzt mit der RL (EU) 2015/2366 (PSD2) und dem entsprechenden Umsetzungsgesetz vom 17.07.2017 eine weitere Überarbeitung erfahren hat. Dabei wurde an der Einordnung der verschiedenen Zahlungsdienste und -instrumente als Unterfälle des Geschäftsbesorgungsvertrages festgehalten. Die Vorschriften der §§ 675c-676c BGB werden in erster Linie durch das Zah- 404 lungsdiensteaufsichtsgesetz (ZAG) ergänzt, wo unter anderem definiert ist, wann von einem Zahlungsdienst (§ 1 Abs. 1 S. 2 ZAG; u. a. Ein- und Auszahlungen nach Nr. 1 und Nr. 2; Kartengeschäfte nach Nr. 3b, Kreditgewährungen nach Nr. 4) oder Zahlungsdienstleister (§  1 Abs.  1 S.  1 ZAG; Zahlungsinstitute nach Nr.  1; E-Geld-Institute nach Nr. 2), gesprochen wird. Wesentlicher Kern der Regelungen im  BGB bildet der §  675f  BGB, der die 405 Pflichten der Vertragsparteien in einem Zahlungsdienstevertrag normiert und dabei zwischen dem Einzelzahlungsvertrag (§  675f Abs.  1  BGB) und dem Zahlungsdiensterahmenvertrag (§ 675f Abs. 2 BGB) unterscheidet. Unter den Zahlungsdienstevertrag fallen unter anderem Ein- sowie Auszahlungsgeschäfte, Lastschrift-, Kartenzahlungs- und Überweisungsgeschäfte. Unter den Zahlungsdiensterahmenvertrag nach § 675f Abs. 2 BGB fallen weiterhin die Führung von Konten bzw. Giroverträge. Zwar sind Letztere nicht abschließend in den §§ 675f ff. BGB geregelt, vielmehr kann, um etwaige Regelungslücken zu schließen, auf das Recht des Kontokorrent nach §§ 355 f. HGB zurückgegriffen werden. Hiernach hat der Zahlungsdienstleister einen oder mehrere Zahlungsvorgänge auszuführen (d. h. den Zahlungserfolg herbeizuführen) und der Kunde ist im Gegenzug als Zahlungsdienstnutzer verpflichtet, das vereinbarte Entgelt (d.  h. die Gegenleistung) zu leisten (§ 675f Abs. 5 BGB). Der Vertrag verpflichtet also den Zahlungsdienstleister zur Ausführung der Zahlung, d. h. der Bereitstellung, Übermittlung oder Abhebung des Geldes, wobei beim Einzelzahlungsvertrag der konkrete Auftrag zur Durchführung des Zahlungsdienstes bereits enthalten ist, während im Rahmen des Zahlungsdiensterahmenvertrages jede weitere Aktivität (z.  B. die Vornahme einer Überweisung) gesondert erteilt werden muss (Weisung i. S. d. § 665 BGB). Beispiel

A weist seine Bank an von seinem Konto 10 EUR auf das Konto des C zu überweisen. Die Weisung wird im Rahmen eines bestehenden Zahlungsdiensterahmenvertrages erfolgen. Die B muss nach (§§ 675f Abs. 2, 665) die Überweisung ausführen und kann anschließend für ihre Tätigkeit Überweisungsgebühren in Rechnung stellen (§ 675f Abs. 5 BGB). ◄ Der Zahlungsdienstevertrag kommt grundsätzlich formfrei zustande. Aller- 406 dings sind Vertragsbedingungen und vertragsbegleitende Informationen nach

152

2  Besonderes Schuldrecht

Art. 248 § 3 EGBGB auf einem dauerhaften Datenträger mitzuteilen. Ferner werden sehr häufig AGB in den Zahlungsdienstevertrag einbezogen, so dass faktisch eine Schriftform notwendig wird. 407 Die Zahlungsvorgänge sind zu autorisieren. Regelungen dazu sowie zu den Schutzmaßnahmen, die sowohl der Zahlungsdienstleister als auch der Zahlungsdienstnutzer zu ergreifen haben, finden sich in den §§ 675j – 675m BGB. Missachten die Vertragsparteien die dort genannten Anforderungen, haften sie der jeweils anderen Partei nach den §§ 675u ff. BGB. 408 Die Ausführung der Zahlungsvorgänge ist in den §§ 675n ff. BGB geregelt. Wesentlich ist, dass ein Zahlungsauftrag nach Zugang beim Zahlungsdienstleister dem Grunde nach nicht mehr widerrufen werden kann (§ 675p Abs. 1 und 2 BGB). Lediglich im Rahmen eines sog. terminierten Auftrages kann bis Ende des Geschäftstages vor dem Tag des Termins ein Widerruf erklärt werden (§  675p Abs. 3 BGB). Für die Ausführung der Zahlungsvorgänge legt § 675s BGB ferner Fristen fest. Soweit nichts anderes vereinbart wurde, hat der Zahlungsdienstleister sicherzustellen, dass der Zahlungsbetrag ungekürzt (§ 675q BGB) spätestens am Ende des auf den Zugangszeitpunkt des Zahlungsauftrags folgenden Geschäftstags beim Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers eingeht (§ 675s Abs. 1 BGB). 409 Der Zahlungsdienstvertrag in Form eines Einzelzahlungsvertrages endet regelmäßig mit seiner Erfüllung (§ 362 BGB), z. B. mit dem Eingang des Geldes auf dem Empfängerkonto. Der Zahlungsdienstvertrag in Form des Zahlungsdienstrahmenvertrages ist Dauerschuldverhältnis auf unbestimmte Zeit und kann daher ordentlich gekündigt werden (§ 675h BGB). Durch den Zahlungsdienstnutzer jederzeit, es sei denn es wurde eine Kündigungsfrist vereinbart (§ 675h Abs. 1 BGB); die vereinbarte Frist darf allerdings einen Monat nicht überschreiten (§ 675h Abs. 1 Satz 2 BGB). Dagegen kann der Zahlungsdienstleister den auf unbestimmte Zeit geschlossenen Zahlungsdienstrahmenvertrag nur kündigen, soweit das Kündigungsrecht zuvor vereinbart wurde. Dabei darf die Kündigungsfrist nicht unter zwei Monaten liegen (675h Abs. 2 Satz 1, 2 BGB). Die Kündigungsmodalitäten (und auch die Kündigungserklärung selbst) müssen entsprechend Art. 248 §§ 2, 3 EGBGB dem Zahlungsdienstnutzer bekannt gegeben sein, sie sind in der von den Parteien vereinbarten Sprache, in leicht verständlichen Worten auf einem dauerhaften Datenträger (d. h. schriftlich oder textlich) mitzuteilen.

2.3.8 Verwahrung 410

Durch den Verwahrungsvertrag wird der Verwahrer zur Aufbewahrung einer bei ihm hinterlegten beweglichen Sache verpflichtet (§  688  BGB). Die Verwahrung kann dabei entgeltlich oder unentgeltlich erfolgen.

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

153

Beispiel

Die B-Bank vereinbart mit einem Kreditnehmer die Sicherungsübereignung seines Kfz an die B-Bank. Die tatsächliche Übergabe wird dabei durch die ­Vereinbarung eines Besitzkonstituts – in Form eines Verwahrungsvertrages – ersetzt, damit der Kreditnehmer das Fahrzeug weiter nutzen kann. ◄ Die Hauptpflicht des Verwahrers besteht darin, die ihm übergebene Sache in der vereinbarten Form aufzubewahren (§  688  BGB). Er darf sie nicht bei einem Dritten hinterlegen und die Aufbewahrungsart nur ausnahmsweise – aus berechtigten Gründen – ändern (§§ 691, 692 BGB). Auf Verlangen des Hinterlegers hat er die Sache zurückzugeben (§§ 695 S. 1. 697 BGB). Bei einer unentgeltlichen Verwahrung hat der Verwahrer bezüglich Verlust oder Beschädigung der verwahrten Gegenstandes nur für die Sorgfalt einzustehen, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt (§ 690 BGB). Bei einer entgeltlichen Verwahrung haftet der Verwahrer nach allgemeinen Bestimmungen (§§ 276, 278 BGB). Der Hinterleger hat bei der entgeltlichen Verwahrung die vereinbarte Vergütung zu entrichten; diese gilt selbst dann als vereinbart, wenn sie nicht ausdrücklich bestimmt wurde, aber die Aufbewahrung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist (§ 689 BGB). Unabhängig von der Verwahrungsart sind dem Verwahrer die Aufwendungen zu ersetzen, die er zum Zweck der Aufbewahrung getätigt hat (§ 693 BGB; Futterkosten bei Aufbewahrung von Tieren). Ist dem Verwahrer durch die verwahrte Sache ein Schaden entstanden (z. B. durch den Biss eines tollwütigen Tieres), so ist der Hinterleger unter der Voraussetzung des § 694 BGB zu Schadensersatz verpflichtet. Der Hinterleger kann die Sache jederzeit wieder zurückfordern (§695 BGB), der Verwahrer sie zurückgeben (§ 696 BGB). Bei fest vereinbarten Verwahrungszeiten besteht das Rückgaberecht allerdings nur, wenn ein wichtiger Grund vorliegt (§ 696 BGB). Kommen die Vertragsparteien dem Rückgabe-/Rücknahmebegehren nicht nach, geraten sie in Verzug und machen sich schadensersatzpflichtig (§ 286 BGB).

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2.3.9 Maklervertrag Ein Maklervertrag verpflichtet den Auftraggeber, dem Makler eine Vergütung 417 (Courtage) zu zahlen, sofern der Auftraggeber durch Nachweis oder Vermittlung des Maklers den angestrebten Vertrag mit einem Dritten abgeschlossen hat (§ 652 Abs. 1 BGB). Makler ist damit, wer selbständig gegen Entgelt einem Auftraggeber eine Gele- 418 genheit zum Abschluss eines Vertrages nachweist oder den Vertrag vermittelt (z. B. Grundstückskaufvertrag, Mietvertrag, Versicherungsvertrag). Es besteht keine „Erfüllungspflicht“, sondern nur eine „Bemühungspflicht“.

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419

2  Besonderes Schuldrecht

Für sein Bemühen erhält der Makler einen Provisionsanspruch gegen seinen Auftraggeber (§ 652 BGB), sofern zwischen dem Auftraggeber und einem Dritten der in Aussicht genommene Vertrag tatsächlich zustande gekommen ist und die Tätigkeit des Maklers dafür ursächlich war. Der Makler verdient also nur, wenn seine Tätigkeit auch einen Erfolg herbeiführt (dies ist nicht zwingend, da der Vertragsschluss zwischen Auftraggeber und dem Dritten auch nicht zustande kommen kann); davon abweichende Vergütungsansprüche müssten ausdrücklich vereinbart werden.

2.3.10 Dienstvertrag Mit dem Dienstvertrag verpflichtet sich der eine Teil zur Leistung von Diensten, der andere Teil zu einer entsprechenden Vergütung (§ 611 BGB). 421 Anders als bei einem Werkvertrag steht dabei die persönliche Leistungserbringung in Form einer Tätigkeit im Vordergrund. Bei der Leistung kann es sich um selbständige Tätigkeit (z. B. Ärzte, Rechtsanwälte, Steuer- und Unternehmensberater) oder um abhängige Arbeit (z. B. Arbeitnehmer) handeln. Bei letzterem handelt es sich um einen Arbeitsvertrag, der besonderen gesetzlichen Vorschriften unterliegt (Abschn. 9.1.1). Die Verträge, die in diesem Kapitel benannt wurden, sollen – sofern sie gesetzlich geregelt sind – in der nachfolgenden Übersicht nochmals überblicksartig zusammengefasst werden. Die Verträge werden dabei kurz benannt, definiert und mit einem Beispiel versehen: 420

9HUWUDJVDUW

'HILQLWLRQ

%HLVSLHO

.DXI ††II%*%

9HUlX‰HUXQJHLQHU6DFKHRGHU HLQHV5HFKWVJHJHQ=DKOXQJGHV .DXISUHLVHV

9HUNDXIYRQ/HEHQVPLWWHOQ :HUWSDSLHUHQ

7DXVFK †%*%

9HUlX‰HUXQJHLQHU6DFKHRGHU HLQHV5HFKWVJHJHQ9HUlX‰HUXQJ HLQHUDQGHUHQ6DFKHRGHUHLQHV DQGHUHQ5HFKWV

)DFKEFKHUJHJHQ &RPSXWHUVRIWZDUH

6FKHQNXQJ ††II%*%

8QHQWJHOWOLFKH=XZHQGXQJ

*HEXUWVWDJVJHVFKHQN

0LHWYHUWUDJ ††II%*%

hEHUODVVXQJGHV*HEUDXFKVHLQHU 6DFKHDXI=HLWJHJHQ0LHW]DKOXQJ

9HUPLHWXQJYRQ6FKOLH‰IlFKHUQ

/HLKH ††II%*%

8QHQWJHOWOLFKHhEHUODVVXQJGHV *HEUDXFKVHLQHU6DFKHRGHUHLQHV 5HFKWV

/HLKHHLQHV/HKUEXFKHV

3DFKW ††II%*%

hEHUODVVXQJGHV*HEUDXFKVHLQHU 6DFKHRGHUHLQHV5HFKWV HLQVFKOLH‰OLFKGHU)UXFKW]LHKXQJ JHJHQ3DFKW]DKOXQJ

9HUSDFKWXQJODQGZLUWVFKDIWOLFK JHQXW]WHU)OlFKHQ

Überblick über die verschiedenen Vertragsarten I

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

Vertragsart

155

Definition

Beispiel

Darlehen §§ 607 ff. BGB §§ 488 ff. BGB

Überlassung von Geld oder einer Sache i.V.m. der Rückgabeverpflichtung des Geldbetrages oder einer Sache gleicher Art gegen Zinszahlung

Bankkredit

Verwahrung §§ 688 ff. BGB

Aufbewahrung einer hinterlegten beweglichen Sache

Verwahrung von Dokumenten für Kunden

Dienstvertrag §§ 611 ff. BGB

Leistung von Diensten gegen Vergütung

Arbeitsvertrag zwischen Bank und Hausmeister

Werkvertrag §§ 631 ff. BGB

Herstellung eines Werkes gegen Vergütung

Reparaturen

Werklieferungsvertrag § 650 BGB

Lieferung noch herzustellender beweglicher Sachen gegen Vergütung

Verkauf von Möbeln, die nach Kundenwunsch hergestellt werden

Auftrag §§ 662 ff. BGB

Unentgeltliche Geschäftsbesorgung

Unentgeltliche Inzahlungnahme von Kundenwechsel

Geschäftsbesorgungsvertrag § 675 BGB

Entgeltliche Geschäftsbesorgung

Entgeltliche Verwaltung eines Depots

Überblick über die verschiedenen Vertragsarten II

Vertragsart

Definition

Beispiel

Einzelzahlungsvertrag § 675f Abs. 1 BGB

Durchführung eines einzelnen Zahlungsvorgangs

Überweisung

Zahlungsdiensterahmenvertrag § 675f Abs. 2 BGB

Dauerschuldverhältnis zwischen Zahlungsdienstleister und Zahlungsdienstnutzer

Rahmenvertrag zwischen Kreditinstitut und Kunde, z. B. über bargeldlosen Zahlungsverkehr

Bürgschaft §§ 765 ff. BGB

Verpflichtung gegenüber einem Dritten, für die Verbindlichkeit seines Schuldners einzustehen

Bürgschaft zur Sicherung eines Kredits

Überblick über die verschiedenen Vertragsarten III

2.3.11 Verträge über digitale Produkte Die Regelungen zu den Verträgen über digitale Produkte sind in den §§ 327 – 422 327u BGB und damit eigentlich im Allgemeinen Schuldrecht verortet. Die Regelungen wurden vom Gesetzgeber „vor die Klammer gezogen“, weil dort vertragstypenübergreifende Bestimmungen enthalten sind, die für alle andere Vertragsformen Bedeutung erlangen können (vgl. §§ 445c, 453, 475a, 650, 548a, 578b, 516a BGB). Insofern scheint es legitim die Regelungen an dieser Stelle – also nach den besonderen Vertragsarten, die digitale Produkte anbetreffen können – vorzustellen.

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423

2  Besonderes Schuldrecht

Die einleitende Vorschrift des §  327 BGB legt den Anwendungsbereich der Regelungen fest. Von den dort genannten Bereichsausnahmen in § 327 Abs. 6 BGB sowie Kaufverträgen über „Waren mit digitalen Elementen“ im Sinne von § 327a Abs. 3 BGB einmal abgesehen, sind die Vorschriften nur auf Verbraucherverträge im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB anzuwenden, welche die Bereitstellung „digitaler Inhalte“ oder „digitaler Dienstleistungen“ (sog. „digitale Produkte“ nach § 327 Abs.  2 BGB) durch den Unternehmer gegen Zahlung eines Preises zum Gegenstand haben. • Digitale Inhalte sind Daten, die in digitaler Form erstellt und/oder bereitgestellt werden (§ 327 Abs. 2 S. 1 BGB). Darunter ist eine individuell hergestellte und zum Download bereitgestellte Software ebenso zu fassen, wie digitale Spiele, Apps, Video-, Audio- und Musikdateien. Maßgeblich ist nicht welchen Inhalt die Daten haben (Grundsatz der Medienneutralität), sondern alleine dass die Inhalte in digitaler Form – gegebenenfalls fixiert auf körperlichen Datenträgern – maschinenlesbar sind, selbst wenn nur eine nachträgliche Digitalisierung eines ursprünglich analogen Inhalts stattfindet (z. B. bei einem eBook). • Digitale Dienstleistungen sind nach § 327 Abs. 2 S. 2 BGB Dienstleistungen, die sich auf das Erstellen, Verbreiten und Speichern von Daten in digitaler Form beziehen sowie den Zugang zu solchen Daten ermöglichen (Nr. 1). Ebenso fällt hierunter die gemeinsame Nutzung der hochgeladenen oder erstellten Daten durch mehrere Personen sowie die Interaktion mit den Diensten (Nr. 2). Daher ist eine breite Palette von Dienstleistungen angesprochen, wobei die digitale Dienstleistungen nach Nr. 1 auf eine alleinige Nutzung durch den Verbraucher abzielt (z.  B.  Inanspruchnahme eines Cloud-Speicherplatzes oder Streamingdienstes), während unter Nr. 2 Formen gemeinsamer Nutzung durch mehrere Personen fallen (z.  B.  Spieleumgebungen, Social-Media-Dienste, Messenger-Dienste, Bewertungsplattformen). Eine Dienstleistung wird dagegen noch nicht dadurch zu einer digitalen, weil sich der Dienstleistungserbringer auch digitaler Methoden bedient (z.  B. das Einreichen der Steuererklärung durch den Steuerberater in elektronischer Form, das Durchführen eines Webinars). • Das Bereitstellen digitaler Produkte spezifiziert zugleich die originäre Leistungspflicht des Unternehmers nach § 327b BGB. Die Voraussetzungen der Bereitstellung ergeben sich für digitalen Inhalte aus §  327b Abs. 3 BGB und für digitale Dienstleistungen aus §  327b Abs. 4 BGB. Für beide Produktkategorien ist es erforderlich, dass das digitale Produkt vollständig in die Einflusssphäre des Verbrauchers gelangt sein muss und keine weiteren Handlungen seitens des Unternehmers erforderlich sein dürfen, um dem Verbraucher die vertragsgemäße Nutzungsmöglichkeit zu eröffnen (z. B. die Zusenden des Links zum Herunterladen des digitalen Inhalts, Mitteilung des Zugangscodes zur – mitunter zeitlich begrenzten – Teilhabe auf einer Spieleplattform). Für den Fall, dass ein Vertrag den Unternehmer zu einer Reihe einzelner Bereitstellungen verpflichtet (z. B. die Lieferung von fünf digitalen Büchern nach ihrem jeweiligen Erscheinen), stellt § 327b Abs.  5 BGB klar, dass die Festlegungen der Abs.  2 – 4 für jede dieser einzelnen Bereitstellungen vorliegen müssen. Die Beweislast für die ordnungsgemäße Bereitstellung trägt nach § 327b Abs. 6 BGB der Unternehmer.

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

157

Beispiel

Der Verbraucher V hat mit dem Unternehmer U ein eBook-Abonnement abgeschlossen, das sich auf zwanzig Werke bezieht, die in den nächsten sechs Monaten erscheinen und ihm jeweils direkt nach dem Erscheinen in seine Cloud übermittelt werden sollen. Der U erfüllt seine Bereitstellungspflicht nach §  327b Abs. 3 und 5 BGB für jedes erscheinende Werk dadurch, dass er es direkt nach dem Erscheinen in der Cloud des V auf Abruf zur Verfügung stellt. Über die Grundnorm des § 327 Abs. 1 S. 1 BGB hinaus ordnet das Gesetz die Anwendbarkeit der §§  327 – 327s BGB außerdem für einige Sonderfälle an, namentlich • für digitale Produkte, die nach den Vorgaben und Spezifikationen des Verbrauchers entwickelt werden, sog. „maßgeschneiderte digitale Produkte“ (§  327 Abs. 4 BGB). • auf Verbraucherverträge, welche die Bereitstellung von körperlichen Datenträgern zum Gegenstand haben, die ihrerseits als Träger digitaler Inhalte dienen (§ 327 Abs. 5 BGB; z. B. Film-DVDs, Musik-CDs). • auf die Bestandteile eines sog. Paketvertrags im Sinne des § 327a Abs. 1 S. 2 BGB. Als Paketvertrag bezeichnet man den zwischen denselben Vertragsparteien geschlossen Vertrag, der neben der Bereitstellung digitaler Produkte zugleich die Bereitstellung anderer Sachen oder Dienstleistungen zum Gegenstand hat (z. B. wenn in ein und demselben Vertrag sowohl eine Spielekonsole als auch verschiedene digitale Spiele erworben werden). Mit der Regelung soll sichergestellt werden, dass die Anwendbarkeit der §§ 327 ff. BGB auf die digitalen Inhalte (und nur auf diese) des Vertragsgegenstandes erfolgen kann, selbst wenn andere (nicht digitalen) Leistungsbestandteile den Schwerpunkt bilden. • auf Verbraucherverträge über Sachen, die digitale Produkte enthalten oder mit ihnen verbunden sind, allerdings nur beschränkt auf die Vertragsbestandteile, welche die Grundfunktion der digitalen Produkte anbetreffen (§ 327a Abs. 2 BGB). Vom Anwendungsbereich der §§ 327 ff. BGB ausdrücklich ausgenommen sind neben den enumerativ aufgezählten Bereichsausnahmen in § 327 Abs. 6 BGB die Kaufverträge über Waren mit digitalen Elementen, für die ausschließlich die kaufrechtlichen Regelungen maßgebend bleiben (§ 327a Abs. 3 BGB). Von Waren mit digitalen Elemente ist auszugehen, wenn das digitale Produkt • mit der Ware räumlich und/oder funktional verbunden ist, • als erforderlich gilt, damit die Ware überhaupt vertragsmäßig funktioniert, und • im Rahmen desselben Vertrags bereitgestellt wird, wie die Ware selbst (was jedoch nach § 327a Abs. 3 S. 2 BGB vermutet wird). Die Merkmale müssen dabei kumulativ vorliegen.

158

2  Besonderes Schuldrecht

Beispiel

Der K erwirbt einen smarten Kühlschrank mit einer integrierten Bestellfunktion, die sich als defekt erweist. Da der Kühlschrank als solcher in seiner Grundfunktion nicht eingeschränkt ist – er kann weiter kühlen – handelt es sich um ein digitales Produkt und die §§ 327 ff. BGB sind anwendbar. Erwirbt der K ein Smartphone, dessen Betriebssystem defekt ist, wäre es als solches nicht mehr funktionsfähig. Es handelt sich um Ware mit digitalen Elementen, für die ausschließlich die kaufrechtlichen Regelungen gelten (§  327a Abs. 3, 433, 434, 475b ff. BGB). 424

425

Nach § 327 Abs. 1 S. 1 BGB ist der Unternehmer zur Bereitstellung der vertragsgemäßen digitalen Produkte verpflichtet und der Verbraucher zur Zahlung eines Preises. Die Leistungspflicht des Unternehmers besteht in der Bereitstellung des digitalen Produktes (§ 327b Abs. 1 BGB). Diese Pflicht wird in § 327b Abs. 3 und 4 BGB jeweils produktbezogen näher definiert und umfasst das zur Verfügung stellen oder zugänglich machen über eine körperliche (z. B. auf einem Datenträger) oder virtuelle Einrichtung (z.  B.  Server, virtuelle Plattform, Cloud). Entscheidend ist, dass dem Verbraucher eine eigenständige Zugriffsmöglichkeit verschafft wird. Der Zeitpunkt der Bereitstellung richtet sich vorrangig nach den Festlegungen durch die Parteien (§ 327b Abs. 2). Ist dagegen keine Leistungszeit vereinbart, kann der Verbraucher die Bereitstellung unverzüglich nach Vertragsschluss verlangen, d. h. der Unternehmer schuldet sie sofort (§§ 269, 271 BGB). Die digitalen Produkte müssen ferner frei von Produkt- und Rechtsmängel, also vertragsgemäß bereitgestellt werden (§ 327 d BGB) und bei einer dauerhaften Bereitstellung ist zudem § 327r BGB zu berücksichtigen, der die Möglichkeit zur nachträglichen Veränderung begrenzt. Der Verbraucher ist im Gegenzug zur Zahlung eines Preises verpflichtet, die er in Form von Geld, in der digitalen Darstellung eines Wertes (§ 327 Abs. 1 S. 2 BGB; z. B. Token, Bitcoin, E-Coupons) oder dem zur Verfügung stellen von personenbezogenen Daten („Bezahlen mit Daten“, §§ 327 Abs. 3 i. V. m. 312 Abs. 1a BGB) bewirken kann. Personenbezogene Daten sind dabei alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen (Art. 4 Nr. 1 DSGVO; Name, Standortdaten, etc.). Für das „Bezahlen mit Daten“ kommt es nicht darauf an, dass der Verbraucher seine personenbezogenen Daten dem Unternehmer aktiv übermittelt, sondern es reicht aus, dass der Unternehmer auf die Daten des Verbrauchers zugreift und der Verbraucher die Verarbeitung seiner Daten duldet (z.  B.  Registrierung bei einem sozialen Netzwerk unter Angabe von Namen und E-Mail-Adresse). Letzteres kann vor oder bei Vertragsschluss geschehen oder erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Verbraucher die Leistung nutzt und erst dabei seine Daten vom Unternehmer gesammelt und weiter verarbeitet werden (z.  B. unternehmensseitiges Setzen von Cookies); auf die datenschutzrechtliche Rechtmäßigkeit des Verarbeitungsvorgangs kommt es hierbei nicht an. § 327c BGB regelt die Rechte des Verbrauchers, wenn der Unternehmer seiner fälligen Verpflichtung zur Bereitstellung des digitalen Produkts nicht nach-

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

159

kommt. Bleibt eine noch mögliche Bereitstellung bei Fälligkeit vollständig aus (das Ausbleiben von Teilleistungen ist davon nicht erfasst), muss der Verbraucher nach § 327c Abs. 1 S. 1 BGB den Unternehmer zunächst zur vertragsgemäßen Bereitstellung ausdrücklich und ernsthaft auffordern (sog. Bereitststellungsaufforderung), sofern diese nicht entbehrlich ist (§ 327c Abs. 3 BGB). Wird die Leistung daraufhin vom Unternehmer nicht unverzüglich nachgeholt und fehlt es an einer Einigung zur Verlängerung des Leistungszeitraums (§ 327 Abs. 1 S. 2 BGB), kann der Verbraucher den Vertrag einseitig durch empfangsbedürftige Willenserklärung nach § 327c Abs. 4 i. V. m. § 327o Abs. 1 BGB beenden (sog. Vertragsbeendigung). Auf die Beendigung des Vertrages ist § 218 BGB entsprechend anwendbar (§ 327c Abs. 5 BGB). Eine nur teilweise Leistung führt zu einer mangelhaften Leistung nach § 327e Abs. 3 Nr. 2 BGB (siehe unten). Der Verbraucher kann anstatt oder neben der Vertragsbeendigung auch Schadensersatz oder Aufwendungsersatz verlangen (§ 327c Abs. 2 BGB i. V. m. 327o bis 327p BGB); es gelten die allgemeinen Bestimmungen, wobei anstatt der dort abverlangten Fristsetzung die Bereitstellungsaufforderung genügt. § 327c Abs. 6 BGB erweitert die vorgenannten Rechtsfolgen auch auf Paketverträge, sofern die Bereitstellung des digitalen Produkts Bestandteil eines Paketvertrages ist und die unterbliebene Bereitstellung des digitalen Produkts dazu führt, dass der Verbraucher kein Interesse an den weiteren Bestandteile des Paketvertrages hat. Ferner sieht § 327c Abs.  7 BGB für Verträge mit digitalen Elementen nach §  327a Abs.  2 BGB, die keine Kaufverträge sind, ein entsprechendes Recht zur Lösung vom Vertrag vor, wobei neben den Voraussetzungen für die Vertragsbeendigung (§ 327 Abs. 1 BGB) erforderlich ist, dass sich die Ware aufgrund des nicht bereitgestellten digitalen Produkts nicht mehr zur gewöhnlichen Verwendung eignet. Neben diesen Besonderheiten nach § 327c BGB gelten die allgemeinen Regelungen bei Leistungsstörungen nach §§ 280 ff., 323 BGB, etwa wenn der Verbraucher nicht oder verspätet leistet oder die Bereitstellung des digitalen Produktes tatsächlich oder rechtlich unmöglich wird. Der Unternehmer hat nach §  327d BGB das digitale Produkt vertragsgemäß, 426 d. h. frei von Produkt- und Rechtsmängeln im Sinne der §§ 327e – 327g BGB bereitzustellen. Ist das digitale Produkt mangelhaft, ergeben sich die Rechte des Verbrauchers aus § 327i BGB. Da digitale Produkt ist nach §  327e Abs.  1 BGB frei von Produktmängeln, wenn es zum Zeitpunkt der Bereitstellung bzw. während der Bereitstellungszeit die subjektiven (§  327e Abs.  2 BGB) und objektiven Anforderungen (§  327e Abs.  3 BGB) sowie den Anforderungen an die Integration (§ 327e Abs. 4 BGB) entspricht. Die vorgenannten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. • Die subjektiven Anforderungen an das digitale Produkt ergeben sich regelmäßig aus der Vereinbarung zwischen dem Unternehmer und dem Verbraucher (§ 327e Abs. 2 BGB) und beziehen sich u. a. auf dessen Beschaffenheit (Nr. 1a), auf die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung (Nr. 1b), der Bereitstellung von Zubehör (Nr. 2), der Zusage eines Kundendienstes (Nr. 2) oder das Versprechen von Aktualisierungen (Nr. 3).

160

2  Besonderes Schuldrecht

• In objektiver Hinsicht ist dagegen maßgeblich, ob sich das digitale Produkt für die gewöhnliche Verwendung eignet (§ 327e Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BGB) oder eine Beschaffenheit aufweist, die bei Produkten derselben Art üblich ist, weshalb der Verbraucher diese Eigenschaften unter Berücksichtigung des Produkttyps erwarten kann (§ 327e Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BGB). Grundlage für die Erwartungshaltung können nach § 327e Abs. 3 S. 2 BGB auch öffentliche Äußerungen des Unternehmers und/oder Herstellers des digitalen Produkts sein (z. B. Werbeaussagen). Regelmäßig werden sich die objektiven Anforderungen auf Eigenschaften wie Zugänglichkeit, Kontinuität und Sicherheit beziehen. Letzteres schließt die Aktualisierung (z. B. regelmäßiges Update) oder die neueste Version des Produktes ebenso ein, wie das Einhalten allgemeiner Sicherheitsanforderungen (z. B. die DSGVO-Konformität des Produktes). • Die Integration erfordert die Verbindung des digitalen Produkts mit der digitalen Umgebung in der es wirken soll, z. B. Hardware, Software, Netzwerke. Diese Integration muss sachgemäß erfolgen, d. h. das digitale Produkt muss nach seiner Integration vertragsgemäß einsetzbar bzw. nutzbar sein (§ 327e Abs. 4 BGB). Liegt nur eine dieser Anforderungen nicht vor und haben die Parteien keine negative Beschaffenheitsvereinbarung gemäß § 327h BGB getroffen, ist das digitale Produkt mangelhaft und dem Verbraucher stehen die Rechte nach §§ 327i BGB zu. Beispiel

Der K schließt einen Vertrag mit der Online-Plattform A, nach welchem ihm monatlich 5 Filme digital zur Verfügung stehen sollen. Wenn K lediglich 3 Filme erhält, entspricht das digitale Produkt nicht der vereinbarten Beschaffenheit, es hat nach § 327 e Abs. 2 S. 1 BGB einen Quantitätsmangel. Der K erwirbt ein E-Book, das nach Auskunft des Verkäufers V auf allen handelsüblichen Tablets lesbar sein soll. K stellt zu Hause fest, dass das E-Book mit seinem Tablet nicht lesbar ist; das Produkt entspricht nicht der vereinbarten Beschaffenheit – es liegt ein Kompatibilitätsmangel (§ 327 e Abs. 2 S. 2 BGB) vor. Der K möchte eine Spiele-App nutzen, die laut Angabe des Online-Shops sowohl auf Android als auch auf iOS installierbar sein soll. K stellt fest, dass die Spiele-App sich auf seinem iOS-Betriebssystem nicht starten lässt; das Produkt entspricht nicht der vereinbarten Beschaffenheit – es liegt ein Interoperabilitätsmangel (§ 327 e Abs. 2 S. 3 BGB) vor. Stellt K beim Installieren seines neu erworbenen PC fest, dass die Treibersoftware in der beigefügten Tüte mit der Aufschrift „Installationspaket“ nicht enthalten ist, fehlt es am Zubehör (§ 327e Abs.  2 S.  1 Nr.  2) und zugleich an der üblichen Beschaffenheit des digitalen Produkts. Sofern die neue Fitness-Uhr des K alle IP-Adressen von Geräten, die sich in dessen Nähe befinden, unverschlüsselt in die Cloud seines Fitness-Dienstes überträgt, werden die allgemeinen, sich aus der DSGVO ergebenden Sicherheitsanforderungen nicht eingehalten.

2.3 Weitere Vertragsarten im Überblick

161

Nach § 327 f Abs. 1 BGB trifft den Unternehmer eine selbstständige Verpflichtung zu Aktualisierungen, insbesondere auch Sicherheitsaktualisierungen. Die Vorschrift ordnet diese Verpflichtung sowie die Information des Verbrauchers darüber dem Katalog der objektiven Anforderungen an das digitale Produkt zu (siehe bereits oben). Es sind nur Aktualisierungen geschuldet, die für den Erhalt der Vertragsmäßigkeit – entweder der vereinbarten oder aber der gewöhnlichen bzw. üblichen – erforderlich sind (z. B. zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des digitalen Produkts oder dessen Kompatibilität). Der Zeitraum der Aktualisierungspflicht richtet sich demnach auch nach der Verbrauchererwartung; bei Dauerschuldverhältnissen ist sie jedenfalls über den gesamten Vertragszeitraum zu erbringen. Die notwendige Information kann in jeder erdenklichen Form erfolgen, entscheidend ist, dass der Verbraucher sie zur Kenntnis nehmen kann (z. B. durch eine Pop-up-Nachricht auf dem Desktop des Computers „neue Version verfügbar“). Sofern der Unternehmer den Verbraucher über die Verfügbarkeit der Aktualisierung und die Folgen einer unterlassenen Information informiert hat und ihm eine ordnungsgemäße Installationsanleitung zur Verfügung gestellt hat, ist die Haftung für Produktmängel ausgeschlossen, die auf die unterlassene Aktualisierung zurückzuführen sind (§ 327f Abs. 2 BGB). Nach §  327g BGB muss das digitale Produkt ferner frei von Rechtsmängeln sein. Dies ist gegeben, wenn der Verbraucher es gemäß den subjektiven und objektiven Anforderungen nutzen kann, ohne dabei Rechte Dritter zu verletzen. Rechtsmängel können gerade bei digitalen Produkte schnell gegeben sein, wenn etwa durch deren Bereitstellung Schutzrechte Dritter (z. B. Urheberrechte oder konkret Lizenzbedingungen) verletzt werden. Ähnlich wie beim Verbrauchsgüterkauf sieht § 327k BGB innerhalb des ersten Jahres eine Beweislastumkehr vor, d. h. solange der Unternehmer nicht bestreitet, ist bei einem behaupteten Mangel von diesem auszugehen. Nach §  327i BGB kann der Verbraucher bei Vorliegen eines Produkt- oder 427 Rechtsmangels Nacherfüllung, Vertragsbeendigung, Preisminderung, Schadensersatz oder Ersatz der vergeblich gemachten Aufwendungen verlangen, sofern zusätzlich die Voraussetzungen der §§ 327l, 327m oder 327n BGB vorliegen. Der § 327i BGB stellt ähnlich wie der § 434 BGB im Kaufrecht eine Verweisvorschrift dar. Nach Vertragsbeendigung darf der Verbraucher das digitale Produkt nicht mehr nutzen oder Dritten zur Verfügung stellen (§ 327p Abs. 1 BGB); letzteres kann der Unternehmer durch technische Maßnahmen sicherstellen (z. B. Sperren des Nutzerkontos). Beispiel

Der K schließt mit D einen Vertrag über den Zugang zu einer virtuellen Spieleumgebung, die der D selbst programmiert hat. Die Landschaftsbilder für seine aufwendigen Grafiken hat der D einfach dem Internet entnommen, ohne die Rechte der Urheber zu berücksichtigen. Als dem K nach einem Spielabend mit Freunden eine kostenpflichtige Abmahnung des Rechtsanwalts R wegen Urheberrechtsverletzung zugeht, will er den Vertrag beenden und obendrein Scha-

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2  Besonderes Schuldrecht

densersatz von D. Dies ist möglich, da das digitale Produkt (§ 327 Abs. 2 S. 2 BGB) einen Rechtsmangel nach § 327g BGB aufweist, weswegen der K nach §§ 327i Nr. 2 i. V. m. § 327m Abs. 1 Nr. 4, 327o BGB den Vertrag beenden kann. Ferner steht dem K ein Schadensersatzanspruch nach §§ 327i Nr. 3 i. V. m. § 280 Abs. 1 BGB in Höhe der entstandenen Abmahngebühren gegen D zu. 428

Die Verjährung der in § 327i BGB genannten Rechte ist in § 327j BGB geregelt. Nach § 327j Abs. 1 BGB verjähren die Ansprüche des Verbrauchers aus § 327i Nr. 1 und 3 BGB in zwei Jahren (für Nr. 3 gilt § 218 BGB), wobei die Verjährung in der Regel mit der Bereitstellung des digitalen Produkts beginnt (§§  327h, 327j Abs. 1 BGB). Im Falle einer dauerhaften Bereitstellung verjähren die Ansprüche nicht vor Ablauf von zwölf Monaten nach dem Ende des Bereitstellungszeitraums (§ 327j Abs. 2 BGB). Ähnliches gilt bei Verletzung der Aktualisierungspflicht nach § 327f BGB (§ 327j Abs. 3 BGB), insbesondere weil der für die Aktualisierungspflicht maßgeblichen Zeitraums, durchaus länger als zwei Jahre betragen kann (§ 327j Abs. 3 BGB). § 327j Abs. 4 BGB berücksichtigt schließlich das Problem, dass sich Mängel gegebenenfalls erst am Ende Vertragslaufzeit bzw. der Aktualisierungszeit zeigen, weshalb dem Verbraucher noch eine Reaktionszeit von vier Monaten eingeräumt wird. Beispiel

Der Verbraucher K erwirbt ein Computer mit Betriebssystem, Textverarbeitungsprogramm und Virenschutzprogramm vom Unternehmer V. Nach 2 Jahren und 2 Monaten stellt der V seine Aktualisierungen bezüglich des Virenschutzprogramms ohne weitere Hinweise ein, weshalb der Computer des K erheblichen Schaden nimmt. Da die Aktualisierung eines Virenschutzprogramms gemeinhin über die Lebensdauer eines Computers erwartet werden kann, ist das digitale Produkt mangelhaft (§§ 327e Abs. 3, 327f BGB). Die Ansprüche des K sind auch noch nicht verjährt (§ 327j Abs. 3 BGB), weshalb er seinen Mangelanspruch – hier Schadensersatz – noch geltend machen kann (§§ 327i, 327m Abs. 3 BGB).

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte 429

Im kaufmännischen, aber auch im nichtkaufmännischen Geschäftsverkehr werden Vertragsgegenstände aus unterschiedlicher Interessenlage heraus mit Fremdmitteln finanziert. Auf der Seite des Erwerbers besteht regelmäßig ein Interesse daran, einen Gegenstand zu privaten oder betrieblichen Zwecken sofort zu nutzen, während das Aufbringen der erforderlichen finanziellen Mittel bei entsprechend hohem Sachwert entweder nur ratenweise möglich ist oder die Liquiditätsbindung vermieden werden soll. Vielfach spielen auch steuerliche Erwägungen eine Rolle bei der Entscheidung, einen Betriebsgegenstand daher zu leasen, zu mieten oder eine Ratenzahlung zu vereinbaren, statt ihn gegen Barzahlung sofort zu erwerben.

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

163

Aufseiten des Veräußerers besteht ein Interesse daran, das Eigentum erst bei vollständiger Zahlung der vereinbarten Vergütung auf den Erwerber zu übertragen oder im Fall vereinbarter Ratenzahlung zumindest eine entsprechende Sicherheit zu erhalten.

2.4.1 Teilzahlungskauf Teilzahlungsgeschäfte sind Verträge zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher über die Lieferung einer bestimmten Sache oder die Erbringung einer bestimmten anderen Leistung gegen Teilzahlung (§ 506 Abs. 3 BGB). Ein Teilzahlungskauf (Raten-, Finanz- oder Abzahlungskauf) liegt vor, wenn ein Verkäufer mit einem Käufer vereinbart, dass der Kaufpreis für die vertraglich bestimmte (bewegliche) Sache in Teilzahlungen (Raten) geleistet werden kann; die Teilzahlungsabrede muss über mindestens zwei Ratenzahlungen lauten. Weil der Kaufgegenstand ohne vollständige Kaufpreiszahlung dem Käufer bereits zur Nutzung übergeben wird, ist der Verkäufer regelmäßig an der Sicherung der Restzahlung interessiert. Dies wird zuweilen durch die begleitende Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts hinsichtlich der Kaufsache (Abschn. 2.5.1) realisiert, aber auch durch eine Sicherungszession (Abschn. 2.5.3) oder durch die Übernahme einer Bürgschaft (Abschn. 2.5.5). Handelt es sich um einen Teilzahlungsverkaufsvertrag, der zwischen einem Unternehmer (§ 14 BGB) als Verkäufer und einem Verbraucher (§ 13 BGB) als Käufer geschlossen wird, gelten neben dem allgemeinen Kaufrecht zusätzlich die §§ 491a ff., 506 ff. BGB. Sie enthalten insbesondere Schutzbestimmungen zugunsten des Abzahlungskäufers, der als Verbraucher eine langfristige Zahlungsverpflichtung oder andere Teilzahlungsverpflichtungen eingeht. Die auf den Teilzahlungskauf gerichtete Willenserklärung des Käufers bedarf der Schriftform (§§ 507 Abs. 2 S. 1, 492 Abs. 1 S. 1 BGB) und muss als Mindestgehalt des Teilzahlungskaufvertrags den Barzahlungspreis, den Teilzahlungspreis sowie Betrag, Zahl und Fälligkeit der einzelnen Teilzahlungen, den Soll- sowie den effektiven Jahreszins, eventuelle Versicherungskosten und vereinbarte Sicherungsrechte enthalten (§ 507 Abs. 2 BGB, Art. 247 §§ 6, 12, 13 EGBGB). Sind Form und Mindestinhalt nicht gewahrt, kommt der Vertrag erst mit Übergabe der Sache zustande und es gilt der Barzahlungspreis, den der Käufer dann in Raten zahlen darf (§ 507 Abs. 2 S. 2 und 3 BGB). Soweit die Angabe des effektiven Jahreszinses oder des Gesamtbetrages fehlt, ist der Barzahlungspreis höchstens mit dem gesetzlichen Zinssatz zu verzinsen (§  507  Abs.  2  S.  3  BGB). Erfolgt diese Übergabe nicht, ist der Vertrag nichtig (§ 507 Abs. 2 S. 1 BGB). Eine Erleichterung hinsichtlich der Schriftform besteht für den Versandhandel (§ 507 Abs. 1 S. 1 BGB). Für den Vertragsschluss im Fernabsatz genügt es danach, wenn der Unternehmer dem Verbraucher den Vertragsinhalt spätestens unverzüglich nach Vertragsschluss auf einem dauerhaften Datenträger (§  126b S.  2  BGB) mitteilt (§  507 Abs.  1 S. 2 BGB).

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2  Besonderes Schuldrecht

Der Käufer kann seine Willenserklärung innerhalb einer Frist von 14 Tagen widerrufen (§§ 506 Abs. 1 S. 1, 495 Abs. 1, 355 Abs. 2, S. 1 BGB). Der Lauf der Widerspruchsfrist beginnt, soweit in den §§ 356 bis 356e BGB nichts anderes bestimmt ist, mit Vertragsschluss (§§ 506 Abs. 1, 495 Abs. 1, 355 Abs. 2 S. 2 BGB). Für den im Wege des Fernabsatzes vereinbarten Teilzahlungskauf (i.  S.  d. §  507 Abs. 1 BGB) gilt gem. § 356 Abs. 2 BGB jedoch, dass der Lauf der Widerrufsfrist nicht beginnt, bevor der Käufer (Verbraucher) die Ware (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. a.), bzw. bei getrennter Lieferung einer einheitlichen Bestellung die letzte Ware (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. b.) oder das letzte Stück einer Teilsendung (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. c.), respektive bei regelmäßiger Lieferung von Waren die erste Ware (§ 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. d.) erhalten hat. Die Widerrufsfrist beginnt in keinem Fall, wenn der Verkäufer (Unternehmer) den Käufer (Verbraucher) zuvor nicht über die Frist, die Bedingungen, das Verfahren sowie die Möglichkeit des Widerrufs (§ 356 Abs. 3 S. 1 BGB, Art. 246b § 2 Abs. 3 EGBGB) durch Musterformular, informiert hat. Das Widerrufsrecht erlischt sodann gem. § 356 Abs. 3 S. 2 BGB spätestens 12 Monate und 14 Tage nach dem in § 356 Abs. 2 bzw. § 355 Abs. 2 S. 1 BGB genannten Zeitraum. 436 Das Widerrufsrecht des Käufers darf nicht durch eine entgegenstehende Parteivereinbarung zu Lasten des Verbrauchers eingeschränkt oder aufgehoben werden (§ 361 Abs. 2 BGB). 437 Ein Rücktrittsrecht des Verkäufers entsteht nur, wenn sich der Käufer mit mindestens zwei Teilzahlungen im Verzug befindet und der Verkäufer dem Käufer erfolglos eine zweiwöchige Frist zur Zahlung des rückständigen Betrages gesetzt hat (§§ 508 S. 1, 498 Abs. 1 S. 1 BGB). 435

2.4.2 Finanzierter (Abzahlungs-)Kauf In den Fällen, in denen ein Käufer den Kaufpreis nicht aus eigenen Mitteln aufbringen kann, muss der Käufer den Kaufpreis durch die Aufnahme eines Darlehens (fremd-)finanzieren. Wenn in einem solchen Fall ein Finanzierungsinstitut das Darlehen in der Weise gewährt, dass es die Darlehensvaluta nicht an den Käufer, sondern direkt an den Verkäufer zur Tilgung der Kaufpreisforderung auszahlt, spricht man von einem „finanzierten (Abzahlungs-)Kauf“ (Abb. 2.9). 439 An einem finanzierten (Abzahlugs-)Kauf sind regelmäßig drei Parteien beteiligt, die drei verschiedene Verträge abschließen: Käufer und Verkäufer schließen einen Kaufvertrag mit Teilzahlungscharakter (§ 433 BGB). Käufer und Finanzierungsinstitut schließen einen Darlehensvertrag, bei welchem der Käufer als Darlehensnehmer und das Finanzierungsinstitut als Darlehensgeber in Erscheinung tritt (§  488  BGB). Daneben wird regelmäßig eine vertragliche Rahmenvereinbarung zwischen dem Verkäufer und dem Finanzierungsinstitut bestehen, worin die laufende Zusammenarbeit, insbesondere die Absicherung des Finanzierungsinstituts geregelt ist. Zumeist besichert der Verkäufer die Rückzahlung der Darlehensvaluta entweder über eine Mithaftung in Form eines Schuldbeitritts oder einer Bürgschaft oder es wird vereinbart, dass das Sicherungseigentum an dem Kaufgegenstand auf das Finanzierungsinstitut übertragen wird. In diesem Fall kann das Finanzierungs438

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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institut, sofern der Käufer mit der Rückzahlung der Darlehensraten in Verzug gerät, den Kaufgegenstand als Eigentümer herausverlangen (§ 985 BGB) und verwerten (Abschn. 2.5.2). Die Auszahlung der Darlehensvaluta an den Verkäufer stellt zwar keine Leistung 440 des Finanzierungsinstitut (= Darlehensgeber) an den Verkäufer dar, weil zwischen diesen Parteien keine Leistungspflicht begründet wird, ist aber dennoch eine Handlung mit doppelter Erfüllungswirkung sowohl im Hinblick auf den Kaufvertrag als bezogen auf den Darlehensvertrag. Durch die Zahlung der Darlehensvaluta wird zum einen die Kaufpreisforderung des Verkäufers aus dem Kaufvertrag erfüllt, deshalb handelt es sich um eine Leistung des Käufers an den Verkäufer. Gleichzeitig wird aber auch die aus dem Darlehensvertrag geschuldete Darlehensvaluta ausgezahlt, weshalb auch eine Leistung des Finanzierungsinstitut (= Darlehensgeber) an den Käufer (= Darlehensnehmer) vorliegt. Beispiel

Der Verbraucher K erwirbt einen Neuwagen. Bei Abschluss des Kaufvertrages mit dem Unternehmer V wird vereinbart, dass der Kaufpreis ratenweise durch ein Darlehen bei der PKW-Kreditbank P getilgt werden soll. Der V schließt mit dem K nicht nur einen Kaufvertrag ab, sondern legt ihm auch einen Darlehensvertrag vor. Bei Abschluss des Darlehensvertrages wird der V als Vermittlungsoder Abschlussvertreter für die P tätig, sodass der Darlehensvertrag zwischen

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2  Besonderes Schuldrecht

dem K und der P wirksam zustande kommt. In der Folge erhält der K den PKW und zahlt zur Tilgung des Darlehens die vereinbarten Raten an die P. Der Kaufvertrag zwischen K und V ist, obwohl der K nicht direkt an V bezahlt, erfüllt, weil gleichsam mit der Valutierung des Darlehens der Kaufpreis durch P an den V ausgezahlt wurde. ◄ Der Kaufvertrag und der Darlehensvertrag sind normalerweise rechtlich selbständige Verträge und müssten nach den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts getrennt abgewickelt werden (sogenannte Trennungstheorie). Sie werden allerdings als sogenannte verbundene Geschäfte besonders behandelt, wenn das Darlehen der Finanzierung eines Vertrages zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer dient und beide Verträge eine wirtschaftliche Einheit bilden (§ 358 Abs. 3 S. 1 BGB). 442 Eine wirtschaftliche Einheit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Unternehmer selbst die Gegenleistung des Verbrauchers finanziert oder, im Fall der Finanzierung durch einen Dritten, wenn sich der Darlehensgeber bei der Vorbereitung oder dem Abschluss des Verbraucherdarlehensvertrages (§  491 Abs.  1  BGB) der Mitwirkung des Unternehmers bedient (§ 358 Abs. 3 S. 2 BGB). Diese Feststellung setzt voraus, dass objektive Verbindungselemente vorliegen, die den Eindruck vermitteln, dass Darlehensgeber und Verkäufer als gemeinsame Vertragspartner auftreten bzw. sich die Verträge gegenseitig bedingen. Solche objektiven Verbindungselemente, die auf die wirtschaftliche Einheit (= verbundenes Geschäft) schließen lassen sind u. a.: 441

• Dem Käufer/Darlehensnehmer tritt nur eine Person gegenüber, die mit ihm über Kauf und Darlehen verhandelt und dabei sowohl im Besitz des Kaufvertrages als auch des Antrags auf Darlehensgewährung ist; • die Urkunden werden gleichzeitig unterschrieben bzw. es besteht zumindest ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen den Verträgen; • die Ablehnung der Finanzierung berechtigt den Verkäufer zum Rücktritt; • der Käufer/Darlehensnehmer erhält den Kredit nicht zur freien Verfügung; • es besteht ein eigenes Interesse des Finanzierungsinstituts am Zustandekommen des Kaufvertrages, z. B. ausgewiesen durch Provisionszahlungen; • es erfolgt eine Haftungsübernahme des Verkäufers gegenüber dem Finanzierungsinstitut oder der Kaufgegenstand wird an den Darlehensgeber zur Sicherheit übereignet. 443

Liegt ein verbundenes Geschäft vor, so gelten abweichend von den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts einige Besonderheiten. Sie dienen in erster Linie dem Schutz des Käufers (zumeist Verbraucher), der es gleichzeitig mit mehreren, planmäßig zusammenwirkenden Vertragspartnern – dem Verkäufer und dem Darlehensgeber (dem Finanzierungsinstitut) – zu tun hat:

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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• Der Käufer/Darlehensnehmer kann den Darlehensvertrag zwischen ihm und dem Finanzierungsinstitut anfechten, wenn er von dem Verkäufer arglistig getäuscht wurde. Aufgrund der Einheit von Kauf und Darlehensvertrag ist der Verkäufer kein Dritter i. S. d. § 123 Abs. 2 BGB. Das Finanzierungsinstitut muss sich vielmehr die Arglist des Verkäufers zurechnen lassen und damit die Anfechtung des Käufers/Darlehensnehmers hinnehmen. • Der Käufer/Darlehensnehmer darf dem Finanzierungsinstitut und etwaigen Ansprüchen auf Rückgewähr der Darlehensvaluta alle Einwendungen und Einreden entgegenhalten, die aus dem Kaufvertrag herrühren und die ihm bei Vorliegen eines gewöhnlichen Ratenkaufs gegen den Verkäufer zustünden und ihn zur Verweigerung seiner Leistung berechtigen würden (sogenannter Einwendungsdurchgriff, § 359 Abs. 1, S. 1 BGB). So kann der Käufer dem Finanzierungsinstitut beispielsweise ein Leistungsverweigerungsrecht entgegenhalten, solange ihm etwa Gewährleistungsrechte wegen Sachmängeln oder Ansprüche wegen sonstiger Leistungsstörungen (z. B. Nichtlieferung) zustehen. Allerdings ist der Einwendungsdurchgriff subsidiär, d.  h. der Käufer/Darlehensnehmer muss zunächst erfolglos eine Nacherfüllung vom Verkäufer verlangt haben, bevor er von seinem Recht gegenüber dem Finanzierungsinstitut Gebrauch macht (§  359 Abs. 1, S. 3 BGB). • Sofern der Verbraucher das Kaufgeschäft wirksam widerrufen hat, ist er an den Darlehensvertrag nicht mehr gebunden (§ 358 Abs. 1 BGB). Widerruft er umgekehrt das Darlehensgeschäft, entfällt die Bindungswirkung aus dem Kaufvertrag (§ 358 Abs. 2 BGB). Ein solches Widerrufsrecht kann sich für den Kaufvertrag z. B. aus § 312g BGB ergeben, für den Darlehensvertrag aus 495 BGB. Beispiel

In dem zuvor dargestellten Fall stellt sich nach drei Monaten heraus, dass die Bremsen des PKW mangelhaft sind. Hier könnte der K, der den V vergeblich zur Nacherfüllung aufgefordert hat, seine Ratenzahlungen einstellen und dies mit dem ihm zustehenden Rücktrittsrecht aus dem Kaufvertrag begründen. ◄ Die Abwicklung des finanzierten (Abzahlungs-)Kaufs durch Verbraucher ist 444 in den §§ 497 ff. BGB weiter ausgestaltet. Bei Zahlungsverzug schuldet der Verbraucher Verzugszinsen nach Maßgabe des § 497 Abs. 1 und 2 BGB. Bereits erbrachte Teilleistungen werden – entgegen § 367 Abs. 1 BGB – zuerst auf die Kosten der Rechtsverfolgung, sodann auf die Hauptforderung und zuletzt auf die Zinsen angerechnet (§ 497 Abs. 3 BGB). Das Kündigungsrecht des Finanzierungsinstituts, welches u.a. bei einem Verzug von zwei aufeinanderfolgenden Teilleistungen in Betracht zu ziehen ist (§ 498 Abs. 1 Nr. 1 BGB), unterliegt ggf. Beschränkungen (§  499  BGB). Ebenso unterliegt das Kündigungsrecht des Darlehensnehmers ­(Verbraucher) besonderen Regeln (§ 500 BGB). Zwar ist danach eine Kündigung und auch vorzeitigen Rückzahlung der Darlehensvaluta möglich, allerdings kann das Finanzierungsinstitut für die hierdurch eingebüßten Zinseinnahmen eine angemessene Vorfälligkeitsentschädigung einfordern (§ 502 BGB).

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2  Besonderes Schuldrecht

2.4.3 Leasingvertrag Das Leasing hat sich aus dem wirtschaftlichen Interesse heraus entwickelt, Betriebsmittel (z. B. EDV-Anlage, Kfz) ohne Liquiditätsbindung für einen bestimmten Zeitraum nutzen zu können. Den betrieblichen Bedürfnissen angepasst ist es durchaus unterschiedlich ausgestaltet. Aus rechtlicher Sicht wird das Operating-Leasing vom Finanzierungs-Leasing unterschieden. 446 Gemeinsam ist beiden Leasingarten ein zugrundeliegender Leasingvertrag, nach welchem der Leasinggeber dem Leasingnehmer ein Wirtschaftsgut gegen eine zuvor festgelegte Leasingrate zur Nutzung überlässt. Üblicherweise wird darüber hinausgehend vereinbart, dass die Gefahr oder Haftung bezogen auf den Untergang oder Beschädigung der Sache den Leasingnehmer trifft. Im Gegenzug tritt der Leasinggeber alle Ansprüche, die er gegen Dritte (z. B. Lieferanten) hat, an den Leasingnehmer ab. 445

2.4.3.1 Operating-Leasing Dem Operating-Leasing (Abb. 2.10) liegt zumeist eine Vereinbarung über eine nur kurzfristige Gebrauchs- und Nutzungsüberlassung eines Leasinggegenstandes zugrunde, d.  h. zwischen den Leasingparteien wird ein Überlassungsvertrag geschlossen, dessen Laufzeit nur einen Teil der üblichen Nutzungsdauer des Leasinggegenstandes erfasst. 448 Wegen dieser kurzen Grundlaufzeit ist der Vertrag regelmäßig für beide Vertragsparteien frei kündbar. 449 Das Operating-Leasing eignet sich, da es lediglich auf eine Teil- und gerade nicht auf eine Vollamortisation des Leasinggegenstandes abzielt, besonders zur ­wiederholten Gebrauchs- und Nutzungsüberlassung von ein und demselben Leasinggegenstand gegenüber verschiedenen Leasingnehmern. 450 Da der Vertrag eine entgeltliche Gebrauchsüberlassung auf Zeit zum Inhalt hat und außerdem dem Leasinggeber die Möglichkeit gewährt, sich jederzeit durch Kündigung aus der langfristigen Leasingvereinbarung zu lösen, ähnelt er nicht nur einem Mietvertrag nach §§ 535 ff. BGB, sondern er wird auch als solcher behandelt (Abschn. 2.3.3). Im Unterschied zur Miete trägt der Leasingnehmer allerdings – 447

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Abb. 2.10  Operating Leasing

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2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

169

wie bereits erwähnt – die Gefahr des Untergangs des Leistungsgegenstandes und die Kosten der Instandhaltung. Vielfach wird außerdem die Gewährleistung für Sachmängel ausgeschlossen, doch ist die Wirksamkeit einer derartigen Vereinbarung umstritten. Gelegentlich erhält der Leasingnehmer auch eine Kaufoption nach Ablauf der 451 Leasingzeit eingeräumt, wobei die gezahlten Leasingraten auf den Kaufpreis angerechnet werden. Entsprechend den Möglichkeiten unterschiedlicher Vertragsgestaltungen kann eine solche Leasingvereinbarung rechtlich als Abzahlungskauf oder als Mietkauf zu qualifizieren sein. In letzterem Fall liegt rechtlich zunächst ein Mietvertrag (§§ 535 ff. BGB) vor, der durch die Erklärung der Kaufoption beendet und durch einen Kaufvertrag (§§ 433 ff. BGB) ersetzt wird.

2.4.3.2 Finanzierungs-Leasing Das Finanzierungs-Leasing wird auch als sog. „echter Leasingvertrag“ bezeich- 452 net. Grundlage ist ein dreiseitiges Rechtsgeschäft, vergleichbar mit einem finanzierten Kauf; es steht die Finanzierungsfunktion im Vordergrund, d. h. der Erwerber kann einen Gegenstand, den er sich beim Hersteller/Lieferanten beschaffen will nicht ohne weiteres aus eigenen Mitteln finanzieren und schaltet daher eine Leasinggesellschaft zur Unterstützung ein. Die Vertragsbeziehungen in diesem dreiseitigen Rechtsgeschäft stellen sich 453 wie folgt dar: Der Leasingnehmer schließt mit der Leasinggesellschaft (= Leasinggeber) einen Leasingvertrag, durch welchen sich der Leasinggeber dazu verpflichtet, dem Leasingnehmer eine gebrauchstaugliche/funktionstüchtige Sache oder Sachgesamtheit (Leasinggegenstand) gegen Entgelt zur Nutzung auf Zeit zu überlassen, und der Leasingnehmer dazu, dem Leasinggeber die vereinbarten Leasingraten zu leisten. Der Leasinggeber, d. h. die Leasinggesellschaft (= Käufer), kauft den vom Leasingnehmer ausgesuchten Leasinggegenstand beim Hersteller/Lieferanten (= Verkäufer), sodass zwischen diesen Parteien ein Kaufvertrag nach allgemeinen Regeln zustande kommt. Charakteristisch ist dabei, dass der Leasinggeber den Leasinggegenstand nicht schon vor Abschluss des Leasingvertrages mit dem Leasingnehmer auf eigene Rechnung vorrätig hält, sondern diesen erst auf Wunsch des Leasingnehmers anschafft. Der Leasingnehmer bestimmt sowohl den Leasinggegenstand als auch den Hersteller/Lieferanten und vereinbart mit diesem auch die Vertragsbedingungen. Der Leasinggeber schließt sodann auf dieser Grundlage den Vertrag mit dem Hersteller/Lieferanten oder tritt, wenn der Vertrag schon zwischen Hersteller/Lieferanten und Leasingnehmer zustande gekommen ist, in diesen im Wege der Vertragsübernahme ein. Der Leasinggeber übernimmt also die Funktion des Investors und Finanziers (Finanzierungsfunktion). Der Leasinggegenstand wird schließlich vom Hersteller/Lieferanten direkt an den Leasingnehmer geliefert. Dabei ist die Auslieferung des Leasinggegenstands rechtlich keine Leistung des Herstellers/Lieferanten an den Leasingnehmer, weil zwischen diesen Personen keine Leistungsverpflichtung begründet wird. Stattdessen tritt eine doppelte Erfüllungsfunktion ein: Einerseits wird der Kaufvertrag erfüllt, indem eine Leistung des Herstellers/Lieferanten an den Leasinggeber er-

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2  Besonderes Schuldrecht

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Abb. 2.11 Finanzierungsleasing

454

455

456

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bracht wird, andererseits wird der Leasingvertrag erfüllt, weil eine Leistung des Leasinggebers an den Leasingnehmer erfolgt (Abb. 2.11). Da der Finanzierungsleasingvertrag gesetzlich nicht geregelt ist, kann er privatautonom ausgestaltet werden; zumeist geschieht dies formularmäßig, wobei dann die Grenzen der §§  305-310  BGB zu beachten sind (Abschn.  1.6.2.2). Er bedarf grds. keiner besonderen Form, es sei denn, dass der Vertrag in den Anwendungsbereich des § 506 Abs. 2 BGB fällt (Finanzierungsleasing eines Verbrauchers); in diesem Fall bedarf der Vertrag der Schriftform (§§ 506 Abs. 1, 492 Abs. 1 BGB). In aller Regel wird beim Finanzierungsleasing eine Grundlaufzeit vereinbart, die nach Art des Leistungsgegenstandes etwa drei bis sechs Jahre beträgt und der betriebsüblichen Nutzungszeit entspricht oder sie geringfügig unterschreitet. Während dieser Grundlaufzeit ist die Kündigung des Leasingvertrages ­ausgeschlossen. Die an den Leasinggeber zu leistenden Zahlungen setzen sich aus einer Leasingsonderzahlung, die bei Vertragsabschluss zu erbringen ist, den Leasingraten, die für die Dauer der Grundlaufzeit zu erbringen sind, sowie einer Restwertzahlung bei eingeräumter Kaufoption zusammen. Die Summe der Zahlungen ist so bemessen, dass nach Ablauf der Grundlaufzeit sämtliche dem Leasinggeber entstandenen Kosten für die Anschaffung und Vertragsabwicklung abgedeckt sind und ihm obendrein ein Gewinn von ca. 25 % bis 55 % verbleibt. Zur Sicherung der Leasingraten erhält der Leasinggeber das Sicherungseigentum (Abschn. 2.5.2) am Leasinggegenstand. Für den Fall des Zahlungsverzugs kann ferner vereinbart werden, dass sämtliche Leasingraten bis zum Ende der Grundlaufzeit sofort fällig werden.

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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Wie beim Operating-Leasing trägt der Leasingnehmer auch beim Finanzierungs-­ 458 Leasing die Gefahr des Untergangs und der Verschlechterung des Leasinggegenstandes, häufig verbunden mit Versicherungsverpflichtungen. Die rechtliche Einordnung des Finanzierungsleasings als Kauf- oder Mietver- 459 trag ist nicht einfach und daher nicht unumstritten. Die Vereinbarung über die entgeltliche Gebrauchsüberlassung des Leasinggegenstands ähnelt zwar dem Mietvertrag, aber sowohl die rechtliche Gestaltung als auch wirtschaftliche Gründe machen es erforderlich, beim Finanzierungsleasing auch kaufvertragliche Bestimmungen anzuwenden: • Im Unterschied zur Miete und zum Operating-Leasing soll der Leasingnehmer beim Finanzierungsleasing vielfach die wirtschaftliche Substanz des Leasinggegenstands endgültig aufzehren, gerade weil die Grundlaufzeit nahezu der Zeitdauer entspricht, in der der Leasinggegenstand wirtschaftlich nutzbar ist. Damit ist am Ende der Grundlaufzeit der Wert des Leasinggegenstandes nur noch gering. • Falls im Leasingvertrag eine Kaufoption vereinbart wurde, hat der Leasingnehmer auch rechtlich die Möglichkeit, nach Ablauf der Grundmietzeit das Eigentum an dem Leasinggegenstand zu erwerben. Die Kaufoption ist dabei ein bindendes Angebot des Leasinggebers an den Leasingnehmer zum Abschluss eines Kaufvertrages (= Verpflichtungsgeschäft) und zugleich ein Übereignungsangebot zur Übertragung des Eigentums (= Verfügungsgeschäft). Der Leasingnehmer wird deshalb durch die Ausübung des Optionsrechts Eigentümer, d. h. er nimmt das Angebot zum Kauf und zur Übereignung des Leistungsgegenstandes an. • Ein weiterer Unterschied zum reinen Mietvertrag liegt in der Gestaltung der Gefahrtragungs- und Gewährleistungsregeln. Bei Abschluss eines Mietvertrages trägt der Vermieter die Gefahr für den Untergang oder die Verschlechterung der Mietsache, d.  h.er verliert in diesen Fällen seinen Anspruch auf Zahlung des Mietzinses. Im Leasingvertrag wird diese Gefahrtragung üblicherweise zulasten des Leasingnehmers abgeändert, der nach Übergabe des Leasingguts das Risiko des Untergangs oder der Verschlechterung übernimmt, geradeso wie beim Kauf. • Die mietrechtliche Mängelhaftung des Mieters wird im Leasingvertrag regelmäßig ausgeschlossen; dafür tritt der Leasinggeber seine Gewährleistungsrechte aus dem Kaufvertrag mit dem Hersteller/Lieferanten an den Leasingnehmer ab. An die Stelle der mietrechtlichen Gewährleistung tritt also eine kaufrechtliche Gewährleistung, sodass der Leasingnehmer infolge der Abtretung direkte Ansprüche gegenüber dem Hersteller/Lieferanten erhält. • Anders als im Mietvertrag wird ferner die Verpflichtung zur Wartung und Unterhaltung des Leasinggegenstandes auf den Leasingnehmer abgewälzt. Auch dieser Umstand spricht dafür, das Finanzierungsleasing nach kaufrechtlichen Regeln abzuwickeln. • Betriebswirtschaftlich gesehen steht beim Finanzierungsleasing eindeutig die Finanzierung im Vordergrund. Daneben sind auch andere Aspekte von Bedeutung, wie beispielsweise die Ausnutzung betriebswirtschaftlicher und steuerlicher Vorteile. Die bilanzrechtliche Zuordnung zum Eigentümer (=  Leasinggeber) führt dazu, dass die Leasingzahlungen vom Leasingnehmer als

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2  Besonderes Schuldrecht

Werbungskosten (Aufwand) abgesetzt werden können. Die Zahlungen mindern außerdem den Gewerbeertrag und führen zur Schaffung von Liquidität, indem der Leasinggegenstand im Betrieb genutzt werden kann, ohne dass bei Vertragsschluss die Zahlung des vollen Kaufpreises erforderlich ist. Infolgedessen entspricht das Finanzierungsleasing in wirtschaftlicher Hinsicht für den Leasingnehmer dem Abzahlungsgeschäft. Aufgrund der vorgenannten Argumente behandelt die Rechtsprechung das Finanzierungsleasing daher als „atypischen Mietvertrag“ auf den in erster Linie die Bestimmungen des Mietrechts (§§ 535 ff. BGB) Anwendung finden, daneben aber auch kaufrechtliche Bestimmungen zum Tragen kommen können, wo sie erforderlich erscheinen. 460 Sofern der Leasinggeber (z. B. die Leasinggesellschaft) den Leasingvertrag im Rahmen seiner gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit mit einem Leasingnehmer schließt, der den Leasinggegenstand zu rein privaten Zwecken in Anspruch nimmt, ist § 506 Abs. 2 BGB („sonstige Finanzierungshilfe“ für einen Verbraucher) einschlägig, weshalb weitere Besonderheiten gelten: neben dem Schriftformerfordernis nach § 492 Abs. 1 BGB, ein zweiwöchiges Widerrufsrecht gemäß §§ 495 Abs. 1, 355 BGB sowie besondere Kündigungsregelungen entsprechend § 498 BGB.

2.4.4 Factoringvertrag 461

Beim Factoring verkauft ein Unternehmen seine Forderungen an einen Factoring-­ Dienstleister (Factor). Wirtschaftlicher Zweck ist dabei, zum einen, dass sich das Unternehmen durch die Vorfinanzierung abgetretener Außenstände Liquidität verschafft und zum anderen Kosten bezogen auf das Einziehen von säumigen Forderungen erspart. Beispiel

Der Handwerksbetrieb H hat eine Forderung in Höhe von 30.000 EUR gegen den Kunden K, der sich schon in der Vergangenheit als „fauler Zahler“ erwiesen hat. Um die eigene Liquidität zu sichern und sich eine Auseinandersetzung mit dem K zu ersparen – er will ihn auch weiter als Kunde betreuen – beschließt er, die offene Rechnung gegen den K an den Factorer F zu verkaufen. ◄ 462

Der Factor, in aller Regel eine Factoringgesellschaft oder eine Bank, kauft durch den Factoringvertrag bestimmte Forderungen des Factoringkunden (= Anschlusskunden) auf (Abb. 2.12). Beim Factoringvertrag stehen sich zwei Hauptleistungspflichten gegenüber, nämlich einerseits die Verpflichtung des Anschlusskunden zur Abtretung der Forderungen an den Factor und zum anderen die Verpflichtung des Factors, den Gegenwert dieser laufenden, i. d. R. noch nicht fälligen Forderungen (ca. 80–90 % der

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

173

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Abb. 2.12 Factoringvertrag

Forderungswerte) als Kaufpreis zu vergüten. Zur Abgeltung des Verwaltungsaufwandes (Debitorenbuchhaltung, Kreditwürdigkeitsprüfungen, laufende Überwachung der Bonität der Drittschuldner, Inkasso und Mahnwesen) und eines eventuell übernommenen Delkredere-Risikos (=  Risiko der Uneinbringlichkeit der Debitoren-/Drittschuldnerforderungen) erhält der Factor eine Factoringgebühr. Diese wird in aller Regel nach dem Jahresumsatz bemessen (Verwaltungsgebühren in Höhe von 0,5–2,5  % vom Umsatz sowie bankübliche Zinsen und Delkredere-Provision in Höhe von 0,2–0,4 % vom Umsatz) und sie schmälert den Kaufpreis von Anfang an in Höhe der Gebühr. Beim Geschäftsmodell des Factoring unterscheidet man verschiedene Formen. 463 Die bekanntesten sind das echte und unechte Factoring sowie das Auslands-­ Factoring (es gibt weitere, wie z.  B. das „Maturity-Factoring“ oder „Inhouse-­ Factoring“); alle diese Factoringformen können dabei offen, verdeckt (still) oder halboffen (bzw. halbverdeckt) praktiziert werden. Beim echten Factoring übernimmt der Factor neben der Finanzierung und Ver- 464 waltung der Forderungen auch das Delkredererisiko, also das Risiko der Zahlungsunfähigkeit der Drittschuldner/Debitoren. Daraus folgt, dass durch die Abtretung die übertragenen bzw. angekauften Forderungen endgültig auf den Factor übergehen. Sind die Forderungen z. B. wegen Zahlungsunfähigkeit der Schuldner uneinbringlich, kann der Factor beim echten Factoring daher auch keinen Rückgriff auf den Factoringkunden nehmen; der Factoringkunde haftet als gesetzliche Folge des

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2  Besonderes Schuldrecht

Forderungskaufvertrages entsprechend §  453  BGB nur für deren rechtlichen Bestand (Verität), nicht aber für die Zahlungs(un)fähigkeit der/des Drittschuldner(s) (Bonität). 465 Beim heute eher selten gewordenen unechten Factoring übernimmt der Factor dagegen nur die Finanzierungs- und Verwaltungsaufgaben. Das Bonitätsrisiko bezogen auf die Drittschuldner (Debitoren) verbleibt beim Factoringkunden. Daher kann bei dieser Factoringform der Factor die angekauften Forderungen seinem Kunden auch wieder zurückbelasten, wenn sich die Forderungen als uneinbringlich erweisen. Einen bereits erhaltenen Vorschuss muss der Factoringkunde dann allerdings an den Factor zurückgeben. 466 Als Auslands-Factoring bezeichnet man besondere Factoringformen, die sich im Außenhandel entwickelt haben. Beim Export-Factoring werden von einem Exporteur Forderungen aus grenzüberschreitenden Warenlieferungen (selten: Dienstleistungen) verkauft, wobei dies in unterschiedlicher Art und Weise geschehen kann: Entweder in der Form, dass der Exporteur seine Forderungen aus Warenlieferungen gegen ausländische Käufer (Debitoren) unter Übergabe von Rechnungskopien und Versanddokumenten an einen Export-Factor in seinem Heimatland – zumeist eine Bank mit internationalen Verbindungen  – verkauft und abtritt. Dieser veräußert dann seinerseits die Forderungen an seinen Factor-­Korrespondenten, den sog. Import-Factor mit Sitz im Importland der jeweiligen Debitoren (sogenanntes Zwei-Factor-System). Beim sog. direkten Export-Factoring tritt der Exporteur dagegen selbst als Factorkunde des Factors im Importstaat auf. Das Import-Factoring ist die spiegelbildliche Erscheinungsform des Export-­Factoring; hier übernimmt ein deutscher Factor von einem ausländischen Factor-­Korrespondenten Forderungen eines ausländischen Exporteurs gegen einen deutschen Importeur. 467 Bei allen genannten Erscheinungsformen ist – wie bereits erwähnt – zwischen einem offenen, verdeckten (stillen) und halboffenen (oder halbverdeckten) Factoring zu unterscheiden: Beim offenen Factoring werden die Debitoren (Drittschuldner) vom Verkauf und der Abtretung der Forderungen an den Factor unterrichtet; die Debitoren können mit befreiender Wirkung nur noch an den Factor zahlen (§  407  BGB). Das ­offene Factoring, welches im Rahmen des echten als auch des unechten Factoring praktiziert wird, hat sich in der Praxis durchgesetzt. Beim verdeckten (stillen) Factoring unterbleibt dagegen die Unterrichtung der Debitoren. Letztere zahlen weiterhin mit schuldbefreiender Wirkung an den Factoringkunden, der die Einziehungsermächtigung des Factors hat und sich gegenüber diesem verpflichtet, treuhänderisch die vereinnahmten Erlöse für den Factor zu verwahren und an diesen auszukehren. Dem Factor bleibt allerdings zur Sicherheit vorbehalten, bei vertragswidrigem Verhalten des Factoringkunden die stille Zession offen zu legen, um so alle zukünftigen Debitorenzahlungen vollständig auf eigene Konten zu erhalten. Das halboffene (oder halbverdeckte) Factoring stellt schließlich noch eine Unterform des verdeckten Verfahrens dar, bei dem der Factor vom Factoringkunden verlangt, dass dieser seine Debitoren anweist, den Zahlungsbetrag auf ein vom Factor geführtes Konto zu überweisen (Zahlstellenvermerk). Hieraus kann der Schuld-

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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ner/Debitor dann zumindest schließen, dass seine Forderung an einen Factor abgetreten wurde. Liegt der Geschäftsbeziehung ein echtes Factoring zugrunde, bei der der Factor 468 das Delkredererisiko übernimmt, ist der Factoringvertrag rechtlich als Forderungskauf zu qualifizieren. Da der Factor daneben auch Dienstleistungen erbringt, enthält der Factoringvertrag obendrein Geschäftsbesorgungselemente im Sinne der §§ 675, 611 BGB, sodass auf den Factoringvertrag – dann als typen-­gemischter Vertrag – sowohl kauf- als auch geschäftsbesorgungsrechtliche ­Normenkomplexe anwendbar sind, je nachdem, ob das aufgetretene Rechtsproblem dem Delkredereoder dem Finanzierungs- und Verwaltungsbereich entspringt. Liegt der Geschäftsbeziehung ein unechtes Factoring zugrunde, d. h. dem Fac- 469 tor ist, falls die Forderung uneinbringlich ist, ein Rückbelastungsrecht gegenüber dem Factoringkunden eingeräumt, so wird der Factoringvertrag von der Rechtsprechung als ein Kreditgeschäft zwischen dem Factor und dem Factoringkunden mit Abtretung der Forderungen erfüllungshalber (§§ 398, 364 Abs. 2 BGB) gegen Auskehr der Darlehensvaluta, behandelt. Das heißt, die Abtretung der Forderungen dient der Sicherung des Kredits und dazu, dass die Bank versuchen kann, durch Einzug der abgetretenen Forderungen diesen Kredit zu tilgen. Soweit der Factoringvertrag eine Globalzession von Kaufpreisforderungen aus 470 der Weiterveräußerung von Waren enthält, die dem Factoringkunden von seinem Verkäufer unter verlängertem Eigentumsvorbehalt (Abschn. 2.5.1) geliefert worden sind, führt dies zu einer Kollision von Globalzession und verlängertem Eigentumsvorbehalt (Abb. 2.13). Bei der Beurteilung, welche dieser mehrfachen Verfü-

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Abb. 2.13  Zusammentreffen von Factoring & Globalzession/verlängerter Eigentumsvorbehalt

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2  Besonderes Schuldrecht

gungen wirksam ist, handelt die Rechtsprechung regelmäßig nach dem sogenannten Prioritätsprinzip, d. h.in einer Abtretungskette setzt sich die Abtretung durch, welche zeitlich zuerst stattgefunden hat; es wird also derjenige Forderungsgläubiger, der in einer Abtretungskette der Vorauszessionar ist. Dieser Prioritätsgrundsatz wird allerdings im Rahmen der kreditsichernden Globalzession (= Globalzession zugunsten der Bank zur Sicherung eines Bankkredits) durchbrochen, wenn eine Globalzession zugunsten einer Bank mit einem nachfolgenden branchenüblichen verlängerten Eigentumsvorbehalt eines Lieferanten des Bankkunden in Konkurrenz steht. In diesem Fall ist die zeitlich vorausgehende Globalzession zugunsten der Bank wegen Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) unwirksam. Denn der Bankkunde wird durch die Globalzession gezwungen, mit seinen Lieferanten (Warenkreditgläubigern) Verträge unter verlängertem Eigentumsvorbehalt zu schließen, obschon er genau weiß, dass wegen des oben genannten Prioritätsgrundsatzes die der Globalzession zeitlich nachfolgenden, im Rahmen des verlängerten Eigentumsvorbehalts vereinbarten Forderungsabtretungen an die Lieferanten unwirksam sind (sogenannte Vertragsbruchtheorie). Die Sittenwidrigkeit der Globalzession kann in diesen Fällen nur durch eine dingliche Teilverzichtsklausel (eindeutige Vorrangklausel zugunsten des Vorbehaltsverkäufers) vermieden werden. Hinsichtlich der Frage, inwieweit nun die Rechtsprechung zur kreditsichernden Globalzession (Abschn. 2.5.3) auf die Globalzession im Rahmen eines Factoring übertragen werden kann, ist zu differenzieren: Beim echten Factoring ist die Globalzession an den Factor auch gegenüber dem verlängerten Eigentumsvorbehalt der Lieferanten (Warenkreditgläubiger) wirksam. Denn im Rahmen des verlängerten Eigentumsvorbehalts ist es dem Vorbehaltskäufer gestattet, die gelieferten Waren im ordnungsgemäßen Geschäftsgang weiter zu veräußern. Regelmäßig wird dem Vorbehaltskäufer dafür eine Weiterveräußerungsbefugnis vom Vorbehaltsverkäufer (Lieferanten) eingeräumt. Diese ist mit einer Einzugsermächtigung bezogen auf die aus der Weiterveräußerung resultierenden Forderung gekoppelt. Daraus leitet nun die Rechtsprechung ab, dass die Barzahlung durch den Factor einer Barzahlung durch einen beliebigen Dritten gleichsteht. Denn tatsächlich erlangt der Factoringkunde/Vorbehaltskäufer den Kaufpreis sofort und endgültig, so dass dem Sicherungsinteresse des Vorbehaltsverkäufers (Lieferanten) ausreichend Rechnung getragen ist. Die vom Vorbehaltsverkäufer an den Vorbehaltskäufer erteilte Einzugsermächtigung deckt demnach auch die Factoring-Globalzession der Forderungen aus dem Weiterverkauf der Vorbehaltsware, und zwar gleichgültig, ob sie zeitlich vor oder nach dem verlängerten Eigentumsvorbehalt vorgenommen wird. Besagtes gilt nur dann nicht, falls der Factor zumutbare Schutzmaßnahmen zugunsten des Lieferanten (Warenkreditgläubigers) unterlässt (z. B. Mitwirkung bei Überweisungen der Factoringerlöse an die Gläubigerbank des Vorbehaltskäufers), obschon er begründeten Anlass zu der Annahme hat, dass der Factoringkunde seine Verpflichtungen gegenüber seinen Lieferanten (Warenkreditgläubiger) nicht wahrnehmen wird.

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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Beim unechten Factoring setzt sich dagegen grundsätzlich der verlängerte Eigentumsvorbehalt der Lieferanten (Warenkreditgeber) gegenüber der Factoring-­ Globalzession zulasten des Factors durch; die Factoring-Globalzession ist unwirksam (§ 138 BGB; Vertragsbruchtheorie). Es gelten die allgemeinen Grundsätze zur Kollision zwischen dem verlängertem Eigentumsvorbehalt der Warenlieferanten und der kreditsichernden Globalzession entsprechend, da das unechte Factoring den Kreditgeschäften zugeordnet wird und der Factor daher einem Geldkreditgeber gleichgesetzt werden kann. Beispiel

Das Unternehmen F vereinbart mit der B-Bank ein echtes Factoring, in dem sie der B-Bank im Voraus alle künftigen Forderungen aus Warenlieferungen und Dienst- oder Werkleistungen, die ihr gegen ihre sämtlichen Abnehmer oder Auftraggeber zustehen werden, unter der aufschiebenden Bedingung abtritt, dass die jeweiligen Forderungen von der B-Bank aufgekauft werden. Bei einem solchen echten Factoring wird der Factoringkunde so gestellt, wie wenn die Forderung von seinen Kunden bezahlt würde. Er erhält also den echten Gegenwert der Forderung (abzüglich der Gebühren der B-Bank) endgültig, ohne dass es darauf ankäme, ob die B-Bank die Forderung gegenüber den Abnehmern und Auftraggebern durchsetzen kann oder nicht. Daher muss diese Vorausabtretung nicht wegen Sittenwidrigkeit gegenüber einer etwaigen späteren Abtretung an einen Vorbehaltslieferanten des Factoringkunden zurücktreten. Die F erhält nahezu den vollen Verkaufserlös – ohne die Möglichkeit der Rückbelastung – und kann daraus die Vorbehaltslieferanten so befriedigen, als hätte sie die an den Factor verkauften Forderungen selbst eingezogen; die Vorbehaltslieferanten bedürfen daher keines besonderen Schutzes, ihre Interessen sind hinreichend gewahrt. Anderes gilt, falls ein unechtes Factoring vereinbart wurde. Hier besteht für den Factor die Möglichkeit zur Rückbelastung. Macht nun der Factor von seinem Rückbelastungsrecht Gebrauch und befindet sich die F in einer Krise, tritt eine Interessenkollision zwischen der B-Bank und den Vorbehaltslieferanten ein. Denn beide Kreditgeber wollen dann die Forderungen ihrer gemeinsamen Schuldnerin F für sich in Anspruch nehmen und diese einziehen. In einem solchen Fall bedürfen die Vorbehaltslieferanten eines besonderen Schutzes, den die Rechtsprechung dadurch gewährt, dass sie die Globalabtretung an die B-Bank für sittenwidrig und damit für nichtig erklärt (Vertragsbruchtheorie). Der B-Bank würde daher die rechtliche Grundlage für die Inanspruchnahme der Abnehmer und Auftraggeber der F fehlen. ◄

2.4.5 Darlehensvertrag Das Bürgerliche Gesetzbuch unterscheidet zwischen dem wesenstypischen Geld- 471 darlehen (§§ 488 ff. BGB), einschließlich der besonderen Regelungen für Verbraucherdarlehen (§§  491  ff.  BGB) und dem weniger bedeutenden Sachdarlehen (§§ 607 ff. BGB).

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2  Besonderes Schuldrecht

2.4.5.1 Gelddarlehen Mit Abschluss eines Darlehensvertrages verpflichtet sich der Darlehensgeber, dem Darlehensnehmer Geld in der vereinbarten Höhe zur Verfügung zu stellen (§ 488 Abs. 1 S. 1 BGB), während der Darlehensnehmer sich dazu verpflichtet, einen geschuldeten Zins zu zahlen und das zur Verfügung gestellte Darlehen bei Fälligkeit zurückzuerstatten (§ 488 Abs. 1 S. 2 BGB). Der Darlehensvertrag kommt durch Angebot und Annahme zustande (§§ 145 ff. BGB); er bedarf keiner besonderen Form, wenngleich die Schriftform aus Beweisgründen zweckmäßig ist. Aufgrund des Darlehensvertrages kann der Darlehensnehmer vom Darlehensgeber die Herausgabe des als Darlehen zugesagten Betrages verlangen. Die Darlehensgewährung erfolgt durch wertmäßige Verschaffung des Geldbetrages etwa durch Übergabe von Bargeld oder in den Formen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs (z.  B. Überweisung; Einräumung eines Überziehungskredits), entweder an den Darlehensnehmer oder auf dessen Weisung an einen Dritten. Die Darlehensvaluta scheidet daher aus dem Vermögen des Darlehensgebers aus und wird dem Vermögen des Darlehensnehmers in der zuvor vereinbarten Form zugeführt. Die Vertragsparteien vereinbaren für das Darlehen regelmäßig – zumindest sofern es nicht unentgeltlich gewährt wird (§ 488 Abs. 3 S. 3 BGB) – einen Zins, d. h. eine nach Laufzeit bemessene, gewinn- und umsatzunabhängige Vergütung für die Nutzung des auf Zeit gewährten Kapitals. Der Zins ist grundsätzlich ein frei gestaltbarer Vertragsgegenstand, wobei regelmäßig festgelegt wird, ob es sich um einen festen oder veränderlichen Zinssatz handelt (Festzinsvereinbarung oder Kontokorrent) und wann der Zins fällig sein soll (z. B. genaues Datum, Quartal, Jahresende). Fehlt eine Fälligkeitsvereinbarung, ist er jeweils nach Ablauf eines Jahres zu entrichten, bei kürzerer Laufzeit im Zeitpunkt der Rückzahlung des Darlehens (§ 488 Abs. 2 BGB). Die Höhe des Zinses (Zinssatz) kann von den Parteien frei vereinbart werden, wobei auch Zinsanpassungsklauseln, die dem Darlehensgeber die Möglichkeit einräumen, den Zinssatz einseitig an die Marktgegebenheiten anzugleichen, vereinbart oder durch AGB in eine Vereinbarung einbezogen werden können (Grenze: § 308 Nr. 4 BGB). Anpassungen auf der Grundlage einer solchen Klausel müssen sich als angemessen erweisen, sie unterliegen der Billigkeitskontrolle (§ 315 BGB). Ob ein Darlehen auch einen negativen Zinssatz haben kann, ist umstritten. Kritisch wird dabei vor allem die Einführung eines Negativzinses über AGB auch bezogen auf Altverträge gesehen, da dies zumindest dem bisherigen Leitbild des Darlehens i. S. v. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB widerspricht. Wucherzinsen sind grundsätzlich sittenwidrig und führen zur Nichtigkeit des Darlehensvertrages (§ 138 Abs. 2 BGB). Davon ist auszugehen, wenn Leistung und Gegenleistung in einem auffälligen Missverhältnis zueinander stehen und dem Darlehensgeber obendrein eine verwerfliche Gesinnung vorzuwerfen ist. Die Rechtsprechung geht von diesem wucherbegründenden Missverhältnis aus, wenn der Darlehenszins bei Abschluss des Darlehensvertrages den marktüblichen Effektivzins relativ um 100 % und absolut um mehr als 12 %-Punkte übersteigt.

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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Beispiel

Darlehenszins 14  %, Effektivzins 6  %: Darlehensvertrag sittenwidrig, da Vertragszins mehr als das Doppelte des Effektivzinses. Darlehenszins 28 %, marktüblicher Effektivzins 15 %: Darlehensvertrag sittenwidrig, da mehr als 12 %-Punkte Unterschied. ◄ Neben dem Wucher kann der Zinssatz auch deshalb sittenwidrig sein, weil er zu einer krassen Überforderung eines völlig unerfahrenen Darlehensnehmers führt und die Unerfahrenheit geradewegs ausgenutzt wurde (§ 138 Abs. 1 und 2 BGB). Ist ein Darlehensvertrag wegen Wucher oder Sittenwidrigkeit nichtig, so muss der Darlehensnehmer das Geld nicht sofort zurückzahlen, sondern muss es – ohne Zinsen zahlen zu müssen (§ 817 S. 2 BGB) – erst nach Ablauf der in Aussicht genommenen Vertragslaufzeit zurückzahlen. Obendrein hat er einen Anspruch auf Erstattung bereits geleisteter Zinsen und entstandener Kreditkosten (§§ 812 ff. BGB). Auf § 818 Abs. 3 BGB darf er sich hingegen nicht berufen, da ihm bekannt war, dass er die Darlehensvaluta zurückleisten muss. Sind die Parteien von einem entgeltlichen Darlehen ausgegangen, haben aber die Höhe des Zinses nicht vereinbart, gilt der gesetzliche Zinssatz von 4  % (§ 246 BGB), bei Kaufleuten von 5 % (§§ 354 Abs. 2, 352 Abs. 2 HGB). In einem Darlehensvertrag darf grundsätzlich keine Vereinbarung dahingehend getroffen werden, dass fällige Zinsen erneut zu verzinsen sind (§ 248 Abs. 1 BGB). Dieses Zinseszinsverbot ist in § 248 Abs. 2 BGB eingeschränkt; insbesondere den öffentlichen und privaten Kreditinstituten ist eine anders lautende Absprache im Voraus gestattet.   Kommt der Darlehensnehmer mit der Zinszahlung in Verzug, kann der Darlehensgeber nicht mehr die vertraglich vereinbarten Zinsen (§ 289 BGB), sondern nur noch Verzugszinsen und den sonstigen Verzugsschaden verlangen (§§ 280 Abs. 1 und 2, 286, 288 BGB). Im Allgemeinen werden der Darlehensgeber und der Darlehensnehmer einen Fälligkeitstermin vereinbaren und damit bestimmen, wann das Darlehen zurück zu zahlen ist. Kommt der Darlehensnehmer seiner Rückerstattungspflicht nicht nach, so kann der Darlehensgeber nach §§ 280 Abs. 1, 2, 286 BGB Ersatz des Verzögerungsschadens sowie nach §  288 Abs.  1  BGB Verzugszinsen verlangen. Ebenso kommt ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 2, 286 BGB in Betracht, wenn der Darlehensnehmer die Zinsen nicht rechtzeitig zahlt. Haben die Vertragsparteien den Fälligkeitstermin nicht bestimmt, dann kann der Darlehensvertrag sowohl vom Darlehensgeber als auch vom Darlehensnehmer ordentlich gekündigt werden (§ 488 Abs. 3 S. 1 BGB). Die Kündigungsfrist beträgt – wenn nichts anderes vereinbart ist – drei Monate (§ 488 Abs. 3 S. 2 BGB). Zinslose Darlehen darf der Darlehensnehmer jederzeit ohne Kündigung zurückzahlen (§ 488 Abs. 3 S. 3 BGB). Ist ein bestimmter Rückzahlungstermin für das verzinsliche Darlehen vorgesehen, steht dem Darlehensnehmer ein ordentliches Kündigungsrecht zu, welches durch Vertrag weder ausgeschlossen noch eingeschränkt werden kann (§ 489 BGB).

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2  Besonderes Schuldrecht

Dieses Kündigungsrecht soll den Darlehensnehmer insbesondere vor überlanger Bindung schützen und ihm zudem die Möglichkeit einer Umschuldung eröffnen. Dabei unterscheidet die Bestimmung zwischen Darlehnsverträgen mit variablem und festem Zinssatz: • Ein Darlehen mit variablem bzw. veränderlichem Zinssatz (z. B. Bindung an den Basiszins; Zinsgleitklauseln) kann vom Darlehensnehmer jederzeit unter Einhaltung der Kündigungsfrist von drei Monaten gekündigt werden (§  489 Abs. 2 BGB). • Ein Darlehen mit einen festen Zinssatz („gebundener Sollzinssatz“, z. B. 8 Jahre zu 5 % Zins; auch Festzinsdarlehen mit bonitätsgestufter Zinsabrede) kann vom Darlehensnehmer nur unter den eingeschränkten Voraussetzungen des §  489 Abs. 1 BGB, in jedem Fall aber spätestens nach 10 Jahren gekündigt werden. Zur ordentlichen Kündigung muss entweder nach § 489 Abs. 1 BGB die Zinsbindung bereits vor der für die Rückzahlung bestimmten Zeit enden (§  489 Abs.  1 Nr. 1 BGB; dann Kündigungsfrist: 1 Monat) oder es müssen 10 Jahre seit Empfang des Darlehens abgelaufen sein (§ 489 Abs. 1 Nr. 2 BGB; dann Kündigungsfrist: 6 Monate). Eine Kündigung nach § 489 Abs. 1 und 2 BGB gilt als nicht erfolgt, wenn der Darlehensnehmer den geschuldeten Betrag nicht binnen zweier Wochen nach Wirksamwerden der Kündigung zurückzahlt (§ 489 Abs. 3 BGB). Durch diese „Unterbleibungsfiktion“ soll insbesondere einer missbräuchlichen Ausübung des Kündigungsrechts vorgebeugt werden. Beispiel

Der A hat das auf 12 Jahre lautende Darlehen seiner Bank erhalten und damit in den letzten 10 Jahren gut gewirtschaftet. A macht nunmehr von seinem ­Kündigungsrecht Gebrauch, wobei er insgeheim erhofft den Prozess der Rückzahlung noch einige Monate herausschieben zu können. ◄ 482

§ 490 BGB eröffnet sowohl dem Darlehensgeber, als auch dem Darlehensnehmer ein außerordentliches (fristloses) Kündigungsrecht. Dem Darlehensgeber steht das außerordentliche Kündigungsrecht zu, sofern ein wichtiger Grund vorliegt (§§ 490, 314 BGB). Ein solcher wird angenommen, wenn die Rückerstattung des Darlehens bei Fälligkeit wegen einer tatsächlichen oder drohenden wesentlichen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers oder der Werthaltigkeit einer gegebenen Sicherheit gefährdet erscheint (§ 490 Abs. 1 BGB). Während die fristlose Kündigung wegen Verschlechterung vor Auszahlung immer möglich ist, ist sie nach Auszahlung nur noch „in der Regel“ möglich, was eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls erfordert; es ist zu prüfen, ob dem Darlehensgeber die Fortsetzung des Vertrages tatsächlich unzumutbar ist. Einschränkend ist ferner zu berücksichtigen, dass eine Vermögensverschlechterung auf Grund von Umständen, die bereits bei Vertragsschluss bekannt waren, nur ganz ausnahmsweise eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann.

2.4 Finanzierungs- und Kreditgeschäfte

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Beispiel

Der 50-jährige A hat ein auf 2 Jahre lautendes Darlehen der B-Bank erhalten. Nach einem Jahr Laufzeit verliert der A seine Beschäftigung, offene Forderungen kann er nicht mehr zahlen, so dass auch die Rückzahlung der Valuta in Frage steht. Daher kündigt die B-Bank außerordentlich. Dies wäre trotz der tatsächlich verschlechterten Vermögensverhältnisse des A nicht möglich, wenn beispielsweise eine ratenweise Rückzahlung möglich wäre oder bereits absehbar ist, dass die Vermögensverschlechterung des A nur vorübergehender Natur ist. ◄ Der Darlehensnehmer kann bei einem festverzinsten und durch Grundpfandrechte gesicherten Darlehen ein außerordentliches Kündigungsrecht ausüben, wenn er daran ein berechtigtes Interesse hat (z. B. weil der Darlehensnehmer ein Bedürfnis nach einer anderen Verwertung der zur Sicherung des Darlehens beliehenen Sache hat) und seit dem vollständigen Empfang des Darlehens bereits sechs Monate abgelaufen sind (§ 490 Abs. 2, 488 Abs. 3 S. 2 BGB). Außerdem hat der Darlehensnehmer dem Darlehensgeber denjenigen Schaden zu ersetzen, der ihm aus der vorzeitigen Kündigung entsteht (Vorfälligkeitsentschädigung). Beispiel

Der A hat ein Darlehen über die Laufzeit von 20 Jahren von der B-Bank erhalten, welches er mit der Grundschuld an einem Grundstück besicherte, das ihm und seiner Ehefrau gehört. Nachdem sich die Eheleute nach zwei Jahren scheiden ließen, begehrt er die Kündigung des Darlehens, da das Grundstück zur Befriedigung von Unterhaltsansprüchen verkauft werden soll. ◄ Sofern eine Geldforderung aus einem anderen Verpflichtungsgeschäft entstanden 483 ist, z.  B. eine Kaufpreisforderung aus einem Kaufvertrag über einen PKW, kann diese durch ein sog. Vereinbarungsdarlehen in eine Darlehensforderung umgewandelt werden. Geschieht dies in Form einer Schuldumwandlung (§  311 Abs.  1  BGB), bei welcher der ursprüngliche Schuldgrund, also der Kaufvertrag, fortbesteht, bleiben die Gewährleistungs- und Sicherungsrechte aus dem Kaufvertrag bestehen. Falls der Kaufvertrag durch Schuldumschaffung aufgehoben wird, gehen mit ihm auch die Gewährleistungsrechte aus dem Kaufvertrag sowie die Sicherungsrechte an der Kaufpreisforderung unter.

2.4.5.2 Verbraucherdarlehen Für entgeltliche Darlehensverträge zwischen einem Unternehmer (§ 14 BGB) als 484 Darlehensgeber und einem Verbraucher (§ 13 BGB) als Darlehensnehmer (sog. Verbraucherdarlehensverträge) gelten ergänzend die verbraucherschützenden Regelungen der §§ 491 ff. BGB, die nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgeändert werden dürfen (§  512  BGB): Danach bestehen bereits vor Abschluss des Vertrages umfangreiche Informationspflichten (§ 491a Abs. 1 i. V. m. 247 EGBGB), die in Textform (§ 126b BGB) vorzulegen sind. Ferner ist der Verbraucherdarlehensvertrag schriftlich abzuschließen (§ 492 Abs. 1 S. 1 BGB) und dem Verbraucher eine

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2  Besonderes Schuldrecht

Abschrift auszuhändigen (§ 492 Abs. 3 S. 1 BGB). Der Vertrag muss schließlich die im Gesetz normierten Mindestangaben enthalten, u. a. die Angabe des Nettodarlehensbetrages, den Gesamtbetrag aller vom Darlehensnehmer zu entrichtenden Zahlungen/Gebühren sowie den effektiven Jahreszins (§ 492 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 247 § 6 bis 13 EGBGB). Ein Verstoß gegen die formalen und inhaltlichen Vorgaben führt zur Nichtigkeit des Vertrages (§ 494 Abs. 1 BGB). Hat der Darlehensnehmer das Darlehen bereits empfangen, heilt sich zwar der anfängliche Mangel, mitunter verringern sich aber die Zahlungspflichten des Darlehensnehmers (§ 494 Abs. 2 BGB, z. B. bei fehlender Angabe zum effektiven Jahreszins reduziert sich der Zinsanspruch vom vertraglichen auf den gesetzlichen Zinssatz). Dem Verbraucher (Darlehensnehmer) steht binnen einen Frist von 14 Tagen ein Widerrufsrecht zu (§§ 495 Abs. 1, 355 Abs. 2 S. 1 BGB). Die Frist beginnt nachdem der Darlehensgeber dem Darlehensnehmer die Vertragsurkunde oder eine Abschrift ausgehändigt hat (§ 495 Abs. 1 i. V. m. 356b Abs. 1 und 3BGB). Weitere Besonderheiten ergeben sich aus § 497 BGB zu Zins- und Tilgungsregelungen bei Verzug des Darlehensnehmers. Im Verzug hat der Darlehensnehmer den geschuldeten Betrag nach § 288 Abs. 1 S. 2 BGB zu verzinsen, d. h. mit 5 % über dem Basiszinssatz. Ferner wird die Tilgungsreihenfolge bei Teilleistungen in § 497 Abs. 3 BGB gegenüber § 367 Abs. 1 BGB umgedreht, d. h. zunächst sind die Kosten, dann die Hauptleistung und zuletzt die Zinsen zu tilgen. Ferner bestehen besondere Regelungen zum Kündigungsrecht der Parteien. Während das Kündigungsrecht des Darlehensgebers begrenzt wird (§ 499 Abs. 1 und 3  BGB), wird im Gegenzug das Kündigungsrecht des Darlehensnehmers erleichtert (§ 500 Abs. 1 S. 1 BGB). Schließlich darf der Darlehensnehmer die Verbindlichkeiten aus dem Darlehensvertrag jederzeit ganz oder teilweise vorzeitig erfüllen (§ 500 Abs. 2 BGB). Dadurch können sich zwar seine Gesamtkosten reduzieren (§  501  BGB), allerdings behält der Darlehensgeber einen Anspruch auf angemessene Vorfälligkeitsentschädigung (§ 502 BGB).

2.4.5.3 Sachdarlehen Die häufigste Form des Darlehens sind Gelddarlehen. Es können aber auch vertretbare Sachen (§  91  BGB), also bewegliche Sachen, die üblicherweise nach Zahl, Maß und Gewicht bestimmt werden und die in gleicher Art und Güte mehrfach vorhanden sind (z. B. Wertpapiere, neue Maschinen, Geräte und Gebrauchsgüter, Kraftfahrzeuge und ähnliche Gegenstände), darlehensweise gewährt werden (§ 607 BGB). Das Sachdarlehen unterscheidet sich von der Miete bzw. der Leihe insofern, dass nicht die überlassene Sache selbst zurückgegeben werden muss, sondern nur Sachen gleicher Art und Güte. 491 Sofern die Parteien keine Vereinbarung bezüglich der Rückerstattung der vertretbaren Sache getroffen haben, hängt der Zeitpunkt zur Rückübertragung von der Kündigung des Vertrages durch einen der beiden Parteien ab (§ 608 Abs. 1 BGB). 490

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

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Wurde der Vertrag auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, gewährt § 608 Abs. 2 BGB den Parteien ein jederzeitiges Kündigungsrecht. Spätestens mit der Rückerstattung ist auch ein möglicherweise vereinbartes Entgelt zu leisten (§ 609 BGB). Fragen

8. K kauft von V, der einen Handel mit Fotoartikeln betreibt, zum Preis von 750 EUR einen Fotoapparat und vereinbart, dass der Kaufpreis in drei Raten zu je 250  EUR gezahlt werden soll. Die Raten sollen drei, vier und sechs Monate nach Vertragsschluss fällig sein. Am nächsten Tag erklärt K dem V, dass er sich von dem mündlich vereinbarten Vertrag löse. Dieser erwidert, dass Verträge eingehalten werden müssen und K folglich auch weiter durch den Vertrag verpflichtet sei. Ist die Auffassung des V richtig? 9. Was versteht man unter Leasing? 10. Was ist das Factoring? 11. Die B-Bank gewährt dem A ein Darlehen in Höhe von 150.000 EUR. Dabei wurde ein Zinssatz von „zurzeit 2  %“ vereinbart. Der Zinssatz entsprach dem damals üblichen Marktzins. Im Kreditvertrag ist eine Zinsänderungsklausel enthalten. Nun ist der marktübliche Zins auf 3 % gestiegen. Daher übersandte die B dem A am 1. Juli einen Darlehenskontoauszug, auf dem aufgedruckt war, dass die Zinsen rückwirkend ab dem 1. April auf 4,5 % angehoben worden sind. Der A protestiert dagegen. Zu Recht?

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte Im geschäftlichen Verkehr besteht häufig ein Interesse des Gläubigers die bestehen- 492 den Zahlungs- und Rückzahlungsansprüche hinreichend abzusichern, insbesondere wenn er vorleistungspflichtig ist und sicherstellen will, dass er die Gegenleistung tatsächlich erhält. Um diese eigenen Ansprüche zu wahren, können Sicherungsrechte helfen, die entweder kraft Gesetz oder durch vertragliche Vereinbarung entstehen.

2.5.1 Eigentumsvorbehalt Beim Eigentumsvorbehalt handelt es sich um eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung 493 zwischen dem Verkäufer (Gläubiger) und dem Käufer (Schuldner), wonach das Eigentum an der veräußerten Sache trotz Übergabe an den Käufer bis zur vollständigen Kaufpreiszahlung beim Verkäufer verbleiben soll; der Eigentumsvorbehalt begleitet in der Regel einen Ratenkauf. Der Eigentumsvorbehalt als Sicherungsmittel folgt dabei aus der Trennung von 494 Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft nach dem sachenrechtlichen Trennungsoder Abstraktionsprinzip (Abb. 2.2 und Kap. 4). Die rechtliche Zuordnung von Vermögensgegenständen hängt nämlich nicht von dem Verpflichtungsgeschäft ab, son-

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2  Besonderes Schuldrecht

dern ausschließlich von dem Verfügungsgeschäft, der Übertragung des Eigentums nach § 929 ff. BGB. Der Eigentumsvorbehalt bewirkt nun, dass der Kaufvertrag als das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft zwar sofort wirksam wird, aber das sachrechtliche Verfügungsgeschäft, die Übertragung des Eigentums noch aufgeschoben wird. Damit erhält der Käufer mit Abschluss des Kaufvertrages zwar einen Übereignungsanspruch und den Besitz der Sache, aber eben noch nicht das (Voll-) Eigentum. Letzteres soll der Käufer erst mit Zahlung des vollständigen ­Kaufpreises erhalten; bei Ratenkäufen zumeist mit Zahlung der letzten Rate. Insofern eröffnet erst diese Trennung der Eigentumsübertragung vom zugrundeliegenden Verpflichtungsgeschäft (als Folge des Trennungs- oder Abstraktionsprinzips) die Möglichkeit, das Eigentum überhaupt als Sicherungsrecht einzusetzen. 495 Durch die Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts nach § 449 Abs. 1 BGB wird der dingliche Übereignungsvertrag nach § 929 S. 1 BGB (Verfügungsgeschäft) unter die aufschiebende Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) der vollständigen Kaufpreiszahlung gestellt. Der Verkäufer ist danach zur bedingten Übereignung verpflichtet (§§ 929 S. 1, 158 BGB). Er bleibt bis zum Bedingungseintritt (vollständige Kaufpreiszahlung) Eigentümer und mittelbarer Besitzer (§ 868 BGB) des Kaufgegenstandes. Der Käufer erwirbt lediglich eine rechtlich geschützte dingliche Anwartschaft auf den Kaufgegenstand, die erst mit dem Bedingungseintritt zum Vollrecht (Eigentümerstellung) erstarkt (Abb. 2.14). Der Eigentumsvorbehalt entfaltet für beide Parteien Vorteile: Der Käufer kann den Kaufgegenstand wegen der unmittelbaren Besitzübergabe sofort nutzen (z. B. die Maschine in seinem Betrieb aufstellen und in Gebrauch nehmen). Der Verkäufer bleibt hinsichtlich seines Anspruchs auf vollständige Kaufpreiszahlung durch das zunächst einmal weiterhin bestehende Eigentumsrecht an dem Kaufgegenstand hinreichend gesichert. Es ermöglicht ihm u. a. die Sache vom Besitzer nach § 985 BGB herausverlangen, einer Pfändung des Gegenstandes im Wege der Zwangsvollstre-

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Abb. 2.14  Kaufvertrag mit Eigentumsvorbehalt

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2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

185

ckung mit der Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO zu widersprechen oder die Sache bei Insolvenz des Käufers auszusondern (§ 47 InsO). Der Eigentumsvorbehalt kann formlos vereinbart werden, wenngleich sich die 496 Schriftform empfiehlt, weil der Verkäufer im Streitfall sein Eigentum beweisen muss (vgl. dazu § 1006 BGB, der eine Eigentumsvermutung für den Besitzer postuliert). Eigentumsvorbehaltsklauseln finden sich häufig in AGB. Sofern ein Eigentumsvorbehalt erst nachträglich, bei Übergabe der Kaufsache 497 vereinbart werden soll, spricht man vom nachträglichen Eigentumsvorbehalt, dessen Wirksamkeit dann davon abhängt, ob ihn der Käufer bei Übergabe akzeptiert. Befindet sich der Käufer mit der Zahlung der Kaufpreisforderung in Verzug, 498 kann der Verkäufer zurücktreten (§§ 323 Abs. 1 BGB, Abschn. 1.6.5.4.). Hierfür ist es erforderlich, dass der Verkäufer dem Käufer erfolglos eine angemessene Nachfrist zur Leistung setzt (es sei denn diese ist ausnahmsweise entbehrlich). Hat der Verkäufer diese Nachfrist gesetzt und ist sie abgelaufen, kann er sein Rücktrittsrecht durch Erklärung gegenüber dem Käufer ausüben. Mit Ausübung des Rücktrittsrechts entsteht ein Rückgewährverhältnis (§§ 346 ff. BGB) und der Verkäufer kann als Eigentümer vom Besitzer, dem Käufer, den Kaufgegenstand nach §§ 449 Abs. 2, 985 BGB herausverlangen und anderweitig verwerten (Abschn. 4.5.1). Der für die Herausgabe notwendige Rücktritt vom Vertrag kann selbst dann erfolgen, wenn der gesicherte Anspruch, d.  h. die Kaufpreisforderung verjährt ist (§ 216 Abs. 2 S. 2 BGB). Beispiel

Verkäufer V und Käufer K schließen einen Kaufvertrag über einen PKW. Die Vertragsparteien vereinbaren Ratenzahlung und zur Sicherung des V einen Eigentumsvorbehalt am Fahrzeug. K ist ein „schlechter Zahler“. Nach fünf Jahren ist noch immer ein Teil der Kaufpreissumme offen. Nunmehr verweigert K die Zahlung endgültig und macht Verjährung der Kaufpreisforderung geltend (§§ 195, 214 BGB). Diese Einrede hilft K nicht. Zwar ist Verjährung der Kaufpreisforderung eingetreten, aber V kann wegen § 216 Abs. 2 S. 2 BGB weiterhin das Fahrzeug nach §§ 449 Abs. 2, 985 BGB herausverlangen. ◄ Der Eigentumsvorbehalt kann entsprechend der Interessenlage der Vertragspar- 499 teien inhaltlich frei ausgestaltet werden. Die vier gebräuchlichsten Erscheinungsformen eines Eigentumsvorbehaltes sind: • • • •

einfacher Eigentumsvorbehalt, erweiterter Eigentumsvorbehalt, verlängerter Eigentumsvorbehalt und weitergeleiteter Eigentumsvorbehalt.

Beim einfachen Eigentumsvorbehalt behält sich der Verkäufer das Eigentum 500 an einer verkauften Sache bis zur Bezahlung des für die Sache geschuldeten Kaufpreises vor (Grundtypus: § 449 Abs. 1 BGB).

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2  Besonderes Schuldrecht

Von einem erweiterten Eigentumsvorbehalt ist auszugehen, wenn der Eigentumserwerb nicht nur von der Erfüllung der Kaufpreisforderung abhängig sein soll, sondern weitere Forderungen des Verkäufers gegen den Käufer in die Sicherungsabrede einbezogen werden. Die aufschiebende Bedingung für die Eigentumsübertragung wird also dahingehend erweitert, dass auch andere Forderungen erfüllt sein müssen, ehe der Käufer das Eigentum an dem Vorbehaltsgegenstand erwirbt (Abb. 2.15). Denkbar ist z. B. eine Vereinbarung, dass der Käufer zunächst sämtliche Forderungen aus der laufenden Geschäftsbeziehung zum Verkäufer zu beglichen hat (sog. Kontokorrentvorbehalt) oder wenn auch Forderungen gegen andere Lieferanten, die demselben Konzern angehören wie der Vorbehaltsverkäufer, in die Bedingung einbezogen werden sollen (sog. Konzernvorbehalt). Nach § 449 Abs. 3 ist allerdings der Konzernvorbehalt auf Verkäuferseite unwirksam, weil solche weitreichenden Vorbehalte das Sicherungsinteresse des Verkäufers zu Lasten der wirtschaftlichen Freiheit des Käufers und zu Lasten auch der sonstigen Gläubiger des Käufers überhöhen. 502 Der einfache oder erweiterte Eigentumsvorbehalt erfüllt nur dann den erstrebten Sicherungszweck, wenn der Vertragsgegenstand im Unternehmen des Käufers verbleibt. Betreibt der Käufer aber ein Umsatzgeschäft, dann ist der Verkäufer mit einem einfachen Eigentumsvorbehalt nicht mehr ausreichend gesichert, weil er infolge der Weiterveräußerung des Kaufgegenstandes an einen gutgläubigen Abnehmer des Käufers ggf. sein Eigentum nach §§ 929, 932 BGB, 366 HGB verliert. Kann der Vorbehaltskäufer die Mittel zur Bezahlung der Kaufsache aber erst durch einen Weiterverkauf erzielen, hat der Vorbehaltsverkäufer ein Interesse daran, dieses auch zu ermöglichen. Aus diesem Grund gestattet der Vorbehaltsverkäufer dem Vorbehaltskäufer, die unter Eigentumsvorbehalt gelieferte Ware im gewöhnli501

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Abb. 2.15  Kaufvertrag mit verlängertem Eigentumsvorbehalt

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2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

187

chen Geschäftsverkehr weiterzuverkaufen (Zweitkauf) und den Dritten das Eigentum zu übertragen, indem er vorab in eben diese Eigentumsübertragungen nach §  185  BGB einwilligt (sog. verlängerter Eigentumsvorbehalt). Im Gegenzug muss der Vorbehaltskäufer seine Forderung aus dem Weiterverkauf der Ware bereits bei Abschluss des Erstkaufs zur weiteren Sicherung der ursprünglichen Kaufpreisforderung an den Verkäufer nach §  398  BGB abtreten (sog. antizipierte Forderungsabtretung). Schließlich ermächtigt der Verkäufer den Käufer, die abgetretene Kaufpreisforderung im eigenen Namen einzuziehen. Diese Einziehungsermächtigung ist in §§ 362 Abs. 2, 185 Abs. 1 BGB vorgesehen und üblicherweise mit der Verpflichtung des Vorbehaltskäufers verbunden, die eingezogenen Beträge  – im Umfang der noch offenen Kaufpreisschuld  – an den Vorbehaltsverkäufer weiter zu leiten. In besonders gelagerten Fällen kann das Sicherungsbedürfnis des Verkäufers die 503 Vereinbarung eines sog. weitergeleiteten Eigentumsvorbehalts erfordern. Dabei verpflichtet der Verkäufer den Käufer dazu, den Kaufgegenstand auch nur unter Eigentumsvorbehalt weiter zu veräußern. Im Unterschied zum verlängerten Eigentumsvorbehalt erhält der Verkäufer also nicht nur einen Anspruch auf den Veräußerungserlös aus dem Zweitkauf, sondern er behält sich das Eigentum solange vor, bis der Kunde des Käufers den Kaufpreis bezahlt hat. Ein gutgläubiger Eigentumserwerb wird durch eine solche Vorbehaltsklausel ausgeschlossen, jedenfalls wenn der Dritte (Kunde des Käufers) hiervon Kenntnis besitzt. Darüber hinaus ist der Verkäufer nun selbst gegen eventuelle Zahlungsunfähigkeit der Kunden seines Käufers gesichert; die Verkäuferrechte auf Herausgabe (§ 985 BGB), Drittwiderspruchsklage (§ 771 ZPO) und Aussonderungsrecht (§ 47 InsO) setzen sich auch gegenüber den Zweiterwerbskäufern fort. Ein Vorbehaltskäufer hat grundsätzlich alle Rechte eines Besitzers (§§ 854 ff., 504 986  BGB). Er darf den unter Eigentumsvorbehalt gekauften Gegenstand nutzen, muss ihn allerdings auch pflegen und instand halten. Geht der Kaufgegenstand unter, muss er den Kaufpreis gleichwohl zahlen, selbst wenn er den Untergang nicht zu vertreten hat. Ist der Vorbehaltskäufer Kaufmann, so darf er im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsverkehrs über den Kaufgegenstand verfügen; dazu gehören z. B. Verkauf und Lieferung an einen Kunden, nicht aber Verpfändung oder Sicherungsübereignung an einen anderen Gläubiger. Über seine Eigentumsanwartschaft, die der Käufer im Rahmen des Eigentumsvorbehaltskaufs immer erlangt, darf der Käufer in jedem Fall uneingeschränkt verfügen. Der Kaufgegenstand gehört selbst dann noch zum Vermögen des Vorbehaltsver- 505 käufers, wenn der Käufer bereits den größten Teil des Kaufpreises entrichtet hat. Daher kann es durchaus vorkommen, dass Gläubiger des Verkäufers auf den Kaufgegenstand zugreifen, wenn sie in dessen Vermögen vollstrecken. Allerdings hat der Käufer in solchen Situationen das Recht zur Drittwiderspruchsklage (§ 771 ZPO), d. h. er kann aufgrund seines bestehenden Anwartschaftsrechts den Gläubigerzugriff durch ein Gericht für unzulässig erklären lassen. Bei der Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers steht der Vorbehaltskäufer auch nicht schlechter, denn es bleibt ihm überlassen, ob er den Kaufvertrag abwickelt, d.h. bezahlt und Erfüllung verlangt (§ 107 Abs. 1 InsO). 

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2  Besonderes Schuldrecht

2.5.2 Sicherungseigentum 506

Das Sicherungseigentum ist ein weiteres Mittel zur Besicherung von Forderungen, welches – anders als der Eigentumsvorbehalt – nicht ausdrücklich im BGB geregelt ist, sondern sich aus einem praktischen Bedürfnis heraus entwickelte und heute gewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Bei diesem Sicherungsinstrument übereignet der Schuldner (Sicherungsgeber) dem Gläubiger (Sicherungsnehmer) bis zur vollständigen Befriedigung der Forderung eine bewegliche Sache zur Sicherheit, wobei der Schuldner den betreffenden Gegenstand weiterhin in seinem unmittelbaren Besitz hält. Gerade bei dreiseitigen Finanzierungsgeschäften (z. B. finanzierten Kauf, Finanzierungs-Leasing) oder bei Darlehensgeschäften bietet sich eine solche Konstruktion an. Um die Teilzahlungs-, Leasing- und Tilgungsraten abzusichern wird das Eigentum an dem Kauf- oder Leasinggegenstand bzw. an einer beweglichen Sache bis zur vollständigen Kaufpreiszahlung oder Tilgung auf den Kredit-, Leasing- oder Darlehensgeber übertragen, während der Käufer den Gegenstand weiter zu seinen Zwecken wirtschaftlich nutzen darf. Beispiel

Der A kauft ein neues Auto, wofür er bei der B-Bank ein Darlehen in Höhe von 30.000 EUR in Anspruch nimmt. Da die B-Bank Sicherheiten von A verlangt, vereinbart er mit ihr die Sicherungsübereignung des Fahrzeugs, d. h. die B-Bank wird bis zur vollständigen Rückzahlung der Darlehensvaluta Eigentümerin (und mittelbare Besitzerin) des Fahrzeugs, während es der A als unmittelbarer Besitzer bereits frei nutzen kann. Der Fahrzeugbrief befindet sich daher im Original bei der B-Bank. Der Zirkusdirektor Z hat bei der bei der B-Bank einen Überbrückungskredit aufgenommen und gewährt zur Sicherheit das Eigentum an dem zirkuseigenen weißen Tiger. Da für die Bank ein Pfandrecht nicht in Betracht kommt (dies würde die Inbesitznahme voraussetzen) vereinbaren die Parteien die Sicherungsübereignung, d. h. sie vereinbaren, dass die B-Bank vorläufig Sicherungseigentümerin des Tigers wird und gleichzeitig, dass der Z den Tiger in seinen Vorstellungen weiter auftreten lassen kann. ◄ 507

Dem Sicherungseigentum als einem typischen Fall einer rechtsgeschäftlichen Treuhand liegen drei Rechtsverhältnisse zugrunde: • Der schuldrechtliche Vertrag, dem die Forderung entstammt, die es zu besichern gilt (z. B. die Teilzahlungsabrede oder die Darlehensrückzahlungsforderung). • Der Sicherungsvertrag bzw. die Sicherungsabrede, durch welche zuvörderst der Sicherungszweck festgelegt wird. Darüber hinaus verpflichtet sich mit ihr der Schuldner (Sicherungsgeber) zur Eigentumsübertragung nach §§ 929, 930 BGB und dazu, den überlassenen Besitz ordnungsgemäß und pfleglich zu behandeln und der Gläubiger (Sicherungsnehmer) dazu, dem Schuldner den unmittelbaren

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Besitz zu überlassen und die Rückübereignung zu veranlassen, wenn der Sicherungszweck erfüllt ist. • Die Übereignung nach §§ 929, 930 BGB durch Einigung und Vereinbarung eines Besitzmittlungsverhältnisses (Besitzkonstitut). Die Vereinbarung über die Sicherungsübereignung (= Eigentumsübertragung zu Sicherungszwecken) – die Sicherungsabrede – ist grundsätzlich formlos möglich. Da aber der Sicherungseigentümer im Streitfall (z. B. bei Insolvenz des Sicherungsgebers) nachweisen muss, dass eine Sicherungsabrede getroffen wurde, werden die Vereinbarungen in der Praxis stets schriftlich fixiert. Dient der Sicherungsvertrag der Besicherung eines Grundstückkaufvertrages, ist notarielle Beurkundung erforderlich, wenn nach dem Willen der Parteien die beiden Verträge eine Einheit bilden sollen. Das Sicherungseigentum entsteht durch Übereignung der Sache, d. h. durch Einigung und – anstatt der sonst üblichen Übergabe – der Vereinbarung eines Besitzkonstituts gemäß §§ 929 S. 1, 930 BGB (Kap. 4), d. h. eines besonderen Rechtsverhältnisses (z.  B.  Leihe, Verwahrung), welches den Sicherungseigentümer (Verkäufer oder Darlehensgeber) zum mittelbaren Besitzer macht und den Sicherungsgeber (Käufer oder Darlehensnehmer) zum unmittelbaren Besitz berechtigt. Eine Sicherungsübereignung ist dabei nur wirksam, wenn sie dem sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügt, d.  h. die Gegenstände, die vom Sicherungszweck umfasst sein sollen, müssen genau festgelegt und bezeichnet werden. Zumeist ist dies unproblematisch, insbesondere wenn einzelne bewegliche Sachen übertragen werden. Sofern allerdings Sachgesamtheiten wie z. B. Warenlager übereignet werden sollen, ist es zur Wahrung der Bestimmtheit erforderlich, dass die Räume bezeichnet (= Raumsicherung), die Waren gekennzeichnet (= Markierungssicherung) oder Inventarlisten erstellt (= Inventarsicherung) werden; eine bloß abstrakte Beschreibung der Sicherungsgegenstände genügt dem sachenrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nämlich nicht. Zum Teil erweisen sich Verarbeitungsklauseln bei der Sicherheitsübereignung als sinnvoll. Hat z. B. ein Unternehmer sein Rohstofflager zur Sicherheit übereignet, dann ist es ihm – als unmittelbarer Besitzer – regelmäßig möglich, diese Rohstoffe auch weiterhin in der Produktion zu verarbeiten. Allerdings würde der Sicherungseigentümer bei Herstellung einer neuen Sache sein Sicherungseigentum verlieren, da der Sicherungsgeber als Hersteller jetzt auch Eigentümer der neu hergestellten Sache würde (§ 950 BGB). Dieser Nachteil kann nur vermieden werden, indem die Vertragsparteien vereinbaren, dass der Sicherungsgeber die sicherungsübereigneten Rohstoffe „im Auftrag des Sicherungseigentümers“ zu einer neuen Sache verarbeitet; dann wird dieser anstatt des Sicherungsgebers automatisch auch Eigentümer des Endproduktes. Bei einer Sicherungsübereignung von verbrauchbaren Sachen eines wechselnden Bestands können ferner Austauschklauseln vereinbart werden. Die übereigneten Gegenstände werden ausgetauscht, wenn sie veraltet oder unbrauchbar geworden sind. Es kann ferner vorkommen, dass sich die Einigung zur Sicherungsübereignung als sittenwidrig (§  138  BGB) erweist, weil eine Übersicherung oder Knebelung vorliegt.

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Bei der Übersicherung ist zwischen anfänglicher und nachträglicher Übersicherung zu differenzieren. Bei der anfänglichen Übersicherung ist bereits bei Vertragsschluss gewiss, dass im Verwertungsfall ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem realisierbaren Wert der Sicherheit und der gesicherten Forderung besteht, sie macht die Sicherungsabrede und Übereignung von Anfang an unwirksam. Bei der nachträglichen Übersicherung sind von vornherein nur bestimmte Sachen oder eine gleichbleibende Sachgesamtheit zur Sicherheit übereignet worden und es tritt erst im Laufe der Zeit, aufgrund teilweiser Tilgung der zu sichernden Forderung, eine Übersicherung ein. In diesen Konstellationen kommt es nicht zur Unwirksamkeit der Einigung, sondern der Sicherungsgeber erhält einen Anspruch gegen den Sicherungseigentümer auf Freigabe nicht mehr benötigter Sicherheiten. Um diese Gefahr vorzeitig zu kanalisieren, kann sich der Sicherungseigentümer zur Freigabe des Sicherungsgutes verpflichten, sobald dessen Wert den der gesicherten Forderung (Kaufpreis- oder Rückzahlungsforderung) um mehr als 20 % übersteigt. Von einer Knebelung ist auszugehen, wenn die Sicherungsabrede den Sicherungsgeber in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt (z. B. weil zugleich Mitwirkungsrechte bei der Leitung der Unternehmung des Sicherungsnehmers vereinbart werden). Das Sicherungseigentum ist grundsätzlich vollwertiges Eigentum (Kap. 4), jedoch unterliegt der Sicherungseigentümer einer treuhänderischen schuldrechtlichen Bindung aus dem Sicherungsübereignungsvertrag (Sicherungsabrede). ­ Danach kann der Sicherungseigentümer das Sicherungsgut zwar wirksam veräußern und übertragen (§§ 930, 931 BGB). Wenn er dabei allerdings die Vereinbarungen mit dem Sicherungsgeber aus der Sicherungsabrede verletzt, haftet er dem Sicherungsgeber auf Schadensersatz (§ 280 Abs. 1 BGB). Sofern ein Sicherungsgeber einen unter Eigentumsvorbehalt bezogenen Gegenstand sicherungsübereignet, verfügt er bezogen auf das Eigentum am Sicherungsgut als Nichtberechtigter (Kap. 4). Der Eigentumsvorbehalt wird durch eine unberechtigte Sicherungsübereignung jedoch nicht zum Erlöschen gebracht; der Sicherungsnehmer erlangt lediglich ein Anwartschaftsrecht am Sicherungseigentum, über das er frei verfügen kann. Der Sicherungsgeber, der nach der Konstruktion des Sicherungseigentums im unmittelbaren Besitz des Sicherungsgutes bleibt, hat die Rechte und Pflichten eines Besitzers (§§ 854 ff. BGB); in Folge der Sicherungsabrede zumeist die vertragliche Pflicht, das Sicherungsgut pfleglich zu behandeln; Pflichtverletzungen begründen Schadensersatzansprüche des Sicherungseigentümers (§ 280 Abs. 1 BGB). Rechtsgrundlage für die Verwertung des Sicherungseigentums ist die Sicherungsabrede. Der Sicherungseigentümer darf das Sicherungsgut regelmäßig erst bei Fälligkeit der gesicherten Forderung verwerten. Dazu steht ihm zunächst der Herausgabeanspruch des Eigentümers gegen den Besitzer nach § 985 BGB zu. Die Verwertung selbst richtet sich sodann nach der Absprache in der Sicherungsabrede, hilfsweise nach den Vorschriften zur Pfandverwertung (§§ 1233 ff. BGB). Da das Sicherungsgut wirtschaftlich auch nach der Übereignung noch zum Vermögen des Sicherungsgebers gehört und die Eigentumsrechte des Sicherungseigentümers nach der Sicherungsabrede auf den Sicherungszweck begrenzt sind (Kap. 4),

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kann der Sicherungsgeber die Freigabe des Sicherungsgutes verlangen, wenn ein Gläubiger des Sicherungseigentümers es zu pfänden droht (§ 771 ZPO). Im Allgemeinen scheitert eine Pfändung aber meist schon daran, dass der Sicherungsgeber, im unmittelbaren Besitz des Gegenstandes und damit als Inhaber der tatsächlichen Gewalt, zur Herausgabe an den Gerichtsvollzieher nicht bereit sein wird. Bei einer Insolvenz des Sicherungseigentümers gehört das Sicherungsgut nicht zur Insolvenzmasse. Der Sicherungsgeber kann Aussonderung (§ 47 InsO) begehren, sobald er die gesicherte Forderung getilgt hat. Bis dahin hat der Insolvenzverwalter ein Zurückbehaltungsrecht (Abschn. 2.5.7). Die Verjährung der gesicherten Forderung ändert nichts daran, dass die Siche- 519 rungsübereignung auch weiter wirksam bleibt und sich der Sicherungseigentümer aus dem Sicherungsgut befriedigen kann, vgl. § 216 Abs. 2 BGB. Der Sicherungsgeber hat daher keinen Herausgabeanspruch wegen der Verjährung der gesicherten Forderung. Befriedigt der Sicherungsgeber den Gläubiger, so fällt das Eigentum am Siche- 520 rungsgut automatisch an den Sicherungsgeber zurück, sofern die Übereignung unter der auflösenden Bedingung des Erlöschens der Forderung stand. Ob dies auch dann anzunehmen ist, wenn eine solche ausdrückliche Vereinbarung fehlt, ist umstritten; jedenfalls bei einer Sicherungsübereignung an eine Bank hat der Sicherungsgeber nur einen Rückübereignungsanspruch, den er erst betreiben muss, wenngleich er auch erst bei Rückübereignung zur Zahlung verpflichtet ist. Dennoch führt diese Unsicherheit in der Praxis dazu, dass Rückübereignungsklauseln im Sicherungsübereignungsvertrag vereinbart werden.

2.5.3 Sicherungsabtretung Bei einer Sicherungsabtretung (oder Sicherungszession) setzt der Schuldner (Siche- 521 rungsgeber/Zedent) Forderungen, die ihm gegen einen Dritten (sog. Drittschuldner) zustehen, zur Besicherung einer eigenen Verbindlichkeit ein, indem er sie an seinen Gläubiger (Sicherungsnehmer/Zessionar) abtritt. Dabei geht es dem Zendenten nicht darum, wie bei der Abtretung (§ 398 BGB), die Forderung endgültig in das Vermögen des Zessionars zu überführen, sondern der Zessionar erhält lediglich das Recht, darauf zuzugreifen, wenn der Schuldner seine Verbindlichkeit (z. B. Rückzahlungsanspruch aus einem Darlehen) nicht oder nicht rechtzeitig erfüllen kann. Beispiel

Der Kaufmann K nutzt seine Außenstände zur Besicherung eines Darlehens der B-Bank, indem er die Forderungen gegen die Kunden der B-Bank zur Sicherheit abtritt. ◄ Als Sicherungsmittel wird die Sicherungsabtretung gerne eingesetzt, weil sie 522 „still“ vorgenommen werden kann, ohne dass der Drittschuldner (z. B. Geschäftspartner, Arbeitgeber) etwas davon erfährt. Denn nach § 398 S. 1 BGB genügt zur Übertragung einer Forderung, dass sich Altgläubiger (Zedent) und Neugläubiger

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(Zessionar) über den Gläubigerwechsel einig sind. Der „abgetretene“ Schuldner der Forderung (Drittschuldner) braucht davon nichts zu erfahren  – er wird durch die §§  404  ff.  BGB hinreichend geschützt. Erst wenn es die Verhältnisse erfordern (z.  B. die Forderung droht auszufallen), kann der Zessionar die Abtretung dem Drittschuldner gegenüber offenlegen, indem er ihm Abtretungsnachricht gibt; diese Offenlegung erfolgt im Unternehmensalltag allerdings eher zögerlich, da es als „Insolvenzsignal“ verstanden werden kann. 523 Die Sicherungsabtretung ist Abtretung im Sinne der §§  398  ff.  BGB (Abschn. 1.6.7.1): Der Sicherungsnehmer (Zessionar) wird im Zuge der Sicherungsabtretung Inhaber der übertragbaren Forderung und tritt an die Stelle des bisherigen Gläubigers (§ 398 S. 2 BGB). Er erlangt damit die gesetzliche Befugnis über die Forderung zu verfügen. Allerdings ist der Zessionar im Innenverhältnis an die zugrundeliegende Sicherungsabrede des Sicherungsvertrages gebunden, d. h. er darf die abgetretene Forderung eigentlich nur im Sicherungsfall verwerten und hat sie zurück zu übertragen, wenn der Sicherungszweck wegfällt. Verstöße gegen die Sicherungsabrede machen zwar die Verfügung nicht unwirksam (Ausnahmen: Abtretungsverbote gemäß §§ 399, 400 BGB), führen aber zu Pflichtverletzungen, die den Zessionar schadensersatzpflichtig werden lassen (§ 280 Abs. 1 BGB). 524 Grundsätzlich ist eine formlose Sicherungsabrede zwischen dem Zessionar und dem Zedenten ausreichend (§ 311 BGB). Allerdings müssen die als Sicherheit dienenden Forderungen hinreichend bestimmt bzw. bestimmbar sein, insbesondere wenn es sich nicht um bestehende, sondern künftige Forderungen handelt (z. B. Forderungen aus zukünftigen Verkäufen von unter Eigentumsvorbehalt stehender Waren oder um künftige Lohnforderungen). Dazu müssen sie einerseits so genau gekennzeichnet sein, dass über ihre Zuordnung keine Zweifel bestehen und andererseits den Entstehungsgrund sowie deren Umfang im Zeitpunkt der Abtretung erkennen lassen. Beispiel

A schließt mit der B-Bank folgende Vereinbarung: „Als Sicherheit für alle Forderungen der B, gleichgültig, aus welchem Rechtsgrunde diese entstanden sind, trete ich der B den abtretbaren Teil meiner Gehaltsansprüche gegen meinen jeweiligen Arbeitgeber bis zur Höhe des jeweiligen Schuldsaldos bei der B, zuzüglich vereinbarter Kreditgebühren, entstandener Mahn-, Verzugs- und Rechtsverfolgungskosten ab.“ Eine solche Abtretungserklärung wäre mangels Bestimmtheit unwirksam, weil weder der Arbeitgeber (= Drittschuldner) noch ein konkurrierender Gläubiger des A erkennen könnte, in welcher Höhe die Gehaltsforderung tatsächlich an die B abgetreten wurde. ◄ 525

Eine Sicherungszession kann durch Übersicherung nach § 138 BGB unwirksam werden, wenn bereits bei Abschluss des Sicherungsvertrags feststeht, dass im Verwertungsfall ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem realisierbaren Wert der abgetre-

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tenen Forderung und der gesicherten Verbindlichkeit bestehen wird. Diese Nichtigkeitsfolge kann abgewendet werden, wenn sich der Zessionar bei Abschluss des Sicherungsvertrages zur Freigabe der abgetretenen Forderungen verpflichtet, soweit deren realisierbarer Wert die zu sichernde Schuld um mehr als 20 % bzw. der Nennbetrag der abgetretenen Forderungen die gesicherte Verbindlichkeit um 50 % übersteigt. Bei einer Gesamtabtretung „aller gegenwärtigen und zukünftigen Forderungen“ 526 (sog. Globalzession), kann die Sicherungsabrede ebenfalls sittenwidrig bzw. unwirksam sein (§§ 138, 307 BGB), sofern sich der Sicherungsnehmer das gesamte Haftungspotential der Forderungen zu Lasten weiterer Drittgläubiger einräumen lässt, z. B. zu Lasten der Warenlieferanten, die unter verlängertem Eigentumsvorbehalt an den Zedenten geliefert haben. Solche Fallkonstellationen, in denen der verlängerte Eigentumsvorbehalt zu einer Sicherungs- oder Globalzession in Konkurrenz tritt, wurden seitens der Rechtsprechung bislang immer zugunsten des Eigentums, als dem stärkeren Recht entschieden; im Konflikt kann sich daher der Warenkreditgeber durchsetzen, der seine Forderung durch einen verlängerten Eigentumsvorbehalt gesichert hat. Beispiel

Der Verkäufer V liefert Waren an den Käufer K, wobei sie einen verlängerten Eigentumsvorbehalt vereinbaren. Als K einen Kredit benötigt, wendet er sich an seine B-Bank, die ihm 50.000 EUR gewährt. Zur Sicherung ihres Rückzahlungsanspruchs lässt sie sich alle gegenwärtigen und künftigen Forderungen des K gegen seine Abnehmer abtreten (= Sicherungszession). Nach der Rechtsprechung ist die Abtretung der Forderungen an die B-Bank wegen Verstoßes gegen § 138 BGB nichtig, soweit sie die Forderungen des K aus den Warenlieferungen des V mit umfasst. Die B-Bank übt mit der Globalzession einen sittlich verwerflichen Druck auf den K aus, seine Pflicht gegenüber seinen Vorbehaltslieferanten zu verletzen. Dies wird selbst dann angenommen, wenn sich K verpflichtet hätte, die Lieferantenverbindlichkeiten unverzüglich mit Mitteln aus dem erlangten Bankkredit zu tilgen oder wenn er seine Lieferanten auf die mögliche Globalzession hingewiesen hätte. Lediglich eine Globalabtretung, bei der im Rahmen der Vereinbarung auf die schutzwürdigen Belange der Vorbehaltslieferanten Rücksicht genommen wird, indem deren Ansprüche als vorrangig gelten (schuldrechtliche Teilverzichtsklausel), kann die Sittenwidrigkeit beseitigen. ◄ In der Praxis kommt es vor, dass eine Forderung auch mehrfach zu Kreditsiche- 527 rungszwecken abgetreten wird, weil der Zessionar eine ihm zustehende Forderung wiederum an seine Gläubiger zur Sicherheit abtritt (zum Teil auch in Unkenntnis von Abtretungsverboten in AGB). Bei einer Mehrfachabtretung gilt das sog. Prioritätsprinzip, d. h. dass der zeitlich erste Abtretungsempfänger (Zessionar) die Forderung erhält, während der (zeitlich) zweite oder weitere Abtretungsempfänger nichts mehr erlangen kann und jedenfalls „leer ausgeht“. Auch ein gutgläubiger Zweiterwerb ist nicht möglich, der Gutglaubenserwerb ist in den Abtretungsvorschriften nicht vorgesehen.

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2  Besonderes Schuldrecht

Sobald der Verwertungsfall eintritt, d. h. der Schuldner/Zedent die fällig gewordene Leistung nicht erbringt, hat der Gläubiger/Zessionar die Verwertungsmöglichkeiten, die im Sicherungsvertrag vereinbart wurden. Entweder die Einziehung der Forderung beim Drittschuldner oder den freihändigen Verkauf der Forderung. Erlösüberschüsse hat der Zessionar an den Zedenten abzuführen. 529 Wollen Gläubiger des Zedenten die Forderung gegen den Drittschuldner pfänden, kann sich der Zessionar mit der sog. Drittwiderspruchsklage dem Ansinnen entgegenstellen (§ 771 ZPO), d. h. er widerspricht der Pfändung der Forderung und verlangt deren Freigabe. Bei Insolvenz des Zedenten gehört die abgetretene Forderung zur Insolvenzmasse und der Zessionar erhält ein Recht auf abgesonderte Befriedigung (§ 51 Nr. 1 InsO). Umgekehrt kann auch der Zessionar widersprechen, wenn Gläubiger des Zessionars in das erworbene Recht pfänden und vollstrecken wollen; in der Insolvenz des Zessionars wird der Zedent durch ein Aussonderungsrecht (§ 47 InsO) geschützt. 528

2.5.4 Pfandrechte Das Pfandrecht ist ein beschränkt dingliches Recht des Pfandgläubigers an einer Sache oder einem Recht, welches zur Besicherung einer Forderung dient. Es kann rechtsgeschäftlich an beweglichen Sachen (§§  1204–1259  BGB), Rechten (§§ 1273–1278 BGB) oder Forderungen (§§ 1279–1290 BGB) bestellt werden oder kraft Gesetzes entstehen. 531 Die Belastung einer beweglichen Sache oder Forderung zur Besicherung eines Kredits nahm früher eine bedeutende Rolle ein. Heute wird das Pfandrecht jedoch nur noch vereinzelt eingesetzt. Zum einen, weil die Bestellung des Pfandrechts an beweglichen Sachen die Übergabe des unmittelbaren Besitz an den Pfandnehmer erfordert (§  1205 Abs.  1  BGB, „Faustpfand“) und damit die Pfandsache vom Schuldner nicht mehr genutzt werden kann. Zum anderen, weil die Pfändung einer Forderung dem Drittschuldner angezeigt werden muss (z. B. Geschäftspartner, Arbeitgeber) und deshalb nicht im Verborgenen bleibt (§ 1280 BGB). Daher nutzt die Praxis an dessen Stelle die Instrumente der Sicherungsübereignung (Abschn. 2.5.2) und der Sicherungsabtretung (Abschn. 2.5.3); die Sicherungsübereignung gestattet dem Schuldner, das Sicherungsgut zu behalten und es weiter zu nutzen und die Sicherungsabtretung kann im Gegensatz zum Pfandrecht auch „still“ erfolgen. 532 Die vertragliche Begründung eines Pfandrechts (= Bestellung) setzt, gleich welches Sicherungsgut bzw. -recht eingesetzt werden soll (bewegliche Sache, Recht oder Forderung) eine Einigung über die Verpfändung voraus (§§ 1205 Abs. 1, 1273 Abs.  2  BGB). Dabei ist stets der Bestimmtheitsgrundsatz zu wahren. Das Sicherungsgut bzw. -recht muss so genau bestimmt werden, dass es sich aufgrund der Beschreibung im Sicherungsvertrag eindeutig von anderen Gegenständen bzw. Rechten unterscheiden lässt. Darüber hinaus ist zu differenzieren: 533 Das Pfandrecht an beweglichen Sachen entsteht, indem sich der Gläubiger und der Verpfänder darüber einig sind, dass die Sache (z.  B.  Edelmetalle, Schmuck, wertvolle Sammlungen) zur Besicherung einer bestimmten Forderung verpfändet 530

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

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werden soll und der Verpfänder dem Gläubiger das Pfand übergibt (§  1205 Abs. 1 BGB) oder es mit dem Gläubiger unter Mitverschluss nimmt (§ 1206 BGB). Dagegen wird eine Pfandrechtsbestellung durch Besitzsurrogate  – vor allem die Vereinbarung eines Besitzmittlungsverhältnisses (z. B. Leihe) – nicht zugelassen. Der Zweck des Pfandrechts lässt sich daher nur erfüllen, wenn der Schuldner den unmittelbaren Besitz entbehren und der Gläubiger den unmittelbaren Besitz verwahren kann, was nicht immer funktionieren wird (z.  B. die Verwahrung eines Tigers). Beispiel

Der K mietet bei der B-Bank, mit der eine laufende Geschäftsbeziehung unterhält, einen Banksafe an. Darin verschließt er Goldbarren, Juwelen und seine wertvolle Münzsammlung. In den AGB der B-Bank findet sich die Regelung, dass die beweglichen Sachen im Safe an die B-Bank verpfändet sind (§  1205  BGB). Damit sichern die Sachen im Safe z.  B. die Rückzahlung von Krediten, die der K bei der B-Bank aufnimmt. Kann der K einen solchen Kredit nicht mehr bedienen oder wird er insolvent, so kann sich die B-Bank aus Gold, Schmuck und Münzsammlung befriedigen. ◄ An Sachen, die dem Schuldner nicht gehören und über die er nicht verfügen darf, kann der Gläubiger gleichwohl durch Verpfändung ein Pfandrecht erwerben, sofern er gutgläubig ist (§§ 1207 i. V. m. 932, 934, 935 BGB). Beispiel

Wie vor, allerdings legt der K eine Münzsammlung in den Safe, die nicht ihm, sondern seinem Freund F gehört. Gibt der K dies bei Abschluss des Verwahrvertrages nicht zu erkennen, könnte die B-Bank gutgläubig ein Pfandrecht an der Münzsammlung erwerben. ◄ Wird nach § 1273 Abs. 1 BGB zur Besicherung einer Forderung ein Pfandrecht 534 an einem Recht bestellt, so finden darauf die Vorschriften über das Pfandrecht an beweglichen Sachen Anwendung, sofern sich nicht aus den speziellen Vorschriften der §§ 1274–1296 BGB etwas anderes ergibt (§ 1273 Abs. 2 S. 1 BGB). Als Pfandobjekte kommen grundsätzlich alle Rechte in Betracht, die übertragbar sind, wie z. B. Gesellschaftsanteile, Patentrechte, Gebrauchs- und Geschmacksmuster. Für die Anwendung des Pfandrechts an Forderungen sind als spezielle Vor- 535 schriften die §§ 1280–1290 BGB zu beachten (§ 1279 S. 1 BGB). Das Pfandrecht entsteht ebenfalls zweiaktig, durch Einigung der Vertragsparteien und einer Pfandanzeige an den Drittschuldner (=  Schuldner der verpfändeten Forderung). Im Bankverkehr hat die Verpfändung von Forderungen und Wertpapieren erhebliche wirtschaftliche Bedeutung erlangt; zumeist finden sich entsprechende Klauseln in den AGB der Institute. Als streng akzessorisches Sicherungsrecht erfordert es das Pfandrecht außer- 536 dem, dass die Forderung, zu deren Sicherung das Pfandrecht bestellt wird, tatsäch-

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2  Besonderes Schuldrecht

lich besteht; an einer nicht existenten Forderung kann auch kein Pfandrecht entstehen. Erlischt eine zugrundeliegende Forderung erst zu einem späteren Zeitpunkt (z.  B. durch Anfechtung, Erfüllung), erlischt auch das Pfandrecht (§  1252  BGB). Wird die besicherte Forderung auf einen Dritten übertragen, geht auch das Pfandrecht (quasi „im Rucksack der Forderung“) auf den Dritten mit über (§ 401 Abs. 1 BGB). Beispiel

Der Geschäftsmann G gewährt dem K ein Darlehen. Zur Sicherung der Darlehensrückzahlung räumt der K dem G ein Pfandrecht an seiner Münzsammlung ein, die er außerdem dem G übergibt (§ 1205 Abs. 1 BGB). Einige Zeit später tritt der G die Darlehensrückforderung gegen den K an seine Hausbank, die B-Bank, ab (§ 398 BGB). Nach §§  1250, 401  BGB geht mit Abtretung der Forderung auch das Pfandrecht an der Münzsammlung an die B-Bank über. Sollte der G die Münzsammlung nicht an die B-Bank herausgeben, kann sie diese herausverlangen (§ 1251 Abs. 1 BGB). Sofern K das Darlehen ordnungsgemäß zurückzahlt, erlischt die Forderung und zugleich auch das Pfandrecht (§§ 1252, 488 Abs. 1 BGB); K kann von der B-Bank die Herausgabe der Münzsammlung verlangen (§§  1223 Abs.  1, 985 BGB). Sollte der K seinen Verpflichtungen nicht nachkommen und die Rückzahlung des Darlehens verweigern, kann die B-Bank die Münzsammlung verwerten (§§ 1233 ff. BGB). ◄ Mit Pfandreife ist der Gläubiger zur Verwertung der Pfandsache berechtigt (§  1228 Abs.  2  BGB). Dabei kann die Verwertung durch Privatverkauf (§§  1228 Abs. 1, 1233 Abs. 1, 1233 ff. BGB) im Wege der öffentlichen Versteigerung (§ 1235 Abs. 1 BGB) oder im freihändigen Verkauf (§ 1235 Abs. 2 BGB) erfolgen; die dort genannten Vorgaben (z. B. Ankündigung des Versteigerungstermin, § 1237 BGB) sind zu berücksichtigen, andernfalls liegt eine rechtswidrige Veräußerung vor (§1243 BGB), die Schadensersatz- und Herausgabeansprüche auslöst. Aus dem Erlös des rechtmäßigen Verkaufs kann sich der Gläubiger in Höhe seiner durch das Pfandrecht gesicherten Forderung befriedigen; seine Forderung ist damit erfüllt (§ 362 BGB). Sofern ein Überschuss erzielt wurde, ist er – nach Abzug von Verwertungskosten – an den Verpfänder zu leisten (§ 1247 BGB). 538 Pfandrechte an beweglichen Sachen können auch kraft Gesetzes entstehen. Auf diese gesetzlichen Pfandrechte finden weitgehend die Vorschriften über das rechtsgeschäftlich bestellte Pfandrecht Anwendung (§ 1257 BGB). Bedeutende gesetzliche Pfandrechte sind: 537

• • • •

Werkunternehmerpfandrecht (§ 647 BGB, Abschn. 2.2.5), Vermieterpfandrecht (§ 562 BGB, Abschn. 2.3.3), Verpächterpfandrecht (§§ 581 Abs. 2, 562 BGB), Pfandrecht des Gastwirtes (§ 704 BGB),

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

• • • •

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Pfandrecht des Kommissionärs (§ 397 HGB), Pfandrecht des Frachtführers (§ 440 HGB), Pfandrecht des Spediteurs (§ 464 HGB), Pfandrecht des Lagerhalters (§ 475b HGB).

2.5.5 Bürgschaft Ein in der Praxis recht häufig verwandtes Sicherungsmittel ist die Bürgschaft 539 (§§  765  ff.  BGB). Sie ist die gesetzliche Grundform der Personalsicherheiten (Abb. 2.16). Der Bürge haftet persönlich und mit seinem gesamten Vermögen für die Hauptschuld. Dies unterscheidet das Sicherungsrecht von den Realsicherheiten, die dem Gläubiger nur den Zugriff auf bestimmte Sachen und Rechte ermöglichen (z. B. Sicherungseigentum, Pfandrechte). Der Bürge tritt mit einer Hilfsschuld neben den Schuldner. Er verspricht dem 540 Gläubiger, ihn zu befriedigen, falls der Schuldner nicht pünktlich und vollständig zahlt. Das wesentliche Merkmal der Bürgschaft liegt daher darin, dass der Bürge eine fremde Schuld sichern will. Der Bürge übernimmt weder eine Verbindlichkeit anstelle des Schuldners (= Schuldübernahme, Kap. 1), noch will er für einen ent-

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Abb. 2.16 Bürgschaft

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2  Besonderes Schuldrecht

stehenden Schaden eintreten (= Garantievertrag), sondern er übernimmt gegenüber dem Gläubiger die Sicherung einer bereits bestehenden Hauptschuld, was auch den Sicherungszweck der Bürgschaft unterstreicht. Das Gesetz regelt daher auch die Ausfallbürgschaft als typische Grundform des Bürgschaftsvertrages. 541 Eine Bürgschaft wird übernommen, indem Bürge und Gläubiger einen Bürgschaftsvertrag schließen. Die Mitwirkung des Schuldners ist nicht erforderlich. Durch den Vertrag wird der Bürge verpflichtet, für die Erfüllung der Verbindlichkeit eines Dritten (Schuldner) einzustehen (einseitig verpflichtender Vertrag; §  765 Abs.  1  BGB). Die Bürgschaft kann für jede schuldrechtliche Verpflichtung übernommen werden, nicht nur für bereits bestehende Verbindlichkeiten, sondern auch für künftige oder bedingte. 542 Die Bürgschaftserklärung bedarf gemäß § 766 S. 1 BGB der Schriftform. Sie muss neben der Erklärung des Willens, für eine fremde Schuld einstehen zu wollen, auch die Bezeichnung des Gläubigers, der verbürgten Hauptschuld und damit des Hauptschuldners enthalten – oder diese Angaben müssen zumindest durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ermittelbar sein. Das Schriftformerfordernis dient dabei der Warnung des Bürgen vor der Gefährlichkeit der Bürgschaft; dem Bürgen soll seine Verpflichtung bei Abgabe der Erklärung nochmals vor Augen geführt werden. Deshalb ist auch eine „Blankett-Bürgschaft“, d.  h. ein vorgefertigtes und bereits unterzeichnetes Dokument, welches bei Bedarf um alle weiteren Angaben ergänzt werden kann, formnichtig. Gleiches gilt für eine Bürgschaftserklärung per Telefax oder E-Mail (§ 766 S. 2 BGB). Weist die Bürgschaftserklärung einen Formmangel auf (§ 126 BGB), ist sie unwirksam (§ 125 BGB). Der Formmangel wird jedoch geheilt, sobald der Bürge die Hauptschuld bezahlt hat (§ 766 S. 3 BGB): Er soll das Geld nicht mit der Begründung zurückverlangen können, die Bürgschaftserklärung sei formnichtig. Beispiel

Die Erklärung „Ich, Georg Burg, übernehme hiermit für Herrn Gustav Glaub eine Ausfallbürgschaft über 100.000 EUR.“ ist unvollständig und unwirksam, da sie die Bezeichnung des Gläubigers nicht enthält. ◄ Von Kaufleuten nimmt man dagegen an, dass sie die Gefahren eines Bürgschaftsversprechens richtig einschätzen können. Daher gilt das Schriftformerfordernis nicht, sofern sie die Bürgschaft im Rahmen ihrer handelsgeschäftlichen Tätigkeit abgeben (§§ 350, 343 Abs. 1 HGB). 543 Den Gläubiger treffen gegenüber dem Bürgen grundsätzlich keine Aufklärungspflichten; er kann vielmehr davon ausgehen, dass ein voll Geschäftsfähiger, der eine Bürgschaftsverpflichtung übernimmt, sich über die Tragweite seines Handelns im Klaren ist und sein Risiko auch abschätzen kann, selbst wenn er keine kaufmännische Erfahrung hat. Ebenso wenig ist der Gläubiger verpflichtet, sich vor Abschluss des Bürgschaftsvertrages zu vergewissern, ob das übernommene Risiko für den Bürgen nach dessen Einkommens- und Vermögensverhältnissen tragbar ist. Auch die Tatsache, dass der Bürge sich in einer Zwangslage und/oder unter Zeit-

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

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druck befindet oder der Bürge nur aus familiärer Hilfsbereitschaft handelt, macht den Bürgschaftsvertrag alleine noch nicht sittenwidrig. Beispiel

Ehefrau, Mutter und Schwiegermutter des Hauptschuldners, der Geld unterschlagen hat, verbürgen sich für die Ersatzforderung in der Erwartung, ihn damit vor Strafverfolgung zu bewahren. ◄ Bei einer Bank als Gläubigerin stellt die Rechtsprechung hingegen strengere Anforderungen. Im Anschluss an die Leitentscheidung des BVerfG (BVerfGE 89, 214) hat der BGH eine umfassende und differenzierte Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Bürgschaften naher Angehöriger wegen Sittenwidrigkeit gemäß §  138  BGB entwickelt. Wenn der Umfang der Bürgschaftsverpflichtung in einem krassen Missverhältnis zur finanziellen Leistungsfähigkeit des Bürgen steht und der Bürge obendrein in einem persönlichen Näheverhältnis zum Hauptschuldner steht (insbesondere Kinder, Ehegatten), wird die Sittenwidrigkeit der Bürgschaft vermutet. Dabei wird ein krasses Missverhältnis zwischen Bürgschaft und Hauptschuld angenommen, wenn zum Zeitpunkt der Bürgschaftsverpflichtung feststeht, dass der Bürge nicht einmal die Zinsen der Hauptschuld tilgen kann oder erkennbar ist, dass der Bürge im Falle einer Inanspruchnahme nicht in der Lage sein wird, innerhalb von fünf Jahren zumindest ein Viertel der Bürgschaftssumme aus seinem pfändbaren Einkommen aufzubringen; eine Nachforschungspflicht besteht allerdings nicht. Die Bank als Gläubigerin kann die Vermutung dadurch widerlegen, dass sie ein eigenes Interesse des Bürgen an der Kreditaufnahme des Hauptschuldners nachweist. Und selbst wenn die vorgenannten Voraussetzungen nicht vorliegen, kann die Bürgerschaft unter Umständen sittenwidrig sein, wenn die Bank das die Tragweite und das Bürgschaftsrisiko verharmlost oder die erkennbare Unerfahrenheit des Bürgen ausnutzt. Beispiel

Frau Sorglos (S) erklärt sich bereit, gegenüber der B-Bank (B) eine Bürgschaft in Höhe von 500.000 EUR für einen Geschäftskredit ihrer Tochter (T) zu übernehmen, der bereits durch eine Grundschuld in Höhe von 300.000 EUR abgesichert ist. S ist zur Zeit der Bürgschaftsübernahme nicht erwerbstätig und daran wird sich, da sie ein schweres allergisches Hautleiden hat, voraussichtlich auch nichts ändern. Ihr Vermögen beträgt, wie der Bankangestellte B weiß, lediglich 10.000 EUR. Es besteht ein krasses, der Bank bekanntes Missverhältnis zwischen der Bürgschaftshöhe und der finanziellen Leistungsfähigkeit der S. Zwar reicht zumeist der Umstand, dass ein Bürge die Verbindlichkeit nicht bedienen kann noch nicht alleine aus, um das Unwerturteil der Sittenwidrigkeit zu begründen. Allerdings ist die krasse finanzielle Überforderung jedenfalls widerleglich zu vermuten, wenn – wie hier – die Mithaftung allein aus emotionaler Verbundenheit zur T übernommen wurde und die B dies ausnutzt (BGH, NJW 2013, 1534 ff.).

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2  Besonderes Schuldrecht

Auch der Einwand der B, dass sie sich nur vor einer Vermögensverlagerung habe schützen wollen und daher ein berechtigtes Interesse an der hohen Bürgschaft gehabt habe, führt hier nicht weiter, da die Bürgschaft wesentlich höher ist, als die tatsächlich bestehende Sicherungslücke. ◄ 544

Die Bürgschaft ist streng akzessorisch, d. h. vom jeweiligen Bestand der Hauptforderung abhängig (§§ 765, 767 BGB). Besteht die Hauptforderung nicht, so entsteht auch keine Verpflichtung des Bürgen. Ist die Hauptschuld durch Erfüllung (Abschn.  1.6.6.1) oder Erlass (Abschn.  1.6.6.3) erloschen, so erlischt auch die Bürgschaftsverpflichtung. Wird sie allerdings im gerichtlichen Vergleichsverfahren zur Abwendung einer Insolvenz oder beim Zwangsvergleich teilweise erlassen wird, haftet der Bürge in voller Höhe weiter. Vermindert sich dagegen die Hauptschuld, weil der Hauptschuldner seine Schuld zum Teil begleicht (z. B. das D ­ arlehen tilgt), so vermindert sich auch die Bürgschaftsschuld für den Bürgen. Der Umfang der Haftung des Bürgen kann sich umgekehrt aber auch erweitern, z. B. durch Verzugszinsen oder nach § 767 Abs. 2 BGB durch die Kosten der Rechtsverfolgung. Allerdings nicht durch ein Rechtsgeschäft, das der Hauptschuldner mit dem Gläubiger nach der Übernahme der Bürgschaft vornimmt (z.  B. eine Erweiterung der durch die Bürgschaft gesicherte Kreditlinie). Kommt es zu Unklarheiten über den Umfang der besicherten Hauptschuld, so gehen diese stets zulasten des Gläubigers. Beispiel

Gläubiger und Schuldner schließen einen Vergleich, in welchem die Fälligkeit der Hauptschuld vorverlegt wird. Für den Bürgen bleibt auch weiter der ursprüngliche Fälligkeitstermin maßgebend. ◄ Der Bürge kann gegen seine Inanspruchnahme die (eigenen) Einwendungen und Einreden aus dem Bürgschaftsvertrag geltend machen (z. B. Sittenwidrigkeit der Bürgschaft). Darüber hinaus stehen ihm gemäß § 768 Abs. 1 S. 1 BGB auch alle Einwendungen und Einreden des Hauptschuldners (z. B. Verjährungseinrede; Stundungseinrede; Einrede des nichterfüllten Vertrags) zu. Verzichtet der Schuldner auf eine Einrede, kann der Bürge sie dennoch nach § 768 Abs. 2 BGB ausüben. Das folgt aus der Akzessorietät der Bürgschaft. Ferner kann er sich darauf berufen, dass eine Klage gegen den Hauptschuldner bereits rechtskräftig abgewiesen wurde. 546 Nach § 770 BGB kann der Bürge die Befriedigung des Gläubigers auch dann verweigern, wenn der Hauptschuldner das Recht zur Anfechtung oder Aufrechnung hat. Zwar darf der Bürge nicht selbst aufrechnen, aber wenn der Hautschuldner gegen den Gläubiger eine aufrechenbare Gegenforderung hat, darf er seine Zahlung solange verweigern, wie der Gläubiger die Möglichkeit besitzt, dem Hauptschuldner gegenüber aufzurechnen (§ 770 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BGB). Ähnliches gilt, wenn der Hauptschuldner das Recht hat, das Hauptgeschäft, aus dem er verpflichtet ist, anzufechten (§ 770 Abs. 1 BGB). Falls der Gläubiger die gesicherte Forderung abtritt, gehen alle Rechte aus der Bürgschaft – auch die damit verbundenen Einwendungen und Einreden – automatisch auf den neuen Gläubiger über. 545

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

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Beispiel

Der S schuldet dem G aus Kaufvertrag 5000 EUR, wofür sich der B, ein Freund des S, verbürgt. Besäße der G gegen den S Zahlungsansprüche aus einer Werklieferung in Höhe von 5000 EUR, so könnte der G eigentlich die Aufrechnung erklären. Bis dahin darf der B seine Inanspruchnahme abwenden (§  770 Abs. 2 BGB). Sollte der G aus Wut darüber, dass der S nicht rechtzeitig zahlt, dessen E-Bike vorsätzlich beschädigt haben, kann der S mit seiner nunmehr entstandenen Schadensersatzforderung aus § 823 BGB nicht aufrechnen (§ 393 BGB: keine Aufrechnung gegen Forderungen aus unerlaubter Handlung). Daher kann auch der B keine Einrede gegen seine Inanspruchnahme aus §  770 Abs.  2  BGB vorbringen. ◄ Die Bürgschaft ist schließlich subsidiär, weshalb dem Bürgen nach §  771 547 S. 1 BGB die Einrede der Vorausklage zusteht, d. h. er kann seiner Inanspruchnahme solange verweigern, bis der Gläubiger seinen Anspruch zunächst erfolglos gegenüber dem Hauptschuldner betrieben hat. Erst wenn der Gläubiger einen erfolglosen Vollstreckungsversuch unternommen hat, muss der Bürge einspringen. Falls der Gläubiger ein Pfand besitzt oder wenn ihm eine Sache zur Sicherheit übereignet worden war, muss der Gläubiger zuvor versucht haben, sich daraus zu befriedigen (§ 772 Abs. 2 S. 1 BGB). Da die Einrede der Vorausklage die Inanspruchnahme des Bürgen verzögern 548 kann, wird in der Praxis regelmäßig vereinbart, dass der Bürge auf die Einrede verzichtet. Er verbürgt sich dann selbstschuldnerisch, weshalb sich der Gläubiger bei Fälligkeit der Hauptforderung sogleich an den Bürgen halten kann (§ 773 Abs. 1 Nr.  1  BGB). Dasselbe gilt auch ohne eine besondere Vereinbarung, wenn bereits abzusehen ist, dass Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner erfolglos sein werden oder wenn er insolvent geworden ist (§ 773 Abs. 1 Nr. 2–4 BGB). Die Bürgschaft eines Kaufmanns ist jedenfalls dann eine selbstschuldnerische, wenn die Bürgschaft für ihn ein Handelsgeschäft ist (§§ 349, 343 HGB); für Letzteres spricht in Zweifelsfällen eine Vermutung (§ 344 Abs. 1 HGB). Ist der Sicherungsfall eingetreten und hat der Bürge für den Hauptschuldner ge- 549 leistet, stellt sich die Frage nach seinen Regressansprüchen. Zwischen dem Bürgen und dem Hauptschuldner besteht im Regelfall ein Auftrag (§ 662 BGB), bei Entgeltlichkeit (z. B. Bankbürgschaft) ein Geschäftsbesorgungsvertrag (§ 675 BGB). Wird der Bürge in Anspruch genommen, kann er zum einen nach § 670 BGB Aufwendungsersatz verlangen. Darüber hinaus geht kraft Gesetzes die Forderung des Gläubigers gegen den Hauptschuldner auf den Bürgen über, sowie sämtliche damit verbundenen akzessorischen Sicherungsrechte (§§  774 Abs.  1 S.  1, 412, 401 Abs. 1 BGB; gesetzlicher Forderungsübergang). Dieser Forderungsübergang darf allerdings nicht zum Nachteil des Gläubigers geltend gemacht werden (§  774 Abs. 1, S. 2 BGB). Nicht akzessorische Sicherungsmittel, wie beispielsweise Eigentumsvorbehalte werden in entsprechender Anwendung der §§ 774 Abs. 1, 412, 401 BGB schuldrechtlich auf den Bürgen übertragen, sofern Hauptschuldner und Bürge nichts anderes vereinbart haben.

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2  Besonderes Schuldrecht

Beispiel

Die B-Bank hat gegen den K einen Rückzahlungsanspruch aus einem Darlehensvertrag. Dafür hat K der B-Bank eine Hypothek an seinem Haus bestellt (§§ 873 Abs. 1, 1113 BGB). Für die Darlehensschuld hat sich außerdem der Freund F verbürgt (§  765  BGB). Nachdem K den fälligen Rückzahlungsanspruch nicht bezahlen kann, wendet sich die B-Bank an den F. Dieser bezahlt die komplette Darlehensschuld. Damit geht der Rückzahlungsanspruch der G-Bank gegen K auf den F über, sowie zugleich auch die Hypothek an dem Grundstück des K (§§ 774 Abs. 1, 412, 401 BGB). Das bedeutet weiter, dass sich F aus der Hypothek durch Zwangsvollstreckung in das Grundstück befriedigen kann, wenn K den von F geltend gemachten Rückzahlungsanspruch nicht erfüllt. Erfüllt ­dagegen der Hauptschuldner seine Verbindlichkeit gegenüber dem Gläubiger, erlischt neben der Verbindlichkeit auch die Bürgschaftsschuld. Der Bürge wird dann von den Verpflichtungen befreit, für die er sich verbürgt hat. ◄ Der Bürge muss eine drohende Inanspruchnahme durch den Gläubiger nicht wehrlos hinnehmen. Hat er sich nämlich im Auftrag des Hauptschuldners verbürgt, so kann er von diesem nach §  775 Abs.  1  BGB Befreiung von der Bürgschaft verlangen, falls sich dessen Vermögensverhältnisse wesentlich verschlechtert haben, er ins Ausland übergesiedelt ist, mit der Erfüllung seiner Verbindlichkeit in Verzug ist oder sofern der Gläubiger gegen den Bürgen bereits ein vollstreckbares Urteil erwirkt hat. Befreien kann der Hauptschuldner den Bürgen, indem er die Hauptschuld tilgt oder indem er den Gläubiger veranlasst, den Bürgen freizugeben. Ein unerwarteter wirtschaftlicher Zusammenbruch des Hauptschuldners oder dessen unerwartete Zahlungsunfähigkeit lassen die Geschäftsgrundlage der Bürgschaft dagegen nicht entfallen; im Gegenteil, der Bürge hat gerade hierfür einzustehen. 551 Im Übrigen wird der Bürge kraft Gesetzes von der Bürgschaft frei, wenn der Gläubiger nach § 776 S. 1 BGB ein dort genanntes Sicherungsmittel aufgibt, aus dem sich der Bürge nach § 774 BGB hätte befriedigen können – jedenfalls in der Höhe, in der das Sicherungsmittel bestand. Diese Privilegierung des Bürgen wird durch § 776 S. 2 BGB auch auf die Sicherungsrechte erweitert, die erst nach der Übernahme der Bürgschaft entstanden sind. 552 Die Bürgschaft erlischt, wenn der Hauptschuldner seine Verbindlichkeiten erfüllt oder der Bürge seine Bürgschaftsverbindlichkeiten; ferner, wenn Bürge und Gläubiger die Bürgschaft einvernehmlich aufheben sowie bei einer befreienden Schuldübernahme durch Dritte. Darüber hinaus kann eine Bürgschaft auch ordentlich gekündigt werden, sofern ein solches Kündigungsrecht mit dem Gläubiger vereinbart war (z. B. formularmäßiges Kündigungsrecht in AGB). Die Kündigung kann dann unter Einhaltung einer angemessenen Kündigungsfrist in die Zukunft wirken und nur auf künftige Forderungen gerichtet sein. 550

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

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Beispiel

Der Bürge hat sich der Bank des Schuldners gegenüber für einen Kontokorrentkredit von 30.000 EUR auf unbestimmte Zeit verbürgt. Die Hauptverbindlichkeit schwankt ständig, je nachdem, inwieweit der Kredit ausgenutzt wird. Wenn der Bürge unter Einhaltung einer angemessenen Frist kündigt, muss er für die Hauptverbindlichkeit weiterhin in der Höhe einstehen, die der Kredit im Augenblick der Beendigung der Bürgschaft hatte. Angenommen, dieser Betrag war 20.000 EUR und der Kredit erhöht sich nun in der Folgezeit auf den Betrag von 25.000  EUR, wächst die Bürgschaft nicht mehr mit; sinkt er jedoch unter 20.000 EUR, verringert sie sich für alle Zukunft auf diesen Betrag, bis der Kredit eines Tages bei 0 EUR angelangt ist. ◄ Ausnahmsweise steht dem Bürgen ein außerordentliches Kündigungsrecht zu, wenn dem Bürgen nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) die Haftung für künftige Verbindlichkeiten des Hauptschuldners nicht mehr zugemutet werden kann. Wichtige Gründe sind beispielsweise das Ausscheiden eines Gesellschafters aus einer Gesellschaft, für deren Schuld der Bürge sich verbürgt hat, oder die Scheidung bei Ehegattenbürgschaften. Es gibt spezielle Sonderformen der Bürgschaft: 553 • Bei der Mitbürgschaft (§ 769 BGB) können sich mehrere Bürgen nebeneinander für dieselbe Verbindlichkeit einzeln oder gemeinschaftlich verbürgen. Jeder von ihnen haftet dann für den ganzen Betrag; der Gläubiger hat die Wahl, an wen er sich halten will (§ 421 BGB). Untereinander sind die Mitbürgen zu gleichen Anteilen ausgleichspflichtig, sofern nichts anderes vereinbart wurde (§§  774 Abs. 2, 426 BGB). • Bei einer Nebenbürgschaft wird die gesamtschuldnerische Haftung vertraglich ausgeschlossen. Dies hat die Konsequenz, dass der Gläubiger mehrere Bürgen jeweils mit der vollen Höhe des Bürgschaftsbetrages in Anspruch nehmen kann, sich die Bürgschaftsbeträge für den Gläubiger sozusagen addieren. Beispiel

Für ein Darlehen in Höhe von 60.000 EUR übernehmen die Bürgen A und B eine Höchstbetragsbürgschaft in Höhe von 30.000 EUR. Unterschreiben beide Bürgen auf einem Bürgschaftsformular, so sind sie Mitbürgen und haften gesamtschuldnerisch. Die Bank kann sich bei Fälligkeit zwar aussuchen, welchen Bürgen sie in Anspruch nehmen möchte, maximal erhält die Bank aber nur 30.000 EUR. Unterzeichnen die Bürgen auf zwei getrennten Formularen, so sind sie Nebenbürgen und die Bank kann von jedem Bürgen bis zu 30.000 EUR verlangen. Damit ist der gesamte Kredit abgesichert. ◄

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2  Besonderes Schuldrecht

• Bei einer Bürgschaft auf Zeit (§ 777 BGB) kann der Bürge seine Haftung befristen. Wenn er nicht innerhalb der vereinbarten Zeit in Anspruch genommen wird, ist er frei. In manchen Fällen – vor allem, wenn für einen Kontokorrentkredit gebürgt wird – kann die zeitliche Begrenzung auch bedeuten, dass der Bürge nur für die bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Verpflichtungen einstehen will. Was gewollt ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. • Bei der Nachbürgschaft steht der Nachbürge dafür ein, dass ein anderer Bürge, nämlich der Vorbürge, seine Verpflichtungen aus der Vorbürgschaft ordnungsgemäß erfüllt. Befriedigt der Nachbürge den Gläubiger, gehen die Ansprüche gegen den Vorbürgen und gegen den Hauptschuldner auf ihn über. • Bei der Rückbürgschaft steht der Rückbürge dem Bürgen gegenüber dafür ein, dass der Hauptschuldner nach der Befriedigung des Gläubigers die Regressforderung des Bürgen erfüllt. • Bei der Ausfallbürgschaft wird der Bürge nur verpflichtet, falls der Gläubiger weder vom Hauptschuldner noch aus anderen Sicherungsmitteln die geschuldete Zahlung erhält. Das bedeutet, dass der Gläubiger erst alle anderen Möglichkeiten zu seiner Befriedigung ausschöpfen muss. Mitunter wird die Ausfallbürgschaft auch nur für den Fall übernommen, dass der Gläubiger bei der Verwertung einer anderen Sicherheit – z. B. des sicherungsübereigneten Warenlagers – einen Ausfall erleidet. • Bei der Wechselbürgschaft handelt es sich dagegen nicht um eine echte Bürgschaft i.  S.  d. bürgerlichen Rechts, sondern um eine selbständige Wechselverpflichtung, die durch bloße Unterschrift auf der Vorderseite des Wechsels – soweit es nicht die Unterschrift des Bezogenen oder des Ausstellers ist  – übernommen wird.

2.5.6 Garantie 554

Die Garantie als Sicherungsrecht ist einseitig verpflichtender, formloser Vertrag, durch den sich der Garant gegenüber Garantienehmer dazu verpflichtet, für einen bestimmten wirtschaftlichen Erfolg einzustehen oder das Risiko für ein künftiges, noch nicht entstandenes Ereignis (z. B. Zahlungsunfähigkeit) zu übernehmen. Im Unterschied zur Bürgschaft wird dabei eine völlig selbständige und vom rechtlichen Bestand der Hauptforderung unabhängige (nicht-akzessorische) Verpflichtung übernommen (§ 311 Abs. 1 BGB). Beispiel

Der G garantiert dem Handwerker H bei Nichtleistung des Häuslebauers H die Zahlung in Höhe von 5000  EUR jedenfalls am 31.12. zu leisten. Der G wäre damit selbst dann zur Leistung verpflichtet, wenn die Werkleistung gar nicht erbracht wurde oder bereits vom Sohn des H geleistet wurde. ◄ 555

Eine Garantie wird i. d. R. mit der Klausel „Zahlung auf erstes Anfordern“ verbunden. Der Garant muss bei einer solchen Garantie bereits dann zahlen, wenn der Begünstigte den Eintritt des Garantiefalls behauptet. Der Garant darf weder den

2.5 Sicherungsrechte und -geschäfte

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Nachweis darüber verlangen noch irgendwelche Einwendungen aus dem Grundgeschäft geltend machen. Eine derartige formularmäßige Klausel ist allerdings unwirksam, soweit sie nicht von einem Kreditinstitut, einer Versicherung oder einem im Kreditgewerbe Tätigen abgegeben wird. Im Inland kommt als Kundengarantie der Kreditinstitute insbesondere die Aus- 556 bietungsgarantie in Betracht. Durch sie soll der Wert der zugunsten der Bank eingetragenen Grundpfandrechte (Kap. 4) erhöht werden. Zwei Formen sind dabei zu unterscheiden: • Der Garant verpflichtet sich für den Fall einer Zwangsversteigerung des belasteten Grundstücks, ein so hohes Gebot abzugeben, dass die Grundpfandrechte des Kreditinstituts voll abgedeckt werden. Dieser Vertrag bedarf, da der Garant eine bedingte Erwerbsverpflichtung bezogen auf ein Grundstück übernimmt, einer notariellen Beurkundung nach § 311b Abs. 1 S. 1 BGB. • Der Garant verpflichtet sich für den Fall einer Zwangsversteigerung des belasteten Grundstücks, dem Kreditinstitut den Betrag zu ersetzen, mit dem die Grundpfandrechte ausfallen. In diesem Fall bedarf es keiner besonderen Form.

2.5.7 Zurückbehaltungsrecht Auch das bürgerlich-rechtliche Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 1 BGB ist 557 ein Leistungsverweigerungsrecht, das die Sicherung eines vertraglichen Gegenleistungsanspruchs bezweckt. Der Schuldner kann im gegenseitigen Vertrag seine eigene Leistung solange zurückhalten, bis der Gläubiger die Gegenleistung bewirkt, hat aber im Unterschied zum kaufmännischen Zurückbehaltungsrecht keine Verwertungsbefugnis. Fragen

12. Welche Rechte haben die Vertragsparteien beim Kauf unter (einfachem) Eigentumsvorbehalt? 13. Was versteht man unter einer „Sicherungsübereignung“ und welches sind ihre rechtlichen Grundlagen? 14. K will von V eine Maschine kaufen; der Kaufpreis in Höhe von 10.000 EUR soll in drei Monaten gezahlt werden. V verlangt von K Sicherheiten. Deshalb bittet K seinen Freund B, sich für die Kaufpreisforderung zu verbürgen. Dies tut B und schließt schriftlich einen Bürgschaftsvertrag mit V, in dem er auf die Einrede der Vorausklage verzichtet. Vier Monate nach Abschluss des Kaufvertrages fordert V von B Zahlung des Kaufpreises. Dieser erfüllt die Forderung und verlangt von K Erstattung der gezahlten Summe. K erklärt daraufhin, die ihm von V gelieferte Maschine sei defekt, er werde jetzt den Rücktritt erklären und sei dementsprechend nicht zur Zahlung des Kaufpreises verpflichtet. B meint, das ginge ihn nichts an, K müsse ihm den Betrag ersetzen, den er an V überwiesen habe, und könne dann einen Ausgleich bei V suchen. Ist diese Ansicht zutreffend?

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2  Besonderes Schuldrecht

2.6 Lösungen zu den Fragen: Besonderes Schuldrecht 1. Bei einem Sachkauf trifft den Verkäufer die Hauptleistungspflicht, die Kaufsache frei von Sach- und Rechtsmängeln dem Käufer zu übergeben und das Eigentum an ihr zu verschaffen (§  433 Abs.  1  BGB). Die Hauptleistungspflicht des Käufers besteht darin, den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen (§ 433 Abs. 2 BGB). Grundsätzlich ist die Abnahmepflicht Nebenleistungspflicht des Käufers. Die Parteien können sie jedoch ausdrücklich oder konkludent in den Rang einer Hauptleistungspflicht heben. 2. Ein Verbrauchsgüterkauf liegt vor, wenn ein Verbraucher (§ 13 BGB) eine bewegliche Sache von einem Unternehmer (§ 14 BGB) kauft (§ 474 Abs. 1 S. 1 BGB). Verbraucher ist nach § 13 BGB jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, das weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Der von der natürlichen Person verfolgte Geschäftszweck muss also in ihrer Privatsphäre liegen (z. B. Kauf von Freizeitkleidung) oder im Bereich der unselbständigen Berufstätigkeit (z. B. Kauf von Arbeitskleidung). Unternehmer ist nach §  14  BGB eine natürliche oder juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss des Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. 3. Das „Recht zur zweiten Andienung“ ist das Recht des Verkäufers bei einem Sachmangel zunächst einen weiteren Erfüllungsversuch vornehmen zu dürfen. Auch wenn es aus § 437 BGB nicht direkt ersichtlich wird, muss der Käufer bei der Geltendmachung seiner Ansprüche eine bestimmte Reihenfolge einhalten. Der Käufer muss zunächst Nacherfüllung begehren – dem Verkäufer die Möglichkeit geben, die Kaufsache ein zweites Mal „anzudienen“. Erst wenn die Nacherfüllung abgelehnt wird oder scheitert kann der Käufer auf einer zweiten Stufe wahlweise Rücktritt, Minderung oder Schadensersatz geltend machen. 4. Der Anspruch auf Rückgewähr des Kaufpreises ergibt sich aus § 357 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 346 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB. Das Widerrufsrecht ergibt sich wegen des Vertragsschlusses im Fernabsatz aus § 312g BGB. Auf das Widerrufsrecht des Verbrauchers nach §  355  BGB findet mangels abweichender Vorschriften § 346 BGB Anwendung, wonach die empfangenen Leistungen zurück zu gewähren sind. Soweit sich der empfangene Gegenstand verschlechtert hat, hat der Verbraucher Wertersatz zu leisten, auch wenn sich die Verschlechterung (nur) daraus ergibt, dass sie der Verbraucher bestimmungsgemäß in Gebrauch genommen hat. Ausgeschlossen ist diese Pflicht nur, wenn die Verschlechterung „ausschließlich auf die Prüfung der Eigenschaften und Funktionsweise“ zurückzuführen ist (§ 357 Abs. 7 Nr. 1 BGB). Der Bundesgerichtshof hat hierzu 2010 entschieden, dass das Befüllen des Wasserbettes lediglich eine derartige „Prüfung“ darstellt, die keine Wertersatzpflicht begründet. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll das Ausprobieren und Testen der Ware dem Zweck dienen, das Widerrufsrecht effektiv

2.6 Lösungen zu den Fragen: Besonderes Schuldrecht

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wahrzunehmen. So soll dem Verbraucher gestattet sein, „dieselben Ergebnisse wie bei einer Prüfung im Ladengeschäft zu erzielen“. 5. Beim Werkvertrag bedeutet Abnahme eines Werkes sowohl die körperliche Entgegennahme als auch die damit verbundene Erklärung des Bestellers, dass er das Werk als eine in der Hauptsache vertragsgerecht erbrachte Leistung anerkenne (Abnahme, vgl. § 640 Abs. 1 S. 1 BGB). 6. Der Mieter kann Beseitigung des Mangels fordern (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB). Ist durch den Mangel die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen Gebrauch aufgehoben, dann ist der Mieter, solange dieser Zustand dauert, von der Pflicht zur Entrichtung des Mietzinses befreit; für die Zeit, während der die Tauglichkeit gemindert ist, ist er nur zur Entrichtung eines geminderten Mietzinses verpflichtet (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB). Der M eter kann unter den Voraussetzungen des § 536a Abs. 1 BGB Schadensersatz verlangen. Schließlich steht dem Mieter wegen des Mangels auch das Recht zu, den Mietvertrag fristlos zu kündigen (§ 543 BGB). Diese Rechte kann der Mieter nebeneinander geltend machen; er kann z.  B. gleichzeitig nach §  536  BGB den Mietzins mindern und nach § 536a BGB Schadensersatz fordern sowie nach § 543 BGB kündigen. 7. Als Rechtsgrundlage für die geltend gemachten Schadensersatzansprüche kommt § 536a Abs. 1 BGB in Betracht. Der Fehler in der Stromleitung mindert die Tauglichkeit der gemieteten Wohnung erheblich. Es handelt sich dabei um einen Mangel i. S. d. § 536 BGB. Es ist auch davon auszugehen, dass dieser Mangel bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhanden war. Bei den entstandenen Schäden handelt es sich um sogenannte Mangelfolgeschäden (Schäden, die außerhalb des Mangels an sonstigen Rechtgütern der Vertragsparteien eintreten). Auch diese Mangelfolgeschäden werden von §  536a  BGB umfasst. Demgemäß kann M für die beim Brand zerstörten Möbel Schadensersatz fordern. Dies gilt auch hinsichtlich des Pedelecs seiner Ehefrau, wenngleich sie nicht Vertragspartnerin war. Denn der Schutz, der durch diese Vorschrift gewährt wird, gilt auch zugunsten der Personen, die mit dem Mietobjekt in gleicher Weise in Berührung kommen wie der Gläubiger (Mieter). 8. Richtig ist, dass wirksam zustande gekommene Verträge grundsätzlich gehalten und erfüllt werden müssen. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Vertrag zwischen dem Verbraucher K und dem Unternehmer V ein Teilzahlungsgeschäft ist (vgl. §§ 506 ff. BGB) K ist nach §§ 506 Abs. 1, S. 1, 495 Abs. 1, 355 Abs. 1 BGB berechtigt, seine Willenserklärung innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu widerrufen und dadurch die Bindung an den Vertrag zu verhindern. Die Auffassung des V ist daher nicht zutreffend. 9. Beim Leasing sind zwei Grundtypen zu unterscheiden: Das Operating-Leasing, bei dem der Leasinggeber dem Leasingnehmer die Sache zum Gebrauch überlässt und der Leasingnehmer dafür ein Entgelt zahlt (dem Mietvertrag angenähert), und das Finanzierungs-Leasing, bei dem regelmäßig drei Personen beteiligt sind: der Leasinggeber erwirbt einen Leasinggegenstand vom Hersteller oder Händler und überlässt seine Nutzung dem Lea-

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2  Besonderes Schuldrecht

singnehmer gegen Entgelt. Der Vertrag wird meist für eine bestimmte Zeit abgeschlossen, die sich an der gewöhnlichen Nutzungsdauer des Leasinggegenstandes orientiert. 10. Im Rahmen des Factoringvertrages verpflichtet sich der Anschlusskunde z.B. dazu, alle künftigen Forderungen aus Warenlieferungen oder Dienstleistungen dem Factor zum Erwerb anzubieten, während der Factor sich verpflichtet, alle ihm angebotenen Forderungen zu erwerben, wenn die Forderung, die vom Factor für den einzelnen Kunden des Anschlusskunden festgelegte ­Kreditgrenze nicht übersteigt. Erwirbt der Factor die einzelne Forderung, dann stellt er den Gegenwert der Forderung abzüglich einer Factoringgebühr als Entgelt durch Gutschrift dem Anschlusskunden zur Verfügung. Beim echten Factoring wird vom Factor zusätzlich das Risiko für die Erbringlichkeit der Forderung übernommen; beim unechten Factoring bleibt dagegen dieses Risiko bei dem Anschlusskunden, denn der Anschlusskunde wird rückbelastet, wenn sich die Forderung für den Factor als uneinbringlich erweist. 11. Die Zinserhöhung ist nur wirksam, wenn sie dem anderen Vertragspartner, dem A, mitgeteilt wird (§ 315 Abs. 2 BGB). Ein Ausdruck auf dem Kontoauszug genügt an sich. Dabei ist die Zinserhöhung allerdings nur für die Zukunft, d. h. ab Zugang der Änderungsmitteilung, wirksam; rückwirkend kann die Zinsanpassung nicht erfolgen. Die Erhöhung der Zinsen muss ferner nach billigem Ermessen erfolgen (§  315 Abs.  3 S.  1  BGB). Wenn das Zinsniveau von 2 % auf 3 % gestiegen ist, dann ist eine Zinsanpassung auf 4,5 % grob unbillig. Die Bank muss sich bei der Anpassung grundsätzlich im Rahmen der aus der Statistik der Europäischen Zentralbank ersichtlichen Streubreite entsprechender Kredite halten. 12. Beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt erwirbt der Käufer mit der bedingten Übereignung der Kaufsache ein Anwartschaftsrecht auf das Eigentum, das automatisch mit Zahlung des Kaufpreises auf ihn übergeht (vgl.  §§  449 Abs. 1, 158 Abs. 1 BGB). Außerdem ist er zum Besitz an der Kaufsache berechtigt. Der Verkäufer hat einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises, der jedoch entsprechend der regelmäßig getroffenen Sicherungsabrede zumindest im Ganzen noch nicht fällig ist. Er ist im Falle des Zahlungsverzugs zum Rücktritt vom Kaufvertrag berechtigt. Nach Ausübung des Rücktrittsrechts kann er die Rückgabe der Kaufsache fordern. Der Verkäufer kann auch auf die sonst im Falle des Zahlungsverzugs des Käufers bestehenden Rechte zurückgreifen und nach §§ 326, 323 BGB unter den in diesen Vorschriften genannten Voraussetzungen vorgehen. 13. Bei der Sicherungsübereignung überträgt der Sicherungsgeber das Eigentum an einer beweglichen Sache zur Sicherung einer Forderung auf den Gläubiger (Sicherungsnehmer). Regelmäßig bleibt der Sicherungsgeber in unmittelbarem Besitz der Sache und vereinbart ein Besitzmittlungsverhältnis mit dem Sicherungsnehmer; die Übereignung wird also nach § 930 BGB ersetzt. Die schuldrechtliche Grundlage für die Sicherungsübereignung und das Besitzmittlungsverhältnis (§  930  BGB) bleibt der sogenannte Sicherungsvertrag, in dem die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien festgelegt werden.

2.6 Lösungen zu den Fragen: Besonderes Schuldrecht

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Von diesem Sicherungsvertrag ist der Vertrag zu unterscheiden, aus dem sich die zu sichernde Forderung ergibt (z. B. Darlehensvertrag). 14. B kann einmal seinen Anspruch auf § 433 Abs. 2 BGB stützen, da bei Befriedigung des V dessen Anspruch nach § 774 Abs. 1, S. 1 BGB auf B übergegangen ist. Diesem Anspruch kann K jedoch alle Einwendungen entgegensetzen, die ihm zur Zeit des Forderungsübergangs gegen V zustanden (§§ 404, 412 BGB), also auch das ihm wegen der Mangelhaftigkeit der Maschine zustehende Rücktrittsrecht. Aus dem Rechtsverhältnis zu K, einem Auftrag zur Übernahme der Bürgschaft, hat jedoch B auch einen Anspruch aus §  670  BGB auf Ersatz der Aufwendungen, die er zur Ausführung des Auftrags machte und die er den Umständen nach für erforderlich halten durfte. Es kommt darauf an, ob B ohne Rücksprache mit K die Forderung des V befriedigen durfte, denn hätte er von dem Rücktrittsrecht des K gewusst, dann hätte er in analoger Anwendung des § 770 Abs. 1 BGB die Befriedigung des V verweigern können. Für die Frage, welche Aufwendungen der Auftraggeber dem Beauftragten zu ersetzen hat, ist nicht die objektive Erforderlichkeit entscheidend, sondern nur, ob bei vernünftiger Beurteilung der Gesamtumstände die Erforderlichkeit bejaht werden kann. B konnte erwarten, dass ihn K benachrichtigt, wenn er einen Grund hat, die Zahlung zu verweigern. Es ist daher dem B nicht anzulasten, wenn er davon ausging, dass ein solcher Grund nicht bestanden hat. Dementsprechend kann er von K Zahlung der 10.000 EUR fordern und es K überlassen, sich mit V wegen des Mangels an der Maschine auseinander zu setzen.

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Gesetzliche Schuldverhältnisse

Ein Schuldverhältnis, das den Gläubiger dazu berechtigt, von dem Schuldner eine 558 Leistung zu fordern (§ 241 Abs. 1, S. 1 BGB), kann entweder durch Rechtsgeschäft oder Gesetz entstehen. Für den alltäglichen (kaufmännischen) Rechtsverkehr sind es in aller Regel die vertraglichen Schuldverhältnisse (Kap.  2) die von Bedeutung sind, weil die Beschaffung, Herstellung und der Vertrieb von Waren und Dienstleistungen in erster Linie den Abschluss von Kauf-, Werk-, Werklieferungsverträgen, Miet- und Leasingverträgen, Finanzierungs- und Sicherungsgeschäften erfordert. Falls bei der Vertragsdurchführung Rechts- oder Sachmängel auftreten, Liefertermine nicht eingehalten werden können oder Schäden entstehen, werden die Folgen durch die Regeln der Leistungsstörung (Abschn. 1.6.5) oder die Mängelhaftung in den jeweiligen Vertragsformen (Kap. 2) geregelt. Während die rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnisse auf einer Sonderverbindung zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger beruhen, gibt es aber auch Ansprüche, die eine solche vorherige Sonderverbindung nicht erfordern, sondern sich die Ansprüche des Gläubigers gegen den Schuldner ohne eine vertragliche (oder vertragsähnliche) Verbindung ausschließlich aus dem Gesetz ergeben. Solche Regelungen sind erforderlich, da sich z. B. auch Personen- oder Sachschäden ereignen können, die nicht der Vertragspartner erleidet, sondern ein Dritter, dem die vertragliche Bindung zum Schädiger fehlt. Für solche Situationen (z. B. Regulierung von Verkehrsunfällen, Ersatz für Schäden aus fehlerhaften Produkten oder Eingriffen in eine fremde Rechtssphäre) hält das Gesetz zum Ausgleich der Schäden besondere Vorschriften vor, die alleine an die Verletzungshandlung anknüpfen, ohne dass es auf ein Vertragsverhältnis ankommt. Neben dem genannten Beispiel gibt es weitere solcher gesetzlichen Regelungsbereiche (sog. gesetzlichen Schuldverhältnisse). Sie bilden u. a. den Rechtsgrund für Ansprüche auf Schadensersatz, auf Unterlassung, auf Beseitigung der Störung oder auf die Herausgabe des unberechtigt erlangten Vermögensvorteils.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_3

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212

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Im Rahmen des Kapitels werden Sie die gesetzlichen Schuldverhältnisse kennen lernen und dabei erfahren • was eine Geschäftsführung ohne Auftrag bedeutet, • wie ein Handeln in einem fremden Rechtsbereich gesetzlich ausgeglichen wird, • wie das Bereicherungsrecht ungerechtfertigte Vermögensverschiebungen korrigiert, • welche unerlaubten bzw. deliktischen Handlungen das Bürgerlichen Gesetzbuch kennt und wie sie sanktioniert werden.

3.1 559

Geschäftsführung ohne Auftrag

Sofern jemand für einen anderen ein Geschäft besorgt, sind Regeln notwendig, um die Interessen der Beteiligten gegeneinander abzugrenzen und um entscheiden zu können, wem die Vor- und Nachteile zufallen sollen, die sich aus der Geschäftsführung ergeben. Wird die Besorgung eines fremden Geschäftes zwischen dem Geschäftsführenden und dem Geschäftsherrn zuvor abgesprochen  – dies ist der Normalfall –, so werden die Vertragspartner auch Vereinbarungen treffen, die diesen Interessenausgleich herstellen und regeln. Es sind aber auch Fälle denkbar, wo jemand eine fremde Angelegenheit besorgt oder besorgen muss, ohne zuvor vom Geschäftsherrn dazu beauftragt oder sonst dazu ermächtigt worden zu sein. Beispiel

A nimmt ein Paket für den abwesenden Nachbarn N entgegen und zahlt die Zustellungsgebühr. Der Fußgänger F hilft einem verunfallten Unfallopfer U, indem er Erste Hilfe leistet. Hierfür zerreißt er sein Hemd, um eine starke Blutung des U abzubinden. ◄ Wenn – wie in den Beispielen beschrieben – jemand im rechtlichen Bereich eines anderen tätig wird, indem er für diesen agiert, ohne dazu „beauftragt“ zu sein, entsteht kraft Gesetzes ein Schuldverhältnis, namentlich eine Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA), die ihre gesetzlichen Grundlagen in den §§ 677–687 BGB findet. Dort wird weiter zwischen einer berechtigten oder unberechtigten GoA unterschieden (Abschn. 3.1.1). Die GoA hat den Anspruch, die Interessen der Beteiligten auszugleichen, in561 dem sie dem Geschäftsführer für seine aus der Geschäftsführung entstandenen Aufwendungen einen Aufwendungsersatzanspruch gewährt, ihn aber gleichzeitig dazu verpflichtet, die aus der Geschäftsführung erlangten Gewinne an den Geschäftsherrn herauszugeben. 560

3.1  Geschäftsführung ohne Auftrag

213

Beispiel

Ein starker Frost hat den Außenwasserhahn auf dem Grundstück des A zum Platzen gebracht, sodass ständig Wasser die rote Hauswand entlang rinnt. Der Nachbar N, der Kenntnis davon hat, dass sich A für drei Wochen im Skiurlaub befindet, bestellt einen Klempner, um weitere Schäden am Haus abzuwenden. Hier ist Vertragspartner des Klempners der Nachbar N und nicht der „Urlauber A“. Daher ist es auch der N, der zur Zahlung der Werklohnforderung verpflichtet ist. Da der N allerdings mit der Beauftragung des Klempners eigentlich ein Geschäft des A getätigt hat (es war dessen Hauswand, die Schaden nahm), begründet das Gesetz nun ein Schuldverhältnis zwischen N und A in Form der GoA und sorgt so dafür, dass der N einen Aufwendungsersatzanspruch in Höhe der Werklohnforderung gegen A erhält. ◄ Da mit dem Rechtsinstitut der GoA auch stets die Gefahr verbunden ist, dass 562 jemand durch ein willkürliches Handeln in fremder Rechtssphäre plötzlich Aufwendungsersatzansprüche gegen einen anderen als den vermeintlichen Geschäftsherren geltend macht, muss die echte GoA von der sogenannten Eigengeschäftsführung abgegrenzt werden. Letztere lässt sich ihrerseits in eine irrtümliche und eine angemaßte (bzw. unechte GoA) Eigengeschäftsführung einteilen (Abb. 3.1). Beispiel

Den Nachbar N hat schon immer die rote Hauswand gestört, daher beauftragt er bei dieser Gelegenheit neben dem Klempner noch einen Maler, der die „verunreinigte“ Hauswand in einem zarten Gelb streichen soll. In diesem Fall muss der A die Kosten natürlich nicht übernehmen, da dieser Eingriff in seine Rechte als Geschäftsherr zu weit führen würde – hier liegt vielmehr eine Eigengeschäftsführung des N in Form einer Geschäftsanmaßung vor. ◄

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Abb. 3.1  Geschäftsführung ohne Auftrag

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214

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

3.1.1 Berechtigte GoA 563

Eine berechtigte GoA liegt vor, wenn jemand ein Geschäft für einen anderen besorgt, ohne von diesem beauftragt oder ermächtigt worden zu sein, aber dennoch eine Berechtigung für die Fremdgeschäftsführung besitzt. Über die Zusammenschau der §§  677  ff. BGB lassen sich die folgenden Voraussetzungen einer berechtigten GoA definieren: • • • •

Besorgung eines fremden Geschäftes, mit Fremdgeschäftsführungswillen, bei Fehlen eines Auftrags oder einer sonstigen Ermächtigung, allerdings berechtigt, d. h. gerechtfertigt nach §§ 683, 684 S. 2 BGB.

Die Besorgung eines fremden Geschäftes ist jede rechtliche oder tatsächliche Tätigkeit, die einem fremden Rechts- oder Interessenkreis zugeordnet werden kann, wie z. B. die Zahlung des Bürgen an den Gläubiger des Hauptschuldners, die Erfüllung fremder Verwaltungsaufgaben oder Hilfeleistungen in Notfällen. 565 Eine Fremdgeschäftsführung liegt allerdings nur dann vor, wenn der Geschäftsführer Kenntnis von der Fremdgeschäftsführung hatte und die übernommene Geschäftsbesorgung geradewegs in fremdem Interesse erfolgen sollte – also der Geschäftsführende mit Fremdgeschäftsführungswillen agierte. Dem Handelnden muss bei der Ausführung der Tätigkeit bewusst sein, in einen fremden Rechtskreis einzugreifen; das Tätigwerden muss seinen Grund in der Sorge um einen anderen finden. Für Eigengeschäfte des Handelnden, sprich Geschäfte die er ausschließlich im eigenen Interesse wahrnimmt, finden die Regeln der GoA keine Anwendung. Unschädlich ist es dagegen, wenn die Geschäftsbesorgung teilweise dem eigenen und teilweise dem fremden Interesse dient sog. „Auch-fremdes Geschäft“). 564

Beispiel

Das Fahrzeug des X versperrt den Zufahrtsbereich des Großhändlers G, so dass G einen Abschleppdienst bestellt, der das Fahrzeug ordnungsgemäß beseitigt. Diese Beseitigung dient dabei sowohl dem Eigeninteresse des G, seine Zufahrt ungehindert nutzen zu können, als auch dem Interesse des X, der andernfalls die Schäden ersetzen müsste, welche durch die versperrte Zufahrt dem G oder dessen Lieferanten entstehen (Verzugsschäden, Standzeiten, ggf. Mietwagen). ◄ 566

Das Gesetz fordert darüber hinaus ein Handeln „ohne Auftrag oder sonstiger Berechtigung“, sodass die GoA nicht in Betracht kommt, wenn die Handlung das Ergebnis einer vertraglichen Verpflichtung (z.  B. aus Dienstvertrag) ist oder aus einer Amts- bzw. Organstellung folgt. Beispiel

Wenn der Hausmeister des Großhändlers einen Wasserrohrbruch im Warenlager repariert und so weiteren Schaden abwendet, ergibt sich seine Handlungspflicht schon aus seinem Arbeitsvertrag; er handelt „mit“ und nicht „ohne Auftrag“. ◄

3.1  Geschäftsführung ohne Auftrag

215

Eine Fremdgeschäftsführung ohne Auftrag ist nur dann gerechtfertigt und löst 567 die Rechtsfolgen aus, wenn die Übernahme des Geschäftes dem Interesse, d. h. dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht (§§ 677, 683 S.  1 BGB), ein entgegenstehender Wille nach §  679  BGB unbeachtlich ist (§ 683 S. 2 BGB) oder der Geschäftsherr eine zunächst unberechtigte Geschäftsführung genehmigt und dadurch nachträglich zu einer berechtigten macht (§ 684 S. 2 BGB). Ob die Geschäftsführung im Willen des Geschäftsherren liegt, muss ex post betrachtet werden, wobei in erster Linie auf den wirklichen Willen, d. h. den ausdrücklich geäußerten oder konkludent in Erscheinung getretenen Willen des Geschäftsherrn abzustellen ist. Unerheblich ist dabei jedoch, ob der Geschäftsführende Kenntnis von diesem Willen hatte. Kann der wirkliche Wille nicht ermittelt werden, entscheidet der mutmaßliche Wille. Auch hierbei kommt es nicht auf die subjektive Annahme des Geschäftsführenden an, sondern darauf, was der Geschäftsherr bei objektiver Würdigung der Umstände im Zeitpunkt der Geschäftsübernahme wohl geäußert hätte. Der mutmaßliche Wille orientiert sich also am Interesse des Geschäftsherrn. Ein entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn ist grundsätzlich zu berücksichtigen. Er bleibt nur dann außer Betracht, wenn ohne die GoA eine Pflicht des Geschäftsherrn, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt, oder eine gesetzliche Unterhaltspflicht des Geschäftsherrn nicht rechtzeitig erfüllt werden würde (§ 679 BGB). Ist der Geschäftsherr geschäftsunfähig oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkt (Abschn. 1.6.3.1), so ist auf den Willen des gesetzlichen Vertreters abzustellen. Durch die Übernahme einer berechtigten (echten) GoA entsteht zwischen dem 568 Geschäftsherrn und dem Geschäftsführenden ein gesetzliches Schuldverhältnis mit Rechten und Pflichten, das inhaltlich dem Auftrag (Abschn.  2.3.6) angenähert ist. Daher hat der Geschäftsführende nach den §§ 677 und 681 S. 1 BGB die Verpflichtung, das Geschäft ordnungsgemäß und rücksichtsvoll zu führen. Im Fall einer schuldhaften Pflichtverletzung kann er auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 677 BGB in Anspruch genommen werden (Abschn. 1.6.5). Allerdings beschränkt sich seiner Haftung nur auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, wenn es sich um die Abwehr einer dem Geschäftsherrn drohenden (= dringenden) Gefahr handelt. Sofern der Geschäftsführende etwas aus der Geschäftsführung erlangt hat, muss er das Erlangte an den Geschäftsherrn herausgeben (§§ 681 S. 2, 667, 677 BGB). Diesbezüglich bestehen auch Auskunfts- und Rechenschaftspflichten (§§  681 S.  2, 666 BGB). Dem Geschäftsherrn obliegt die Verpflichtung, dem Geschäftsführenden alle erforderlichen Aufwendungen zu ersetzen (§§  683 S.  1,  670  BGB). Dies sind zum einen alle freiwilligen Vermögensopfer im Hinblick auf das Geschäft und zum anderen alle Nachteile, Schäden und Einbußen, die der Geschäftsführende infolge einer gefährlichen Geschäftsführung erlitten hat, soweit sie aus der Gefahrenlage entstanden sind, die eine solche Geschäftsführung typischerweise verursacht. Ebenso die Befreiung von im Rahmen der Geschäftstätigkeit eingegangenen Ver-

216

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

bindlichkeiten (§§ 683, 670, 257 BGB). Beim vorzunehmenden Schadensausgleich kann schließlich eine Mitverantwortung des Geschäftsführenden den Aufwendungsersatzanspruch entsprechend seinem Mitverschulden mindern (§  254  BGB). Der Aufwendungsersatzanspruch wird zudem geschmälert, wenn der Geschäftsführende mit der Geschäftsführung nicht nur fremde, sondern auch eigene Interessen verfolgte. Beispiel

Zwei selbständige Handwerker haben sich nacheinander an der Reparatur einer Wanduhr versucht und schulden dem Besteller Nachbesserung wegen eines verbleibenden Mangels. A verweigert die Mangelbeseitigung; Handwerker B führt sie durch. Dadurch erlangt B einen Anspruch auf Aufwendungsersatz gegen den A aus GoA, allerdings geschmälert um seinen eigenen Anteil aus der Mangelbeseitigungsverpflichtung. ◄ Sofern der Geschäftsführende seine Arbeitskraft einsetzt und die Tätigkeit zu seinem Beruf oder Gewerbe gehört, muss der Geschäftsherr die übliche Vergütung leisten (§ 1835 Abs. 3 BGB analog, da das Verhalten des Geschäftsführers – ähnlich eines Vormunds – im öffentlichen Interesse liegen kann. Beispiel

Der Arzt A wird Zeuge eines Verkehrsunfalls. Er hilft bei der Bergung der Verletzten und leistet ärztliche Hilfe. In diesem Fall kann A für seine ärztliche Tätigkeit analog § 1835 Abs. 3 BGB ein Entgelt nach der ärztlichen Gebührenordnung fordern. ◄ 569

Die berechtigte (echte) GoA gibt dem Geschäftsführenden ein Recht zum Besitz (§ 986 S. 1 BGB), wenn die Inbesitznahme mit der Geschäftsübernahme zusammenfällt und stellt – als gesetzliches Schuldverhältnis – auch ein Rechtsgrund im Sinne der §§ 812 ff. BGB dar.

3.1.2 Unberechtigte GoA Die unberechtigte GoA stimmt weitgehend mit den Voraussetzungen einer berechtigten GoA überein. Der einzige und bedeutsame Unterschied, der schon in der Bezeichnung zum Ausdruck kommt, liegt in der mangelnden Berechtigung bzw. Rechtfertigung des Geschäftsführenden. Das Geschäft entspricht bei der unberechtigten GoA weder dem Interesse noch dem Willen des Geschäftsherrn. In den Fällen der unberechtigten GoA hat der Geschäftsführende daher keinen 571 Aufwendungsersatzanspruch, vielmehr muss er, wenn er den entgegenstehenden Willen des Geschäftsherrn kannte oder hätte erkennen können, Schadensersatz leisten (§  678  BGB). Der Geschäftsherr hat seinerseits das durch die Geschäftsführung Erlangte an den Geschäftsführenden nach des Regeln des Bereicherungsrechts (Abschn. 3.2) herauszugeben (§ 684 S. 1 BGB). 570

3.1  Geschäftsführung ohne Auftrag

217

Beispiel

Bei dem eingangs erwähnten Beispielsfall hat der Nachbar N nicht nur den Wasserschaden des A behoben, sondern auch den Hausanstrich in einem zarten Gelb veranlasst. Als der A aus dem Urlaub zurückkehrt, weigert er sich gegenüber N die Kosten zu erstatten. Dies geschieht zurecht, denn der N hat sich insoweit über den mutmaßlichen Willen des A hinweggesetzt. Aus dieser unberechtigten GoA entsteht für den N kein Kostenerstattungsanspruch. Vielmehr kann der A Schadensersatz in Höhe des Neuanstrichs fordern. Hätte dagegen der A selbst vorgehabt, sein Haus gelb zu streichen, wäre es unbillig, wenn der A nunmehr „kostenlos“ zu einem Teilanstrich seines Hauses käme. Daher müsste er den Wertzuwachs nach den Vorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung an den N herausgeben. ◄

3.1.3 U  nechte Geschäftsführung (Eigengeschäft und Geschäftsanmaßung) Der Begriff der unechten Geschäftsführung umfasst nach § 687 BGB zwei Sachver- 572 halte. Zum einen die irrtümliche oder vermeintliche Eigengeschäftsführung nach § 687 Abs. 1 BGB und zum anderen die Geschäftsanmaßung als unechte GoA nach § 687 Abs. 2 BGB. Bei der vermeintlichen Eigengeschäftsführung (§ 687 Abs. 1 BGB) glaubt je- 573 mand irrtümlich, er führe ein eigenes Geschäft aus, obwohl es sich objektiv gesehen um ein fremdes Geschäft handelt. Dem Geschäftsführenden fehlt also der Fremdgeschäftsführungswille; er erkennt die Fremdheit des Geschäftes nicht. In einem solchen Fall finden die Regelungen der „echten“ GoA keine Anwendung, da es sich nicht um eine solche handelt. Denkbare Anspruchsgrundlagen für einen Ausgleich unter den Beteiligten sind in einem solchen Fall die Vorschriften des Bereicherungsrechts (§§  812  ff., 816 Abs.  1 S.  1 BGB), des Deliktsrechts (§§ 823 f. BGB) sowie des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (§§ 951 Abs. 1, S. 1 i. V. m. 946 f., 985 oder 994 f. BGB). Beispiel

Taubenzüchter T füttert täglich sämtliche Tauben in seinem Schlag mit wertvollem Kraftfutter. Davon profitieren auch 15 Tauben des Züchters Z, die sich in T’s Taubenschlag aufhalten. Nach mehreren Wochen stellt sich der wahre Sachverhalt heraus und T verlangt nun von Z die Kosten für die Futtermittel ersetzt. Die Regeln der GoA sind hier unanwendbar, da dem T der Fremdgeschäftsführungswille fehlte. T erhält allerdings einen Ausgleich für seine Aufwendungen aus ungerechtfertigter Bereicherung (§§ 812 ff. BGB), denn Z hat ohne Rechtsgrund auf Kosten des T etwas erlangt: Seine Tauben wurden von T versorgt (Abschn. 3.2). ◄

218

574

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Bei der Geschäftsanmaßung oder unechten GoA (§ 687 Abs. 2 BGB) behandelt jemand ein fremdes Geschäft als sein eigenes, obwohl er sicher weiß, dass er hierzu nicht berechtigt ist. Da die Geschäftsanmaßung  – als Eingriff in fremde Rechtsgüter  – die Tatbestandsmerkmale der unerlaubten Handlung bzw. ungerechtfertigte Bereicherung erfüllt, kann der Geschäftsherr gegen den Geschäftsführenden nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 823, 812 ff. BGB vorgehen. Darüber hinaus kann er den Handelnden wie einen Geschäftsführer ohne Auftrag in Anspruch nehmen, d. h. er kann Schadensersatz aus §§ 687 Abs. 2, S. 1, 678 BGB sowie die Herausgabe des Erlangten nach § 687 Abs. 2, 681, 667 BGB fordern. Der Geschäftsführende hat dabei grundsätzlich keine Gegenansprüche. Wird er allerdings vom Geschäftsherrn wie ein Geschäftsführer ohne Auftrag in Anspruch genommen, so stehen ihm auch die Ansprüche eines Geschäftsführenden zu; er kann dann seinerseits Ersatz für die wertsteigernden Aufwendungen verlangen, falls der Geschäftsherr durch ihn bereichert wird (§§ 687 Abs. 2, S. 2, 684 Abs. 1 BGB). Beispiel

Die A leiht der B ihre alte Wickelkommode und das dazugehörende Kinderbettchen. Die B lässt die Möbelstücke zunächst in einer Schreinerei aufbessern. Nach einem Jahr verkauft die B die Sachen zu einem guten Preis auf einem Babybasar. Als A davon erfährt, verlangt sie von B die Herausgabe des Kaufpreises. Da die B nun von der A wie eine Geschäftsführende ohne Auftrag behandelt wird, ist diese berechtigt, die wertsteigernden Aufwendungen, namentlich ihre Ausgaben für Schreinerarbeiten, gegenüber der A geltend zu machen. ◄ Fragen

1. Bei einem Unfall stellt A Decken und Verbandszeug zur Verfügung, damit dem verletzten B erste Hilfe geleistet werden kann. Ist B verpflichtet, A die Kosten für die Reinigung der Decken und für das verbrauchte Verbandszeug zu ersetzen? 2. Von welchen Voraussetzungen hängt es ab, ob eine GoA als berechtigt anzusehen ist, und welche Rechtsfolgen ergeben sich daraus? 3. Auf dem Kundenparkplatz der B-Bank steht seit einigen Tagen ein PKW. Als der Bankangestellte A feststellt, dass die Scheibe eingeschlagen ist, gibt er spontan den Auftrag an eine Werkstatt, diese zu ersetzen. Sein Kollege meint, dass er hierzu nicht berechtigt sei. Wie ist die Rechtslage?

3.2 575

Ungerechtfertigte Bereicherung

Die Rückführung bzw. Abschöpfung von rechtsgrundlos erworbenen Vermögensvorteilen erfolgt nach den Vorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung (§§  812–822 BGB). Sie sollen in erster Linie ungerechtfertigte Vermögensver-

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

219

schiebungen, die sich aus dem Abstraktionsprinzip ergeben können, korrigieren, indem der ungerechtfertigte Vermögenszuwachs beim Bereicherungsschuldner abgeschöpft und dem berechtigten Bereicherungsgläubiger wieder zu- bzw. zurückgeführt wird. Beispiel

V hat dem K ein Fahrrad verkauft und übereignet. Kurz darauf ficht der K den Vertrag wegen Irrtums nach § 119 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam an und verweigert die Zahlung. Durch die Anfechtung des K ist der Vertrag von Anfang an nichtig geworden (§  142 BGB), die Parteien sind von ihren Leistungspflichten entbunden. V möchte daher auch das Fahrrad wieder zurück. Allerdings kommt der Herausgabeanspruch nach § 985 BGB nicht in Betracht, da die Übereignung des Fahrrades nach §  929 BGB wirksam erfolgte, V dem K Eigentum und Besitz übertragen hat und K Eigentümer des Fahrrades geworden ist. Die Anfechtung betrifft nur das Verpflichtungs- und gerade nicht das Verfügungsgeschäft. Dieses Ergebnis wäre natürlich unbefriedigend, weshalb § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB hier korrigierend eingreift. Der V kann daher von K die Herausgabe des Fahrrads wegen ungerechtfertigter Bereicherung verlangen, denn K hat eine Leistung des V (Eigentum und den Besitz am Fahrrad) ohne rechtlichen Grund (der Kaufvertrag ist nichtig) erlangt. ◄ Der Anspruch auf Ausgleich einer rechtgrundlosen Vermögensmehrung des Be- 576 reicherten ist ein persönlicher Anspruch und steht demnach nur dem Benachteiligten (Entreicherten) gegenüber dem Bereicherten zu. Ferner handelt es sich um einen selbständigen Anspruch, der durchaus neben andere Ansprüche (z. B. aus GoA, aus unerlaubter Handlung usw.) treten kann. Die verschiedenen bereicherungsrechtlichen Ausgleichsansprüche  – aufgrund 577 ihres römisch-rechtlichen Ursprungs als „Kondiktionen“ bezeichnet  – hängen grundsätzlich davon ab, ob die ungerechtfertigte Vermögensmehrung durch • • • • •

die Leistung eines anderen, eine Bereicherung in sonstiger Weise, das Ausbleiben eines Erfolges, die Verfügung eines Nichtberechtigten oder einer gesetzes- bzw. sittenwidrige Leistung

erfolgt ist (Abb. 3.2). Dabei lassen sich die beiden ersten Varianten dem § 812 Abs. 1 S. 1 BGB zuordnen, der den Grundtatbestand bildet und sich entsprechend der Art der Erlangung des Vermögensvorteils in die Leistungskondiktion („durch Leistung eines anderen“) und die Eingriffs- bzw. Nichtleistungskondiktion („in sonstiger Weise“) gliedert. Diese beiden Ansprüche zielen dabei zwar auf dieselbe Rechtsfolge (=  Herausgabe des ungerechtfertigt Erlangten), sie haben allerdings ganz unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen.

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3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

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Abb. 3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

Die anderen daneben genannten Formen der Vermögensmehrung stellen Sonderfälle der Grundtatbestände der Leistungs- und Nichtleistungskondiktion dar und sind in den §§ 812 Abs. 1 S. 2, 816 und 817 BGB geregelt.

3.2.1 Leistungskondiktion 578

Infolge des Abstraktionsprinzips kann es vorkommen, dass der schuldrechtliche Vertrag unwirksam wird (z. B. wegen Anfechtung oder einem erklärten Rücktritt), wohingegen die Eigentumsübertragung wirksam bleibt, weil sie von dem Unwirksamkeitsgrund nicht berührt wird (siehe Ausgangsfall). Die Leistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB sorgt nun dafür, dass diese Vermögensverschiebung ohne rechtlichen Grund über einen Herausgabeanspruch des Entreicherten gegen den Bereicherten korrigiert wird. Dabei setzt eine Rückforderung im Wege der Leistungskondiktion nach §  812 Abs.  1 S.  1, Alt.  1 BGB (sog. condictio indebiti) voraus, • dass der Bereicherte („jemand“) etwas erlangt hat, • durch die Leistung des Entreicherten („anderen“) und • dies ohne rechtlichen Grund geschah.

579

Um die Leistungskondiktion ausüben zu können, muss der Bereicherungsschuldner „etwas erlangt“ haben. Das kann jeder Vermögensvorteil sein, sprich

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

221

jeder Vorteil, der die Vermögenssituation des Bereicherten wirtschaftlich oder rechtlich gesehen verbessert. Dazu gehören Geldleistungen, aber auch dingliche Rechte (z.  B.  Eigentum, Pfandrecht, Hypothek, Anwartschaft), schuldrechtliche Ansprüche (z. B. einen Anspruch gegen die Bank auf Auszahlung eines auf dem Girokonto gutgeschriebenen Betrages) oder die Erlangung vorteilhafter Rechtsstellungen (Lizenzen, Positionen in öffentlichen Registern wie dem Grundbuch). Selbst die Befreiung des Schuldners von Verbindlichkeiten verbessert seine Vermögenslage. Nichts anderes gilt auch für Gebrauchsvorteile, sonstige Nutzungen und Dienstleistungen (z. B. Arbeits- oder Beförderungsleistung). Dieser Vermögensvorteil muss das Ergebnis der „Leistung“ eines anderen (des 580 Entreicherten) sein, wobei darunter jede bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens verstanden wird. Daraus ergibt sich zugleich, dass eine Leistungskondiktion ausscheidet, wenn dem Leistenden das Bewusstsein fehlt, das Empfängervermögen zu mehren oder mit der Zuwendung gerade kein bestimmter Zweck verfolgt wird (dann liegt ein Fall der Nichtleistungskondiktion vor). Beispiel

Der Hausmeister H des Hauseigentümers E streicht das Treppenhaus. Dabei verwendet er einen Eimer Farbe, davon ausgehend, dass er diesen für das Treppenhaus von dem E erhalten hat. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch, was H nicht wusste, um seine eigene Farbe. Daher „leistet“ der H nicht, denn er vermehrt nicht bewusst das Vermögen des E, sondern unbewusst; eine Leistungskondiktion kommt daher nicht in Betracht. Der Bankkunde K weist seine Bank an, an seinen Gläubiger G 2000  EUR auszuzahlen, die dieser von ihm aus einem Kaufvertrag beansprucht. Folgt die Bank dieser Weisung, dann vermehrt sie zwar bewusst das Vermögen des G, verfolgt aber im Verhältnis zu G keinen (eigenen) Leistungszweck. Deshalb ist in dem Zahlungsvorgang Bank – G keine Leistung i. S. d. Bereicherungsrechts zu sehen. Die Bank leistet hier nur an K, da sie mit der Auszahlung an G eine vertragliche Verpflichtung gegenüber dem K erfüllt und dies auch bewusst und zweckgerichtet tut, wie andererseits auch im Verhältnis zwischen K und G geleistet wird, weil K seine Verpflichtung aus dem Kaufvertrag erfüllen will. Dass er dies mit Hilfe der Bank tut, lässt kein Leistungsverhältnis zwischen Bank und G entstehen; hier handelt es sich lediglich um einen technischen Zahlungsvorgang, der im Verhältnis zu G dem K zuzurechnen ist. Für das Bereicherungsrecht wird diese Unterscheidung bedeutsam, wenn ein Vertragsverhältnis oder beide nichtig sind und sich deshalb die Frage der Rückabwicklung stellt. ◄ Die Bestimmung des Leistungszwecks spielt insbesondere eine Rolle bei der 581 Beteiligung mehrerer Personen. In diesen Konstellationen legt der Leistungszweck fest, wer Bereicherungsgläubiger und wer Bereicherungsschuldner ist. Dabei gilt der Grundsatz, dass die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung nur im jeweils gestörten Leistungsverhältnis stattfinden kann, um zu gewährleisten, dass

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3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

• jeder Partei ihre Einwendungen gegen ihren ausgesuchten Vertragspartner erhalten bleiben, • keine Partei Einwendungen eines anderen, den sie sich nicht als Vertragspartner ausgesucht hat, ausgesetzt ist, • jede Partei nur das Insolvenzrisiko derjenigen Partei trägt, die sie sich selbst als Partner ausgesucht hat. 582

Der Bereicherte muss die Leistung „ohne rechtlichen Grund“ erlangt haben. Dies ist der Fall, wenn der Rechtsgrund für die Vermögensverschiebung fehlt, z. B. weil auf eine nicht bestehende Schuld geleistet wird (z. B. Kaufpreis wird versehentlich zweimal gezahlt) oder das (schuldrechtliche) Kausalgeschäft nichtig ist, beispielsweise wegen Geschäftsunfähigkeit (§  105 BGB), Formmangel (§  125 BGB), Gesetzes- oder Sittenverstoß (§§  134, 138 BGB) sowie Anfechtung (§ 142 BGB). Beispiel

A hat seinen PKW bei der Versicherung Securitas gegen Diebstahl versichert. Als das Fahrzeug gestohlen wird, zahlt die Versicherung 5000 EUR aus. Kurze Zeit darauf wird das Fahrzeug von der Polizei gefunden. Die Securitas kann nun die Rückzahlung der 5000  EUR von A verlangen und ihren Rückzahlungsanspruch auf § 812 Abs. 1 S. 2, Alt. 1 BGB stützen. ◄ 583

Die Leistungskondiktion ist ausgeschlossen, wenn der Leistende zur Zeit der Leistung das Fehlen des rechtlichen Grundes kannte (§ 814 BGB), er also leistet, obwohl er weiß, dass er nichts schuldet. Ferner nach § 817 S. 2 BGB, wenn dem Leistenden ein Gesetzes- oder Sittenverstoß vorzuwerfen ist. Beispiel

A beauftragt seinen Freund F damit, den Behördenmitarbeiter B mit 500 EUR zu bestechen. Um die Handlung des F zu befördern, verspricht er ihm zwei wertvolle Münzen aus seiner Münzsammlung, die er ihm direkt übergibt. Zur Tathandlung kommt es nicht, da sich F eines Besseren besinnt. A will daher seine Münzen wieder zurück. Zwar könnte sich der Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ergeben, denn F hat durch Leistung des A das Eigentum und den Besitz an den Münzen ohne Rechtsgrund erlangt; der zugrundeliegende Vertrag verstößt gegen § 332 StGB (Anstiftung zur Bestechung) und ist daher nach § 134 BGB nichtig. Allerdings ist der Rückforderungsanspruch des A wegen § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen. F könnte die Münzen daher behalten. ◄ Nach § 812 Abs. 1 S. 1 BGB hat der Bereicherte das durch die Leistung Erlangte herauszugeben, den Bereicherungsgegenstand in natura (z. B. Rückgewähr des Eigentums und Besitzes; Rückabtretung einer Forderung). Nach §  818 Abs.  1 BGB, der die zentrale Herausgabeverpflichtung aus §  812 585 BGB ergänzt, sind obendrein die tatsächlich gezogenen Nutzungen herauszu584

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

223

geben. Nutzungen sind die Früchte einer Sache oder eines Rechts (§  99  BGB; z.  B.  Tier- und Bodenprodukte) sowie die Vorteile, die durch den Gebrauch der Sache oder des Rechts entstanden sind (§ 100 BGB; z. B. Vermögenseinsparungen, Gebrauchsvorteile). Herauszugeben ist ferner „dasjenige, was der Empfänger aufgrund eines erlangten Rechts oder als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung des erlangten Gegenstandes erworben hat (sog. Surrogate). Zu den Surrogaten zählt allerdings nur das, was durch die bestimmungsgemäße Ausübung des Rechts erlangt wird (z. B. Einziehung der Forderung, Gewinn eines Loses). Beispiel

Dem Bankkunden K werden irrtümlich 20.000 EUR gutgeschrieben. Von diesem Geld kauft sich der K Aktien, die mittlerweile 25.000 EUR wert sind. Verlangt die Bank das Geld nach Bereicherungsregeln zurück, so muss der K auch die 5000 EUR als gezogene Nutzungen herausgeben. A kauft bei dem B einen PKW und fährt damit mehrere Wochen. Dabei wird das Fahrzeug von einem Dritten D leicht beschädigt. Die Haftpflichtversicherung des D gleicht den Schaden mit einem Betrag von 2000 EUR aus. Als sich nun die Nichtigkeit des Kaufvertrages herausstellt, kommt es zur Rückabwicklung. A muss neben dem beschädigten Fahrzeug (Herausgabe in natura) auch das Surrogat, d. h. die Versicherungsleistung (Geldbetrag in Höhe von 2000 EUR) für den beschädigten PKW herausgeben. ◄ Kann das Erlangte nicht bzw. nicht mehr in natura zurückgewährt werden, weil 586 beispielsweise eine untrennbare Verbindung, Vermischung oder Verarbeitung stattgefunden hat (§§ 946 ff. BGB), die Sache veräußert oder verbraucht ist oder von Anfang an eine Dienstleistung empfangen wurde, ist stattdessen Vergütung bzw. Wertersatz in Geld zu leisten (§ 818 Abs. 2 BGB). Nach herrschender Auffassung ist dabei der objektive Verkehrswert der Sache, Dienstleistung usw. zugrunde zu legen. Nach § 818 Abs. 3 BGB entfällt die Verpflichtung zur Herausgabe sowie zum 587 Wertersatz, soweit der Empfänger nicht mehr bereichert ist; der Bereicherungsschuldner kann einem Herausgabeanspruch die Einrede der Entreicherung entgegensetzen. Nach den bereicherungsrechtlichen Regeln sollen nur die noch tatsächlich beim Empfänger vorhandenen Vermögensvorteile abgeschöpft werden. Zu einer Vermögensverschlechterung des Bereicherungsschuldners soll es durch Erfüllung einer Kondiktion dagegen nicht kommen. Denn die Rückabwicklung von Rechtsbeziehungen und damit die Bereicherungssituation treten regelmäßig erst im Nachhinein ein und die Beteiligten dürfen bis zu diesem Zeitpunkt auch von der Wirksamkeit ihrer Rechtshandlungen ausgehen und im Vertrauen darauf mit dem Empfangenen disponieren. Durch eine Kondiktion soll der Bereicherungsschuldner weder besser, noch schlechter gestellt werden.

224

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Die Herausgabeverpflichtung beschränkt sich – wie beschrieben – auf das tatsächlich Erlangte, die Nutzungen sowie den Wertersatz. Ist davon nichts mehr beim (zunächst) Bereicherten vorhanden, verliert der Anspruchsteller seinen Anspruch auf Herausgabe und zwar unabhängig vom sonstigen Vermögen des Bereicherten. Die Herausgabepflicht steht unter dem Vorbehalt, dass der Bereicherte noch ­bereichert ist; die Bereicherung ist in ihrem Umfang auf das Vorhandene beschränkt (§ 818 Abs. 3 BGB). Beispiel

Die B-Bank zahlt dem Kunden K zum Monatsanfang 5000 EUR aus. K besucht mit diesem Geld noch am selben Tag ein Spielcasino – was er sonst nie tut – und verliert alles. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass die Bank irrtümlich das Geld an K angewiesen hat, was dem K aber verborgen blieb, da er am Monatsanfang i. d. R. auch seine Wertpapier-Umsätze gutgeschrieben bekommt. Zwar hat die B-Bank an K ohne Rechtsgrund geleistet und einen Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1, S. 1. Alt. 1 BGB in Höhe von 5000 EUR, doch steht dem gutgläubigen K die Einrede der Entreicherung zu (§ 818 Abs. 3 BGB); der Betrag war zum Zeitpunkt, als er von der Bereicherung erfuhr, bereits vollständig und ersatzlos abgeflossen. Dass der K weiteres Vermögen besitzt, ist unerheblich. K ist schutzwürdig, weil er auf die Richtigkeit der Auszahlung vertrauen durfte. ◄ Bei der Bewertung der Entreicherung muss sich der Bereicherte allerdings alles anrechnen lassen, was er für die Wegnahme des Bereicherungsgegenstandes erlangt hat, z. B. eine Gegenleistung (Kaufpreis), die Befreiung von eigenen Verbindlichkeiten oder eine Ersparnis von Aufwendungen (mit dem ersparten Geld wird ein Verlobungsgeschenk gekauft oder eine schon lang geplante Geschäftsreise durchgeführt). Beispiel

K geht mit den oben genannten 5000 EUR nicht ins Spielcasino, sondern tilgt seine Schulden bei seinem Gläubiger G.  Zwar sind auch in diesem Fall diese 5000 EUR nicht mehr in seinem Vermögen vorhanden; eine Entreicherung ist dennoch nicht eingetreten, da er sich mit den 5000 EUR von seiner Verbindlichkeit gegenüber G befreien konnte. Der Entreicherungseinwand greift daher hier nicht und der K bleibt zur Rückzahlung verpflichtet. ◄ Die Beschränkung der Herausgabepflicht durch §  818 Abs.  3 BGB kann bei gegenseitigen Verträgen, zumindest wenn die gegenseitigen Bereicherungsansprüche isoliert betrachtet werden und eine Partei nicht mehr zur Rückgewähr der von ihr empfangenen Leistung imstande ist, zu Ungerechtigkeiten führen. In diesen Fällen will die Saldotheorie den Wert der hingegebenen Gegenleistung bei der Kondiktion der eigenen Leistung als „Abzugsposten“ in Rechnung stellen. Der Bereicherungsanspruch soll dann nur noch auf den Überschuss gehen, sodass dem

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

225

Bereicherten kein Nachteil entstehen kann, wenn seine eigene Leistung ersatzlos weggefallen ist. Das ist auch sinnvoll, da die Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung auch beim unwirksamen Vertrag gelten muss. Zudem bestünde andernfalls eine unstimmige Risikoverteilung: Denn ohne die Saldotheorie würde das Risiko der Wertverlustes oder Untergangs allein derjenige tragen, der kein Geld geleistet hat, während sich die andere Partei immer auf Entreicherung berufen könnte. Beispiel

K kauft bei dem V eine Segeljacht. Das Geld und die Jacht werden übereignet. Die Jacht geht vor der Küste Norwegens unter und kann nicht mehr geborgen werden. Jetzt stellt sich die Nichtigkeit des Kaufvertrages heraus. K hat gegen V einen Rückübereignungs- bzw. Wertersatzanspruch auf das Geld. V wiederum hat einen Rückübereignungsanspruch hinsichtlich der Jacht. Da diese aber zerstört ist, wäre K entreichert und von seiner Zahlungspflicht befreit, während V den Kaufpreis zurückzahlen müsste. Diese Ungerechtigkeit beseitigt nun die Saldotheorie indem sie die gegenseitigen Ansprüche saldiert. Da K den „Wert“ der Bereicherung herausgeben muss, kommt es nicht auf den Kaufpreis an, sondern auf den Verkehrswert der Jacht (objektiver Wert). Ist der Verkehrswert niedriger als der Kaufpreis, muss V die Differenz (den Überschuss) herausgeben; ist der Verkehrswert höher als der Kaufpreis spielt dies keine Rolle, denn dem K dürfen aus der Rückabwicklung keine Nachteile entstehen. ◄ Das durch § 818 Abs. 3 BGB gewährte Privileg, sich auf den Wegfall der Bereicherung berufen zu dürfen, ist allerdings nur denjenigen Bereicherten zuzubilligen, die auf die Rechtmäßigkeit ihres Erwerbs vertrauen durften. Wer jedoch die Rechtsgrundlosigkeit seines Erwerbs kennt oder wer aufgrund einer wegen dieses Erwerbs gegen ihn erhobenen Klage, also vom Eintritt der Rechtshängigkeit an (§ 261 Abs. 1 ZPO), damit rechnen muss, dass er das Erlangte oder einen Wertersatz herauszugeben hat, kann diesen Vertrauensschutz gerade nicht mehr beanspruchen und haftet außerdem verschärft (§§ 818 Abs. 4, 819, 820 BGB). Die Verjährung der Ansprüche aus der Leistungskondiktion tritt nach § 195 BGB 588 regelmäßig nach drei Jahren ein. Allerdings ist zu beachten, dass bei einer Anspruchskonkurrenz zwischen einem Bereicherungsanspruch und dem Herausgabeanspruch im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis (Abschn.  4.6) letzterer vorgeht und gemäß § 197 Abs. 1 Nr. 2 BGB erst in 30 Jahren verjährt.

3.2.2 Nichtleistungskondiktion Ungerechtfertigte Bereicherungen können auch auf andere Weise als durch Leistung eintreten. Deshalb sieht das Gesetz neben der Leistungskondiktion die sog. Nichtleistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 S. 1, Alt. 2 BGB und damit eine weiter Anspruchsgrundlage für den bereicherungsrechtlichen Vermögensausgleich vor. Die Nichtleistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 S. 1, Alt. 2 BGB setzt voraus,

589

226

• • • •

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

dass der Bereicherte etwas erlangt hat, in sonstiger Weise, auf Kosten des Anspruchstellers und ohne rechtlichen Grund.

Bei der Nichtleistungskondiktion, bei der die Bereicherung in „sonstiger Weise“ herbeigeführt wird, wird eine Unterscheidung nach verschiedenen Fallgruppen vorgenommen: 591 Den Hauptfall der Nichtleistungskondiktion bildet die Eingriffskondiktion. Bei ihr verschafft sich der Bereicherte den Vermögensvorteil durch eine eigene Handlung. Er greift dabei in eine fremde Rechtssphäre ein und verschafft sich einen Vorteil, der jedoch nicht ihm, sondern eigentlich dem Anspruchsteller gebührt (beispielsweise bei unbefugter Nutzung fremden Eigentums oder fremder Schutzrechte, wie z. B. Patent, Gebrauchsmuster, Marke). 590

Beispiel

D stiehlt dem E eine Flasche Champagner und trinkt sie aus. Eigentlich steht dem Eigentümer das Recht zu, die Sache zu nutzen oder zu verbrauchen (§ 903 BGB). Insofern hat der D in den Zuweisungsgehalt des Eigentums des E eingegriffen (§ 812 Abs. 1 S. 1, Alt. 2 BGB) und muss nun Wertersatz leisten (§ 818 Abs. 2 BGB). Augenoptiker A veröffentlicht in einer Zeitung ein Foto des bekannten Fernsehmoderators G, welches zeigt, wie dieser eine Brille anprobiert. Das Foto hat der A von seiner Einkaufsgenossenschaft mit dem Hinweis erhalten, dass der Abdruck honorarfrei sei. G hatte jedoch die Veröffentlichung des Fotos zu Werbezwecken nicht genehmigt. Da A in das wirtschaftliche Verwertungsrecht des G am eigenen Bild eingreift, kommt hier ein Bereicherungsanspruch des G gegen A aus § 812 Abs. 1 S. 1, Alt. 2 BGB in Betracht; A muss die erlangten Vorteile (Ersparnis von Lizenzgebühren) an den G herausgeben (§  818 Abs. 2 BGB). ◄ 592

Einen weiteren Unterfall stellt die Verwendungskondiktion dar. Sie kommt in Betracht, wenn jemand eigene Mittel für einen anderen aufwendet, ohne dazu gesetzlich oder vertraglich verpflichtet zu sein. Da Spezialregelungen, wie die berechtigte GoA (Abschn. 3.1.1), § 951 BGB und die §§ 994 ff. BGB (Abschn. 4.2.2) der Verwendungskondiktion vorgehen, bleibt nur ein sehr enger Anwendungsbereich, namentlich für den Fall, dass jemand Verwendungen auf nicht in seinem Besitz stehende Sachen macht, von denen er annimmt, dass sie ihm gehören. Beispiel

Bauherr B baut seine Garage um; nebenan wird gerade der Neubau der Immobilienfirma I errichtet. Maurer M baut unbewusst Steine, die der I gehören, in den Umbau des B ein. Da die Steine wesentlicher Bestandteil des Grundstücks

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

227

des B werden (§ 946 BGB), er also Eigentümer der Steine wird, ist er ohne rechtlichen Grund bereichert und muss den Wert der Bereicherung ersetzen. ◄ Eine dritte Fallgruppe wird als Rückgriffskondiktion (oder Auslagenkondiktion) 593 bezeichnet. Sie kommt in Betracht, wenn ein Dritter fremde Verbindlichkeiten tilgt (§ 267 BGB) und damit den Schuldner gegenüber dem Gläubiger von seiner Schuld befreit. Allerdings bedarf es des Bereicherungsrechts in solchen Fallkonstellationen in der Regel nicht mehr, da der Anspruch des Gläubigers gegen den Schuldner entweder schon kraft Gesetzes auf den Dritten übergeht (z. B. nach § 268 Abs. 3 BGB) oder vorrangige Anspruchsgrundlagen (z. B. GoA) eingreifen. Beispiel

A lässt einen PKW bei B pfänden. Den PKW hat B bei einem Dritten D gekauft, aber noch nicht voll bezahlt. Deshalb hat sich der D das Eigentum an dem PKW vorbehalten. D kann jedoch aufgrund seines Eigentums am PKW der Pfändung widersprechen. Um dieser Möglichkeit zu begegnen, zahlt A an D den Kaufpreisrest, sodass das Eigentum am PKW vollständig auf den B übergeht. A verlangt daraufhin die Erstattung des Kaufpreises von B ersetzt und stützt sich auf die Nichtleistungskondiktion in Form der Rückgriffskondiktion. Dies ist zutreffend, denn eine Leistungskondiktion gegenüber dem B scheidet aus, da er nicht eine Leistung an den B erbracht hat, sondern das Vermögen des D mehren wollte. Dementsprechend bleibt ihm nur die Möglichkeit der Rückgriffskondiktion. ◄ Schließlich kann noch eine weitere Fallgruppe als Nichtleistungskondiktion be- 594 nannt werden, die als „Bereicherung infolge tatsächlicher Geschehensabläufe“ bezeichnet wird und sich dadurch auszeichnet, dass keine Partei den Kausalvorgang in Gang setzt und daher weder ein „Eingriff“ in die Rechtssphäre eines anderen stattfindet, noch eine irgendwie geartete bereichernde Handlung. Beispiel

Die landwirtschaftlich genutzten Grundstücke des A und B liegen nebeneinander. Infolge starker Regenfälle werden Düngemittel, die auf dem Grundstück des B lagern, auf das Grundstück des A geschwemmt, dem das hochwillkommen ist, weil er sich deshalb das Düngen seiner landwirtschaftlichen Flächen sparen kann. ◄ Die Nichtleistungskondiktion betrifft also alle diejenigen Situationen, in denen 595 die Bereicherung nicht durch eine Leistung eines anderen erfolgt, sondern in „sonstiger Weise“, d. h. durch einen Eingriff in eine fremde Rechtssphäre, durch Handlungen eines Dritten oder infolge eines tatsächlichen Geschehensablaufes. Dabei muss die Vermögensverschiebung („etwas erlangt“) unmittelbar auf Kosten eines anderen erfolgt sein, wobei das Merkmal alleine zur Bestimmung der Person des Bereicherungsgläubigers dient, d. h. der Eingriff muss in einen Rechtsbereich erfol-

228

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

gen, der diesem eigentlich zugewiesen ist (sog. Lehre vom Zuweisungsgehalt). Im Übrigen darf für die Vermögensverschiebung kein Rechtsgrund vorliegen; hier entsprechen sich die Tatbestandsmerkmale der beiden Kondiktionsformen ebenso wie hinsichtlich des Inhalts und Umfangs des Herausgabeanspruchs (§§ 818 ff. BGB). 596 Allerdings ist im Rahmen der Nichtleistungskondiktion der Vorrang der Leistungskondiktion zu beachten, d.  h. bezieht sich die Bereicherung auf denselben Bereicherungsgegenstand, dann ist die Nichtleistungskondiktion ausgeschlossen. Es ist also stets zu prüfen, ob ein Leistungsverhältnis vorliegt; erst wenn dieses nicht feststellbar ist, kommt die Nichtleistungskondiktion in Betracht. Diese Prüfung ist insbesondere bei Dreiecksbeziehungen von Belang. Beispiel

Kunde A überweist 5000  EUR an den Gläubiger G.  A widerruft die Überweisung rechtzeitig, dennoch leitet seine Bank den Auftrag weiter und das Geld wird dem Konto des G gutgeschrieben. Die Bank hat nun nicht die Möglichkeit das Geld im Wege der Nichtleistungskondiktion zurückzuholen, denn sie hat zwar ohne Rechtsgrund überwiesen, hat aber selbst nicht an den G geleistet; das Leistungsverhältnis besteht vielmehr zwischen A und G. Daher muss auch die Rückabwicklung zuvörderst innerhalb des fehlgeschlagenen Leistungsverhältnisses erfolgen, also im Verhältnis A – G. ◄ 597

Die Verjährung der Ansprüche tritt nach § 195 BGB regelmäßig nach drei Jahren ein. Hat allerdings jemand aufgrund einer unerlaubten Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt (= besonderer Fall einer Eingriffskondiktion), verjährt der Anspruch auf Herausgabe und Schadensersatz in 10 Jahren von der Fälligkeit an (§ 852 S. 2 BGB).

3.2.3 Sonderfälle der ungerechtfertigten Bereicherung 598

3.2.3.1 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 1 S. 1 BGB Einen Sondertatbestand der Eingriffskondiktion stellt der § 816 Abs. 1 S. 1 BGB dar. Er behandelt den Fall, dass ein Berechtigter durch die Verfügung eines Nichtberechtigten einen Rechtsverlust erleidet. In einer solchen Konstellation kann sich der Berechtigte an den Nichtberechtigten halten und den Erlös, den dieser im Zusammenhang mit der Verfügung erzielt hat, herausverlangen. Der Tatbestand des § 816 Abs. 1. S. 1 BGB setzt voraus, • die Verfügung eines Nichtberechtigten, • welche gegenüber dem Berechtigten wirksam ist • und entgeltlich erfolgt.

599

Unter einer Verfügung ist jedes Rechtsgeschäft zu fassen, das sich unmittelbar auf den Bestand eines Rechts auswirken kann, sei es, dass ein Recht übertragen,

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

229

aufgehoben, belastet oder inhaltlich verändert wird. Dabei ist Verfügender grundsätzlich nur derjenige, der das Rechtsgeschäft auch in eigenem Namen vornimmt; nicht dagegen der Vertreter nach § 164 BGB. Nichtberechtigter i. S. d. § 816 BGB ist, wer zu der entsprechenden Verfügung eigentlich nicht befugt ist, weil er weder Inhaber des Rechts ist, noch kraft Gesetz oder kraft Rechtsgeschäft zur Verfügung berechtigt wurde. Die Verfügung durch den Nichtberechtigten wird gegenüber dem Berechtigten wirksam, wenn sich dies aus gesetzlichen Vorschriften ergibt, wie z. B. aus dem § 932 BGB, wonach die Eigentumsübertragung einer beweglichen Sache durch den Nichtberechtigten an einen Dritten wirksam erfolgen kann, wenn der Dritte (Erwerber) hinsichtlich der Berechtigung in gutem Glauben ist. Weitere Rechtsvorschriften, die eine Verfügung eines Nichtberechtigten wirksam werden lassen, sind z. B. § 892 BGB oder § 366 HGB. Außerdem kann der Berechtigte eine unwirksame Verfügung des Nichtberechtigten gemäß §§ 185 Abs. 2 S. 1, 184 BGB genehmigen und damit die Voraussetzungen des § 816 BGB – namentlich die Wirksamkeit der Verfügung gegenüber dem Berechtigten – herbeiführen. Schließlich muss es sich um eine entgeltliche Verfügung handeln. Der Verfügende muss etwas (seine Bereicherung) erhalten haben, worauf sich dann der Herausgabeanspruch erstrecken kann. Als Rechtsfolge ordnet der § 816 Abs. 1 S. 1 BGB an, dass der Nichtberechtigte das herauszugeben hat, was er als direkte Folge der Verfügung erlangt hat. Dabei umfasst das Erlangte den gesamten Erlös, selbst wenn dieser den objektiven Wert des verfügten Gegenstandes oder Rechts übersteigt und auf die besondere Geschäftstüchtigkeit des Nichtberechtigten zurückzuführen ist. Nur in Ausnahmefällen ist eine Herabsetzung nach dem Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) denkbar. Ist dagegen die Gegenleistung, die der Nichtberechtigte aus der Verfügung erhält, niedriger als der tatsächliche Wert des Gegenstandes oder Rechts, so hat der Nichtberechtigte nur diese erhaltene Gegenleistung herauszugeben (allerdings umstritten, ob die Rechtsfolge auf Gewinn- oder Werhaftung lautet). Auf §  816 Abs. 1 S. 1 BGB ist § 818 Abs. 3 BGB anwendbar. In diesem Fall empfiehlt es sich für den Entreicherten, einen Schadensersatzanspruch wegen Eigentumsverletzung zu erheben (§§  823, 992 BGB). Dadurch würde der Eigentumsverlust zumindest finanziell kompensiert (§§ 249 ff. BGB). Beispiel

Der Bankangestellte A verleiht seinen Motorroller an seinen Kollegen B. Einige Tage später verkauft der B den Roller an seinen gutgläubigen Freund F. Dieser erwirbt das Eigentum am Roller gemäß §§ 929, 932 BGB. Hat der B den Roller (objektiver Wert: 2000 EUR) für 2500 EUR verkauft, so muss er dem A diesen Betrag nach § 816 Abs. 1 S. 1 BGB herausgeben. Verkauft er den Roller allerdings nur für 1000 EUR, so hat der A ebenfalls nur einen Herausgabeanspruch in

600

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230

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Höhe von 1000 EUR; seinen Verlust in Höhe von 1000 EUR müsste A dann über § 823 BGB (Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung) einfordern. ◄

3.2.3.2 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 1 S. 2 BGB §  816 Abs.  1 S.  2  BGB, der die Kondiktion bei einer unentgeltlichen Verfügung eines Nichtberechtigten regelt, knüpft an die Voraussetzungen des §  816 Abs.  1 S. 1 BGB an, sodass sich die Tatbestände weitgehend decken. Einziger Unterschied ist, dass die Verfügung des Nichtberechtigten im Rahmen des §  816 Abs.  1 S.  2 BGB unentgeltlich erfolgt, d.  h. ohne eine das Vermögen des Nichtberechtigten mehrende Gegenleistung. 605 Da der Nichtberechtigte keine Gegenleistung für seine Verfügung erhält, kann er auch keinen Vermögenswert an den Berechtigten herausgeben. Daher muss hier der Dritte, der durch die unentgeltliche Verfügung bereichert wurde, das Erlangte an den Berechtigten herausgeben. 604

Beispiel

Im vorgenannten Beispiel verschenkt der B den Motorroller an den F.  Hier kommt ein Anspruch des A gegen den B aus § 816 Abs. 1 S. 1 BGB nicht in Betracht, da der B keine Gegenleistung erhalten hat, die er herausgeben könnte. Der A kann sich allerdings auf § 816 Abs. 1 S. 2 BGB stützen und von F die Rückübereignung des Rollers verlangen. ◄

3.2.3.3 Nichtleistungskondiktion gemäß § 816 Abs. 2 BGB Der § 816 Abs. 2 BGB betrifft die Konstellation, dass eine Leistung an einen Nichtberechtigten erfolgt, die dem Berechtigten gegenüber wirksam ist, weshalb der Berechtigte das Geleistete sodann vom Nichtberechtigten herausverlangen kann (§ 816 Abs. 2 BGB). Es handelt sich auch hier um eine nicht von §§ 812 oder 816 Abs. 1 BGB erfasste Eingriffskondiktion. Ein wichtiges Anwendungsbeispiel des § 816 Abs. 2 BGB ist die stille Zession 607 (Abschn. 1.6.7.1), in deren Folge ein Schuldner in Unkenntnis der Abtretung (sie wird nicht offenbart) seine Zahlung an den Zedenten (Altgläubiger) erbringt. Der Schuldner wird nach § 407 BGB frei, so dass der Zessionar (Neugläubiger) gegen den Schuldner keinen Anspruch mehr hat. Für diesen Fall sieht § 816 Abs. 2 BGB einen Herausgabeanspruch des Zessionars (Neugläubigers) gegen den Zedenten (Altgläubiger) vor; es wird eine Leistung an den Nichtberechtigten (bisherigen Gläubiger/Zendent) bewirkt, die gegenüber dem Berechtigten (Neugläubiger/Zessionar) wirksam ist. Im Fall der stillen Zession erfolgt der Vermögensausgleich im Verhältnis der Gläubiger zueinander. 606

Beispiel

A erhält von B ein Darlehen gemäß § 488 BGB. Später tritt der B den Rückzahlungsanspruch an den C ab, ohne den A darüber zu informieren. Bei Fälligkeit des Darlehens leistet A an B. Gemäß § 407 BGB muss der C die Leistung des A an B gegen sich gelten lassen; A ist von seiner Rückzahlungsverpflichtung

3.2  Ungerechtfertigte Bereicherung

231

frei geworden und C kann nicht die nochmalige Zahlung verlangen. C hat allerdings gegen den B einen Anspruch aus § 816 Abs. 2 BGB auf Herausgabe des Geldes. ◄

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 Überblick über § 816 BGB

3.2.3.4 Nichtleistungskondiktion gemäß § 822 BGB Eine besondere Situation regelt der § 822 BGB: Sofern der Bereicherungsgläubiger 608 seinen Anspruch gegenüber dem Empfänger nicht mehr geltend machen kann, weil dieser das Erlangte einem Dritten unentgeltlich zugewandt hat und daher nicht mehr bereichert ist (§ 818 Abs. 3 BGB), so korrigiert § 822 BGB diese „Unbilligkeit“. Nach § 822 BGB kann der Bereicherungsgläubiger von dem Dritten die Herausgabe verlangen, wie wenn der Dritte die Zuwendung von dem Bereicherungsgläubiger selbst ohne rechtlichen Grund erhalten hätte. Im Gegensatz zu § 816 Abs. 1 S. 2 BGB, dem der § 822 BGB ähnelt, verfügt im Fall des § 822 BGB ein Berechtigter, der lediglich durch eine Kondiktionsschuld dem Gläubiger gegenüber verpflichtet war. § 822 BGB normiert nur eine subsidiäre Haftung des unentgeltlich Erwerbenden, 609 die insbesondere dann nicht eingreift, wenn der Weitergebende nicht nach §  818 Abs. 3 BGB entreichert ist oder trotz der Entreicherung verschärft haftet. Beispiel

Ausgehend von den oben gebildeten Beispielen verkauft der A den Motorroller an seinen Kollegen B; die Übereignung findet ebenfalls statt. Im Nachhinein

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3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

stellt sich die Nichtigkeit des Kaufvertrages zwischen A und B heraus. Dies ändert allerdings nichts am Eigentumserwerb des B (Abstraktionsprinzip). B kann somit als Berechtigter den Motorroller an seinen Freund C verschenken und übereignen und ist selbst nicht mehr bereichert. Dementsprechend ist ein Bereicherungsanspruch des A gegen B wegen §  818 Abs.  3  BGB nicht mehr ­möglich. In diesem Fall kann A nur gegen C nach § 822 BGB vorgehen und die Herausgabe des Motorrollers fordern. Wäre der Rückforderungsanspruch des A gegen B bereits rechtshängig gewesen, als der A den Roller an den C verschenkte, würde der § 822 BGB nicht greifen; jetzt müsste sich A direkt an den B wenden, der trotz der tatsächlich eingetretenen Entreicherung verschärft haftet. ◄ Fragen

4. Wie ist der Begriff „Leistung“ im Rahmen einer Leistungskondiktion zu verstehen und welcher Zweck wird mit der genauen Erfassung dieses Begriffs verfolgt? 5. Welche tatbestandsmäßigen Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit ein Anspruch wegen Eingriffskondiktion bejaht werden kann? 6. V verkauft der K eine wertvolle Siamkatze. Später wird festgestellt, dass der Kaufvertrag nichtig ist. Daraufhin verlangt K Rückzahlung des von ihr gezahlten Kaufpreises, obwohl ihr die Katze inzwischen entlaufen ist. Mit Recht? Ändert sich die Entscheidung, wenn sich die Nichtigkeit des Kaufvertrages aus einer, zum Zeitpunkt des Vertragsschluss, unerkannten Geisteskrankheit der K ergibt? 7. Der Kreditnehmer K hat der B-Bank zur Sicherung seines Darlehens eine Forderung gegen seinen Schuldner D abgetreten. Die Abtretung wurde nicht angezeigt. Da K weiteren Kredit benötigt, wendet er sich an die Sparkasse S und tritt auch ihr die Forderung ab. Später stellt die S den Kredit fällig und nach Offenlegung der Abtretung zahlt der D an S. Erst jetzt muss auch die B-Bank den Kredit fällig stellen und verlangt daher von dem D das Geld aus der Abtretung. Wie ist die Rechtslage?

3.3 610

Unerlaubte Handlung

Das Recht der unerlaubten Handlung (auch: Deliktsrecht) ist in den §§  823 bis 853 BGB geregelt. In den dort zu findenden Vorschriften werden Handlungen beschrieben, die unerlaubt sind und deren Verwirklichung zu Schadensersatzansprüchen führt. Für diesen Fall entsteht zwischen den Beteiligten ein gesetzliches Schuldverhältnis, da der deliktische Schadensersatzanspruch keine vertraglichen Beziehungen der Beteiligten voraussetzt, sondern die schuldrechtliche Beziehung erst aufgrund des Gesetzes bzw. aufgrund des schädigenden Fehlverhaltens begründet wird.

3.3  Unerlaubte Handlung

233

Das BGB kennt keine deliktische Generalklausel, sondern befolgt ein System 611 der Einzeltatbestände. Es reiht in den §§ 823 ff. BGB eine wahre Vielzahl von unerlaubten Handlungen aneinander, von denen jeweils zumindest ein Tatbestand erfüllt sein muss, damit die Rechtsfolgen des Delikts  – in der Regel Schadensersatz – eintreten können. Insofern gibt es auch keinen Anspruch aus unerlaubter Handlung schlechthin, sondern nur Ansprüche aus ganz bestimmten (und jeweils genau zu bezeichnenden) einzelnen Tatbeständen. Neben den Grundtatbeständen des §§  823 Abs.  1 und Abs.  2  BGB sowie des 612 §  826  BGB finden sich eine Reihe von deliktischen Sondertatbeständen in den §§ 824, 825, 831 bis 834, 836 bis 839 BGB. Die nachfolgenden Ausführungen werden sich auf die Grundtatbestände sowie die wichtigsten Sondertatbestände beschränken. Dabei ist noch zu erwähnen, dass die unerlaubten Handlungen dreistufig auf- 613 gebaut sind, was einen entsprechenden Prüfungsaufbau erfordert. Auf der ersten Stufe ist die Tatbestandsmäßigkeit zu prüfen. Sie umfasst den rechtserheblichen Vorgang, ohne ihn zu bewerten („wer das Leben, den Körper … verletzt“). Auf der zweiten Stufe betrachtet man die sog. Rechtswidrigkeit. Nur solche Taten, die als rechtswidrig charakterisiert werden können („widerrechtlich“), sind auch „unerlaubte“ Handlungen. Liegen beispielsweise Rechtfertigungsgründe vor, kann eine tatbestandsmäßige Handlung plötzlich rechtmäßig werden. Und auf der dritten Stufe ist, weil das Deliktsrecht des BGB auf dem sog. Verschuldensprinzip beruht („vorsätzlich oder fahrlässig“), das Verschulden zu prüfen. Der deliktsfähige Schädiger (§ 828 BGB) muss schuldhaft im Sinne von vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben. Bei einigen Gesetzen außerhalb des BGB ist das Verschulden nicht erforderlich, so dass der Schädiger selbst dann haftet, wenn ihn kein Verschulden vorzuwerfen ist. Diese Haftungsform nennt man Gefährdungshaftung, sie ist z. B. im Produkthaftungsgesetz oder dem Straßenverkehrsgesetz angelegt.

3.3.1 Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 1 BGB Nach § 823 Abs. 1 BGB ist zum Schadensersatz verpflichtet, wer vorsätzlich oder 614 fahrlässig bestimmte Rechtsgüter eines anderen widerrechtlich verletzt. Die Voraussetzungen für eine Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 1 BGB lauten daher: • Handeln oder Unterlassen, • Verletzung einer geschützten Rechtsposition, • kausaler Zusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und der Verletzung des Rechtsgutes (sog. haftungsbegründende Kausalität), • Rechtswidrigkeit, • Verschulden und • kausaler Zusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und dem tatsächlich eingetretenen Schaden (sog. haftungsausfüllende Kausalität).

234

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

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Abb. 3.3  Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB

Formalisiert sieht der Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB wie in Abb. 3.3 dargestelt aus. 615 Voraussetzung für eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB ist also zunächst, dass der in Anspruch Genommene „gehandelt“ hat. Als Handlung ist dabei jedes menschliche Verhalten anzusehen, das der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist. Danach sind solche Verhaltensweisen vom Handlungsbegriff auszunehmen, bei denen es sich um nicht kontrollierbare Vorgänge handelt, wie z.  B.  Bewegungen eines Schlafenden, eines Bewusstlosen oder eines durch unwiderstehliche Gewalt Gezwungenen. Beispiel

Kunde K wird in der B-Bank ohnmächtig und reißt im Fallen eine Vitrine mit Porzellan-Sparschweinen um. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet hier aus, da K nicht gehandelt hat. Eine Ersatzpflicht kann nur aus Billigkeitserwägungen in Betracht gezogen werden (§ 829 i. V. m. § 827 BGB). ◄ Der juristische Handlungsbegriff umfasst auch das Unterlassen; es wird dem Handeln gleichgestellt, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln bestand. Eine solche Rechtspflicht kann sich aus Gesetz, Vertrag oder einem vorangegangenen Tun ergeben. Einen wichtigen Bereich von Handlungspflichten hat die Rechtsprechung außerdem durch die sogenannte Verkehrssicherungspflicht begründet. Sie bedeutet, dass derjenige, dem die Verantwortung für Sachen obliegt, der einen Verkehr eröffnet oder zulässt oder der Produkte herstellt, auch die Verpflichtung hat, dafür zu sorgen, dass niemand aus der Sache, dem Verkehr oder aus dem Produkt gefährdet werden kann.

3.3  Unerlaubte Handlung

235

Beispiel

Ladeninhaber L unterlässt es, an einem Wintermorgen den Eingangsbereich zu streuen. Der Kunde K kommt zu Fall und verletzt sich. Da der H die Rechtspflicht hatte, den Weg so zu unterhalten, dass Dritte nicht zu Schaden kommen (Verkehrssicherungspflicht), unterlässt er haftungsbegründend. Sein Unterlassen wird daher einem tatbestandsmäßigen Handeln i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB gleichgestellt und kann einen Schadensersatzanspruch des K begründen. ◄ Die Rechtsgutsverletzung betrifft die in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechts- 616 güter. Dort sind in erster Linie die sogenannten absoluten Rechte aufgeführt, darunter das Leben, der Körper (= äußere körperliche Unversehrtheit), die Gesundheit (= innere körperliche Unversehrtheit), die Freiheit (= körperliche Bewegungs- und Handlungsfreiheit) und das Eigentum (= Ausübung eines aus dem Eigentum folgenden Rechts), die nicht nur im Rechtsverhältnis zu einem bestimmten Vertragspartner beachtet werden müssen (= relative Rechte), sondern die gegenüber den Eingriffen jeder anderen Person Bestand haben müssen und daher absolut geschützt sind. Die Aufzählung der absoluten Rechte wird durch sonstige Rechte ergänzt. Damit sind ausschließlich besonders hochrangige Rechte gemeint, die in ihrer Schutzwürdigkeit den absoluten Rechten gleichstehen. Zu den sonstigen Rechten gehören das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches z.  B. durch das Recht am eigenen Bild oder an den eigenen Daten zum Ausdruck kommt, und die dem Eigentum gleichgestellten Rechte wie etwa das Pfandrecht, die Hypothek und das Besitzrecht, ferner das Namens- und Firmenrecht, Urheberrechte und gewerbliche Schutzrechte, weiterhin das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (= Recht am Unternehmen). Das Vermögen gehört dagegen nicht zu den sonstigen Rechten im Sinne von §  823 Abs.  1  BGB, denn ein Vermögensnachteil ist noch keine Eigentumsverletzung. Das Vermögen als solches ist nämlich überhaupt kein Recht, sondern nur die Summe aller geldwerten Güter und Rechte einer Person und deliktisch nur in einzelnen Beziehungen geschützt (§§ 823 Abs. 2, 824, 826, 839 BGB). Liegt eine Rechtsgutsverletzung vor, ist zu fragen, ob sie einer Handlung des 617 Schädigers zugerechnet werden kann. Ausgangspunkt der Zurechnung ist, dass das Verhalten eine notwendige Bedingung für die Rechtsgutsverletzung darstellen muss (d. h. ursächlich ist alles, was man nicht wegdenken kann, ohne dass auch die Rechtsgutsverletzung entfällt). Da die Kausalitätskette häufig sehr lang ist, weil viele – auch ganz entfernt liegende – Umstände zur Rechtsgutsverletzung geführt haben können (z. B. das Pflanzen eines Baumes an der Allee für eine spätere Kollision mit einem PKW), erfolgt eine Begrenzung auf solche Umstände, die mit der Rechtsgutsverletzung in einem adäquaten Zusammenhang stehen. Danach sind als Ursache für den eingetretenen Schaden nur noch diejenigen Bedingungen zu berücksichtigen, die objektiv im Rahmen der Wahrscheinlichkeit und Vorhersehbarkeit liegen. Umstände, die nur aufgrund eines außerhalb jeder Lebenserfahrung liegenden Kausalverlaufs zur Rechtsgutsverletzung geführt haben, bleiben außer Betracht. Neben der Adäquanz begrenzt v.  a. der Schutzzweck der Norm die

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3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Schadensersatzpflicht  – nicht ersatzfähig ist damit das, was zum allgemeinen Lebensrisiko gehört. Beispiel

A hat den B bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. B wird ins Krankenhaus gebracht. Er steckt sich dort mit einem Grippevirus an und verstirbt. Aufgrund der Adäquanz wird dem A der Tod des B zugerechnet; der Schadensverlauf liegt noch im Rahmen der Wahrscheinlichkeit und Vorhersehbarkeit. Damit hat der A auch für die Todesfolge des B einzustehen. Anders wäre zu entscheiden, wenn sich der im Krankenlager befindliche und labile B über einen Krankenbesuch seiner Exfrau mit ihrem neuen Freund so aufregt, dass er an einem Herzversagen stirbt. Hier würde zwar der A eine Mitursache setzen, weil B nur deshalb so labil ist, weil er von A verletzt wurde, doch ist dieser Schadensverlauf nicht mehr vorhersehbar, sodass die Adäquanz verneint werden muss. ◄ Die Rechtswidrigkeit des Handelns ist in aller Regel durch die Erfüllung der Tatbestandsmäßigkeit des § 823 BGB indiziert, denn rechtswidrig handelt zunächst einmal jeder, der ein Rechtsgut des § 823 Abs. 1 BGB verletzt. Allerdings gibt auch es Situationen, in denen die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen ist. So ist die Pfändung keine rechtswidrige Eigentumsverletzung und die Festnahme keine rechtswidrige Freiheitsberaubung. Die Notwehr rechtfertigt Körperverletzungen und Sachbeschädigungen und ein Notstand (Feuer, Überschwemmung, Katastrophen) rechtfertigt die Beschädigung von Eigentum. Ferner darf jemand auch ausnahmsweise eine Sache mit Gewalt wegnehmen oder eine Person festhalten, wenn gerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und nicht länger gewartet werden kann, weil sonst der berechtigte Anspruch nicht mehr durchgesetzt werden könnte (Selbsthilferecht). Und schließlich ist die Rechtswidrigkeit auch dann ausgeschlossen, wenn eine Einwilligung des Geschädigten in die Rechtsgutsverletzung vorliegt, z. B. indem ein Patient mit einer ärztlichen Behandlung einverstanden ist, die objektiv den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen würde. 619 Das Recht der unerlaubten Handlung ist eine Verschuldenshaftung, d. h. der Schädiger muss die Rechtsgutsverletzung verschuldet haben; dazu gehört grundsätzlich auch das Bewusstsein, dass man rechtswidrig handelt. Der Schädiger haftet nach § 823 Abs. 1 BGB nur, wenn die Rechtsgutsverletzung vorsätzlich (= bewusst und gewollt) oder fahrlässig (= außer Acht lassen der im Verkehr gebotenen bzw. objektiv erforderlichen Sorgfalt § 276 Abs. 2 BGB) herbeigeführt wurde. Welche Sorgfalt objektiv erforderlich war, hängt von den Umständen ab. Je nachdem, welchem Berufs- und Lebenskreis der Schädigende angehört, welches Alter er hat oder welche Bildung er mitbringt, werden im Rechtsverkehr verschärfte oder gemilderte Anforderungen an die Sorgfaltspflicht gestellt. Für eine unerlaubte Handlung wird allerdings nur derjenige zur Verantwortung gezogen, der auch schuldfähig (= deliktsfähig) ist. Die Schuldfähigkeit tritt mit 618

3.3  Unerlaubte Handlung

237

Vollendung des 7. Lebensjahres ein (§ 828 Abs. 1 BGB). Für Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gilt eine Besonderheit: Sie sind „beschränkt schuldfähig“ und damit nur insoweit für den Schaden verantwortlich, als sie die zur Erkenntnis ihrer Verantwortung erforderliche Einsichtsfähigkeit haben (§  828 Abs.  3  BGB). Weitere Beschränkungen in der Schuldfähigkeit ergeben sich für Geisteskranke (§ 827 BGB). Entschuldigungsgründe können die Haftung nach §  823 Abs.  1  BGB ausschließen. Ein solcher Entschuldigungsgrund ist z. B. ein nicht auf Fahrlässigkeit beruhender Irrtum über ein Verbot; weitere Entschuldigungsgründe ergeben sich aus dem Strafgesetzbuch (§ 35 StGB). Beispiel

Frau A hört gegen drei Uhr nachts ein Geräusch am Gartenfenster des Wohnzimmers. Mit dem Nudelholz ausgestattet schleicht sie hinzu und schlägt den vermeintlichen Einbrecher nieder. Es ist aber der Mitbewohner B, der früher von einer Geschäftsreise zurückkehrt und Frau A nicht aufwecken wollte. Hier glaubte Frau A in Notwehr (§ 227 BGB) zu handeln. Da sie nicht das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit hatte, hat sie auch nicht vorsätzlich die Gesundheit des B gemäß § 823 Abs. 1 BGB verletzt. In Betracht kann allenfalls eine fahrlässige Gesundheitsverletzung kommen, wenn sie bei ihren Feststellungen, wer denn da nun in das Haus wollte, fahrlässig gehandelt haben sollte. Dies ist aber in Anbetracht der Umstände und der Uhrzeit wohl kaum anzunehmen. Ein Schadensersatzanspruch des B scheidet daher aus. ◄ Kein Schadensersatz ohne Schaden (= Vermögenseinbuße): Das Vorliegen eines 620 Schadens bestimmt sich nach der Differenzhypothese (Abschn. 1.6.5.5); eine Vermögenseinbuße liegt vor, wenn der jetzige tatsächliche Wert des Vermögens geringer ist als der Wert, den das Vermögen, ohne dass die Ersatzpflicht begründende Ereignis haben würde. Dieser Schaden muss in einem kausalen Zusammenhang zu der Rechtsgutsver- 621 letzung steht (haftungsausfüllende Kausalität). Hiernach sind solche Schäden zu ersetzen, die ursächlich, adäquat und vom Schutzzweck der Norm getragen sind (siehe die Prüfungsschritte bei der haftungsbegründenden Kausalität). Der Schaden kann dabei ein materieller sein, also eine in Geld messbare Vermögenseinbuße oder ein immaterieller, wie beispielsweise Schmerzen oder ein schwerer Schock. Als Rechtsfolgen einer unerlaubten Handlung nach § 823 Abs. 1 BGB entstehen 622 Ansprüche auf: • Schadensersatz nach § 823 Abs. 1 BGB, • Schmerzensgeld (nur bei Personen- und Gesundheitsschäden) nach § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. § 253 Abs. 2 BGB, • Unterlassung nach §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1, S. 2 BGB analog oder • Beseitigung nach §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1, S. 1 BGB analog.

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623

624

625

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Die häufigste Rechtsfolge einer Rechtsgutverletzung ist der Schadensersatzanspruch. Die Berechnung erfolgt dabei nach den allgemeinen Grundsätzen, d. h. der Geschädigte ist so zu stellen, als wäre das Schadensereignis nicht eingetreten. Es sind alle Nachteile auszugleichen, die durch die unerlaubte Handlung entstanden sind, einschließlich des entgangenen Gewinns, §§ 249 ff. BGB. Das bedeutet, eine zerstörte Sache muss wiederhergestellt oder ersetzt werden; eine Minderung ihres Wiederverkaufswertes ist in Geld auszugleichen (sog. „merkantiler Minderwert“); Nutzungsausfall muss erstattet werden, und zwar auch, wenn der Eigentümer die Sache nicht selbst genutzt hat. Bei Personenverletzungen sind die gesamten Heil-, Pflege- und Kurkosten zu ersetzen sowie alle Vermögensnachteile, die der Verletzte dadurch erleidet, dass seine Erwerbsfähigkeit zeitweise oder dauernd aufgehoben oder gemindert ist. Ist der Verletzte in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt oder hat er in Zukunft zusätzliche Aufwendungen zu machen, z. B. für Prothesen, einen Rollstuhl oder Haushaltshilfen, so ist ihm für die Zukunft eine Geldrente zu zahlen. Ein selbständiger Unternehmer kann den entgangenen Gewinn und gegebenenfalls die Kosten für eine Ersatzkraft verlangen. Bei Personenschäden wird außer dem bereits genannten Schadensersatz ein angemessenes Schmerzensgeld für Schäden gewährt, die keinen Vermögensschaden darstellen (§ 253 Abs. 2 BGB). Das Schmerzensgeld dient dem Ausgleich für erlittene Schmerzen und seelische Beeinträchtigungen (z. B. Leiden, Entstellungen, psychische Störungen) und soll ferner eine Genugtuung darstellen, die der Schädiger für das schuldet, was er dem Verletzten angetan hat. Die Höhe des Schmerzensgeldes wird dabei von den Gerichten nach billigem Ermessen bestimmt; dabei haben sich jedoch bestimmte Maßstäbe herausgebildet, die in sogenannten Schmerzensgeldtabellen festgehalten sind (z. B. Prellungen: 50 EUR bis 1000 EUR; Verlust des Armes: 5000  EUR bis 10.000  EUR; entstellende Gesichtsverletzung: 1000 EUR bis 5000 EUR). Hat der Geschädigte die Entstehung des Schadens mitverschuldet, dann mindern sich  – außer bei einer vorsätzlichen Schädigung  – seine Schadensersatzansprüche (einschließlich Schmerzensgeld) entsprechend (§ 254 BGB). Besteht die Gefahr künftiger Rechtsverletzungen aus den Grundsätzen unerlaubter Handlung (z. B. eine sich wiederholende Persönlichkeitsverletzung), ist in (analoger) Anwendung von §  1004  BGB ein Anspruch auf Unterlassung zukünftiger rechtswidriger Beeinträchtigungen sowie bei fortdauernder Störung ein Anspruch auf Beseitigung anerkannt. Sofern mehrere Personen durch eine gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung i. S. des § 823 Abs. 1 BGB einen Schaden verursacht haben oder sich unter mehreren Beteiligten der Täter nicht mehr ermitteln lässt, ist jeder für den entstandenen Schaden verantwortlich (§ 830 BGB). Der Verletzte kann sich nach seiner Wahl an jeden der Schädiger wenden und seinen Schaden in voller Höhe geltend machen. Sind für einen Schaden mehrere Personen nebeneinander verantwortlich, so haften sie als Gesamtschuldner (§§ 840 Abs. 1, 421 BGB), d. h. der Geschädigte kann sich einen der Verantwortlichen zur Schadensregulierung heraussuchen und

3.3  Unerlaubte Handlung

239

zur Zahlung auffordern und die Schädiger haben sich dann im Innenverhältnis gegeneinander auszugleichen. Ansprüche aus unerlaubter Handlung verjähren in grundsätzlich drei Jahren seit 626 Entstehung des Anspruchs (§ 195 BGB). Die Verjährung beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Geschädigte Kenntnis von Schadensumständen und Schädiger erlangt bzw. ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 Abs. 1 BGB). Von dieser Regelverjährung gibt es jedoch folgende Ausnahmen: • Schadensersatzansprüche, die auf der Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen, verjähren in 30 Jahren von dem den Schaden auslösenden Ereignis an (§ 199 Abs. 2 BGB). • Sonstige Schadensersatzansprüche (z. B. wegen einer Eigentumsverletzung) verjähren bei fehlender Kenntnis der Umstände der Schädigung und der Person des Schädigers in 10 Jahren (§ 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB). • Liegen die Voraussetzungen der Entstehung eines Anspruchs nicht vor (z. B. bei Spätfolgen einer „unerlaubten Handlung“), so verjährt der Anspruch in 30 Jahren ab dem Zeitpunkt der Handlung (§ 199 Abs. 3 Nr. 2 BGB).

3.3.2 Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. 2 BGB § 823 Abs. 2 BGB erfasst auch solche Schäden, die nicht durch die Verletzung eines 627 in Abs. 1 aufgezählten Rechtsguts entstehen. Die Vorschrift knüpft stattdessen mit der Voraussetzung, dass ein Schutzgesetz verletzt sein muss, an ein rechtswidriges Verhalten des Täters an. Die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs nach §  823 Abs.  2 BGB sind: • • • •

Verstoß gegen ein Schutzgesetz, Rechtswidrigkeit, Verschulden, und der Schadenseintritt aufgrund des Verstoßes gegen das Schutzgesetz.

Ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB ist jede Rechtsnorm (Gesetz, Rechts- 628 verordnung oder Satzung), die in erster Linie die einzelne Person oder einzelne abgrenzbare Personenkreise vor einer Verletzung ihrer Rechte schützen soll. Solche Schutzgesetze sind etwa Vorschriften des Strafgesetzbuches (z. B. die Betrugstatbestände der §§  263  ff. StGB), aber auch Vorschriften der Arbeits- und Sozialordnung, des Jugend- und Mutterschutzes, des Arznei- und Lebensmittelrechts, des Bebauungsrechts, des Datenschutzes, des Straßenverkehrsrechts, des Wettbewerbsund Urheberrechts. Dient die Rechtsnorm dagegen nur dem Schutz der Allgemeinheit, kann sie kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB sein (z. B. DIN-Normen; Registerpflichten).

240

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Beispiel

Franjo F verleitet seinen Geschäftspartner G durch unwahre Angaben zu einem riskanten Rechtsgeschäft, welches diesem nur Verluste einbringt. Hier kann G nicht nach § 823 Abs. 1 BGB vorgehen, weil nicht das Eigentum, sondern nur das Vermögen des G verletzt ist. Stellt sich das Verhalten aber als strafbarer Betrug (§  263 StGB) dar, haftet F auf Schadensersatz gem. §  823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 263 StGB. ◄ Ein Schadensersatzanspruch nach §  823 Abs.  2 BGB ist nur dann begründet, wenn das in Betracht kommende Schutzgesetz in objektiver und in subjektiver Hinsicht verletzt ist. 630 Die Rechtswidrigkeit (zumeist indiziert) und das Verschulden müssen sich auf die Verletzung des Schutzgesetzes beziehen und nicht wie bei § 823 Abs. 1 BGB auf die Rechtsgutsverletzung. Dabei ist die Verschuldensform des Schutzgesetzes maßgebend, d. h. soweit beispielsweise zur Verletzung des Schutzgesetzes Vorsatz erforderlich ist, muss dieser Vorsatz auch bejaht werden können. 629

Beispiel

K sucht die B-Bank auf und stößt versehentlich Vitrine um. Die dort ausgestellten historischen Sparschweine gehen zu Bruch. Ein Anspruch der B-Bank gegen K ist nach § 823 Abs. 1 BGB begründet, weil K rechtswidrig und schuldhaft Eigentum der B-Bank verletzt hat. Dagegen scheidet ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 303 StGB (strafbare Sachbeschädigung) aus. Zwar schützt die Strafnorm das Eigentum der Bank gegen Beschädigungen und Zerstörung, aber die Sachbeschädigung muss nach § 303 StGB vorsätzlich begangen sein; Fahrlässigkeit reicht für § 303 StGB nicht aus. ◄ Hinsichtlich des geforderten Schadenseintritts sowie der Verbindung zwischen dem Verstoß gegen das Schutzgesetz und dem Schadenseintritt kann auf die Ausführungen zu § 823 Abs. 1 BGB verwiesen werden. 632 Auch hinsichtlich der möglichen Rechtsfolgen (Ansprüche, Haftung mehrerer und Verjährung) gilt das zu § 823 Abs. 1 BGB Gesagte entsprechend. 631

3.3.3 Ausgewählte Einzeltatbestände unerlaubter Handlung 633

3.3.3.1 Eingriffe in das Unternehmen Das Unternehmen wird in seiner wirtschaftlichen Entfaltung und in seinem Bestand gemäß §  823 Abs.  1  BGB vor widerrechtlichen Eingriffen geschützt. Das verfassungsmäßig garantierte Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit schließt z.  B. die Gewerbefreiheit mit ein. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist als sonstiges Recht i. S. v. § 823 Abs. 1 BGB anerkannt und steht den dort genannten absoluten Rechtsgütern gleich.

3.3  Unerlaubte Handlung

241

Der Schutz der wirtschaftlichen Betätigung bezieht sich dabei nicht nur auf Gebäude, Maschinen, Geräte, sämtliche Einrichtungsgegenstände und Waren, sondern auch auf die Geschäftsverbindungen mit Kunden, auf Lieferbeziehungen, auf die Firma, auf die eingeführten Werbemaßnahmen und auf sämtliche Außenstände. Der weite Schutz der unternehmerischen Tätigkeit schließt den Gewerbebetrieb in allen seinen Funktionen ein, ist aber nachrangig gegenüber speziellen Schutzbestimmungen des gewerblichen Rechtsschutzes (z.  B. des Patentgesetzes, des Markengesetzes) oder anderen Wirtschafts- und Wettbewerbsgesetzen. Um den Schutzbereich auf das Interesse des Bestandsschutzes am Unternehmen 634 sachgemäß einzugrenzen, lösen nur unmittelbare, betriebsbezogene Eingriffe die Rechtsfolgen des § 823 BGB aus. Ein Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb liegt deshalb nicht vor, wenn z.  B. die Zufahrt zum Unternehmensgrundstück durch Feuerwehrlöschzüge versperrt wird, wenn betriebsangehörige Gewerkschaftsmitglieder außerhalb der Arbeitszeit Informationsund Werbematerial der Gewerkschaften verteilen, wenn durch Stromkabelbeschädigung ein Energieausfall eintritt oder wenn die Fernsprechleitung unterbrochen wird. Vielmehr haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen zum Schutz des Rechts am Unternehmen herausgebildet, darunter u. a. Eingriffe zu Wettbewerbszwecken, Boykottaufforderungen, gewerbeschädigende Werturteile in den Medien durch unsachliche und herabsetzende Kritik, rechtswidrige Blockaden, die beispielsweise die Auslieferung einer Zeitung verhindern, und ähnliche gegen die betriebliche Tätigkeit gerichtete Verhaltensweisen. In den §§ 824 ff. BGB finden sich allerdings eine Reihe spezieller Anspruchs- 635 grundlagen, deren Zielrichtung auch dem Schutz der Unternehmen oder der unternehmerischen Tätigkeit dient und deren wirtschaftliche Bedeutung von unterschiedlichem Gehalt ist. Einige dieser Vorschriften sollen nachfolgend vorgestellt werden.

3.3.3.2 Grundstücks- und Gebäudehaftung Grundstücks- und Gebäudebesitzer haften, wenn infolge mangelhafter Unterhaltung 636 oder fehlerhafter Errichtung des Gebäudes infolge von Einsturz oder Ablösung von Gebäudeteilen (z. B. Dachziegel, Schornsteine, Balkongitter, Fensterläden) Personen- oder Sachschaden entstehen (§§  836–838  BGB). Die Schadensersatzpflicht tritt auch ein, wenn sich die Teile durch einen normalen Witterungseinfluss abgelöst haben. Der Besitzer kann sich allerdings entlasten, indem er nachweist, dass er die erforderliche Sorgfalt hat walten lassen, insbesondere den Zustand des Gebäudes in regelmäßigen Abständen geprüft hat oder durch eine zuverlässige Person hat prüfen lassen. Wer also ein Grundstück oder Gebäude anderen zugänglich macht, sei es gewerb- 637 lich oder privat, und vor allem, wer als Kaufmann oder Gastwirt Räume dem Publikumsverkehr öffnet, hat alle Vorkehrungen zu treffen, dass niemand durch den Zustand des Grundstücks oder Gebäudes zu Schaden kommen kann: Er hat ohnehin eine „allgemeine Verkehrssicherungspflicht“ (§ 823 Abs. 1 BGB), die im Rahmen der §§ 836 ff. BGB weiter konkretisiert wird. Verletzt er sie – zumeist durch Unterlassen – muss er für den entstandenen Schaden einzustehen.

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3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Beispiel

Auf den Treppen der Eingänge und auf den Privatwegen und sonstigen für den Kunden eines Geschäftslokals zugänglichen Flächen (z.  B.  Kundenparkplatz) hat der jeweilige Besitzer (Eigentümer, Mieter, Pächter) bei Eisglätte oder Schnee beispielsweise zu streuen. Ferner muss er Schneefelder auf Dächern beseitigen, wenn diese herunterzustürzen drohen und dabei Passanten gefährden könnten. Das sind zugleich auch allgemeine Verkehrssicherungspflichten, deren Nichtbeachtung eine Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB begründen können. Weitere Verkehrssicherungspflichten: Hausflure und Treppen sind ausreichend zu beleuchten; Fußböden dürfen nicht glatt gebohnert werden, gegebenenfalls ist ein Warnschild anzubringen; Läufer und Teppiche müssen so verlegt werden, dass niemand zu Fall kommen kann; Rolltreppen und Fahrstühle müssen regelmäßig gewartet und kontrolliert werden; Kellerlöcher und sonstige Gruben müssen sicher abgedeckt werden; Bauarbeiten – insbesondere während der Geschäftszeit – müssen in geeigneter Weise abgesichert sein. ◄ Falls ein Unternehmer – was in der Praxis durchaus häufiger vorkommt – einen Angestellten mit den notwendigen Vorkehrungen (Hausmeisterdiensten) betraut, verbleibt beim Unternehmer eine besondere Aufsichtspflicht. Er kann sich seiner allgemeinen Verkehrssicherungspflicht nicht vollständig dadurch entziehen, dass er den Aufgabenbereich auf einen Dritten delegiert. Vielmehr bleibt es bei einer „Restverpflichtung“, namentlich der Aufsichts- und Überwachungspflicht. Insofern werden ihm im Schadensfall Verletzungen seiner Aufsichts- und Überwachungspflicht als eigenes Verschulden zugerechnet: Eine Entlastung, er habe den Angestellten sorgfältig ausgewählt (Abschn. 3.3.3.5), kommt im Falle einer festgestellten Aufsichtspflichtverletzung nicht mehr in Betracht. Daneben statuiert § 838 BGB eine zusätzliche Haftung für denjenigen, der vom Gebäudebesitzer die Unterhaltungspflicht übernommen hat (z. B. Hausverwalter); zwischen beiden – Unternehmer und Hausverwalter – entsteht nach § 840 Abs. 1 BGB eine Gesamtschuld. Bei öffentlichen Straßen und öffentlichen Gebäude trifft die Verkehrssicherungs639 pflicht die Kommunen, die ihre Pflichten regelmäßig durch die Ortssatzungen auf die Anlieger oder Pächter übertragen haben. Allerdings bleiben auch die Kommunen weiter aufsichtspflichtig; Verletzungen der Überwachungspflicht können daher Schadensersatzansprüche aus § 839 BGB gegen die Kommunen auslösen. 638

640

3.3.3.3 Kreditgefährdung Nach § 824 BGB ist zum Schadensersatz verpflichtet, wer der Wahrheit zuwider vorsätzlich oder fahrlässig eine Tatsache behauptet oder verbreitet, die geeignet ist, den Kredit eines anderen zu gefährden oder sonstige Nachteile für dessen Fortkommen herbeizuführen. Der Tatbestand des §  824  BGB, der die wirtschaftliche Wertschätzung von Personen und Unternehmen schützt („Geschäftsehre“), erfasst sowohl die Kreditgefährdung als auch die Rufschädigung im geschäftlichen Ver-

3.3  Unerlaubte Handlung

243

kehr, die durch das Behaupten oder Verbreiten geschäftsschädigender Tatsachen ausgelöst wird. Es müssen Tatsachen behauptet werden. Sie sind im Gegensatz zu subjektiven 641 Werturteilen entweder wahr oder unwahr; sie sind einem Wahrheitsbeweis zugänglich. Ein Ersatzanspruch steht allerdings nur demjenigen zu, der von der Stoßrichtung 642 einer unrichtigen – nicht notwendigerweise ehrenrührigen – Aussage angesprochen bzw. betroffen ist, weil sich die behauptete Tatsache unmittelbar mit seiner Person, seinem Unternehmen oder seiner Tätigkeit befasst. Entscheidend ist dabei jedoch nicht die Auffassung des Erklärungsempfängers, sondern wie der Rechtsverkehr die Aussage verstehen durfte. §  824 BGB verpflichtet den Schädiger zum Ersatz sämtlicher Vermögens- 643 schäden, die auf der Kreditschädigung beruhen, sich also als Folge der Beeinträchtigung der Geschäftsbeziehungen des angeschwärzten Unternehmens darstellen. Dabei kann der Betroffene kann auch zur Selbsthilfe schreiten, d.  h. der Anschuldigung auf eigene Faust durch das Schalten von Anzeigen entgegentreten und anschließend die Kosten vom Erklärenden geltend machen. Schließlich kann der Betroffene verlangen, dass die Behauptung widerrufen und richtiggestellt wird. Beispiel

Der Unternehmer U wird vom Konkurrenten K wahrheitswidrig und wider bes- 644 seren Wissens bei dessen B-Bank denunziert, indem K behauptet, der U „bezahle seine Rechnungen seit Monaten nicht mehr und sei pleite“. Sofern die B-Bank daraufhin notwendige Kredite verweigert und das Unternehmen U wirtschaftlichen Schaden erleidet, könnte ein Schadensersatzanspruch gegen K auf § 824 BGB gestützt werden. ◄ Eine Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Mitteilende die Unwahrheit nicht kannte und an Mitteilung aus Sicht des Erklärenden ein berechtigtes Interesse bestand (§ 824 Abs. 2 BGB). Auf das Vorliegen des berechtigten Interesses Könnte sich z. B. ein Bankangestellter berufen, der im Rahmen seines Dienstverhältnisses Daten an andere Filialen derselben Bank weitergibt, aber auch der Journalist, der eigene Recherchen der Allgemeinheit mitteilt. Oftmals wird gerade an dieser Stelle eine Abwägung der involvierten Interessen und verfassungsrechtlich geschützten Güter erfolgen müssen (z. B. im Rahmen der Pressearbeit zwischen Art. 12, 14, 2 GG einerseits und des Art. 5 GG andererseits).

645

3.3.3.4 Vorsätzliche sittenwidrige Schädigung Eine wichtige Fallgruppe der unerlaubten Handlung im unternehmerischen Umfeld 646 ist die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB. Während im Vertragsrecht sittenwidrige Umstände bei Vertragsschluss die Nichtigkeit des jeweiligen Vertrages zur Folge haben (§ 138 BGB; Abschn. 1.6.3.5), können sittenwidrige Handlungen im sonstigen Rechtsverkehr die Rechtsfolge des Schadensersatzes nach sich, sofern die Voraussetzungen des § 826 BGB vorliegen:

244

• • • • 647

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

schädigende Handlung, Sittenwidrigkeit der schädigenden Handlung, Kausalität zwischen Sittenverstoß und Schaden, Verschulden.

Die Sittenwidrigkeit einer Handlung kann sich aus ihrem Inhalt, dem Gesamtcharakter, dem Zweck oder dem Beweggrund ergeben. Sie lässt sich jedenfalls nur anhand der Umstände des Einzelfalls bestimmen, weil sich die Verkehrsauffassung, die das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden maßgeblich prägt, im Laufe der Zeit verändert. Dennoch gibt es die Möglichkeit der Orientierung an den Fallgruppen, welche die Rechtsprechung in der Vergangenheit aus der Generalklausel des § 826 BGB heraus entwickelt hat. Sanktioniert wird z. B. das sittenwidrige Verhalten bei Vertragsschluss, was anzunehmen ist, wenn ein Vertragsteil durch eine arglistige Täuschung zum Abschluss eines für ihn schädigenden Vertrages veranlasst wird. In diesem Fall kann der Getäuschte nach § 826 i. V. m. § 249 BGB Befreiung von den sich aus dem Vertrag ergebenden Verbindlichkeiten geltend machen sowie Ersatz des Schadens verlangen, der z. B. dadurch entstanden ist, dass er ein günstigeres Angebot ausgeschlagen hat. Der Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB besteht unabhängig und neben einem Anfechtungsrecht nach §  123  BGB, was insbesondere bei Versäumung der Anfechtungsfrist (§ 124 BGB) von Bedeutung sein kann. Auch derjenige, der einen anderen bewusst dadurch schädigt, dass er ihm wissentlich eine falsche Auskunft erteilt, falsch informiert oder ihn falsch berät, handelt sittenwidrig i. S. d. § 826 BGB (z. B. unterbliebener Hinweis des Geschäftsführers einer GmbH auf die eingetretene Zahlungsunfähigkeit derselben). Wird eine Vertrauensstellung zu eigenen Gunsten missbraucht, kann sich daraus ebenfalls eine Schadensersatzpflicht nach § 826 BGB ableiten (z. B. Haftung von Gesellschaftern einer GmbH wegen existenzvernichtendem Eingriff Abschn. 7.2.7.2.1). Dabei kann auch gegen denjenigen ein Ersatzanspruch bestehen, der in Kenntnis des Vertrauensbruchs mit dem Schädiger zum eigenen Vorteil zusammenwirkt (kollusives Verhalten). Beispiel

Wird beispielsweise beim Vertragsschluss ein Vertragspartner dadurch geschädigt, dass dessen Vertreter und der andere Geschäftspartner ihn gemeinsam bewusst benachteiligen, dann kann der Geschädigte einen Anspruch nach § 826 BGB gegen beide geltend machen. ◄ Ebenso führt die sittenwidrige Beeinträchtigung fremder schuldrechtlicher Ansprüche zum Schadensersatz nach § 826 BGB. Hierzu gehört insbesondere die Verleitung zum Vertragsbruch, welcher auch im zuvor angesprochenen arglistigen Zusammenwirken realisiert werden kann, oder das Gewähren von Zuwendungen an Vertreter oder Organe des Vertragspartners, um eine Bevorzugung beim Abschluss

3.3  Unerlaubte Handlung

245

des Vertrages zu erreichen (Bestechung im geschäftlichen Verkehr, wobei es unerheblich ist, ob dadurch auch ein Tatbestand des § 299 StGB verwirklicht ist). Sittenwidrig kann schließlich auch derjenige handeln, der ein sittenwidriges Verhalten im Wettbewerb zutage treten lässt, weil er unter Missbrauch eines Monopols oder einer monopolartigen Stellung andere schädigt oder Mechanismen kreiert, die einen erheblichen Schaden im Markt herbeiführen (z. B. die Etablierung von Schneeballsystemen). Beispiel

Verlangt beispielsweise ein Energieversorgungsunternehmen von Kunden, die von seiner Belieferung abhängig sind, überhöhte Preise oder versucht, umstrittene Forderungen durch die Androhung einer Belieferungssperre durchzusetzen, dann macht es sich nach § 826 BGB schadensersatzpflichtig. ◄ Sofern der eingetretene Schaden adäquat auf den Sittenverstoß zurückzuführen 648 ist, liegt eine sittenwidrige Schädigung vor, die auch stets rechtswidrig ist. Deshalb erübrigt es sich auch, im Rahmen des §  826 BGB die Rechtswidrigkeit gesondert neben der Sittenwidrigkeit eines Verhaltens zu überprüfen. Der Schadensersatzanspruch des §  826 BGB setzt voraus, dass der Schädiger 649 vorsätzlich gehandelt hat. Der Vorsatz muss sich dabei auf die Handlung und auf den Schaden beziehen, d. h. der Schädiger muss ihn als mögliche Folge seines Verhaltens erkannt und für den Fall seines Eintritts billigend in Kauf genommen haben. Ferner verlangt die Rechtsprechung, dass der Schädiger die Tatumstände kennt, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt. Dagegen ist es nicht erforderlich, dass er den richtigen Schluss aus den Tatumständen zieht. Beispiel

Das Versorgungsunternehmen V hat offene Forderungen gegen A. Es ist der Auffassung, dass es Druck auf A ausüben dürfe, um den A zur Zahlung zu bewegen. Daher stellt es im Wissen um seine Monopolstellung die Versorgungsleistung für ein paar Tage ein. Hier handelt V vorsätzlich im Hinblick auf den Schadenseintritt bei A und es kennt die Tatumstände, die sein Handeln sittenwidrig machen (Monopolstellung und Nötigung des A). Nicht erforderlich ist es dagegen, dass V auch glaubt, ein sittenwidriges Verhalten auszuüben. Daher hätte der A einen Anspruch aus § 826 BGB, sofern er einen Schaden nachweisen kann. ◄ Hinsichtlich der möglichen Rechtsfolgen (Ersatzansprüche, Haftung mehrerer 650 und Verjährung) gilt das zu § 823 Abs. 1 BGB Gesagte entsprechend.

3.3.3.5 Haftung für den Verrichtungsgehilfen (Geschäftsherrnhaftung) Grundsätzlich ist jede Person nur für ihr eigenes Handeln verantwortlich. Da sich 651 aber Unternehmen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft zumeist einer Vielzahl von Hilfspersonen zur Verrichtung ihrer Tätigkeiten bedienen müssen, begründet § 831

246

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

Abs. 1 S. 1 BGB die Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn für das Verhalten der eingesetzten Verrichtungsgehilfen. Nach § 831 Abs. 1 S. 1 BGB haftet ein Unternehmer im Rahmen des Auswahl-, Überwachungs- und Organisationsverschuldens daher nicht nur für Schäden, die er selbst verursacht hat, sondern er muss auch für das Handeln seiner Verrichtungsgehilfen einstehen, d. h. für unerlaubte Handlungen die diese begehen. Dabei setzt die Schadensersatzpflicht des Geschäftsherrn voraus: • • • •

Handeln eines Verrichtungsgehilfe, Widerrechtliche Schädigung eines Dritten, in Ausführung der Verrichtung, keine Entlastung vom vermuteten Verschulden des Geschäftsherrn.

Verrichtungsgehilfe des Geschäftsherrn ist dabei jeder, den der Geschäftsherr entgeltlich oder unentgeltlich mit einer rein tatsächlichen oder rechtsgeschäftlichen Tätigkeit einfacher oder höherer Art betraut. Entscheidend ist die Abhängigkeit des Verrichtungsgehilfen von den Weisungen des Geschäftsherrn. Als Verrichtungsgehilfen gelten beispielsweise Arbeitnehmer, Auszubildende und sonstige sozial abhängige Personen. Dagegen gehören selbständige Unternehmer wie Vertragshändler, Kommissionäre, Franchisenehmer, Werkunternehmer, Frachtführer und Spediteure nicht zu den Verrichtungsgehilfen eines Unternehmers. Nach § 831 Abs. 1 S. 1 BGB ist der Schaden zu ersetzen, den der Verrichtungs653 gehilfe einem Dritten widerrechtlich zugefügt hat. Aus dem systematischen Standort dieser Vorschrift folgt, dass der Verrichtungsgehilfe den Schaden dadurch herbeigeführt haben muss, dass er den objektiven Tatbestand einer unerlaubten Handlung im Sinne der §§  823  ff.  BGB verwirklicht hat. Ferner ist erforderlich, dass der Verrichtungsgehilfe rechtswidrig gehandelt hat, wobei auch hier die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit indiziert. Ein Verschulden des Verrichtungsgehilfen ist dagegen nicht Haftungsvoraussetzung. Daher kann auch ein Geisteskranker und damit Deliktsunfähiger (§ 827 BGB) Verrichtungsgehilfe sein, für dessen Handlung der Geschäftsherr dann einzustehen hat. 654 Der Geschäftsherr haftet nur für eine unerlaubte Handlung seines Verrichtungsgehilfen (z.  B. aus §§  823, 824, 826 BGB), wenn sie in Ausführung der übertragenen Verrichtung begangen wurde. Dazu ist ein innerer Zusammenhang zwischen der übertragenen Verrichtung und der schädigenden Handlung erforderlich. Die tatbestandsmäßige Handlung darf also nicht nur bei Gelegenheit der Ausführung begangen worden sein. 652

Beispiel

Der Geldbote der Service GmbH wird mit den Tageseinnahmen einer Bäckerei-­ Filiale von seinem Geschäftsführer zur Bank geschickt. Unterschlägt der Bote einen Teil des Geldes, ist der Geschäftsführer der Service GmbH in der Haftung nach § 831 BGB, da die Unterschlagung bei Ausführung des B ­ otengangs erfolgt. Stiehlt der B allerdings auf dem Weg zur Bank ein Mountainbike, das am

3.3  Unerlaubte Handlung

247

Straßenrand steht, dann ist der Geschäftsherr für diesen Diebstahl nicht haftbar, denn der Diebstahl erfolgte nur bei Gelegenheit. ◄ Sind die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt, dann kommt es für die Haftung 655 des Geschäftsherrn weiter darauf an, ob ihm ein Sorgfaltsverstoß bei Auswahl, Ausrüstung, Anleitung und Überwachung des Verrichtungsgehilfen vorgeworfen werden kann (= Verschulden des Geschäftsherrn). Ein solcher Sorgfaltsverstoß, d. h. sein Verschulden, wird zunächst einmal vermutet. Allerdings kann sich der Geschäftsherr vom Verschuldensvorwurf entlasten. Ihm steht nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB die Möglichkeit zu, nachzuweisen, dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt bei Auswahl, Überwachung und Leitung beachtet hat oder der ihm vorgeworfene Sorgfaltsverstoß für die Schädigung überhaupt nicht ursächlich sein konnte (sog. Exkulpations- oder Entlastungsbeweis). Gelingt dem Geschäftsherrn dieser Nachweis des fehlenden Verschuldens, z.  B. weil er die Durchführung von Eignungsprüfungen, die sorgfältige Anleitung und Einweisung, die Aufstellung von Dienstanweisungen, Instruktionen und Belehrungen nachvollziehbar darlegen kann, entfällt der gegen ihn gerichtete Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung und damit der Schadensersatzanspruch für das rechtswidrige Handeln seiner Verrichtungsgehilfen. Beispiel

Gemeinhin gilt, je verantwortungsvoller und schwieriger die Tätigkeiten sind, umso größere Sorgfalt muss der Geschäftsherr bei der Auswahl der Verrichtungsgehilfen nachweisen. Auswahlentscheidungen müssen sich daher auf Nachweise zur Sachkunde, technischen Fertigkeiten und charakterlichen Eigenschaften, mitunter sogar auf Arbeitsproben zurückführen lassen. Das Überwachen erfordert eine fortdauernde planmäßige, ggf. auch unauffällige Überwachung mit unangemeldeten Kontrollen. ◄ Da der Geschäftsherr eines mittleren oder großen Unternehmens seine einzelnen 656 Arbeitnehmer gar nicht kennt oder kennen kann, kann der Entlastungsbeweis für ihn schwierig werden. Daher reicht in einem solchen Fall der sog. dezentralisierte Entlastungsbeweis aus, der schon durch den Nachweis erbracht ist, dass die Zwischenglieder des Unternehmens (etwa der Personalchef, der Abteilungsleiter usw.) sorgfältig ausgewählt und angewiesen worden sind. Der Entlastungsbeweis setzt freilich voraus, dass der Geschäftsherr seinen Be- 657 trieb auch so organisiert hat, dass eine sachgerechte und zuverlässige Auswahl und ständige Kontrolle aller Arbeitnehmer überhaupt gewährleistet ist. Eine Verletzung dieser Organisationspflicht, sog. Organisationspflichtverletzung (Organisationsfehler), macht den Geschäftsherrn im Falle einer Drittschädigung auch selbst, ohne die Möglichkeit eines Entlastungsbeweises, aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Unterlassen haftbar. Die Grenzen zwischen § 823 Abs. 1 BGB und § 831 Abs. 1 BGB sind insoweit fließend.

248

3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

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Abb. 3.4  Haftungstatbestände des Deliktsrechts

Im Falle mittlerer und großer Unternehmen, bei denen eine Pflichtendelegation in den Hierarchieebenen die Regel ist, stellt § 831 Abs. 2 BGB außerdem klar, dass auch diejenigen, die aufgrund vertraglicher Vereinbarung die den Geschäftsherrn nach § 831 Abs. 1 S. 1 BGB treffenden Pflichten zur Erfüllung übernommen haben, in gleicher Weise wie der Geschäftsherr verantwortlich sind. Die mit Leitungsfunktionen ausgestatteten Mitarbeiter des Geschäftsherrn haften somit auch selbst nach § 831 Abs. 1 BGB, wenn ihnen ein Sorgfaltsverstoß bei der Auswahl, Leitung und Überwachung der ihnen unterstellten Personen vorzuwerfen ist. Ergibt sich eine Haftung des Geschäftsherrn aus § 831 Abs. 1 BGB als auch eine 659 Haftung seiner Verrichtungsgehilfen/Mitarbeiter aus § 831 Abs. 1 BGB oder § 831 Abs.  2  BGB, so haften die Verantwortlichen als Gesamtschuldner (§§  840 Abs. 1, 421 BGB), d. h. der Geschädigte kann sich aussuchen, von wem er den Ersatz ganz oder teilweise verlangt. Im Innenverhältnis erfolgt anschließend ein Ausgleich nach §§ 426, 840 Abs. 2 BGB. Kann sich der Geschäftsherr nicht exkulpieren, hat er dem Geschädigten den 660 Schaden zu ersetzen, den ihm der Verrichtungsgehilfe beigefügt hat. Zu ersetzen sind dabei alle Nachteile, die durch die unerlaubte Handlung des Verrichtungsgehilfen entstanden sind, einschließlich des entgangenen Gewinns, §§ 249 ff. BGB. Bezüglich der Verjährung gilt das zu § 823 Abs. 1 BGB Gesagte entsprechend. Zusammenfassend und abschließend zeigt Abb.  3.4 einen Überblick über die 661 wichtigsten Haftungstatbestände des Deliktsrechts. 658

Fragen

8. Wird durch § 823 Abs. 1 BGB das Vermögen geschützt? 9. Beschreiben Sie den objektiven Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB! 10. Was versteht man unter einem Schutzgesetz? 11. Bankkunde K rutscht in der frisch gebohnerten Schalterhalle der B-Bank aus und bricht sich den Arm. Wer haftet für den Schaden?

3.4  Lösungen zu den Fragen: Gesetzliche Schuldverhältnisse

249

12. L ist Eigentümer eines alten unsignierten Ölgemäldes. Er möchte das Bild verkaufen. Er wendet sich daher an den Kunstsachverständigen T und bittet ihn um eine Expertise. T erklärt L, dass das Bild Anfang des 19. Jahrhunderts gemalt sei und sein Wert allenfalls 3000 EUR betrage. Er sei aber bereit, dem L ein Gutachten zu erstatten, in dem er das Bild als Arbeit eines holländischen Malers des 17. Jahrhunderts bezeichne und die Vermutung äußere, es könne von Aart van der Neer stammen. L müsste dafür aber 5000 EUR zahlen. So geschieht es. L verkauft das Bild an K, der sich auf die Richtigkeit der Expertise verlässt und deshalb den geforderten Preis von 25.000 EUR zahlt. Als nach zwei Jahren von einem anderen Sachverständigen die Unrichtigkeit der Expertise festgestellt wird, verlangt K von T Ersatz seines Schadens. Zu Recht?

3.4

 ösungen zu den Fragen: L Gesetzliche Schuldverhältnisse

1. Ein Anspruch des A auf Ersatz der ihm entstandenen Kosten kann auf § 683 S. 1 BGB i. V. m. § 670 BGB gestützt werden, wenn die Voraussetzungen einer berechtigten GoA erfüllt sind. Der Begriff der Geschäftsbesorgung ist im weitesten Sinne zu verstehen. Auch das Zur-Verfügung-Stellen von Decken und Verbandszeug genügt hierfür. Da es sich um ein Geschäft des B handelt, also um ein für A fremdes Geschäft, und er auch ohne ein besonderes Geschäftsbesorgungsverhältnis oder aufgrund einer sonstigen Berechtigung tätig wird, und weil ein Fremdgeschäftsführungswille anzunehmen ist und die Geschäftsführung auch dem Interesse und zumindest dem mutmaßlichen Willen des B entspricht, steht dem A ein entsprechender Ersatzanspruch zu. 2. Eine Geschäftsführung ist berechtigt, wenn sie dem wirklichen Willen des Geschäftsherrn entspricht. Nur in den Fällen des § 679 BGB ist ein entgegenstehender Wille des Geschäftsherrn unbeachtlich. Ist der wirkliche Wille des Geschäftsherrn nicht feststellbar, dann kommt es auf den mutmaßlichen Willen an. Es ist danach zu fragen, ob ein vernünftiger Geschäftsherr bei Berücksichtigung aller Umstände und seiner besonderen Lage die Geschäftsführung gewollt hätte. Im Regelfall stimmt der mutmaßliche Wille mit dem objektiven Interesse des Geschäftsherrn überein. Bei einer berechtigten GoA entsteht zwischen dem Geschäftsherrn und dem Geschäftsführer eine auftragsähnliche Rechtsbeziehung, die einen Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in Rechtsgüter des Geschäftsherrn und einen Rechtsgrund für Vermögensverschiebungen schafft, die ferner dem Geschäftsführer Pflichten nach § 677 BGB und § 681 BGB auferlegt und ihm einen Anspruch nach § 683 BGB auf Ersatz seiner Aufwendungen in gleicher Wiese wie einem Beauftragten gewährt. 3. A konnte den Auftrag zur Reparatur erteilen. Hier liegen die Voraussetzungen der GoA vor: A hat den Willen zur Fremdgeschäftsführung. Es entspricht

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3  Gesetzliche Schuldverhältnisse

auch dem mutmaßlichen Willen des Fahrzeughalters (Geschäftsherrn), dass sein Fahrzeug vor weiteren Schäden beschützt wird. A erhält die Reparaturkosten erstattet §§ 677, 683 Satz 1 BGB. 4. Nach herrschender Meinung ist als Leistung die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens anzusehen. Durch eine genaue begriffliche Abgrenzung soll erreicht werden, dass Gläubiger und Schuldner der ungerechtfertigten Bereicherung genau bestimmt werden. Denn der dabei durchzuführende Ausgleich ist nach herrschender Meinung nur innerhalb der jeweiligen Leistungsbeziehungen vorzunehmen. 5. Der Bereicherte muss durch eine Handlung, die keine Leistung des Entreicherten darstellt, einen Vermögensvorteil erlangt haben, der nach dem Recht der Güterzuordnung nicht ihm, sondern dem Entreicherten gebührt – also nicht auf einem Rechtsgrund beruht. 6. Frau K kann ihren Anspruch auf Rückzahlung auf § 812 Abs. 1 S. 1, Alt. 1 BGB stützen. Ein gleicher Anspruch steht auch V auf Rückgabe der Katze zu. Jedoch kann sich die K diesem Anspruch gegenüber auf Wegfall der Bereicherung berufen (§ 818 Abs. 3 BGB); die Katze ist entlaufen. Bleibt man bei diesem Ergebnis stehen, könnte die K den Kaufpreis zurückfordern und der H ginge leer aus. Eine derart isolierte Betrachtung der Bereicherungsansprüche bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung fehlgeschlagener gegenseitiger Verträge wird von der Saldotheorie abgelehnt. In Fällen, in denen eine Partei nicht mehr zur Rückgewähr der von ihr empfangenen Leistung imstande ist, will die Saldotheorie den Wert der hingegebenen (aber nicht mehr vorhandenen) Gegenleistung bei der Kondiktion der eigenen Leistung als Abzugsposten in Rechnung stellen. Dem entsprechend geht der Bereicherungsanspruch der K nur auf den Saldo beider Bereicherungsansprüche; ist die Katze den Kaufpreis wert gewesen, kann die K nach der Saldotheorie überhaupt nichts fordern. Im Falle, dass die K nicht geschäftsfähig ist, soll die Saldotheorie allerdings nicht gelten, da diese die Schutzvorschriften der §§ 104 ff. BGB zulasten der Geschäftsunfähigen bzw. beschränkt Geschäftsfähigen außer Kraft setzen würde; die K könnte, soweit sie geschäftsunfähig ist, die Rückzahlung des vollen Kaufpreises verlangen. 7. Die B-Bank hatte durch stille Zession die Forderung wirksam erworben. Damit hat K als Nichtberechtigter bei der Abtretung an S gehandelt. Da aber ein gutgläubiger Erwerb von Forderungen nicht möglich ist, ist die B-Bank Gläubigerin der Forderung geblieben. S hat aber die fällige Forderung eingezogen und gemäß § 407 Abs. 1 BGB hat D befreiend geleistet, sodass die B-Bank keinen Anspruch gegen D hat. S hat aber als Nichtberechtigte (auf ihre Gutgläubigkeit kommt es nicht an) über die Forderung verfügt. Sie ist auch um den Gegenwert bereichert. Da die Abtretung zugunsten von S nichtig war, hat S das „Geld“ auch rechtsgrundlos erhalten. Die B-Bank hat daher einen Herausgabeanspruch aus § 816 Abs. 1 BGB gegen S.

3.4  Lösungen zu den Fragen: Gesetzliche Schuldverhältnisse











251

8. Das Vermögen selbst gehört nicht zu den in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtspositionen. Ein mittelbarer Schutz des Vermögens ergibt sich allerdings daraus, dass bei Verletzung der durch diese Vorschriften geschützten Rechtsgüter und Rechte der Schädiger verpflichtet ist, sämtliche sich daraus ergebende vermögensmäßigen Einbußen des Geschädigten zu ersetzen, sofern sie noch vom Schutzbereich der Norm umfasst werden. Ein Vermögensschutz wird ferner von § 823 Abs. 2 BGB erreicht, der die Verletzung von Schutzgesetzen, die den reinen Vermögensinteressen des Einzelnen dienen, schadensersatzpflichtig macht. 9. Der objektive Tatbestand einer unerlaubten Handlung setzt sich aus folgenden Elementen zusammen: Eine menschliche Handlung verursacht (haftungsbegründende Kausalität) die Verletzung einer geschützten Rechtsposition, durch die (haftungsausfüllende Kausalität) ein vom Schutzbereich der Haftungsnorm umfasster Schaden herbeigeführt wird. 10. Ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB ist jede Rechtsnorm (Gesetz, Rechtsverordnung oder Satzung), die in erster Linie die einzelne Person oder einzelne abgrenzbare Personenkreise vor einer Verletzung ihrer Rechte schützen soll. 11. Die B-Bank hat den Schaden des K zu ersetzen, da sie tatbestandsmäßig i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB handelte und dadurch die Verletzung des K herbeiführte. Die B-Bank hat es pflichtwidrig unterlassen, auf die Gefahr in der Schalterhalle (rutschiger Boden) hinzuweisen; sie hat ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. K ist am Körper verletzt, d. h.an einem absoluten Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB. Zwischen der Verletzung und dem Unterlassen der B-Bank besteht auch Kausalität. Ferner gibt es keinen rechtfertigenden Grund zur Verletzung des K. Und die B-Bank hat die Gefahrenquelle auch zu verantworten, weil sie die gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen hat; Fahrlässigkeit ist gegeben. Neben dieser deliktischen, kommt auch eine Haftung aus einer Nebenpflichtverletzung aus § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB (culpa in contrahendo) in Betracht. 12. Der Schadensersatzanspruch des K kann auf § 826 BGB gestützt werden. Wer wissentlich ein falsches Gutachten erstattet, um einen anderen zu täuschen, handelt sittenwidrig. Die sittenwidrige Schädigung des T hat einen Schaden des K verursacht, denn dieser hätte das Bild ohne die falsche Expertise nicht zu dem geforderten Preis gekauft. T hat vorsätzlich gehandelt. Er wusste, dass das Gutachten dazu dienen sollte, einen Käufer des Bildes zu täuschen. Er hat zu diesem Zweck das Gutachten erstattet. Er hat deshalb gewusst und gewollt, dass einem Käufer des Bildes ein Vermögensschaden zugefügt wird. Da T auch alle Umstände kannte, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt, sind die subjektiven Anforderungen des §  826 BGB erfüllt. Folglich ist T verpflichtet, den Schaden des K zu ersetzen.

4

Grundzüge des Sachenrechts

Das Sachenrecht des BGB ist in den §§ 854 bis 1296 BGB geregelt und befasst sich 662 mit den dinglichen Rechten wie dem Eigentum oder dem Besitz. Im Unterschied zum Recht der Schuldverhältnisse, welches die Rechtsbeziehung zwischen Personen begleitet und ausgestaltet, regelt das Sachenrecht die Beziehung zwischen einer Person als dem Inhaber des dinglichen Rechts, und der Sache selbst (z. B. Befugnisse an der Sache) sowie den Erwerb, den Verlust oder die Veränderung von dinglichen Rechten (z. B. die Übertragung des Eigentums, Verlust von Sachen). In diesem Kapitel werden Sie die Grundlagen des Sachenrechts kennen lernen, insbesondere • was man unter Eigentum und Besitz zu verstehen hat, • wie Eigentum und Besitz übertragen und belastet werden kann, • wie sich die Übertragung beweglicher Sachen von der Übertragung unbeweglicher Sachen unterscheidet und • wie der Eigentumsschutz ausgestaltet ist. Das Sachenrecht regelt die Rechte an unbeweglichen (Immobilien, Grund- 663 stücke) und an beweglichen Sachen (alle sonstigen körperlichen Gegenstände). In rechtlicher Hinsicht ist jeder körperliche Gegenstand eine bewegliche Sache. Eine Ware oder eine Maschine beispielsweise gilt als einzelne bewegliche Sache und ein Warenlager oder eine Produktionsanlage als Sachgesamtheit, die aus einzelnen beweglichen Sachen besteht. Gebäude sind dagegen Bestandteile eines Grundstücks und deshalb unbewegliche Sachen, vgl. §§ 90 ff. BGB. Der zentrale Begriff des Sachenrechts ist das Eigentum. Das Eigentum ist die 664 umfassendste Zuordnung einer Sache zum Vermögen eines Rechtssubjekts (Personen oder Personen- und Kapitalgesellschaften). Es beinhaltet ein unbeschränktes dingliches Beherrschungsrecht im Sinne eines absoluten, gegenüber jedermann wirkenden Rechts an einer Sache. Während im Schuldrecht relative Rechte entstehen, die nur im Rechtsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner eines Anspruchs © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_4

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4  Grundzüge des Sachenrechts

gelten, kann der Eigentümer als Inhaber eines absoluten Herrschaftsrechts jeder anderen Person gegenüber Schutz beanspruchen. • Der Eigentümer einer Sache kann mit ihr nach Belieben verfahren und andere Personen von jeder Einwirkung ausschließen (§ 903 S. 1 BGB). • Dem Eigentümer steht ein gesetzlicher Herausgabeanspruch zu, sodass er jederzeit die Herausgabe der Sache von dem Besitzer verlangen kann (§ 985 BGB). • Der Eigentümer hat bei Beeinträchtigungen seines Eigentums einen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch (§§ 1004, 823 BGB). • Der Eigentümer hat die Verfügungsbefugnis über sein Eigentum, d. h. er kann es mit Rechten belasten (Hypothek oder Grundschuld) oder das Eigentum an einer Sache auf einen Erwerber übertragen. Eine Verfügung über das Eigentum kann sowohl zu Lebzeiten erfolgen als auch von Todes wegen durch Testament. Aus wirtschaftlicher Sicht kann der Eigentümer vor allem Nutzungen aus der Sache ziehen, indem er sie verwertet, z. B. durch Belastung eines Grundstücks zum Zweck der Kreditbeschaffung, durch Bestellung eines Pfandrechts an einer beweglichen Sache zu Sicherungszwecken (Abschn. 2.5.4) oder durch entgeltliche Gebrauchsüberlassung im Wege eines Miet- oder Pachtvertrages (Abschn.  2.3.3 und 2.3.4). Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG schützt den Bestand des Privateigentums in den Grenzen der Sozialbindung (Art. 14 Abs. 2 GG „Wohl der Allgemeinheit“). Daher können Raumordnungs-, Flächennutzungs- und Baubestimmungen ebenso einschränkend wirken, wie der Natur-, Immissions- und Denkmalschutz, Verfügungsbeschränkungen bei Grundstücken, Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer hinsichtlich des Eigentums an Produktionsmitteln, Gemeingebrauch an öffentlichen Wegen, Gewässern, Waldbeständen und ähnliche Interessen. Die Schranken des Eigentums folgen aus dem Sozialstaatsprinzip, aus dem Schutz fremder Rechte und aus rechtsgeschäftlichen Vereinbarungen.

4.1

Eigentum und Besitz

Die Trennung von Eigentum und Besitz wird im Rahmen des sachenrechtlichen Herausgabeanspruchs nach §  985 BGB am offensichtlichsten. Danach kann der Eigentümer vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen, wobei sich der sachenrechtliche (oder dingliche) Herausgabeanspruch des Eigentümers  – im Unterschied zu einem schuldrechtlichen Herausgabeanspruch  – gegen jeden Besitzer der Sache richtet. 666 Eigentümer ist derjenige, dem die bewegliche oder unbewegliche Sache rechtlich zugeordnet ist und der infolgedessen das absolute Herrschaftsrecht über die Sache ausüben kann (§ 903 BGB). Dabei erstreckt sich das Eigentum auch auf die wesentlichen Bestandteile einer Sache im Sinne der §§  93  ff. BGB.  Bei Grundstücken ist auch der Erd- und Luftraum mit umfasst (§ 905 BGB). 665

4.1  Eigentum und Besitz

255

Es gibt verschiedene Erscheinungsformen von Eigentum. Alleineigentum liegt vor, wenn eine Sache nur einer Person gehört. Am Miteigentum sind mehrere beteiligt, wobei zwischen dem Miteigentum nach Bruchteilen (Bruchteilseigentum) und dem Gesamthandseigentum differenziert werden kann. • Bruchteilseigentum liegt vor, wenn jedem Miteigentümer ein bestimmter Bruchteil an der Sache als eigenständiges dingliches Recht im Sinne eines ideellen Anteils zusteht (z.  B. die Landwirte eines Dorfes erwerben zusammen einen Traktor); die Miteigentümer bilden sodann eine „Gemeinschaft nach Bruchteilen“ (§§ 1008 ff., 741 ff. BGB). • Gesamthandseigentum ist anzunehmen, wenn die „Anteile“ der Einzelnen an die Gesamthand gebunden sind, der Einzelne  über seinen Anteil an der Sache nicht  selbständig und frei verfügen kann. Gesamthänderisch gebunden ist das Vermögen der Personengesellschaften (§ 719 Abs. 1 BGB), der ehelichen Gütergemeinschaft (§ 1419 Abs. 1 BGB) und der Miterbengemeinschaft (§ 2032 BGB). Besitzer ist derjenige, der die tatsächliche Herrschaft über die Sache ausübt 667 (§ 854 Abs. 1 BGB), wobei die den Besitz begründende Sachherrschaft durchaus unterschiedliche Intensität haben kann und Eigentum und Besitz auch nicht notwendig zusammen fallen müssen. Beispiel

E ist Eigentümer eines Motorrads. Er vermietet seine Maschine an B für die Dauer von zwei Monaten. B erlangt den unmittelbaren Besitz am Motorrad durch die Übergabe, ohne dass das Eigentum des E berührt wird. Nach Ablauf der vereinbarten Frist hat E einen schuldrechtlichen Rückgabeanspruch gegen den Mieter B aus dem Mietvertrag nach § 546 Abs. 1 BGB und einen sachenrechtlichen Herausgabeanspruch gemäß § 985 BGB gegen den Besitzer B. Die Herausgabeansprüche des E als Vermieter und Eigentümer des Fahrzeugs folgen sowohl aus dem Schuldrecht und dem Sachenrecht, richten sich aber mitunter gegen verschiedene Personen: Zwar richtet sich der mietrechtliche Anspruch auf Herausgabe der Mietsache ausschließlich gegen den Mieter. Allerdings kann der sachenrechtliche Herausgabeanspruch aus dem Eigentum auch anderen, nämlich jedem – berechtigten oder unberechtigten – Besitzer der Sache gegenüber geltend gemacht werden. Sofern der B das Motorrad verliehen hätte oder es ihm gestohlen worden wäre, wäre der mietrechtliche Rückgabeanspruch des E gegen B sinnlos, weil sich der Mieter B nicht mehr im Besitz des Motorrads befindet, es nicht herausgeben kann. Dagegen bleibt der sachenrechtliche Herausgabeanspruch gegenüber jedem Besitzer des Fahrzeugs erhalten, also auch gegen den Entleiher oder den Dieb des Motorrads. Selbst wenn der Dieb das Fahrzeug inzwischen an einen Dritten weiterveräußert hätte, könnte E von dem Dritten das Fahrzeug herausverlangen, weil ein gutgläubiger Erwerb an gestohlenen Sachen ausgeschlossen ist (§ 935 BGB). ◄

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4  Grundzüge des Sachenrechts

Der Eigentümer kann gleichzeitig auch im Besitz der Sache sein, indem er die tatsächliche Sachherrschaft darüber ausübt; er ist dann unmittelbarer Besitzer der Sache (§ 854 Abs. 1 BGB) und, da er die Sache außerdem als ihm gehörend besitzt, zugleich Eigenbesitzer (§ 872 BGB). Sofern der Eigentümer aber den Gebrauch an der Sache einem anderen überlässt, z.  B. aufgrund eines Miet-, Leih- oder Leasingvertrags, wird der Vertragspartner unmittelbarer Besitzer der Sache, der sein Besitzrecht jetzt für den Eigentümer ­ausübt und daher Fremdbesitzer ist. Da sich sein Besitzrecht allerdings vom Eigentümer ableitet, bleibt der Eigentümer weiter mittelbarer Besitzer der Sache; er kann zumindest mittelbar auf die Sache einwirken. Dabei gestaltet das sog. Besitzmittlungsverhältnis (§ 868 BGB), als das Rechtsverhältnis, aufgrund dessen eine Person auf Zeit vom Eigentümer zum unmittelbaren Besitz berechtigt oder verpflichtet wird (z.  B. das Miet-, Pacht- oder Leasingverhältnis), das Besitzrecht weiter aus. Beispiel

Bei einem Mietverhältnis ist der Mieter unmittelbarer (Fremd-)Besitzer, der Vermieter mittelbarer (Eigen-)Besitzer. Der Mietvertrag ist das Besitzmittlungsverhältnis, der den Mieter zur Ausübung des Besitzes auf Zeit berechtigt und ihn zur Rückgabe der Mietsache mit Ablauf der Mietzeit verpflichtet. ◄ Je nachdem, ob der Besitzer alleine oder nur zusammen mit anderen die Sachherrschaft ausüben kann, unterscheidet man zwischen Allein-, Mit- und Teilbesitz. Während der Alleinbesitzer die tatsächliche Gewalt über die Sache alleine innehat, üben bei einem Mitbesitz mehrere Personen die Sachherrschaft gemeinschaftlich aus (§ 866 BGB). Bezieht sich ihr Besitzrecht nur auf einen Teil der Sache, liegt ein Teilbesitz vor (§ 865 BGB). Auch ein Besitzdiener übt die tatsächliche Gewalt über eine Sache aus, doch befindet er sich zu dem Eigentümer/Besitzer in einem Abhängigkeitsverhältnis; er ist weisungsgebunden. So ist z. B. der Arbeitnehmer Besitzdiener des Arbeitgebers, der Auftragnehmer ist Besitzdiener des Auftraggebers und der Hausverwalter ist Besitzdiener des Hauseigentümers (§ 855 BGB). 668 Ein Eigentümer soll möglichst uneingeschränkt über sein Eigentum verfügen bzw. mit ihm verfahren dürfen, selbst dann, wenn er sich nicht mehr im unmittelbaren Besitz der Sache befindet, sondern ein Dritter die Sachherrschaft ausübt. Hierfür steht dem Eigentümer der Herausgabeanspruch nach § 985 BGB zu, welcher dem Eigentümer das Recht einräumt, vom unrechtmäßigen Besitzer die Herausgabe der Sache zu verlangen (Abschn. 4.5.1). Beispiel

Der Wohnungseigentümer E kann z.  B. sein Eigentum an der Wohnung unbeschadet eines bestehenden Mietverhältnisses an einen Erwerber veräußern und darüber verfügen.

4.2  Bewegliche Sachen

257

Der Erwerber tritt als neuer Wohnungseigentümer an die Stelle des bisherigen Eigentümers mit der Folge, dass ihm bei Beendigung des Mietverhältnisses neben dem schuldrechtlichen Rückgabeanspruch (§ 546 Abs. 1 BGB) auch der sachenrechtliche Herausgabeanspruch nach §  985  BGB zusteht. Dauert das Mietverhältnis noch an, kann der Mieter dem Herausgabebegehren sein Recht zum Besitz (§§ 986, 566 BGB „Kauf bricht Miete nicht“) entgegen halten. ◄ Unberechtigte Beeinträchtigungen seines Eigentums soll der Eigentümer ebenso wenig hinnehmen müssen, weshalb der Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch aus § 1004 BGB sicher stellt, dass der Eigentümer rechtswidrige Störungen seines Eigentums unterbinden kann (§§ 1004 Abs. 1, 906 BGB; Abschn. 4.5.2). Nicht nur dem Eigentümer steht das Recht zu, seine sachenrechtliche Position zu 669 schützen, sondern auch der Besitzer kann nach § 859 BGB Störungen seines Besitzrechtes, insbesondere die durch „verbotene Eigenmacht“ abwehren (sog. Besitzwehr) bzw. seinen widerrechtlich entzogenen Besitz wieder zurückholen (sog. Besitzkehr).

4.2

Bewegliche Sachen

4.2.1 Eigentumsübertragung durch Rechtsgeschäft Wenn jemand eine bewegliche Sache gekauft hat, muss ihm der Verkäufer in Er- 670 füllung des abgeschlossenen Kaufvertrages das Eigentum an der Sache verschaffen (§  433 Abs.  1 S.  1 BGB). Die rechtsgeschäftliche Eigentumsübertragung erfolgt dabei nicht schon mit Abschluss des Kaufvertrages, sondern erst durch ein abstraktes Verfügungsgeschäft, dessen Wirksamkeit von dem schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäft unabhängig ist (= Abstraktionsprinzip). Sofern das Eigentum an unbeweglichen Sachen (Grundstücke) übertragen wer- 671 den soll, geschieht dies durch Einigung und Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch (§ 873 BGB; Abschn. 4.3). Die Übertragung des Eigentums an beweglichen Sachen erfolgt nach den Vor- 672 schriften der §§ 929 ff. BGB. Danach sind drei Möglichkeiten der rechtsgeschäftlichen Eigentumsübertragung gegeben: • Einigung und Übergabe der Sache nach § 929 BGB, • Einigung und Vereinbarung eines Besitzkonstituts nach § 930 BGB, • Einigung und Abtretung des Herausgabeanspruchs nach § 931 BGB. Voraussetzung für einen Eigentumserwerb nach diesen Vorschriften ist die Be- 673 rechtigung des Verfügenden. Das bedeutet, dass der Verfügende, z.  B. der Veräußerer selbst Eigentümer sein muss oder vom Eigentümer zur Übertragung des Eigentums ermächtigt wurde (§ 185 BGB). Bei jeder Form der Eigentumsübertragung ist eine Einigung zwischen Ver- 674 äußerer und Erwerber erforderlich, dass das Eigentum übergehen soll, d. h. eine

258

4  Grundzüge des Sachenrechts

Änderung der rechtlichen Zuordnung der Sache erfolgen soll. Obwohl die sachenrechtliche (dingliche) Einigung in der Praxis meist mit der Vereinbarung eines schuldrechtlichen Vertrages zusammenfällt, also stillschweigend und zeitgleich mit dem Abschluss z.  B. eines Kaufvertrages erfolgt, ist sie rechtlich von dem Verpflichtungsgeschäft unabhängig. Dem Abstraktionsprinzip, das diese Unabhängigkeit von Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäft umschreibt, kommt insbesondere dann Bedeutung zu, wenn das Verpflichtungsgeschäft unwirksam wird. Die sachenrechtliche Einigung setzt sich aus mindestens zwei übereinstimmenden Willenserklärungen zusammen, die auf den Eigentumsübergang gerichtet sind und den allgemeinen Regeln zur Wirksamkeit von Willenserklärungen unterliegen (§§ 104 ff. BGB); eine Stellvertretung nach §§ 164 ff. BGB ist ebenso zulässig (Abschn. 1.6.2 und 1.6.3). Wichtig ist darüber hinaus, dass die Einigung hinreichend bestimmt ist. Man kann sich zwar wirksam verpflichten, z. B. sein Geschäft (Unternehmen, Landgut, Bücherei usw.) einem anderen zu veräußern, ohne die einzelnen Gegenstände aufzuzählen. Insofern genügt, wenn über das Objekt des Verpflichtungsgeschäfts zwischen den Beteiligten Übereinstimmung besteht. Da aber dingliche Rechte – wie z. B. das Eigentum – nur an bestimmten einzelnen Sachen möglich sind, muss sich die Einigung nach §§ 929 ff. BGB auch darauf beziehen. Dies bedeutet, dass für einen objektiven Dritten eindeutig erkennbar sein muss, auf welchen Gegenstand sich die Einigung erstreckt. Bei der Übereignung erst künftig zu erwerbender Sachen ist es daher erforderlich, dass bereits zum Zeitpunkt der Einigung feststeht, um welchen Gegenstand es sich handeln soll. Beispiel

Die Einigung ist bestimmt, wenn die Gegenstände einzeln, z. B. in (Inventur-) Listen und Aufstellungen benannt werden. Wenn Sachgesamtheiten (z. B. Warenlager, Unternehmen) übereignet werden sollen, müssen die einzelnen betroffenen Sachen individuell bezeichnet werden oder klar abgrenzbar sein (z. B. in einem bestimmten Raum). Jedenfalls ist die Einigung nicht hinreichend bestimmt, wenn nur ein bestimmter Prozentsatz („20%“) oder „die Hälfte“ eines Warenlagers übereignet wird. ◄ Neben der Einigung bedarf es eines tatsächlichen Übertragungsaktes, der den im Gesetz angelegten Möglichkeiten aus §§ 929 (Übergabe), 930 (Besitzkonstitut) oder 931 BGB (Abtretung des Herausgabeanspruchs) folgt. 676 In der Regel findet eine besitzwechselnde Übergabe der beweglichen Sache vom Veräußerer an den Erwerber oder seinen Besitzdiener statt (§ 929 S. 1 BGB), so dass dieser die tatsächliche Sachherrschaft über den körperlichen Gegenstand erlangt (§ 854 BGB)(Abb. 4.1). Ist der Erwerber bereits im Besitz der Sache, so genügt zur Übertragung des Eigentums nach § 929 S. 2 BGB die bloße (nachfolgende) Einigung („Übereignung kurzer Hand“). Nicht notwendig ist, dass der Veräußerer dem Erwerber den unmittelbaren Besitz eigenhändig verschafft. Es genügt vielmehr, dass die Übergabe auf Weisung des 675

4.2  Bewegliche Sachen

259

Eigentumsübertragung nach § 929 BGB

Veräußerer

Erwerber Einigung und

verliert den Besitz und das Eigentum an der Sache

Übergabe der Sache

wird unmittelbarer Besitzer und Eigentümer der Sache

Abb. 4.1  Eigentumsübertragung nach § 929 BGB

Veräußerers durch dritte Personen oder im Einverständnis des Erwerbers an dritte Personen bewirkt wird. Solche Personen, die nicht (abhängige) Besitzdiener sein müssen, sondern (selbständige) Vertragspartner sein können, nennt man, weil sie auf Weisung des Veräußerers oder Erwerbers in den Übereignungsvorgang eingeschaltet werden „Geheißpersonen“. Die im Handelsverkehr übliche Lieferung durch oder an sog. Geheißpersonen ist folglich die Verschaffung des unmittelbaren Besitzes i. S. des § 929 S. 1 BGB. Sofern die Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache durch Eini- 677 gung und Vereinbarung eines Besitzkonstituts (Besitzmittlungsverhältnisses) erfolgen soll, erlangt der Erwerber das Eigentum und (nur) den mittelbaren Besitz an der Sache, während der Veräußerer (als sog. Fremdbesitzer) den unmittelbaren Besitz behält (§ 868 BGB) (Abb. 4.2). Durch die Regelung des § 930 BGB wird es erst ermöglicht, dass der Veräußerer eine Sache übereignen, aber dennoch weiter im Besitz behalten kann. Hauptfall dieser Eigentumsübertragungsform ist die Sicherungsübereignung, d.  h. die Übereignung zur Besicherung eines Anspruchs (z. B. eines Rückzahlungsanspruch aus einem Darlehensvertrag; Abschn. 2.4.5). Die Vereinbarung eines Besitzmittlungsverhältnisses muss sich stets auf ein konkretes Rechtsverhältnis erstrecken, nach welchem der Besitzmittler von Gesetzes wegen „für einen anderen besitzt“. Derartige Rechtsverhältnisse sind u.  a. Nießbrauch, Pfandrecht, Pacht, Miete, Verwahrung. Eine nur abstrakte Vereinbarung dahingehend, dass der unmittelbare Besitzer für einen anderen besitzen will, reicht zur Begründung eines Besitzmittlungsverhältnisses nicht aus. Beispiel

E hat für sein Büro eine neue EDV-Anlage bestellt und findet einen Käufer für die vorhandenen Schreibmaschinen. Da die neue EDV-Anlage erst in zwei Monaten geliefert werden soll, will E für diesen Zeitraum seine alten Schreibmaschinen noch behalten und nutzen. Trotzdem kann er sie sofort verkaufen und an den Käufer übereignen. E vereinbart mit dem Käufer ein Besitzkonstitut, in-

260

4  Grundzüge des Sachenrechts

Eigentumsübertragung nach § 930 BGB

Veräußerer wird unmittelbarer Besitzer und verliert das Eigentum an der Sache

Erwerber Einigung und Vereinbarung eines Besitzkonstituts

wird mittelbarer Besitzer der Sache und Eigentümer

Abb. 4.2  Eigentumsübertragung nach § 930 BGB

dem er zwar das Eigentum, nicht aber den unmittelbaren Besitz überträgt. Die Parteien einigen sich darüber, dass E dem Käufer die Schreibmaschinen übereignet und ihm noch für zwei Monate ein vertragliches Recht zum Besitz eingeräumt wird, z. B. durch Vereinbarung eines Leih- oder Mietvertrages. ◄ Für ein Besitzmittlungsverhältnis ist es wesenstypisch, dass das Besitzrecht des Besitzmittlers zeitlich begrenzt und untergeordnet ist, weshalb der mittelbare Besitzer dem Besitzmittler auch Weisungen bezogen auf den Umgang mit der Sache erteilen kann. Ebenso folgt aus dem Besitzmittlungsverhältnis ein Herausgabeanspruch. Das Besitzmittlungsverhältnis kann auch schon begründet werden, bevor der Veräußerer das Eigentum und den Besitz an der Sache erlangt hat. Man spricht dann von einem sog. antizipierten Besitzkonstitut (= vorweggenommenes Besitzmittlungsverhältnis), das gerade bei der Sicherungsübereignung häufig vorkommt. Beispiel

Der Hersteller H hat von seiner Bank B einen Kredit erhalten. Hierfür übereignet er der B die von ihm produzierte Ware lt. Bestandsliste zur Sicherheit. Weder dem H noch der B wäre nun damit gedient, wenn diese Waren blockiert wären. Der H muss verkaufen können, damit er seine Verbindlichkeiten nach und nach begleichen kann. Dazu wird ihn B auch ermächtigen (§ 185 BGB), sofern der Verkauf im normalen Geschäftsgang erfolgt. Beide Parteien wollen aber auch, dass die neu ins Lager kommenden Waren als Sicherheit dienen. Folglich muss hierfür eine Übereignung durch vorweggenommenes Besitzkonstitut erfolgen. Dies ist möglich, allerdings verlangt die Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes die Vorgänge transparent und nachvollziehbar sind, etwa indem der H der B aktualisierte Stück- bzw. Inventarlisten überlässt. ◄

4.2  Bewegliche Sachen

261

Eigentumsübertragung nach § 931 BGB

Veräußerer Veräußerer

Abtretung des Herausgabeanspruchs

Erwerber wird mittelbarer Besitzer und Eigentümer der Sache

(z.B. Miete, Pacht, Leasing)

Gebrauchsüberlassungsvertrag

verliert den mittelbaren verliert den Besitz und das und mittelbaren Besitz dasEigentum Eigentum

Einigung und

Unmittelbarer Besitzer

Herausgabeanspruch gem. § 985 BGB

Abb. 4.3  Eigentumsübertragung nach § 931 BGB

Die Besitzerlangung des Eigentumserwerbers verflüchtigt sich zu einer verbalen 678 Geste, wenn der Veräußerer gar keinen Besitz hat, den er übergeben oder vermitteln könnte. So liegt es im Fall des § 931 BGB (Abb. 4.3). Danach ist der Eigentümer an der Verfügung über sein Eigentum nicht dadurch gehindert, dass sich die Sache im Besitz eines anderen befindet, etwa weil ein Mieter infolge eines Mietvertrages noch bis zur Vertragsbeendigung ein Recht zum Besitz hat. In einem solchen Fall, in welchem der Eigentümer nicht im Besitz der Sache ist, erfolgt die Eigentumsübertragung durch die Einigung und die Abtretung des Herausgabeanspruchs (§ 931 BGB). Beispiel

E betreibt ein Mietwagenunternehmen. Am 1. Juni verkauft er zehn seiner Fahrzeuge, obwohl eines davon noch bis zum 15. August vermietet ist. E kann dennoch das Eigentum an allen Fahrzeugen wirksam übertragen, denn er hat gegenüber dem Mieter einen Anspruch auf Herausgabe des Fahrzeugs. Zwar hat der Mieter ein Recht zum Besitz und kann deshalb bis zum Ablauf der Mietzeit die Herausgabe verweigern. Doch wird der E dem Käufer anstelle der Übergabe des Kaufgegenstandes den Herausgabeanspruch aus dem Eigentum abtreten. Nach Ablauf der Mietzeit kann der Käufer als Eigentümer und Inhaber des Herausgabeanspruchs das Fahrzeug von dem Mieter herausverlangen. ◄

262

679 680

681

4  Grundzüge des Sachenrechts

Besteht kein mittelbares Besitzrecht des Veräußerers mehr, beispielsweise weil der Überlassungsvertrag angefochten wurde und nichtig ist (§ 142 BGB), muss der Veräußerer nun die ihm zustehende Herausgabeansprüche gegen den Besitzer abtreten. Diese gesetzlichen Herausgabeansprüche (z. B. aus §§ 812, 985 BGB) treten dann sozusagen an die Stelle der ursprünglich vertraglich bedingten und abgetretenen Herausgabeansprüche. Die dingliche Einigung muss im Zeitpunkt der Übergabe bzw. bei Vereinbarung der Übergabesurrogate der §§ 930, 931 BGB noch vorliegen. Weitere Voraussetzung der Übereignung ist die Berechtigung des Verfügenden. Berechtigter ist nach den §§ 929–931 BGB grundsätzlich der Eigentümer; möglich ist aber auch die vom Eigentümer dem Verfügenden erteilte Ermächtigung (§ 185 BGB) oder Vertreterstellung (§ 164 Abs. 1 BGB). Ist der Veräußerer hingegen kein Eigentümer und auch nicht berechtigt das Eigentum zu übertragen (sog. Nichtberechtigter), lassen die §§ 932 ff. BGB einen gutgläubigen Eigentumserwerb zu, sofern der Eigentümer einen Rechtsschein veranlasst hat, aufgrund dessen der Erwerber den Veräußerer für den Eigentümer halten darf. Bei beweglichen Sachen erzeugt insbesondere der Besitz einen starken Vertrauenstatbestand. Zugunsten des Besitzers einer Sache wird vermutet, dass er auch Eigentümer der Sache ist (§ 1006 Abs. 1, S. 1 BGB). Ist also der Veräußerer im Besitz der Sache und gibt sich als Eigentümer aus, darf sich der gutgläubige Erwerber auf diesen Rechtsschein verlassen und kann daher auch vom Nichtberechtigten gutgläubig Eigentum erwerben. Der Gutglaubenserwerb kommt allerdings nicht in Betracht, wenn dem Erwerber bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört (§ 932 Abs. 2 BGB). Beispiel

Grob fahrlässig verhält sich beispielsweise der Käufer eines gebrauchten Autos, wenn er sich nicht die Zulassungsbescheinigung Teil 2 (Kraftfahrzeugbrief) vorlegen lässt und sich bei privaten Verkäufen nicht vergewissert, ob der Verkäufer als letzter Halter eingetragen ist. Dem Abnehmer eines Verkäufers, der seinerseits unter Eigentumsvorbehalt gekauft hatte, obliegt eine Erkundigungspflicht bezüglich der Eigentumsverhältnisse, wenn die Umstände den Verdacht nahe legen, der Vorbehaltsverkäufer veräußere, obwohl er noch nicht voll bezahlt hat. Wer allerdings im kaufmännischen Geschäftsverkehr nicht vom Hersteller, sondern vom Verarbeiter Waren bezieht, muss immer mit einem Eigentumsvorbehalt (auch in Form des verlängerten Eigentumsvorbehalts) des Herstellers rechnen. ◄ Bei nur leichter Fahrlässigkeit wird dagegen das Vertrauen des Erwerbers geschützt, das darauf gegründet ist, dass der Veräußerer die Sache besitzt (siehe vor). Deshalb ist der gutgläubige Erwerb auch erschwert, wenn der nichtberechtigte Ver-

4.2  Bewegliche Sachen

263

äußerer dem Erwerber die Sache nicht übergibt oder übergeben lässt. Behält er die Sache und vereinbart mit dem Erwerber lediglich ein Besitzmittlungsverhältnis (§ 868 BGB), so wird dieser erst Eigentümer, wenn ihm die Sache später übergeben wird und er zu dieser Zeit auch noch gutgläubig ist (§§ 930, 933 BGB). Sicherungseigentum an Sachen, die beim Sicherungsgeber verbleiben, kann demnach nicht gutgläubig erworben werden. Ähnlich verhält es sich, wenn ein Dritter die Sache besitzt und der Veräußerer, statt die Sache zu übergeben, nur den Herausgabeanspruch abtritt (§§ 931, 934 BGB). Zu den Gutglaubensvorschriften im Einzelnen: • Erfolgt die Übereignung nach § 929 S. 1 BGB kann der Erwerber gutgläubig Eigentum vom Nichtberechtigten erlangen, wenn der Erwerber vom Veräußerer unmittelbaren Besitz übertragen bekommt, d. h. eine tatsächliche Übergabe stattfindet, wobei auch ein Besitzdiener, Besitzmittler oder eine Geheißperson beteiligt sein kann (§ 932 Abs. 1 BGB). Gibt sich also der unmittelbare Besitzer einer Sache als Eigentümer aus und übergibt die Sache, ist der gute Glaube des Erwerbers an das Eigentum des Veräußerers geschützt. Der gutgläubige Erwerber wird Eigentümer, selbst wenn die Sache dem Veräußerer nicht gehört (§§ 929, 932 BGB).

Beispiel

Der A leiht sich ein Fahrrad von seinem Freund F. Nach ein paar Tagen veräußert und übergibt er das Fahrrad an den K, der den A für den Eigentümer hält und nichts von dem Leihverhältnis weiß. Hier ist der K Eigentümer des Fahrrads nach §§ 929 S. 1, 932 Abs. 1 BGB geworden; F hat sein Eigentum verloren. ◄ • Bei einer Übereignung nach § 929 S. 2 BGB ist der Erwerber bereits im Besitz der Sache, so dass ein gutgläubiger Erwerb nach § 932 Abs. 1 S. 2 BGB nur in Betracht kommt, wenn ihm der Besitz vom Veräußerer eingeräumt wurde; die Besitzverschaffung durch einen Dritten genügt nicht. • Liegt eine Übereignung nach §§ 930, 868 BGB vor, ist der gutgläubige Erwerb davon abhängig, dass der Erwerber den unmittelbaren Besitz an der Sache erlangt und der gute Glaube noch im Zeitpunkt der Besitzverschaffung vorliegt (§ 933 BGB).

Beispiel

Der Autovermieter A erhält von der B-Bank ein Darlehen. Zu Sicherheit übereignet er der B-Bank drei Fahrzeuge aus der Flotte, die er selbst erst kürzlich unter Eigentumsvorbehalt vom Händler H erworben hatte und die noch nicht vollständig bezahlt sind. Die Fahrzeuge bleiben bei A, allerdings hinterlegt er die Kfz-Briefe bei der B-Bank. Als A mit seinen Rückzahlungen gegenüber der

264

4  Grundzüge des Sachenrechts

B-Bank in Verzug gerät, verkauft sie die Fahrzeuge an den gutgläubigen G, der auch die Fahrzeugscheine erhält. G hat gutgläubig das Eigentum an Fahrzeugen nach §§ 929, 930, 933 von der B-Bank erworben. Die nach § 933 erforderliche „Übergabe“ hat durch die Aushändigung des Kfz-Briefs (Zulassungsbescheinigung Teil 2) stattgefunden. Der unter Eigentumsvorbehalt liefernde H hat sein Eigentum verloren. ◄ • Handelt es sich um eine Übereignung nach § 931 BGB, ist danach zu differenzieren, ob der Veräußerer mittelbaren Besitz hat oder nicht. Liegt mittelbarer Besitz des Veräußerers vor, geht das Eigentum mit der Abtretung des Herausgabeanspruchs auf den gutgläubigen Erwerber über – der Veräußerer hat dann jeglichen Besitz verloren und der Erwerber erlangt seinen Besitz vom mittelbaren Besitzer (§ 934 Alt. 1 BGB). Ist der Veräußerer nicht mittelbarer Besitzer, so ist der gutgläubige Erwerb erst vollendet, wenn der Erwerber den Besitz vom Dritten erlangt hat und er in diesem Zeitpunkt noch gutgläubig ist (§  934 Alt. 2 BGB). Der gute Glaube bezieht sich im bürgerlichen Recht stets auf die Eigentümerstellung des Veräußerers. Der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis (z. B. daran, dass der Veräußerer Insolvenzverwalter ist oder vom Eigentümer ermächtigt wurde) ist nicht geschützt; eine Ausnahme ergibt sich im Handelsrecht (§  366 HGB Abschn. 5.6.1.7). Ist die Veräußerung  – wegen Gutgläubigkeit des Erwerbers (§§  932  BGB, 682 366 HGB) oder infolge nachträglicher Zustimmung durch den Eigentümer (§ 185 Abs. 2, S. 1 BGB) – wirksam, kann der Eigentümer seine Rechte aus § 816 BGB geltend machen. Danach ist der Nichtberechtigte, der ohne Erlaubnis des Eigentümers über dessen Eigentum verfügt, zur Herausgabe des Erlangten verpflichtet. Im Fall der unberechtigten Veräußerung einer Sache muss der Erlös herausgegeben werden (Abschn.  3.2.3.1) und im Fall der Schenkung ist nur der Erwerber bereichert, sodass er die Sache an den Eigentümer herausgeben muss (Abschn. 3.2.3.2). Es gibt grundsätzlich keinen gutgläubigen Erwerb von gestohlenen oder dem 683 Eigentümer auf andere Weise abhanden gekommenen Sachen (§ 935 BGB). Der gute Glaube nützt daher dem Erwerber nichts, wenn die Sache dem rechtmäßigen Eigentümer gestohlen wurde, verloren gegangen oder sonst abhanden gekommen ist. Eine solche Sache kann daher niemand ohne den Willen des Eigentümers erwerben. Beispiel

A stiehlt dem Passanten P ein Fahrrad, welches er einige Tage später an den gutgläubigen K verkauft und übergibt, der A für den Eigentümer hält. Nach § 929 BGB kann K das Eigentum am Fahrrad nicht erwerben, weil A nicht Eigentümer des Fahrrades ist. Ein gutgläubiger Erwerb nach §§  929, 932 BGB ist ausgeschlossen, weil A dem P das Fahrrad gestohlen hat (§ 935 BGB). ◄

4.2  Bewegliche Sachen

265

Die Regelung des § 935 BGB bedeutet weiter, dass der Eigentümer die Sache überall, wo er sie findet, sofort herausverlangen kann (§ 985 BGB). Eine Ausnahme bildet lediglich gestohlenes Geld (Geldscheine und -münzen), hieran soll man aus Gründen der Verkehrssicherheit gutgläubig Eigentümer werden können. hEHUHLJQXQJEHZHJOLFKHU6DFKHQ hEHUEOLFNEHUGLH9RUDXVVHW]XQJHQ 7HLOYRQ ,(LQLJXQJJHPl‰†6%*% 9HUlX‰HUHUXQG(UZHUEHUPVVHQVLFKEHUGHQ(LJHQWXPVZHFKVHOJHHLQLJWKDEHQ%HLGHU (LQLJXQJKDQGHOWHVVLFKXP:LOOHQVHUNOlUXQJHQIUGLHGLH5HJHOQGHVDOOJHPHLQHQ7HLOVGHV%*% JHOWHQ,QVEHVRQGHUHLVWHLQH9HUWUHWXQJQDFK†  %*%P|JOLFK=XVlW]OLFKJLOWGHU VDFKHQUHFKWOLFKH%HVWLPPWKHLWVJUXQGVDW]G KGLH(UNOlUXQJHQGHU3DUWHLHQPVVHQDXIHLQHQ EHVWLPPWHQ*HJHQVWDQGVFKOLH‰HQODVVHQ ,,hEHUJDEHJHPl‰† 6 RGHUhEHUJDEHVXUURJDW 'HU(UZHUEHURGHUGHVVHQ*HKHL‰SHUVRQDOVRHLQH3HUVRQGLH]XU$QQDKPHGHU6DFKHEHDXIWUDJW ZXUGHPXVVDXI9HUDQODVVXQJGHV9HUlX‰HUHUV]XP=ZHFNHGHU(LJHQWXPVEHUWUDJXQJGHQ%HVLW] HUODQJHQZlKUHQGGHU9HUlX‰HUHUNHLQHEHVLW]UHFKWOLFKH3RVLWLRQPHKUKDEHQGDUI 1HEHQGHUhEHUJDEHNDQQGLHhEHUHLJQXQJDEHUDXFKGXUFKHLQhEHUJDEHVXUURJDWHUUHLFKWZHUGHQ 6RHQWIlOOWGLHhEHUJDEHJHPl‰†6%*%ZHQQGHU(UZHUEHUEHUHLWVLQ%HVLW]GHU6DFKHLVW $OV(UVDW]GHUhEHUJDEHNRPPWJHPl‰†%*%DXFKGLH9HUHLQEDUXQJHLQHV %HVLW]PLWWOXQJVYHUKlOWQLVVHVLQ%HWUDFKW'DQQPXVVVLFKGHU9HUlX‰HUHUDOV%HVLW]HUYHUSIOLFKWHQ DXIJUXQGHLQHV5HFKWVYHUKlOWQLVVHVJHPl‰†%*%VHLQHQ%HVLW]]XJXQVWHQGHV(UZHUEHUV DXV]XEHQGHUGDGXUFKPLWWHOEDUHU%HVLW]HUZLUG 6FKOLH‰OLFKUHLFKWHVDOV(UVDW]IUGLHhEHUJDEHDXVZHQQGHU9HUlX‰HUHUDOVPLWWHOEDUHU%HVLW]HU JHPl‰†%*%VHLQHQ+HUDXVJDEHDQVSUXFKJHJHQGHQXQPLWWHOEDUHQ%HVLW]HUDQGHQ(UZHUEHU DEWULWW

 Übersicht: Übereignung beweglicher Sachen I

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 Übersicht: Übereignung beweglicher Sachen I

266

4  Grundzüge des Sachenrechts

4.2.2 Eigentumserwerb durch Gesetz Neben dem rechtsgeschäftlichen Eigentumserwerb kann Eigentum auch kraft Gesetzes erworben werden. In der Wirtschaft sind insbesondere die gesetzlichen Formen des Eigentumserwerbs durch Verbindung, Vermischung oder Verarbeitung mit anderen Sachen von Bedeutung (§§ 946 ff. BGB). 685 Wird eine bewegliche Sache mit einem Grundstück dergestalt verbunden, dass sie wesentlicher Bestandteil des Grundstücks wird, erstreckt sich das Eigentum an dem Grundstück auch auf diese Sache (§  946  BGB). Der Grundstückseigentümer erwirbt das Gesamteigentum, der Bestandteilseigentümer verliert das Einzeleigentum. Der Eigentumsübergang durch Verbindung mit einem Grundstück erfolgt z.  B. bei Bauleistungen, etwa beim Einbau von Fenstern, Türen, Heizkörpern und Sanitäreinrichtungen in ein Gebäude. Eine entgegenstehende Vereinbarung ist unbeachtlich, sodass z.  B. der Eigentumsvorbehalt des Werkunternehmers entfällt, wenn die eingebauten Sachen mit dem Gebäude fest verbunden wurden. Der Bauunternehmer kann zur Sicherung des Anspruchs auf Vergütung seiner Leistung aus dem Werkvertrag die Einräumung einer Sicherungshypothek an dem Baugrundstück des Bestellers verlangen (§ 650e BGB). Der Eigentumserwerb durch Verbindung ist allerdings ausgeschlossen, wenn die Verbindung nur zu einem vorübergehenden Zweck erfolgt, d. h. später wieder entfernt werden soll (z. B. Einrichtungsgegenstände einer Wohnung oder Gerüste, die zu Malerarbeiten mit dem Haus verbunden werden). Werden bewegliche Sachen untereinander verbunden kann ebenfalls ein gesetzlicher Eigentumserwerb stattfinden. Sofern mehrere Sachen zu einer einheitlichen Sache zusammengefügt werden, erwirbt entweder der Eigentümer des Hauptbestandteils das Alleineigentum an der verbundenen Sache oder, falls gleichwertige Bestandteile zusammengefügt werden, entsteht Miteigentum der ursprünglichen Eigentümer (§ 947 BGB). In diesen Fällen geht sogar ein Eigentumsvorbehalt eines Zulieferbetriebs verloren, denn vertragliche Vereinbarungen können die Rechtsfolge des Eigentumsübergangs nicht verhindern. 684

Beispiel

L hat an F leere Mineralwasserflaschen unter Eigentumsvorbehalt geliefert, die F mit sprudelndem Quellwasser befüllt und verschließt. Die gefüllten Flaschen gehören nicht dem L allein, sondern L und F werden nach § 947 Abs. 1 BGB Miteigentümer der Sache. Würde man dagegen das Quellwasser hier als die Hauptsache ansehen, so würde F Alleineigentum nach § 947 Abs. 2 BGB erwerben. In der Praxis sorgen Hersteller- bzw. Verarbeitungsklauseln für die notwendige Klarheit. ◄ 686

Werden bewegliche Sachen untrennbar miteinander vermischt oder vermengt, so finden nach § 948 BGB die Vorschriften des § 947 BGB entsprechend Anwendung, d. h. die Eigentümer der vermengten Sachen werden Miteigentümer, sofern nicht eine Sache als Hauptsache angesehen wird.

4.2  Bewegliche Sachen

267

Von einer untrennbaren Vermischung ist auszugehen, wenn die einzelnen beweglichen Sachen ihre körperliche Abgrenzung verlieren (z. B. Apfelsaft und Mineralwasser werden zu Apfelschorle abgefüllt). Bei einer Vermengung kann man die betreffenden beweglichen Sachen nicht mehr dem bisherigen Eigentümer zuordnen (z. B. Zuckerrüben der Bauern A und B werden in ein Silo gefüllt). Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache, sofern nicht der Wert der Verarbeitung oder der Umbildung erheblich geringer ist als der Wert des (Ausgangs-)Stoffes (§ 950 Abs. 1 S. 1 BGB). Dieser Eigentumserwerb durch Verarbeitung betrifft nur die Herstellung einer neuen Sache und sorgt insbesondere im Rahmen wertschöpfender Vorgänge dafür, dass das Ergebnis zurodnungsrechtlich in einer Hand liegt. Insofern ist die Regel des § 950 BGB im Wertschöpfungsprozess auf allen Fertigungsstufen von Bedeutung – Rohprodukte werden zu Halbfertigerzeugnisse, Halbfertigerzeugnisse werden zu Fertigprodukten. Allerdings erlöschen mit dem gesetzlichen Eigentumserwerb kraft Verarbeitung alle zuvor bestehenden Rechte an dem (Ausgangs-)Stoff. Dies hätte erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen für die Lieferanten, da ein unter Umständen vereinbarter Eigentumsvorbehalt erlöschen würde. Um nun den Rohstofflieferanten am Ende nicht zu benachteiligen, werden daher sog. Hersteller- oder Verarbeitungsklauseln vereinbart. Mit ihnen verspricht der verarbeitende Produzent „für“ den Lieferanten herzustellen, so dass dieser auch Eigentümer an der verarbeiteten (neuen) Sache wird oder sich sein Eigentumsvorbehalt auch auf die neue bewegliche Sache erstreckt. Wirtschaftlich gesehen erhöht sich damit die Sicherheit des Lieferanten, weil ihm nunmehr der Wert bzw. ein Recht am durch Bearbeitung veredelten Material zusteht. Schwierigkeiten entstehen nur dann, wenn das Material mehrerer Zulieferer zu einer neuen Sache verarbeitet wird. Hier müssen die AGB Vorsorge treffen und bestimmte Quoten der Miteigentumsberechtigung vorsehen. Durch elektromagnetische Aufzeichnungen, z. B. auf Ton- oder Videobändern, durch Computeraufzeichnungen oder sonstige Dokumentationen entstehen in aller Regel keine neuen Sachen, da der Datenträger nicht verändert wird. Sowohl der Datenträger als auch die Aufzeichnungen können folglich verschiedenen Eigentümern zugeordnet werden. Wer infolge der §§ 946 bis 950 BGB einen Rechtsverlust erleidet, kann von dem Begünstigten Geldersatz nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (Abschn. 3.2) verlangen. Dagegen kann die Wiederherstellung des früheren Zustandes  – also die Rückübertragung des Eigentums  – nicht verlangt werden (§ 951 Abs. 1 S. 2 BGB). Der gesetzliche Eigentumserwerb erstreckt sich auch auf Erzeugnisse und sonstige Bestandteile einer beweglichen Sache (z. B. Früchte eines Baumes, gefällte und geschnittene Bäume, Jungtiere, Kies einer Kiesgrube). So gehören sie nach der Trennung von der Hauptsache (oder Muttersache) grundsätzlich dem Eigentümer der Hauptsache (§ 953 BGB). Dieser kann allerdings einem anderen vertraglich gestatten, sich die Früchte, Erzeugnisse und Bestandteile anzueignen. Nicht alle Sachen gehören jemandem. Es gibt auch herrenlose bewegliche Sachen. Herrenlos sind beispielsweise wilde Tiere, die sich in Freiheit befinden

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4  Grundzüge des Sachenrechts

(§ 960 BGB), ein Bienenschwarm, der auszieht (§ 961 BGB), und vor allem solche Sachen, deren sich der Eigentümer in der Absicht entledigt hat, auf sein Eigentum zu verzichten (§ 959 BGB). Beispiel

Der Autofahrer A lässt sein altes Auto, das nicht mehr verkehrstüchtig ist, an irgendeinem abgelegenen Platz stehen und montiert die Nummernschilder ab. Damit gibt er sein Eigentum auf (was aber nichts daran ändert, dass er als früherer Halter noch Verantwortlichkeit an dem PKW trifft). Der Bankkunde K bekommt am Bankschalter ein Sparschwein geschenkt. Auf dem Nachhauseweg findet er das Material und die Farbe nicht besonders schön und wirft es daher in einen Abfallcontainer. ◄ Eine solche herrenlose bewegliche Sache kann sich jedermann aneignen, d. h. Eigentum daran erwerben, indem er sie in Besitz nimmt (§ 958 Abs. 1 BGB). Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die Aneignung gesetzlich verboten ist oder das Aneignungsrecht einem anderen zusteht (§ 958 Abs. 2 BGB). Beispiel

Das Jagdrecht gestattet allein dem Jagdberechtigten, sich das erlegte oder tote Wild anzueignen. Dem Waldspaziergänger ist dies nicht gestattet. ◄ Wer eine verlorene Sache findet, darf sie an sich nehmen, muss sie aber verwahren und den Fund dem Verlierer, dem Eigentümer oder einem Empfangsberechtigten – wenn ihm diese unbekannt sind, der Polizeibehörde – anzeigen, falls die Sache mehr als 10 EUR wert ist (§§ 965, 966 BGB). Für seine Aufwendungen kann der Finder Ersatz verlangen (§  970 BGB) und außerdem nach §  971 BGB einen Finderlohn beanspruchen (5 % bei Werten bis zu 500 EUR, vom Mehrwert 3 % und bei Tieren 3 %). Sechs Monate nach der Anzeige des Fundes bei der Polizei erwirbt der Finder das Eigentum an der Sache, sofern sich kein Empfangsberechtigter gemeldet hat (§ 973 Abs. 1 BGB). 692 Eigentum kann auch durch das bloße Innehaben des Besitzes erlangt werden (sog. Ersitzung), sofern der Besitzer die Sache über die Zeitdauer von 10 Jahren innehat und gutgläubig davon ausgeht, dass die Sache ihm gehört (§§ 937 ff. BGB). 691

4.3

Unbewegliche Sachen (Grundstücke)

4.3.1 Allgemeines 693

Grundstücke (= unbewegliche Sachen, Immobilien) sind nach der allgemeinen Definition abgegrenzte Teile der Erdoberfläche, die katastermäßig vermessen sind und im Grundbuch geführt werden.

4.3  Unbewegliche Sachen (Grundstücke)

269

Das Eigentum an einem Grundstück erstreckt sich auf die darauf errichteten Ge- 694 bäude und deren Teile, überhaupt auf alle Sachen, die nicht nur vorübergehend mit dem Grund und Boden fest verbunden werden (wesentliche Bestandteile, §§ 93, 94 BGB). Diese Teile (z. B. Zäune, Fahnenmaste, Bäume und Pflanzen) gehören zwangsläufig dem Grundstückseigentümer und teilen das rechtliche ­Schicksal des Grundstücks. Das Sachenrecht unterscheidet demzufolge auch nicht zwischen bebauten und unbebauten Grundstücken. Beispiel

Der Hauseigentümer kann nicht das Haus veräußern und das Grundstück behalten. Genauso wenig kann ein Waldeigentümer den Waldboden mit einer Hypothek belasten, aber die darauf stehenden Bäume von der Hypothekenhaftung freihalten wollen. ◄ Fremde Sachen, die mit dem Grundstück fest und nicht nur vorübergehend 695 verbunden werden, fallen kraft Gesetzes im Augenblick ihrer Verbindung in das Eigentum desjenigen, dem das Grundstück gehört. Das gilt auch für alle Teile, aus denen ein Gebäude auf dem Grundstück hergestellt wird. Beispiel

Das Haus, das der Bauunternehmer auf dem Bauplatz des Bauherrn errichtet, die Steine, Türen, Fenster, Treppen, der Fahrstuhl, werden Eigentum des Bauherrn. Ein Eigentumsvorbehalt bis zur Bezahlung – wie beim Verkauf beweglicher Sachen – ist nicht möglich. Wer auf fremden Boden baut – sei es auch in der begründeten Erwartung, das Grundstück später zu erwerben –, dem gehört nichts. Er hat günstigstenfalls Anspruch auf Ausgleich in Geld nach §§  812  ff. BGB. Nicht fest verbunden sind dagegen z. B. ein Zelt, eine Baracke ohne festen Unterbau oder Anlagen, wie z.  B. eine Ölheizungsanlage oder eine Solaranlage. ◄ Nur vorübergehend verbundene Sachen, die von vornherein später wieder ent- 696 fernt werden sollen, bleiben dagegen in jedem Fall selbständig und gehören nicht automatisch dem Grundstückseigentümer. Beispiel

Sachen, die ein Mieter für die Dauer der Mietzeit einfügt, z. B. eine Badezimmereinrichtung oder eine Küche in eine Wohnung oder eine fest mit dem Boden verbundene Maschine in einer Fabrik. ◄ In gewisser Hinsicht ist mit dem rechtlichen Schicksal eines für den Gewerbebetrieb eingerichteten Gebäudes auch das gesamte Inventar dieses Gebäudes (z.  B.  Maschinen, Büromöbel, Kraftfahrzeuge usw. = Zubehör), beim Rohbau unter Umständen auch Baumaterial, verbunden. Diese Sachen sind zwar rechtlich

697

270

4  Grundzüge des Sachenrechts

selbständig (§ 97 BGB). Wird allerdings das Gebäude verkauft, so gilt im Zweifel das Inventar als mitverkauft (§ 926 Abs. 1 S. 2 BGB). Das Eigentum am Zubehör geht daher automatisch mit dem Eigentum am Grundstück auf den Erwerber des Grundstücks über. Ferner haftet das Zubehör auch für eine bestehende Hypothekenschuld (§ 1120 BGB). 698 Das Grundstückseigentum erstreckt sich auf den Raum über der Oberfläche und auf den Erdkörper unter der Erdoberfläche. Der Eigentümer kann jedoch Einwirkungen nicht verbieten, die in solcher Höhe oder Tiefe vorgenommen werden, dass er an dem Verbot vernünftigerweise kein Interesse haben kann. Im Übrigen ist durch das Luftverkehrsgesetz klargestellt, dass die Benutzung des Luftraumes durch Luftfahrzeuge frei ist. Für den Raum unter der Erdoberfläche trifft das Bergrecht besondere Regelungen.

4.3.2 Grundbuch Da die Nutzung und Verwertung des Grund und Bodens von besonderer volkswirtschaftlicher Bedeutung sind, hat die Allgemeinheit ein Interesse daran, dass die Rechtsverhältnisse offengelegt werden. Daher werden über das Eigentum und sonstige Rechte an Grundstücken bei den Amtsgerichten (Grundbuchämtern) Grundbücher geführt. Darin sind alle Grundstücke in dem betreffenden Amtsgerichtsbezirk und die an ihnen bestehenden eintragungsfähigen Rechte einzutragen (Grundbuchzwang). 700 Jedes Grundstück erhält im Grundbuch ein eigenes Grundbuchblatt („Realfolium“). Damit wird erreicht, dass alle Angaben über ein Grundstück an einer Stelle stehen und nicht etwa durch Angaben über andere Grundstücke Unklarheiten entstehen. Wenn keine Verwirrungen zu befürchten sind, kann allerdings für mehrere Grundstücke desselben Eigentümers ein gemeinschaftliches Grundbuchblatt angelegt werden. Die Grundbuchblätter sind laufend nummeriert und zu Bänden zusammengefasst. 699

Beispiel

Ein Grundstück ist eingetragen im Grundbuch von Münster, Band 13, Blatt 405. ◄ Das Grundbuchblatt enthält ein Bestandsverzeichnis und drei Abteilungen. Im Bestandsverzeichnis wird das Grundstück nach dem auf Vermessungen beruhenden amtlichen Verzeichnis der Grundstücke (Kataster) mit der Nummer von Gemarkung, Flur und Flurstück (Parzelle) sowie nach der Wirtschaftsart und Lage (z. B. Wohnhaus mit Garten, Finkenweg 12; Wiese an den Eichen) und nach der Größe (ha; a; qm) bezeichnet. Beispiel

Lfd. Nr.  2, Gemarkung Antoniusberg, Flur 17, Flurstück 18/20, Liegenschaft Nr. 2324, Gebäude- und Freifläche Antoniusweg 7, Größe 9 a 37 qm. ◄

4.3  Unbewegliche Sachen (Grundstücke)

271

In der dann folgenden ersten Abteilung stehen der Eigentümer und der Erwerbsgrund. Hypotheken-, Grund- und Rentenschulden, die auf dem Grundstück lasten, werden in der dritten Abteilung verzeichnet, alle anderen Belastungen (z.  B. Dienstbarkeiten, Nießbrauch) und Verfügungsbeschränkungen (z.  B.  Anordnung einer Zwangsversteigerung, Konkurseröffnung) in der zweiten Abteilung. Die einzelnen Abteilungen enthalten ferner nähere Angaben über Entstehen, Änderung und Erlöschen der Rechte. Beispiel

Abteilung I: Lfd. Nr. 2a) Erna Kurz, geb. 19.11.1939, zu ½; lfd. Nr. 2b) Ernst Kurz, geb. 19.10.1939, zu ½, aufgrund der Auflassung vom …, eingetragen am … (hier handelt es sich um Miteigentum nach Bruchteilen des Ehepaars Kurz). Abteilung II: Grunddienstbarkeit (Wegerecht) für den jeweiligen Eigentümer des Grundstücks Gemarkung Antoniusberg, Flur 17, Flurstück 18/21 (Blatt 406), gemäß Bewilligung vom …, eingetragen am …. Abteilung III: Grundschuld zu 100.000  EUR für B-Bank, Münster, 15  % jährlich, 5 % Nebenleistungen einmalig, vollstreckbar nach § 800 ZPO, gemäß Bewilligung vom …, eingetragen am … ◄ Die Urkunden, die Grundlage der Eintragung sind (z.  B.  Eintragungsanträge, Eintragungsbewilligungen, Erbscheine und dergleichen), werden in den sogenannten Grundbuchakten beim Grundbuchamt gesammelt. In das Grundbuch und die Grundbuchakten kann jeder Einsicht nehmen und beglaubigte Abschriften verlangen, der ein berechtigtes Interesse für die Einsichtnahme darlegt (§ 12 Abs. 1, S. 1 GBO). Derjenige, dem bereits ein Recht an einem Grundstück zusteht (z. B. eine Bank, die eine Grundschuld auf ein Grundstück eingetragen hat), muss dagegen ein berechtigtes Interesse nicht gesondert darlegen. Zu beachten ist, dass diejenigen Eintragungen im Grundbuch, die rot unterstrichen sind, bereits gelöscht sind. Eintragungen werden, von Ausnahmen abgesehen, nur auf Antrag vorgenommen. Die formellen Voraussetzungen sind ganz unterschiedlich und in der Grundbuchordnung (GBO) geregelt. Eintragungsfähig sind dabei z.  B. alle dinglichen Rechte am Grundstück (z. B. Nießbrauch, Hypothek, Grundschuld), die Vormerkung nach § 883 BGB, der Widerspruch nach § 899 BGB sowie relative Verfügungsbeschränkungen, die sich entweder auf einen bestimmten Personenkreis beziehen (vgl. § 892 Abs. 1 S. 2 BGB) oder auf bestimmte Zwecke begrenzt sind (z. B. Insolvenz, Nachlassverwaltung nach § 1984 BGB, Testamentsvollstreckung nach § 2211 BGB, Nacherbschaft nach § 2106 BGB). Viele Erklärungen und Unterlagen müssen dafür vor einem Notar öffentlich beglaubigt oder beurkundet werden. Das Grundbuch genießt öffentlichen Glauben. Wer ein Grundstück oder Recht an einem Grundstück erwerben will, kann sich einerseits darauf verlassen, dass das Grundbuch richtig und vollständig ist, d.  h. die eingetragenen Rechte mit ihrem buchmäßigen Inhalt und Rang auch tatsächlich bestehen, und andererseits, dass nicht eingetragene Rechte – sofern sie eintragungsfähig sind – nicht bestehen.

701

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703

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4  Grundzüge des Sachenrechts

Sollte das Grundbuch unrichtig sein (z. B. es ist ein falscher Eigentümer eingetragen), kann der öffentliche Glaube dadurch zerstört werden, dass der Benachteiligte (z. B. der wahre Eigentümer) aufgrund einer einstweiligen Verfügung einen Widerspruch eintragen lässt (§  899 BGB). Außerdem kann er die Berichtigung des Grundbuchs betreiben (§ 894 BGB). Rechtserwerb, -änderung und -verlust treten in den meisten Fällen erst mit der Eintragung ein (sogenannte rechtsbegründende Wirkung der Eintragung; Abschn. 4.3.3).

4.3.3 Erwerb und Veräußerung Wenn jemand ein Grundstück gekauft hat, muss ihm der Verkäufer in Erfüllung des abgeschlossenen Kaufvertrages das Eigentum an dem Grundstück verschaffen. Dieses Übereignungsgeschäft ist, um es nochmals zu wiederholen, von dem zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäft gedanklich zu trennen. Beide sind rechtlich selbständig; das eine Geschäft kann wirksam sein, obwohl das andere unwirksam ist. Der Eigentumserwerb eines Grundstücks setzt nach §§ 873, 925 BGB voraus: 708 707

• eine dingliche Einigung zwischen dem Eigentümer und dem Erwerber (sog. Auflassung) sowie • die Eintragung im Grundbuch. 709

Die Einigung von der § 873 BGB spricht, ist ein abstrakter Verfügungsvertrag (Konsens) zwischen Veräußerer und Erwerber über den Eigentumsübergang des Grundstücks und wird als „Auflassung“ bezeichnet (§ 925 Abs. 1 S. 1 BGB). Dabei erklärt der Eigentümer vor einem Notar, dass er das Eigentum an dem näher bezeichneten Grundstück auf den Erwerber übertragen will, und der Erwerber erklärt, dass er die Übertragung annimmt. Dieser Konsens darf nicht mit dem zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäft (z. B. Kauf nach §§ 433, 311 b Abs. 1 BGB oder ein anderes Verpflichtungsgeschäft, wie Schenkung oder Einlage in einer Gesellschaft) verwechselt werden. Selbst wenn beide Verträge oftmals in einer notariellen Urkunde zusammengezogen werden, bleiben Verpflichtungsgeschäft (z.  B.  Kauf, Schenkung, Beitragsleistung) und Übereignung zwei getrennte rechtliche Vorgänge. Die Einigung (Auflassung), die sich im Zweifel auch auf das Grundstückszubehör erstreckt (§ 926 Abs. 1 S. 2 BGB), bedarf einer qualifizierten Form. Nach § 925 Abs. 1 S. 1 BGB müssen beide Parteien – oder ihre Vertreter – gleichzeitig vor dem Notar anwesend sein und ihre auf die Verfügung bezogenen Erklärungen abgeben. Mit der Auflassung willigt der Veräußerer zugleich formell zur Eintragung des Erwerbers ins Grundbuch ein. Die Auflassung ist, sobald sie notariell beurkundet ist, sofort bindend (§ 873 Abs. 2 BGB), d. h. sie kann nicht mehr (einseitig) widerrufen werden. Einvernehmlich kann sie hingegen jederzeit aufgehoben werden. Die Bindungswirkung bedeutet hingegen nicht, dass der Veräußerer die Verfügungsmacht über sein Grund-

4.3  Unbewegliche Sachen (Grundstücke)

273

stück verloren hätte; vielmehr könnte er durchaus sein Grundstück ein weiteres Mal an einen anderen Interessenten auflassen. Eigentum erwirbt am Ende derjenige, der als erster ins Grundbuch eingetragen wird, während dem anderen („geprellten“) Teil Schadensersatzansprüche wegen Vertragsverletzung bleiben. Die Auflassung kann nicht unter einer Bedingung (z. B. Auflassung erst bei vollständiger Kaufpreiszahlung) oder Befristung (z. B. Auflassung bis zum 31.12.) erklärt werden; sie ist bedingungs- und befristungsfeindlich (§ 925 Abs. 2 BGB). Daher kann es im Grundstücksverkehr auch keinen Eigentumsvorbehalt geben. Unter Vorlage der Auflassung (= Eintragungsbewilligung) stellt eine der Par- 710 teien – in der Praxis meist der von den Parteien beauftragte Notar – den Antrag auf Umschreibung des Grundstücks beim Grundbuchamt. Das zuständige Grundbuchamt des Amtsgerichts prüft zunächst, ob die Eintragungsvoraussetzungen vorliegen (§§  13–15, 19, 20, 22, 30, 31  GBO) und trägt den Erwerber bei Vorliegen der Voraussetzungen ein. Mit Eintragung des Erwerbers ins Grundbuch (im Augenblick der Umschreibung) wird dieser neuer Eigentümer des Grundstücks. Da zwischen dem Kaufvertrag und der Eintragung ins Grundbuch oftmals einige 711 Zeit vergeht, kann sich der Erwerber seinen kaufrechtlichen Anspruch auf Eigentumserwerb über die Eintragung einer Vormerkung im Grundbuch sichern lassen (§ 883 BGB). Die Vormerkung bewirkt, dass das Grundstück nicht mehr an einen Dritten veräußert oder mit Rechten Dritter belastet werden kann. Eine Verfügung, die nach der Eintragung der Vormerkung über das Grundstück getroffen wird, ist dem Berechtigten (Erwerber) gegenüber unwirksam (§ 883 Abs. 2 BGB). Zur Eintragung der Vormerkung genügt eine Bewilligung des bisherigen Eigentümers (§ 885 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB); sie wird meist zusammen mit Kaufvertrag und der Auflassung in derselben Urkunde erklärt. Im Übrigen können Vormerkungen zur Sicherung eines Übertragungsanspruchs in dringenden Fällen auch durch eine einstweilige Verfügung, d. h. einer vorläufigen Anordnung durch ein Gericht zur Sicherung eines Anspruchs (§§ 935 ff. ZPO), angeordnet 885 werden (§ 855 Abs. 1 S. 1, Alt. 1 BGB). Es kommt vor, dass der Veräußerer des Grundstücks zwar im Grundbuch als 712 Eigentümer geführt wird, in Wahrheit aber nicht der Eigentümer ist. Eine solche unrichtige Eintragung („registerrechtliches Malheur“), kann sich beispielsweise ergeben, wenn der Eingetragene das Grundstück zwar erworben hat, aber die Auflassung aus irgendeinem Grunde unwirksam wurde (z.  B. durch Anfechtung der Einigung nach § 873, 142 BGB) oder die zugrundeliegenden Annahmen von Anfang an falsch waren (z. B. der Eingetragene fälschlich als Erbe des früheren Eigentümers galt). In einer solchen Situation weist das Grundbuch einen falschen Eigentümer aus und setzt zugleich einen Rechtsschein für die Eigentümerstellung des Eingetragenen (Richtigkeitsvermutung des Grundbuchs nach § 891 BGB). Sofern der Erwerber bis zur Einreichung des Umschreibungsantrags nicht wusste, dass dem eingetragenen Veräußerer das Grundstück in Wahrheit gar nicht gehört, erwirbt er das Grundstück trotzdem, und zwar kraft guten Glaubens an die Richtigkeit des Grundbuchs (§ 892 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB). Insofern ist auch bei Grundstücken ein gutgläubiger Erwerb vom Nichtberechtigten möglich.

274

4  Grundzüge des Sachenrechts

Der gutgläubige Erwerb ist jedoch ausgeschlossen, wenn das Vertrauen des Erwerbers nicht mehr schutzwürdig ist, weil er positive Kenntnis von der ­Unrichtigkeit des Grundbuchs hat oder weil im Grundbuch ein Widerspruch gegen die unrichtige Eigentümerangabe eingetragen ist (§ 892 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB). Einen solchen Widerspruch kann der wahre Berechtigte bei Unrichtigkeit des Grundbuchs aufgrund einer einstweiligen Verfügung oder mit Bewilligung des tatsächlich Eingetragenen jederzeit eintragen lassen (§  899 BGB). Ist ein solcher Widerspruch eingetragen, kann sich der Erwerber nicht mehr auf seinen guten Glauben berufen; ein Gutglaubenserwerb vom Nichtberechtigten ist dann ausgeschlossen. Beispiel

Peter Ehrlich ist irrtümlich als Eigentümer eines Grundstücks im Grundbuch eingetragen. Er bestellt zugunsten seiner Bank eine Buchgrundschuld, die in das Grundbuch eingetragen wird. Die Bank hat die Grundschuld rechtswirksam erworben, sofern sie keine Kenntnis von dem „wahren“ Eigentümer hatte und kein entsprechender Widerspruch im Grundbuch eingetragen war. ◄

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 Übereignung von Grundstücken: Überblick über die Voraussetzungen I

4.4 Belastungen

275

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 Übereignung von Grundstücken: Überblick über die Voraussetzungen II

4.4

Belastungen

Der Grundstückeigentümer kann sein Grundstück verpfänden oder Dritten besondere Rechte zur wirtschaftlichen Nutzung des Grundstücks einräumen. Diese Belastungen des Grundeigentums entstehen mit Eintragung im Grundbuch, bleiben bei der Veräußerung erhalten und sind bei einer etwaigen Zwangsversteigerung zu berücksichtigen.

713

4.4.1 Grundpfandrechte Die wichtigsten Belastungen des Grundeigentums sind die sog. Grundpfandrechte: • Hypothek (§§ 1113 ff. BGB), • Grundschuld (§§ 1191 ff. BGB), • Rentenschuld (§§ 1199 ff. BGB). Sie gewähren keine Nutzungsbefugnis, sondern verschaffen Sicherheit. Gesichert wird ein Kredit (Darlehen) und zwar dadurch, dass mit dem belasteten Grundstück für die Rückführung des Kredits (Tilgung des Darlehens) gehaftet wird. Die Belastung des Grundstücks ist unabhängig davon, wem die Liegenschaft gehört. Der jeweilige Grundstückseigentümer haftet mit seiner Liegenschaft („aus dem Grundstück“) für die Verbindlichkeiten. Während die Hypothek von der besicherten (persönlichen) Forderung abhängt und diese voraussetzt (Akzessorietät), ist das bei der Grund- und Rentenschuld nicht der Fall.

714

276

4  Grundzüge des Sachenrechts

4.4.1.1 Hypothek Mit einer Hypothek wird ein Grundstück in der Weise belastet, dass an denjenigen, zu dessen Gunsten die Belastung erfolgt, eine bestimmte Geldsumme zur Befriedigung wegen einer ihm zustehenden Forderung aus dem Grundstück zu zahlen ist (§ 1113 Abs. 1 BGB). Die Hypothek ist als streng akzessorisches Grundpfandrecht, das in ihrer Entstehung und ihrem Bestand rechtlich von der zu sichernden Forderung abhängt (Akzessorietät der Hypothek, §  1153 BGB), d.  h. ohne Forderung entsteht keine Hypothek, ohne Forderung überträgt man keine Hypothek und ohne Forderung erlischt die Hypothek. Eine Hypothek kann dabei auch für eine künftige oder eine bedingte Forderung bestellt werden, jedoch erwirbt sie der Gläubiger erst, wenn die Forderung tatsächlich entstanden ist. Bis dahin gehört die Hypothek dem Eigentümer als sog. Eigentümergrundschuld (§ 1177 BGB). Mittels einer Hypothek kann das gesamte Grundstück oder auch nur ein Anteil bei mehreren Miteigentümern belastet werden. Wegen derselben Forderung können auch an mehreren Grundstücken Hypotheken bestehen (sog. Gesamthypothek); jedes Grundstück haftet dann für den gesamten Betrag (§ 1132 Abs. 1 S. 1 BGB). Eine Hypothek entsteht unter den folgenden Voraussetzungen (Abb. 4.4 und 4.5): 716 715

• Einigung (§ 873 BGB), • Eintragung (§ 873 BGB), • Forderungsentstehung (arg. § 1163 Abs. 1 S. 1 BGB),

Entstehung und Übertragung der Hypothek (Teil 1 von 2) Akkzessorietät der Hypothek beim Entstehungstatbestand Forderung

Hypothek

I. • Entstanden durch Einigung über Kaufvertrag, Darlehen usw. • Keine Nichtigkeitsgründe §§ 104 ff. BGB

I. • Entstanden durch Einigung §§ 873, 1113 BGB und Eintragung; bei Briefhypothek außerdem Briefübergabe, § 1116 BGB

II. Nicht erloschen z. B. durch Erfüllung

II. Nicht zur Eigentümergrundschuld geworden. Nachträgliches Erlöschen der Forderung §§ 1163, 1177 BGB (bei Zahlung durch persönlichen Schuldner, der nicht Eigentümer ist, § 1164 BGB)

III. Keine Einreden, z. B. nichterfüllter Vertrag § 320 BGB, Zurückbehaltungsrecht § 273 BGB, Verjährung § 214 Abs. 1 BGB usw.

III. Keine Einreden gegen die Forderung, § 1137 BGB oder gegen die Hypothek (z. B. Stundung der Hypothek)

Abb. 4.4  Entstehung und Übertragung der Hypothek I

4.4 Belastungen

277

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Abb. 4.5  Entstehung und Übertragung der Hypothek II

• Übergabe des Hypothekenbriefs (§§ 952 Abs. 2, 1117, 1163 Abs. 1 BGB). Dieses Erfordernis entfällt, wenn keine Brief-, sondern eine Buchhypothek begründet werden soll (§ 1163 Abs. 2 BGB). Gemäß § 873 BGB erfolgt die Belastung des Grundstücks durch Einigung zwi- 717 schen dem Eigentümer des Grundstücks und dem Gläubiger der durch die Hypothek zu sichernden Forderung (§§ 873 Abs. 1, 1113 Abs. 1, ggf. 1116 Abs. 2 S. 3 BGB). Dabei kann die Belastung eines Grundstücks mit einer Hypothek nach § 873 BGB zwar formlos erfolgen, aber sie wird praktisch immer notariell beurkundet; in eine notarielle Urkunde kann nämlich sogleich die Klausel aufgenommen werden, dass der Eigentümer sich wegen der gesicherten Forderung der Zwangsvollstreckung in sein Grundstück unterwirft. Der Gläubiger braucht dann im Ernstfall den Eigentümer nicht erst zu verklagen, sondern kann sofort in das Grundstück vollstrecken. Im Grundbuch werden gemäß § 1115 Abs. 1 BGB eingetragen und sind daher für jeden interessierten Dritten ersichtlich: der Gläubiger, der Geldbetrag der Forderung, der Zinssatz sowie etwaige Nebenverpflichtungen. Die Hypothek wird durch Eintragung ins Grundbuch bestellt (§ 873 BGB). 718 Dabei ist die Hypothek anfangs streng akzessorisch an die Forderung (z. B. Darlehensauszahlung) gebunden. In der Regel wird dem Gläubiger über die Hypothek ein Hypothekenbrief erteilt 719 (sog. Briefhypothek, § 1116 Abs. 1 BGB) es sei denn, die Erteilung wurde durch Eintragung in das Grundbuch ausgeschlossen (sog. Buchhypothek, § 1116 Abs. 2 BGB). Wurde die Erteilung des Briefes nicht ausgeschlossen, erwirbt der Gläubiger

278

4  Grundzüge des Sachenrechts

die Hypothek erst mit der Aushändigung des Hypothekenbriefs (§  1117 Abs.  1 BGB). Bis zur Briefübergabe steht die Hypothek noch dem Eigentümer zu und verwandelt sich kraft Gesetzes in eine Eigentümergrundschuld (§§ 1163 Abs. 2, 1177 Abs. 1 BGB). Gleiches gilt, wenn die Forderung (noch) nicht entstanden ist oder erlischt (§§ 1163 Abs. 1, 1177 Abs. 1 BGB), z. B. bei Bestellung der Hypothek für eine künftige oder eine bedingte Forderung (§ 1113 Abs. 2 BGB). 720 Der Hypothekenbrief wird nie übereignet, sondern immer (nur) übergeben. Das Eigentum am Brief steht dabei automatisch dem Gläubiger (Inhaber) des Grundpfandrechts zu (§ 952 Abs. 2 BGB). 721 Die Hypothek ist „verkehrsfähig“, d.  h. zum Umlauf geeignet; sie wird daher auch als „Verkehrshypothek“ bezeichnet. Entsprechend des Akzessorietätsgrundsatzes wird sie durch Abtretung der ihr zugrundeliegenden Forderung automatisch mitübertragen (§ 1153 Abs. 1 BGB). Die Übertragung einer Verkehrshypothek ohne Forderung ist nichtig (§  1153 Abs.  2 BGB), es sei denn sie wird gutgläubig erworben (§§ 1138, 892 BGB). Der Erwerber kann sich auf den öffentlichen Glauben des Grundbuches verlassen, und zwar selbst in Ansehung der nicht bestehenden Forderung, deren Existenz dann allein für den Erwerbsvorgang kraft Gesetzes fingiert wird (§ 1138 BGB), um nicht die Nichtigkeitsfolge auszulösen. In diesem Fall erwirbt der gutgläubige Erwerber eine sog. forderungsentkleidete Hypothek; der Akzessorietätsgrundsatz wird ausnahmsweise durchbrochen. Die Hypothek verwandelt sich allerdings nicht in eine Eigentümergrundschuld, es sei denn, sie wurde vom gutgläubigen Grundstückseigentümer selbst erworben(§ 1177 Abs. 1 BGB). 722 Die Übertragung der Hypothek ist dreiaktig. Infolge ihrer Akzessorietät wird strenggenommen nicht das Grundpfandrecht, sondern die Darlehensforderung abgetreten. Die Hypothek geht mit über, weil sie an der Forderung „hängt“ (§§ 401, 1153 BGB). Die Übertragung erfolgt im Falle der • Briefhypothek durch schriftliche Abtretung der zugrunde liegenden Forderung (§§ 1153 Abs. 1 , 398 ff. BGB) – üblicherweise in öffentlich beglaubigter Form (§§ 1155, 129 BGB) – und Übergabe des Hypothekenbriefes (§§ 1154 Abs. 1, 1117 BGB). Daher ist auch der Gläubiger nicht immer aus dem Grundbuch ersichtlich, weshalb Forderung und Hypothek nur geltend gemacht werden können, sofern auch der Hypothekenbrief vorgelegt wird. Ist er verloren gegangen, muss er in einem besonderen Verfahren für kraftlos erklärt werden. • Buchhypothek durch Abtretung der zugrunde liegenden Forderung (§§  1153 Abs. 1, 398 ff. BGB) und Eintragung in das Grundbuch (§§ 1154 Abs. 3, 873 Abs. 1 BGB). Für alle Rechtsvorgänge ist ausschließlich das Grundbuch maßgeblich. Da sie demnach auch nur mittels Umschreibung im Grundbuch abgetreten bzw. weiter übertragen werden kann (Zweiterwerb der Buchhypothek), ist sie eher schwerfällig und gerade für eine (stillen) und oftmals schnell notwendige Sicherungsabtretung weniger gut geeignet. Durch die Abtretung der Forderung wird in beiden Fallvarianten die akzessorische Hypothek mit übertragen: „Mit der Forderung Hand in Hand, wandern Hypothek und Pfand“ (§§ 1153, 1250).

4.4 Belastungen

279

Nach § 1157 S. 1 BGB kann der Eigentümer dem neuen Gläubiger gegenüber 723 alle Einreden und Einwendungen entgegenhalten, die ihm auch gegenüber dem bisherigen Gläubiger zustanden, es sei denn der Erwerber war in Ansehung dieser Einreden und Einwendungen gutgläubig (§§ 1157 S. 2, 892 Abs. 1 BGB). Als Einreden und Einwendungen kommen dabei nicht nur solche gegen den Bestand der Hypothek (z. B. Nichtentstehung, Eintragung mit falschem Inhalt), sondern auch solche gegen den Bestand der gesicherten Forderung (z.  B.  Stundung, Zurückbehaltungsrecht, Nichtigkeit, Anfechtung, Aufrechnung) in Betracht (§§  1137 Abs. 1, 770 BGB). Soweit es nach § 1157 Abs. 1 BGB nur kraft guten Glaubens zum einredefreien Erwerb der Hypothek kommt, bleibt die zugrunde liegende Forderung dennoch weiterhin einredebehaftet, da dem Forderungsrecht eine dem §  1157 BGB entsprechende Vorschrift fremd ist. Der gutgläubige Erwerber einer einredefreien Hypothek kann, falls sie vom Eigentümer erworben wurde, nur in das durch die Hypothek gesicherte Grundstück, nicht aber in das sonstige Vermögen des Grundstückseigentümers vollstrecken. Es gibt verschiedene Hypothekenarten. Von der Verkehrshypothek ist die Sicherungshypothek (§  1184 BGB) zu unterscheiden, für die kein Hypothekenbrief erteilt wird (§ 1185 Abs. 1 BGB). Sie ist streng akzessorisch und hängt hinsichtlich ihrer Übertragung davon ab, ob die zugrunde liegende Forderung tatsächlich besteht; eine Forderungsfiktion gibt es hier nicht. Auch kann sie, da §  1138 BGB nicht gilt, nicht einredefrei erworben werden, womit sie insgesamt nur beschränkt zum Umlauf geeignet ist. Daher hat sie in der Praxis nur noch insoweit Bedeutung, als sie entweder kraft Gesetzes entsteht (z. B. Sicherungshypothek des Bauunternehmers, §  650e BGB) oder weil die zugrunde liegende Forderung der Höhe nach zunächst noch unbestimmt und ein gutgläubiger Erwerb deshalb nicht möglich ist (sogenannte Höchstbetragshypothek, § 1190 BGB). Beispiel

Eine Höchstbetragshypothek dient z. B. zur Besicherung von Krediten aus laufender Rechnung (Kontokorrent), Wechselkrediten oder Lieferantenkrediten. ◄ Auch die Zwangshypothek (§§ 897, 932 ZPO) und die Wertpapierhypothek (§ 1187 BGB) sind kraft Gesetzes Sicherungshypotheken. Bei der Gesamthypothek (§  1132 BGB) haften mehrere Grundstücke zur Sicherung einer Forderung nebeneinander; entweder jedes Grundstück für den gesamten, oder jedes Grundstück für einen ihm zugeteilten Betrag. Bei der Ausfallhypothek haften zur Sicherung einer Forderung mehrere Grundstücke nacheinander, d. h. das dem Rang nachfolgende Grundstück haftet unter der Bedingung des Ausfalls des im Rang vorhergehenden Grundstücks. Das belastete Grundstück haftet als wirtschaftliche Einheit für die gesicherten 724 Forderungen in der Weise, dass der Eigentümer Befriedigung des G ­ läubigers aus dem Grundstück dulden muss (§§ 1147 BGB), notfalls im Wege der Zwangsversteigerung (§§ 19 ff. ZVG) oder Zwangsverwaltung (§§ 148 f. ZVG).

280

4  Grundzüge des Sachenrechts

Dabei haftet das Grundstück für die jeweilige Hauptforderung, die Zinsen sowie die Kosten für die Betreibung der Hypothek (§ 1118 BGB). Zum Haftungsverband der Hypothek gehören: • Erzeugnisse (z. B. Frucht- oder Getreideernten in der Scheune des Grundstückseigentümers), Bestandteile (z. B. Gebäude, Zäune, Obstbäume) und Zubehör des Grundstücks (z. B. Maschinen, Fahrzeuge, Notstromaggregate und sonstige Einrichtungsgegenstände auf einem Grundstück, sofern sie dem Grundstückseigentümer gehören) nach § 1120 BGB sowie Anwartschaftsrechte, die z. B. an einem Zubehörteil aufgrund eines Eigentumsvorbehalts des Verkäufers entstanden sind (es gilt dann § 1120 BGB analog); • Miet- und Pachtforderungen, sofern das Grundstück wirksam vermietet oder verpachtet ist (§  1123 BGB), sowie nach §  1126 BGB alle sonstigen wiederkehrenden Leistungen; soweit der Miet- oder Pachtzins bereits vor der Beschlagnahme entrichtet wurde, ist dies dem Hypothekengläubiger gegenüber wirksam (§ 1124 Abs. 1 BGB); • Versicherungsforderungen für die der Hypothekenhaftung unterliegenden Gegenstände (§§ 1127, 1128, 1129 BGB); dadurch verstärkt sich die Sicherheit des Hypothekengläubigers; er gewinnt einen Ersatz für den untergegangenen Gegenstand.

725

Werden Erzeugnisse, Bestandteile und Zubehörgegenstände veräußert und vom Grundstück entfernt, dann werden sie von der hypothekarischen Haftung frei (§ 1121 Abs. 1 BGB), es findet dann eine sog. Enthaftung statt. Der Erwerber erwirbt sie selbst bei Kenntnis der Hypothekenhaftung unbelastet. Anders dagegen bei einer Beschlagnahme im Rahmen der Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung. Erfolgt die Beschlagnahme vor Veräußerung und Entfernung der Bestandteile, Erzeugnisse und Zubehörstücke, dann ist ein Erwerb der Gegenstände nur möglich, wenn dem Erwerber die Beschlagnahme nicht bekannt war, er also gutgläubig war (§ 1121 Abs. 2 BGB). Die Haftung der Forderungen (z. B. Miet- und Pachtzinsforderungen) erlischt, wenn sie wirksam eingezogen worden sind (§ 1124 BGB). Ein Grundstück kann mit mehreren Hypotheken, Grund- oder Rentenschulden belastet sein. Diese stehen zueinander in einer bestimmten Rangfolge bei der Zwangsvollstreckung, welche der zeitlichen Reihenfolge der Eintragungen entspricht, aber auch unabhängig davon vereinbart werden kann. Das Rangverhältnis wird bedeutsam bei der Verwertung des Grundstücks. Die einzelnen Pfandgläubiger werden nach dem Rang ihrer Rechte befriedigt: die an erster Stelle stehende Hypothek (Grund- oder Rentenschuld) zuerst, die an letzter Stelle stehende zuletzt, soweit der Erlös reicht. Da eine nachrangige Hypothek (Grund- oder Rentenschuld) bei der Verwertung möglicherweise ausfällt, d. h. nicht mehr aus dem Erlös bezahlt werden kann, sind an erster Stelle stehende Belastungen die wertvollsten. Für  Darlehen, die durch Grundpfandrechte an späterer Stelle ­gesichert sind, werden meist höhere Zinsen fällig. Der Wert der Sicherung hängt davon ab, wie hoch die Vorbelastungen im Verhältnis zum Grundstückswert sind.

4.4 Belastungen

281

Beispiel

Ein Grundstück (Wert: 75.000 EUR) ist mit folgenden Hypotheken belastet: 1. Stelle 30.000 EUR, 2. Stelle 25.000 EUR und 3. Stelle 25.000 EUR. Das Grundstück ist in diesem Fall überlastet. Die an 3. Stelle stehende Hypothek wird bei der Verwertung auf keinen Fall mehr voll ausgezahlt werden können, zumal vom Erlös vorab die Kosten zu zahlen sind und der Versteigerungserlös voraussichtlich unter dem Betrag von 75.000 EUR liegen wird. ◄ Neben weiteren Grundpfandrechten können außerdem auch noch andere Rechte im Rang vorgehen, die in Abteilung II des Grundbuchs eingetragen sind, wie z. B. Wohn- oder Nießbrauchrechte. Der Gläubiger eines nachrangigen Grundpfandrechtes wird daran interessiert sein, diesen Rang zu verbessern. Eine Verbesserung tritt ein, sobald vorgehende Grundpfandrechte nach Tilgung der gesicherten Forderungen gelöscht werden. Um dies sicherzustellen, kann der Gläubiger den Eigentümer vertraglich zur Löschung verpflichten und seinen Löschungsanspruch durch eine Löschungsvormerkung im Grundbuch sichern (§ 1179 BGB). Er verhindert damit, dass der Eigentümer den freiwerdenden Rang einem neuen Gläubiger einräumt. Durch das „Gesetz zur Änderung sachenrechtlicher, grundbuchrechtlicher und anderer Vorschriften“, das am 1. Januar 1978 in Kraft trat, hat die Löschungsvormerkung insoweit an Bedeutung verloren, als dass dem Inhaber eines Grundpfandrechts nunmehr ein gesetzlicher Löschungsanspruch zusteht, wenn ein vor- oder gleichgerichtetes Grundpfandrecht bei Eintragung seines Rechts sich mit dem Eigentum vereinigt, also Eigentümergrundschuld ist, oder eine solche Vereinigung nach der Eintragung des Rechts eintritt (§ 1179a BGB). Die Hypothek ist von der Forderung abhängig, weshalb sich die Befriedigung 726 des Gläubigers auch auf die Hypothek auswirkt (Abb. 4.6). Im Einzelnen hängen die exakten Rechtsfolgen für die Hypothek davon ab, wer auf die Forderung leistet: • Zahlt der persönliche Schuldner, der nicht zugleich Eigentümer ist, auf die Forderung, dann erlischt die Forderung (§ 362 BGB), jedoch nicht automatisch die Hypothek, die i. d. R. vom Eigentümer erworben wird (§ 1163 Abs. 1 BGB) und sich in eine Eigentümergrundschuld verwandelt (§ 1177 Abs. 1 BGB). Hat der persönliche Schuldner jedoch Ersatzansprüche gegen den Eigentümer oder dessen Rechtsvorgänger, dann geht die Hypothek in Höhe dieser Ansprüche auf ihn über (§ 1164 Abs. 1 BGB). • Zahlt der Eigentümer des Grundstücks, der nicht zugleich der persönliche Schuldner ist, auf die Forderung, weil sie fällig oder der persönliche Schuldner dazu berechtigt war (§ 1142 Abs. 1 BGB), geht die Forderung, soweit der Eigentümer den Gläubiger befriedigt, auf ihn über (§ 1143 Abs. 1 BGB; gesetzlicher Forderungsübergang). Gleiches gilt für die Hypothek (§ 1153 Abs. 1 BGB), die dann zur Eigentümerhypothek wird (§ 1177 Abs. 2 BGB). Der Eigentümer kann dann die Herausgabe des Hypothekenbriefes und der Urkunden verlangen, die zur Löschung der Hypothek erforderlich sind (§ 1144 BGB).

282

4  Grundzüge des Sachenrechts

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Abb. 4.6  Übergang der Hypothek bei Zahlung

• Zahlt der Eigentümer, der zugleich auch der persönliche Schuldner ist, auf die Forderung, dann erlischt die Forderung. Die Hypothek geht auf den Eigentümer über und verwandelt sich in eine Eigentümergrundschuld (§§ 1163 Abs. 1, 1177 Abs.  1 BGB). In der Hand des Grundstückseigentümers hat sie lediglich eine Platzhalterfunktion durch Rangblockade. Ob der Grundstückseigentümer sie erneut anderweitig verwenden oder löschen lassen möchte, ist nach § 1179a BGB zu beurteilen. • Zahlt schließlich ein Dritter auf die Forderung, dann erlischt die Forderung (§§ 267, 362 BGB), es sei denn, sie geht aufgrund spezialgesetzlicher Normen auf den Dritten über (z. B. §§ 268, 1150; 426 Abs. 2, 774 Abs. 1 BGB), oder der Dritte hat nur Zug um Zug gegen Abtretung der Forderung geleistet. Erlischt die Forderung, wird die Hypothek zur Eigentümergrundschuld (§§  1163 Abs.  1, 1177 Abs. 1 BGB), während sie beim Übergang der Forderung mit dieser übergeht (§§ 1153, 412, 401 BGB). 727

Die Hypothek erlischt nur, wenn der Gläubiger durch Verwertung des Grundstücks befriedigt wird (§ 1181 Abs. 1 BGB). Dagegen erlischt die Hypothek nicht, wenn der Gläubiger auf die Befriedigung der Forderung verzichtet oder wenn der Schuldner, der Eigentümer oder ein Dritter die Forderung tilgen, denn in diesen Fällen erwirbt die Hypothek entweder der Schuldner, der Eigentümer oder der die Schuld tilgende Dritte (siehe vor).

4.4 Belastungen

283

Die Hypothek kann allerdings durch Vereinbarung zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger (falls der Schuldner nicht zugleich Grundstückseigentümer ist, mit Zustimmung des Eigentümers) aufgehoben und im Grundbuch gelöscht werden (§ 1183 BGB). Wenn die Schuld (Forderung) nicht bezahlt wird, darf sich der Gläubiger kraft 728 seines Pfandrechts aus dem Grundstück befriedigen (§ 1147 BGB). Er muss den Grundstückseigentümer verklagen, die Zwangsvollstreckung in das Grundstück zu dulden – es sei denn, er hat bereits eine vollstreckbare notarielle Urkunde mit Unterwerfungsklausel. Die Klage kann nur dort erhoben werden, wo das Grundstück liegt. Mit dem vollstreckbaren Titel beantragt der Gläubiger dann beim zuständigen Amtsgericht die Zwangsverwaltung (§§  146 Abs.  1, 20 ZVG) oder Zwangsversteigerung (§§ 20, 35 ZVG).

4.4.1.2 Grundschuld Die Grundschuld ist ein weiteres wichtiges Grundpfandrecht. Sie belastet das 729 Grundstück in der Weise, dass an denjenigen, zugunsten dessen die Belastung erfolgt, eine bestimmte Geldsumme aus dem Grundstück zu zahlen ist (§  1191 Abs. 1 BGB). Im Gegensatz zur Hypothek ist die Grundschuld nicht vom Bestehen der zugrundeliegenden (gesicherten) Forderung abhängig, sondern eine rein abstrakte Grundstücksbelastung. Es braucht nicht einmal eine solche Forderung bestehen. Dementsprechend sind alle Vorschriften des Hypothekenrechts, die auf die Akzessorietät von Grundpfandrecht und Forderung abstellen, nicht anwendbar (§ 1192 Abs. 1 BGB). Trotzdem spielt die Grundschuld gerade bei der Besicherung von Krediten eine 730 erhebliche Rolle (sog. Sicherungsgrundschuld), wobei die Verknüpfung von Grundschuld und Forderung dann durch eine formfreie Sicherungszweckvereinbarung hergestellt wird. Dieser allgemeine Sicherungsvertrag (§  311 Abs.  1  BGB) stellt eine gewisse (vertragliche) Abhängigkeit zwischen Forderung und Grundschuld her und gibt darüber hinaus zu erkennen, für welche Ansprüche des Gläubigers die Grundschuld zur Sicherheit herangezogen werden soll. Die Sicherungszweckvereinbarung beinhaltet typischerweise den Sicherungszweck, Absprachen über die treuhänderische Verwendung, die persönliche Haftung, die Verrechnung von Zahlungen, über Grundstücksmodalitäten (z. B. Versicherung), die Freigabe und Verwertung sowie die ergänzende Geltung von AGB. Dabei lassen sich noch folgende Besonderheiten benennen: • Im Rahmen des Sicherungszwecks ist die Sicherung aller gegenwärtigen und künftigen Ansprüche aus der Geschäftsverbindung zulässig, wenn Kreditnehmer und Eigentümer (Sicherungsgeber) identisch sind. Sind Kreditnehmer und Sicherungsgeber dagegen nicht identisch, kann ein umfassender Sicherungszweck im Einzelfall gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen oder, falls deren Vereinbarung formularmäßig erfolgt, überraschend i.  S.  d. §  305c BGB sein, insbesondere dann, wenn der Kredit selbst zweckgebunden ist.

284

4  Grundzüge des Sachenrechts

• Eine treuhänderische Verwendung kommt in Betracht, wenn z.  B. die Grundschuld vorrangig für eine andere Bank als Sicherheit gehalten wird und nur nachrangig der Bank selbst als Sicherheit dient (z.  B. eine inländische Bank hält Grundschulden für eine Tochter in den europäischen Mitgliedstaaten). • Das persönliche, abstrakte Haftungsversprechen (§ 780 BGB) erfolgt üblicherweise in vollstreckbarer Form als Teil der Grundschuldurkunde und erlaubt es dem Sicherungsnehmer (z. B. der Bank), nicht nur in das Grundstück, sondern in das gesamte Vermögen des Sicherungsgebers zu vollstrecken. 731

Eine Grundschuld entsteht, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: • Einigung (§ 873 BGB), • Eintragung (§ 873 BGB), • Übergabe des Grundbuchbriefs (§§ 1192 Abs. 1, 1117, 952 Abs. 2 BGB). Dieses Erfordernis entfällt, wenn keine Brief-, sondern eine Buchgrundschuld begründet wird.

Auch eine Grundschuld – gleichgültig ob Brief- oder Buchgrundschuld – wird bestellt, indem der Gläubiger und Eigentümer sich einigen und der Gläubiger im Grundbuch eingetragen wird. Die zu sichernde Forderung wird dabei im Grundbuch nicht genannt. Zum Erwerb der Briefgrundschuld ist neben der Eintragung ins Grundbuch die Übergabe des Grundschuldbriefes erforderlich. Der Gläubiger erwirbt die Brief- oder Buchgrundschuld selbst dann, wenn die zu sichernde Forderung nicht entstanden ist. Hinsichtlich des gutgläubigen Erwerbs gilt das zur Hypothek Gesagte entsprechend. Die Übertragung der Grundschuld ist ebenfalls dreiaktig. Da ihr die 733 Akzessorietät fehlt, muss keine Forderung, sondern kann die Grundschuld selbst abgetreten werden (§ 413 BGB). Eine Briefgrundschuld wird mittels schriftlicher Abtretungserklärung, üblicherweise in öffentlich beglaubigter Form (§§  1154, 1155, 1192 BGB) und Übergabe des Grundschuldbriefes (§§ 1192, 1154, 1117, 952 Abs.  2 BGB) abgetreten und weiter übertragen, eine Buchgrundschuld durch formlose Einigung und Eintragung ins Grundbuch (§§ 1192 Abs. 1, 1154 Abs. 1, 398 ff. BGB). Wenn außer der Grundschuld die zugrundeliegende Forderung mit abgetreten werden soll, muss dies durch einen parallellaufenden Abtretungsvertrag (gleichzeitig) verabredet werden. Eine Bank ist daher zumeist nicht berechtigt, die Grundschuld ohne die Forderung oder die Forderung ohne die Grundschuld abzutreten, weil hier regelmäßig eine Sicherungszweckvereinbarung die fehlende Akzessorietät kompensiert (sog. Sicherungsgrundschuld) Nach §§ 1192 Abs. 1, 1157 BGB kann der Eigentümer dem neuen Gläubiger gegen734 über alle Einreden und Einwendungen entgegenhalten, die ihm auch gegenüber dem bisherigen Gläubiger zustanden, es sei denn, der Erwerber war in Ansehung dieser Einreden und Einwendungen gutgläubig (§§ 1192 Abs. 1, 1157, 892 BGB). Anders als bei der Hypothek gilt dies aber wegen der fehlenden ­Akzessorietät nicht für Einreden und Einwendungen gegen den Bestand der gesicherten Forderung (§  1137 BGB), es sei denn, der Eigentümer ist zugleich persönlicher Schuldner (§ 404 BGB). In diesem Fall, 732

4.4 Belastungen

285

wenn also der Eigentümer-Schuldner sowohl Einreden und/oder Einwendungen aus der Grundschuld wie aus der gesicherten Forderung hat, kann der gutgläubige Erwerber von Grundschuld und Forderung zwar die Grundschuld einredefrei erwerben, nicht aber die Forderung, da das Forderungsrecht keinen Gutglaubensschutz kennt. Vorbehaltlich der Gutgläubigkeit des Erwerbers einer Grundschuld kann der Grundstückseigentümer diesem gegenüber alle Einwendungen und Einreden geltend machen, die sich aus dem Sicherungsvertrag ergeben. Dies gilt insbesondere für die Einrede der Nichtvalutierung, deren Endgültigkeit zugleich der Bedingungseintritt für den durch die Sicherungszweckvereinbarung aufschiebend bedingt vereinbarten Rückübertragungsanspruch ist. Daneben hat er Einwendungen gegen die Grundschuldbestellung (z.  B.  Nichtentstehung, Eintragung mit falschem Inhalt). Der Erwerber ist allerdings hinsichtlich Einreden und Einwendungen des Eigentümers aus der Sicherungsvereinbarung nicht gutgläubig, wenn er den Sicherungscharakter der Grundschuld und deren Nichtvalutierung positiv kannte (§ 892 BGB); eine grob fahrlässige Unkenntnis reicht für die Begründung der Bösgläubigkeit des Erwerbers nicht aus. Auch von der Grundschuld wird das Grundstück mit Erzeugnissen, Bestand- 735 teilen, Zubehör, Mieten- und Pachtforderungen erfasst. Was im Rahmen der Hypothek über die Vollstreckung, den Haftungsverbund und die Rangverhältnisse gesagt wurde, gilt auch für die Grundschuld (§§ 1192 Abs. 1, 1147,1120 ff. BGB). Die Verrechnung von Zahlungen erfolgt i. d. R. ausschließlich auf die gesicherten Kreditforderungen, es sein denn, eine Verrechnung auf Zinsen und Kapital der Grundschuld wurde ausdrücklich gesondert vereinbart oder die Zwangsvollstreckung bereits angedroht oder eingeleitet. Der Sicherungsgeber (Grundstückseigentümer) hat Anspruch auf Rücküber- 736 tragung der Grundschuld, sei es aufschiebend, bedingt aufgrund der Sicherungszweckvereinbarung oder, falls diese unwirksam ist, aus § 812 Abs. 1 BGB. Gleichund nachrangige Grundpfandgläubiger lassen sich regelmäßig diesen Anspruch zusätzlich zum gesetzlichen Löschungsanspruch nach §§  1179a, 1179b BGB formularmäßig abtreten, um zu verhindern, dass der Grundstückseigentümer diesen Anspruch anderweitig frei verwertet. Rückübertragungsansprüche werden i. d. R. hinsichtlich aller Grundpfandrechte, die der Grundschuld der Bank gegenwärtig und künftig im Range vorgehen oder gleichstehen, abgetreten. Im Einzelnen gilt bei Zahlungen auf die Forderung/Grundschuld folgendes: • Zahlt der persönliche Schuldner, der nicht zugleich Eigentümer ist, auf die Forderung, dann erlischt sie (§ 362 BGB). Die Grundschuld bleibt bestehen. Der Gläubiger ist aufgrund der Sicherungszweckvereinbarung verpflichtet, sie an den Eigentümer zurück zu übertragen. Hat der Schuldner allerdings aus dem Innenverhältnis mit dem Eigentümer Ersatzansprüche gegen diesen, ist § 1164 BGB nicht anwendbar. Der Schuldner kann aber von diesem die Abtretung des Rückübertragungsanspruchs oder der zurück übertragenden Grundschuld verlangen. • Zahlt der Eigentümer, der nicht zugleich der persönliche Schuldner ist, auf die Forderung, weil sie fällig oder der persönliche Schuldner dazu berechtigt war (§ 1142 Abs. 1 BGB), erlischt diese, wenn der Gläubiger sie nicht Zug um Zug gegen Zahlung an den Eigentümer abgetreten hat. Die Grundschuld bleibt

286



• •





737 738

4  Grundzüge des Sachenrechts

Fremdgrundschuld; der Eigentümer kann von dem Gläubiger Rückübertragung aus der Sicherungszweckvereinbarung verlangen. Zahlt der Eigentümer, der nicht zugleich der persönliche Schuldner ist, auf die Grundschuld, dann erwirbt er sie als Eigentümergrundschuld. In diesem Fall erlischt weder die Forderung, noch geht sie mangels Akzessorietät auf den Eigentümer über, sondern der Schuldner erlangt mit Zahlung gegenüber dem Gläubiger lediglich ein Leistungsverweigerungsrecht, um eine Doppelbefriedigung des Gläubigers vermeiden zu können. Zahlt der Eigentümer, der zugleich der persönliche Schuldner ist, auf die Forderung, erlischt diese. Die Grundschuld bleibt Fremdgrundschuld; der Eigentümer hat einen Anspruch auf Rückübertragung aus der Sicherungszweckvereinbarung. Zahlt der Eigentümer-Schuldner jedoch nicht auf die Forderung, sondern, weil diese fällig geworden ist, auf die Grundschuld, erwirbt er sie als Eigentümergrundschuld, die nach Maßgabe von §§ 1192 Abs. 1, 1168 BGB erlischt. Mit der Ablösung der Grundschuld erlischt auch die Forderung, weil zugleich auch auf sie geleistet wird. Zahlt ein ablöseberechtigter Dritter auf die Forderung, erwirbt er sie (§  268 Abs. 3 BGB) ohne Grundschuld, da § 401 BGB nicht anwendbar ist. Die Grundschuld bleibt Fremdgrundschuld; der Eigentümer hat aber aus der Sicherungszweckvereinbarung Anspruch auf Rückübertragung an sich bzw. ist zur Abtretung der Rückübertragungsansprüche an den Schuldner verpflichtet, sollte dieser gegen ihn Rückgriffsansprüche haben. Zahlt ein ablöseberechtigter Dritter allein auf die Grundschuld, erwirbt er sie gemäß §§  268 Abs.  3, 1150, 1192 Abs. 1 BGB; die Forderung erlischt nicht. Ist ein Dritter nicht ablöseberechtigt und zahlt auf die Forderung, erlischt diese. Die Grundschuld bleibt Fremdgrundschuld; der Eigentümer hat aus der Sicherungszweckvereinbarung Anspruch auf Rückübertragung derselben. Zahlt der Dritte dagegen auf die Grundschuld, wird diese Eigentümergrundschuld; die gesicherte Forderung erlischt mangels Akzessorietät nicht. Geht der Wille des Dritten, auf was er zu zahlen gedenkt, nicht eindeutig hervor, gilt Folgendes: Im Zweifel zahlt der persönliche Schuldner der nicht zugleich Eigentümer ist, nur auf die Forderung. Der Eigentümer, der nicht zugleich persönlicher Schuldner ist, zahlt nur auf die Grundschuld. Ist der Eigentümer zugleich persönlicher Schuldner, zahlt er auf die Forderung, wenn er einschließlich der letzten Rate laufende Amortisationsraten erbracht hat, auf die Grundschuld bei angedrohter oder eingeleiteter Zwangsvollstreckung.

Hinsichtlich des Erlöschens, der Aufhebung und Verwertung der Grundschuld gilt das zur Hypothek Ausgeführte entsprechend. Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Eigentümergrundschuld (§ 1196 BGB). Der Eigentümer kann sich an seinem eigenen Grundstück jederzeit ein Grundpfandrecht bestellen. Dazu braucht er nur dem Grundbuchamt gegenüber zu erklären, dass eine Grundschuld für ihn in das Grundbuch eingetragen werden soll,

4.4 Belastungen

287

§  1196 Abs.  2 Hs.  1 BGB.  Allerdings kann er zu seiner Befriedigung nicht die Zwangsverwaltung oder Zwangsversteigerung betreiben (§ 1197 Abs. 1 BGB). Die Grundschuld hat für ihn gleichwohl wirtschaftliche Bedeutung, denn sie ermöglicht ihm, eine günstige Rangstelle im Grundbuch freizuhalten, um sie für eine später notwendig werdende Kreditsicherung einzusetzen. Die Verpfändung des Grundstücks mittels einer Eigentümergrundschuld ist deshalb besonders beliebt, weil der Eigentümer sie mit einfacher schriftlicher Abtretungserklärung und Übergabe des Grundschuldbriefs einem Gläubiger übertragen kann, ohne dass dieser im Grundbuch eingetragen zu werden braucht. Außenstehende können daher dem Grundbuch nicht entnehmen, ob und an wen der Eigentümer sein Grundstück verpfändet hat. Die erwünschte Anonymität des Kreditgebers bleibt so gewahrt. Diese einfache Handhabung ermöglicht es, die Eigentümergrundschuld je nach Bedarf wechselnd zur Absicherung der verschiedensten Forderungen einzusetzen. Eine Hypothek kann jederzeit in eine Grundschuld, eine Grundschuld jederzeit 739 in eine Hypothek umgewandelt werden (§ 1198 S. 1 BGB).

4.4.1.3 Rentenschuld Die Rentenschuld ist eine besondere Form der Grundschuld. Während die Grund- 740 schuld zur einmaligen Zahlung der Geldsumme verpflichtet, belastet die Rentenschuld das Grundstück in der Weise, dass in regelmäßigen Zeitabständen eine Geldsumme aus dem Grundstück zu zahlen ist (§ 1199 Abs. 1 BGB). Der Eigentümer ist berechtigt, die Rentenschuld nach vorheriger Kündigung 741 durch eine einmalige Zahlung abzulösen (§§ 1201, 1202 BGB). Die Ablösesumme muss von vornherein bestimmt und im Grundbuch eingetragen werden. Auch die Rentenschuld kann in eine gewöhnliche Grundschuld umgewandelt 742 werden und umgekehrt (§ 1203 S. 1 BGB).

4.4.2 Dienstbarkeiten Grunddienstbarkeiten beschränken den Eigentümer des belasteten Grundstücks 743 in der Benutzung seines Grund und Bodens und in der Ausübung seiner Eigentumsrechte. Je nach Inhalt der Dienstbarkeit muss er eine bestimmte Benutzung des Grundstücks durch den Berechtigten dulden oder muss bestimmte Handlungen auf seinem Grundstück unterlassen (§§ 1018 ff., 1090 ff. BGB). Beispiel

• Der Grundstückseigentümer hat seinem alten Vater ein lebenslanges Wohnrecht in bestimmten Räumen seines Hauses eingeräumt(­ Benutzungsdienstbarkeit und gleichzeitig beschränkt persönliche Dienstbarkeit in Form eines dinglichen Wohnrechts, § 1093 BGB). • Der Eigentümer zweier nebeneinander liegender Grundstücke verkauft eines und erlegt dem Erwerber die Beschränkung auf, das erworbene Grundstück

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4  Grundzüge des Sachenrechts

nur in bestimmter Weise zu bebauen, damit die Aussicht des Nachbargrundstücks in die freie Landschaft nicht beeinträchtigt wird (Verbotsdienstbarkeit). • Der Eigentümer eines an eine Fabrik angrenzenden Grundstücks verzichtet auf Abwehrrechte gegenüber Geruchs- und Lärmbelästigungen (Ausschließungsdienstbarkeit). ◄ 744

Ein in der Praxis sehr wichtiger Unterfall der Dienstbarkeit ist der Nießbrauch (§§ 1030 ff. BGB). Er berechtigt den Nießbraucher dazu, das Grundstück mitsamt Zubehör in Besitz zu nehmen und wie ein Eigentümer zu nutzen. Beispiel

Einnahme von Mietzinsen; Ausbeutung eines Kieslagers auf dem Grundstück; Verwertung der Früchte eines Obstgartens; Betrieb eines Gutshofes oder einer Fabrik. ◄ 745

Der Nießbrauch ist nicht übertragbar und nicht vererbbar, er erlischt mit dem Tod des Berechtigten (§§ 1059, 1061 BGB). Bei juristischen Personen kann allerdings der Nießbrauch auf den Rechtsnachfolger übertragen werden (§ 1059a BGB).

4.4.3 Erbbaurecht Ein Grundstück kann auch in der Weise belastet werden, dass dem Begünstigten das Recht zusteht, auf oder unter der Oberfläche des Grundstücks ein Bauwerk zu haben (§ 1 ErbbauRG). Das Recht wird ins Grundbuch und in ein ergänzendes Erbbaugrundbuch eingetragen. Es ist veräußerlich und vererblich und wird in der Regel für lange Zeiträume (mehr als 30 Jahre, in der Regel 99 Jahre) von Kirchen und Gemeinden bestellt, um auch einkommensschwachen Familien den Wohnungsbau zu ermöglichen. Nach dem vereinbarten Zeitablauf erlischt das Erbbaurecht und das Gebäude verbleibt dem Grundstückseigentümer, je nach Vereinbarung ohne oder gegen eine Entschädigungszahlung. Eine Veräußerung des Erbbaurechts kann von der Zustimmung des Grundstückseigentümers abhängig gemacht werden. 747 In der Regel wird der Berechtigte ein Entgelt (Erbbauzins) zahlen; dieses kann nur im Grundbuch eingetragen werden, soweit es nach Zeit und Höhe für die ganze Erbbauzeit im Voraus bestimmt ist. Wertsicherungsklauseln, die Kaufkraftverluste ausgleichen helfen, können nur vertraglich zwischen dem Eigentümer und dem Erbbauberechtigten vereinbart werden und sind bei Wohnbauten obendrein nur beschränkt zulässig (§ 9 ErbbauRG). 746

4.4.4 Vorkaufsrecht 748

Auch ein Vorkaufsrecht kann als Belastung im Grundbuch dinglich gesichert werden (§§ 1094 ff. BGB).

4.5 Eigentumsschutz

289

4.4.5 Reallast Die Reallast ist ein Recht auf wiederkehrende Leistungen (Naturalien, Geld- oder 749 Dienstleistungen) aus dem Grundstück (§§ 1105 ff. BGB).

4.4.6 Altenteil Durch ein Altenteil (auch Leibgeding, Leibzucht oder Auszugsrecht genannt) soll 750 die Versorgung des Berechtigten im Alter abgesichert werden. Es ist eine Kombination aus einer Reallast (Verpflegung, Taschengeld usw.) und einem dinglichen Wohnrecht (teilweise auch Nießbrauch). Das Altenteil kommt in der Praxis häufig im Zusammenhang mit der Übertragung landwirtschaftlicher Betriebe auf die Kinder vor.

4.5

Eigentumsschutz

4.5.1 Herausgabeanspruch Nach § 903 BGB kann der Eigentümer einer Sache mit dieser nach Belieben ver- 751 fahren, soweit nicht das Gesetz oder Rechte anderer entgegenstehen. Um dies zu gewährleisten, stehen dem Eigentümer verschiedene Abwehrrechte zu, sofern sein Eigentum beeinträchtigt wird. Von besonderer Relevanz ist dabei sein Herausgabeanspruch aus § 985 BGB. Danach kann der Eigentümer vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen, sofern der Besitzer ihm gegenüber nicht  – oder nicht mehr – zum Besitz berechtigt ist. Die Eigentümerstellung des Anspruchsberechtigten ist genau zu prüfen, da 752 der Herausgabeanspruch nach §  985 BGB nur dem jeweiligen Eigentümer der Sache zusteht. Zum Nachweis seines Eigentums kann sich der Eigentümer der Eigentumsvermutung des § 1006 BGB bedienen. Dies ist allerdings erst dann möglich, wenn er zuvor die zugunsten des jetzigen Besitzers sprechende Eigentumsvermutung widerlegt hat. Sofern der (ursprüngliche) Eigentümer die Sache aufgrund Gutglaubensvorschriften an einen Dritten verloren hat, ist die Anspruchsberechtigung jedenfalls nicht mehr gegeben. Anspruchsgegner ist der jeweilige Besitzer der Sache. Dabei steht dem Eigen- 753 tümer der Anspruch sowohl gegen den unmittelbaren, als auch gegen den mittelbaren Besitzer zu. Vom unmittelbaren Besitzer kann er direkte Herausgabe verlangen, vom mittelbaren Besitzer Abtretung des Herausgabeanspruchs (§§ 870, 398 BGB) oder Herausgabe des unmittelbaren Besitzes. Beispiel

Nach Ablauf der vereinbarten Zeit muss der Entleiher die Sache dem Eigentümer zurückgeben.

290

4  Grundzüge des Sachenrechts

Der Angestellte, der Waren unterschlagen hat, muss sie an den Eigentümer herausgeben. ◄ 754

Der Besitzer kann die Herausgabe allerdings verweigern, wenn er dem Eigentümer gegenüber zum Besitz berechtigt ist, d. h. er als unmittelbarer Besitzer selbst ein Recht zum Besitz hat oder wenn der mittelbare Besitzer, von dem er sein Recht zum Besitz ableitet, dem Eigentümer gegenüber zum Besitz berechtigt ist (§ 986 BGB). Hierfür ist der Besitzer beweispflichtig. Das Recht zum Besitz (§ 986 BGB) ergibt sich häufig aus schuldrechtlichen Verträgen, die eine Gebrauchsüberlassung zum Inhalt haben, beispielsweise aus dem Miet- oder Leasingvertrag oder auch aus einem Kaufvertrag unter Eigentumsvorbehalt bis zum Eintritt der aufschiebenden Bedingung der Kaufpreiszahlung. Es ist daher zu prüfen, ob das besitzbegründende Schuldverhältnis wirksam entstanden ist (§§ 104 ff. BGB), noch besteht oder bereits wieder erloschen ist (z. B. Kündigung des Leasingvertrages). Beispiel

K kauft bei Verkäufer V ein Auto unter Eigentumsvorbehalt. Der Kaufvertrag gibt dem K ein Recht zum Besitz, welches er dem V entgegenhalten kann. Zahlt K allerdings die vereinbarten Raten nicht und tritt der V vom Kaufvertrag zurück, entfällt auch das Besitzrecht des K – er muss die Sache dann gem. § 985 BGB dem V zurückgeben. ◄ 755

Der Herausgabeanspruch nach § 985 BGB richtet sich gegen den jeweiligen Besitzer, der kein direktes oder abgeleitetes Recht (mehr) zum Besitz der Sache hat § 986 BGB. Insbesondere bei abgeleitetem Besitz besteht der Herausgabeanspruch des Eigentümers darin, dass er von dem unberechtigten Besitzer die Herausgabe der Sache nicht an sich selbst, sondern an den berechtigten Besitzer verlangen kann. Beispiel

Der Eigentümer E hat für die Dauer von fünf Jahren Geschäftsräume an die B-Bank vermietet und dabei die Erlaubnis zur Untervermietung ausgeschlossen. Wegen vorzeitiger Betriebsverlegung vermietet die B-Bank ohne Einwilligung des E die Geschäftsräume für die Restlaufzeit des Mietvertrages an die Firma F.  Hier hat E infolge der unberechtigten Untervermietung einen Herausgabeanspruch gemäß § 985 BGB gegen die Firma F. Doch kann E nicht die ­Herausgabe an sich selbst verlangen, da die B-Bank für die Dauer des Mietvertrages noch zum Besitz der Sache berechtigt ist. E kann aber von der Firma F die Herausgabe der Sache an die B-Bank verlangen. ◄ 756

Der sachenrechtliche Herausgabeanspruch aus dem Eigentum entfällt, wenn das Eigentum infolge eines gutgläubigen Erwerbs verlorengeht (§§ 929, 932, 933, 934

4.5 Eigentumsschutz

291

BGB). Dieser Rechtsverlust wird nach den Vorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung nach § 816 BGB (Abschn. 3.2.3) entschädigt.

4.5.2 Abwehranspruch: Beseitigung und/oder Unterlassung Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des 757 Besitzes beeinträchtigt, kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der (gegenwärtigen) Beeinträchtigung verlangen (§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB). Sind weitere Störungen auch in der Zukunft zu befürchten (Wiederholungsgefahr), kann der Anspruch des Eigentümers auch auf Unterlassung der Beeinträchtigung gerichtet sein (§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB). Eine Beeinträchtigung des Eigentums liegt u. a. in der Verletzung der Sach- 758 substanz, in der Gebrauchsbehinderung, im Gebrauchsentzug oder in der Dispositionsbeeinträchtigung. Zu den Verletzungen der Sachsubstanz gehören z. B. die Zerstörung, Verunstaltung oder Beschädigung der Sache, aber auch sachbezogene Funktionsstörungen, die Veränderung eines Aggregatzustandes und Störungen der Datenverarbeitung durch Veränderung oder Vernichtung von Datenträgern. Der Beseitigungsanspruch hat eine besondere Relevanz bei der Beeinträchtigung 759 von Grundstücken, z. B. durch die Zuführung unwägbarer Stoffe nach § 906 BGB, infolge Gefahr drohender Anlagen gemäß § 907 BGB, infolge drohenden Gebäudeeinsturzes gemäß §  908 BGB, infolge Bodenvertiefungen, Überhängen von Bäumen, Hinüberfallen von Früchten gemäß §§ 909 bis 911 BGB oder infolge einer Überbauung der Grundstücksgrenze nach §  912  BGB.  Hierauf stützen sich insbesondere Nachbarklagen, auch öffentlich-rechtliche nach dem BImSchG. Beispiel

Lärm- und Geruchsbelästigungen von einem Nachbargrundstück (Fabriken, Viehzucht etc.) können die Grundstücksnutzung beeinträchtigen. Sofern sie wesentlich und nicht ortsüblich sind, besteht auch keine Duldungsverpflichtung der Nachbarn, sie sind rechtswidrig (§ 906 Abs. 2 BGB) und die Nachbarn können Beseitigung und Unterlassen geltend machen. Weitere Beispiele: Unberechtigte Wegenutzung; Blockieren von Ein- und Ausfahrten; Mülldeponie auf dem Privatgrundstück; Unterhaltung einer emittierenden Fabrikanlage. Nicht hingegen bei: Fotografieren eines Privathauses von einer allgemein zugänglichen Stelle aus und der anschließenden gewerblichen Verwertung dieser Fotografie. ◄ Anspruchsgegner ist der Störer. Das ist jeder, der für die Eigentumsbeein- 760 trächtigung, d. h. den rechtswidrigen Eingriff in die Eigentumsposition, ursächlich ist. Dabei versteht man unter einem Handlungsstörer denjenigen, auf dessen Willensbetätigung eine Beeinträchtigung unmittelbar (z. B. Einsatz giftiger Holzschutzlasuren) oder adäquat mittelbar zurückzuführen ist (z. B. Besucherlärm auf

292

4  Grundzüge des Sachenrechts

der Straße wegen Kneipenausschank). Unter einem Zustandsstörer werden diejenigen gefasst, die eine störende Anlage oder ein störendes Grundstück betreiben bzw. unterhalten. 761 Ein Unterlassungsanspruch kann auch vorbeugend, gegen eine erstmals drohende Beeinträchtigung geltend gemacht werden (sog. vorbeugender Unterlassungsanspruch). Der Anspruchsteller (z. B. der Nachbar) muss also nicht erst eine Rechtsverletzung abwarten, sondern kann – wenn diese ernsthaft droht – bereits im Vorfeld mit dem vorbeugenden Unterlassungsanspruch dagegen vorgehen. Dabei sind diese Vermutungen gut zu begründen, um nachvollziehbar zu sein. 762 Die Abwehrrechte erlangen nicht nur bei der Beeinträchtigung von Eigentumsrechten Bedeutung, sondern sie können bei der Beeinträchtigung anderer absoluter Rechtsgüter i. S. des § 823 Abs. 1 BGB zum ebenso Einsatz kommen; § 1004 BGB ist darauf analog anzuwenden. Beispiel

Wird der A vom B im Internet persönlich angegriffen und in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (absolut geschütztes Rechtsgut nach §  823 Abs.  1 BGB) verletzt so kann er von B Unterlassen nach § 1004 BGB analog verlangen. Droht der B die Verletzung erst an, ist auch ein vorbeugender Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 BGB analog möglich. ◄

4.5.3 Schadensersatzanspruch 763

In allen Fällen der Eigentumsverletzung ist neben dem Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch ein Schadensersatzanspruch des Eigentümers gegen den Schädiger aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 BGB gegeben (Abschn. 3.3). Wer einem anderen eine Sache ungerechtfertigt und vorsätzlich oder fahrlässig wegnimmt, zerstört, beschädigt oder dergleichen, begeht eine unerlaubte Handlung nach §  823 BGB und hat dem anderen den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.

4.6 764

Eigentümer-Besitzer-Verhältnis

Das Sachenrecht enthält mit den §§ 987 ff. BGB zahlreiche Ansprüche im Rechtsverhältnis des Eigentümers zum Besitzer (sog. Eigentümer-Besitzer-­ Verhältnis, kurz: EBV), die allesamt eine Vindikationslage voraussetzen. Eine solche liegt vor, wenn der Eigentümer nach §  985 BGB in Anspruch genommene Besitzer kein Recht zum Besitz nach § 986 BGB hat. Denn ließe sich ein Besitzrecht z. B. aus einem bestehenden Besitzmittlungsverhältnisses auf der Grundlage vertraglicher Regelungen ableiten, gehen diese vor. Beispiel

Der V vermietet dem M ein Kraftfahrzeug (§ 535 BGB). Ansprüche aus § 987 ff. BGB sind ausgeschlossen, da keine Vindikationslage besteht. M leitet seine

4.6 Eigentümer-Besitzer-Verhältnis

293

Rechte aus dem Mietverhältnis ab und besitzt berechtigt. Ferner gelten für die Rechte und Pflichten die Regelungen aus dem Mietvertragsrecht (§§  535  ff. BGB) – sie gehen den Regelungen zum Eigentümer-Besitzer-Verhältnis vor. ◄ Der Eigentümer kann bei einer bestehenden Vindikationslage neben dem auf die 765 Sache gerichteten Herausgabeanspruch (§ 985 BGB, Abschn. 4.5.1) auch die vom Besitzer gezogenen Nutzungen herausverlangen und hat im Einzelfall auch noch einen Schadensersatzanspruch (§§ 987–993 BGB). Umgekehrt kann der unberechtigte Besitzer in dieser Vindikationssituation 766 seine Verwendungen zumindest zum Teil vom Eigentümer ersetzt verlangen, wobei das davon abhängig ist, ob der Besitzer redlich oder unredlich (bösgläubig, deliktisch handelnd oder verklagt) besessen hat (§§ 994–1003 BGB). Der Herausgabeanspruch des Eigentümers nach § 985 BGB richtet sich gegen 767 jeden Besitzer, der kein Recht zum Besitz nach § 986 BGB hat – gleich ob redlich oder unredlich. Darüber hinaus muss der unredliche Besitzer auch die gezogenen Nutzungen (Früchte, andere Erzeugnisse und Gebrauchsvorteile) herausgeben, die er nach Rechtshängigkeit zieht (§§ 987, 988 BGB). Dabei bedeutet Rechtshängigkeit die Zustellung einer auf Herausgabe der Sache gerichteten Klage (§ 261 Abs. 1 ZPO). Ferner ist der unredliche Besitzer von der Rechtshängigkeit an dem Eigentümer für den Schaden verantwortlich, der dadurch entsteht, dass infolge seines Verschuldens die Sache verschlechtert wird, untergeht oder aus einem anderen Grund von ihm nicht mehr herausgegeben werden kann (§ 989 BGB). Diese Verpflichtungen trifft auch denjenigen Besitzer, der schon beim Erwerb der Sache nicht in gutem Glauben war oder später bösgläubig geworden ist (§§  990 Abs.  1 S.  1, 987, 989 BGB). Der bösgläubige Besitzer hat außerdem für die Verzugsfolgen einzustehen (§§ 990 Abs. 2, 284 ff. BGB). Sofern der Besitzer sich den Besitz durch verbotene Eigenmacht oder eine Straftat verschafft hat, haftet er nach § 992 BGB dem Eigentümer gegenüber verschärft nach den Regeln der §§ 823 ff. BGB. Beispiel

Der D hat das Fahrzeug des E nachts entwendet und ist damit anschließend in einen Unfall verwickelt, bei dem das Fahrzeug stark beschädigt wurde. Hier kann der E das Fahrzeug vom unredlichen Besitzer D nach § 985 BGB herausverlangen. Der D  – der sich das Fahrzeug durch verbotene Eigenmacht angeeignet hat – hat den Schaden zu ersetzen, der an dem Fahrzeug entstanden ist (§ 992, 823 ff. BGB). ◄ Der redliche Besitzer wird – im Unterschied zum unredlichen Besitzer – privilegiert (§ 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB). Er muss lediglich die gezogenen Früchte, d. h. den wirtschaftlichen Ertrag der Sache, nach Bereicherungsregeln (§§ 812 ff. BGB, Abschn. 3.2) herausgeben (§ 993 Abs. 1 Hs. 1 BGB). Für nicht mehr vorhandene Nutzungen hat er Wertersatz zu leisten (§ 818 Abs. 2 BGB). Dagegen ist er weder zur Herausgabe von sonstigen Nutzungen noch zu Schadensersatz verpflichtet.

294

768

4  Grundzüge des Sachenrechts

Im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis besteht umgekehrt auch ein Anspruch des Besitzers gegen den Eigentümer auf Ersatz der notwendigen Verwendungen, d. h. der Verwendungen, die dem Erhalt der Sache des Eigentümers dienen (§ 994 BGB). Regelmäßig sind das Reparatur-, Instandhaltungs- und Aufbewahrungskosten (z. B. Bremsbeläge des Fahrzeugs erneuern; Futter für das Pferd). Der Umfang der Verwendungsersatzansprüche hängt allerdings generell davon ab, ob der Besitzer redlich (§ 994 Abs. 1 BGB) oder unredlich (§ 994 Abs. 2 BGB) war. Die vom Besitzer erbrachten Eigenleistungen gehören nur dann zu dem Verwendungsersatzanspruch i.  S.  d. §  994 BGB, soweit dem Besitzer andere Einnahmen nicht entstanden sind. Beispiel

Der Mieter M hat einen Wasserschaden im Keller des Hauses repariert und dafür 2000  EUR aufgewandt. Diese Kosten kann er  – weil er ein redlicher Besitzer ist  – vom Vermieter und Eigentümer des Hauses uneingeschränkt ersetzt verlangen (§ 994 Abs. 1 BGB). Wäre der Mieter M allerdings Klempner und selbst tätig geworden, hätte er dafür einen Werklohn fordern können. In diesem Fall hätte er daneben keinen Verwendungsersatzanspruch mehr geltend machen dürfen. ◄ Lediglich nützliche Verwendungen, also Verwendungen, die zwar den Wert der Sache steigern, allerdings nicht erforderlich gewesen wären, sind vom Eigentümer nur zu ersetzen, wenn der Besitzer bei Vornahme der Verwendungen zum Besitz berechtigt und noch redlich war, also vor Rechtshängigkeit oder Bösgläubigkeit. Soweit die Wertsteigerung im Zeitpunkt der Rückgabe noch vorhanden ist, ist Ersatz zu leisten (§ 996 BGB). Beispiel

Der A lässt bei einem Turnierpferd – nicht wissend, dass er zur Herausgabe desselben verpflichtet ist – eine Sehnen-Operation durchführen. ◄ Luxusverwendungen, also Aufwendungen, die den Verkehrswert der Sache objektiv nicht steigern, werden nach §§ 994 ff. BGB nicht ersetzt. Beispiel

Der A lässt einen verchromten Kühlergrill an einem Pkw anbringen. ◄ Fragen

1. A ist Eigentümer eines Fahrrades. B stiehlt dem A das Fahrrad und übereignet es an C. Dieser wiederum an D. Beide, C und D sind hinsichtlich des Eigentums des B gutgläubig. Wie ist die Rechtslage?

4.7  Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Sachenrechts

295

2. Der Bauer B betreibt eine Schweinezucht. Zur Absicherung eines Geschäftskredits sicherungsübereignete er mittels Raumsicherungsvertrag „den gesamten derzeitigen und künftigen Sauenbestand“ seines Hofes der Bank. Als Anlage erhielt der Vertrag eine Lageskizze des Hofes sowie ein Bestandsverzeichnis der übereigneten Sauen; das Bestandsverzeichnis sollte halbjährlich aktualisiert werden. Kurze Zeit darauf verkaufte der B alle seine Schweine seiner Hofnachbarin L, die nichts von der Sicherungsübereignung wusste. Die Schweine blieben auf dem Hof. Es erfolgte lediglich eine Verkaufsanzeige an den Schweinezüchterverband und die Neukennzeichnung der Schweine. a) Konnte die L die Schweine gutgläubig erwerben? b) Wem gehören die sich in den Stallungen des B befindlichen männlichen Schweine? c) Wie beurteilen Sie die Bestimmtheit des Sicherungsgutes? 3. Erläutern Sie, wann es zweckmäßig sein kann, eine Vormerkung ins Grundbuch eintragen zu lassen! 4. Was ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Hypothek und einer Grundschuld?

4.7

Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Sachenrechts

1. Weder C noch D haben Eigentum an dem Fahrrad erworben, da dem A das Fahrrad gestohlen worden ist und in solchen Fällen der Gutglaubenserwerb nach § 932 Abs. 1 BGB nicht möglich ist (§ 935 Satz 1 BGB). A bleibt daher Eigentümer des Fahrrades und kann seinerseits nach § 985 BGB das Fahrrad von dem besitzenden D herausverlangen. D und C sind allerdings nicht rechtlos gestellt, denn D hat gegen C und C gegen den B einen Anspruch wegen nichterfüllten Vertrages. 2. a) Zum gutgläubigen Erwerb bei der versuchten Eigentumsübertragung vom nichtberechtigten B (Eigentümerin ist die Bank) zu L nach §§ 929, 930 BGB, gehören neben der Einigung (§ 929 BGB), der Vereinbarung eines Besitzkonstituts (§ 930 BGB), dem guten Glauben der L (§ 933 BGB) – alles Voraussetzungen die hier unzweifelhaft vorliegen – auch die tatsächliche Übergabe der Sachen (§ 933 BGB). Der Gutglaubenserwerb ist nach § 933 BGB nämlich nur möglich, wenn dem Erwerber die Sache vom Veräußerer übergeben wurde. Die Übergabe liegt allerdings nur vor, wenn der Veräußerer den unmittelbaren Besitz und damit jede Einwirkungsmöglichkeit restlos aufgibt. Die hier lediglich vorgenommene Verbandsanzeige und die Neukennzeichnung der Sauen haben keine besitzrechtliche Bedeutung. Vielmehr wird die Frage der Übergabe allein nach sachenrechtlichen Vorschriften des BGB bestimmt. Da die Sauen in den Stallungen des B verblieben, hat keine Übergabe stattgefunden; die Sauen bleiben daher auch weiter im Eigentum der Bank.

296

4  Grundzüge des Sachenrechts

b) Die männlichen Schweine wurden von der Sicherungsabrede zwischen B und der Bank nicht erfasst und konnten daher vom B als Berechtigten nach §§ 929, 930 BGB an die L übereignet werden. Auf die Voraussetzungen des Gutglaubenserwerbs kommt es hier, wo der B als Berechtigter handelt, nicht an. c) Ein Problem bei der Bestimmtheit ergibt sich hier daraus, dass neben den Sauen, die Gegenstand der sachenrechtlichen Einigung waren, auch Schweine vorhanden waren, die nicht von der Sicherungsübereignung erfasst waren und auch zukünftige Veränderungen umfasst sein sollten. Allerdings ist das dann unproblematisch, wenn die Sachen bestimmbar sind. Dieses ist durch das Bestandsverzeichnis, was außerdem ständig aktualisiert werden sollte, ausreichend gewahrt. 3. Die Eintragung einer Vormerkung ist zweckmäßig, wenn schuldrechtliche Ansprüche an einem Grundstück oder einem Grundstücksrecht bestehen, die gesichert werden sollen. Der gesicherte Anspruch kann durch spätere Verfügungen nicht mehr beeinträchtigt oder vereitelt werden. 4. Der wesentliche Unterschied besteht in der Abhängigkeit zur Forderung, die gesichert werden soll. Die Hypothek ist streng akzessorisch, d. h. sie steht und fällt mit der zugrunde liegenden Forderung. Die Grundschuld ist dagegen von Gesetzes wegen ein von der Forderung völlig unabhängiges Sicherungsrecht.

Teil II Handels- & Gesellschaftsrecht

5

Handelsrecht

Das Handelsrecht ist Teil des Privatrechts und grenzt sich vom bereits bekannten 769 Zivilrecht nach dem sogenannten subjektiven System ab, d. h. für die Anwendung handelsrechtlicher Regelungen ist es entscheidend, ob an dem Rechtsgeschäft Kaufleute beteiligt sind oder nicht  – das Handelsrecht ist das „Sonderprivatrecht für Kaufleute“. Dabei bleibt das Handelsrecht eng mit dem Zivilrecht verknüpft: So werden manche Regelungen des bürgerlichen Rechts durch das HGB ergänzt und modifiziert (z.  B. §§  437  ff. BGB durch die §§  373  ff.  HGB), teilweise werden die bürgerlich-rechtlichen Regelungen durch handelsrechtliche Sonderregeln ersetzt (z. B. § 376 HGB anstelle von §§ 280 Abs. 1, 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB). Stets ist das Handelsrecht, als Sonderprivatrecht der Kaufleute, dem BGB vorrangig. Weist das Handelsrecht hingegen Lücken auf, ist der Rückgriff auf das allgemeine bürgerliche Recht gestattet. Überschneidungen weist das Handelsrecht außerdem zum Gesellschaftsrecht auf. Die offene Handelsgesellschaft und die Kommanditgesellschaft sind als sog. Handelsgesellschaften im HGB (§§ 105–177a HGB) normiert. Dort finden sich die Vorschriften zu deren Entstehung, der Geschäftsführung, des Auftretens nach außen (Stellvertretung) sowie zu deren Beendigung und Auflösung (Abschn.  6.2.2 und 6.2.4). Handelsverkehr findet schließlich auch grenzüberschreitend statt. Dies ist für die Beteiligten nicht immer einfach, da die unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen zur Beantwortung von Fragen nicht notwendig auf dieselbe Lösung zurückgreifen. Um dieses Problem zu bewältigen wurden spezielle internationale Übereinkommen (UN-Kaufrecht) und internationale Handelsklauseln (International Commercial Terms, abgekürzt: Incoterms) festgelegt, welche die Geschäftsabwicklung in wichtigen Teilbereichen des internationalen Handels erleichtern und beschleunigen. In diesem Kapitel werden die Grundzüge des Handelsrechts vermittelt, insbesondere © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_5

299

300

5 Handelsrecht

• wer Kaufmann i. S. d. HGB ist, • was das Handelsregister ist und welche Funktion ihm im Rechtsverkehr zukommt, • was man unter der Firma eines Kaufmanns zu verstehen hat und wie sie geschützt werden kann, • wie der Kaufmann im Geschäftsleben mittels selbständiger und unselbständiger Hilfspersonen handeln kann, • was man unter Handelsgeschäften versteht und welche Besonderheiten für sie im Unterschied zu den bekannten Geschäften des Zivilrechts gelten, • wann und wo kaufmännische Orderpapiere in Erscheinung treten und welche Rechtswirkung von diesen ausgeht, • und schließlich das Recht und die Gebräuche des grenzüberschreitenden Handelsverkehrs.

5.1

Handelsrecht als Sonderprivatrecht der Kaufleute

Das Handelsrecht, auch als Sonderprivatrecht der Kaufleute bezeichnet, baut auf dem allgemeinen Zivilrecht auf und setzt es voraus. Es bestimmt ergänzende bzw. ändernde Vorschriften für einen bestimmten Adressatenkreis, nämlich Kaufleute, d. h. Einzelkaufleute und Handelsgesellschaften. 771 Die Vorschriften zum Handelsrecht sind primär in den fünf Büchern des Handelsgesetzbuches (HGB) zu finden, aber auch in Spezialgesetzen, welche insbesondere die Ausübung eines kaufmännischen Gewerbes anbetreffen (z.  B.  WechselG, ScheckG, DepotG, VVG). 772 Häufig spricht man im Zusammenhang mit dem Handelsrecht von „ergänzenden“ und „ändernden Regelungen“, wobei der Bezugspunkt das bürgerliche Recht (BGB) ist. Als „ergänzende“ Regelungen gelten daher z. B. die Vorschriften über die Firma, das Handelsregister und die Handelsbücher, die keine Anknüpfung im bürgerlichen Recht haben. „Ändernde“ Regelungen sind z. B. die Sondervorschriften über den Annahmeverzug im Handelskauf (§ 373 HGB), das Fixgeschäft (§ 376 HGB), das kaufmännische Zurückbehaltungsrecht (§  369  HGB), die Untersuchungs- und Rügepflicht (§ 377 HGB), die bereits bekannte Regelungen des bürgerlichen Rechts modifizieren. 773 Schließlich spielen im Handelsrecht außerdem das Handelsgewohnheitsrecht und die Handelsbräuche  – als eine in kaufmännischen Verkehrskreisen langanhaltend praktizierte Übung  – eine nicht zu unterschätzende Rolle, weil sie gem. §  346  HGB für Kaufleute kraft Gesetzes gelten und ggf. dispositives Recht verdrängen können. 770

Beispiel

Der Nichtkaufmann A verkauft dem Nichtkaufmann B seinen PKW. Es liegt ein Kaufvertrag gemäß § 433 BGB vor. Falls der PKW mangelhaft ist, ergeben sich die Rechtsfolgen der Sachmängelgewährleistung aus den §§ 437 ff. BGB.

5.1  Handelsrecht als Sonderprivatrecht der Kaufleute

301

Verkauft der Kaufmann C an den Kaufmann D Waren, dann handelt es sich ebenfalls um einen Kaufvertrag i.  S.  d. §  433 BGB.  Ist die Ware mangelhaft, dann ergeben sich zwar die Rechtsfolgen der Sachmängelgewährleistung aus den §§  437  ff. BGB, sie werden aber gemäß §  377  HGB um die kaufmännische Untersuchungs- und Rügepflicht ergänzt, weil ein beiderseitiger Handelskauf vorliegt. ◄ Normadressaten des HGB sind Kaufleute. Als Kaufleute gelten diejenigen, die 774 die Voraussetzungen der §§  1  ff.  HGB erfüllen. Anders als beispielsweise beim UWG (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) oder dem GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) wird gerade nicht auf den Unternehmer bzw. die Unternehmereigenschaft abgestellt, sondern der Kaufmann als Normadressat ausdrücklich definiert. Die handelsrechtlichen Sonderregelungen orientieren sich an den Bedürfnissen 775 des Handelsverkehrs. Geschäftsabläufe müssen im Handelsverkehr beschleunigt und aufeinander abgestimmt stattfinden („just in time“) und dennoch für den Rechtsverkehr hinreichend transparent und aussagekräftig sein. Dabei gelten die Akteure, die Kaufleute, als geschäftsgewandt und erfahren im Umgang mit rechtlichen Instrumentarien und müssen daher  – anders als eine Privatperson  – nicht überbordend geschützt werden. Diese Wesensmerkmale lassen sich den Vorschriften des HGB entnehmen. Im Handelsrecht ist die Geschäftsabwicklung beschleunigt: • Schweigen als Annahme (§§ 362, 346 HGB), • Untersuchungs- und Rügepflicht bei beidseitigem Handelskauf (§  377 Abs.  1 bis 3 HGB), • Erweiterung der Rechte des Verkäufers auf Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf im Annahmeverzug des Käufers (§ 373 HGB). Es gibt weniger Schutzvorschriften, denn der Kaufmann gilt als erfahren: • • • •

Entbehrlichkeit der Schriftform bei Bürgschaftserklärung (§ 350 HGB), Einrede der Vorausklage ist ausgeschlossen (§ 349 HGB), Ausschluss der richterlichen Vertragsstrafeherabsetzung (§ 348 HGB), Entfallen des Verbraucherschutzes (ein Kaufmann ist kein Verbraucher nach § 13 BGB).

Zum Schutz des Rechtsverkehrs wird allerdings eine erhöhte Transparenz in den handelsrechtlichen Abläufen gefordert: • Einrichtung und Publizitätswirkung des Handelsregisters (§ 15 HGB), • Typisierung der Vertretungsbefugnis durch handelsrechtliche Vollmachten (§§ 48 ff. HGB), • Erweiterter Gutglaubensschutz (§ 366 HGB), • Erklärungswert des Schweigens (§ 362 HGB) und kaufmännisches Bestätigungsschreiben.

302

5 Handelsrecht

Die Leistungen eines Kaufmanns sind entgeltlich, auch wenn dies nicht zwischen den Beteiligten vereinbart wurde: • Vergütungsvereinbarung durch Stillschweigen (§ 354 HGB), • Berechtigung zu Fälligkeitszinsen (§§ 352 f. HGB).

5.2 776

Voraussetzung für die Anwendung handelsrechtlicher Vorschriften ist die Kaufmannseigenschaft (Abb.  5.1). Wie sie erworben wird oder unter welchen Umständen sie  unterstellt werden kann, ist im ersten Abschnitt des HGB, in den §§ 1–7 HGB, geregelt. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen: • • • • •

777

Kaufmannsbegriff

Kaufmann kraft Handelsgewerbe, § 1 HGB, Kannkaufmann, §§ 2, 3 HGB, Handelsgesellschaften als Formkaufmann, § 6 HGB, Kaufmann kraft Eintragung (sog. Fiktivkaufmann), § 5 HGB, Kaufmann kraft allgemeinen Rechtsscheins.

Kaufmann ist nach dem Grundtatbestand des § 1 Abs. 1 HGB wer ein Handelsgewerbe betreibt (sog. Istkaufmann). Der Gewerbegriff wird im HGB nicht weiter erklärt. Allerdings lässt sich das Gewerbe definieren als eine auf Dauer angelegte (geplante), selbständige, aber nicht freiberufliche Tätigkeit, die auf Gewinnerzielung ausgerichtet und rechtlich nicht verboten ist (vgl. auch § 15 Abs. 2 EStG).

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Abb. 5.1 Kaufmannsarten

5.2 Kaufmannsbegriff

303

• Die Tätigkeit ist auf Dauer angelegt, wenn sie von vornherein auf eine Vielzahl von Geschäften ausgerichtet ist. Einmalige oder nur gelegentliche Geschäfte sind nicht ausreichend. • Selbständig ist, wer ein Unternehmensrisiko übernimmt und in persönlicher Unabhängigkeit – also nicht weisungsgebunden – seine Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten und ausüben kann (vgl. auch § 84 Abs. 1 S. 2 HGB). Maßgeblich ist alleine die rechtliche Selbständigkeit. Eine Abhängigkeit, die sich u. U. von Kreditgebern, Lieferanten oder Kunden ergibt, ist für das Begriffsmerkmal gerade nicht maßgeblich. • Es darf sich nicht um eine freiberufliche Tätigkeit handeln; Freiberufler sind keine Kaufleute (z. B. Steuerberater, Wirtschaftsprüfer). Die Abgrenzung ist mitunter schwierig, wenngleich z. B. § 1 Abs. 2 PartGG, § 6 GewO und § 18 Abs. 1 Nr. 1  EStG wichtige Hinweise geben, wann eine freiberufliche Tätigkeit (und damit keine kaufmännische) vorliegt. • Die Tätigkeit muss schließlich darauf gerichtet sein, einen den Aufwand übersteigenden Ertrag, d.  h. einen Gewinn zu erwirtschaften, wobei die Absicht dazu genügt. Wer von vornherein nur kostendeckend tätig sein will, betreibt nach umstrittener Auffassung kein Gewerbe. • Ob die Definition des Gewerbes tatsächlich auch das Tatbestandsmerkmal des „Erlaubtseins“ voraussetzt, ist streitig. Die h.  M. hält es für verzichtbar. Zum einen seien gewerbliche Rechtsgeschäfte, die auf eine verbotene oder sittenwidrige Tätigkeit ausgerichtet sind, ohnehin unwirksam (§§ 134, 138 BGB). Ferner sei kein Grund ersichtlich, warum die Handelnden von handelsrechtlichen und steuerlichen Pflichten entbunden werden sollen, was eine Privilegierung gegenüber den rechtskonform Handelnden bedeuten würde. Ein Gewerbebetrieb wird zum Handelsgewerbe, wenn er einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert (§  1 Abs.  2  HGB), wofür wegen des Wortlauts eine Vermutung spricht („es sei denn“). Steht also fest, dass es sich um ein Gewerbe handelt, wird nach § 1 Abs. 2 HGB vermutet, dass ein Handelsgewerbe vorliegt. Eine anderweitige Beurteilung (kein Handelsgewerbe) und damit die Widerlegung der Vermutung ist möglich und hängt von einer Gesamtwürdigung der betrieblichen Verhältnisse nach Art und Umfang ab. Bei der Gesamtwürdigung wird hinsichtlich der Art der Tätigkeit z. B. auf die Buch- und Kassenführung, die Vielfalt der Erzeugnisse und Leistungen, die innerbetriebliche Organisation, die Art des Kundenkreises oder die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr abgestellt. Hinsichtlich des Umfangs des Gewerbebetriebs sind u. a. die Zahl der Beschäftigten, die Höhe von Umsatz und Ertrag oder das Anlage- und Betriebskapital entscheidend. Sprechen die Indizien nach Art und Umfang „für“ eine kaufmännische Einrichtung gelten die Gewerbebetriebe ohne Weiteres als Handelsgewerbe, sprechen sie „gegen“ eine kaufmännische Einrichtung, ist die gesetzliche Vermutung widerlegt und die Betriebe gelten als Kleingewerbebetriebe (zunächst ohne Kaufmannseigenschaft), die jedoch nach §§ 2, 3 HGB zu Handelsgewerben werden können, sofern sie im Handelsregister eingetragen sind.

304

5 Handelsrecht

Beispiel

Eine Bundeswehrkantine mit einem – für sich genommen ausreichend großen – Umsatz von 350.000 EUR erfordert dennoch keinen kaufmännischen Geschäftsbetrieb, da nur gleichförmige Geschäfte gegen Barzahlung getätigt werden. Das Unternehmen eines Optikers mit einem Jahresumsatz von nur 80.000 EUR erfordert einen kaufmännischen Geschäftsbetrieb, wenn die Abwicklung der Geschäftsvorgänge kompliziert ist, weil mit verschiedenen Krankenkassen für ca. 2000 Kunden abgerechnet werden muss und eine bargeldlose, verzögerte Zahlungsweise üblich ist. ◄ Sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 HGB erfüllt, so entsteht automatisch, d. h. ohne weiteren Rechtsakt die Kaufmannseigenschaft (sog. Ist-Kaufmann); der Kaufmann ist zwar gem. §  29  HGB verpflichtet, seine Firma zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden, aber seine Eigenschaft als Kaufmann ist davon nicht abhängig, sie definiert sich alleine über sein Tun. Die Eintragung hat daher lediglich deklaratorische Wirkung (lat. declarare = deutlich machen, erklären). 778 Kleingewerbetreibende, welche die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 HGB nicht erfüllen, können nach § 2 HGB ebenfalls die Kaufmannseigenschaft erwerben, indem sie sich freiwillig in das Handelsregister eintragen lassen (sog. Kannkaufmann). Dadurch wird auch dieser Gruppe die Möglichkeit eröffnet, sich vollständig dem Handelsrecht zu unterstellen. Dies kann u. a. deshalb von Vorteil sein, um eine Prokura (§§ 48 ff. HGB) erteilen zu können oder das Vertrauen der Vertragspartner zu stärken. Der Kleingewerbetreibende muss dafür einen Antrag auf Eintragung in das Handelsregister stellen, womit er sein aus § 2 S. 2 HGB folgendes Wahlrecht ausübt. Die Eintragung ins Handelsregister ist rechtsbegründend; erst ab dem Zeitpunkt, in welchem die Firma des Unternehmens in das Handelsregister eingetragen ist, gilt das Unternehmen als Handelsgewerbe und der Unternehmer als „vollwertiger“ Kaufmann. Die Eintragung hat folglich konstitutive Wirkung (lat. constituere = gründen, festsetzen). Beispiel

A unterhält eine kleine Werkstatt, er repariert Fahrräder in seiner Garage. Damit ist er nach Art und Umfang seiner Geschäftstätigkeit kein Kaufmann i. S. d. § 1 Abs. 1 HGB. Sofern er aber die Eintragung ins Handelsregister veranlasst, kann er Kaufmann i. S. d. § 2 HGB werden. ◄ Nach § 3 HGB können Land- und Forstwirte bezüglich ihrer Haupt- und Nebenbetriebe die Kaufmannseigenschaft ebenfalls durch Eintragung einer Firma ­herbeiführen, wenn der Betrieb kaufmännische Einrichtungen erfordert. Auch hier hat die Eintragung konstitutive Wirkung. 780 Auf Handelsgesellschaften ist gem. §  6 Abs.  1  HGB Kaufmannsrecht anzuwenden. Hierzu zählen im Ergebnis  – wenngleich mit unterschiedlicher Begründung – alle Gesellschaften, die in das Handelsregister eingetragen werden, d. h. 779

5.2 Kaufmannsbegriff

305

die oHG, KG, AG, GmbH, KGaA, EWIV (Kaufmann kraft Gesellschaftsform oder kurz: Formkaufmann). Da die oHG und KG (Abschn. 6.2) nach ihrer gesetzlichen Definition den Betrieb eines Handelsgewerbes voraussetzen (vgl. §§ 105 Abs. 1, 161 Abs. 1 HGB) ist für sie die Regelung des § 6 Abs. 1 HGB allein schon deshalb sachlich begründet. Ist der Zweck der Personenhandelsgesellschaft dagegen nicht auf den Betrieb eines Handelsgewerbes gerichtet  (zur Beurteilung sind Art und Umfang der Geschäftstätigkeit ausschlaggebend), liegt nur eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) vor, wenngleich sie jederzeit kraft Eintragung zur Handelsgesellschaft mutieren kann. Insofern eröffnet § 105 Abs. 2 HGB den kleingewerblichen und vermögensverwaltenden Gesellschaften, die nach § 1 Abs. 2 HGB kein Handelsgewerbe betreiben, die Rechtsform der oHG/KG mit der Eintragung ins Handelsregister. Die Kapitalgesellschaften (AG, KGaA, GmbH, eG) unterstehen den für Kaufleute geltenden Rechtsvorschriften, da sie allein ihrer Rechtsform wegen  – unabhängig von der Art des von ihnen betriebenen Unternehmens – als Handelsgesellschaften bzw. Kaufleute gelten, §§ 3 Abs. 1, 278 Abs. 3 AktG; 13 Abs. 3 GmbHG; 17 Abs. 2 GenG. Beispiel

Eine GmbH, die nach dem Gesellschaftsvertrag ohne Gewinnerzielungsabsicht die für einen karitativen Zweck erforderliche Infrastruktur schaffen soll (z. B. Logistik für eine große Wohlfahrtsveranstaltung zugunsten unterentwickelter Regionen), ist eine Handelsgesellschaft nach § 13 Abs. 3 GmbHG und als solche Kaufmann nach § 6 Abs. 1 HGB, obwohl sie ausweislich ihrer Satzung kein Gewerbe betreibt. ◄ Ob jemand Kaufmann ist und deshalb dem Handelsrecht unterliegt, richtet sich – 781 wie dargestellt – nach den §§ 1–3 HGB. Im Einzelfall kann es aber schwierig sein, festzustellen, ob ein Handelsgewerbe mit dem Erfordernis der kaufmännischen Geschäftseinrichtung vorliegt oder nicht. Diese Unsicherheit im Rahmen der Gesamtbewertung beseitigt § 5 HGB. Der Rechtsverkehr soll sich jedenfalls auf die Eintragung der Firma im Handelsregister verlassen können. Ist also eine Firma ins Handelsregister eingetragen, kann der Betroffene gegenüber einem Dritten nicht mehr geltend machen, dass das unter der Firma betriebene Gewerbe kein Handelsgewerbe sei; vielmehr ist er wegen der Registereintragung wie ein Kaufmann zu behandeln (§ 5 HGB; sog. Fiktivkaufmann). Weil die Anwendung des § 5 HGB aber voraussetzt, dass eine Firma eingetragen ist und ein Gewerbe betrieben wird, ist die Norm unanwendbar, wenn eine oder beide dieser Bedingungen nicht ­vorliegen. § 5 HGB fingiert damit beispielsweise nicht, dass überhaupt ein Gewerbebetrieb vorliegt. Für die Fälle, dass kein Gewerbe betrieben wird und/oder keine Eintragung er- 782 folgt ist, kann eine Person oder ein Personenkreis auch als Kaufmann kraft allgemeiner Rechtsscheingrundsätze gelten (sog. Scheinkaufmann). Wird nämlich in

306

5 Handelsrecht

anderer Weise der Eindruck erweckt, Kaufmann zu sein (z.  B. durch Briefkopfgestaltung, Werbung usw.), gilt gewohnheitsrechtlich der Grundsatz der Erklärungstreue: Der, der einen Rechtsschein hervorgerufen hat, kann sich gegenüber einem gutgläubigen Dritten nicht darauf berufen, kein Kaufmann zu sein. Anders als § 5 HGB gilt dieser Grundsatz allerdings nur zum Schutz gutgläubiger Dritter. Beispiel

A hatte eine Werbeagentur, die als Firma im Handelsregister eingetragen war. Jetzt ist er lediglich Angestellter bei einer Unternehmensberatung und übernimmt Werbeaufträge nur noch nebenberuflich und in ganz geringem Umfang. Seine Firma hat er im Handelsregister löschen lassen. Sofern er allerdings das Geschäftspapier seiner Werbeagentur im Rechtsverkehr weiter verwendet, gilt er als Scheinkaufmann (≠ § 5 HGB) und wird dann, weil er den Rechtsschein zurechenbar gesetzt hat, gegenüber den Vertragspartnern wie ein Kaufmann behandelt. ◄

5.3

Handelsregister

Das Handelsregister ist ein öffentliches Verzeichnis bestimmter Tatsachen, die im Handelsverkehr rechtserheblich sind. Es wird bei den Amtsgerichten geführt (§ 1 HRV). Jedermann hat das Recht, das Register einzusehen. 784 Seit dem 1. Januar 2007 wird das Handelsregister elektronisch geführt, d.  h. Handelsregistereintragungen werden elektronisch bekannt gemacht und können auf elektronischem Wege über das gemeinsame Registerportal der Länder unter der Internetadresse www.handelsregister.de abgerufen werden. Dies erhöht die Transparenz des Registers sowohl im In- als auch im Ausland und beschleunigt die Sichtbarmachung der Handelsregistereintragungen – beides Eigenschaften, welche die Praxis seit Langem forderte. 785 Ins Handelsregister sollen nur Tatsachen aufgenommen und bekannt gemacht werden (§ 10 HGB), die eintragungsfähig sind. Hierzu zählen Tatsachen, bei denen das Gesetz die Eintragung verpflichtend vorschreibt (eintragungspflichtige Tatsachen) und solche, deren Eintragung zwar erlaubt, aber nicht von Gesetzes wegen geboten ist (eintragungsfähige Tatsachen). Zu den eintragungspflichtigen Tatsachen („ist einzutragen“) gehören z. B.: 783

• • • •

Eintragung der Firma (§ 29 HGB), Erteilung und Erlöschen der Prokura (§ 53 Abs. 1 und 2 HGB), Eintragung der oHG oder KG (§§ 106, 162 HGB), Eintragung des Ausschlusses eines persönlich haftenden Gesellschafters von der Vertretung (§ 106 Abs. 1 Nr. 4 HGB), • Eintragung von Eintreten und Ausscheiden der Gesellschafter einer oHG oder KG (§§ 107, 143 Abs. 2 HGB).

5.3 Handelsregister

307

Zu den eintragungsfähigen Tatsachen (Wahlrecht des Eintragenden) gehören z. B.: • Eintragung eines Nebengewerbes eines land- oder forstwirtschaftlichen Betriebes (§ 3 Abs. 3 HGB), • Eintragung von Haftungsausschlüssen (§§ 25 Abs. 2 oder 28 Abs. 2 HGB). Das Register dient primär der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit und damit der 786 Leichtigkeit des Geschäftsverkehrs. Die elektronische Dokumentation der bedeutendsten Rechtsverhältnisse der Kaufleute schützt vor den Gefahren unerkennbarer Rechtslagen (z. B. Haftungs- und Vertretungsfragen) und erspart dem Kaufmann die Mitteilung einer entsprechenden Information an deren Interessenten. Indem das Registergericht die Voraussetzungen der Eintragung vor der Eintragung nochmals überprüft, schützt das Handelsregister auch die Allgemeinheit vor unrichtigen Eintragungen. Manche Eintragungen wirken konstitutiv (= rechtsbegründend), d. h. die Rechtsverhältnisse entstehen erst mit der Eintragung in das Handelsregister, andere lediglich deklaratorisch (=  rechtsbekundend), d.  h. sie legen nur Rechtsverhältnisse offen, die bereits vor Eintragung ins Handelsregister wirksam geworden sind. Konstitutive Wirkung (lat. constituere = gründen, festsetzen): • Die Kaufmannseigenschaft der Kannkaufleute entsteht erst mit der Eintragung ins Handelsregister (§ 2 HGB). • Die GmbH und die AG entstehen erst mit Eintragung in das Handelsregister (§§ 11 Abs. 1 GmbHG, 41 Abs. 1 AktG). Deklaratorische Wirkung (lat. declarere = deutlich machen, erklären): • Die Eintragung eines Istkaufmanns in das Handelsregister wirkt nur deklaratorisch, da allein das Betreiben des Handelsgewerbes die Kaufmannseigenschaft begründet (§ 1 Abs. 1 HGB). • Die Prokura wird bereits mit ihrer Erteilung wirksam (§§  53 Abs.  1, 48 Abs. 1 HGB). Der Prokurist hat Vertretungsmacht und kann deshalb im Namen des Kaufmanns tätig werden, Verträge abschließen, gestalten und beenden. Die nachfolgende Eintragung der Prokura in das Handelsregister wirkt deklaratorisch, weil die bestehende Vollmacht nurmehr offengelegt wird. Die Eintragungen in das Handelsregister erfolgen in den Abteilungen A und 787 B. Die Abteilung A enthält dabei die Tatsachen über Einzelkaufleute, die oHG und die KG, die Abteilung B enthält die Angaben über die Kapitalgesellschaften (z. B. GmbH, AG). Die Eintragung der rechtserheblichen Tatsachen setzt im Allgemeinen eine An- 788 meldung seitens des Meldepflichtigen voraus (§  12  HGB). Bei eintragungs-

308

5 Handelsrecht

pflichtigen Tatsachen kann die Anmeldung durch Beugestrafen (Zwangsgeld) „erzwungen“ werden (§ 14 HGB i. V. m. §§ 388 ff. FamFG). Nur in Ausnahmefällen wird von Amts wegen – also auch ohne Antrag – eingetragen (z. B. bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens, § 32 HGB). 789 Gemäß § 9 Abs. 1 HGB hat das Handelsregister Publizitätswirkung, indem die wichtigen Rechtsverhältnisse der Kaufleute offengelegt werden und jedem, ohne den Nachweis einer Berechtigung, die Einsicht gestattet ist. Die Publizitätswirkung des Handelsregisters tritt jedoch nicht schon mit der Eintragung, sondern erst mit der Bekanntmachung (§ 10 HGB) der eingetragenen Tatsachen – auch in der Amtssprache eines Mitgliedstaates der EU (§ 11 HGB) – ein. Dabei tritt an die Stelle der früher üblichen papierförmigen Bekanntmachung im Amtsblatt und der Tageszeitung das von der Landesjustizverwaltung bestimmte elektronische Informations- und Kommunikationssystem, das als elektronisches Portal via Internet abrufbar ist (§ 9 Abs. 1 S. 2 HGB; „www.handelsregister.de“). Durch die Eintragung und Bekanntmachung der handelsrechtlich erheblichen Tatsachen über das öffentliche Handelsregister wird ein Rechtsschein erzeugt, nämlich eine Vermutung für die Richtigkeit der eingetragenen und bekannt gemachten Tatsachen (Abb. 5.2). Diese Rechtsscheinwirkung geht grundsätzlich auch von unrichtigen bzw. unzutreffenden Eintragungen aus, denn die Tatsachen sind auf Antrag des Kaufmanns eingetragen und bekannt gemacht worden, so dass er auch für deren Richtigkeit einzustehen hat. Die am Geschäftsverkehr teilnehmenden Personen sollen darauf vertrauen können, dass die eingetragenen Tatsachen bestehen (sog. positive Publizität) und dass nicht eingetragene Tatsachen nicht bestehen (sog. negative Publizität). Der gute Glaube an die Richtigkeit des Handelsregisters ist gesetzlich umfassend durch § 15 HGB geschützt. 3XEOL]LWlWVZLUNXQJGHV+DQGHOVUHJLVWHUV =HUVW|UXQJYRQ9HUWUDXHQLP ,QWHUHVVHGHV(LQWUDJHQGHQ

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Abb. 5.2  Publizitätswirkung des Handelsregisters

5.3 Handelsregister

309

Solange eine einzutragende/eintragungspflichtige Tatsache im Handelsregister 790 nicht eingetragen und bekanntgemacht worden ist, bestimmt § 15 Abs. 1 HGB, dass diese Tatsache einem Dritten nicht entgegen gehalten werden kann. Durch diese Norm wird also das Vertrauen des Dritten in das Schweigen, die sog. negative Publizität des Handelsregisters, geschützt. § 15 Abs. 1 HGB hat die folgenden Voraussetzungen: • Es muss sich um eine einzutragende (eintragungspflichtige) Tatsache handeln. • Diese Tatsache darf nicht eingetragen und bekannt gemacht worden sein. Die Eintragung muss, gleich aus welchem Grund, unterblieben sein. Aber selbst wenn die Eintragung erfolgt ist, bleibt § 15 Abs. 1 HGB anwendbar, wenn keine öffentliche Bekanntmachung stattgefunden hat (allerdings kaum relevant). • Gutgläubigkeit des Dritten bei Vornahme der Rechtshandlung. Hinsichtlich der Gutgläubigkeit schadet nur positive Kenntnis der einzutragenden Tatsache. Dritter ist jeder Außenstehende, d. h. jeder nicht an der einzutragenden Tatsache Beteiligter. Weiter muss die Gutgläubigkeit hinsichtlich des Nichtbestehens der Tatsache für die Rechtshandlung kausal gewesen sein. Rechtsfolge des § 15 Abs. 1 HGB ist, dass die betroffenen Tatsachen dem Dritten (einer außerhalb des Handelsbetriebes stehenden Person) nicht entgegengesetzt werden können. Dies gilt selbst dann, wenn der Dritte tatsächlich keine Einsicht in das Handelsregister genommen hat, da es sich bei § 15 Abs. 1 HGB um einen abstrakten Vertrauensschutztatbestand handelt. Die Norm wirkt also zugunsten des Dritten und zuungunsten der Person, in deren Angelegenheiten die Tatsache einzutragen war. Beispiel

Nachdem K die dem P erteilte, eingetragene und bekannt gemachte Prokura am 1. Februar widerrufen hat, schließt P im Namen des K mit dem D am 1. April einen Kaufvertrag. Als D Erfüllung des Vertrages verlangt, macht K geltend, P habe wegen des Widerrufs der Prokura keine Vertretungsmacht gehabt. D weist daraufhin, dass er von dem Widerruf nichts gewusst habe und dieser nicht ins Handelsregister eingetragen worden sei. Hier ist die Prokura des P durch den Widerruf erloschen, allerdings ist das Erlöschen der Prokura eintragungspflichtig (§ 53 Abs. 2 HGB = deklaratorische Eintragung). Solange das Erlöschen nicht in das Handelsregister eingetragen worden ist, darf der gutgläubige D auf das Schweigen des Registers vertrauen und infolgedessen davon ausgehen, dass die Prokura noch besteht und P zur Vertretung des K befugt ist. D kann daher von K Vertragserfüllung verlangen. ◄

310

791

5 Handelsrecht

Sofern eine eintragungsfähige Tatsache eingetragen und bekannt gemacht wurde, kommt § 15 Abs. 2 Satz 1 HGB zur Anwendung. Hiernach gilt die eingetragene Tatsache als vorhanden (sog. positive Publizität des Handelsregisters). Die Person, in deren Angelegenheit die Eintragung der Tatsache erfolgte, kann sich auf diese berufen, selbst wenn der Dritte die Tatsache nicht kannte; § 15 Abs. 2 HGB wirkt also zuungunsten des Dritten und zugunsten der Person, in deren Angelegenheit die Tatsache einzutragen war. Eine Ausnahme hiervon statuiert § 15 Abs. 2 Satz 2 HGB für Handlungen, die innerhalb von 15 Tagen nach der Bekanntmachung erfolgen. Innerhalb dieser Schonfrist von 15 Tagen kann nämlich der Dritte den Nachweis erbringen, dass er die Tatsache weder kannte noch kennen musste. Gelingt ihm dieser Nachweis, wirkt die eingetragene Tatsache auch nicht zu seinen Ungunsten. Allerdings wird der Einwand der unverschuldeten Unkenntnis nur im Ausnahmefall zu begründen sein, da ein ordentlicher Kaufmann verpflichtet ist, die Handelsregisterbekanntmachungen zu lesen. Ein solcher Ausnahmefall wäre beispielsweise gegeben, wenn der Dritte seinen Unternehmenssitz im Ausland hat und unverschuldet keinen Zugang zum Internet hat. Beispiel

Wie im vorherigen Fall, doch das Erlöschen der Prokura ist ins Handelsregister eingetragen und am 1. März bekannt gemacht worden. Hier muss D nun das Erlöschen der Prokura gegen sich gelten lassen, da dieses ins Handelsregister eingetragen und bekannt gemacht worden ist (§ 15 Abs. 2 S. 1 HGB). Mangels Vertretungsmacht des P ist daher die Wirksamkeit des Vertrages von einer Genehmigung durch K abhängig, § 177 Abs. 1 BGB. Dass sich K auf die fehlende Vertretungsmacht beruft, legt eine Verweigerung der Genehmigung nahe, §§ 133, 157 BGB. D würde auch mit einem Vorbringen, er habe unverschuldet keine Kenntnis erlangt, nicht gehört, da bei Kaufabschluss am 1. April die Frist des § 15 Abs. 2 S. 2 HGB bereits abgelaufen war. ◄ 792

§ 15 Abs. 3 HGB soll den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB erweitern. Diese Vorschrift ist anwendbar, wenn eine eintragungspflichtige Tatsache unrichtig bekannt gemacht worden ist. Denn auch von einer unrichtigen Bekanntmachung geht die Rechtsscheinwirkung des Handelsregisters aus; es handelt sich um einen Fall der positiven Publizität. Der Anwendungsbereich dieser Norm ist jedoch insoweit einzuschränken, als der durch die Bekanntmachung erzeugte Rechtsschein dem Betroffenen zuzurechnen sein muss. Eine Zurechnung findet statt, wenn der Betroffene die Bekanntmachung veranlasst oder es schuldhaft unterlassen hat, deren Rechtsschein zu zerstören. Sobald die unrichtige Bekanntmachung erfolgt, kann sich jeder Dritte auf die Bekanntmachung berufen. Dass die tatsächliche Lage nicht korrekt wiedergegeben wird, spielt keine Rolle. Zur Gutgläubigkeit des Dritten gelten die Ausführungen zu § 15 Abs. 1 HGB: es kommt darauf an, dass dem Dritten die Unrichtigkeit der Tat-

5.3 Handelsregister

311

sache nicht bekannt war (positive Kenntnis), denn andernfalls wäre er nicht gutgläubig und dürfte nicht auf den Rechtsschein des Handelsregisters vertrauen. Beispiel

K ernennt P zum Prokuristen; das wird richtig ins Handelsregister eingetragen. In der Bekanntmachung wird jedoch X als Prokurist genannt. X schließt im Namen des K mit D einen Kaufvertrag. Als D von K Vertragserfüllung verlangt, weist dieser auf die fehlende Vertretungsmacht des X hin. D beruft sich auf die Bekanntmachung. Hier kann sich D, der von der fehlerhaften Bekanntmachung nichts weiß, gemäß § 15 Abs. 3 HGB auf die Prokura berufen und Erfüllung der Vertragspflichten von K verlangen. ◄ Darüber hinaus gibt es noch weitere, gesetzlich ungeregelte Fälle der positiven 793 Publizität, die den Regelungsbereich des § 15 Abs. 3 HGB aus allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen heraus ergänzen. Diese gewohnheitsrechtlichen Fälle der Rechtsscheinhaftung betreffen folgende Sachverhalte: • Eine eintragungspflichtige Tatsache ist falsch eingetragen oder wird versehentlich nicht bekannt gemacht. • Die richtige Bekanntmachung einer eintragungspflichtigen Tatsache weicht von der falschen Eintragung ins Handelsregister ab. Beide Möglichkeiten sind im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, weil dort die unrichtige Eintragung nicht erwähnt wird. Der Wortlaut des § 15 Abs. 3 HGB bezieht sich nur auf die Bekanntmachung einer Tatsache, nicht dagegen auf deren Eintragung im Handelsregister. Erfolgt eine unrichtige Eintragung, die entweder nicht oder nicht in inhaltlicher Übereinstimmung bekannt gemacht wurde, gelten die gewohnheitsrechtlichen Grundsätze: • Wer im Handelsverkehr öffentlich eine Erklärung abgibt oder abgeben lässt (z. B. durch Anmeldung einer Tatsache zum Handelsregister), haftet entsprechend dieser Erklärung. • Wer im Handelsverkehr eine scheinbar von ihm stammende Erklärung (z. B. unrichtige Eintragung im Handelsregister) schuldhaft nicht beseitigt, haftet entsprechend dieser Erklärung. Der Kaufmann ist daher immer verantwortlich für den Rechtsschein, der von unrichtigen Eintragungen und Bekanntmachungen von Tatsachen ausgeht, die sein Unternehmen betreffen. Dies gilt nicht nur im ersten Fall, wonach er durch Anmeldung der Tatsache zum Handelsregister die Erklärung selbst abgibt oder abgeben lässt, sondern auch im letzteren Fall, wonach er eine unrichtige Eintragung oder Bekanntmachung beseitigen muss, auch wenn sie nicht durch ihn veranlasst wurde.

312

5.4

5 Handelsrecht

Firma

5.4.1 Begriff und Grundsätze Die Firma ist der Name, unter dem der Kaufmann  – Einzelkaufleute und Handelsgesellschaften  – seine Geschäfte betreibt und die Unterschrift abgibt, §  17  HGB.  Der Kaufmann tritt im Handelsverkehr unter seiner Firma auf, kann unter seiner Firma klagen und verklagt werden, erwirbt Forderungen unter seiner Firma und geht Verbindlichkeiten unter seiner Firma ein. Die Firma ist ins Handelsregister einzutragen (§ 29 HGB). „Firma“ steht, entgegen dem geläufigen Sprachgebrauch, nicht für das Unternehmen oder den Geschäftsbetrieb, sondern sie ist ausschließlich der Name des Unternehmensträgers (Einzelkaufmann oder Gesellschaft). Die Firma wird benötigt, um den Geschäftsbetrieb zu kennzeichnen und einen Hinweis auf die Identität des Unternehmens im Handelsverkehr zu geben. Die Firma ist aber zumeist auch ein bedeutender Teil des unternehmerischen „Goodwill“, weil sich Kunden- und Lieferantenbeziehungen ebenso wie die Vorstellung der Verbraucher von der Tradition und Qualität der Produkte und Dienstleistungen an der Firma orientieren. Die Namens- und die damit verbundene Werbefunktion der Firma wird durch langjährige und kostenintensive unternehmerische Bemühungen Bestandteil des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs und deshalb wie ein absolutes Recht nach § 823 Abs. 1 BGB geschützt. Einzelkaufleute, Handels- und Kapitalgesellschaften, die zur Eintragung ihrer Firma in das Handelsregister verpflichtet sind, müssen eine Firma nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches wählen und dabei die Firmengrundsätze berücksichtigen. Dass auch das Namens- und Markenrecht nicht unbeachtet bleiben darf, steht dabei außer Frage. Kleingewerbetreibende, Gesellschaften des bürgerlichen Rechts oder Freiberufler, also alle diejenigen, die nicht in den Anwendungsbereich des HGB fallen, führen keine Firma. Sie können sich nur eine Geschäftsbezeichnung (z. B. Kurzoder Etablissementbezeichnung) geben, die nicht an den handelsrechtlichen Grundsätzen der Firmenbildung zu messen ist, sondern alleine an dem Gewerbe-, Namens- und Markenrecht. Insbesondere müssen dabei markenrechtliche Verwechslungsgefahren mit bereits bestehenden Geschäftskennzeichen vermieden werden (§§ 9, 14 MarkenG). 795 Für die Firma stellt das Gesetz folgende Grundsätze auf: Nach § 29 HGB ist jeder Kaufmann – Einzelkaufmann oder Handelsgesellschaft – berechtigt und verpflichtet, eine Firma zu führen. Der Kaufmann darf für ein Unternehmen nur eine Firma führen. Die Firma des Kaufmanns ist nach § 22 HGB übertragbar, allerdings nur zusammen mit dem Unternehmen (§  23  HGB), d.  h., dass mindestens die wesentlichen Gegenstände und Beziehungen (Produktionsanlagen, Know-how, Kundenstamm), die in ihrer Gesamtheit die wirtschaftliche Einheit „Unternehmen“ bilden, mitübertragen werden müssen. Die Firmenbezeichnung selbst kann der Kaufmann relativ frei gestalten, er muss aber gemäß § 18 Abs. 1 HGB eine Firma 794

5.4 Firma

313

wählen, die zur Kennzeichnung des Kaufmanns geeignet ist und Unterscheidungskraft besitzt (§§  18 Abs.  1, 30  HGB). Irreführende Angaben sind nach §  18 Abs. 2 HGB verboten. Nach § 21 HGB kann eine Firma auch bei Namensänderung fortgeführt werden. Gemäß § 19 Abs. 1 HGB muss der Firma allerdings zwingend ein den aktuellen Verhältnissen entsprechender Rechtsformzusatz beigefügt werden.

5.4.2 Firmenschutz Der Gebrauch der Firma gehört zur gewerblichen Betätigungsfreiheit i. S. d. Art. 2 796 GG und ist deshalb als Bestandteil des Rechts am Unternehmen gesetzlich geschützt. Der unzulässige Firmengebrauch löst öffentlich-rechtliche und privatrecht- 797 liche Sanktionen aus. Das Registergericht hat einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Unterlassung des unzulässigen Firmengebrauchs gegen denjenigen, der eine ihm nicht zustehende Firma im Handelsverkehr verwendet. Das Registergericht kann von Amts wegen einschreiten, wenn es glaubhaft Kenntnis vom Firmenmissbrauch erhält. Sofern der Betroffene am unzulässigen Firmengebrauch festhält, kann der Anspruch sogar mit einer Festsetzung von Ordnungsgeld durchgesetzt werden (§ 37 Abs. 1 HGB). Jeder Kaufmann, der durch den unzulässigen Firmengebrauch in seinen Rechten verletzt wird, hat einen privatrechtlichen Unterlassungsanspruch, der sich aus § 37 Abs. 2 HGB ergibt. Hierbei handelt es sich um einen Anspruch des verletzten Firmeninhabers gegen den Verletzer auf Unterlassung des Gebrauchs der Firma. Der Schutzbereich des § 37 Abs. 2 HGB erfasst die Verletzung einer eingetragenen kaufmännischen Firma, während die Verletzungshandlung selbst sowohl durch Kaufleute als auch durch Kleingewerbetreibende oder Freiberufler erfolgen kann. Denn letztere unterliegen zwar nicht den handelsrechtlichen Firmengrundsätzen, sie können aber dennoch durch den Gebrauch einer Geschäftsbezeichnung den Kaufmann in seinen Firmenrechten verletzen. Der privatrechtliche Unterlassungsanspruch kann im Wege der zivilrechtlichen Unterlassungsklage und bei Eilbedürftigkeit auch durch einen Antrag auf einstweilige Verfügung vor den Zivilgerichten durchgesetzt werden. Verletzungstatbestand ist sowohl beim öffentlich-rechtlichen, als auch beim privatrechtlichen Unterlassungsanspruch der unzulässige (missbräuchliche) Firmengebrauch, mithin der Gebrauch der Firma entgegen den firmenrechtlichen Grundsätzen der §§  17  ff.  HGB.  Die größte Bedeutung hat dabei die Verletzung des firmenrechtlichen Grundsatzes der Unterscheidbarkeit nach §  30  HGB.  Danach muss die Firmenbezeichnung zum einen überhaupt Unterscheidungskraft besitzen (§ 18 Abs. 1 HGB) und sich zum anderen von den bereits in dem Firmenbezirk eingetragenen Firmen so deutlich unterscheiden, dass die Gefahr einer Verwechslung durch das allgemeine Publikum ausgeschlossen ist (§ 30 Abs. 1 HGB). Wird gegen die Vorgaben des § 30 HGB verstoßen, ist ein Unterlassungsanspruch begründet.

314

5 Handelsrecht

Beispiel

Kurt Meyer meldet seine Tischlerei unter der Firma „Kurt Meyer Tischlerei GmbH“ zum Registergericht an. Mit der Begründung, dass es bereits im Registerbezirk eine eingetragene Firma „Tischlerei Carl Mayer GmbH“ gäbe, lehnt es die Eintragung wegen Verwechslungsgefahr ab. Würde der Kurt Meyer die Firmenbezeichnung dennoch nutzen, könnten sowohl das Registergericht (§  37 Abs.  1  HGB) als auch der Carl Mayer (§  37 Abs.  2  HGB) Unterlassung der Firmenbezeichnung verlangen. ◄ Der Anwendungsbereich der beiden firmenrechtlichen Unterlassungsansprüche ist jedoch räumlich auf den Zuständigkeitsbereich des Registergerichts begrenzt (§ 37 Abs. 1 und 2 HGB), was dessen Bedeutung schmälert. Sowohl der öffentlich-­ rechtliche Anspruch des Registergerichts als auch der zivilrechtliche Anspruch des verletzten Firmeninhabers setzen voraus, dass die Verletzungshandlung innerhalb des Bezirks des Handelsregisters geschieht. 798 In Fällen der unbefugten Benutzung einer fremden Geschäftsbezeichnung kommt zuvörderst ein markenrechtlicher Unterlassungs- und Schadensersatzanspruch nach §  15 Abs.  4 und §  5 Markengesetz (MarkenG) in Betracht. Das Markengesetz erfasst unter anderem die Verwendung geschäftlicher Bezeichnungen (§ 1 Nr. 2 MarkenG), mithin auch die Firma und die Geschäftsbezeichnungen der Kleingewerbetreibenden und Freiberufler. Der Erwerb des Schutzes einer geschäftlichen Bezeichnung begründet für den Inhaber ein ausschließliches Recht (§  15 Abs.  1 MarkenG), das für Dritte zu einem umfassenden Benutzungsverbot (§  15 Abs. 2 und 3 MarkenG) und im Falle eines Verstoßes zu einem Unterlassungs- (§ 15 Abs. 4 MarkenG) und Schadensersatzanspruch (§ 15 Abs. 5 MarkenG) zugunsten des Inhabers der geschäftlichen Bezeichnung führt. Das Ausschließlichkeitsrecht des Inhabers einer geschäftlichen Bezeichnung gemäß § 15 MarkenG entsteht entweder mit der Eintragung in das Markenrechtsregister oder durch die Benutzung des Zeichens im Geschäftsverkehr, soweit die Marke bereits Verkehrsgeltung erworben hat, § 5 Abs. 2 S. 2 MarkenG. Sobald also ein Unternehmenskennzeichen innerhalb beteiligter Verkehrskreise als Kennzeichen des Geschäftsbetriebs gilt, mithin Namensfunktion erlangt hat, entsteht ein Rechtsschutz gegen die Verwendung verwechslungsfähiger Unternehmenskennzeichen. Dabei kommt es nicht unbedingt auf den identischen Gebrauch der fremden Firma oder Geschäftsbezeichnung an, sondern es genügt bereits die unbefugte Verwendung in abweichender Form, falls dadurch eine Verwechslungsgefahr hervorgerufen wird. Der Rechtsschutz eines Unternehmenskennzeichens nach §§ 15, 5 MarkenG ist also  umfassender als der handelsrechtliche Schutz, denn eingeschlossen wird auch der Gebrauch der Geschäftsbezeichnung eines Kleingewerbetreibenden oder Freiberuflers, der Gebrauch eines Firmenbestandteils, einer Firmenabkürzung, eines Druckschriftentitels und die Verwendung sämtlicher unterscheidungskräftiger Kennzeichnungen, beispielsweise auch eines Werbeslogans.

5.4 Firma

315

Andererseits grenzt das Merkmal der Verwechslungsgefahr den Kennzeichenschutz ein, denn danach werden mindestens Branchenüberschneidungen vorausgesetzt. Falls weder die Kennzeichen, noch die Produkte oder ihre Vertriebswege im geschäftlichen Verkehr Berührungspunkte aufweisen, wird eine Verwechslungsgefahr auszuschließen sein und der Schutz aus §§ 15, 5 MarkenG entfällt. Der unbefugte Firmengebrauch in identischer Form lässt gleichzeitig auch einen 799 zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch aus dem Namensrecht gemäß §  12 BGB entstehen, denn die Firma ist gemäß § 17 HGB der Name des Kaufmanns und kann auch den „wahren“ Namen des Kaufmanns ausmachen. Rechtsfolge ist gemäß §  12 BGB grundsätzlich die Beseitigung der Beeinträchtigung. Wird der Name (oder die Firma) durch die Inanspruchnahme einer Domain beeinträchtigt, besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Löschung der Domain, nicht auf Herausgabe. Einen Auffangtatbestand bildet der deliktische Unterlassungs- und Schadens- 800 ersatzanspruch gemäß §§  823 Abs.  1, 1004 BGB infolge der Verletzung von Persönlichkeitsrechten oder des Rechts am Unternehmen (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) durch den unbefugten Gebrauch einer fremden Firma. Dieser Anspruch setzt die Tatbestandsmerkmale des § 823 Abs. 1 BGB (Rechtsgutsverletzung, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden) voraus und erfasst alle unbefugten Eingriffe in ein fremdes Firmenrecht, die nicht sondergesetzlich durch das Handelsrecht, das Markenrecht oder das Namensrecht geregelt sind. Der Anspruch aus unerlaubter Handlung ist jedoch verschuldensabhängig, so dass der Eingriff in fremde Firmenrechte zumindest fahrlässig erfolgen muss.

5.4.3 Haftung bei Inhaberwechsel Nach dem HGB ist Kaufmann, wer ein Handelsgewerbe betreibt. In anderen Wirt- 801 schaftsgesetzen (z.  B.  UWG, GWB) tritt an die Stelle des Handelsgewerbes der Begriff des Unternehmens. Der Unternehmer- und Unternehmensbegriff wird in den verschiedenen wirtschaftsbezogenen Gesetzen nicht einheitlich verwandt (u. a. §  14 BGB, §  15 AktG, §  2 Abs.  1 UStG), schließt aber in der Regel jede Form gewerblicher Tätigkeit ein und geht deshalb über den Begriff des Handelsgewerbes hinaus. Der Begriff „Unternehmen“ schließt sozusagen den Handelsgewerbebetrieb mit ein. • Unternehmen: Eine organisierte Einheit sachlicher und personeller Mittel, mit deren Hilfe der Unternehmensträger selbständig und auf Dauer angelegt am Wirtschaftsverkehr teilnimmt. • Gewerbebetrieb: Unternehmen, das in erlaubter Weise, mit Gewinnerzielungsabsicht, jedoch nicht freiberuflich betrieben wird. • Handelsgewerbe: Gewerbebetrieb, der nach Art und Umfang eine kaufmännische Einrichtung erfordert und unter der Firma des Betreibers in das Handelsregister eingetragen ist.

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802

5 Handelsrecht

Im Geschäftsverkehr steht häufig der Begriff des „Unternehmens“ sogar im Vordergrund, weshalb auch im Folgenden vom Unternehmen die Rede sein wird. Das Unternehmen wird veräußert, fungiert als Haftungsobjekt und ist mitunter anspruchsberechtigt. Ferner sehen die Geschäftspartner häufig nur „das Unternehmen“ als Ganzes, während ihnen die Identität und die Verhältnisse des Unternehmensträgers verborgen bleiben. Diesem Umstand tragen die Vorschriften zum Inhaberwechsel im kaufmännischen Unternehmen Rechnung, die die außenstehenden Dritten bei einem Inhaberwechsel in Schutz nehmen. Ein Inhaberwechsel kann durch unterschiedliche Umstände begründet sein. Das Unternehmen kann ganz oder teilweise veräußert werden, der Inhaber kann durch Erbfolge wechseln, bei Gesellschaften kann sich eine Veränderung des Gesellschafterbestandes durch Eintritt oder Ausscheiden von Gesellschaftern ergeben, ein Einzelkaufmann kann mit einem oder mehreren Partnern eine Handelsgesellschaft gründen. Daran ausgerichtet differenziert das Handelsgesetzbuch zwischen dem Inhaberwechsel unter Lebenden (§  25  HGB), dem Inhaberwechsel von Todes wegen (§ 27 HGB) und dem Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB) und knüpft daran besondere Haftungsreglungen, wobei in der Praxis dem Inhaberwechsel bei Unternehmensveräußerung die wohl größte Bedeutung zukommt.

5.4.3.1 Inhaberwechsel unter Lebenden (§ 25 Abs. 1 und 2 HGB) Ein Inhaberwechsel unter Lebenden kann dauerhaft eintreten (z.  B. bei einem Unternehmenskauf) oder nur vorübergehend (z.  B. bei der Unternehmenspacht). Die Rechtsfolgen eines solchen Inhaberwechsels hängen insbesondere davon ab, ob der neue Inhaber die Firma, d. h. den Namen des alten Inhabers, fortführt (§§ 25 Abs. 1 und 2 HGB) oder nicht (§ 25 Abs. 3 HGB). Bleibt die Firma, als Name des Kaufmanns, bestehen, gehen nach § 25 Abs. 1 und 2 HGB unter bestimmten Voraussetzungen die Verbindlichkeiten und Forderungen auf den neuen Inhaber über. 804 Ein Inhaberwechsel kann durch die Veräußerung bzw. den Erwerb eines Unternehmens (= alle Aktiva und Passiva einschließlich Zubehör) erfolgen. Ein solche Unternehmenstransaktion vollzieht sich nach den Regeln des bürgerlichen Rechts, wobei sich zwei Transaktionsformen herausgebildet haben: der share-deal und der asset-deal. 803

• Bei einem sog. share-deal werden die Gesellschaftsanteile oder Mitgliedschaftsrechte verkauft. Das heißt, das betriebene Unternehmen bleibt als rechtliche Einheit weiterhin existent, lediglich die gesellschaftsrechtlichen Beteiligungen am Unternehmen (Gesellschaftsanteile der Gesellschafter) werden veräußert und gehen anschließend durch Abtretung (§§ 398 ff. BGB, 15 Abs. 3 GmbHG) vom Verkäufer auf den/die Käufer über. Die Veräußerung realisiert sich also durch die Übertragung der Rechtsträgerschaft am Unternehmen; eine gesonderte Übertragung der Aktiva und Passiva des Unternehmens findet nicht mehr statt. • Im Gegensatz dazu werden bei einem asset-deal die Vermögensgegenstände (und ggf. Verbindlichkeiten) des Unternehmensträgers (Verkäufer) auf einen oder mehrere neue Unternehmensträger als Erwerber übertragen. Die Akquisi-

5.4 Firma

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tion erfolgt also durch den Erwerb und die Übernahme aller Vermögensgegenstände sowie den dazugehörigen Verbindlichkeiten des Unternehmensträgers. Statt Aktien oder Geschäftsanteilen erwirbt der Käufer das Anlage- und Umlaufvermögen, das bei wirtschaftlicher Betrachtung zur Fortführung der bisherigen wirtschaftlichen Aktivitäten erforderlich ist, sowie die Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Es werden die einzelnen Wirtschaftsgüter (Grundstücke, Maschinen, Waren, Lizenzen etc.  =  Sachgesamtheit) veräußert und  – je nach Wirtschaftsgut – in unterschiedlicher Weise im Wege der Einzelrechtnachfolge auf den Erwerber übertragen: Grundstücken werden aufgelassen (§§  873  ff., 925 BGB), bewegliche Sachen übereignet (§§ 929 ff. BGB) und Rechte sowie immaterielle Güter – Patente, Marken, Lizenzen etc. – abgetreten (§§ 398 ff. BGB). • In beiden Varianten kann die Firma mit übertragen werden, sofern der Veräußerer oder dessen Erben nach § 22 HGB in die Fortführung der Firma ausdrücklich einwilligen. Gleich welche Transaktionsform vorliegt, handelt es sich bei dem Unternehmen um einen „sonstigen Kaufgegenstand“ i. S. d. § 453 Abs. 1, 2. Alt. BGB, weshalb auf den Unternehmenskauf die Regeln des Kaufrechts entsprechend Anwen­ dung finden. Im Unterschied zum Kaufvertrag über eine Sache werden bei einem Unter- 805 nehmenskauf aber nicht nur körperliche Gegenstände übertragen. Aufgrund der vorangegangenen wirtschaftlichen Tätigkeit sind mit dem Unternehmen im Zeitpunkt der Veräußerung eine Vielzahl von Verträgen verbunden, z. B. Arbeitsverträge mit Angestellten, Miet- bzw. Pachtverträge über Grundstücke und Geschäftsräume, Leasingverträge über Maschinen, Geräte und Bürokommunikationsmittel, Kaufund Werkverträge aus Handelsgeschäften, Finanzierungsverträge, Lizenzverträge über Herstellungs-, Gebrauchs- und Vertriebsrechte usw. Aus diesen Verträgen sind mitunter Verbindlichkeiten, Forderungen, Gestaltungsrechte und Erfüllungsansprüche entstanden, ferner vertragliche oder gesetzliche Schadensersatzansprüche. Deshalb taucht bei einem Unternehmenskauf häufig die Frage auf, welche Folgen sich u. a. für die Gläubiger von Forderungen ergeben, denen mitunter, insbesondere bei gleichbleibenden Namen des Unternehmens, der Identitätswechsel verborgen bleibt. Hier knüpft §  25 Abs.  1 S.  1  HGB an, der für die Gläubiger eine Haftungs- 806 kontinuität bei Inhaberwechsel mit Firmenfortführung sicherstellt, sofern dessen Voraussetzungen vorliegen: • Handelsgeschäft Der bisherige Inhaber muss ein Handelsgeschäft i. S. des § 1 Abs. 2 HGB betrieben haben. Die Regelung des § 25 HGB ist nach ihrem Wortlaut („Firma“) nur auf Kaufleute im Sinne der §§  1  ff. HGB anwendbar, da Kleingewerbetreibende sowie Freiberufler keine Firma bilden können. • Erwerb eines Handelsgeschäfts unter Lebenden Das Handelsgeschäft muss unter Lebenden erworben worden sein (in Abgrenzung zum Erwerb von Todes wegen, § 27 HGB). Unter Erwerb ist dabei der

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5 Handelsrecht

dauerhafte oder vorrübergehende tatsächliche Inhaberwechsel zu verstehen, d. h. das Einrücken in die Rechtsstellung des bisherigen Inhabers. Entscheidend ist dabei alleine die tatsächliche Fortführung des Handelsgeschäfts, auf die Wirksamkeit des schuldrechtlichen Vertrags (etwa eines Kaufvertrag) kommt es ebenso wenig an, wie auf dinglichen Eigentumserwerb. Ferner sind der Erwerb eines Unternehmens als Ganzes oder eines selbständigen Unternehmensteils (z.  B.  Zweigniederlassung) erforderlich, weshalb eine unselbständige Außenstelle ohne eigene Buchführung und Konten, bei welcher der wirtschaftliche Haftungszusammenhang mit der Hauptniederlassung erhalten bliebe, nicht ausreicht. Der Erwerb des Handelsgeschäfts vom Insolvenzverwalter fällt nicht unter §  25 Abs.  1 S.  1  HGB.  Würde der Erwerber nämlich nach §  25 Abs.  1 S.  1  HGB haften, wäre eine Veräußerung praktisch nicht mehr möglich, das Handelsgeschäft unverkäuflich. Die Insolvenzgläubiger sollen sich nur aus der vom Erwerber erbrachten Gegenleistung befriedigen können, nicht dagegen durch Rückgriff auf das sonstige Vermögen des Erwerbers. Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs gilt aber nur bei einem Erwerb vom Insolvenzverwalter, nicht bei einem sonstigen Erwerb eines insolventen Unternehmens. • Firmenfortführung Der Erwerber muss schließlich die Firma, d. h. den Namen des Kaufmanns, tatsächlich und im wesentlichen unverändert fortführen. Dies ist von erheblicher Bedeutung, denn das Handelsrecht schützt den Handelsverkehr im Glauben an die Identität des Unternehmens, die nach außen durch die Fortführung der im Handelsregister eingetragenen Firma erkennbar wird. Das Handelsgeschäft ist daher fortgeführt, wenn zumindest der den Schwerpunkt des Unternehmens bildende wesentliche Kern desselben übernommen wird, sodass sich der nach außen für den Rechtverkehr in Erscheinung tretende Tatbestand als Weiterführung des Unternehmens in seinem wesentlichen Bestand darstellt. Für die Fortführung der Firma ist entscheidend, ob der Geschäftsverkehr die neue Firma noch mit der alten identifiziert. Eine wort- oder buchstabengetreue Fortführung ist dagegen nicht erforderlich. Es genügt, dass der „Kern“ der Firma und die „prägenden Zusätze“ übernommen werden. Beispiel

Die „Fritz Fröhlich Metallbau GmbH“ produziert – wie auf dem Briefkopf ausgewiesen – Motor- und Getriebeteile, Stanzstücke sowie Schalldämpfer. Nachdem ein Insolvenzantrag mangels Masse abgelehnt wurde, veräußert sie einen wesentlichen Teil ihrer Produktionszweige an den K, der die Unternehmung unter der Firma „Fritz Fröhlich Metallbau KG“ fortführt. Hier liegen die Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 S. 1 HGB vor. Der K hat ein Handelsgeschäft vom Geschäftsinhaber erworben; zu einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens war es noch nicht gekommen. Die KG führt die wesentlichen Produktionszweige fort, ferner wurde der Kern der Firma „Fritz Fröhlich“ und der prägende Zusatz „Metallbau“ übernommen. Demgegenüber ist die Bezeichnung der Rechtsform (KG anstatt GmbH) „farblos und ohne Einfluss auf die Individualisierung der Firma“ (BGH, NJW 1992, 911, 912). ◄

5.4 Firma

319

§  25 Abs.  1  HGB ordnet bei Vorliegen der Voraussetzungen die Haftungs- 807 kontinuität als Rechtsfolgen an. Danach haftet der Erwerber (neue Inhaber) für sämtliche im Betrieb begründeten Verbindlichkeiten des bisherigen Inhabers. Der Erwerber haftet aber nicht alleine, sondern die Haftung des bisherigen Firmeninhabers bleibt daneben weiter bestehen (§ 26 HGB), sodass beide – Veräußerer und der Erwerber  – als Gesamtschuldner (§  421  ff. BGB) den Dritten gegenüber haften (nach h. M. handelt es sich um einen gesetzlichen ­Schuldbeitritt). Verbindlichkeiten i. S. d. § 25 Abs. 1 HGB sind z. B. Zahlungsverpflichtungen aus laufenden Geschäften, wie Mietzins, Leasingraten, Kaufpreis- oder Werklohnzahlungen, ebenso Schadensersatzpflichten aus Gewährleistung, Verzug oder unerlaubter Handlung. Beispiel

K betreibt einen Großhandel mit Haushaltstextilien. Von seinem Lieferanten L bezieht er zwei Paletten Bad-Handtücher. Mit dem Kaufvertrag ist eine Kaufpreisforderung des L gegen K nach § 433 Abs. 2 BGB entstanden. Altersbedingt veräußert der K seinen Großhandel an den E, der das Unternehmen unter der bisherigen Firma fortführt. Aufgrund des Inhaberwechsels und der Firmenfortführung haftet nun auch der E dem L für die Kaufpreisforderung. Haftungsgrundlage ist dabei §  25 Abs. 1 HGB, der sicherstellt, dass der L – der mitunter den Wechsel des Unternehmensträger gar nicht mitbekommen hat – nun (auch) von E die Zahlung verlangen kann, §§ 433 Abs. 2 BGB, 25 Abs. 1 HGB. Der ursprüngliche Zahlungsanspruch des L gegen K bleibt dabei aber weiter bestehen. Da selbstverständlich insgesamt nur einmal an L gezahlt werden muss, stellt § 25 Abs. 1 HGB sicher, dass K und E gesamtschuldnerisch haften (§§ 421 ff. BGB). ◄ Nach § 25 Abs. 2 HGB können Veräußerer (alter Inhaber) und Erwerber (neuer 808 Inhaber) abweichende Vereinbarungen treffen und die Haftung ausschließen. Die Vereinbarung eines solchen Haftungsausschlusses ist allerdings Dritten gegenüber nur wirksam, wenn sie in das Handelsregister eingetragen und bekannt gemacht worden ist oder dem Dritten vom Veräußerer oder vom Erwerber mitgeteilt wurde, und zwar unverzüglich nach Übertragung des Handelsgeschäfts. Der Haftungsausschluss stellt daher eine eintragungsfähige Tatsache dar; eine Eintragungspflicht besteht gerade nicht, denn nach dem Gesetz kann die Bekanntmachung des Haftungsausschlusses auch auf andere Weise als durch Eintragung ins Handelsregister erfolgen. Von der wirksamen Bekanntgabe des Haftungsausschlusses unberührt bleibt indessen das Innenverhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber; die getroffenen Vereinbarungen beeinflussen dementsprechend den Gesamtschuldnerausgleich (§ 426 Abs. 1 S. 1 BGB). Aus der Sicht des Dritten – hier der Schuldner des Handelsunternehmens – stellt 809 sich die Sachlage wie folgt dar:

320

5 Handelsrecht

• Zahlt er an den neuen Inhaber (Erwerber), dann leistet er, wenn er keine Kenntnis von dem Haftungsausschluss hat, mit befreiender Wirkung (§§  25 Abs.  1 S. 2 HGB, 362 BGB). • Zahlt er an den neuen Inhaber (Erwerber), obwohl ihm der Haftungsausschluss bekannt ist, kann keine befreiende Wirkung seiner Leistung eintreten; er bleibt zur Zahlung an den alten Inhaber (Veräußerer) verpflichtet. Ein Herausgabeanspruch gegen den neuen Inhaber (Erwerber) unterliegt den Voraussetzungen der §§ 812 ff. BGB (Leistung ohne Rechtsgrund). • Zahlt er an den alten Inhaber (Veräußerer) ohne Kenntnis von einem Inhaberwechsel und ohne dass der Haftungsausschluss eingetragen ist, dann leistet er mit befreiender Wirkung (§§ 407, 362 BGB). • Zahlt er an den alten Inhaber (Veräußerer) ohne Kenntnis vom Inhaberwechsel, obwohl derselbe schon im Handelsregister eingetragen ist, kann keine befreiende Wirkung seiner Leistung eintreten; er bleibt zur Zahlung an den neuen Inhaber (Erwerber) verpflichtet. Genauso wie der Inhaber eines veräußerten Unternehmens noch offenen Verbindlichkeiten ausgesetzt sein kann, ist es möglich, dass der alte Inhaber (Veräußerer) seinerseits noch Forderungen gegen Dritte hat. Sie gehen auf den neuen Inhaber über, wenn sie an diesen abgetreten werden (§§ 398 ff. BGB). Da dies nicht immer geschieht, legt § 25 Abs.1 S. 2 HGB fest, dass Forderungen des alten Inhabers (Veräußerers) den Dritten gegenüber als auf den Erwerber übergegangen gelten, soweit der frühere Inhaber in die Fortführung der Firma eingewilligt hat. Zahlen sie also in gewohnter Weise an das Unternehmen (und damit an den neuen Inhaber), werden sie von ihrer Schuld befreit, § 25 Abs. 1 S. 2 HGB. Wie im Falle des § 25 HGB ist eine abweichende Vereinbarung zwischen Veräußerer und Erwerber nach §  25 Abs.  2  HGB möglich. Sie wirkt gegenüber den Dritten aber ebenfalls nur nach Mitteilung oder Eintragung in das Handelsregister. Die Haftung des Erwerbers eines Unternehmens setzt gemäß § 25 Abs. 1 und 811 2 HGB die Firmenfortführung voraus. Deshalb bestimmt § 25 Abs. 3 HGB, dass im Falle eines Inhaberwechsels ohne Fortführung der Firma die Haftung des Erwerbers eines besonderen Verpflichtungsgrundes bedarf, z.B. wenn die Übernahme der Haftung in handelsüblicher Weise bekannt gemacht worden ist, also entweder durch Eintragung ins Handelsregister, handelsüblicher Bekanntmachung (z. B. Zeitungsanzeigen, Branchenblätter) oder durch Mitteilung an alle Gläubiger des Unternehmens (z. B. in Form eines Rundschreibens). Der Verpflichtungsgrund kann sich dabei aus dem zugrundeliegenden Vertrag ergeben, wenn darin beispielsweise eine Schuldübernahme (§  414  f. BGB), ein Schuldbeitritt (§ 311 Abs. 1 BGB) oder ein Schuldversprechen (§§ 780, 781 BGB) vereinbart wurde oder aber, wenn die Vertrags- oder Schuldübernahmen gesetzlich angeordnet sind (z. B. §§ 566, 613a BGB; § 75 AO; § 102 Abs. 2 VVG). 812 Die Ansprüche der Dritten gegenüber dem Veräußerer des Unternehmens (alten Inhaber) verjähren mit Ablauf von fünf Jahren, falls die Verjährung nicht nach allgemeinen Vorschriften früher eintritt, z.  B. bei Kauf- und Werklohnforderung in zwei Jahren nach §§  438 Abs.  1 Nr.  3, 634a Abs.  1 Nr.  1 BGB.  Die fünfjährige 810

5.4 Firma

321

Nachhaftungsbegrenzung beginnt mit dem Ende des Tages, an welchem der neue Inhaber der Firma ins Handelsregister eingetragen wurde (§ 26 HGB). Inhaberwechsel (Teil 1 von 3): Inhaberwechsel unter Lebenden (§ 25 HGB) Voraussetzungen § 25 HGB 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Handelsgeschäft Inhaberwechsel unter Lebenden Fortführung des Handelsgeschäfts (durch Erwerber) Fortführung der Firma Im Betrieb des Geschäfts begründete Verbindlichkeit Keine abweichende Vereinbarung, § 25 Abs. 2 HGB

Rechtsfolgen • •

Haftung für alle Geschäftsverbindlichkeiten des früheren Inhabers Gesetzlicher Schuldbeitritt (Gesamtschuldner, § 421 BGB)

Beachte: §§ 25 ff. HGB sind keine Anspruchsgrundlagen! Sie dehnen nur die Haftung auf den Rechtsnachfolger (Erwerber, Erbe) aus. Die Haftung des ursprünglichen Unternehmensinhabers bleibt dagegen auch weiterhin bestehen.

 Inhaberwechsel I – Inhaberwechsel unter Lebenden

5.4.3.2 Inhaberwechsel von Todes wegen (§ 27 HGB) Bei einem Inhaberwechsel kraft Erbfolge haftet der Erbe  – neben den erbrecht- 813 lichen Regelungen des BGB (z. B. nach § 1967 BGB) – für die früheren Geschäftsverbindlichkeiten des Handelsbetriebs, sofern er das Unternehmen unter der bisherigen Firma (Firmenkern ist ausreichend) fortführt (§  27 Abs.  1  HGB). Die Vorschrift ähnelt daher dem § 25 Abs. 1 HGB. Der Erbe kann dieser Haftung nach § 27 Abs. 1 HGB allerdings von Anfang an 814 entgehen, indem er • die Erbschaft gemäß § 1944 BGB binnen sechs Wochen nach Kenntnis von dem Erbfall ausschlägt, mit der Folge, dass seine Haftung für Verbindlichkeiten eines zur Erbmasse gehörenden Handelsunternehmens entfällt. • innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis des Erbfalls den Geschäftsbetrieb einstellt, mit der Folge, dass seine Haftung sich nur noch nach erbrechtlichen Bestimmungen richtet (§ 27 Abs. 2 HGB). Danach ist die Haftung des Erben insbesondere für frühere Geschäftsverbindlichkeiten auf den Nachlass beschränkbar (§§ 1922, 1942 ff., 1967, 1975 BGB). Von einer Einstellung des Geschäftsbetriebs ist auszugehen, wenn die Geschäftstätigkeit vollständig aufgegeben wird oder der Geschäftsbetrieb ohne die

322

5 Handelsrecht

Firma an einen Dritten veräußert wird. Bei einer Veräußerung mit Firma liegt dagegen keine Einstellung vor, da sich der Erbe dann die Firma wirtschaftlich zunutze macht. Von einer Einstellung darf auch dann nicht ausgegangen werden, wenn der Erbe die Firma nachträglich ändern lässt, nachdem er das Handelsgeschäft zunächst unter der alten Firma fortgeführt hat. • die unbeschränkte Haftung durch eine einseitige Erklärung ausschließt (h. M.), sofern er seinen Haftungsausschluss in das Handelsregister eintragen und bekannt machen lässt (sog. Angstruf). Seine Haftung ist dann gemäß §§ 27 Abs. 1, 25 Abs. 2 HGB in Verbindung mit den erbrechtlichen Bestimmungen des BGB auf den Nachlass beschränkt.

Beispiel

Egon Müller (E) erbt von seinem Vater dessen Handelsgeschäft „Druckerei Hans Müller e. K.“. E führt das Geschäft unter der alten Firma fort. Nach §§ 27 Abs. 1, 25 Abs. 1 HGB würde E nun für die früheren Geschäftsverbindlichkeiten seines Vaters haften. Wirft die Druckerei keinen Gewinn ab und befürchtet E, die bestehenden Verbindlichkeiten nicht befriedigen zu können, könnte er einer Haftung für die Altverbindlichkeiten dadurch entgehen, dass er das Unternehmen binnen drei Monaten einstellt oder es ohne die Firma an einen Dritten verkauft. ◄ Inhaberwechsel (Teil 2 von 3): Inhaberwechsel von Todes wegen (§ 27 HGB) Voraussetzungen § 27 HGB 1. Handelsgeschäft eines Einzelkaufmanns 2. Inhaberwechsel aufgrund Erbenstellung 3. Fortführung des Handelsgeschäfts (durch Erben) 4. Fortführung der Firma 5. Im Betrieb des Geschäfts begründete Verbindlichkeit 6. Keine Einstellung innerhalb der Bedenkzeit, § 27 Abs. 2 HGB 7. Kein Angstruf gem. §§ 27, 25 Abs. 2 HGB (str.)

Rechtsfolgen •

Haftung für alle Geschäftsverbindlichkeiten des früheren Inhabers



Erbrechtliche Haftung bleibt unberührt, §§ 1922 Abs. 1, 1967 BGB

Beachte: §§ 25 ff. HGB sind keine Anspruchsgrundlagen! Sie dehnen nur die Haftung auf den Rechtsnachfolger (Erwerber, Erbe) aus. Die Haftung des ursprünglichen Unternehmensinhabers bleibt dagegen auch weiterhin bestehen.

 Inhaberwechsel II – Inhaberwechsel von Todes wegen

5.4 Firma

323

5.4.3.3 Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmanns (§ 28 HGB) Eine gesetzliche Haftungsregelung besteht nach § 28 Abs. 1 S. 1 HGB schließlich 815 für den Fall, dass ein Handelsgeschäft in eine Personengesellschaft „eingebracht“ wird. Allerdings kann es, entgegen des Wortlauts, den „Eintritt“ in das Geschäft eines Einzelkaufmanns rechtlich gar nicht geben. Denn sofern jemand als persönlich haftender Gesellschafter oder als Kommanditist in ein einzelkaufmännisches Unternehmen eintritt, entsteht sofort eine Gesellschaft, entweder eine oHG (§ 123 Abs. 2 HGB) oder eine KG (§§ 161, 162 HGB). Daher ist die Intention des § 28 HGB eine andere. § 28 Abs. 1 S. 1 HGB – als Sonderfall des § 25 HGB – stellt lediglich klar, dass diese neu entstandene Gesellschaftsform (oHG, KG) für alle Verbindlichkeiten des ehemaligen einzelkaufmännischen Geschäftsbetriebes haftet (in dessen Verbindlichkeiten eintritt). Die Voraussetzungen für eine Haftungskontinuität nach § 28 HGB sind: 816 • Handelsgeschäft eines Einzelkaufmanns Nach dem Wortlauf des § 28 Abs. 1 S. 1 HGB muss der bisherige Inhaber des Handelsgeschäfts ein „Einzelkaufmann“ sein. Dazu sollen nach h. M. auch juristische Personen gehören. • Gründung einer Personenhandelsgesellschaft Es muss nach h. M. eine Personenhandelsgesellschaft gegründet werden. Davon erfasst sind daher die oHG und KG, nicht hingegen die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts. • Einbringen und Fortführen des Handelsbetriebs Das einzelkaufmännische Handelsgeschäft (in der Regel das Gesellschaftsvermögen, ausreichend sind allerdings auch Nutzungsrechte) muss in die gegründete Gesellschaft eingebracht und von dieser fortgeführt werden; eine Firmenfortführung ist dagegen – anders als nach § 25 HGB – nicht erforderlich. • Keine abweichende Vereinbarung Die Gesellschafter dürfen keine abweichenden Vereinbarungen getroffen haben. Die Haftung kann – ähnlich wie im Rahmen des § 25 Abs. 2 HGB – durch einen Eintrag in das Handelsregister oder durch Mitteilung an die Dritten (Gläubiger) begrenzt werden (§ 28 Abs. 2 HGB). Liegen die Voraussetzungen vor, haftet die neu gegründete Personengesellschaft 817 unbeschränkt und gesamtschuldnerisch neben dem bisherigen Alleininhaber für alle in dem einzelkaufmännischen Handelsbetrieb entstandenen Verbindlichkeiten (§ 28 Abs. 1 S. 1 HGB). Die im bisherigen Handelsbetrieb begründeten Forderungen gelten als auf die Gesellschaft übergegangen, weshalb ein Dritter nunmehr mit befreiender Wirkung (§ 362 BGB) an die neu entstandene Gesellschaft leisten kann. Für die übergegangenen Verbindlichkeiten haften neben der Gesellschaft (oHG oder KG) auch die Gesellschafter – der bisherige Inhaber und die „eintretenden“ Gesellschafter – akzessorisch nach §§ 128, 161 Abs. 2, 171 ff. HGB. Wird der bisherige Gesellschafter Kommanditist, ist seine Nachhaftung auf fünf Jahre begrenzt (§ 28 Abs. 3 S. 1 HGB).

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5 Handelsrecht

Beispiel

F betreibt einen Baustoffhandel unter der Firma „Fritz Fröhlich, Baustoffhandel e.  K.“. Von seinem Lieferanten L bezieht er 20 Paletten Steine. Aus dem ­Kaufvertrag entsteht eine Kaufpreisforderung in Höhe von 2000 EUR gegen F (§ 433 Abs. 2 BGB), also eine Verbindlichkeit im Geschäft des F. Nun entschließt sich F, den Geschäftspartner G in sein Unternehmen aufzunehmen. Damit entsteht eine Gesellschaft, genauer eine „F&G oHG“ (§§ 105, 124 HGB), die die Geschäfte des F weiterführt. Da kein Haftungsausschluss nach §  28 Abs.  2  HGB vorliegt, kann L seine Kaufpreisforderung jetzt nicht nur gegen den F, sondern auch gegen die neu gegründete „F&G oHG“ geltend machen (§ 28 Abs. 1 S. 1 HGB). Dabei haften mit Entstehung der oHG alle Gesellschafter persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft (§§  105, 128  HGB), d. h. es haften sowohl der bisherige Inhaber, wie auch der neu eintretende Gesellschafter. F hat 10 Betonträger an seinen Abnehmer A verkauft. Aus dem Kaufvertrag entsteht ein Anspruch auf Kaufpreiszahlung gemäß §  433 Abs.  2 BGB des F gegen A.  Mit der Gründung der „F&G oHG“ (siehe vor) ist die Kaufpreisforderung nach § 28 Abs. 1 S. 2 HGB auf die Gesellschaft übergegangen. Deshalb ist die „F&G oHG“ nunmehr Gläubigerin der Forderung gegen den A und da sie nach § 124 HGB Teilrechtsfähigkeit besitzt, könnte sie diese Forderung auch eigenständig gegenüber A geltend machen. ◄ Inhaberwechsel (Teil 3 von 3): Einbringung des Handelsgeschäfts in neue oHG/KG (§ 28 HGB) Voraussetzungen § 28 HGB 1. Handelsgeschäft eines Einzelkaufmanns 2. Gründung einer Personengesellschaft 3. Fortführung des Handelsgeschäfts (durch oHG/KG) nach Einbringen (d. Kfm.) 4. Im Betrieb des ursprünglichen Geschäfts begründete Verbindlichkeit 5. Keine abweichende Vereinbarung, § 28 Abs. 2 HGB

Rechtsfolgen • •

Haftung für alle Geschäftsverbindlichkeiten des früheren Inhabers Gesetzlicher Schuldbeitritt (Gesamtschuldner)

Beachte: §§ 25 ff. HGB sind keine Anspruchsgrundlagen! Sie dehnen nur die Haftung auf den Rechtsnachfolger (Erwerber, Erbe) aus. Die Haftung des ursprünglichen Unternehmensinhabers bleibt dagegen auch weiterhin bestehen.

 Inhaberwechsel III – Einbringen des Handeslgeschäfts in neue oHG/KG

5.4 Firma

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Fragen







1. Warum spricht man im Zusammenhang mit dem Handelsrecht auch vom „Sonderprivatrecht der Kaufleute“? 2. Welche Kaufmannsarten kennt das Gesetz? 3. Warum nennt man den „Kannkaufmann“ auch „Kaufmann mit Rückfahrkarte“ (vgl. K. Schmidt in NJW 1998, 2161, 2162)? 4. Was sind die Voraussetzungen einer Rechtsscheinhaftung? Erläutern Sie am Beispiel des Scheinkaufmanns. 5. Was versteht man unter einer Firma? 6. Was ist das Handelsregister und wo wird es geführt? 7. In welcher Vorschrift ist die Publizitätswirkung des Handelsregisters geregelt? 8. Erläutern Sie stichpunktartig das Prinzip des Vertrauensschutzes am Beispiel der Publizitätswirkung des Handelsregisters! 9. Kann sich ein gutgläubiger Dritter auf § 15 Abs. 1 HGB berufen, wenn der Widerruf einer Prokura nicht eingetragen wurde, es aber bereits an der Voreintragung der eintragungspflichtigen Tatsache (Erteilung der Prokura) gefehlt hat? 10. „§ 15 I HGB gilt nicht im sog. reinen Unrechtsverkehr!“ Begründen Sie! 11. Was ist unter der Rosinentheorie im Rahmen von §  15 Abs.  1  HGB zu verstehen? 12. Was versteht man unter eintragungsfähigen, was unter eintragungspflichtigen Tatsachen? 13. Sie versäumen die Eintragung einer eintragungspflichtigen Tatsache. Mit welchen Konsequenzen müssen Sie rechnen? 14. Was versteht man im Zusammenhang mit der Wirkung der Handelsregistereintragung unter „konstitutiv“ und „deklaratorisch“? 15. Max Müller und Moritz Meyer gründen eine oHG, an welcher der kapitalkräftige und sehr bekannte Anton Abel als stiller Gesellschafter beteiligt ist. In der Folge verwenden sie die Firma „Meyer, Müller und Abel“ auf Türschildern, Briefköpfen sowie äußerst offensiv in der Werbung auch gegenüber dem Kundenkreis des Konkurrenten X. Der Konkurrent X befürchtet, dass ein Teil seiner Kunden wegen des bekannten Abel nun bei der oHG einkaufen könnte. Er will daher wissen, was er – neben wettbewerbsrechtlichen Ansprüchen – noch unternehmen könnte. 16. Ist die Veräußerung eines Handelsunternehmens mit allen Aktiva und Passiva als Einstellung des Geschäftsbetriebes durch den Erben i.  S.  d. §  27 Abs. 2 HGB zu verstehen? Begründen Sie Ihre Entscheidung!

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5.5

5 Handelsrecht

Hilfspersonen des Kaufmanns

Beim Führen des Unternehmens gibt es auch für den Kaufmann Situationen in denen er sich unterstützen lassen muss. Er wird nicht sämtliche in seinem Handelsbetrieb anfallenden Rechtsgeschäfte selbst abschließen oder ausführen können, sondern sich hierfür der Hilfe anderer Personen bedienen, die in seinem Namen im Handelsverkehr auftreten und Rechtsgeschäfte tätigen. Bedient sich ein Kaufmann bei der Bewältigung seiner geschäftlichen Tätigkeit 819 der Hilfe Dritter, wird zwischen unselbständigen kaufmännischen H ­ ilfspersonen (z.  B.  Prokurist, Handlungsgehilfen) und selbständigen kaufmännischen Hilfspersonen (z. B. Kommissionär) unterschieden. Dabei wird das Abgrenzungsmerkmal der Selbständigkeit zum einen in § 84 Abs. 1 S. 2 HGB umschrieben, indem es dort heißt: „Selbständig ist, wer im wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine  Arbeitszeit bestimmen kann“. Zum anderen werden aber auch die aus dem Arbeitsrecht bekannten Merkmale (Abschn.  9.1.2.2) hinzugezogen, wie z.  B. die Eingliederung in den Betrieb, Weisungsgebundenheit, Höhe des eigenen wirtschaftlichen Risikos. 818

• Als unselbständige Hilfspersonen des Kaufmanns gelten die Arbeitnehmer und Auszubildenden, die in einem abhängigen Dienstverhältnis zum Kaufmann stehen und diesen ggf. vertreten. Das Rechtsverhältnis zwischen diesen Arbeitnehmern und dem Kaufmann wird im Innenverhältnis weitgehend durch den Arbeitsvertrag und das Arbeitsrecht geprägt. Im Außenverhältnis, also zu den Geschäftspartnern des Kaufmanns, agieren sie als Vertreter, so dass neben den bürgerlich-rechtlichen Vertretungsregeln (§§  164  ff. BGB) die Sonderbestimmungen des Handelsrechts über die Vertretungsmacht einschlägig sind (§§ 48 ff. HGB). Zu den unselbständigen Hilfspersonen gehören der Prokurist (§§ 48–53 HGB), der Handlungsbevollmächtigte (§ 54 HGB), der Ladenbevollmächtigte (§ 56 HGB) und die sog. Handlungsgehilfen (§ 59 HGB). • Selbständige Hilfspersonen des Kaufmanns stehen dagegen nicht in einem Arbeits- oder Angestelltenverhältnis, sondern sie sind zumeist selbst Kaufleute mit eigenen unternehmerischen Zielen, die mit dem Kaufmann regelmäßig durch einen Geschäftsbesorgungsvertrag oder einen speziellen handelsrechtlichen Vertrag verbunden sind. Hierzu gehören z. B. die Handelsvertreter (§§ 84 ff. HGB), Vertragshändler, Franchisenehmer, Kommissionäre (§§ 383 ff. HGB) oder auch die Speditions- und Frachtführer (§§ 453 ff. sowie §§ 407 ff. HGB).

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

327

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 Hilfspersonen des Kaufmanns

5.5.1 U  nselbständige Hilfspersonen (Vertretung des Kaufmanns) Als unselbständige Hilfspersonen werden die rechtsgeschäftlichen Stellvertreter 820 des Kaufmanns bezeichnet. Damit ein Geschäft des Stellvertreters für und gegen den Kaufmann wirkt, ist es 821 nach § 164 Abs. 1 BGB erforderlich, dass der Vertreter eine eigene Willenserklärung im Namen des Vertretenen abgibt und dabei innerhalb der ihm vom Vertretenen (Geschäftsherren, Prinzipal) erteilten Vertretungsmacht (§  167 BGB) handelt (Abschn. 1.6.2.5). Während nach den allgemeinen Regeln des BGB gerade der Umfang der Vertretungsmacht recht flexibel ausgestaltet werden kann, ist er im Handelsrecht gesetzlich festgelegt. Der Umfang der Vertretungsmacht ergibt sich bei den dort geregelten Vertretungsformen aus dem Gesetz (sog. Typisierung der Ver-

328

5 Handelsrecht

tretungsmacht), was Unsicherheiten vermeidet, die mit einer freien Ausgestaltung der Vertretungsbefugnis verbunden wären, und zugleich die Schnelligkeit und Leichtigkeit des Handelsverkehrs befördert.

822

5.5.1.1 Prokura Die Prokura ist eine solche spezielle handelsrechtliche Vollmacht (Vollmacht i. S. des §§ 166 Abs. 2, 167 Abs. 1 BGB) mit gesetzlich vorgegebenem Umfang (§ 49 HGB). Dem Kaufmann wird in den §§ 48–53 HGB das Recht gewährt, einem anderen eine besondere Vollmacht, nämlich eine Prokura, zu erteilen. Diese handelsrechtliche Vollmacht besitzt dabei die Eigenart, dass ihr Umfang grundsätzlich nicht vom Vollmachtgeber, sondern vom Gesetz (§ 49 HGB) bestimmt wird. Das geschieht im Interesse des Rechtsverkehrs: Denn jeder, der mit einem Prokuristen Geschäfte abschließt, soll wissen, ob der Prokurist im Rahmen seiner Vertretungsmacht handelt. Deshalb bestimmt das Gesetz, dass der Prokurist „zu allen Arten von … Geschäften und Rechtshandlungen, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit sich bringt“, ermächtigt (§  49 Abs. 1 HGB) und „eine Beschränkung des Umfangs der Prokura … Dritten gegenüber unwirksam“ ist (§ 50 Abs. 1 HGB). Durch diese Typisierung trägt das Gesetz dem gesteigerten Bedürfnis des Handelsverkehrs nach Vertrauensschutz besondere Rechnung. Da der Umfang der Prokura sehr weit geht, muss aber andererseits auch der Vertretene geschützt werden. Deshalb kann nur der Inhaber eines Handelsgeschäftes oder dessen gesetzlicher Vertreter einen Prokuristen bestellen, und dies ist außerdem nur durch eine „ausdrückliche Erklärung“ möglich (§ 48 Abs. 1 HGB). Als Vollmacht betrifft die Prokura jedoch nur das Außenverhältnis zwischen dem Geschäftsinhaber und dem Dritten. Sie ist streng von dem zugrunde liegenden Grundverhältnis (z. B. Arbeitsverhältnis) zu trennen, welches das Innenverhältnis zwischen dem Geschäftsinhaber und dem Prokuristen regelt. Diese Abstraktheit der Prokura vom Grundverhältnis bezweckt, dass zum Schutz des Dritten, der ja von dem Innenverhältnis häufig keine Kenntnis hat, die Wirksamkeit der Prokura von der Wirksamkeit des Grundgeschäfts unabhängig ist. Beispiel

K, Inhaber eines Handelsgeschäftes, erteilt dem Angestellten P Prokura. Später stellt sich heraus, dass der Anstellungsvertrag nichtig ist. Die Nichtigkeit des Anstellungsvertrages ist für die wirksam erteilte Prokura allerdings ohne Belang; die Rechtsgeschäfte, die P getätigt hat, bleiben für und gegen den K bindend. ◄ 823

Die Erteilung der Prokura ist ein Rechtsgeschäft und richtet sich grundsätzlich nach § 167 BGB, wobei handelsrechtliche Besonderheiten zu beachten sind:

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

329

• Die Prokura kann nur durch den Inhaber des Handelsgeschäfts erteilt werden; das sind Kaufleute i. S. der §§ 1 ff. HGB, wozu auch Handelsgesellschaften und Genossenschaften gehören. • Der Kaufmann muss die Prokura persönlich erteilen (§ 48 Abs. 1 HGB). Nur bei Handelsgesellschaften und bei beschränkt geschäftsfähigen Geschäftsinhabern ist der gesetzliche Vertreter zur Erteilung der Prokura berechtigt. Insofern ist die Erteilung der Prokura durch einen rechtsgeschäftlichen Vertreter ebenso ausgeschlossen, wie eine „Unterprokura“. • Während das BGB auch eine konkludente Vollmachtserteilung zulässt, muss die Prokura gemäß § 48 Abs. 1 HGB durch eine ausdrückliche Erklärung erteilt werden; eine „Duldungsprokura“ kann es daher nicht geben, während eine Prokura kraft Rechtsschein (z.  B. über ein fehlerhaftes Handelsregister) möglich bleibt. • Prokurist kann nur eine natürliche Person sein. Die Erteilung der Prokura beruht auf einem besonderen persönlichen Vertrauensverhältnis zwischen dem Prinzipal und dem Prokuristen. Dem würde es widersprechen, wenn der Prokurist eine juristische Person sein könnte, deren jeweiliges Vertretungsorgan die Vertretungsmacht ausüben würde. • Da sich niemand selbst vertreten kann, muss der Prokurist vom Prinzipal verschieden sein. Nach h. M. kann daher organschaftlichen Vertretern (Vorstand der AG, Geschäftsführer der GmbH) keine Prokura erteilt werden (sie verkörpern sozusagen den Prinzipal), während eine Prokuraerteilung gegenüber den von der Geschäftsführung ausgeschlossen Gesellschaftern möglich bleiben soll. • Die Prokura kann einer Person alleine (= Einzelprokura) oder mehreren Personen gemeinsam (= Gesamtprokura) zukommen, vgl. § 48 Abs. 2 HGB.

Beispiel

Der Kaufmann K erklärt gegenüber seinem Angestellten A „Ab sofort sind Sie befördert und können mich gerichtlich und außergerichtlich vertreten; die Eintragung werde ich diese Woche noch vornehmen“. Hier ist eine Prokura seitens des K erteilt. Die Bezeichnung „Prokura“ ist nicht erforderlich, es reicht, wenn erkennbar wird, was gemeint ist. ◄ Die Prokura selbst ist nicht übertragbar (§ 52 Abs. 2 HGB; im BGB ist da- 824 gegen eine solche Untervollmacht gestattet), allerdings kann ein Prokurist Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) erteilen. Anstatt der Übertragung kann daher nur ein Widerruf der alten Prokura und Bestellung einer neuen Prokura in Betracht kommen. Die Erteilung der Prokura ist eine eintragungspflichtige Tatsache (§  53 825 Abs. 1 HGB), doch hat die Eintragung ins Handelsregister nur deklaratorische Wirkung, weil die Prokura bereits mit der Erteilung entsteht. Das Erlöschen der Prokura ist ebenfalls eine eintragungspflichtige Tatsache (§ 53 Abs. 2 HGB), und zwar selbst dann, wenn die Eintragung der Prokuraerteilung zuvor versehentlich unterblieben ist. So ist § 15 Abs. 1 HGB nach h. M. auch dann anzuwenden, wenn es an einer

330

5 Handelsrecht

Voreintragung (Erteilung der Prokura) fehlt, da es sich um einen abstrakten Vertrauensschutztatbestand handelt. 826 Der Prokurist zeichnet gemäß § 51 HGB im Schriftverkehr mit „ppa.“ (lat. per procura autoritate) oder „pp.“ (lat. per procura). Der Umfang der Prokura ist in den §§ 49, 50 HGB für das Außenverhältnis 827 zwingend vorgeschrieben. Danach ist der Prokurist zu allen Arten von gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften und Rechtshandlungen ermächtigt, die der Betrieb irgendeines (!) Handelsgewerbes mit sich bringt. Der Prokurist kann also mit Wirkung für und gegen den Geschäftsinhaber Geschäfte jeder Art abschließen, seine Vertretungsmacht ist gerade nicht auf einfache und gewöhnliche Geschäfte beschränkt, die in einem kaufmännischen Unternehmen vorkommen. Beispiel

So kann der Prokurist im Namen des Geschäftsinhabers Prozesse führen, Vergleiche abschließen, Forderungen erlassen, Wechselverbindlichkeiten eingehen, Darlehen aufnehmen, Anmeldungen zum Handelsregister vornehmen, neue Branchen erschließen, Personal einstellen und entlassen, Grundstücke erwerben und verpachten usw. ◄ 828

Obwohl die Prokura grundsätzlich nicht beschränkbar ist, setzt das Gesetz der Vertretungsbefugnis des Prokuristen Grenzen: • Der Prokurist ist zur Veräußerung und Belastung von Grundstücken nur befugt, wenn er dazu vom Inhaber des Handelsgewerbes besonders bevollmächtigt ist (§ 49 Abs. 2 HGB; sog. Immobiliarklausel). Diese Vorschrift untersagt dem Prokuristen nicht nur bestimmte Verfügungen, sondern auch die diesen zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäfte. Ansonsten könnte der Prokurist den Geschäftsinhaber zur Vornahme von Rechtsgeschäften verpflichten, die von der Prokura gerade nicht gedeckt werden. §  49 Abs.  2  HGB beschränkt dagegen nicht die Möglichkeit des Prokuristen, für den Geschäftsinhaber Grundstücke zu erwerben und dabei die Erwerbsmodalitäten festzulegen.

Beispiel

Der Prokurist erwirbt im Namen des Kaufmanns K ein Grundstück zum Preis von 300.000 EUR. Vereinbarungsgemäß werden 100.000 EUR in bar angezahlt und eine Restkaufpreishypothek über 200.000 EUR in das Grundbuch eingetragen. Hier ist der Kaufmann an den von seinem Prokuristen abgeschlossenen Vertrag gebunden. Es handelt sich um einen Grundstückskaufvertrag, auf den die Immobiliarklausel des § 49 Abs. 2 HGB nicht anzuwenden ist, weil die Grundstücksbelastung eine Kaufmodalität zur Sicherung der restlichen Kaufpreiszahlung ist. ◄

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

331

• Ferner können die vom Gesetz dem Kaufmann selbst zugewiesenen Geschäfte (sog. Inhaber- oder Prinzipalgeschäfte) nicht vom Prokuristen vorgenommen werden, z. B. die Anmeldung der Firma zum Handelsregister oder Änderung der Firma (§§ 29, 31 HGB), die Unterzeichnung des Jahresabschlusses (§ 245 HGB) sowie die Prokuraerteilung (§ 48 Abs. 1 HGB). • Auch alle Geschäfte, die außerhalb des Geschäftsbetriebs liegen, sind durch die Prokura nicht gedeckt; denn diese Geschäfte bringt der Betrieb „des“ Handelsgeschäfts gerade nicht mit sich. Dazu zählen etwa die nicht betriebsbedingten Privatgeschäfte des Kaufmanns. • Und schließlich fehlt dem Prokuristen die Vertretungsmacht bei den sog. Grundlagengeschäften, bei denen die Grundlagen des kaufmännischen Unternehmens „als solches“ betroffen sind (z. B. Veräußerung oder Einstellung des Handelsgeschäfts, Änderung der Firma, formelle Änderung des Geschäftsgegenstandes). Denn diese „existentiellen Geschäfte“, die gerade nicht dem „Betrieb“ eines Handelsgewerbes zuzurechnen sind, müssen dem Geschäftsinhaber (oder bei einer Handelsgesellschaft dem gesetzlichen Vertretungsorgan) vorbehalten bleiben. Rechtsgeschäftlich festgesetzte Grenzen der Prokura sind Dritten gegenüber 829 unwirksam (§ 50 Abs. 1 HGB). Damit wird eine Beschränkung der Vollmacht für bestimmte Geschäfte (=  Einzelvollmacht), bestimmte Arten von Geschäften (= Arten- oder Gattungsvollmacht) oder auf bestimmte Umstände ausgeschlossen (§ 50 Abs. 2 HGB). Der Dritte soll darauf vertrauen dürfen, dass der Prokurist (uneingeschränkt) alle Geschäfte abschließen darf, die zum Betrieb eines Handelsgewerbes gehören. Während im Außenverhältnis die Prokura nicht beschränkt werden kann, ist es aber durchaus denkbar, dass der Prinzipal im Innenverhältnis Einschränkungen des „rechtlichen Dürfens“ ausspricht. Diese Einschränkungen wirken sich nach außen nicht aus, können aber Ersatzpflichten im Innenverhältnis begründen (Pflichtverletzung i. S. d. § 280 Abs. 1 BGB). Bei Bemessung des Umfangs des Schadens ist ein eventuelles Mitverschulden des Geschädigten zu berücksichtigen. Falls ein Arbeitsverhältnis besteht, hat der Kaufmann infolge der schuldhaften Vertragsverletzung unter Umständen ein Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund. Beispiel

Kaufmann K untersagt seinem Prokuristen, Verträge über den Betrag von 20.000 EUR hinaus zu schließen. Der Prokurist kauft dennoch im Namen des K Waren im Wert von 50.000 EUR bei dem V. In diesem Fall ist der Kaufvertrag zwischen K und V wirksam zustande gekommen, da die Beschränkung der Prokura gegenüber dem V – also im Außenverhältnis – nicht wirkt (§ 50 Abs. 1 HGB); K muss daher an den V die 50.000 EUR für die Waren zahlen. Da sich P aber über die im Innenverhältnis gesetzten Schranken vorsätzlich hinweggesetzt hat und dem K

332

5 Handelsrecht

daraus ein Schaden entstanden ist, ist er dem K gegenüber im Innenverhältnis schadensersatzpflichtig nach § 280 Abs. 1 BGB (Abschn. 1.6.5.3). ◄ Grundsätzlich trägt also der Prinzipal das Risiko, dass der Prokurist seine Prokura missbraucht und für ihn, den Geschäftsherrn, nachteilige Geschäfte abschließt; solche Geschäfte sind im Außenverhältnis wirksam, allerdings bleiben ggf. Schadensersatzansprüche gegen den Prokuristen im Innenverhältnis möglich. Wenn allerdings der Prokurist und der Geschäftspartner arglistig zum Nachteil des Prinzipals zusammenwirken (sog. Kollussion) oder wenn der Dritte positive Kenntnis vom missbräuchlichen Verhalten des Prokuristen hat (bzw. dieses grob fahrlässig nicht kennt) und diese Situation bewusst zu seinem Vorteil ausnutzt (sog. Evidenz), ist das Vertrauen des Dritten in die Prokura nicht mehr schutzwürdig. Daher kann in einer solchen Konstellation von der Regel des § 50 Abs. 1 HGB abgewichen werden; der Prinzipal kann dem Dritten, der sich auf die Wirksamkeit des Geschäfts beruft, die Einrede der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) bzw. des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) entgegenhalten. 831 Das Handelsrecht kennt verschiedene Arten der Prokura – die Einzelprokura, die Gesamtprokura und die Filialprokura. 830

• Eine Einzelprokura liegt vor, wenn der Geschäftsherr einer Person Prokura erteilt hat. Der Prokurist ist dann einzelvertretungsberechtigt, d. h. er darf für den Geschäftsherren alleine auftreten und handeln (§  48 Abs.  1  HGB).  Es kann durchaus mehrere Einzelprokuristen nebeneinander geben. • Bei der echten Gesamtprokura wird die Prokura zwei oder mehreren Personen gemeinschaftlich erteilt. Sie sind daher nur gemeinschaftlich zum Handeln befugt und können den Geschäftsherren auch nur gemeinsam vertreten (§  48 Abs. 2 HGB), wobei untereinander durchaus eine Differenzierung auf bestimmte Geschäftstätigkeiten erfolgen kann (§ 125 Abs. 2 S. 2 HGB, 78 Abs. 4 AktG). Dagegen kann die sog. passive Vertretung (z. B. das Empfangen von Willenserklärungen) selbst bei der Gesamtprokura durch einen Prokuristen alleine wahrgenommen werden.  Sofern die Einzelprokura mit einer Gesamtprokura verbunden wird (z.B. Einzelprokura an A und Gesamtprokura an A und B), spricht man von einer halbseitigen Gesamtprokura. Beispiel

Kaufmann K erteilt seinen Angestellten A und B Gesamtprokura. Als Gesamtprokuristen können sie Verträge nur gemeinschaftlich schließen, nicht alleine; allerdings könnte Prokurist A den Prokurist B für bestimmte Geschäfte ermächtigen oder dessen alleiniges Handeln nachträglich genehmigen. Unterbreiten die Gesamtprokuristen A und B dem Geschäftspartner C ein Vertragsangebot, kann dieser seine Annahmeerklärung gegenüber Prokurist A oder gegenüber dem Prokuristen B abgeben. ◄ • Eine unechte oder gemischte Gesamtprokura liegt vor, wenn der Prokurist an die Mitzeichnung eines Nicht-Prokuristen gebunden ist, wobei die andere Person

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

333

für sich alleine ebenfalls vertretungsberechtigt sein muss (z. B. Geschäftsführer oder vertretungsberechtigter Gesellschafter (§ 125 Abs. 3 HGB, § 78 Abs. 3 AktG). • Von einer Filialprokura ist auszugehen, wenn die Prokura vom Geschäftsherrn auf den Betrieb einer oder mehrerer Niederlassungen beschränkt wird (§  50 Abs. 3 HGB; Ausnahme zu § 50 Abs. 1 HGB). In diesem Fall kann der Prokurist den Prinzipal nur für den Betrieb der betreffenden Niederlassung wirksam vertreten. Beispiel

Ein Kaufmann betreibt die Unternehmen „Computer GmbH, Frankfurt“, „Computer GmbH, Hamburg“ und die „Computer GmbH, München“. Er könnte nun für jede dieser Niederlassungen einen Filialprokuristen bestellen, dessen Vollmachten unterschiedlich ausgestaltet und auf den Geschäftsbetrieb seiner Filiale beschränkt wären. Ein Verstoß gegen § 50 Abs. 1 HGB bestünde nicht. ◄ Die Prokura erlischt durch Beendigung des Grundverhältnisses (z. B. Kündi- 832 gung oder Aufhebung des Arbeitsvertrags; § 168 S. 1 BGB), bei Tod des Prokuristen (nicht des Geschäftsinhabers; § 52 Abs. 3 HGB), bei Veräußerung oder Einstellung des Handelsgeschäftes sowie durch Widerruf (§  52 Abs.  1  HGB). Der Widerruf kann dabei jederzeit formlos sowohl gegenüber dem Prokuristen (Innenverhältnis) als auch gegenüber dem Dritten (Außenverhältnis) erklärt werden, wobei die Ausübung des Rechts vertraglich weder ausgeschlossen noch beschränkt werden kann. Das Erlöschen der Prokura tritt mit dem Vorliegen der vorgenannten Bedingungen ein, die Anmeldung und verpflichtende Eintragung ins Handelsregister hat daher nur noch rein deklaratorische Wirkung (§ 53 Abs. 2 HGB; das Nichteintragen des Erlöschens setzt allerdings einen Rechtsschein für das Bestehen der Prokura, Abschn. 5.3), d. h. bei Nichteintragen des Erlöschens kann der Kaufmann das Fehlen der Vertretungsmacht einem Dritten nicht entgegenhalten (§ 15 Abs. 1 HGB). Ist die Prokura erloschen, fehlt dem Prokuristen die Vertretungsmacht. Ein Handeln im Namen des Geschäftsinhabers wirkt grundsätzlich nicht mehr für und gegen diesen. Ein Vertrag, den der Prokurist dennoch im Namen des Geschäftsinhabers schließt, ist gem. §  177 BGB schwebend unwirksam. Verweigert der Geschäftsinhaber die Genehmigung, haftet der vermeintliche Prokurist als Vertreter ohne Vertretungsmacht (179 BGB, sog. falsus procurator) auf Erfüllung oder Schadensersatz.

5.5.1.2 Handlungsvollmacht Als Handlungsvollmacht gilt jede von einem Kaufmann im Rahmen seines Handels- 833 gewerbes erteilte Vollmacht, die nicht Prokura ist (§ 54 Abs. 1 HGB). Insofern sind die §§ 164 ff. BGB anwendbar, soweit sie nicht durch die Spezialregelung des § 54 HGB verdrängt werden. Die Handlungsvollmacht nimmt eine wichtige Stellung zwischen Prokura und 834 einfacher BGB-Vollmacht ein. Wie beschrieben, hat die Prokura einen vom Gesetz festgelegten Umfang. Dieser weite Umfang kann jedoch für den Kaufmann, der die Prokura erteilt, gefährlich sein. Deshalb liegt es im Interesse des Kaufmanns, dass die Rechtsordnung für den Handelsverkehr auch solche Vollmachten zulässt, deren

334

5 Handelsrecht

Umfang der Kaufmann mit Wirkung gegenüber Dritten individuell bestimmen und entsprechend den Bedürfnissen des betreffenden Handelsbetriebes anpassen kann. Andererseits bleibt es aber bei dem Erfordernis nach einer hohen Transparenz im handelsrechtlichen Verkehr und dem Interesse des Dritten, den Umfang einer Vollmacht vorhersehen und sich darauf einlassen zu können. Diesen Bedürfnissen wird die Handlungsvollmacht gerecht, die einerseits dem Kaufmann gewisse Freiheiten bei der Ausgestaltung der Vertretungsmacht belässt und zum anderen die Dritten davor schützt, mit ungewöhnlichen Vollmachten konfrontiert zu werden. 835 Die Handlungsvollmacht kann formlos durch den Inhaber des Handelsgeschäfts oder auch durch einen Bevollmächtigten gemäß §§ 167, 171 BGB erteilt werden. Daher kann auch ein Prokurist Handlungsvollmacht und ein Handlungsbevollmächtigter Untervollmacht erteilen. Insbesondere die selbständigen Handelsvertreter, aber auch die Angestellten des Kaufmanns können Handlungsvollmacht erhalten und Untervollmachten erteilen. Im Unterschied zur Prokura können auch juristische Personen Handlungsvollmacht erhalten. In allen Fällen ist keine ausdrückliche Erklärung erforderlich, vielmehr genügt eine stillschweigende Erklärung, so dass bei der Handlungsvollmacht auch eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht (§§ 170–173 BGB) in Betracht kommen kann. 836 Einer Eintragung ins Handelsregister bedarf die Erteilung der Handlungsvollmacht nicht. Handlungsbevollmächtigte zeichnen im Schriftverkehr mit „i. A.“ (im Auftrag) oder „i. V.“ (in Vertretung). 837 Der Umfang der Handlungsvollmacht wird durch denjenigen bestimmt, der die Vollmacht erteilt. Ihr Umfang kann verschieden ausgestaltet sein, wobei § 54 Abs. 1 HGB drei Formen vordefiniert: • Die Generalhandlungsvollmacht nach § 54 Abs. 1, 1. Alt. HGB bevollmächtigt zu allen Rechtsgeschäften, die der Betrieb eines derartigen (!) Handelsgewerbes mit sich bringt. Anders als bei der Prokura ist der Handlungsbevollmächtigte also in allen drei Fällen nur zu solchen Geschäften ermächtigt, die das konkret betriebene Handelsgewerbe des Prinzipals mit sich bringen. Er kann daher – anders als der Prokurist  – nicht alle Geschäfte tätigen, die zu irgendeinem Handelsgewerbe gehören. Vielmehr muss es sich um branchenübliche Geschäfte handeln, die im Rahmen des betreffenden Geschäftsbetriebs nicht ungewöhnlich sind.

Beispiel

Der Tischlermeister T erteilt an seinen Angestellten A Generalhandlungsvollmacht. Wenn der A nun Holz und Baumaterialien beschafft, wird der T zur ­Zahlung verpflichtet, da die Geschäfte des A branchenüblich sind. Würde der A hingegen eine Video- und Soundanlage erwerben, wäre sein Handeln nicht mehr von der Generalhandlungsvollmacht gedeckt. ◄

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

335

• Die Arthandlungs- bzw. Gattungsvollmacht nach §  54 Abs.  1, 2. Alt.  HGB bevollmächtigt zur Vornahme aller Rechtsgeschäfte, die eine bestimmte Art von Geschäften des konkreten Handelsgewerbes für gewöhnlich mit sich bringt („zu diesem Handelsgewerbe gehören“). Typische Arthandlungsbevollmächtigte sind z. B. Einkäufer, Verkäufer und Kassierer.

Beispiel

Der Textileinkäufer eines Kaufhauses kann Hemden auf Probe oder unter Eigentumsvorbehalt kaufen, er kann Mängel gekaufter Stoffe rügen. Er ist aber nicht berechtigt, im Namen des Geschäftsinhabers Möbel einzukaufen. Der Kaufvertrag wäre schwebend unwirksam und nach den Regeln der Vertretung ohne Vertretungsmacht gemäß §§ 177, 179 BGB abzuwickeln. Die Vollmacht eines Schalterangestellten einer Bank berechtigt zur Vornahme aller im Schalterverkehr üblichen Bankgeschäfte (z. B. Einzahlung, Auszahlung), nicht jedoch zur Bürgschaftserklärung. ◄ • Die Spezialhandlungsvollmacht nach § 54 Abs. 1, 3. Alt. HGB ist auf einzelne Geschäfte, die zu dem vom Prinzipal betriebenen Handelsgewerbe gehören, beschränkt. Im Unterschied zur Spezialhandlungsvollmacht des BGB wird der Bevollmächtigte hier nicht zu einem bestimmten einzelnen Rechtsgeschäft ermächtigt, sondern kann durchaus Rechtsgeschäfte vornehmen, die mit dem übertragenen Geschäft in einem inneren Zusammenhang stehen.

Beispiel

Der Kaufmann bevollmächtigt seinen Angestellten H, für einen Verkaufsraum eine Ladeneinrichtung zu beschaffen. H ist befugt, eine Theke zu kaufen, Regale von einem Schreiner fertigen zu lassen, aufgetretene Mängel zu rügen; er kann aber nicht mit Wirkung für und gegen den Kaufmann Einrichtungsgegenstände für andere Bereiche des Kaufhauses einkaufen. ◄ Die Handlungsvollmacht ist – gleich welcher Grundtypus vorliegt – nach § 54 838 Abs. 1 HGB stets auf branchenübliche Geschäfte beschränkt. Weiterhin darf das Geschäft nicht ungewöhnlich sein, muss also öfter abgeschlossen werden und sich auch finanziell im Rahmen der üblichen Geschäftstätigkeit des Handelsgewerbes halten. Wenn z. B. bei einem großen Unternehmen auch Vertragsabschlüsse von erheblicher finanzieller Tragweite noch zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, erstreckt sich die Handlungsvollmacht auch auf diese. Das Gesetz setzt auch der Handlungsvollmacht Grenzen. Nach § 54 Abs. 2 HGB 839 kann sich die Handlungsvollmacht nicht auf die Veräußerung oder Belastung von Grundstücken, die Eingehung von Wechselverbindlichkeiten, die ­Aufnahme von Darlehen und die Prozessführung erstrecken; für diese Geschäfte bedarf es einer

336

5 Handelsrecht

besonderen Ermächtigung, die auch stillschweigend erteilt werden kann. Der Grund dieser gesetzlichen Begrenzung liegt darin, dass diese Geschäfte für den Geschäftsherrn als besonders gefährlich gelten. Deshalb sind sie dem Handlungsbevollmächtigten selbst dann untersagt, wenn sie im konkreten Fall „gewöhnlich“ sein sollten. Ferner können zwischen dem Prinzipal und dem Handlungsbevollmächtigten Beschränkungen im Innenverhältnis rechtsgeschäftlich vereinbart sein (z. B. Höchstbetrag). Solche Beschränkungen sind gegenüber Dritten allerdings nur wirksam, sofern diese  die Beschränkungen kannten oder kennen mussten (§  54 Abs. 3 HGB). Denn einem gutgläubigen Dritten kann nur in beschränktem Maße zugemutet werden, über die durch Rechtsgeschäft gezogenen Grenzen der Vollmacht des Handlungsbevollmächtigten nähere Ermittlungen anzustellen (keine Nachforschungspflicht). Beispiel

U ist Inhaber eines Kaufhauses und bevollmächtigt seinen Angestellten A zum Einkauf von Textilien bis zu 10.000 EUR. A kauft von V Textilien im Wert von 25.000 EUR ein. Kannte V diese betragsmäßige Beschränkung der Vollmacht des A oder kannte er sie aufgrund fahrlässigen Verhaltens nicht (z.  B. weil er einen entsprechenden Aufdruck auf dem Bestellschein aus Unachtsamkeit nicht las), ist kein Kaufvertrag über die Textilien zum Preis von 25.000 EUR zwischen U und T zustande gekommen. In diesem Fall kommt auch keine Haftung des A als Vertreter ohne Vertretungsmacht in Betracht (§ 179 Abs. 3 S. 1 BGB). War dem V dagegen die betragsmäßige Beschränkung der Vollmacht trotz sorgsamen Handelns unbekannt geblieben, wirkt der Kaufvertrag mit V für und gegen den U.  A ist dem K jedoch im Innenverhältnis schadensersatzpflichtig (§  280 Abs. 1 BGB). ◄ Als Besonderheit der Handlungsvollmacht gilt für Handelsvertreter eine Vermutung für die Abschlussvollmacht gemäß § 55 HGB. Die dem Handelsvertreter erteilte Vollmacht betrifft dabei jedoch nicht Änderungen von Verträgen, insbesondere die Gewährung von Zahlungsfristen. Auch bedarf die Entgegennahme von Zahlungen einer besonderen Inkassovollmacht des Handelsvertreters. Allerdings kann der Handelsvertreter Mängelanzeigen und ähnliche Erklärungen entgegennehmen (§ 55 Abs. 4 HGB). 841 Ebenso wie bei der Gesamtprokura kann der Geschäftsherr auch Gesamthandlungsvollmacht erteilen. Dann sind die Gesamthandlungsbevollmächtigten nur gemeinschaftlich befugt, den Geschäftsherrn zu vertreten. 842 Für das Erlöschen der Handlungsvollmacht gelten keine handelsrechtlichen Besonderheiten, sondern die allgemeinen Regeln des BGB. Danach endet die Handlungsvollmacht mit dem Grundverhältnis oder kann, wie jede andere Vollmacht auch, jederzeit widerrufen werden (§ 168 BGB). Nach dem Erlöschen der Vollmacht fehlt dem Handlungsbevollmächtigten die Vertretungsmacht. Rechtsgeschäfte des Handlungsbevollmächtigten wirken nicht 840

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

337

mehr ohne weiteres für und gegen den Geschäftsinhaber; sie sind gemäß §  177 Abs.  1 BGB schwebend unwirksam. Verweigert der Geschäftsinhaber deren Genehmigung, so haftet der Handelnde selbst als Vertreter ohne Vertretungsmacht (179 BGB).

5.5.1.3 Ladenvollmacht Der Geschäftsinhaber lässt sich bei Geschäften in seinem Ladenlokal oder seinem 843 Warenlager in der Regel auch von Hilfspersonen vertreten, die er zu diesem Zweck angestellt hat. Allerdings steht den dort handelnden Personen nicht auf die Stirn geschrieben, mit welcher Art Vollmacht sie ausgestattet sind und dem Dritten ist es nicht zuzumuten, dieses bei Geschäftsabschluss zu ermitteln. Zugleich erweckt der Geschäftsinhaber jedenfalls den Rechtsschein, dass die angestellte Personen auch zur Vornahme von Geschäften bevollmächtigt sind, die üblicherweise in einem solchen Lokal oder Warenlager vorkommen. Daher soll sich der Geschäftsherr auch nicht gegenüber einem gutgläubigen Dritten mit Erfolg darauf berufen können, die angestellte Hilfsperson habe keine Vertretungsmacht gehabt. Daher begründet §  56  HGB eine Scheinhandlungsvollmacht für die Angestellten des Geschäftsherrn, die in seinem Laden oder Warenlager tätig sind. Nach dieser Vorschrift gilt ein in einem Laden oder offenen Warenlager Angestellter zu solchen Verkäufen oder Empfangnahmen als bevollmächtigt, die ein solcher Laden oder ein solches Warenlager für gewöhnlich mit sich bringen; die Vollmacht wird für diese Fälle vom Gesetz fingiert („gilt“). 844 Die Fiktion der Ladenvollmacht ist an folgende Voraussetzungen geknüpft: • Der Vertretene muss Kaufmann sein. Fehlt es an der Kaufmannseigenschaft (z. B. Freiberufler) kommt eine analoge Anwendung des § 56 HGB in Betracht: Ladenangestellte kann es auch bei Nicht-Kaufleuten geben. • Der Angestellte muss in einem Laden oder offenen Warenlager beschäftigt sein, also in einer Verkaufsstätte, die zum freien Eintritt für das Publikum und zum Abschluss von Geschäften bestimmt ist. Dazu gehören neben typischen Verkaufsstätten auch die Verkaufsstände auf Messen und Ausstellungen oder Großhandelslager mit Verkaufsmöglichkeit (z. B. in Getränkemärkten), nicht dagegen Fabrikationshallen sowie reine Büroräume. • Der Ladenangestellte muss im Laden oder Warenlager angestellt sein. Der Begriff „angestellt“ ist i. S. d. Drittschutzes weit auszulegen, so dass jede Person erfasst ist, die mit Wissen und Wollen des Ladeninhabers im Ladenlokal oder Warenlager tätig wird. Insofern fallen nicht nur Arbeitnehmer im Sinne der arbeitsrechtlichen Vorschriften darunter, sondern dazu gehören auch Familienmitglieder, Praktikanten und Aushilfspersonen. • Der Vertragsschluss muss im Laden oder offenen Warenlager erfolgt sein.  • Der Dritte muss im guten Glauben über den Umfang der Vollmacht sein. Die Vermutungswirkung des § 56 HGB entfällt nur dann, wenn der Dritte die mangelnde Vertretungsmacht des Angestellten kannte oder kennen musste, wobei bereits einfache fahrlässige Unkenntnis schadet. Der Rechtsgedanke ist damit

338

5 Handelsrecht

der gleiche, wie bei § 173 BGB und § 54 Abs. 3 HGB. Daher kann die gesetzliche Vermutung der Ladenvollmacht durch den Geschäftsinhaber ausgeschlossen werden, indem er beispielsweise ein Schild installiert auf dem „Zahlung nur an der Kasse“, „Verkaufspersonal ist nicht zur Abrechnung berechtigt“ oder „Reklamationen nur im Büro“ steht. 845

846

Die Rechtsfolge des § 56 HGB ist die unwiderlegliche Vermutung, dass der Angestellte zu Verkäufen (auf Käufe ist § 56 nicht anwendbar) und zu Empfangnahmen bevollmächtigt ist, die in einem Laden oder Warenlager gewöhnlich stattfinden. Der Begriff der „gewöhnlichen“ Verkäufe und Entgegennahmen schließt neben dem Abschluss von Kaufverträgen auf der Verkäuferseite das Kassieren des Kaufpreises, die Entgegennahme von Mängelanzeigen oder die Abgabe und Entgegennahme von Anfechtungserklärungen ein, ferner auch die sachenrechtliche Übereignung sowie die Vermittlung von Werk- und Werklieferungsverträgen, nicht dagegen den Ankauf, den Rücktritt vom Vertrag oder einen Umtausch von Waren. Die mit der Scheinhandlungsvollmacht vorgenommenen Rechtsgeschäfte der Hilfsperson wirken für und gegen den Geschäftsherrn (§ 164 Abs. 1 BGB). Allerdings dürfen die Wirkungen der Scheinhandlungsvollmacht nicht weiter gehen, als die einer durch Rechtsgeschäft begründeten Handlungsvollmacht, so dass auch hier die Grenzen § 54 Abs. 2 HGB zu beachten sind.

5.5.2 Selbständige Hilfspersonen 847

Kaufleute, gleich ob sie als Hersteller oder Verarbeiter von Waren oder als Einzeloder Großhändler tätig sind, bedienen sich beim Absatz der Waren oder dem Erbringen von Dienstleistungen unterschiedlichsten Vertriebsformen. Im Zuge dessen werden oftmals selbständige Hilfspersonen als Absatz- und Umsatzmittler eingebunden, die u. a. Verträge zwischen Hersteller und Händler oder zwischen den Händlern untereinander vermitteln oder abschließen. Dabei sind diese Hilfspersonen weder in das Handelsgeschäft des Kaufmanns eingegliedert, noch stehen sie in einem Arbeitsverhältnis zum Kaufmann, sondern sie betreiben ihr eigenes Handelsgewerbe (§§ 1 ff. HGB) oder Unternehmen (§ 14 BGB), mit eigenen unternehmerischen Zielen. Sie werden für den Kaufmann regelmäßig auf der Basis von Geschäftsbesorgungsverträgen (§ 675 BGB) gegen Provision tätig, die sich aus den von ihnen vermittelten bzw. abgeschlossenen Geschäften errechnet. Zu diesen selbständigen Hilfspersonen gehören u.  a. Handelsvertreter (§§ 84 ff. HGB), Handelsmakler (§§ 93 ff. HGB), Kommissionäre (§§ 383 ff. HGB) sowie die typengemischten Formen, auf die im Einzelfall das Handelsrecht zur analogen Anwendung kommt, wie Kommissionsagenten (§§ 84, 383 HGB), Vertragshändler (§§ 84 ff. HGB analog) und Franchisenehmer (Vertrag sui generis), aber auch  – nachfolgend nicht näher beschrieben (siehe dazu Abschn.  5.6.3)  – die

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

339

­ rachtführer (§§  407  ff.  HGB), Spediteure (§§  453  ff.  HGB) und Lagerhalter F (§§ 467 ff. HGB).

5.5.2.1 Handelsvertreter Handelsvertreter ist nach der Legaldefinition in §  84 Abs.  1  HGB, wer als selb- 848 ständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer Geschäfte zu vermitteln oder in dessen Namen abzuschließen. Wesentliche Merkmale für das Vorliegen eines Handelsvertreters sind daher: • Selbständiger Gewerbetreibender Selbständiger Gewerbetreibender ist nach § 84 Abs. 1 S. 2 HGB, wer seine Tätigkeit und Arbeitszeit im Wesentlichen frei bestimmen kann. In Abgrenzung zum Arbeitnehmer (§ 84 Abs. 2 HGB; z. B. angestellte Ein-Firmen-Vertreter) sind zur Beurteilung der Selbständigkeit die Gesamtumstände heranzuziehen, wobei bestimmte Kriterien ausschlaggebend sind. In erster Linie ist es die Übernahme des unternehmerischen Risikos, welches beim Handelsvertreter dadurch zum Ausdruck kommt, dass er gerade keine feste Vergütung erhält, sondern lediglich einen geschäftsabhängigen Provisionsanspruch. Ferner verfügt der Handelsvertreter – im Unterschied zu einem Arbeitnehmer – über eigene Geschäftsräume, die er auf seine Kosten unterhält und personell ausstattet. Ferner lässt er seine Firma für gewöhnlich im Handelsregister eintragen, verwendet sie auf seinen Geschäftsbriefen und führt Handelsbücher  – alles Indizien, die seine Selbständigkeit zum Ausdruck bringen. Als selbständiger Gewerbetreibender ist der Handelsvertreter selbst Kaufmann i.  S. der §§  1, 2  HGB.  Auch wenn das Unternehmen einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb nicht erfordern sollte, finden die §§ 84 ff. HGB Anwendung (§ 84 Abs. 4 HGB). • Ständige Betrauung mit Vermittlungs- und Abschlusstätigkeit Den Handelsvertreter trifft – je nach vertraglicher Vereinbarung – eine Vermittlungs- oder Abschlusstätigkeit (§ 84 Abs. 1 S. 1 BGB). Die Vermittlungstätigkeit geht dabei über die bloße Werbung hinaus und beinhaltet insbesondere das Einwirken auf Dritte mit dem Ziel, einen Vertragsabschluss herbeizuführen; der Vermittlungsvertreter sorgt für eine Vertragsanbahnung. Die Abschlusstätigkeit umfasst die Abgabe und Entgegennahme von Willenserklärungen im Namen des Prinzipals. Vertragspartei des Dritten wird nicht der Handelsvertreter, sondern der Unternehmer, sofern dieser dem Handelsvertreter eine entsprechende Vollmacht zum Abschluss der Geschäfte erteilt hat (§  167 BGB). Der Abschlussvertreter ist daher rechtlich als Stellvertreter des Unternehmers im Sinne der §§ 164 ff. BGB anzusehen. Ständig betraut ist der Handelsvertreter, der zum Abschluss oder der Vermittlung einer unbestimmten Zahl von Geschäften beauftragt ist. „Ständig“ bedeutet dabei nicht „auf immer“ oder „auf unbestimmte Zeit“; entscheidend ist vielmehr, dass die Beauftragung auf eine unbestimmte Zahl von Abschlüssen bzw. Geschäften gerichtet ist (dem genügt daher auch eine nur kurze Laufzeit des Handelsvertretervertrages, z. B. während einer Saison oder einer Messe).

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5 Handelsrecht

• Handeln in fremden Namen und für fremde Rechnung Der Handelsvertreter wird für einen (anderen) Unternehmer tätig oder schließt Geschäfte im fremden Namen; er begründet Rechte und Verbindlichkeiten für diesen anderen Unternehmer. Wer im eigenen Namen handelt, kann kein Handelsvertreter sein (allenfalls Kommissionär, Kommissionsagent, Franchisenehmer, Vertrags- oder Eigenhändler). Das andere Unternehmen kann dabei jede natürliche und jede juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts sein. Es muss weder kaufmännische Einrichtung sein (vgl.  §  91 Abs. 1 HGB) noch mit Gewinnerzielungsabsicht handeln. Der Handelsvertreter kann für ein einzelnes Unternehmen tätig werden (§ 92a HGB) oder für mehrere. Je nach Ausgestaltung des Handelsvertreterverhältnisses ist er danach Einfirmenoder Mehrfirmenvertreter. Der Handelsvertreter unterscheidet sich • vom Handlungsgehilfen (§ 59 HGB) durch seine Selbständigkeit. Der Handlungsgehilfe erbringt seine Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit. • vom Handelsmakler (§ 93 HGB) dadurch, dass der Handelsvertreter ständig Geschäfte vermittelt oder abschließt und die Interessen des Unternehmers wahrt, während der Handelsmakler nur punktuell für ein Unternehmen tätig ist und als unabhängiger Vermittler auch die Interessen beider Vertragsparteien berücksichtigen muss. • vom Kommissionär und Kommissionsagenten durch sein Handeln im fremden Namen, während Kommissionär und Kommissionsagenten im eigenen Namen für fremde Rechnung handeln. • vom Vertragshändler und Franchisenehmer dadurch, dass er im fremden Namen für fremde Rechnung tätig ist, während sowohl der Vertragshändler als auch der Franchisenehmer im eigenem Namen für eigene Rechnung agieren. Der Handelsvertretervertrag begründet ein auf Dauer angelegtes Geschäftsbesorgungsverhältnis (§§  675, 611  ff. BGB) zwischen dem Handelsvertreter und dem Unternehmer. Der Vertrag, der durch die in weiten Teilen zwingenden Sonderregelungen der §§ 84 ff. HGB begleitet wird, ist formlos gültig; er kann auch durch konkludentes Handeln zustande kommen (Ausnahme: §§ 85, 86b Abs. 1 S. 3, 90a Abs. 1 S. 1 HGB). Die Parteien können aber Schriftform verlangen (§ 85 HGB). Sofern der Handelsvertretervertrag ein Formularvertrag ist, unterliegen die Klauseln der Inhaltskontrolle (§§ 305 ff., 310 BGB). Die Pflichten des Handelsvertreters ergeben sich zuvörderst aus dem Handels850 vertretervertrag, im Übrigen aus den (zwingend zu beachtenden) §§  84  ff. HGB sowie den ergänzenden Bestimmungen der §§ 611 ff., 675 BGB. Nach § 86 Abs. 1 Hs. 1 HGB hat sich der Handelsvertreter aktiv um die Vermittlung oder den Abschluss von Geschäften zu bemühen (sog. Bemühenspflicht) und er muss den Unternehmer über jede einzelne Geschäftsvermittlung und jeden einzelnen Geschäftsabschluss unterrichten (sog. Benachrichtigungspflicht, §  86 849

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

341

Abs. 2 HGB). Während seiner Tätigkeit ist er dazu verpflichtet, die Interessen des Unternehmers zu wahren (sog. Interessenwahrungspflicht, § 86 Abs. 1 Hs. 2 HGB) und mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns zu agieren (sog. Sorgfaltspflicht, § 86 Abs. 3 HGB). Die Interessenswahrungspflicht konkretisiert sich u. a. im Wettbewerbsverbot, nach welchem jede Konkurrenzvertretung während der Vertragsdauer ausgeschlossen ist (§ 86 Abs. 1 Hs. 2 HGB), sowie in der Verpflichtung, die Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnisse des Unternehmens zu schützen (sog. Verschwiegenheitspflicht, § 90 HGB). Die Verletzung vorgenannter Verpflichtungen kann Schadensersatzansprüche (§ 280 Abs. 1 BGB) des Unternehmers gegen den Handelsvertreter begründen und Kündigungsrechte (§ 89a Abs. 1 S. 1 HGB) auslösen. Beispiel

Aus §  86 Abs.  3  HGB erwächst beispielsweise die Verpflichtung, die Kunden sorgfältig auszusuchen (z.  B.  Prüfung der Kreditwürdigkeit bei der Kreditvergabe), die Kundenwünsche weiterzugeben sowie die Richtlinien des Unternehmers für Werbung und Mustervorführung zu beachten. Aus § 90 HGB folgt die Verpflichtung, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die dem Handelsvertreter infolge seiner Tätigkeit bekannt geworden sind (z. B. bei Darbietungen), weder zu verwerten noch an Dritte weiterzugeben. ◄ Der Unternehmer ist zur Provisionszahlung (§§ 87–87c, 354 HGB) verpflichtet. 851 Dabei ist die Provision das Entgelt für die Vermittlungs- und Abschlusstätigkeit des Handelsvertreters. Zwar können im Handelsvertretervertrag weitere Formen der Vergütung vereinbart werden, beispielsweise ein festes Entgelt, eine Umsatzbeteiligung, eine Gewinnbeteiligung oder eine Kombination aus den verschiedenen Entgeltformen, doch besteht daneben stets der gesetzliche und unabdingbare Provisionsanspruch des Handelsvertreters fort (§ 87 Abs. 1 HGB). Als Provisionen kommen in Betracht: • Abschlussprovision (§ 87 HGB), • Delkredereprovision (§ 86b HGB), • Inkassoprovision (§ 87 Abs. 4 HGB). Bei der Abschlussprovision entsteht der Provisionsanspruch des Handelsver- 852 treters für Geschäfte, die auf seine Tätigkeit zurückzuführen sind (§ 87 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 HGB) oder mit Dritten geschlossen werden, die er zuvor als Kunden für Geschäfte der gleichen Art geworben hat (§ 87 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 HGB). Bei der Abschlussprovision handelt sich um eine Erfolgsvergütung, da sie sich dem Umfang nach an den Einzelgeschäften bemisst. Sie ist mit Ausnahme der Bezirksprovision nach § 87 Abs. 2 HGB tätigkeitsbezogen, d. h. der Anspruch ist auf die Tätigkeit des Handelsvertreters zurückzuführen. Die Voraussetzungen der Abschlussprovision sind nach § 87 Abs. 1 HGB:

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5 Handelsrecht

• Abschluss eines Geschäftes während des Bestehens des Handelsvertretervertrages, • Mitursächlichkeit der Tätigkeit des Handelsvertreters für den Geschäftsabschluss oder für die Nachbestellung (= Kausalität), • kein Anspruch des ausgeschiedenen oder nachfolgenden Handelsvertreters. Provisionspflichtig sind danach alle Geschäfte, die auf die Tätigkeit des Handelsvertreters zurückzuführen sind, unabhängig davon, ob der Handelsvertreter Abschlussvollmacht hatte oder nur eine Vermittlungstätigkeit ausübte und ob es sich um Direktaufträge oder nur um Folgeaufträge und Nachbestellungen handelte. Bezogen auf die Tätigkeit des Handelsvertreters genügt die Mitursächlichkeit. Beispiel

Der Handelsvertreter H ist für Kaufmann K tätig, der Küchenutensilien aus Plastik herstellt. H verkauft im Namen des K der Gaststätte G 40 Aufbewahrungsboxen. Daraus erwächst dem H ein Anspruch gegen K auf Provision aus § 87 Abs. 1 S. 1, Alt. 1 HGB, denn das Geschäft ist während des laufenden Handelsvertreterverhältnisses abgeschlossen worden und ursächlich auf die Tätigkeit des H zurückzuführen. Ein halbes Jahr nachdem der H das Geschäft zwischen G und K vermittelt hatte, bestellt der G bei K 20 Plastikschüsseln mit Deckel. Da die G von H als Kunde geworben wurde und es sich bei der Bestellung um Geschäfte gleicher Art handelt, besteht auch hier ein Provisionsanspruch des H gegen K, nunmehr aus § 87 Abs. 1 S. 1, Alt. 2 HGB. ◄ Für die Abschlussprovision des Bezirksvertreters – einem Unternehmer, dem ein bestimmter Bezirk oder ein bestimmter Kundenkreis vertraglich zugewiesen ist – entfällt das Merkmal der Kausalität zwischen Tätigkeit und Vertragsschluss. Er hat nach § 87 Abs. 2 HGB einen Provisionsanspruch auch für Geschäfte, die ohne seine Mitwirkung mit Personen seines Bezirks oder seines Kundenkreises zustande kommen. Die Bezirksprovision belohnt die Gesamtbemühungen des Handelsvertreters in puncto Kundenbindung. Schließlich besteht nach §  87 Abs.  3  HGB unter den dort genannten Voraussetzungen ein Provisionsanspruch sogar für Geschäfte, die nach Beendigung des Handelsvertretervertrags abgeschlossen werden, aber auf die Bemühungen des Handelsvertreters zurückzuführen sind oder durch den Handelsvertreter so vorbereitet wurden, dass der Abschluss überwiegend auf seiner Tätigkeit beruht (sog. Überhangprovisionen). Die Provisionspflicht endet jedoch nach angemessener Zeit (§ 87 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 Hs. 2 HGB). Beispiel

Der Handelsvertretervertrag zwischen H und K endet aufgrund Zeitablaufs am 31.12. Noch im Dezember hatte der H das Küchenstudio S von der Qualität der Plastik-Küchenutensilien überzeugen können. Die S bestellt daher Mitte J­ anuar

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

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des darauffolgenden Jahres bei K 60 Aufbewahrungsboxen. In diesem Fall hat der H noch einen Anspruch auf Provision nach § 87 Abs. 3 HGB, da der Vertragsschluss zwischen S und K noch in zeitlicher Nähe zu seiner Vermittlungstätigkeit liegt und darauf zurückzuführen ist. ◄ Ein Anspruch auf eine Delkredereprovision entsteht nach §  86b  HGB, wenn 853 sich der Handelsvertreter durch Erklärung gegenüber dem Geschäftsherrn dazu verpflichtet, für die Erfüllung der Kundenverbindlichkeiten einzustehen. Die Erklärung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform (§ 126 BGB) und muss sich auf ein bestimmtes Geschäft oder auf einen bestimmten Geschäftspartner beziehen. Es handelt sich regelmäßig um eine Bürgschaftsübernahme (zumeist selbstschuldnerische Ausfallbürgschaft nach §§  765, 773 Abs.  1 Nr.  1 BGB, 349  HGB), gelegentlich kann aber auch ein Schuldbeitritt oder ein selbständiges Garantieversprechen vorliegen. Der Handelsvertreter hat einen gesetzlichen Anspruch auf die Delkredereprovision, weil er mit seiner Verpflichtung, für die Zahlungsfähigkeit des Vertragspartners einzustehen, ein zusätzliches (extra zu vergütendes) Haftungsrisiko übernommen hat. Sofern der Handelsvertreter auch die Einziehung von Beträgen (Inkasso) über- 854 nommen hat, entsteht ein besonderer Anspruch auf die Inkassoprovision nach § 87 Abs. 4 HGB. Für jede weitere Geschäftsbesorgung oder Dienstleistung, die nicht bereits ver- 855 traglich geschuldet ist, kann der Handelsvertreter die allgemeine Provision eines Kaufmanns aus § 354 HGB beanspruchen. Beispiel

Der Handelsvertreter, der zur Abwehr von Mängelrügen umfangreiche Verhandlungen für den Unternehmer führen muss, kann neben der Abschlussprovision die gesetzliche Provision nach § 354 HGB verlangen, um seine außergewöhnlichen Mehrbelastungen auszugleichen (BGH BB 1962, 1345). ◄ Der Provisionsanspruch wird am letzten Tag des Monats fällig, in dem nach 856 § 87c Abs. 1 HGB über den Anspruch abzurechnen ist (§ 87a Abs. 4 und 5 HGB). Abzurechnen ist monatlich, allerdings kann durch vertragliche Vereinbarung der Abrechnungszeitraum auf höchstens drei Monate ausgedehnt werden (§  87c Abs. 1 HGB). Die Höhe der Provision richtet sich nach der Parteivereinbarung; hilfsweise ist 857 der übliche Satz als vereinbart anzusehen (§ 87b HGB). Aus dem Handelsvertretervertrag können weitere Pflichten des Unternehmers 858 (= Rechte des Handelsvertreters) folgen: • Aufwendungsersatz (§  87d  HGB; z.  B.  Sach- und Personalkosten sofern handelsüblich), • Karenzentschädigung (§  90a Abs.  1 S.  3  HGB bei schriftlicher ­Wettbewerbsabrede),

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5 Handelsrecht

• Unterstützung der Tätigkeit des Handelsvertreters sowie Mitteilungspflichten (§ 86a HGB; z. B. Überlassung von Mustern, Kataloge, Preislisten sowie Unterrichtung über Vertragshindernisse). Der Handelsvertretervertrag endet durch Zeitablauf (§  620 Abs. 1 BGB), bei Tod des Handelsvertreters (§§ 675 Abs. 1, 673 BGB), in der Insolvenz des Unternehmers (§§ 115, 116 InsO) oder durch Kündigung (§§ 89, 89a HGB). Die ordentliche Kündigung ist dabei unter Beachtung der in § 89 HGB benannten Fristen zulässig. Die außerordentliche Kündigung erfordert das Vorliegen eines wichtigen Grundes (§ 89a HGB). Für den Unternehmer ist dies beispielsweise anzunehmen, wenn ein Handelsvertreter trotz vertraglichen Wettbewerbsverbotes für einen Konkurrenten tätig wird, bei einem schweren Vertrauensbruch, bei Unterschlagung von eingezogenen Geldbeträgen oder bei Kreditschädigung. Der Handelsvertreter kann ebenfalls von der Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung Gebrauch machen, wenn z. B. wiederholt mangelhafte Ware geliefert wird, Stammkunden durch den Unternehmer abgeworben werden oder falsche Angaben über Nachbestellungen erfolgen. 860 Bei Beendigung des Handelsvertretervertrages hat der Handelsvertreter gegen den Unternehmer einen Anspruch auf angemessenen Ausgleich (sog. Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters, § 89b Abs. 1 und 2 HGB). Hierbei handelt es sich um eine Entschädigung für den zu erwartenden Provisionsverlust aus (Nach-) Geschäften mit dem vom Handelsvertreter angeworbenen Kundenstamm. Der Handelsvertreter soll an dem von ihm geschaffenen Wert „Kundenstamm“ sozusagen noch weiter partizipieren, weil dieser wirtschaftliche Wert „Kundenbindung/-stamm“ noch nicht hinreichend über die erhaltenen Provisionszahlungen abgegolten wurde. Daher gesteht das Gesetz dem Handelsvertreter einen Ausgleichsanspruch in Höhe bis zu einer (weiteren) Jahresprovision zu, wobei das Gesetz noch eine Billigkeitskorrektur erfordert (§ 89b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HGB; oftmals wird der Unternehmer die „Sogwirkung der Marke“ einwenden). 859

Beispiel

Die Berechnung des Ausgleichsanspruchs ist in der Praxis besonders wichtig. Er erfolgt in zwei Schritten, der Berechnung des Rohausgleichs und des Bemessens des Höchstbetrages. Zuerst wird der Rohausgleich festgestellt. Hierfür sind zunächst die Provisionseinnahmen der letzten 12 Monate zu ermitteln; dieser Betrag bildet die weitere Berechnungsgrundlage. Anschließend sind sog. Abzugsposten abzuziehen (z.  B.  Lagerkosten, Verwaltung, Abwanderungsquote). Sodann ist im nächsten Schritt ein Prognosezeitraum festzulegen. Er bestimmt, wie lange der Handelsvertreter noch mit Einnahmen aus seinen vermittelten Geschäften rechnen konnte. Der Zeitraum beträgt in der Regel zwischen 3 und 5 Jahre je nach Wirtschaftsgut, wobei die Abwanderungsquote zu schätzen und abzuziehen ist (Fluktuation des Kundenstamms). Vom so ermittelten Gesamtbetrag innerhalb des prognostizierten Zeitraums ist noch eine Abzinsung vorzunehmen, denn der

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

345

Handelsvertreter erhält den Ausgleichsanspruch in der Regel vollständig im Voraus mit einer Einmalzahlung und nicht erst über mehrere Jahre verteilt. Am Ende ist zu prüfen, ob vom ermittelten Betrag weitere Korrekturen aus Billigkeitserwägungen berücksichtigt werden müssen (z.  B.  Kapitalrente, die der Unternehmer seinem ehemaligen Handelsvertreter auszahlt; Sogwirkung der Marke). Wenn der Rohausgleich ermittelt wurde, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dieser den Höchstbetrag übersteigt, wofür der Höchstbetrag zunächst festgestellt werden muss. Er ergibt sich nach § 89b Abs. 2 HGB aus der durchschnittlichen Jahresprovision der vergangenen fünf Jahre der Vertretertätigkeit. Wenn der Höchstbetrag nicht überschritten wird, entspricht der Rohausgleich dem Ausgleichsanspruch, andernfalls ist nur der Höchstbetrag anzusetzen. ◄ Der Ausgleichsanspruch muss vom Handelsvertreter innerhalb eines Jahres nach Beendigung des Vertragsverhältnisses gerichtlich oder außergerichtlich geltend gemacht werden (§ 89b Abs. 4 S. 2 HGB). Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Handelsvertreter selbst ordentlich oder außerordentlich kündigt (§ 89b Abs. 3 Nr. 1 HGB; Ausnahme: der Handelsvertreter wurde durch das Verhalten des Geschäftsherrn zur Kündigung veranlasst oder ihm ist die Fortsetzung seiner Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Alters nicht mehr zumutbar). Ferner, wenn der Handelsvertreter durch schuldhaftes Verhalten den Anlass für die Kündigung aus wichtigem Grund durch den Geschäftsherrn gegeben hat (§ 89b Abs. 3 Nr. 2 HGB), wobei der wichtige Grund demjenigen nach § 89a Abs. 1 HGB gleichsteht (z. B. schwerer Vertrauensbruch). Im Handelsverkehr treten besondere Arten von Handelsvertretern auf, dar- 861 unter Versicherungs- und Bausparkassenvertreter, arbeitnehmerähnliche Ein-­ Firmen-­ Vertreter, Handelsvertreter im Nebenberuf, Handelsvertreter im Ausland usw. Nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit können darüber hinaus verzweigte Vertriebssysteme durch General- und Untervertreter gebildet werden. • Die Vereinbarung einer echten Untervertretung erfolgt in der Weise, dass der Unternehmer einen Geschäftsbesorgungsvertrag mit einem Generalvertreter abschließt und dieser wiederum Verträge mit den jeweiligen Untervertretern. • Die Vereinbarung einer unechten Untervertretung betrifft ein Vertriebssystem, in dem sämtliche Geschäftsbesorgungsverträge mit Generalvertretern und Untervertretern unmittelbar durch den Unternehmer abgeschlossen werden. In den Verträgen mit den Untervertretern wird in der Regel vereinbart, dass diese der Aufsicht und Weisung des jeweils zuständigen Generalvertreters unterstehen, so dass das Vertriebssystem eine hierarchische Struktur erhält. Zumeist haben weder Generalvertreter noch Untervertreter Abschlussvollmacht, sondern üben lediglich eine Vermittlungstätigkeit aus, indem sie vorbereitete Vertragsformulare ausgefüllt und mit der Unterschrift des jeweiligen Kunden versehen an das Unternehmen weiterleiten.

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5 Handelsrecht

5.5.2.2 Kommissionär Das Kommissionsgeschäft ist in den §§ 383 bis 406 HGB geregelt. Der Kommissionär übernimmt es gewerbsmäßig, Waren oder Wertpapiere für Rechnung eines anderen (den Kommittenten) in eigenem Namen zu kaufen oder zu verkaufen, § 383 Abs. 1 HGB. Er hat mit dem Handelsvertreter die Selbständigkeit gemeinsam. Jedoch unterscheidet er sich vom Abschlussvertreter dadurch, dass er die Verträge im eigenen und nicht im fremden Namen abschließt. Der Kommissionär wird damit selbst Vertragspartner, handelt jedoch für Rechnung des Kommittenten, dem das wirtschaftliche Ergebnis des Vertragsabschlusses zukommt. Gemäß §  383  HGB ist der typische Kommissionsvertrag als Einkaufs- oder 863 Verkaufskommission ausgestaltet. Der Einkaufskommissionär kauft für Rechnung des Kommittenten Waren oder Wertpapiere, während sie der Verkaufskommissionär verkauft. Es lässt sich aber auch eine Geschäftsbesorgungskommission vereinbaren, bei der der Kommissionär andere Geschäfte als Kauf oder Verkauf übernimmt (§ 406 Abs. 1 S. 1 HGB; z. B. Inkassokommission, Anzeigen- und Werbungskommission) oder eine sog. Gelegenheitskommission, bei der der Kommissionär eigentlich ein anderes Gewerbe betreibt und nur gelegentlich Kommissionsgeschäfte durchführt (§ 406 Abs. 1 S. 2 HGB; z. B. in einem exklusiven Modegeschäft werden Möbel eines Kunsthandwerkers ausgestellt, die der Ladeninhaber im eigenen Namen aber auf Rechnung des Kunsthandwerkers vertreibt). Der Kommission liegt regelmäßig ein Dreipersonenverhältnis zugrunde, das 864 durch entsprechende Rechtsgeschäfte begleitet wird: 862

• Dem Kommissionsvertrag (i. d. R. Geschäftsbesorgungsvertrag i. S. des § 675 BGB) zwischen dem Kommissionär und dem Kommittenten, durch den sich der Kommissionär zur Ausführung des übernommenen Geschäfts verpflichtet (= Innenverhältnis). • Dem Ausführungsgeschäft (i. d. R. ein Kaufvertrag, z. T. Dienstvertrag) zwischen dem Kommissionär und dem Dritten (=  Außenverhältnis); Rechte und Pflichten aus diesem Rechtsgeschäft entstehen nur zwischen dem Kommissionär und dem Dritten. • Dem Abwicklungsgeschäft zwischen dem Kommissionär und dem Kommittenten, wonach der Kommissionär die aus dem Ausführungsgeschäft erlangten Rechte und Sachen auf den Kommittenten überträgt (= Innenverhältnis). Dabei richten sich die Pflichten des Kommissionärs nach der Art des zugrundeliegenden Kommissionsvertrages. Falls eine Einkaufskommission vereinbart wurde, ist der Kommissionär zur Übereignung der erworbenen Ware an den Kommittenten verpflichtet (§§ 929 ff. BGB), im Fall der Verkaufskommission zur Abtretung der Kaufpreisforderung an den Kommittenten (§ 398 BGB). 865

Die dingliche Rechtslage stellt sich bei der Verkaufs- und Einkaufskommission unterschiedlich dar: • Bei der Verkaufskommission tritt der Kommissionär als Verkäufer auf, schließt das Verpflichtungs- bzw. Ausführungsgeschäft (z. B. Kaufvertrag) und erfüllt es

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

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dinglich, indem er als Nichtberechtigter (die Ware befindet sich im Eigentum des Kommittenten) im eigenen Namen mit einer im Kommissionsvertrag gewährten (antizipierten) Verfügungsermächtigung des Kommittenten an den Dritten übereignet (nach §§ 929, 185 BGB) • Bei der Einkaufskommission übereignet der Dritte die Ware regelmäßig zuerst an den Kommissionär. Dieser ist aus dem Kommissionsvertrag verpflichtet, sie an den Kommittenten weiter zu übereignen (§ 384 Abs. 2 HGB, §§ 929 ff. BGB). Es findet sozusagen ein dinglicher Zwischenerwerb beim Kommissionär statt. Um die Ware dort nun keinem Zugriff von Gläubigern des Kommissionärs auszusetzen, wird bereits im Kommissionsvertrag ein Eigentumsübergang kraft vorweggenommenem Besitzkonstitut vereinbart (§§ 929, 930 BGB). Aus dem Kommissionsvertrag (§§ 384 HGB, 675 BGB) erwachsen dem Kommissionär die folgenden Verpflichtungen: • Ausführungs- und Erfüllungspflicht: der Kommissionär muss das Kom­ missionsgeschäft mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns erfüllen (§ 384 Abs. 1 Hs. 1 HGB). • Interessenwahrungspflicht: der Kommissionär hat die Interessen des Kommittenten im Rahmen des Ausführungsgeschäfts zu wahren, indem er u.  a. gute Konditionen vereinbart, sich bemüht, den Abschlusserfolg herbeizuführen, für einen mangelfreien Zustand des Kommissionsguts sorgt und Verschlechterungen anzeigt, den Kommittenten über die Inhalte des Vertrags und die Geschäftspartner in Kenntnis setzt sowie die Rechte des Kommittenten in dessen Interesse wahrnimmt (§ 384 Abs. 1 Hs. 2 Alt. 1 HGB). • Weisungsbefolgungspflicht: der Kommissionär ist an die Weisungen des Kommittenten gebunden und kann ihnen nicht unbefugt zuwider handeln, z. B. keine eigenmächtige Vorschüsse und Rabatte gewähren, von Liefer- und Zahlungsbedingungen abweichen oder gesetzte Preislimits ignorieren (§ 384 Abs. 1 Hs. 2 Alt. 2 HGB). Sofern der Kommissionär vorgegebene Weisungen des Kommittenten nicht befolgt, kann der Kommittent Schadensersatz verlangen und braucht das Geschäft nicht für seine Rechnung gelten zu lassen (§ 385 HGB). Bei Preisabweichungen muss der Kommittent allerdings sofort reagieren und das Geschäft unverzüglich zurückweisen, ansonsten gilt es  – ungeachtet der abweichenden Vereinbarung – als für seine Rechnung abgeschlossen (sog. limitierte Verkaufs- oder Einkaufskommission). • Benachrichtigungs-, Rechenschafts- und Herausgabe- bzw.  Rechnungslegungsflicht: der Kommissionär muss den Kommittenten über die Geschäftstätigkeit informieren und Rechenschaft über das von ihm getätigte Geschäft ablegen; das aus der Geschäftsbesorgung Erlangte hat er (in der Regel nach Rechnungslegung) herauszugeben (384 Abs. 2 HGB). • Pflicht zur Haftung für das Kommissionsgut, sofern dieses verloren geht oder beschädigt wird (§ 390 HGB). • Delkrederehaftung, sofern es der Kommissionär vertraglich übernommen hat, für die Erfüllung der Verbindlichkeit des Dritten (Geschäftspartners) einzustehen (§ 394 HGB).

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Aufseiten des Kommittenten besteht die Verpflichtung (zugleich Rechte des Kommissionärs) zur Provisionszahlung und zum Aufwendungsersatz: • Provisionszahlungspflicht: Der Kommittent ist zur Zahlung der vereinbarten oder ortsüblichen Provision verpflichtet (§§ 396 Abs. 1, 354 Abs. 1 HGB). Regelfall ist die Ausführungsprovision (§ 396 Abs. 1 S. 1 HGB). Der Anspruch darauf entsteht mit Abschluss des Ausführungsgeschäftes (z.  B.  Abschluss des Kaufvertrags), die Auszahlung steht jedoch unter der aufschiebenden Bedingung der tatsächlichen Vertragserfüllung (z. B. Übereignung der Kaufsache). Die Ausführungsprovision ist aber selbst bei Nichtausführung des Geschäfts zu leisten, wenn die Ursache der Nichtausführung in der Person des Kommittenten liegt (§ 396 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 HGB). Ferner kann eine Auslieferungsprovision als Vergütung für die Empfangnahme, Verwahrung und Weiterleitung des Kommissionsgutes vereinbart sein (§ 396 Abs. 1 S. 2 HGB). Sie steht dem Kommissionär in Fällen zu, in denen er keine Ausführungsprovision verlangen kann und die Auslieferungsprovision ortsgebräuchlich oder vertraglich vereinbart ist. Schließlich ist eine Delkredereprovision zu leisten, wenn der Kommissionär die Delkrederehaftung übernommen hat (§ 394 Abs. 2 S. 2 HGB). • Verpflichtung zur Zahlung des Aufwendungsersatzes nach §§  396 Abs. 2 HGB, 675, 670 BGB. Als Aufwendungen des Kommissionärs kommen u. a. freiwillige Vermögensopfer für Versicherung, Werbung, Porto, Telefon usw. in Betracht. § 396 Abs. 2 HGB erklärt außerdem ausdrücklich die Vergütung für Benutzung der Lagerräume und der Beförderungsmittel des Kommissionärs für erstattungsfähig. Hierfür ist ggf. Vorschuss zu leisten (§§ 675 Abs. 1, 669 BGB).

Durch den Kommissionsvertrag entstehen zur Absicherung der Forderungen des Kommissionärs gegen den Kommittenten besondere Sicherungsrechte. Dazu gehören ein gesetzliches Pfandrecht am Kommissionsgut (§  397  HGB) und Befriedigungsrechte nach §§ 398, 399 HGB, die den Zugriff auf das Kommissionsgut oder auf die Forderungen aus dem Ausführungsgeschäft ermöglichen. Ferner erlangt der Kommissionär ein Selbsteintrittsrecht in den Vertrag mit dem Dritten ohne Verlust seines Provisionsanspruchs und den Sicherungsrechten, sofern dies nicht vertraglich ausgeschlossen wurde und es sich um Waren oder Wertpapiere handelt, die einen Börsen- oder Marktpreis haben (§§ 400, 403, 404 HGB). Rechtsfolge des Selbsteintritts ist, dass durch einseitige Rechtsgestaltung des Kommissionärs per Anzeige (§  405 Abs.  1  HGB) das Kommissionsverhältnis seinen rechtlichen Charakter verändert und zum Eigengeschäft des Kommissionärs wird. 869 Sofern im Ausführungsgeschäft Leistungsstörungen auftreten, beispielsweise Unmöglichkeit oder Verzug, dann kann das Abwicklungsgeschäft nicht wie vorgesehen erfüllt werden. Der Kommissionär ist Vertragspartner des Dritten und hat deshalb einen vertraglichen Schadensersatzanspruch. Der Schaden tritt ­allerdings nicht beim Kommissionär, sondern beim Kommittenten ein, weil der Kommissionär auf dessen Rechnung handelt. Anspruch und Schaden fallen nach dieser Sachlage auseinander. Da es aber unbillig wäre, wenn der Schädiger dadurch von der Haftung befreit würde, kann der Kommissionär in diesen Fällen den Schaden des Kommittenten im Wege der sog. Drittschadensliquidation bei dem Dritten für den Kom868

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

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mittenten geltend machen. Der Kommittent kann dann den Schadensersatzanspruch von dem Kommissionär nach § 285 BGB herausverlangen. Beispiel

Der Kommissionär kauft eine Ware und der Verkäufer gerät in Lieferverzug. Der Kommissionär hat einen vertraglichen Anspruch auf Ersatz des Verzugsschadens (§§ 280 Abs. 1 u. 2, 286 BGB), aber keinen Schaden. Der Kommittent hat zwar einen Schaden, aber keinen Schadensersatzanspruch, weil nicht er Vertragspartner des Verkäufers ist, sondern der Kommissionär. Jetzt kann der Kommissionär den Schaden im Wege der sogenannten Drittenschadensliquidation geltend machen und den Schadensersatz an den Kommittenten herausgeben oder – wie oben ausgeführt – gemäß § 285 BGB seinen Anspruch an den Geschädigten abtreten. ◄ Das Kommissionsverhältnis endet regelmäßig mit der pflichtgemäßen Erledi- 870 gung des Kommissionsauftrags, aber auch durch Rücktritt vom Kommissionsvertrag (§§ 323 ff. BGB), dem Ablauf einer vorbestimmten Frist zur Durchführung des Ausführungsgeschäftes, durch Widerruf seitens des Kommittenten (§  405 Abs.  3 BGB) oder durch Kündigung des Kommissionsverhältnisses mit Wirkung in die Zukunft (§§ 675, 626, 627 BGB). Der Tod des Kommittenten bringt die Kommission i.d.R. nicht zum Erlöschen, denn der Kommissionsauftrag wird regelmäßig nicht mit Rücksicht auf eine bestimmte Person erteilt (§§ 675 Abs. 1, 672 BGB); anders beim Tod des Kommissionärs (§ 673, 675 Abs. 1 BGB), es sei denn die Kommission ist unternehmens- und nicht personenbezogen erteilt.

5.5.2.3 Handelsmakler Nach § 93 Abs. 1 HGB ist Handelsmakler, wer gewerbsmäßig für andere Personen 871 die Vermittlung von Verträgen über bewegliche Gegenstände des Handelsverkehrs übernimmt, ohne von ihnen ständig damit betraut zu sein. Wesentliche Merkmale sind daher: • Gewerbsmäßigkeit: Eine gewerbsmäßige Vermittlung liegt vor, wenn die Hilfsperson nicht nur gelegentlich die  Maklertätigkeit ausübt und mit Gewinnerzielungsabsicht agiert. • Vermittlung von Verträgen: Die Tätigkeit des Handelsmaklers erstreckt sich weder auf den Abschluss noch lediglich auf den Nachweis von Gelegenheiten zum Abschluss, sondern auf die Vermittlung von Verträgen. Das Vermitteln von Verträgen erfordert daher, dass der Makler mit beiden Vertragsparteien in Verbindung tritt und durch das Einwirken auf beide Parteien deren Bereitschaft zum Vertragsschluss herbeiführt. Damit ist die Aufgabe konkreter gefasst, als bei einem zivilrechtlichen Makler (§ 652 BGB), bei dem schon der Nachweis von Gelegenheiten zum Abschluss eines Vertrages provisionsbegründend ist. • Bewegliche Gegenstände des Handelsverkehrs: Die Vermittlung von Verträgen muss sich auf Gegenstände des Handelsverkehrs beziehen; einzelne Gegenstände sind – wenngleich nicht abschließend – in § 93 Abs. 1 HGB be-

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5 Handelsrecht

nannt. Angelehnt an diese Gegenstände unterscheidet man u. a. zwischen Warenmakler, Effektenmakler, Versicherungsmakler, Frachtmakler usw. • Nicht ständig betraut: Im Unterschied zum Handelsvertreter ist der Handelsmakler gerade nicht dazu verpflichtet, ständig für den Unternehmer Geschäfte zu tätigen, wenngleich das natürlich nicht ausschließt, dass er für den Unternehmer über eine gewisse Dauer und wiederholt tätig wird. 872

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Im Unterschied zu einem Handelsmakler übernimmt der zivilrechtliche Makler die Vermittlung oder den bloßen Nachweis von Grundstücksgeschäften, Mietverträgen, Unternehmensveräußerungen, Kreditverträgen, Arbeitsverträgen und die Ehevermittlung. Ein zivilrechtliche Makler kann zwar Kaufmann nach den Regeln der §§  1  ff. HGB sein, doch wird er dadurch nicht zum Handelsmakler. Ebenso wenig wird ein Handelsmakler zum zivilrechtlichen Makler, wenn er im Einzelfall einen Unternehmenskauf oder einen Kredit vermittelt. Der Handelsmaklervertrag bedarf keiner besonderen Form und kann – unter den Voraussetzungen des § 362 HGB – auch durch bloßes Schweigen auf ein Angebot zustande kommen. Die Rechte und Pflichten folgen aus dem Handelsmaklervertrag, den Sonderregeln der §§ 93 ff. HGB sowie (lückenfüllend) aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 652 ff. BGB. In einzelnen Tätigkeitsfeldern sind Sondergesetze zu beachten, z. B. das Börsengesetz für den Börsen- und Kursmakler bzw. Skontoführer. Der Handelsmakler muss bezogen auf seine Vermittlungstätigkeit nicht nur mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns handeln (§ 347 HGB), und ist zur Verschwiegenheit verpflichtet, sondern er muss bei seiner Geschäftstätigkeit die Interessen beider Parteien wahren, selbst wenn er von einer Partei beauftragt wurde. Insofern darf er keine Partei einseitig begünstigen, vielmehr hat er als „neutraler Mittler“ beide Parteien über die ihm bekannten und für seinen Entschluss maßgebliche Umstände in Kenntnis zu setzen. Bei schuldhafter Verletzung dieser „Maklertreue“ haftet er beiden Parteien gegenüber nach Maßgabe des §  98  HGB.  Nach § 94 HGB ist der Handelsmakler verpflichtet, unverzüglich nach Abschluss des Geschäfts eine sog. Schlussnote zu erstellen. Eine Schlussnote ist ein Schreiben, auf dem der Makler die Parteien und den Vertragsgegenstand des vermittelten Geschäfts festhält und das er an die Vertragspartner zu Belegzwecken aushändigt. Eine weitere Eigenart ist die Tagebuchpflicht des Handelsmaklers nach §  100  HGB.  Danach sind alle täglich abgeschlossenen Geschäfte aufzuzeichnen und auf Verlangen einer Vertragspartei des Hauptgeschäftes nach §  101  HGB auszugsweise vorzuzeigen. Eine Inkassovollmacht (§ 97 HGB) steht ihm in aller Regel nicht zu. Die Auftraggeber sind verpflichtet dem Handelsmakler die vereinbarte Provision zu leisten (§  354 Abs.  1  HGB). Liegt keine Vereinbarung vor, kann der ­Handelsmakler von jeder Partei des vermittelten Vertrages die Hälfte des ortsüblichen Provisionsanspruchs verlangen (§§ 354 Abs. 1, 99 HGB). Das heißt, er kann sowohl vom Auftraggeber als auch vom Kunden, dem er das Geschäft vermittelt hat, seine Provision verlangen. Der Anspruch des Handelsmaklers wird dabei mit dem rechtswirksam abgeschlossenen vermittelten Vertrag fällig, wenn sein Handeln für den Vertragsschluss mitursächlich war (§  652 Abs.  1  BGB). Ein Auf-

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

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wendungsersatzanspruch steht dem Makler dagegen nur zu, wenn dies zuvor ausdrücklich vereinbart wurde (§ 652 Abs. 2 BGB).

5.5.2.4 Kommissionsagent Der Kommissionsagent ist im Gesetz nicht geregelt, sondern er hat sich in der Ver- 875 triebspraxis entwickelt und stellt eine Mischform aus Handelsvertreter und Kommissionär dar. Er hat mit dem Handelsvertreter gemeinsam, dass er als selbständiger Gewerbetreibender von einem Unternehmer ständig damit betraut ist, für dessen Rechnung Verträge abzuschließen. Allerdings handelt er, wie der Kommissionär, in eigenem Namen. Seiner „Zwitterstellung“ gerecht werdend, richtet sich das Innenverhältnis (Unternehmer zu Kommissionsagent) überwiegend nach dem Handelsvertreterrecht, während in Bezug auf das Außenverhältnis (Kommissionsagent zu Dritten) weitgehend die Vorschriften des Kommissionsrechts Anwendung finden. Der Kommissionsagentenvertrag ist ein Rahmenvertrag, der formfrei zwischen 876 Unternehmer und Kommissionsagent abgeschlossen wird und – wie erwähnt – vom Vertragstyp zwischen dem Kommissionsvertrag und dem Handelsvertretervertrag steht. Der Kommissionsagent unterscheidet sich vom Kommissionär dadurch, dass seine Tätigkeit ausschließlich auf den Verkauf ausgerichtet ist und dass durch den Abschluss eines Kommissionsagentenvertrages eine dauerhafte Geschäftsbeziehung begründet wird. Daraus wiederum folgt eine besondere Schutzbedürftigkeit des Kommissionsagenten, weshalb auf den Kommissionsagentenvertrag einzelne Schutzbestimmungen des Handelsvertretervertrages Anwendung finden. Darüber hinaus unterliegt der Kommissionsagentenvertrag allerdings dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und kann unter Berücksichtigung der jeweiligen Interessenlage des Einzelfalls frei ausgestaltet werden. Die Pflichten des Kommissionsagenten gleichen denen des Handelsvertreters 877 und des Kommissionärs, es sind: • Tätigkeitspflicht (§§ 86 Abs. 1, 384 Abs. 1 HGB analog), • Pflicht zur Interessenwahrnehmung (§§  386 Abs.  1, 384 Abs.  1  HGB analog) sowie • Sorgfalts-, Mitteilungs- und Herausgabepflichten, wie sie für den Handelsvertreter bzw. Kommissionär vorgeschrieben sind. Die Pflichten des Unternehmers (und damit Rechte des Kommissionsagenten) sind: • Provisionszahlungspflicht nach dem Recht des Kommissionärs (§  396 Abs. 1 HGB), • Unterstützungspflicht nach dem Recht des Handelsvertreters (§ 86a HGB) sowie • Schutzpflicht in analoger Anwendung des Handelsvertreterrechts, z.  B. gelten für die Kündigung die §§  89, 89a  HGB, für den Ausgleichsanspruch der § 89b HGB und für die Wettbewerbsabrede der § 90a HGB.

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5 Handelsrecht

5.5.2.5 Vertragshändler Der Vertragshändler (Eigenhändler) ist ebenfalls nicht gesetzlich geregelt. Er ist ein Kaufmann, dessen Unternehmen in die Verkaufsorganisation eines Herstellers (meist von Markenartikeln) eingegliedert, aber dennoch selbständig ist. Vertragshändler verkaufen die Waren der Hersteller (bzw. Lieferanten) in eigenem Namen und für eigene Rechnung. Sie sind aufgrund von Rahmenverträgen in die Absatzorganisation des Herstellers (bzw. Lieferanten) einbezogen und sollen den Warenabsatz in deren Interesse fördern. Die Hersteller (bzw. Lieferanten) räumen dabei häufig Ausschließlichkeitsbindung, Vorzugsrechte sowie Gebietsschutz ein und gestatten dem Vertragshändler das Auftreten unter Namen und Markenzeichen des Herstellers (z.  B.  Vertragshändlernetz der Automobilhersteller). Typisch ist, dass es oftmals sehr strikte Vorgaben seitens des Herstellers gibt. Diese Vorgaben bestimmen dann die Bedingungen, unter denen sich der Vertragshändler am Markt zu präsentieren hat (Coporate Identity) und wie der Absatz der Waren zu erfolgen hat. Wie der Handelsvertreter ist der Vertragshändler ständig damit betraut, Waren für einen oder mehrere Hersteller zu vertreiben, er handelt jedoch im Gegensatz zu ihm im eigenen Namen und auf eigene Rechnung. Kennzeichnend für den Vertragshändler ist demnach: • Eingliederung in die Vertriebsorganisation eines Herstellers, • Ständige Tätigkeit für diesen Hersteller, • Verkauf in eigenem Namen und auf eigene Rechnung.

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Grundlage der Beziehung zwischen Hersteller und Vertragshändler ist der Vertragshändlervertrag, durch den sich der Vertragshändler an (zumeist einen) Hersteller bindet. Der Vertragshändlervertrag ist ein Rahmenvertrag, aus dem sowohl für Hersteller als auch für den Vertragshändler vertriebsbezogene Rechte und Pflichten hervorgehen. Das Vertriebssystem über Vertragshändler ist dabei regelmäßig auf ein bestimmtes Vertriebsgebiet bezogen. Der Vertragshändler erhält oftmals ein Alleinvertriebsrecht, wonach er exklusiv in dem ihm zugewiesenen Gebiet von dem Hersteller mit der Vertragsware beliefert wird. Mit dieser Vereinbarung wird häufig eine Bezugsbindung des Vertragshändlers an den Hersteller verknüpft. Die Vertriebsorganisation mit Vertragshändlern kann dabei auch gestaffelt angelegt sein, indem Vertragshändler erster Stufe durch Vertragshändlervertrag mit dem Hersteller verbunden sind, während als Vertragshändler zweiter Stufe Händler in ähnlichem Vertragsverhältnis zum Vertragshändler nachgeschaltet werden. Der Vertragshändlervertrag enthält neben den Hauptpflichten, namentlich der Warenbeschaffungsverpflichtung und Exklusivitätszusagen des Herstellers sowie der Vertriebsverpflichtung des Vertragshändlers zumeist weitere ergänzende Regelungen zu Aufgaben, die der Vertragshändler übernimmt, insbesondere zu Aspekten wie Kundenservice, Lagerhaltung, Beratung, Auftritt im Markt, Preisfestsetzung/-­ empfehlungen, Übernahme der Werbung für das Produkt des Herstellers sowie die Verpflichtung, das Herstellerzeichen im Handelsverkehr werbend herauszustellen.

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

353

Charakteristisch ist ferner, dass der Vertragshändlervertrag typischerweise über eine gewisse Dauer abgeschlossen wird, zumeist über mehrere Jahre. Außerdem handelt es sich oftmals um Standardverträge, um eine Einheitlichkeit der Rechtsbeziehungen zwischen dem Hersteller und seinen Vertragshändlern (auch europaweit) zu wahren; sie sind daher einer AGB-Kontrolle (§ 307 BGB; Abschn. 1.6.2.2) zugänglich. In der Rechtsbeziehung zwischen dem Hersteller (bzw. Lieferanten) und dem 881 Vertragshändler ist nach der Rechtsprechung das Handelsvertreterrecht entsprechend anwendbar, wenn der Vertragshändler durch den Rahmenvertrag handelsvertretertypische Rechte und Pflichten übernommen hat und in erheblichem Umfang Aufgaben erfüllt, wie sie auch vom Handelsvertreter wahrgenommen werden (BGH BB 2002, 2520). Solche analog anwendbaren Vorschriften sind: • Kündigung des Vertragshändlervertrages (§§ 89, 89a HGB analog), • Schadensersatzanspruch bei Verletzung des im Vertragshändlervertrag vereinbarten Alleinvertriebsrechts (§ 87 Abs. 2 HGB analog), • Ausgleichsanspruch nach Vertragsbeendigung (§ 89b HGB analog), Der Ausgleichsanspruch entsteht dabei nur, wenn der Vertragshändler in die Vertriebsorganisation des Herstellers derart eingebunden ist, dass er wirtschaftlich in erheblichem Umfang Aufgaben zu erfüllen hat, die mit denen des Handelsvertreters vergleichbar sind, und wenn seine Stellung auch rechtlich der des Handelsvertreters entspricht. Dies ist beispielsweise dann anzunehmen, wenn der Vertragshändler den Weisungen des Herstellers oder Lieferanten unterworfen ist, keine Konkurrenzprodukte vertreiben darf und auf einen bestimmten Bezirk oder auf bestimmte Abnehmer beschränkt ist. Aus tatsächlichen Gründen vergleichbar ist seine Situation mit der des Handelsvertreters, wenn der Vertragshändler mit geringem eigenem Kapitaleinsatz arbeitet und bei Beendigung des Vertragshändlervertrages den Lieferanten den eingeworbenen und betreuten Kundenstamm überlassen muss.

5.5.2.6 Franchisenehmer Eine gesetzliche Definition des Begriffs Franchising (engl. franchise = Konzession, 882 Vorrecht) gibt es in Deutschland nicht (anders z. B. in Italien). Es gibt stattdessen eine Definition der European Franchise Federation, an welcher sich auch Deutschland orientiert: ▶▶ „Franchising ist ein Vertriebssystem, durch das Waren und/oder Dienstleistungen

und/oder Technologien vermarktet werden. Es gründet sich auf eine enge und fortlaufende Zusammenarbeit rechtlich und finanziell selbständiger und unabhängiger Unternehmen, den Franchisegeber und seine Franchisenehmer. Der Franchisegeber gewährt seinen Franchisenehmern das Recht und legt ihnen gleichzeitig die Verpflichtung auf, ein Geschäft entsprechend seinem Konzept zu betreiben. Dieses Recht berechtigt und verpflichtet den Franchisenehmer, gegen ein direktes oder indirektes Entgelt im Rahmen und für die Dauer eines schriftlichen, zu diesem Zweck zwischen den Parteien abgeschlossenen Franchisevertrages per laufender techni-

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5 Handelsrecht

scher und betriebswirtschaftlicher Unterstützung durch den Franchisegeber den Systemnamen und/oder das Warenzeichen und/oder die Dienstleistungsmarke und/ oder andere gewerbliche Schutz- oder Urheberrechte sowie das Know-how, die wirtschaftlichen und technischen Methoden und das Geschäftsordnungssystem des Franchise-Gebers zu nutzen.“ Der Franchisevertrag ist vor allem durch einen Know-how-Transfer vom Franchisegeber an den Franchisenehmer geprägt. Ferner tritt in der Definition des Franchising die vom Franchisenehmer erwartete Dienstleistung hervor. Er soll nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht haben, ein Geschäft nach dem vom Franchisegeber bereitgestellten Konzept zu betreiben und dabei in dessen Weisungs- und Kontrollsystem einbezogen sein. Die Stärken eines Franchisesystems liegen in der kostensparenden einheitlichen Organisation und der Möglichkeit, international ein einheitliches Image zu schaffen, das die Konsumenten verschiedener Nationen unter einem gleichen Symbol und Lebensstil verbindet. Zusätzlich erlangen beide Vertragsparteien betriebswirtschaftliche Vorteile durch Kapitalspareffekte, Marktüberwachung und Mitbenutzung gewerblicher Schutzrechte. • Der Vorteil für den Franchisegeber liegt in der Schaffung eines gesicherten Vertriebsweges, höherer Produktivität, eines direkten Marktzugangs und gleichmäßiger Marktabdeckung. Franchising ist ein wirksames Organisations- und Führungsinstrument zur Verwirklichung der Unternehmensziele, das zudem kostengünstiger ist als Filialsysteme. Der Franchisegeber übernimmt Sortimentsgestaltung, Werbung, Ladenaufbau, Rechnungs- und Buchhaltungstätigkeit sowie sonstige Verwaltungsaufgaben. Der Franchisenehmer leistet eine Franchisegebühr und ihm verbleiben die Funktionen des Verkaufs, der Kreditbeschaffung, der Kundenberatung und Kundenbetreuung und häufig die Transport- und Lagerfunktion. • Der Vorteil für den Franchisenehmer besteht in erster Linie im Kapitaleinsparungseffekt, denn er erhält eine Marketingkonzeption zu einem Preis, der erheblich unter den Kosten liegt, die er zu tragen hätte, wenn er einen ähnlichen Handelsbetrieb alleine eröffnen würde. Er profitiert vom Know-how und von der langjährigen Erfahrung des Systems, von der Werbung und der Mitbenutzung gewerblicher Schutzrechte wie Firmen- und Markenrechte, Ausstattungsrechte, Patente, Gebrauchs- und Geschmacksmuster. Ferner erhält er eine dauernde ­Beratung und Schulung in der Unternehmensführung, insbesondere in der erfolgreichen Verkaufs- und Verwaltungsstrategie, und genießt die Vorteile des Großeinkaufs durch das System. 883

Durch den Franchisevertrag wird auf der Grundlage vorgenannter Definition dem Franchisenehmer gegen eine Franchisegebühr das Recht eingeräumt, das Konzept des Franchisegebers zu nutzen und bestimmte Waren oder Dienstleistungen unter dieser Konzeption zu vertreiben. Der Franchisenehmer ist berechtigt, Namen,

5.5  Hilfspersonen des Kaufmanns

355

Marke, Symbole und Einrichtungen des Franchisegebers zu benutzen und verpflichtet, die festgelegte Geschäftskonzeption zu übernehmen. Anders als der Vertragshändler ist der Franchisenehmer in jeder Hinsicht an das Marketingkonzept des Franchisegebers gebunden, indem jede Einzelheit geregelt ist, und insoweit dessen Überwachungs- und Weisungsrecht unterworfen (nach dem Franchisesystem arbeiten z. B. McDonald’s, Fressnapf, Foto Quelle und TUI). Bei dem Vertrag zwischen einem Franchisegeber und einem Franchisenehmer handelt es sich um einen privatautonom auszugestaltenden Typenkombinationsvertrag welcher als Dauerschuldverhältnis regelmäßig Elemente aus Kauf-, Miet-, Pacht-, Geschäftsbesorgungs-, Gesellschafts- und Lizenzvertrag enthält. Nur ausnahmsweise ist er als Arbeitsvertrag zu qualifizieren, nämlich dann, wenn der Franchisenehmer nicht mehr selbständig im Sinne von § 84 Abs. 1 S. 2 HGB ist, sondern in Inhalt, Zeit und Ort seiner Tätigkeit vollständig fremdbestimmt. Ferner hat der BGH festgestellt, dass regelmäßig ein Unternehmer- (§ 14 BGB) und nicht ein Verbraucherhandeln (§  13 BGB) vorliegt, wenn der Vertrag im Zuge einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit abgeschlossen wird. Der Franchisenehmer wird daher als selbständiger Unternehmer, in eigenem Namen und für eigene Rechnung tätig. Über die Bedingungen des Franchiseverhältnisses hat der Franchisegeber den 884 Franchisenehmer umfassend aufzuklären, andernfalls macht er sich schadensersatzpflichtig (vorvertragliche Pflichtverletzung, §§ 311 Abs. 2 Nr. 1, 280 Abs. 1 BGB). Die Franchisevereinbarung kann in der Form eines Betriebsvertrages ab- 885 geschlossen werden, wodurch dem Franchisenehmer das Betreiben eines oder mehrerer Ladengeschäfte erlaubt wird, ohne dass er Unterlizenzen vergeben darf. Sofern die Vertragsparteien die Form eines Bezirksvertrages wählen, wird dem Franchisenehmer der Alleinvertrieb für ein bestimmtes Gebiet garantiert und er kann in diesem Gebiet auch Unterlizenzen vergeben. Im Unterschied zum Vertragshändlervertrag enthält der Franchisevertrag, wie 886 bereits angesprochen, ein bis ins Einzelne geregeltes Organisationssystem, einschließlich des Marketing- und Werbungskonzepts, das alle Vertriebsstellen umzusetzen haben. Ferner wird die laufende Unterstützung und Beratung des Franchisenehmers und häufig auch dessen Ausbildung für das System geregelt. Der Franchisevertrag enthält regelmäßig folgende Vereinbarungen: • Zahlung einer Lizenzgebühr, die aus einer einmaligen Grundgebühr und/oder einer Umsatzbeteiligung besteht. • Zusagen an den Franchisenehmer, z. B. hinsichtlich eines Gebietes unter Zusicherung der Wettbewerbsfreiheit oder der Festlegung einer finanziellen Hilfe zur Geschäftseröffnung. • Kontrollrechte des Franchisegebers, z. B. im Hinblick auf die Einkaufsquellen des Franchisenehmers, den Kundendienst, die Befolgung baulicher und organisatorischer Richtlinien und das Warensortiment. • Buchhaltung und Abrechnung werden nach einem einheitlichen und verbindlichen System für alle Franchisenehmer durchgeführt, z. B. durch den Einsatz von elektronischen Registrierkassen, die alle verkauften Artikel in eine Magnet-

356

5 Handelsrecht

bandkassette einlesen, welche dann dem Franchisegeber zur Auswertung übersandt werden kann.

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Zumeist ist der Vertrag seitens des Franchisegebers als Standardvertrag ausgestaltet, weshalb er einer AGB-Kontrolle zugänglich ist (§§ 307, 310 BGB). Die rechtliche Behandlung der Beteiligten im Rahmen des typengemischten Franchisevertrags ist nicht ganz einfach, weil der Vertrag aus Elementen des Kauf-, Pacht-, Werk-, Dienst-, Lizenz- und Gesellschaftsvertrags besteht. Vielfach wird aber – insbesondere zum Schutz des Franchisenehmers – das Handelsvertreterrecht analog angewandt. So erfolgt z. B. der Ausgleich von Nachteilen bei Beendigung des Franchisevertrages durch Entschädigung für die Dauer des Wettbewerbsverbots analog § 90a HGB, durch einen Ausgleich für die Werbung neuer Kunden analog §  89b  HGB und eventuell durch die handelsrechtlichen Kündigungsfristen, falls keine vertraglichen Sondervereinbarungen vorliegen. Fragen

17. Was versteht man unter Prokura und was versteht man unter einer Handlungsvollmacht? 18. Nennen Sie die Unterschiede der Handlungsvollmacht zur Prokura! 19. Können Prokura und Handlungsvollmacht in ihrem Umfang beschränkt werden? 20. Kann ein nichteingetragener Kleingewerbetreibender eine Prokura erteilen? 21. Welche verschiedenen Arten von Handlungsvollmachten kennen Sie? Benennen Sie diese und erläutern Sie deren Umfang! 22. Benennen Sie die Voraussetzungen der Stellvertretung! An welcher Stelle spielen handelsrechtliche Sonderregelungen regelmäßig eine Rolle? 23. Stellen Sie sich vor, jemand ist als Handelsreisender tätig  – er könnte Handelsvertreter oder Handlungsgehilfe sein. Wie grenzt man Handelsvertreter und Handlungsgehilfe voneinander ab und was wären entsprechende Anhaltspunkte für die jeweilige Zuordnung? 24. Sie kennen unter anderem den Handelsvertreter und den Vertragshändler als selbständige Hilfspersonen. Worin unterscheiden sich diese und welche Normen finden Anwendung? 25. Was versteht man unter einem Kommissionär? Welche Regelungen des HGB finden insoweit Anwendung? 26. K beauftragt einen Getreidemakler M, ihm den Kauf einer bestimmten Menge Weizen zu vermitteln. Obwohl dem M bekannt ist, dass V Weizen verkaufen will, bleibt er untätig. Deshalb verlangt K von ihm Schadensersatz wegen Nichterfüllung des Maklervertrages. Zu Recht? 27. Im vorherigen Fall vermittelt der M dem K einen Kaufvertrag mit V. Dabei verschweigt er aber, dass der Weizen mangelhaft ist. Deshalb verlangt K von M Schadensersatz. Zu Recht?

5.6 Handelsgeschäfte

5.6

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Handelsgeschäfte

5.6.1 Allgemeine Regeln Für die Handelsgeschäfte (§§  343–475  h  HGB), d.  h. die Rechtsgeschäfte der 888 Kaufleute, gelten besondere handelsrechtliche Regeln (§§ 343–372 HGB), die teils ergänzend, teils abändernd neben die allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts über den rechtsgeschäftlichen Verkehr treten. Die Abweichungen sind auf die speziellen Bedürfnisse des kaufmännischen Verkehrs zugeschnitten. Sie wirken verschärfend, indem sie eine beschleunigte Durchführung der Geschäfte ermöglichen, was jedoch oft durch den Verzicht auf Schutzbestimmungen geschieht Handelsgeschäfte sind alle Geschäfte des Kaufmanns, die zum Betrieb seines 889 Handelsgewerbes gehören (§ 343 Abs. 1 HGB). Anknüpfungspunkte für das Vorliegen eines Handelsgeschäfts sind demnach die Kaufmannseigenschaft der beteiligten Rechtssubjekte (§§  1–6  HGB) sowie die Betriebsbezogenheit des Geschäfts selbst. Da sich allerdings nicht ohne Weiteres feststellen lässt, wann ein Rechtsgeschäft zum Betrieb des Handelsgewerbes eines Kaufmanns gehört, stellt § 344 Abs. 1 HGB eine gesetzliche Vermutung dahingehend auf, dass jedes Geschäft eines Kaufmanns zunächst als betriebsbezogen gilt. Solange also einem Vertragspartner nicht erkennbar wird, dass es sich um ein Privatgeschäft des Kaufmanns handelt, wird die Betriebszugehörig unterstellt. Es ist demnach Angelegenheit des Kaufmanns, diese gesetzliche Vermutung im Einzelfall zu widerlegen. Nur bei ganz offensichtlichen Privatgeschäften, also dann, wenn sich der Privatcharakter des Geschäfts jedem Dritten aufdrängt, gilt die Vermutungsregel aus § 344 Abs. 1 HGB nicht. Beispiel

Sofern der Kaufmann K einen Computer in einem Elektrofachhandel kauft, handelt es sich wegen der Vermutung des § 344 Abs. 1 HGB um ein Handelsgeschäft (§ 343 Abs. 1 HGB), namentlich um einem Handelskauf (§§ 373 ff. HGB). Gibt er allerdings dem Verkäufer zu verstehen, dass er den Rechner für den Privatgebrauch erwirbt, greift die Vermutung nicht mehr und er kauft als Verbraucher (§§ 433, 13 BGB). Während dem Verbraucher als Käufer diverse Schutzrechte zukommen (u. a. Verbrauchsgüterkauf, Widerrufsrechte im Fernabsatz etc.), stehen diese dem Kaufmann nicht zu. ◄ Von einem Kaufmann gezeichnete Schuldscheine, darunter u. a. Verpflichtungsscheine, Wechsel, Lagerscheine, Bürgschaftserklärungen, Schuldversprechen, Schuldanerkenntnisse, Konnossements, Ladescheine, Transportversicherungspolicen, gelten ebenfalls  – kraft Vermutung  – als im Betrieb seines Handelsgewerbes gezeichnet. Der Beweis, dass die Schulversprechen auf Privatgeschäften beruhen, muss der Kaufmann zweifellos durch Urkunden belegen können (§ 344 Abs. 2 HGB).

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5 Handelsrecht

Das Handelsrecht unterscheidet zwischen einseitigen und beiderseitigen Handelsgeschäften. Ein beiderseitiges (oder zweiseitiges) Handelsgeschäft ist gegeben, wenn beide Parteien Kaufleute sind und das Geschäft zum Betrieb ihres jeweiligen Handelsgewerbes gehört. Ein einseitiges Handelsgeschäft liegt vor, wenn das Rechtsgeschäft für nur einen der Beteiligten ein Handelsgeschäft darstellt. In der Regel sind die handelsrechtlichen Sonderregelungen gleichermaßen für ein- oder beiderseitige Handelsgeschäfte anzuwenden (§ 345 HGB). Nur ausnahmsweise wird ausdrücklich ein beiderseitiges Handelsgeschäft gefordert (was man aus der jeweiligen Formulierung des Gesetzes herauslesen kann): • • • •

§ 346 HGB: Anwendung von Handelsbräuchen („unter Kaufleuten“), § 352 Abs. 1 HGB: Zinsen („beiderseitigen Handelsgeschäften“), § 353 HGB: Fälligkeitszinsen („Kaufleute untereinander“), §  369 Abs.  1  HGB: kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht („welche ihm gegen einen anderen Kaufmann“), • § 377 Abs. 1 HGB: Unverzügliche Mängelrüge („für beide Teile ein Handelsgeschäft“). 891

Handelsgeschäfte sind Rechtsgeschäfte i. S. d. BGB und folgen daher hinsichtlich ihres Zustandekommens, ihrer Durchführung und Beendigung, der Gestaltung und der Mängelgewährleistung den Regeln des bürgerlichen Rechts. Allerdings sind darüber hinaus die nachfolgenden Besonderheiten des Handelsrechts zu berücksichtigen.

5.6.1.1 Handelsbräuche und Handelsklauseln Unter Kaufleuten ist in Ansehung der besonderen Bedeutung und Wirkung von Handlungen, Festlegungen, Unterlassungen usw. auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen (§ 346 HGB). Handelsbräuche sind besondere kaufmännische Verkehrssitten i. S. der §§ 157, 242 BGB, die für Kaufleute als verbindlich gelten, selbst wenn sie nicht vereinbart oder den Kaufleuten unbekannt sind. Allerdings gelten sie nicht allgemein und überall, wie Handelsgesetze, sondern sie sind oftmals auf einzelne Branchen, Regionen und Börsen (Platz-Usancen) beschränkt. Dort allerdings ist ihre Geltung im zugehörigen Handelsgeschäft anzunehmen und von der tatsächlichen Kenntnis der Parteien unabhängig. Insofern gilt: Wer sich einem Handelsbrauch nicht unterwerfen will, muss ihn ausdrücklich ausschließen. Eine Irrtumsanfechtung wegen Unkenntnis des Handelsbrauchs ist nicht möglich. 893 Die Bildung von Handelsbräuchen bedarf eines längeren Zeitraums, der Akzeptanz aller Beteiligten und der tatsächlichen Übung. Streitigkeiten über das Bestehen von Handelsbräuchen können u. a. durch Gutachten der Handelskammern beigelegt werden. Die Handelskammern erteilen auch Auskunft über das Bestehen von Handelsbräuchen. 894 Ihren Hauptanwendungsbereich finden Handelsbräuche bei der Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen sowie bei der Bestimmung und Ergänzung der gegenseitigen Leistungspflichten. 892

5.6 Handelsgeschäfte

359

Anerkannte Handelsbräuche sind beispielsweise: • das kaufmännische Bestätigungsschreiben (Abschn. 5.6.1.3), • Gewohnheiten unter Kaufleuten, wie z.  B. die Unzulässigkeit von Nachsendungen ohne Vereinbarung oder Benachrichtigung; Nichtgeltendmachung von Provisionsansprüchen bei Schiffsmaklern; Stornogepflogenheiten in der Reisebranche. Bestimmte Modalitäten der Vertragsdurchführung werden mit gängigen (Han- 895 dels-)Klauseln umschrieben. Diese Kurzformeln sind ihrerseits unter Berücksichtigung der Handelsbräuche auszulegen. Die Bedeutung erlangen sie deshalb, weil sie mit kurzen Begriffen bzw. Buchstabenfolgen umfangreiche Sachverhalte beschreiben, wie z. B. die Gefahrtragung zwischen Käufer und Verkäufer, die Verzugsfolgen u.  v.  m. Die Handelsklauseln dienen daher der Rechtsklarheit, der Rechtssicherheit und vor allem der Vereinfachung, was zugleich den wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten entgegenkommt, denen seitenlange, komplexe Formulierungen oder langwierige anwaltliche Auslegungen erspart bleiben. Im nationalen Handelsverkehr werden zahlreiche Handelsklauseln gebraucht, 896 deren Auslegung allerdings nicht immer einheitlich ist, sondern sich aus den kaufmännischen Verkehrssitten der jeweiligen Rechtskreise gemäß § 346 HGB ergibt. Nachfolgend einige Beispiele, der im Handelsverkehr häufig verwendeten Handelsklauseln: Beispiel

• Angebot „fest bis ...“ Der Erklärende ist bis zum benannten Termin an sein Vertragsangebot gebunden, so dass das Angebot nur innerhalb dieser Frist angenommen werden kann. • Angebot „freibleibend“ oder „ohne obligo“ Der Erklärende ist an sein Angebot nicht gebunden und entscheidet erst nach Eingang der Annahmeerklärung über den Vertragsabschluss. • Preise „freibleibend“ oder „Lieferung freibleibend“ Der Erklärende gibt zwar ein bindendes Angebot ab, allerdings bleibt die Höhe des Preises oder der Umfang der Lieferung noch unbestimmt. • Preise „3 % Skonto“ Der Erklärende gibt einen Preisnachlass auf den Rechnungsbetrag in Höhe von 3 % (andere Prozentsätze sind möglich und werden auch verwandt) bei Zahlung innerhalb von 14 Tagen. • Kauf „wie besichtigt“ Die Gewährleistung für solche Sachmängel des Kaufgegenstandes wird ausgeschlossen, die bei der Besichtigung erkennbar waren. • Lieferung „frachtfrei“ oder „franko“ Der Verkäufer trägt die Transportkosten abweichend von § 448 BGB. Der Erfüllungsort bleibt jedoch unverändert, weil die Kostenregelung die Frage des Gefahrübergangs nicht berührt (vgl. §§ 446, 447 BGB).

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5 Handelsrecht

• Lieferung „ab Werk“ Der Käufer hat die Ware am Werk abzuholen. Er hat für den weiteren Transport sowohl das Risiko als auch die Kosten zu tragen. • „Selbstbelieferung vorbehalten“ Der Verkäufer wird von seiner Lieferpflicht frei, wenn er von seinem eigenen Lieferanten nicht beliefert wird, muss jedoch dem Käufer die Rechte aus dem Deckungsgeschäft mit dem Lieferanten abtreten. Der Kaufvertrag steht unter der auflösenden Bedingung der Belieferung des Verkäufers. Sofern dieser keinen Deckungskauf abgeschlossen hat, ist die Selbstbelieferungsklausel unwirksam. • Zahlung „netto Kasse“ Die Klausel beinhaltet grundsätzlich die Verpflichtung zur Barzahlung ohne Abzug von Skonto. ◄ 897

Im internationalen Handelsverkehr hat die Internationale Handelskammer (International Chamber of Commerce, Paris) eine Liste der sog. „Trade Terms“ zusammengestellt, die in Außenhandelsverträgen häufig Anwendung finden. Um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, die infolge unterschiedlicher Handelsgewohnheiten der jeweiligen Länder entstehen können, wurde mit den sog. Incoterms 2020 (International Commerce Terms; Abschn.  5.8.2) eine einheitliche Auslegung von Handelsklauseln erarbeitet und verbunden. In Abb.  5.3 nur einige wenige Beispiele von Handelsklauseln, die im internationalen Handelsverkehr verwendet werden.

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Abb. 5.3  Beispiele von Handelsklauseln

5.6 Handelsgeschäfte

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5.6.1.2 Kaufmännische Sorgfaltspflichten Der Kaufmann muss bei der Erfüllung von Handelsgeschäften für die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns einstehen (§ 347 HGB). Die Sorgfaltspflicht des ordentlichen Kaufmanns ist eine gesetzliche Nebenpflicht bei allen Rechtsgeschäften des Kaufmanns und bedeutet gegenüber dem allgemeinen Haftungsmaßstab aus § 276 Abs. 1 BGB eine zumutbare Verschärfung, da der Kaufmann als sachkundig und geschäftserfahren gilt. Die in Rede stehenden allgemeinen Sorgfaltspflichten eines ordentlichen Kaufmanns konkretisieren sich beispielsweise in der Verpflichtung zur Wahrheit, zur Vollständigkeit, zur Klarheit, zur Prüfung bei der Übernahme fremder Angaben, zur Berichtigung von unrichtig gewordenen Mitteilungen, zur Priorität des Empfängerinteresses bei Interessenkollisionen, zur Warnung vor drohenden Schäden und ggf. zur Weitergabe von Informationen. Die Verpflichtung zur sorgfältigen Geschäftsführung ergibt sich insbesondere für die Geschäftsbesorgungskaufleute und ist dann darüber hinausgehend in den zugrundeliegenden Verträgen (z. B. Handelsvertretervertrag, Vertragshändlervertrag, Franchisevertrag) weiter ausgestaltet. Aber auch in anderen Handelsgeschäften kann sich eine besondere Verpflichtung des Kaufmanns zur sorgfältigen Erledigung seiner Aufgaben aus Vertragsbestimmungen (z. B. zur Erteilung von Rat, Auskunft und Aufklärung; zur Abgabe eines wahrheitsgemäßen Zeugnisses) oder aber gesetzlichen Sonderregeln ergeben (z. B. Anlageberatung im Bankgeschäft; Erstellung eines über die wesentlichen Umstände aufklärenden Prospektes). Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der kaufmännischen Sorgfaltspflichten – gleich aus welcher Grundlage – ergeben sich in den benannten Fällen aus §§ 280 ff. i. V. m. §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB, wenn die Pflichtverletzung vor Vertragsschluss erfolgt, und aus dem Rechtsgrundsatz der §§ 280 ff. i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB, falls die Verletzungshandlung nach Vertragsschluss erfolgt.

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5.6.1.3 Zustandekommen von Handelsgeschäften Beim Abschluss von Handelsgeschäften sind die Lehre vom kaufmännischen Be- 902 stätigungsschreiben (sog. „KBS“), das Schweigen auf ein Geschäftsbesorgungsangebot sowie die Formerleichterung für bestimmte Rechtsgeschäfte erwähnenswert. 5.6.1.3.1  Kaufmännisches Bestätigungsschreiben Im kaufmännischen Verkehr ist es üblich, dass eine Vertragspartei der anderen das 903 Ergebnis mündlicher bzw. fernmündlicher Vertragsverhandlungen schriftlich bestätigt (sog. kaufmännische Bestätigungsschreiben). Falls nun der Empfänger eines solchen Schreibens diesem nicht unverzüglich widerspricht, gilt sein Schweigen als Einverständnis bezogen auf dessen Inhalt, und der Vertrag kommt zu den im Bestätigungsschreiben genannten Bedingungen zustande. Dies gilt selbst dann, wenn bei den mündlichen Vertragsverhandlungen noch gar kein Vertrag geschlossen worden ist. Die Bedeutung eines solchen Bestätigungsschreibens liegt für den Handelsverkehr darin, spätere Streitigkeiten darüber zu vermeiden, ob überhaupt ein Vertrag geschlossen worden ist und welche Vertragsbedingungen und -inhalte im Einzelnen

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vereinbart worden sind. Dem Schreiben kommt daher eine Festlegungs- und Beweisfunktion im Handelsverkehr zu. 904 Um von einem kaufmännischen Bestätigungsschreiben ausgehen zu dürfen, müssen jedoch die folgenden Voraussetzungen vorliegen: • Die Regeln über das kaufmännische Bestätigungsschreiben gelten grundsätzlich nur unter Kaufleuten. Dafür muss der Empfänger des Schreibens Kaufmann sein oder zumindest in größerem Umfang am Geschäftsleben teilnehmen. Der Absender muss hingegen kein Kaufmann sein, allerdings in ähnlicher Weise am Wirtschaftsleben teilnehmen, da nur dann seine Erwartung in das Bestätigungsschreiben geschützt ist. • Dem Bestätigungsschreiben müssen Vertragsverhandlungen vorangegangen sein, die mündlich oder fernschriftlich (z. B. via E-Mail) geführt worden sind. Haben überhaupt keine Vertragsverhandlungen stattgefunden, so darf der Absender eines (fingierten) Bestätigungsschreibens nicht mit der Billigung durch den Empfänger rechnen, weshalb er auch nicht schutzwürdig ist. Gleiches gilt, wenn ein schriftlicher Vertrag bereits geschlossen ist, denn dann ist ein Bestätigungsschreiben entbehrlich. • Das kaufmännische Bestätigungsschreiben muss auf die vorausgegangenen Verhandlungen Bezug nehmen, indem es – einem Klarstellungsbedürfnis folgend – das Verhandlungsergebnis (die erzielte oder vermeintlich erzielte Einigung) zusammenfasst. Lässt das Schreiben selbst erkennen, dass in einzelnen Punkt noch gar keine Einigung erzielt wurde, handelt es sich nicht um ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben. • Das Bestätigungsschreiben muss unmittelbar nach den Vertragsverhandlungen abgeschickt werden und dem Empfänger zeitnah zugehen; die tatsächliche Kenntnisnahme des Empfängers ist dabei nicht entscheidend. • Der Absender wird nur dann in seinem Vertrauen auf das Schweigen des Empfängers geschützt, wenn er sich selbst redlich verhält. Redlich ist, wer unter Berücksichtigung von Treu und Glauben das Schweigen des Empfängers als Einverständnis mit dem Inhalt des Bestätigungsschreibens auffassen darf. Unredlich handelt insbesondere ein Kaufmann, der wider besseren Wissens einen noch nicht zustande gekommenen Vertragsabschluss bestätigt oder der bewusst wesentliche Änderungen oder Ergänzungen des Verhandlungsergebnisses vornimmt. Sofern die Vertragsverhandlungen von einem Vertreter geführt wurden, kommt es auf dessen Redlichkeit an, denn der Kaufmann muss sich die Arglist seines Vertreters zurechnen lassen und kann sich nicht auf die eigene Unkenntnis berufen (vgl. § 166 Abs. 1 BGB). • Zudem muss der Absender auch schutzbedürftig sein. Daran fehlt es trotz Redlichkeit beispielsweise, wenn die Abweichungen des kaufmännischen Bestätigungsschreibens von den vorangegangenen mündlichen Vereinbarungen so gravierend sind, dass der Absender nicht mehr mit dem Einverständnis des Empfängers rechnen darf. • Schließlich darf der Empfänger nicht unverzüglich widersprochen haben. Bei rechtzeitigem Widerspruch ist der Absender nicht schutzbedürftig. Nach h. M. be-

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läuft sich die Widerspruchsfrist auf 2–5 Tage nach dem Zugang. Ein Widerspruch nach mehr als einer Woche ist in der Regel verspätet und die Bestätigungsfiktion lässt sich nicht mehr verhindern. Bei sich kreuzenden Bestätigungsschreiben, die sich widersprechen, ist ein weiterer Widerspruch allerdings nicht nötig; sie entfalten keine Fiktionswirkung. Liegen die vorgenannten Voraussetzungen vor und schweigt der Empfänger auf das ihm zugehende kaufmännische Bestätigungsschreiben, so gilt sein Schweigen als Einverständnis mit dessen Inhalt.

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Beispiel

Händler V und der Vertreter der X-Bank (K) führen mündliche Vertragsverhandlungen über den Kauf einer Computeranlage für die X-Bank. Man verständigt sich auf das Modell „Bank-Compakt XXL“ und den Sonderpreis von 10.500 EUR. Noch am selben Tag sendet der V dem K eine Zusammenfassung des Gesprächs. In dem Bestätigungsschreiben benennt er allerdings versehentlich den regulären Preis von 12.000 EUR ein. Schweigt nun die X-Bank auf dieses Bestätigungsschreiben des V, so ist die Bank zur Zahlung von 12.000 EUR verpflichtet, weil sie sich mit den veränderten Umständen einverstanden erklärt hat. Man könnte diskutieren, ob die Abweichung vom Inhalt der vorangegangenen Verhandlungen hier so wesentlich ist, dass die Schutzwürdigkeit des V entfiele. Die preisliche Abweichung übersteigt den vereinbarten Kaufpreis um immerhin 12,5 Prozent. Allerdings hatte der BGH bei einem Bestätigungsschreiben, welches den verhandelten Preis um 100 % überstieg, keine Bedenken bei der Einordnung als Bestätigungsschreiben (BGH NJW 1969, 1711 f.). ◄ Eine Irrtumsanfechtung (§ 119 Abs. 1 BGB; z. B. Irrtum über den Bedeutungs- 906 gehalt des Schweigens) ist im Zusammenhang mit dem kaufmännischen Bestätigungsschreiben ausgeschlossen. Dies würde dem Sinn und Zweck des Instruments, nämlich klare Rechtsverhältnisse zu schaffen, zuwiderlaufen. Eine Ausnahme ergibt sich nur dann, wenn der Empfänger anfechten möchte, weil er den Inhalt des Schreibens falsch verstanden hat und dieses Missverständnis nicht zu vertreten hat (z. B. weil sich der Absender missverständlich ausdrückte). Dann ist die Anfechtung möglich. Denn das kaufmännische Bestätigungsschreiben soll nur Unklarheiten bezüglich vorangegangener Vertragsverhandlungen beseitigen, nicht jedoch den Empfänger beim Schweigen schlechter stellen als beim Reden. Der Kaufmann kann die Rechtsfolge des kaufmännischen Bestätigungs- 907 schreibens nur ausschließen, wenn er unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 BGB), widerspricht. Der Kaufmann muss daher in seiner Organisation dafür sorgen, dass ihm die Schreiben im ordentlichen Geschäftsablauf vorgelegt werden. Im Fall von Geschäftsreisen, Urlaub oder Erkrankungen und in größeren Unternehmen sind für die zügige Erledigung der Geschäfte im Handelsverkehr geeignete Vertreter zu bestellen. Zwar kann die unverzügliche Reaktions-

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5 Handelsrecht

zeit im Einzelfall unterschiedlich lang sein, länger als ein bis zwei Tage benötigt eine Reaktion eigentlich nicht. Der Widerspruch ist nicht formgebunden und kann auch mündlich erfolgen. Ein verspäteter Widerspruch beseitigt allerdings die Wirkungen des kaufmännischen Bestätigungsschreibens nicht mehr. 908 Von dem kaufmännischen Bestätigungsschreiben ist die sog. Auftragsbestätigung zu unterscheiden. Mit ihr wird im Handelsverkehr die Bestätigung eines Vertragsangebotes bezeichnet. Diese Annahme eines Vertragsangebots richtet sich nach den allgemeinen Regeln des BGB und wird bei Abweichung als neuer Antrag bewertet (§ 150 Abs. 2 BGB). 5.6.1.3.2  Schweigen auf ein Geschäftsbesorgungsangebot Dem Schweigen kommt auch im Rahmen des § 362 HGB ein Erklärungswert zu. Unter bestimmten Voraussetzungen muss ein Kaufmann, dessen Gewerbebetrieb die Besorgung von Geschäften für einen anderen zum Gegenstand hat, auf ein Angebot zum Abschluss eines Geschäftsbesorgungsvertrages (§ 675 BGB) unverzüglich reagieren; ansonsten gilt sein Schweigen als Annahme des Antrags. Im Unterschied zu § 151 S. 1 BGB, bei dem lediglich auf den Zugang einer Annahmeerklärung (vgl. § 130 Abs. 1 S. 1 BGB) verzichtet wird, fingiert § 362 HGB sowohl den objektiven als auch subjektiven Tatbestand der Annahmeerklärung. 910 Die Vorschrift des § 362 HGB behandelt dabei zwei unterschiedliche Konstellationen: 909

• Nach der ersten Variante gemäß § 362 Abs. 1 S. 1 HGB geht dem Kaufmann oder einem kaufmannsähnliche Geschäftsteilnehmer (§ 362 Abs. 1 HGB analog) ein Antrag auf Abschluss einer Geschäftsbesorgung im Rahmen einer auf Dauer angelegten Geschäftsverbindung zu. Insofern muss der Kaufmann mit dem Antragsteller bereits in einer solchen auf Dauer angelegten Geschäftsverbindung stehen, wobei der Abschluss von weiteren Geschäften zu erwarten steht (z. B. Tätigkeit von Banken, Versicherungen, Frachtführer, Treuhänder). Für die geforderte Geschäftsverbindung genügt es nicht, dass die Parteien nur gelegentlich oder ad hoc „Einmal-Geschäfte“ miteinander tätigen; andererseits ist auch keine über mehrere Jahre bestehende Geschäftsverbindung erforderlich. Entscheidend ist vielmehr, dass die Geschäftsbeziehung im Zeitpunkt des Antrages bereits besteht und die Parteien den Willen haben, zukünftig weitere Geschäfte durchzuführen, die in dem jeweiligen Handelsgewerbe üblicherweise vorkommen. • Nach der zweiten Variante gemäß § 362 Abs. 1 S. 2 HGB ist keine bestehende Geschäftsbeziehung erforderlich, stattdessen muss der Kaufmann einem anderen die Geschäftsbesorgung angetragen („erboten“) haben (i.  S. einer invitatio ad offerendum). Das „Erbieten“ ist dabei noch kein Antrag im Rechtssinne, sondern es geht darum, dass der Kaufmann hinreichend konkret zum Ausdruck bringt, dass er eine bestimmte Geschäftsbesorgung ausführen kann (z.  B. durch Zusendung einer Werbedrucksache).

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In der Rechtsfolge unterscheidet § 362 HGB dann nicht mehr. Der Kaufmann 911 hat nach beiden Varianten einen Vertrauenstatbestand geschaffen, an dem er sich im Interesse der Verkehrssicherheit festhalten lassen muss. Gleich welche der beiden Konstellationen vorliegt, muss der Kaufmann auf den Antrag  – des Geschäftspartners (1. Variante) oder des Angesprochenen (2. Variante) – auf Abschluss des Geschäftsbesorgungsvertrags reagieren. Schweigt er, kommt der Vertrag unter den üblichen oder den erbotenen Bedingungen zustande. Ferner wird er schadensersatzpflichtig, wenn er das Geschäft nicht ausführt. Diese Rechtsfolge lässt sich nur vermeiden, indem der Kaufmann dem Antrag des Geschäftspartners oder Angesprochenen unverzüglich, d.  h. ohne schuldhaftes Zögern (§  121 BGB), widerspricht. Beispiel

Der Kaufmann K unterhält ein Wertpapierdepot bei seiner Bank B und trägt dieser an, für ihn 100 Aktien der X-AG zu kaufen. Da die B indes Zweifel an der Kursentwicklung der Aktie hegt, führt sie den Auftrag des K nicht aus und lässt dem K gegenüber auch nichts von sich hören. Durch das Schweigen der Bank kommt ein Geschäftsbesorgungsvertrag zustande (§ 362 Abs. 1 S. 1 HGB). Wenn sich nun der Aktien-Kurs der X-AG in den folgenden Monaten erheblich steigern würde, hätte K gegen die B einen Anspruch auf Schadensersatz wegen des entgangenen Gewinns. Die X-Bank erhält eine Werbebroschüre einer „Brief- und Paketservice GmbH“, in der für Postversendungen im Umkreis von 100  km des Unternehmenssitzes besondere Vertragskonditionen offeriert werden („invitatio ad offerendum“). Daraufhin erteilt die X-Bank der „Brief- und Paketservice GmbH“ einen Auftrag. Selbst wenn die GmbH nun schweigt, kommt ein Geschäftsbesorgungsvertrag mit ihr zustande (§ 362 Abs. 1 S. 2 HGB); führt sie den Versendungsauftrag nicht aus, wird auch sie schadensersatzpflichtig. ◄ 5.6.1.3.3  Formerleichterungen Im Rahmen der Handelsgeschäfte ist schließlich noch auf die Formerleichterun- 912 gen bei Risikogeschäften hinzuweisen. Während die Bürgschaft, das Schuldversprechen und das Schuldanerkenntnis nach dem bürgerlichen Recht der Schriftform bedürfen (§§ 766, 780 und 781 BGB), ist diese im Handelsverkehr entbehrlich, sofern das Risikogeschäft für den Bürgen oder Versprechenden ein Handelsgeschäft darstellt (§  350  HGB). Gibt also ein Kaufmann eine mündliche Bürgschaftserklärung ab, ist sie nach § 350 HGB wirksam; er bedarf nicht desselben Schutzes, wie eine Privatperson. Ebenfalls steht dem kaufmännischen Bürgen die Einrede der Vorausklage i. S. d. § 771 BGB nicht zu (§ 349 HGB), was die Abläufe im Handelsverkehr beschleunigt.

5.6.1.4 Grundsatz der Entgeltlichkeit und Zinsanspruch Der Grundsatz der Entgeltlichkeit (§§  352–354  HGB) besagt, dass konkret er- 913 brachte Leistungen eines Kaufmanns zu vergüten sind. Bei der Übernahme von

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Geschäftsbesorgungen und Dienstleistungen gilt eine Vergütung (Provision i. w. S.) jedenfalls als stillschweigend vereinbart, selbst wenn keine ausdrückliche Absprache vorliegt. Dabei richtet sich die Höhe der Vergütung nach den am Ort üblichen Vergütungssätzen (§ 354 Abs. 1 HGB). 914 Ferner sind Kaufleute, auch wenn keine besonderen Vereinbarungen bestehen, berechtigt, Fälligkeitszinsen für ihre Forderungen aus beiderseitigen Handelsgeschäften zu fordern (§  353  HGB). Der gesetzliche Zinssatz beträgt dabei 5  % (§ 352 HGB).

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5.6.1.5 Leistungserbringung Grundsätzlich gelten auch im Rahmen der Handelsgeschäfte die Vorgaben des BGB zu Leistungszeit, -ort und -inhalt (Abschn. 1.6.5.1), allerdings auf die Bedürfnisse des Handelsverkehrs angepasst. Bei Handelsgeschäften kann die Leistung nur während der gewöhnlichen Geschäftszeiten bewirkt und gefordert werden (§  358  HGB), z.  B. während der Schalterstunden der Bank oder der üblichen Ladenöffnungszeiten. Die Bedeutung unbestimmter Zeitangaben, wie z. B. „Frühjahr“ oder „rund um die Uhr“, ist nach Handelsbrauch am Ort der Leistung zu ermitteln (§ 359 HGB). Ist als Leistungsgegenstand eine Gattungsschuld vereinbart, muss der Verkäufer ein Handelsgut mittlerer Art und Güte leisten, wobei es sich nach den Gepflogenheiten am Erfüllungsort richtet, ob das Handelsgut den durchschnittlichen Qualitätsanforderungen entspricht (§ 360 HGB). Die praktische Bedeutung dieser gesetzlichen Vorgaben ist indes gering, da im Handelsverkehr sehr häufig konkrete Vereinbarungen zu Leistungszeit, -ort und -inhalt vorliegen werden.

5.6.1.6 Kontokorrent Im kaufmännischen Geschäftsverkehr wird durch die Vereinbarung eines Kontokorrent (lat. conto corrente = laufende Rechnung) die Abwicklung gegenseitiger Geldansprüche vereinfacht, indem nicht jede Forderung einzeln abgerechnet wird, sondern die Forderungen nur buchmäßig erfasst werden und erst am Ende eines vereinbarten Zeitraumes verrechnet (= Saldierung) sowie durch eine einzige neue Forderung (= Saldo) ersetzt werden. Die Zeit- und Kostenersparnis ist gerade bei umfangreichen Geschäftsverbindungen dabei nicht unerheblich; schließlich ersetzt es die Abrechnung, Überwachung und z.  T. mühsame Durchsetzung vieler einzelner Forderungen und deren ggf. unterschiedliche rechtliche Behandlung nach Fälligkeit, Verzinsung und Verjährung. 917 Nach der gesetzlichen Definition in § 355 HGB ist ein Kontokorrent eine Absprache im Rahmen einer Geschäftsverbindung eines Kaufmanns, bei der Leistung und Gegenleistung in Rechnung gestellt und in regelmäßigen Zeitabschnitten ausgeglichen werden. Dabei spricht §  355  HGB als gesetzlichen Regelfall das sog. Periodenkontokorrent an, wonach die beiderseitigen Ansprüche und Leistungen nebst Zinsen in bestimmten Zeitabschnitten – das Gesetz geht dabei von einer Verrechnungsperiode von einem Jahr aus (§ 355 Abs. 2 HGB) – saldiert werden und die daraus abgeleitete Saldoforderung von einer Partei als Überschuss herausverlangt 916

5.6 Handelsgeschäfte

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werden kann. Eine andere Form, die sich ebenfalls vertraglich vereinbaren lässt, ist das sog. Staffelkontokorrent, nach welchem die Verrechnung laufend mit Einstellung neuer Forderungen und Leistungen erfolgt (z. B. Girokonto, welches jede Gut- und Lastschrift fortlaufend verrechnet; Geschäftsverbindung zwischen Handelsvertreter und Unternehmer). Das Gesetz spricht vom Kontokorrent nur, wenn wenigstens ein Kaufmann beteiligt ist; die laufende Rechnung unter Nichtkaufleuten („uneigentliches Kontokorrent“) vollzieht sich aber im Wesentlichen genauso, weshalb auch die §§  355 Abs. 2 und 3, 356 HGB analog angewandt werden. Beispiel

Der häufigste Anwendungsfall ist das Kontokorrent zwischen der Bank und ihrem Bankkunden in Form des Kontokorrentkredits. Dieser Kredit wird dem Bankkunden von der Bank aufgrund einer Vereinbarung, in der Kredithöhe, Provision und Zinsen festgelegt sind, eingeräumt. Der Kunde kann über das Kreditkonto verfügen und zahlt Zinsen nur für die in Anspruch genommene Kreditsumme. Für ihn eingehende Gelder werden dem Konto gutgeschrieben und dienen zur Abdeckung des Kredits. Rechtlich gesehen werden dabei Darlehensforderungen der Bank gegen Guthabensforderungen des Kunden aufgerechnet. In der Bankpraxis wird nach jedem Buchungsvorgang ein Kontoauszug (Tagesauszug) erteilt (Staffelkontokorrent). Mangels ausdrücklicher Vereinbarung ist jedoch nicht jeder Tagesauszug ein Rechnungsabschluss i. S. d. Kontokorrentrechts mit den unten geschilderten Rechtsfolgen. ◄ Ferner ist eine dauerhafte Geschäftsbeziehung aus der wechselseitige Forderungen erwachsen, Voraussetzung. Schließlich muss eine Verrechnungs-/Kontokorrentabrede getroffen worden sein, die ausdrücklich oder stillschweigend (z. B. bei Eröffnung eines Girokontos) vereinbart werden kann und auf die aus § 355 Abs. 1 HGB folgenden Rechtsfolgen ausgerichtet sein muss: Gegenüberstellung von Ansprüchen und Leistungen nebst Zinsen, regelmäßige Verrechnung sowie anerkennende Feststellung des Überschusses. Beispiel

Der Handelsvertreter H vereinbart mit dem Unternehmer U ausdrücklich, dass die gegenseitigen Forderungen – der Provisionsanspruch des Handelsvertreters und der Anspruch auf Auszahlung der Einnahmen des Unternehmers – zunächst verbucht werden und die Verrechnung und Auszahlung jeweils vierteljährlich erfolgen soll. ◄ Mit der Einstellung der (Einzel-)Forderungen in das Kontokorrent verlieren sie 918 ihre rechtliche Selbständigkeit und werden zu bloßen Rechnungsposten. Sie können nicht mehr einzeln geltend gemacht oder selbständig erfüllt werden; ein Schuldnerverzug bezogen auf die Einzelforderung ist ausgeschlossen. Die Einzel-

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forderungen sind damit weder verpfändbar (§§ 1273 BGB), noch abtretbar (§ 400 BGB), weshalb sie auch nicht mehr unter eine Vorausabtretung fallen können, z. B. bei verlängertem Eigentumsvorbehalt (Abschn. 2.5.1) oder im Rahmen einer Globalzession (Abschn.  1.6.7.1). Auch ein Zugriff im Wege der Zwangsvollstreckung ist nicht mehr möglich (§ 851 Abs. 1 ZPO). In der Unselbständigkeit der Einzelforderungen liegt auch der Unterschied zur „offenen Rechnung“. Dort bleiben die einzelnen Rechnungsposten selbständig bestehen und werden bei der jeweiligen Partei lediglich aufaddiert. Die Forderungen können daher auch weiterhin vom Gläubiger einzeln und gesondert geltend gemacht werden. Beispiel

Der Druckerei D stehen gegen den Kunden K, der zugleich Lieferant von Druckmaschinenteilen ist, noch Zahlungen aus dem Erstellen von Werbebroschüren aus, namentlich vom 15.1. in Höhe von 130 EUR und vom 23.6. in Höhe von 145 EUR. Der D kann den K daher am 1.7. zur Zahlung von 275 EUR auffordern oder die offenen Rechnungen jeweils einzelnen geltend machen. ◄ Mit Ablauf der Verrechnungsperiode werden die eingestellten Forderungen im Kontokorrent automatisch gegenseitig aufgerechnet („saldiert“), die Aufrechnung muss also nicht eigens erklärt werden. Die Zinsen werden ebenfalls automatisch mit saldiert. Nach der Rechtsprechung wird mit der Verrechnung zugleich das Abrechnungsergebnis festgestellt, das in ein Angebot auf Abschluss eines Anerkenntnisvertrags aufgenommen wird und dessen Annahme durch das Saldoanerkenntnis begehrt wird (BGHZ 93, 307, 314). Durch das Saldoanerkenntnis, das auch stillschweigend erfolgen kann, erlöschen sodann die bisherigen Forderungen. Sie werden durch eine neue abstrakte (Saldo-)Forderung mit eigenem Erfüllungsort (§ 269 BGB) und Verjährung ersetzt (BGHZ 93, 307, 313). Es entsteht ein ­„Anspruch auf Zahlung des Saldos“. Dieser Anspruch wird, entsprechend der zugrundeliegenden Vereinbarung, entweder erfüllt oder wieder in eine neue laufende Rechnung eingestellt und weiter verzinst (auch wenn darin bereits Zinsen enthalten sind – Zinseszins). Der Wortlaut des § 355 Abs. 1 HGB („kann … von dem Tage des Abschlusses an Zinsen von dem Überschuss verlangen, auch soweit in der Rechnung Zinsen enthalten sind“) macht insofern eine ausdrückliche Ausnahme vom Zinseszinsverbot gem. § 248 BGB. Fehler bei der Verrechnung können vor der Saldoanerkennung uneingeschränkt 920 geltend gemacht werden, während es nach der Saldoanerkennung bei Buchungsund Rechenfehlern nur noch die Möglichkeit gibt, das Anerkenntnis wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung anzufechten (§§ 119, 142 BGB). Dabei berechtigen der Irrtum über die Vollständigkeit und Richtigkeit des Saldos allerdings nicht zur Anfechtung, allenfalls ein Irrtum über die Umstände, die zu den Buchungs- und Rechenfehlern geführt haben. Ein Rückforderungsanspruch kann aber auch außer919

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halb des Vertrages nach den Rechtsgrundsätzen der ungerechtfertigten Bereicherung (Abschn. 3.2) bestehen. Beispiel

Im obigen Fallbeispiel (Handelsvertreters H) ergibt sich bei der Verrechnung am Ende des Vierteljahres ein Saldo von 6000 EUR zugunsten des H.  Nach Anerkennung des Saldos stellt der U jedoch fest, dass er eine an H geleistete Vorschusszahlung über 1500 EUR vergessen hat. In dieser Situation kann der U wegen seines (Motiv-)Irrtums den Anerkenntnisvertrag nicht nach § 119 BGB anfechten und zunichte machen. Allerdings steht ihm gegenüber dem Zahlungsanspruch des H die Bereicherungseinrede nach § 821 BGB (vgl. § 812 Abs. 2 BGB) zu. ◄ Zu welchem Zeitpunkt die Saldoforderung ausgezahlt wird, richtet sich nach der 921 zugrunde liegenden Kontokorrentabrede. Eine vorzeitige Auszahlung kann nur bei gleichzeitiger Beendigung des Kontokorrentverhältnisses verlangt werden. In der Praxis werden Sicherungsrechte selten an den Einzelposten der laufen- 922 den Rechnung, sondern zumeist von vornherein an dem  bzw. für den  künftigen Saldo bestellt. Werden dennoch Forderungen in die Rechnung eingestellt, die z.  B. durch ein Pfandrecht oder eine Bürgschaft gesichert sind, entfallen diese Sicherungsrechte nicht, sondern sie bleiben auch weiter bestehen; sie setzen sich am Saldo fort (§ 356 HGB). Die Einzelforderung ist unpfändbar, sobald sie in das Kontokorrent eingestellt ist; ein Gläubiger könnte also nur den Saldo pfänden. Durch eine solche Pfändung wird das Kontokorrentverhältnis nicht aufgelöst. Posten, die nach der Pfändung in die Rechnung aufgenommen werden, dürfen mit dem gepfändeten Saldo nicht mehr verrechnet werden, sondern beginnen eine neue Rechnung. Gutschriften werden von der Pfändung nicht mehr erfasst. Daher ist einem Gläubiger zu empfehlen, stets den gegenwärtigen Saldo (= Zustellungssaldo) und alle künftigen Aktivsalden seines Schuldners zu pfänden. Das Kontokorrent endet mit Beendigung der Geschäftsverbindung (z. B. Kün- 923 digung, Zeitablauf), bei Insolvenz eines Beteiligten oder durch Aufhebungsvereinbarung. Sofern sich aus der Natur des Schuldverhältnisses nichts anderes ergibt (z. B. beim Kontokorrentkredit), kann das Kontokorrent jederzeit gekündigt werden, auch während der Dauer einer Abrechnungsperiode (§ 355 Abs. 3 HGB). Bei Beendigung ist der Saldo bzw. die Saldoforderung sofort fällig und zugleich – als eigenständige Forderung – auch abtretbar und (ver-)pfändbar.

5.6.1.7 Eigentums- und Pfandrechtserwerb Beim Eigentums- und Pfandrechtserwerb sehen die §§  366  f.  HGB im kauf- 924 männischen Rechtsverkehr einen erweiterten Gutglaubensschutz vor (Kap. 4.). Während der Eigentums- und Pfandrechtserwerb vom Nichtberechtigten nach den Regeln des BGB den guten Glauben des Erwerbers an das Eigentum des Veräußerers (§ 932 BGB) oder des Pfandrechtsbestellers (§§ 1207, 932 BGB) voraus-

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5 Handelsrecht

setzt, genügt nach dem HGB schon der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis des kaufmännischen Veräußerers oder Pfandrechtsbestellers (§ 366 Abs. 1 HGB). Der Erwerber muss den Veräußerer also nicht für den Eigentümer halten, sondern es reicht bereits aus, dass der Erwerber den Veräußerer für berechtigt bzw. ermächtigt erachtet (§ 185 Abs. 1 BGB), für den Eigentümer über die Sache wirksam verfügen zu dürfen. Dies ist im Handelsverkehr auch nicht abwegig, denn gerade im Handelsverkehr verfügen Kaufleute häufiger über Sachen, die nicht in ihrem Eigentum stehen, die sie aber aufgrund vertraglicher Vereinbarung veräußern dürfen. Verträge, die eine entsprechende Verfügungsbefugnis gewähren, sind beispielsweise der Handelsvertretervertrag, der Kommissionsvertrag, der Kommissionsagentenvertrag, aber auch der Franchise-Vertrag und ähnliche Vertragsformen. Beispiel

Auf einer Antiquitätenmesse erwirbt der Käufer K von Aussteller A ein antike Vase, die dieser zuvor von dem Eigentümer E als „Eye-catcher“ für seinen Messestand nur entliehen hatte. K erkennt zwar, dass A nicht Eigentümer der Vase ist – auf ihr befindet sich die Adresse des E – er hält ihn aber für einen Verkaufskommissionär und damit zur Veräußerung der Vase befugt (§  185 Abs. 1 BGB). In dieser Situation kann K vom Nichtberechtigten A das Eigentum an der Vase nach §§ 929 S. 1, 932 Abs. 1 S. 1 BGB i. V. m. § 366 Abs. 1 HGB erlangen, da er im guten Glauben an die Verfügungsbefugnis des A handelte. ◄ 925

Voraussetzungen für den Gutglaubenserwerb nach § 366 Abs. 1 sind: • Der Veräußerer bzw. Verpfänder muss Kaufmann i. S. der §§ 1 ff. HGB sein. • Die Verfügung muss sich auf eine bewegliche Sache beziehen (nicht: Rechte oder Immobilien) • Die Veräußerung oder Verpfändung der fremden beweglichen Sache muss im Gewerbebetrieb eines Kaufmanns stattgefunden haben, betriebsbezogen sein (§ 344 HGB), und es muss ein wirksames Verfügungsgeschäft vorliegen (dingliche Einigung). • Der Erwerber muss einen guten Glauben an die rechtsgeschäftliche (§ 185 Abs. 1 BGB) oder gesetzliche (z. B. §§ 373 Abs. 2, 389 HGB) Verfügungs- bzw. Vertretungsbefugnis haben. • Es müssen der sonstigen Voraussetzungen der §§ 932 ff. BGB, 1207 f. BGB vorliegen, insbesondere darf es sich nicht um abhanden gekommene (z.  B. gestohlene) Sachen handeln (§ 935 BGB).

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Liegen die vorgenannten Voraussetzungen vor, kann ein Erwerb vom Nichtberechtigten kraft guten Glaubens an die Verfügungsbefugnis stattfinden (§ 366 Abs.  1 BGB). In §  366 Abs.  2 und 3  HGB wird die Regelung erweitert auf den

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lastenfreien Eigentumserwerb sowie auf den Erwerb bestimmter gesetzlicher Pfandrechte (z. B. des Frachtführers oder des Lagerhalters). Beispiel

Ein Handelsvertreter vertreibt Waren des Herstellers zu vereinbarten Konditionen, häufig auch in einem bestimmten Bezirk. Es erübrigt sich, das Eigentum an den Waren vom Hersteller auf den Handelsvertreter und weiter auf den Kunden zu übertragen, zumal dadurch mit Zeit- und Geldverlusten zu rechnen ist. Infolgedessen erhält der Handelsvertreter die Verfügungsbefugnis, d.h. das Recht, im Namen des Herstellers über dessen Eigentum zu verfügen. Der Kunde erwirbt das Eigentum durch Einigung und Übergabe nach § 929 BGB, obwohl offensichtlich ist, dass der Handelsvertreter nicht Eigentümer der Waren ist, sondern über fremdes Eigentum verfügt, denn der gute Glaube des Kunden an die Verfügungsbefugnis des Handelsvertreters über das Eigentum des Herstellers reicht für den Eigentumserwerb aus. ◄

Gutgläubiger Erwerb (§ 366 HGB) Prüfschema 1. Dingliche Einigung (dinglicher Vertrag) 2. Übergabe (= Besitzverlust oder -erwerb)

§ 929 S. 1 BGB

3. Einigsein zum Zeitpunkt der Übergabe 4. Nichtberechtigung des Verfügenden 5. Kaufmannseigenschaft des Verfügenden §§ 1 - 6 HGB 6. Betriebsbezogenheit: Verfügung im Betrieb des Handelsgewerbes 7. Guter Glaube des Erwerbers an die rechtsgeschäftliche (§ 185 Abs. 1 BGB) oder gesetzliche (Bsp. §§ 383 BGB, 373 Abs. 2, 389 HGB) Verfügungsbefugnis des Veräußerers Erfolgt die Verfügung zwar betriebsbezogen, aber dennoch außerhalb des Handelsgewerbes, sind erhöhte Anforderungen an die Gutgläubigkeit des Erwerbes zu stellen. (BGH NJW 1999, 425 (426)) 8. Kein Abhandenkommen, § 935 HGB

 Gutgläubiger Erwerb nach § 366 HGB

5.6.1.8 Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht Das Handelsrecht gewährt dem Kaufmann in den §§ 369 – 372 HGB mit dem sog. 927 „kaufmännischen Zurückbehaltungsrecht“ ein bedeutendes Sicherungsrecht, welches als Leistungsverweigerungs- und Verwertungsrecht neben das allgemeine Zurückbehaltungsrecht aus § 273 BGB tritt und zudem Besonderheiten aufweist.

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5 Handelsrecht

Nach dem allgemeinen Zurückbehaltungsrecht aus § 273 BGB kann der Schuldner seine Leistung solange verweigern, bis die ihm gebührende Leistung bewirkt wird. Dieses Zurückbehaltungsrecht setzt allerdings voraus, dass der Schuldner gegen den Gläubiger einen fälligen Anspruch hat, der zu seiner Verpflichtung „konnex“ ist, also auf demselben rechtlichen Verhältnis beruht (=  Konnexität; Abschn. 2.5.7). Auf diese Konnexität verzichtet der § 369 HGB, es ist gerade keine Konnexität zwischen den Rechtsbeziehungen erforderlich. Außerdem sind die Rechtsfolgen des kaufmännischen Zurückbehaltungsrechts vorteilhafter als nach dem bürgerlichem Recht, da dem Kaufmann neben dem Leistungsverweigerungsrecht nun zusätzlich ein besonderes Verwertungsrecht zusteht (§ 371 HGB). Die Voraussetzungen des kaufmännischen Zurückbehaltungsrechts folgen aus § 369 HGB: • Gläubiger und Schuldner müssen Kaufleute sein („Ein Kaufmann hat … gegen einen anderen“). • Die Forderung, wegen der zurückbehalten wird, muss grundsätzlich eine fällige Geldforderung aus einem beiderseitigen Handelsgeschäft, d. h. betriebsbezogen sein. Dabei reicht es aus, dass die bestehende Forderung (z. B. aus Leistungsstörung oder auf Herausgabe) in eine Geldforderung übergehen kann. Konnexität ist dagegen nicht erforderlich, d. h. Gegenstand des Zurückbehaltungsrechts und die Geldforderung können aus verschiedenen Handelsgeschäften stammen. • Gegenstand des kaufmännischen Zurückbehaltungsrechts sind nur bewegliche Sachen und Wertpapiere, nicht dagegen – wie in § 273 BGB – sonstige Rechte. • Die Gegenstände müssen grundsätzlich im Eigentum des Schuldners stehen. Dabei kommt es auf das Eigentum des Schuldners im Zeitpunkt des Entstehens und nicht der Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts an. Andernfalls könnte der Schuldner durch Übereignung (z. B. nach § 931 BGB) den § 369 HGB zum Nachteil des Gläubigers umgehen. • Der Gläubiger muss schließlich mit Willen des Schuldners den Besitz an dem Gegenstand handelsgeschäftlich erlangt und noch innehaben, wobei alle Arten des Besitzes ausreichend sind. • Das Zurückbehaltungsrecht darf nicht durch Vereinbarung (z. B. AGB) oder Gesetz ausgeschlossen sein. Gesetzliche Ausschlussgründe liegen vor, wenn ein Dritter einen Herausgabeanspruch an der Sache hat, die Zurückbehaltung missbräuchlich wäre oder der Schuldner eine andere Sicherheit stellt (§§  369 Abs. 2–4 HGB).

Beispiel

Der Kaufmann K bringt sein Dienstfahrzeug zur Reparatur in die Werkstatt der S-GmbH. Nach Beendigung der Reparatur macht die S-GmbH die Herausgabe des Fahrzeugs davon abhängig, dass K eine noch offene Rechnung aus einem vorhergehenden Reparaturauftrag bezahlt. Auch wenn hier keine Konnexität der

5.6 Handelsgeschäfte

373

gegenseitigen Ansprüche vorliegt, ist ein Leistungsverweigerungsrecht aus kaufmännischem Zurückbehaltungsrecht nach § 369 HGB möglich. ◄ Das kaufmännische Zurückbehaltungsrecht gewährt dem Gläubiger auf der 929 Rechtsfolgenseite ein Recht zur Leistungsverweigerung. Gegen den Herausgabeanspruch des Schuldners kann der zurückbehaltungsberechtigte Gläubiger die Zurückbehaltungseinrede erheben und damit die Herausgabe der Sache zunächst verweigern. Wird der Herausgabeanspruch allerdings von einem Dritten geltend gemacht, steht dem Gläubiger die Einrede nur insoweit zu, als dem Dritten auch die Einwendungen gegen den Anspruch des Schuldners auf Herausgabe entgegengesetzt werden können (§ 369 Abs. 2 HGB). Überdies wird dem Gläubiger ein Verwertungsrecht zugestanden. Er kann sich aus dem zurückbehaltenen Gegenstand befriedigen (§ 371 Abs. 1 HGB), indem er entweder die Geldforderung einklagt und aus dem Zahlungstitel die Zwangsvollstreckung in den zurückbehaltenden Gegenstand betreibt (pfänden und verkaufen), oder er kann aus einem Vollstreckungstitel (Urteil oder vollstreckbare Urkunde) vorgehen, indem er den Gegenstand durch öffentliche Versteigerung, freihändigen Verkauf oder durch einen Gerichtsvollzieher verkaufen lässt (§ 371 Abs. 3 HGB). Die Verwertung richtet sich wegen der pfandrechtsähnlichen Wirkung nach den allgemeinen pfandrechtlichen Vorschriften (§§ 1204 ff. BGB). In der Insolvenz des Schuldners berechtigt das kaufmännische Zurückbehaltungsrecht den Gläubiger schließlich zur abgesonderten, d.  h. von der sonst quotalen Befriedigung im Insolvenzverfahren unabhängigen Befriedigung aus dem zurückbehaltenen Gegenstand (§§ 50, 51 Nr. 3 InsO).

5.6.2 Handelskauf Zu den in der Praxis bedeutendsten Handelsgeschäften gehört der Handelskauf. 930 Auf ihn finden neben den allgemeinen kaufrechtlichen Vorschriften der §§ 433 ff. BGB die handelsrechtlichen Sonderregelungen der §§ 373–381 HGB Anwendung. Ein Handelskauf liegt vor, wenn bei einem Kaufvertrag über Waren oder Wert- 931 papiere der Verkäufer oder der Käufer (oder beide) Kaufmann ist und zumindest bei einer der beiden Parteien das Geschäft zum Betrieb des Handelsgewerbes gehört (§ 433 BGB i. V. m. §§ 343–345, 381 Abs. 1 HGB). Das bedeutet im Einzelnen: • Es muss ein Kaufvertrag i. S. d. § 433 BGB vorliegen, der auf den Erwerb von beweglichen Sachen (= Waren), Wertpapieren (§ 381 Abs. 1 HGB) oder die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen (sog. Werklieferungsverträge, §  381 Abs.  2  HGB) gerichtet ist. Sind Grundstücke, Rechte oder Forderungen Kaufgegenstand, kann zwar ein Handelsgeschäft nach § 343 HGB vorliegen, allerdings kein Handelskauf nach §§ 373 ff. HGB. • Der Kauf muss Handelsgeschäft sein, d. h. es muss sich um ein Geschäft eines Kaufmanns (§§  1–6  HGB) handeln, das zum Betrieb seines Handelsgewerbes

374

5 Handelsrecht

gehört (§  343 Abs.  1  HGB); letzteres wird im Zweifel vermutet (§  344 Abs. 1 HGB). • Es genügt, wenn der Kauf nur für eine der Parteien ein Handelsgeschäft ist, also nur ein einseitiger Handelskauf vorliegt; die Vorschriften zur Hinterlegung, den Selbsthilfeverkauf, den Spezifikationskauf und den Fixhandelskauf (§§ 373–376 HGB) finden daher Anwendung, wenn nur der Verkäufer oder nur der Käufer Kaufmann ist und das Geschäft als betriebsbezogen gilt. Eine Ausnahme gilt bezüglich der Vorschriften über die Mängelrüge und die Aufbewahrungspflichten (§§  377 und 379  HGB); sie gelten nur für den beiderseitigen Handelskauf, d. h. es müssen sowohl der Verkäufer als auch der Käufer Kaufleute sein und beide müssen den Kauf im Rahmen ihres Handelsgeschäfts tätigen.

5.6.2.1 Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf Befindet sich der Käufer bei einem Handelskauf im Annahmeverzug (§§  293  ff. BGB; Abschn. 1.6.5.4) werden für den Verkäufer die Hinterlegung, Versteigerung und der Selbsthilfeverkauf erleichtert. 933 Der Verkäufer hat das Recht, die Kaufgegenstände auf Gefahr und Kosten des Käufers in sicherer Weise zu hinterlegen. Dabei muss die Hinterlegung – anders als im Rahmen des § 372 BGB – nicht bei einer öffentlichen Hinterlegungsstelle erfolgen, sondern es ist auch die Hinterlegung in einem öffentlichen Lagerhaus oder in sonst sicherer Weise zulässig, z. B. bei einem privaten Lagerhalter oder in eigenen Lagerräumen (§ 373 Abs. 1 HGB). Während der Verkäufer nach § 372 S. 1 BGB nur Geld, Wertpapiere, sonstige Urkunden und Kostbarkeiten (z. B. Edelsteine) hinterlegen kann, gestattet §  373 Abs.  1  HGB die Hinterlegung jeder Ware (bewegliche Sache). Die Hinterlegung erfolgt auf Gefahr und Kosten des Käufers (§ 373 Abs. 1 HGB), was bedeutet, dass der Verkäufer bei ordnungsgemäßer Hinterlegung den Kaufpreis selbst dann vom Käufer verlangen kann, wenn die Ware bei der Hinterlegungsstelle untergeht (z. B. durch einen Brand). 932

Beispiel

Weil die B-Bank mit der Annahme gekaufter Computer in Verzug geraten ist, lässt Großhändler G die Geräte bei seinem gewissenhaften Geschäftsfreund L einlagern, wo einige gestohlen werden. Da G wegen des Annahmeverzugs der B-Bank die Geräte zu Recht bei L hinterlegt hat, muss die B-Bank die Kosten der Hinterlegung tragen. Ferner muss sie den vollen Kaufpreis zahlen, da mit der sorgfältigen Auswahl des L durch G die Hinterlegung der Geräte als ordnungsgemäß angesehen werden muss und die B-Bank demnach die Gefahr des Verlustes der Geräte zu tragen hat. ◄ 934

Zum anderen steht dem Verkäufer das Recht zum Selbsthilfeverkauf nach Maßgabe des §  373 Abs.  2–5  HGB zu. Auch dieses Recht geht weiter als die Möglichkeit zur Versteigerung hinterlegungsunfähiger Sachen nach § 383 BGB.

5.6 Handelsgeschäfte

375

Der Verkäufer kann nach § 373 Abs. 2–5 HGB die Ware an jedem Ort öffentlich versteigern oder freihändig verkaufen. Allerdings ist dies dem Käufer vorher anzudrohen, um ihm die Möglichkeit der Erfüllung sowie des Mitbietens zu eröffnen (§ 373 Abs. 2 S. 1 HGB). Lediglich bei verderblichen Ware, Gefahr im Verzug oder wenn die vorherige Androhung aus anderen Gründen untunlich ist (z. B. wenn der Käufer bereits zu verstehen gegeben hat, dass er an der Ware nicht mehr interessiert ist), kann auf diese Androhung verzichtet werden (§ 373 Abs. 2 Satz 2 HGB). Die Durchführung der öffentlichen Versteigerung richtet sich nach §  373 Abs. 5 HGB. Danach muss der Verkäufer den Käufer über Zeit und Ort der Versteigerung informieren und über den Vollzug des Verkaufs unterrichten. Im Fall der öffentlichen Versteigerung können Käufer und Verkäufer mitbieten (§  373 Abs. 4 HGB). Ein freihändiger Verkauf ist nur bei Waren oder Wertpapieren möglich, die einen Börsen- oder Marktpreis haben. Der Selbsthilfeverkauf erfolgt für Rechnung des säumigen Käufers (373 Abs.  3  HGB), wenngleich der Veräußerungsprozess vom Verkäufer durchgeführt wird. Er hat dabei die Stellung eines Beauftragten des Käufers, sodass sich seine Rechte und Pflichten gegenüber dem Käufer aus §§  662  ff. BGB ergeben, insbesondere kann er vom Käufer Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er nach den Umständen für erforderlich halten durfte (z. B. Portokosten). Während des Selbsthilfeverkaufs bleibt der Kaufpreisanspruch zunächst bestehen, so dass der Käufer eigentlich die Herausgabe des Erlöses aus dem Selbsthilfeverkauf verlangen könnte. Da aber der Verkäufer die Durchführung veranlasst und den Erlös zunächst in den Händen hält, kann er seinen Kaufpreisanspruch gegen den Anspruch auf Herausgabe des Erlöses aufrechnen, so dass sein Anspruch erlischt. Sollte der Verkaufspreis die Forderung nicht decken, bleibt der Käufer auf die Differenzzahlung verpflichtet. Beispiel

Im zuvor geschilderten Fall lässt der G die Geräte öffentlich versteigern, nachdem er der B-Bank die Versteigerung angedroht und über Ort und Zeit derselben telefonisch informiert hat. Im Termin ersteigert der G die Geräte selbst, und zwar zu einem Preis, der unter dem mit der B-Bank vereinbarten Kaufpreis liegt. Da vorliegend die öffentliche Versteigerung ordnungsgemäß erfolgte (§ 373 Abs. 2 und 5 HGB), ist nichts dagegen einzuwenden, dass G die Ware am Ende selbst ersteigert, § 373 Abs. 4 HGB. In der Folge müsste der G den Versteigerungserlös an die B-Bank herausgeben, kann jedoch im Gegenzug von der B-Bank den Kaufpreis und den Ersatz seiner Aufwendungen verlangen. Diese gleichartigen Zahlungsansprüche lassen sich gegeneinander aufrechnen (§ 387 BGB). Da aber der Erlös nicht die gesamte Forderung des G deckt, bleibt die B-Bank zur Zahlung der Restforderung weiterhin verpflichtet. ◄

376

5 Handelsrecht

5.6.2.2 Spezifikationskauf §  375  HGB regelt den sog. Spezifikations- oder Bestimmungskauf, bei dem der Käufer die Eigenschaften der Kaufsache nach Abschluss des Vertrags noch näher zu bestimmen hat, d. h. die Parteien zunächst nur vereinbaren, aus welchem Grundstoff die Waren zu erstellen sind, und dabei übereinkommen, dass dem Käufer die nähere Bestimmung über Form, Maß, Farbe etc. überlassen bleibt (§  375 Abs.  1  HGB). Während die Spezifikation durch den Käufer nach dem bürgerlichen Recht lediglich eine Obliegenheit darstellt (i. S. einer mitwirkenden Gläubigerhandlung), wird sie im Handelsrecht zu einer Hauptleistungspflicht (§ 375 Abs. 2 HGB), d. h. der Käufer ist verpflichtet, diese Bestimmung vorzunehmen. 936 Gerät der Käufer mit dieser Spezifikationspflicht in Verzug, so sieht §  375 Abs. 2 HGB die folgenden Rechtsfolgen vor: 935

• Der Verkäufer kann die Bestimmung selbst vornehmen (Selbstspezifikation), er muss sie dem Käufer mitteilen und ihm dabei eine Frist zur Vornahme einer anderweitigen Spezifikation setzen. Läuft diese Frist fruchtlos ab, so wird die Bestimmung des Verkäufers maßgebend. Der Käufer muss die Ware dann in der Weise abnehmen, wie sie der Verkäufer konkretisiert hat (§ 375 Abs. 2 S. 3 HGB).

Beispiel

Geschäftsführerin G der Musikschule-GmbH bestellt beim Instrumentehersteller Good Sounds AG eine E-Gitarre der Edition „Rockstar 3000“. Zum Zeitpunkt der Bestellung kann sie sich noch nicht entscheiden, ob sie als Tonabnehmer sog. Humbucker oder Single Coils haben will und welche Farbe die Gitarre haben soll. Die Good Sounds AG räumt ihr hierfür eine „Bestellungsfrist“ von zwei Monaten ein. Als G sich nach Ablauf dieser Frist nicht meldet, bestimmt Verkaufsleiter X der Good Sounds AG, dass das Instrument mit zwei Humbuckern ausgestattet wird und in neongrün lackiert werden soll. G wird um Rückmeldung binnen 14 Tagen gebeten. Wenn sich G nun nicht meldet, wird die Festlegung bzw. Bestimmung des Verkaufsleiters maßgebend und die Musikschule-GmbH muss die E-Gitarre in dieser Ausführung (zwei Humbucker und neongrün) abnehmen. Der Verkäufer könnte anstatt der eigenen Spezifikation auch eine Nachfrist mit Ablehnungsandrohung setzen und nach fruchtlosem Verstreichen dieser Frist Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen oder vom Vertrag zurücktreten. ◄ • Daneben kann der Verkäufer weiterhin Erfüllung der Spezifikation und Ersatz des Verzugsschadens verlangen (§§ 280 Abs. 1 u. 2, 286 BGB) oder unter den Voraussetzungen des §  323 BGB vom Vertrag zurücktreten (§§  375 Abs.  2 S. 1 HGB).

5.6 Handelsgeschäfte

377

• Da sich der Käufer aufgrund der fehlenden Spezifikation nicht nur im Schuldnerverzug befindet, sondern oftmals die Sache auch nicht mehr abnimmt (=  Annahmeverzug), ergibt sich für den Verkäufer außerdem die Möglichkeit der Hinterlegung und des Selbsthilfeverkaufs (§ 373 HGB).

5.6.2.3 Fixhandelskauf Im Handel ist die pünktliche Lieferung besonders wichtig, weshalb das Gesetz Re- 937 gelungen zum Fixhandelskauf vorsieht, also einem Handelskauf, bei dem die Leistung zumindest einer Partei zu einer fest bestimmten Zeit oder innerhalb einer bestimmten Frist bewirkt werden soll. Das Fixgeschäft ist bereits aus dem bürgerlichen Recht bekannt. Bei Fix- 938 geschäften ist die Leistungszeit für eine Partei derart wesentlich, dass mit ihrer Einhaltung das Geschäft „stehen und fallen soll“. • Ist die Leistungszeit so wesentlich, dass deren Nichteinhaltung die Erfüllung unmöglich macht (z.  B.  Buchung einer Flugreise), liegt ein sog. absolutes ­Fixgeschäft vor. Die Nichteinhaltung der vereinbarten Leistungszeit führt zur Unmöglichkeit i. S. des § 275 Abs. 1 BGB der ganzen Leistung (der Zweck des Vertrages lässt sich nicht mehr erreichen) und der Gläubiger kann Schadensersatz statt Leistung geltend machen (§§ 280 Abs. 1 und 3, 283 S. 1 BGB). • Ist die Leistungsz eit zwar wesentlich, aber die verspätete Leistung kann durchaus nachgeholt und erfüllt werden, selbst wenn sie für den Gläubiger wenig sinnvoll ist (z. B. bestellte Hochzeitstorte kann erst nach der Hochzeit geliefert werden), liegt ein sog. relatives Fixgeschäft vor. Der Gläubiger hat in diesem Fall ein sofortiges Rücktrittsrecht (§ 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB; Abschn. 2.1.6). Der Fixhandelskauf nach §  376  HGB ist eine Sonderform des relativen Fix- 939 geschäftes. Er hat daher dieselben Voraussetzungen wie § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Der Fixhandelskauf ist ein Handelskauf (§§ 433 BGB, 343 HGB) aus dessen Vereinbarung hervorgehen muss, dass mit der Einhaltung der Leistungszeit der Vertrag „stehen und fallen“ soll. Der kaufmännische Verkehr bedient sich dazu bestimmter Klauseln, wie „fix“, „präzise“, „genau“, „prompt“. §  376 Abs.  1  HGB gewährt dem Gläubiger (Käufer)  – im Vergleich zu den 940 Rechtsfolgen nach dem bürgerlichen Recht (§  281 Abs.  1 BGB)  – umfassendere Rechte. Neben dem uneingeschränkt bestehenden Rücktrittsrecht erhält der Käufer zusätzlich einen Schadensersatzanspruch, der den Verzug des Verkäufers nach § 286 BGB voraussetzt. Auf das Erfordernis der Fristbestimmung zur Nacherfüllung (vgl. § 280 Abs. 1 u. 3 i. V .m. § 281 Abs. 1 S. 1 BGB) wird dabei verzichtet, was im Handelsrecht beschleunigend wirkt. Die Höhe des Ersatzanspruchs kann nach Wahl des Käufers abstrakt oder konkret berechnet werden (§§ 376 Abs. 2–4 HGB). Die abstrakte Berechnung erfolgt im Wege eines hypothetischen Deckungskaufs oder -verkaufs bei dem der ortsübliche Börsen- oder Marktpreis der Ware als Maßstab angesetzt wird (§ 376 Abs. 2 HGB). Bei einer konkreten Schadensberechnung wird der Deckungskauf bzw. -verkauf, ähnlich eines Selbsthilfeverkaufs, sofort nach Ablauf der bedungenen Leistungszeit oder Leistungsfrist in öffentlicher Ver-

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5 Handelsrecht

steigerung durch einen Handelsmakler oder durch einen Versteigerer durchgeführt (§  376 Abs.  3  HGB). Schließlich kann der Käufer  – anders als im bürgerlichen Recht – weiterhin Erfüllung verlangen, sofern er seinen Wunsch sofort nach dem verstrichenen Termin anzeigt (§ 376 Abs. 1 S. 2 HGB).

5.6.2.4 Untersuchungs- und Rügepflicht Im Interesse einer zügigen und rechtssicheren Abwicklung von Handelskäufen soll der Verkäufer möglichst schnell Gewissheit darüber haben, ob der Käufer das Geschäft als ordnungsgemäß abgewickelt ansieht oder nicht. Die Regeln des bürgerlichen Rechts, insbesondere das Sachmangelrecht (§§ 433, 434, 437 BGB), stehen diesem Bedürfnis entgegen, da der Verkäufer unter Umständen noch bis zu zwei Jahre  nach Übergabe der Sache mit Gewährleistungsrechten seiner Vertragspartner rechnen muss (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB). Der Käufer kann sich u. U. lange überlegen, ob er mit Gewährleistungsansprüchen an den Verkäufer herantreten will. So könnte der Käufer einer Saisonware, die er im September leicht mangelbehaftet erhalten hat, bis zum Beginn des neuen Jahres mit der Geltendmachung von Mängelrügen warten. Der Verkäufer kann dann regelmäßig mit dieser Ware natürlich nichts mehr anfangen. Für den beiderseitigen Handelskauf ist diese Situation jedoch unbefriedigend, weshalb das Handelsrecht zur Beschleunigung des Geschäftsverkehrs eine kaufmännische Untersuchungs- und Rügeverpflichtung mit Genehmigungsfiktion vorsieht. Danach hat der Käufer von Waren und Wertpapieren diese unverzüglich nach der Ablieferung durch den Verkäufer, soweit dies im ordnungsgemäßen Geschäftsgang tunlich ist, auf ihre Vertragsgemäßheit zu untersuchen und, sofern sich ein Mangel zeigt, diesen dem Verkäufer unverzüglich anzuzeigen (§  377 Abs. 1 HGB). Verletzt der Käufer diese Verpflichtung (z. B. weil er die Ware nicht auf Mangelhaftigkeit hin untersucht oder einen entdeckten Fehler nicht rechtzeitig anzeigt), gilt die gelieferte Ware als genehmigt und vertragsgemäß, gleich welchen Mangel sie aufweist, und der Käufer verliert seine Mängelgewährleistungsrechte aus dem Kaufvertrag (§ 377 Abs. 2 Hs. 1 HGB). 942 § 377 HGB beschreibt eine (Rüge-)Obliegenheit des Käufers, d. h. eine Pflicht (nur) „gegen sich selbst“ und im eigenen Interesse. Daher kann eine Verletzung auch nicht zu Schadensersatzansprüchen des Verkäufers gegen den Käufer führen, wenn dieser die in § 377 HGB genannten Pflichten nicht erfüllt. Vielmehr schadet sich der Käufer lediglich selbst, weil er – wie beschrieben – wichtige Ansprüche gegen den Verkäufer verliert. 943 Die Voraussetzungen zur Anwendbarkeit der kaufmännischen Untersuchungsund Rügepflicht lassen sich wie folgt zusammenfassen: 941

• Beiderseitiger Handelskauf: Der Kauf (oder Werklieferungsvertrag) über die Waren oder Wertpapiere (§  381  HGB) muss für beide Vertragsparteien ein Handelsgeschäft darstellen („für beide Teile“), d. h. beide Parteien müssen Kaufleute i. S. der §§ 1–6 HGB sein und das Geschäft muss zum Betrieb ihres jeweiligen Handelsgewerbes gehören (§§  343, 344  HGB). Falls das Geschäft nicht

5.6 Handelsgeschäfte

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zum Betrieb des Handelsgewerbes gehört oder eine Partei kein Kaufmann ist, entfallen die in § 377 HGB benannten Pflichten. • Ablieferung: Die Ware muss an den Käufer abgeliefert worden sein. Ablieferung bedeutet hier nicht notwendig Übergabe i.  S. des §  929 BGB, sondern entscheidend ist, dass der Käufer in eine tatsächliche räumliche Beziehung zu der Ware kommt, damit er deren Beschaffenheit prüfen kann; das könnte auch bei einem Dritten geschehen, der die Ware erhalten hat. • Sachmangel: Die Ware muss mit einem Sachmangel i. S. des § 434 BGB behaftet sein. Dies ist der Fall, wenn die Ware bei Gefahrübergang nicht den subjektiven und objektiven Anforderungen entspricht. Ebenso bei fehlerhaften Montagen oder Montageanleitungen, wie auch Aliudlieferungen oder Minderlieferungen (Abschn. 2.1.4). • Redlichkeit des Verkäufers: Die Fiktionswirkung des §  377  HGB („Genehmigungsfiktion“) kann nur ausgelöst wenn, wenn der Verkäufer seinerseits redlich gehandelt hat (§ 377 Abs. 5 HGB). Hieran fehlt es, wenn der Verkäufer einen ihm bekannten Mangel arglistig verschwiegen hat; § 377 HGB findet dann keine Anwendung. Ist die Vorschrift des § 377 HGB anwendbar, stellt sich die Frage nach dem In- 944 halt und Umfang der (Rüge-)Obliegenheit (sog. Rügelast). Dabei kann ganz allgemein vorab festgehalten werden, dass sich die Rügeverpflichtung nach der Erkennbarkeit des Mangels richtet. War der Mangel unmittelbar nach Übergabe der Sache und bei gebotener Untersuchung erkennbar, muss die Rüge unverzüglich erfolgen. War der Mangel in diesem Zeitpunkt trotz gebotener Untersuchung noch nicht feststellbar, ein sog. versteckter oder verdeckter Mangel, kommt es im Hinblick auf die Rüge auf den Zeitpunkt der Entdeckung des Mangels an, §  377 Abs. 3 HGB. Inhalt und Umfang der gebotenen Untersuchungspflicht bestimmen sich danach, was von einem Kaufmann unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise erwartet werden kann. Dabei sind besondere kaufmännische Sorgfaltspflichten (§ 347 HGB) ebenso zu beachten, wie bestehende Handelsbräuche (§ 346 HGB), Art und Menge der gelieferten Waren sowie die technische und finanzielle Zumutbarkeit. Beispiel

Bei einem Möbelstück wird z. B. eine äußere Kontrolle, ggf. eine Belastbarkeitsprüfung ausreichend sein, während bei gelieferten Farben eine Prüfung hinsichtlich Licht- und Farbechtheit, ggf. auch chemische Untersuchungen zu Gesundheitsgefahren oder der Säurebeständigkeit erforderlich werden. Bei größeren Warenmengen (Massengüter, Containerware) sind Stichproben ausreichend (ca. 5 % der Gesamtmenge), ggf. nach vorheriger Behandlung (z. B. Auftauen von Tielfkühlwaren). Bei Maschinen sind Testläufe durchzuführen. ◄

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5 Handelsrecht

Wurde ein Mangel (Sach-, Mengenfehler oder Artabweichung) entdeckt, erfüllt der Käufer seine Rügepflicht, wenn er dem Verkäufer die Abweichung anzeigt (= Mängelrüge), wobei es auf die rechtzeitige Absendung der Anzeige ankommt (§ 377 Abs. 4 HGB) und nicht auf den Zugang beim Verkäufer. Insofern trägt die Gefahr der verzögerten Zustellung oder des Verlustes der Anzeige der Verkäufer. Die Mängelrüge bedarf keiner besonderen Form und muss den Mangel auch nicht fachkundig beschreiben, allerdings so substantiiert, dass der Verkäufer Art und Umfang der gerügten Mängel einschätzen kann (i. d. R. ist das Beschreiben der Symptome ausreichend). Die Rüge muss unverzüglich erfolgen, d. h. der Käufer muss dem Verkäufer einen Mangel ohne schuldhaftes Zögern anzeigen (§ 121 Abs. 1 BGB). Die Frist zur unverzüglichen Rüge beginnt, wenn sich ein Mangel zeigt (§ 377 Abs. 1 HGB). Infolgedessen müssen offensichtliche Mängel, die ohne längere Untersuchung bereits von außen erkennbar sind, sofort nach Erhalt der Ware gerügt werden. Dagegen können verborgene Mängel (z. B. Fehler in einem Softwareprogramm, die sich erst bei der intensiven Nutzung des Programms zeigen) erst gerügt werden, wenn sie entdeckt werden. Das kann trotz ordnungsgemäßer Untersuchung bei Ablieferung auch erst zu einem späteren Zeitpunkt sein (§ 377 Abs. 3 HGB). Beispiel

Der Produzent P hat vom Hersteller H hat eine Abfülleinrichtung für seine Produktionsanlage käuflich erworben. Bei Anlieferung hat P einen Testlauf durchgeführt, wobei er insbesondere die Grundfunktionen testete. Nach einem halben Jahr – die Maschine ist nunmehr in die Produktionsstraße verbaut – zeigt sich ein Programmierfehler, der beim Zulauf von heißen Stoffen zu einem zeitverzögerten Abfüllen führt. Hier liegt ein typischer „verborgener Mangel“ vor, der sich erst bei der vollständigen Inbetriebnahme der Maschine zeigen konnte. Daher kann und muss der P jetzt rügen. ◄ Die Bedingungen der Untersuchungs- und Rügepflicht sind nicht zwingend vorgeschrieben, sondern dispositives Recht. Daher können die Parteien individualvertragliche Abweichungen definieren, sie können die Vorgaben abmildern, verschärfen oder ausschließen (z. B. in AGB oder Qualitätssicherungsvereinbarungen). 946 Rechtsfolge einer unterlassenen oder verspäteten Mängelrüge (nicht der Untersuchung) ist die Genehmigung der Ware als vertragsgemäß (§  377 Abs.  2 Hs. 1 HGB), so dass der Käufer jedenfalls seine Mängelgewährleistungsrechte aus dem Kaufvertrag verliert, die an das Vorliegen eines Sachmangels anknüpfen (§ 437 BGB). Letzteres ist nämlich durch die „Genehmigung“ (der Ist-Beschaffenheit auch als Soll-Beschaffenheit) nicht mehr anzunehmen. 945

5.6 Handelsgeschäfte

381

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Untersuchungs- und Rügepflicht I

Untersuchungs- und Rügepflicht (§ 377 HGB): Prüfschema (Teil 2 von 2) Voraussetzungen 4. bis 6. 4. Sachmangel i.S.v. § 434 BGB 5. Wurde die Untersuchungs- und Rügepflicht vom Käufer beachtet?  Untersuchung der Ware nach Ablieferung auf Mangelhaftigkeit  Unverzügliche (§ 121 Abs. 1 S. 1 BGB) Mängelanzeige gegenüber dem Verkäufer a) Offener Mangel, § 377 Abs. 1 HGB  unverzüglich nach Ablieferung b) Versteckter Mangel, § 377 Abs. 3 HGB  unverzüglich nach Entdeckung 6. Kein Arglistiges Verschweigen durch den Verkäufer, § 377 Abs. 5 HGB

Rechtsfolge Bei nicht ordnungsgemäßer Rüge gilt die Ware als genehmigt

Untersuchungs- und Rügepflicht II

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5 Handelsrecht

5.6.3 Sonstige Handelsgeschäfte 947

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Im Handelsgesetzbuch sind neben den allgemeinen Vorschriften für Handelsgeschäfte und den besonderen Bestimmungen für den Handelskauf weitere Handelsgeschäfte geregelt, die insbesondere den Transport und die Lagerhaltung anbetreffen und aufgrund ihrer Bedeutung wenigstens kurz skizziert werden.

5.6.3.1 Frachtgeschäft Das Frachtgeschäft ist nach § 407  HGB ein Handelsgeschäft, durch das sich der Frachtführer zur Beförderung von Gütern gegen Entgelt verpflichtet. Der Frachtführer übernimmt durch Frachtvertrag gewerbsmäßig die Beförderung von Gütern zu ihrem Bestimmungsort (§ 407 Abs. 1 HGB). Der Frachtvertrag ist ein Werkvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter zwischen dem Absender und dem Frachtführer, der die Güterbeförderung für den Absender übernimmt. Die Personenbeförderung sowie die Güterbeförderung zur See und in der Luft sind nicht Gegenstand des Frachtvertrages und werden in Sondergesetzen geregelt. Für den Frachtvertrag gelten neben den Vorschriften des Handelsgesetzbuches (§§ 407–450 HGB) das Güterkraftverkehrsgesetz, die Kraftverkehrsverordnung, die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den gewerblichen G ­ üternahverkehr (AGNB) sowie das Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR). Aus dem Frachtvertrag ist der Frachtführer in erster Linie dazu verpflichtet, das Gut zum Bestimmungsort zu befördern und dort an den Empfänger abzuliefern (§ 407 Abs. 1 HGB). Dabei hat er u. a. die Weisungen des Absenders zu befolgen (§ 418 HGB) und Sorgfaltspflichten zu wahren (§ 412 HGB). Der Frachtführer haftet für den Schaden, der durch Verlust und Beschädigung des Gutes in der Zeit von der Annahme bis zur Ablieferung oder durch Versäumung der Lieferzeit entsteht, es sei denn, dass der Verlust, die Beschädigung oder die Verspätung auf Umständen beruhen, die durch die Sorgfalt eines ordentlichen Frachtführers nicht abgewendet werden konnten (§§ 425 ff. HGB). Die Ansprüche gegen den Frachtführer verjähren binnen eines Jahres vom Zeitpunkt der Ablieferung des Frachtgutes an, sofern die Verjährungsfrist nicht vertraglich verlängert wurde (§ 439 Abs. 2 HGB). Der Absender ist verpflichtet, dem Frachtführer Zahlung zu leisten (§  407 Abs. 2 HGB, §§ 631 ff. BGB) und seine Aufwendungen zu ersetzen (§§ 675, 670 BGB). Ferner muss er die notwendigen Dokumente erstellen und aushändigen, wie Frachtbriefe und Begleitpapiere (§§ 408, 413 HGB). Der Frachtführer kann über die Verpflichtung zur Auslieferung des Frachtgutes einen Ladeschein anfordern (§§ 443 ff. HGB), der vor allem in der Binnenschifffahrt Bedeutung hat. Der Ladeschein gehört zu den kaufmännischen Orderpapieren (Abschn. 5.7), der überdies einen Rechtsschein für einen rechtmäßigen Besitz setzt. Zur Besicherung seines Vergütungsanspruch besitzt der Frachtführer ein gesetzliches Pfandrecht (sog. Frachtführerpfandrecht nach § 440 HGB), das gegenüber anderen, zumeist früher begründeten Pfandrechten an den Gütern Vorrang genießt (§ 442 HGB).

5.6 Handelsgeschäfte

383

5.6.3.2 Speditionsgeschäft Das Speditionsgeschäft ist ein Handelsgeschäft, durch das sich der Spediteur dazu verpflichtet, die Versendung eines Gutes gegen Vergütung zu besorgen (§  453 Abs. 1 HGB). Dabei handelt der Spediteur für fremde Rechnung (= des Versenders) in eigenem Namen. Rechtsgrundlagen des Speditionsgeschäfts sind die §§ 453–466 HGB, die durch die Allgemeinen Deutschen Spediteurbedingungen (ADSp) abgeändert und ergänzt sind. Der Speditionsvertrag ist ein Geschäftsbesorgungsvertrag u. a. zwischen dem Kaufmann i. S. der §§ 1–6 HGB (Versender) und einem Spediteur, wonach der Spediteur dem Kaufmann die Versendung von Gütern (keine Personenbeförderung) besorgt. Daraus ergibt sich, dass der Spediteur die Beförderung grundsätzlich nicht selbst durchführt, sondern sich dazu eines Frachtführers bedient, mit dem er in eigenem Namen Frachtverträge schließt. Das Speditionsgeschäft ist demnach durch mehrere voneinander zu trennende Rechtsgeschäfte gekennzeichnet. Auf der einen Seite steht der Speditionsvertrag zwischen dem Versender und dem Spediteur (= Grundgeschäft) und auf der anderen Seite der Frachtvertrag zwischen Spediteur und Frachtführer (= ­Ausführungsgeschäft), während zwischen dem Versender und dem Frachtführer keine vertraglichen Rechtsbeziehungen bestehen. Die Leistung des Spediteurs ist in erster Linie eine Organisationsleistung (vgl. § 454 HGB). Der Spediteur organisiert für den Versender den Transport, kümmert sich insbesondere um die Bestimmung des Beförderungsmittels und des Beförderungsweges, um die Auswahl der ausführenden Unternehmer, den Abschluss der für die Versendung erforderlichen Frachtverträge einschließlich Versicherungen und Zollformalitäten bei Auslandsgeschäften sowie die Erteilung von Informationen und Weisungen an die ausführenden Unternehmer. Übernimmt der Spediteur die Versendung entgegen der Regel selbst, macht er von seinem Selbsteintrittsrecht nach § 458 HGB Gebrauch und wird zudem zum Frachtführer (§ 407 ff. HGB). Die Pflichten des Spediteurs ergeben sich aus § 454 HGB. Dazu gehören u. a. Versendungs- und Interessenwahrungspflichten, Pflicht zur Befolgung der Weisungen des Versenders (z.  B. bei Vorgaben zu Transportweg und –mittel), Sorgfaltspflichten, Pflicht zur Empfangnahme, Aufbewahrung, Versicherung des Transportgutes. Bei schuldhafter Verletzung der speditionsspezifischen Pflichten haftet der Spediteur dem Versender entweder aus den Sonderregelungen zum Speditionsvertrag (§§ 461, 462 HGB) oder aus den allgemeinen Grundsätzen des bürgerlichen Rechts (§§ 280, 241 Abs. 2 BGB). Die Pflichten des Versenders (= Rechte des Spediteurs) bestehen in der Verpflichtung zur Leistung einer Vergütung an den Spediteur (§ 453 Abs. 2 HGB), die mit Übergabe des Gutes an den Frachtführer fällig wird (§ 456 HGB). Ferner hat er Aufwendungsersatz im Hinblick auf Versicherung, Zollgebühren, Lagerkosten usw. zu leisten (§ 454 Abs. 2 HGB, §§ 675, 670 BGB) und ist für die ordnungsgemäße Verpackung und Kennzeichnung des Gutes verantwortlich (§ 455 Abs. 1 HGB).

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Zur Besicherung des Vergütungsanspruchs besitzt der Spediteur ein gesetzliches Pfandrecht am Sicherungsgut (§ 464 HGB).

5.6.3.3 Lagergeschäft Das Lagergeschäft ist ein Handelsgeschäft, durch das sich der Lagerhalter zur Lagerung und Aufbewahrung von Gütern gegen Vergütung verpflichtet (§ 467 Abs. 1 und 2 HGB). Durch den Lagervertrag übernimmt der Lagerhalter gewerbsmäßig die Lagerung und Aufbewahrung von fremden und lagerfähigen Gütern (kein Geld, keine Wertpapiere oder Tiere). Dabei geht das Handelsrecht grundsätzlich von der sog. Einzellagerung aus (Umkehrschluss aus § 469 HGB; z. B. in Regalen). Daneben ist aber auch die Lagerform der sog. Sammellagerung vertretbarer Sachen möglich (§ 469 HGB; z. B. in Getreidesilos), bei der es zur Vermischung mit anderen Gütern von gleicher Art und Güte kommen kann. Während bei der Einzellagerung das Alleineigentum des Einlagerers bestehen bleibt und der Lagerhalter unmittelbarer Besitzer wird, werden die Eigentümer bei der Sammellagerung zu Miteigentümern und der Lagerhalter zum Mitbesitzer mehrerer Einlagerer. Er ist zur Aussonderung und Auslieferung der Anteile der Miteigentümer befugt (§ 469 Abs. 2 und 3 HGB, §§ 948, 947, 1008 ff, 741 ff. BGB). Der Lagervertrag verpflichtet den Lagerhalter zur Lagerhaltung und Aufbewahrung (§ 467 Abs. 1 HGB), Erteilung eines Orderlagerscheins nach der Verordnung über Orderlagerscheine (§§ 475c ff. HGB), Versicherung des Lagergutes bei Verlangen des Einlagerers (§ 472 Abs. 1 HGB), Überwachung des Lagergutes und Benachrichtigung des Einlagerers bei Veränderungen oder drohenden Schäden (§  471 Abs.  2  HGB), ggf. zum Selbsthilfeverkauf nach §  373  HGB (§  471 Abs. 2 S. 3 HGB), Interessenwahrung, Gewährung des Zugangs zum Lagergut zum Zweck der Besichtigung und der Entnahme von Proben durch den Einlagerer (§ 471 Abs. 1 HGB).  Für Verlust oder Beschädigung des Lagergutes haftet der Lagerhalter nach § 475 HGB und im Übrigen nach den allgemeinen Bestimmungen des bürgerlichen Rechts (§§ 280, 241 Abs. 2 BGB). Der Einlagerer ist verpflichtet (= Rechte des Lagerhalters) die vereinbarte Vergütung (§ 467 Abs. 2 HGB) sowie Aufwendungsersatz (§ 474 HGB) zu leisten. Zur Besicherung des Vergütungsanspruchs besitzt der Lagerhalter ein gesetzliches Pfandrecht am Lagergut (§ 475b Abs. 1 HGB).

5.7 968

5 Handelsrecht

Die kaufmännischen Orderpapiere

Die Übertragung von Sachen und Rechten erfolgt gemeinhin nach den Regeln des bürgerlichen Rechts durch Eigentumsübertragung (§§ 929 ff. BGB) oder durch Abtretung (§ 398 ff. BGB). Im kaufmännischen Geschäftsverkehr kann bei der Eigentumsübertragung durch Einigung und Übergabe ein erheblicher Zeitverlust entstehen. Ferner kann bei einer Eigentumsübertragung durch Einigung und Abtretung des Herausgabeanspruchs, wie auch bei der Abtretung von Rechten, die Unsicher-

5.7  Die kaufmännischen Orderpapiere

385

heit aufkommen, ob die abgetretene Forderung existiert, ob sie dem Gläubiger zusteht und ob die abgetretene Forderung den behaupteten Inhalt hat. Abgesehen von der weiteren Gefahr der Unwirksamkeit von Übereignungsvorgängen im Zuge von mehrfachen Veräußerungen kann der Schuldner schließlich ggf. Einreden und Einwendungen aus den Schuldnerschutzvorschriften des Abtretungsrechts geltend machen und auch dadurch die geschäftlichen Abläufe stark verzögern. Eine deutlich höhere Verkehrsfähigkeit von Rechten kann demgegenüber 969 durch Urkunden erreicht werden, die das Bestehen des Rechts verbriefen, und bei deren Übertragung auch das darin verkörperte Recht mit übergeht. Überhaupt erfüllen die Wertpapiere wichtige Funktionen: • Beweisfunktion der Urkunde: die Urkunde garantiert den Bestand des Rechts. • Legitimationsfunktion der Urkunde: die Urkunde weist den Inhaber als Berechtigten aus. • Transportfunktion der Urkunde: durch die Übertragung der Urkunde wird das darin verbriefte Recht übertragen. Man sagt: „Das Recht aus dem Papier folgt dem Recht am Papier“. Die kaufmännischen Orderpapiere sind Wertpapiere i. e. S. und bewirken eine 970 Erleichterung des Güterumlaufs, denn die Übertragung des im Orderpapier verbrieften Rechts ersetzt die Übertragung des Eigentums an den Waren. Das Recht aus dem Papier, beispielsweise der Herausgabeanspruch auf das Lager- oder Frachtgut, folgt dem Recht am Papier, z. B. des Lager- oder Frachtscheins. Damit kann der Berechtigte allein durch Vorlage des Orderpapiers die Herausgabe der Wirtschaftsgüter verlangen. Der verpflichtete Lagerhalter, Frachtführer oder eine andere Person kann dann im guten Glauben an die Berechtigung aus dem Orderpapier mit befreiender Wirkung die Waren an denjenigen herausgeben, der das Papier vorlegt. Durch die rechtswirksame Übertragung des Orderpapiers wird das Eigentum an den Wirtschaftsgütern übertragen. Die Wertpapiere treten im Warenumlauf an die Stelle der Güter und lassen sich auch ohne weiteres mehrfach übertragen. Beispiel

Die Import-GmbH erhält eine Schiffsladung Rum aus Jamaika, der bis zum Zeitpunkt des Weiterverkaufs und der Veredelung in einem Hamburger Lagerhaus aufbewahrt wird. Der Lagerhalter stellt einen Lagerschein (= Orderpapier) aus. Die Übertragung des Eigentums an dem Lagerschein hat die Wirkung der Eigentumsübertragung an dem Lagergut, so dass die Import-GmbH den Jamaika-­Rum durch eine Orderklausel auf dem Lagerschein veräußern kann, ebenso wie der Erwerber durch eine weitere Orderklausel auf dem Lagerschein das Recht am Lagergut weiterveräußern kann (vgl. § 475g HGB). Das Recht des Eigentümers zur Herausgabe verkörpert sich dabei in dem Papier. ◄

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5 Handelsrecht

Zu den Orderpapieren gehören neben dem Wechsel, dem Namensscheck und der Namensaktie auch die kaufmännischen Papiere, die in §  363  HGB einzeln aufgeführt sind, namentlich: • Die kaufmännische Anweisung ist eine Anweisung i. S. des § 783 BGB, die auf einen Kaufmann über die Leistung von Geld, Wertpapiere oder andere vertretbare Sachen ausgestellt ist. Sie erscheint in der Praxis häufig als Lieferschein, durch den der Aussteller einen Dritten (z. B. den Lieferanten) anweist, Waren an den legitimierten Inhaber des Lieferscheins auszuliefern, ohne dass die Leistung von einer Gegenleistung abhängig gemacht ist. • Der kaufmännische Verpflichtungsschein ist ein abstraktes Schuldversprechen i. S. von § 780 BGB, das von einem Kaufmann ausgestellt ist und in dem er sich zur Leistung von Geld, Wertpapieren oder anderen vertretbaren Sachen verpflichtet, ohne dass seine Leistung von einer Gegenleistung abhängig gemacht ist. • Das Konnossement (§§ 513 ff. HGB) und der Ladeschein (§§ 443 ff. HGB) sind Wertpapiere (Traditionspapiere), die von einem Frachtführer ausgestellt sind und in denen sich dieser zur Auslieferung des zur Beförderung übernommenen Gutes an den durch Ladeschein Ausgewiesenen verpflichtet. • Der Lagerschein als ein Wertpapier, das von einem Lagerhalter ausgestellt ist und in dem sich dieser zur Auslieferung des eingelagerten Gutes an den durch den Lagerschein Ausgewiesenen verpflichtet (z.  B.  Transportversicherungsscheine). • Die Transportversicherungspolice als ein Wertpapier, das der Versicherer bei der Transportversicherung ausstellt und in dem die Ansprüche aus der Versicherung wegen der Gefahren der Beförderung verbrieft sind.

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Diese in § 363 HGB benannten kaufmännischen Wertpapiere werden durch eine sog. Orderklausel (Vermerk auf dem Papier) zu Orderpapieren und daher als „gekorene Orderpapiere“ bezeichnet. Im Unterschied dazu sind Wechsel, Scheck und Namensaktie ohne eine solche Klausel Orderpapiere und werden daher als „geborene Orderpapiere“ bezeichnet. Allerdings kann bei einem Wechsel oder Scheck die Übertragbarkeit durch eine negative Orderklausel „nicht an Order“ ausgeschlossen werden. Ein Scheck kann ferner durch eine Überbringerklausel auf den Inhaber gestellt werden. Orderpapiere lauten stets auf eine namentlich benannte Person oder deren Order. Zur Legitimation muss der Berechtigte außer der Vorlage des Papiers auch die namentliche Bezeichnung auf dem Papier vorweisen. Durch die Orderklausel, also dem Vermerk auf dem Papier (z. B. „an die Order des Herrn X“), erhält nämlich der namentlich Benannte erst die Möglichkeit, die verbriefte Leistung an einen anderen zu „beordern“. Dies geschieht durch Indossament, d.  h. einen unterschriebenen Übertragungs- bzw. Begebungsvermerk auf dem Papier, zumeist auf dessen Rückseite (= in dorso, in dosso). Das Indossament bewirkt die Übertragung der Rechte aus dem Papier auf den Begünstigten (§ 364 HGB). Durch Einigung, Übergabe und Indossament wird das in dem Orderpapier verbriefte Recht auf einen Erwerber übertragen, ähnlich wie beim Eigentums-

5.8  Internationaler Handelsverkehr

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erwerb, nur kommt zu der mündlichen Einigung bei der Übertragung eines verbrieften Rechtes das Indossament hinzu. Deshalb wird das in einem Orderpapier verbriefte Recht nicht nach den Vorschriften über die Abtretung, sondern nach den Bestimmungen über den Eigentumsübergang nach §§ 929 ff. BGB übertragen. Fragen

28. Was sind Handelsgeschäfte? 29. Was versteht man unter einem Handelsbrauch? 30. Benennen Sie einen besonders geläufigen Fall eines Handelsbrauchs beim Vertragsabschluss und erläutern Sie dessen Voraussetzungen! 31. Belegen oder widerlegen Sie die Richtigkeit der folgenden Aussage: „Das Handelsrecht erweitert die Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs.“! 32. Welche Rechtsfolgen treten ein, wenn die kaufmännischen Sorgfaltspflichten verletzt werden? 33. Der Händler K bestellt beim Großhändler V 500 Dosen „Erbsen fein“. Die von V am 1. Oktober gelieferte Ware ist verdorben und ungenießbar. Das erfährt K erst von einer Kundin am 25. Oktober. Deshalb rügt er am selben Tag den Mangel gegenüber V. Rechte des K? 34. Im vorherigen Fall liefert V 520 Dosen „Erbsen mittelfein“ von einwandfreier Qualität. K ruft sofort nach Ankunft der Ware an und teilt ihm mit, dass falsche Erbsen geliefert worden seien, verschweigt aber, dass er statt 500 Dosen 520 Dosen erhalten hat. K will 500 Dosen unter Minderung des Kaufpreises behalten und 20 Dosen gegen Rückzahlung des Kaufpreises zurückgeben. Rechtslage? 35. Obsthändler E übergibt dem Lagerhalter L Boskop-Äpfel der Handelsklasse I zur Sammellagerung; L stellt einen Orderlagerschein aus. Bevor L die Äpfel mit den bereits bei ihm lagernden Äpfeln der Handelsklasse I vermischt, verlangt E die Hälfte seiner Äpfel heraus. Kann L ihm auch andere Äpfel derselben Handelsklasse ausliefern? 36. Frachtführer F transportiert für den Absender A eine Maschine zum Ort des Empfängers E. Als E die Auslieferung der Maschine verlangt, weist A den F an, die Maschine zurückzubringen. Wie muss sich der F verhalten und welche Rechte hat er?

5.8

Internationaler Handelsverkehr

Der internationale Handel wird durch die rechtlichen Rahmenbedingungen welt- 975 weit begleitet. Dabei finden sich die einschlägigen Regelungen in erster Linie auf der staatlichen Ebene, wobei nach den Grundsätzen des Internationalen Privatrechts zuvor geklärt werden muss, welche staatlichen Regelungen Anwendung finden. Daneben gibt es partiell auch völkerrechtliche Übereinkommen, Regelungen supranationaler Organisationen (WTO, Europäische Union) sowie weltweit geltende Gebräuche, die insbesondere von den Internationalen Handelskammern zusammen

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5 Handelsrecht

getragen und bekannt gemacht werden. Nachfolgend sollen zwei bedeutende, international relevante Regelungsgegenstände vorgestellt werde, das UN-Kaufrecht, basierend auf einem völkerrechtlichen Vertrag und die Incoterms, als internationale Handelsklauseln.

5.8.1 UN-Kaufrecht Das UN-Kaufrecht (englisch: UN-Convention on Contracts for the International Sale of Goods, kurz: CISG) vereinheitlicht den grenzüberschreitenden Warenverkehr. Es ist ein völkerrechtliches Abkommen, dem die Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar 1991 beigetreten ist. Mittlerweile haben insgesamt mehr als 90 Teilnehmerstaaten (abrufbar unter: https://uncitral.un.org/en/texts/salegoods/conventions/sale_of_goods/cisg/status, 20.01.2022) ihren Beitritt erklärt, darunter u. a. die VR China, Japan, die USA, Russland und sämtliche Staaten Europas – mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs. Die Vereinheitlichung von Rechtsordnungen weltweit, insbesondere des Sach977 rechts, ist nicht einfach, da die rechtlichen Grundlagen zumeist sehr divergent sind und die Staaten ungern Einschränkungen oder Kompromisse in ihrem n­ ationalen Sachrecht eingehen wollen. Daher kann das CISG durchaus als großer Erfolg gelten. Hier ist es tatsächlich – einem praktischen Bedürfnis folgend – gelungen, ein weltweit vereinheitlichtes Sachrecht (sog. Einheitsrecht) zu schaffen, das den Regelungen zum Internationalen Privatrecht und den nationalen Sachrechten vorgeht. Das CISG gilt als ein modernes Kaufrechtsgesetz mit Modellcharakter zur Vereinheitlichung des Rechts für grenzüberschreitende Warenkäufe. 976

5.8.1.1 Anwendungsbereich Das CISG schafft ein Sonderrecht für Kauf- und Werklieferungsverträge über Waren (sachlicher Anwendungsbereich), bei denen die Vertragsparteien ihre Niederlassungen erkennbar in verschiedenen Staaten haben (räumlich-­persönlicher Anwendungsbereich). Die Anwendung des CISG ist im Gegensatz zum HGB nicht an den Kaufmannsbegriff geknüpft; ebenso unerheblich ist die Staatsangehörigkeit der Vertragsschließenden (Art. 1 Abs. 3 CISG). In der Praxis werden allerdings die Vertragsparteien zumeist Kaufleute sein, insbesondere weil Käufe für den persönlichen Gebrauch zum großen Teil vom Anwendungsbereich des CISG ausgeschlossen sind (Art. 2 lit. a CISG). Vom CISG sind nach Art.  1 Abs.  1 CISG Kaufverträge über Waren  – also 979 Kaufverträge über bewegliche Sachen  – sowie Werklieferungsverträge erfasst (Art. 3 Abs. 1 CISG). Das CISG ist hingegen nicht anwendbar auf Immobilienkäufe, Rechtskäufe (z. B. Patente, Geschäftsanteile) sowie Wertpapier- oder Zahlungsmittelkäufe (Art. 2 lit. d) CISG). Ebenso wenig auf Tauschgeschäfte, Finanzierungsleasing sowie reine Dienst- oder Werkverträge (Art. 3 Abs. 2 CISG). Käufe für den persönlichen Gebrauch sind ebenfalls vom sachlichen Anwendungsbereich ausgeschlossen, sofern der Verkäufer um den privaten Zweck wusste oder diesen kennen musste (Art. 2 lit. 978

5.8  Internationaler Handelsverkehr

389

a CISG), wodurch insbesondere die Anwendung nationalen Verbraucherschutzrechts gewährleistet bleiben soll. Typengemischte Verträge unterliegen nur dann dem CISG, wenn der überwiegende Teil der Verpflichtungen (kauffremden Pflichten  mehr als 50 %) in den Anwendungsbereich der CISG fällt (Art. 3 Abs. 2 CISG). In räumlicher Hinsicht fordert das CISG, dass entweder die Parteien des Kauf- 980 vertrages ihre (Haupt-)Niederlassung i.  S.  d. Art.  10 CISG in zwei unterschiedlichen Vertragsstaaten haben (Art.  1 Abs.  1 lit. a) oder das Kollisionsrecht zum Recht eines Vertragsstaates führt (Art. 1 Abs. 1 lit. b). Insofern gibt es zwei Wege, die zum CISG führen – über den Vertragsstaatenstatus oder das Kollisionsrecht. Oftmals ist der Anwendungsbereich bereits nach Art.  1 Abs.  1 lit. a CISG eröffnet, da bereits zahlreiche Staaten dem CISG beigetreten sind und als Vertragsstaaten gelten. Haben die Parteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses über den Kauf von Waren ihre jeweilige (Haupt-)Niederlassung in verschiedenen Vertragsstaaten (internationaler Bezug), ist der Anwendungsbereich nicht nur sachlich sondern auch räumlich eröffnet. Beispiel

Der Textilmaschinenhersteller H aus Paris und der Textilverarbeiter T aus Mailand schließen einen Kaufvertrag über Textilmaschinen, die der H an den P binnen 3 Monaten liefern soll. Das CISG ist auf das Vertragsverhältnis anwendbar. Gegenstand des Kaufvertrages sind Textilmaschinen, d. h. geschuldet ist die Lieferung von beweglichen Sachen. Die Vertragsparteien haben ihre Hauptniederlassung in verschiedenen Staaten, und sowohl Frankreich als auch Italien sind dem UN-Abkommen bereits 1988 beigetreten. ◄ Das CISG kann aber  – unabhängig vom Beitritt der Staaten (Vertragsstaatenstatus)  – anwendbar sein, wenn das Kollisionsrecht in Form des Internationalen Privatrechts (IPR) zur Anwendung des Rechts eines Vertragsstaates führt und dieser Staat keinen Vorbehalt nach Art. 95 erklärt hat (Art. 1 Abs. 1 lit. b CISG). Der Vorbehalt eröffnet den Vertragsstaaten die Möglichkeit, die Anwendbarkeit des CISG partiell auszuschließen (z. B. bezogen auf bestimmte Geschäftstätigkeiten oder aber auf bestimmte Vorschriften des CISG); er wird bereits bei Vertragsbeitritt erklärt und dokumentiert. Beispiel

Der Gartengerätehersteller M aus Pforzheim verpflichtet sich gegenüber dem Käufer K aus London/Großbritannien zur Lieferung von 50 Kettensägen; eine Rechtswahl treffen M und K nicht. Nachdem die Sägen geliefert wurden, stellt K fest, dass die Sägeblätter zu kurz dimensioniert sind und überlegt, welches Recht auf seinen Vertrag anwendbar ist. M und K haben einen „Kaufvertrag über Waren“ i. S. d. Art. 1 Abs. 1 CISG abgeschlossen, so dass der sachliche Anwendungsbereich des CISG eröffnet ist. Der räumliche Anwendungsbereich ist dagegen zunächst nicht eröffnet (Art. 1

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5 Handelsrecht

Abs.  1 lit. a CISG), da zwar Deutschland Vertragsstaat ist, nicht aber Großbritannien. Aber: Das CISG könnte über Art. 1 Abs. 1 lit. b CISG doch zur Anwendung kommen, wenn die Regeln des IPR (in Europa die ROM-I-VO) zur Anwendung des Rechts eines Vertragsstaates führen. Dies ist vorliegend der Fall. Denn nach Art. 4 Abs. 1 lit. a ROM I-VO unterliegen Kaufverträge dem Recht des Staates, in welchem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Damit verweisen die Regelungen des IPR auf das Recht eines Vertragsstaates, nämlich Deutschland; das CISG ist daher gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. b CISG auch vollumfänglich anwendbar, da Deutschland keinen Vorbehalt formuliert hat. ◄ 981

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Die Parteien können privatautonom durch vertragliche Vereinbarung die Anwendbarkeit des CISG ausschließen, von einzelnen Bestimmungen abweichen oder deren Wirkung ändern (Art.  6 CISG; beachte aber die Einschränkung in Art. 12 CISG). Sofern sie das CISG ausschließen, bedarf es allerdings einer eindeutigen Rechtswahl (z. B. „Auf den Vertrag ist das deutsche BGB anwendbar.“). Eine Vereinbarung nur auf das Recht eines Vertragsstaates (z. B. „Es gilt deutsches Recht“) genügt nicht, da das CISG durch den Transformationsakt (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) integraler Bestandteil des nationalen Rechts geworden ist und bei einer solchen Klausel („deutsches Recht“) entsprechend weiter gilt, ja sogar Vorrang vor dem BGB und HGB genießt.

5.8.1.2 Regelungsbereich Das CISG stellt – als Verkörperung eines Kompromisses aus verschiedenen internationalen Handelsrechtsordnungen  – kein umfassendes und abschließendes Regelwerk dar, sondern es regelt ausschließlich das Zustandekommen der Verträge (Art.  14  ff. CISG), Rechte und Pflichten der Vertragsparteien (Art.  30  ff. CISC, Art. 53 ff. CISG) sowie die sich daraus ergebenden Ansprüche bei Pflichtverletzung (Art. 45 ff. CISG; Art. 61 ff. CISG). Das CISG beschränkt sich daher auf den Abschluss und die Durchführung des Verpflichtungsgeschäfts im engeren Sinne. Das CISG gliedert sich in vier Teile: • Teil I (Art. 1–13 CISG) enthält Vorschriften über den Anwendungsbereich und einige wenige allgemeine Festlegungen, wie Auslegung von Willenserklärungen, Begriff der Niederlassung, Geltung von Gebräuchen, Form von Rechtsgeschäften. • Teil II (Art. 14–24 CISG) regelt den Abschluss bzw. das Zustandekommen von Verträgen (vergleichbar zu §§ 145 ff. BGB). • Teil III (Art. 25–88 CISG) enthält die speziellen Vorschriften zum Warenkauf (z.  B.  Qualität der Ware), zu den Rechten und Pflichten der Vertragsparteien sowie die sich daraus ergebenden Ansprüche bei Pflichtverletzung (vergleichbar mit §§ 320 ff., 433 ff. BGB, 373 ff. HGB). • Teil IV (Art. 89–101 CISG) benennt die völkerrechtlichen Schlussbestimmungen.

5.8  Internationaler Handelsverkehr

391

Nicht in den Regelungsbereich des CISG eingeschlossen, und damit dem 983 Kollisionsrecht vorbehalten, bleiben Fragen betreffend: • • • • • •

Geschäfts- und Rechtsfähigkeit (Art. 4 S. 2 lit. a CISG), Willensmängeln, insbesondere Täuschung und Anfechtung, Gesetzes- und Sittenwidrigkeit von Erklärungen, Stellvertretung bei Abgabe von Erklärungen, Sachenrechtliche Übertragung und Eigentumsübergang (Art. 4 S. 2 lit. b CISG), (deliktische) Haftung für Gesundheits- und Körperschäden sowie Tod (Art. 5 CISG), • Aufrechnung und Abtretung (streitig, Art. 4 S. 2 lit. b CISG ), • Verjährung von Ansprüchen. Bei den ausgeklammerten Regelungsbereichen handelt es sich um Rechts- 984 institute, die der Rechtssetzer bewusst ausgeklammert hat (sog. bewusste bzw. externe Lücke), nicht zuletzt deshalb, weil hier oftmals die Rechtsordnungen der Nationalstaaten bzw. deren Auslegungen sehr unterschiedlich sind, was sich auch nicht einfach überwinden lässt (man denke hier nur an die Auslegung des Begriffs „Sittenwidrigkeit“). Beispiel

Der Verkäufer V aus Stuttgart verkauft 1000 neue Tablets an den Käufer K in Frankreich. Im Vertrag haben sich die Parteien auf die Verkaufsbedingungen des V geeinigt. Diese sehen vor, dass im Fall einer vertragswidrigen Lieferung dem K keinerlei Rechtsbehelfe zustehen sollen. K möchte wissen, ob eine solche Klausel nach dem CISG nichtig ist. K will die Nichtigkeit der Ausschlussklausel feststellen. Dabei kann ihm das CISG nicht weiterhelfen. Zwar wäre das CISG nach Art. 1 Abs. 1 lit. a CISG auf den Kaufvertrag über Tablets sachlich und räumlich anwendbar, allerdings trifft es weder Aussagen zur Gültigkeit von Verträgen, noch zu einzelnen Bestimmungen, z. B. Vertragsklauseln (Art. 4 S. 2 lit. a CISG). Dem K bleibt nur mehr die Rechtsordnung, auf die das Kollisionsrecht verweist. Vorliegend würde Art. 4 ROM I-VO zur deutschen Rechtsordnung verweisen, weshalb die Wirksamkeit der Klausel („vollständiger Gewährleistungsausschluss beim Kauf neuer Waren“) an den §§  307, 310 BGB zu messen wäre. ◄

5.8.1.3 Lückenfüllung (Art. 7 Abs. 2 CISG) Sofern eine Frage zu behandeln ist, die weder offensichtlich in den Regelungs- 985 bereich des CISG fällt noch per se ausgeschlossen ist, liegt eine unbewusste bzw. interne Lücke des Gesetzes vor. Diese kann nach Art. 7 Abs. 2 CISG geschlossen werden. Vorrangig sind dabei die allgemeinen Grundsätze des CISG zu berücksichtigen, indem einzelne Vorschriften auf die zu beurteilenden Sachverhalte analog angewandt werden (z. B. die Anwendung des Art. 13 CISG auf E-Mails) oder indem

392

5 Handelsrecht

auf allgemeine Prinzipien und Grundsätze des CISG (z. B. Grundsatz der Privatautonomie, Art. 6 CISG) oder des internationalen Handels im Allgemeinen zurückgegriffen wird (z. B. Pflicht zum kooperativen und sorgfältigen Handeln, Aufhebung eines Vertrages als ultima ratio). Beispiel

Beispiel für eine zulässige analoge Anwendung ist die erweiternde Auslegung des Art. 13 CISG (Schriftformerfordernis) z. B. auf E-Mail, Telefax, ggf. SMS etc. Der Gesetzgeber konnte 1991 die wachsende Bedeutung dieser Übermittlungsformen nicht absehen – hätte er dies vorhergesehen, ist davon auszugehen, dass er sie ins Gesetz mit aufgenommen hätte. Ferner ist die Herausarbeitung allgemeiner Grundsätze über den Lückenschluss gestattet: Grundsatz von Treu und Glauben lässt sich z.  B. aus Art.  7 Abs. 1 CISG herleiten; Prinzipien der Verwirkung und des Vertrauensschutzes folgen aus Art. 16 Abs. 2 lit. b und Art. 29 Abs. 2 S. 2 CISG. ◄ Erst wenn eine analoge Anwendung von Vorschriften oder Prinzipien nicht möglich erscheint oder ein allgemeiner Grundsatz aus dem CISG nicht herauslesbar ist, ist eine kollisionsrechtliche Verweisung vorzunehmen und die Lücke nach nationalem Recht zu schließen. 987 Bei einer bewussten Lücke des CISG ist zu beachten, dass sich dessen Verfasser gerade nicht auf eine Lösung haben einigen können oder wollen. Insofern darf die Schließung einer solchen Lücke aufgrund eines (vermeintlichen) allgemeinen Grundsatzes des CISG überhaupt nur ausnahmsweise und mit der gebotenen Vorsicht durchgeführt werden. 986

Beispiel

Das CISG gibt einen Zinsanspruch ab Fälligkeit (Art. 78, 84 Abs. 1 CISG), regelt jedoch nicht die Zinshöhe. Da es sich um eine bewusste Lücke der Vertragsschließenden handelt, wird ein allgemeiner Grundsatz zu dieser Frage aus dem CISG kaum herauszuarbeiten sein. Maßgeblich ist also gem. Art. 7 Abs. 2 CISG das nach Kollisionsrecht anwendbare Recht. Nach h. M. wird die Zinshöhe dem Vertragsstatut entnommen (Bacher, in: Schlechtriem/Schwenzer/Schroeter, Kommentar zum UN-Kaufrecht (CISG) 7. Auflage 2019, Art. 78 Rn. 27 mit weiteren Nachweisen). ◄ 988

5.8.1.4 Form Nach dem CISG können Kaufverträge und Werklieferungsverträge grds. formfrei abgeschlossen werden (Art. 11 CISG). Das ist nicht selbstverständlich, da es zahlreiche Staaten gibt, die Kaufverträge nur formgebunden zulassen (z. B. in den USA im Uniform Commercial Code; aber auch in Lateinamerika). Um diesen unterschiedlichen Rechtstraditionen gerecht zu werden, erlaubt das CISG, dass die Vertragsstaaten die Anwendung des Art. 11 CISG ausschließen kön-

5.8  Internationaler Handelsverkehr

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nen (Art.  96, 12 CISG). Hat ein Staat eine Erklärung i.  S.  d. Art.  96 CISG abgegeben, dann richtet sich die Form des Kaufvertrages nach dem jeweils anwendbaren nationalen Recht, welches über Kollisionsrecht bestimmt wird. Beispiel

V aus Deutschland verkauft an K aus Chile Bergbauausrüstungen im Wert von 3 Mio. US-Dollar. Als V in Chile weilt, bittet ihn K ein weiteres Bauteil im Wert von 50.000 US-Dollar zu einem bestimmten Termin zu liefern. V sagt die Lieferung zu. Ob hier ein wirksamer Vertrag zustande gekommen ist, hängt davon ab, ob Formvorgaben zu erfüllen waren. Vorliegend ist das CISG grds. anwendbar, denn beide Parteien kommen aus Vertragsstaaten des CISG.  Gemäß Art.  11 CISG kommt ein Vertrag danach eigentlich formlos zustande. Aber Chile hat den Vorbehalt nach Art.  96 CISG erklärt, so dass sich die Frage nach dem Formerfordernis nun nach dem anwendbaren nationalen Recht beantwortet. Entsprechend allgemeiner Grundsätze des IPR ist  – sofern keine supranationalen Bestimmungen vorliegen – das Recht des Staates anwendbar, in welchem der Verkäufer seinen Sitz hat, weshalb deutsches Recht zur Anwendung käme. Nach den deutschen Bestimmungen kann der Vertrag bzw. die Vertragsergänzung formlos zustande kommen. Wäre V dagegen aus Chile, dann wäre chilenisches Recht anwendbar und der Vertrag wäre nach chilenischem Recht formbedürftig und daher zunächst noch unwirksam. ◄ Bei internationalen Verträgen vereinbaren die Parteien im Interesse der Rechts- 989 sicherheit häufig die Schriftform. Entsprechende Klauseln sind sog. Entire-­ Agreement-­Klauseln, die die Schriftform bei allen wesentlichen Vereinbarungen einfordern, oder sog. NOM- (no oral modification clauses) oder Four-­Corner-­ Klauseln, die Änderungen oder Ergänzungen an das Schriftformerfordernis binden.

5.8.1.5 Vertragsschluss (Art. 14–24 CISG) Der Vertrag ist nach dem CISG in dem Zeitpunkt geschlossen, in dem die Annahme 990 des Angebots wirksam wird (Art.  23 CISG). Der Vertrag bedarf also zweierlei, einem Angebot und der Annahme. Das Angebot (Art. 14 Abs. 1 CISG) ist der Vorschlag zum Abschluss des Ver- 991 trages. Das Angebot muss hinsichtlich der Ware, der Menge, des Vertragspartners und des Preises bestimmt oder bestimmbar sein (Art. 14 CISG). Ist der Preis nicht bestimmt, kann im Einzelfall auch Art.  55 CISG weiterhelfen (Vermutungsregel, z. B. „marktüblicher Preis“). Soweit das Angebot nicht an eine bestimmte Person gerichtet ist, liegt nur eine invitatio ad offerendum (Art. 14 Abs. 2 CISG) vor (z. B. Website). Das Angebot wird mit dem Zugang beim Empfänger wirksam (Art. 15 Abs. 1 CISG). Der Zugang richtet sich nach Art. 24 CISG, er erfolgt, wenn das Angebot mündlich erklärt oder zugestellt wird.

394

5 Handelsrecht

Bis zum Abschluss des Vertrages kann das Angebot frei widerrufen werden (Art. 16 Abs. 1 CISG), sofern der Widerruf dem Empfänger zugeht, bevor dieser seine Annahmeerklärung abgesandt hat (sog. „mailbox-Regel“ aus dem angloamerikanischen Recht). Dies gilt nicht, wenn das Angebot zum Ausdruck bringt, dass es unwiderruflich ist (Art. 16 Abs. 2 lit. a CISG) oder wenn der Empfänger vernünftigerweise darauf vertrauen konnte, dass das Angebot unwiderruflich ist, und er im Vertrauen auf das Angebot gehandelt hat (Art. 16 Abs. 2 lit. b CISG). 993 Das Angebot erlischt mit Zugang der Ablehnung (Art. 17 CISG) oder wenn es innerhalb der gesetzten oder angemessenen Frist nicht angenommen wird (Art. 18 Abs. 2 S. 2 CISG). 994 Als Annahme ist jede Erklärung oder sonstiges Verhalten zu werten, das die Zustimmung zum Angebot ausdrückt (Art. 18 Abs. 1 CISG). Schweigen stellt allein keine Annahme dar (Art. 18 Abs. 1 S. 2 CISG); etwas anderes kann jedoch aufgrund von ständig praktizierten Gebräuchen und Gepflogenheiten gelten. Auch die Annahme wird mit Zugang beim Anbietenden wirksam (Art. 18 Abs. 2 CISG). 992

Beispiel

Der A aus Deutschland bietet B aus Belgien eine Maschine zum Preis von 20.000 EUR an. Er gibt ein entsprechendes Angebot am 3. Mai ab und bittet um Rückantwort. Am 10. Mai bietet der C dem A für die Maschine 21.000 EUR und nimmt sie sofort mit. Welche Rechte hat B? Keine, denn der Vertrag zwischen A und B ist noch nicht zustande gekommen, die Annahme ist noch nicht erfolgt. A muss sein Angebot an B nach Art.  16 Abs.  1 CISG aber noch widerrufen, bevor dieser eine Annahmeerklärung absendet. Wäre anders zu entscheiden, wenn A den B gebeten hätte sich bis zum 15. Mai zu erklären? Ja, vgl. Art. 16 Abs. 2 lit. a CISG. ◄ Sofern Angebot und Annahme inhaltlich übereinstimmen, kommt der Vertrag zustande (Art. 19 CISG); der Vertrag kann durch eine Vereinbarung jederzeit geändert oder aufgehoben werden (Art. 29 CSIG). 996 Bei inhaltlichen Abweichungen zwischen Angebot und Annahme, die auch nicht mittels Auslegung (Art. 8 CISG „wahrer Wille“ oder „Gepflogenheiten/Gebräuche“) beseitigt werden können, kommt es darauf an: Liegt eine wesentliche Abweichung vor, dann ist die Erklärung als Ablehnung verbunden mit einem Gegenangebot zu werten (Art. 19 Abs. 1 und 3 CISG). Liegt eine nur unwesentliche Abweichung vor, dann wird die Erklärung als Annahme behandelt, es sei denn, der Anbietende widerspricht unverzüglich (Art. 19 Abs. 2 CISG). In der Praxis wird gerade wegen der Vermutungsregel des Art. 19 Abs. 3 CISG fast jede Änderung als eine wesentliche behandelt, so dass es auf die Widerlegung der Vermutung im Einzelfall ankommt. 995

5.8  Internationaler Handelsverkehr

395

Beispiel

Die K aus Deutschland bestellt bei dem italienischen Fleischgroßhändler F 200 t fest verpackten frischen Speck. Die Annahme des F enthielt den Hinweis, dass der Speck nur unverpackt geliefert werden kann. Vertragsschluss? Nein. Zwar findet sich der Begriff „Verpackung“ nicht in Art. 19 Abs. 3 CISG, allerdings ist die dortige Aufzählung nicht abschließend. Es kommt stets auf die Umstände des Einzelfalls an. Da sich die Tatsache, dass der Speck nicht verpackt ist, auf die Qualität der Ware (Haltbarkeit, Verderblichkeit etc.) auswirken kann, liegt eine wesentliche Abweichung vor. Wie, wenn K die ersten vier Teillieferungen abnimmt und erst dann die Abnahme verweigert? Besteht jetzt eine Abnahmepflicht? Ja, K hat konkludent sein Einverständnis zu dem neuen Angebot erklärt. ◄

5.8.1.6 Pflichten und Rechtsbehelfe der Vertragsparteien Der Verkäufer hat nach dem CISG vertragsgemäße Ware zu liefern, die be- 997 treffenden Dokumente zu übergeben und dem Käufer das Eigentum an der Ware zu verschaffen (Art.  30 CISG). Sofern der Verkäufer seine Pflichten nicht erfüllt, ergeben sich die Rechtsbehelfe des Käufers aus Art.  45 CISG und den Be­ stimmungen, auf welche der Art. 45 CISG verweist. Der Käufer hat im Gegenzug den Kaufpreis zu zahlen und die Ware abzunehmen (Art.  53 CISG). Sofern der Käufer seine Pflichten nicht erfüllt, ergeben sich die Rechtsbehelfe des Verkäufers aus Art.  61 CISG und den Bestimmungen, auf die Art. 61 CISG verweist. 5.8.1.6.1  Pflichten des Verkäufers Die Pflichten des Verkäufers richten sich nach dem Vertrag, Handelsbräuchen und 998 subsidiär nach dem CISG. Nach Art. 30 CISG hat der Verkäufer vertragsgemäße Ware zu liefern, erforderliche Dokumente zu übergeben und das Eigentum an der Ware zu verschaffen. Lieferpflicht (§§ 31 ff. CISG)

Der Verkäufer hat die Ware am rechten Ort, zur rechten Zeit und in der rechten Art und Weise zu liefern. Dabei umfasst de Lieferverpflichtung alle Handlungen, die nach dem Vertrag erforderlich sind, um dem Käufer den tatsächlichen Besitz an der Ware zu verschaffen. Die Lieferung hat an dem vereinbarten Lieferort zu erfolgen (Fern- 999 kauf = i. d. R. Bringschuld vereinbart, Art. 31 CISG). Wurde ein solcher Lieferort nicht vereinbart, finden die Art. 31 lit. a–c CISG Anwendung und konkretisiert die Verkäuferpflichten: • Ist eine Beförderung der Ware erforderlich (Versendungskauf = Schickschuld), hat der Verkäufer die Ware dem ersten Beförderer zur Übermittlung an den Käufer zu übergeben (Art. 31 lit. a CISG).

396

5 Handelsrecht

• Ist die Ware an einem bestimmten Ort zur Verfügung zu stellen (Platzkauf = Holschuld: Ort der Belegenheit der Speziessache oder des Vorrates, Ort der Herstellung oder der Erzeugung), muss der Verkäufer alles Erforderliche tun, um dem Käufer das Abholen der Ware zu ermöglichen (Aussonderung, Benachrichtigung; Art. 31 lit. b CISG). • Hilfsweise hat der Verkäufer die Ware an dem Ort seiner Niederlassung zur Verfügung zu stellen (Art. 31 lit. c CISG). Die Lieferung an einen falschen Ort ist als Nichtlieferung zu qualifizieren und ermöglicht die entsprechenden Rechtsbehelfe des Käufers – zum Beispiel Nachfrist zur Erfüllung gem. Art. 47 Abs. 1 CISG oder Schadensersatz wegen verspäteter Erfüllung (Art. 47 Abs. 2 S. 2 CISG). 1000 Die Lieferung muss ferner zu dem vereinbarten, genau bestimmten oder bestimmbaren Zeitpunkt (Art. 33 lit. a CISG) oder Zeitraum (Art. 33 lit. b CISG) stattfinden; mangels einer Vereinbarung innerhalb angemessener Frist nach Vertragsschluss (Art. 33 lit. c CISG). Eine verspätete Lieferung begründet auch ohne Mahnung eine Vertragsverletzung (Art. 33 CISG) und löst entsprechende Rechtsbehelfe des Käufers aus (insbes. Schadenersatz wegen Vertragsverletzung, Art. 45 CISG). Eine vorzeitige Lieferung kann der Käufer gem. Art. 52 Abs. 1 CISG annehmen oder ablehnen. Lehnt der Käufer die zu früh angebotene Ware ab, behält er dennoch seinen Erfüllungsanspruch. Dies mag zunächst seltsam erscheinen, ist aber verständlich, wenn man bedenkt, dass die Annahme einer Ware auch deren Lagerung, Weitertransport, just-in-time-Verarbeitung etc. voraussetzt, die aber zu einem früheren Zeitpunkt vom Käufer noch nicht eingeplant und damit nicht vorbereitet war. Deshalb kommt dem Käufer die Möglichkeit zu, die Leistung ohne weitere Konsequenzen abzulehnen. Nimmt der Käufer dagegen die vorzeitige Leistung an, kann er zumindest etwaige Kosten, die ihm infolge der vorzeitigen Annahme entstehen (z. B. Lagerkosten), als Schadensersatz geltend machen. Vertragsgemäßheit der Ware (§§ 35 ff. CISG) 1001

1002

Die gelieferte Ware muss vertragsgemäß, d. h. frei von Sach- (Art. 35 CISG) und Rechtsmängeln (Art. 41 CISG) sowie frei von geistigem Eigentum Dritter (Art. 42 CISG) sein. Freiheit von Sachmängeln Nach Art. 35 Abs. 1 CISG müssen Menge, Qualität, Art und Verpackung der Ware den Anforderungen des Vertrages entsprechen. Abzustellen ist in erster Linie auf die Parteivereinbarung (subjektiver Fehlerbegriff  =  vertraglich festgelegter Qualitätsstandard). Fehlt es an einer solchen, richten sich die Anforderungen nach Art. 35 Abs. 2 lit. a-d CISG. Danach ist die Ware vertragsgemäß, wenn sie sich entweder für den gewöhnlichen Gebrauch (lit. a) oder einen bestimmten Zweck eignet, der dem Verkäufer zur Kenntnis gebracht wurde (lit. b), oder wenn sie einem zuvor bereitgestellten Muster oder einer Probe entspricht (lit. c). Zusätzlich muss die Ware in üblicher und angemessener Weise verpackt sein (lit. d).

5.8  Internationaler Handelsverkehr

397

Für Abweichungen, die der Käufer bei Vertragsschluss kannte oder aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kannte, muss der Verkäufer nicht einstehen (Art.  35 Abs. 3 CISG). Ebenso wenig haftet er im Falle eines Haftungsausschlusses (Parteiautonomie, Art. 6 CISG). Beispiel

Die deutsche Fischimport GmbH (F) hatte bei der Schweizer Handelsgesellschaft (H) 2000 kg neuseeländische Muscheln gekauft. Veterinäramtliche Untersuchungen der gelieferten Ware ergaben einen erhöhten Cadmiumgehalt; die Muscheln wurden als „nicht unbedenklich“ vom Bundesgesundheitsamt eingestuft. Allerdings kommt diesen Richtwerten keine Rechtsqualität zu, so dass der F der Verkauf der Muscheln nicht verboten war. Dennoch war die F – nachdem die H die Rücknahme der Ware abgelehnt hat – nicht bereit den Kaufpreis zu zahlen. Der Kaufpreis ist jedoch von der F zu leisten, da keine Vertragsverletzung seitens der H vorlag. Die Kaufsache war sachmangelfrei. Die Parteien hatten keine Beschaffenheitsvereinbarung getroffen und Art. 35 Abs. 2 CISG hilft auch nicht weiter, da keine der Alternativen einschlägig ist (es kommt im Übrigen auf die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften nicht an). ◄ Die Vertragsgemäßheit muss im Zeitpunkt des Gefahrübergangs (Übergang der Preisgefahr) fehlen (Art. 36 CISG). • Im Falle eines Versendungskaufes geht die Preisgefahr nach Art. 67 CISG mit der Übergabe der Ware an den ersten Beförderer über, also sobald die Ware individualisiert, d. h. eindeutig als Vertragsgegenstand dem Vertrag zugeordnet und konkretisiert wurde. • Bei einem Kaufvertag über eine sich auf dem Transport befindliche Ware geht die Gefahr bereits mit Abschluss des Kaufvertrages über, wenn nicht besondere Umstände sogar für eine Vorverlegung dieses Zeitpunktes sprechen (Art. 68 CISG). • In allen anderen Fällen (Platzkauf, Fernkauf) geht die Gefahr spätestens mit der Übergabe der Ware an den Käufer und unter bestimmten Voraussetzungen mit ihrer Zurverfügungstellung über (Art. 69 CISG). Ausnahmsweise haftet der Verkäufer nach Art. 36 Abs. 2 CISG auch für eine vertragswidrige Beschaffenheit der Ware, die erst nach Gefahrübergang eintritt, sofern sie durch eine Pflichtverletzung des Verkäufers verursacht wurde (z. B. Beauftragung eines unzuverlässigen Beförderers, ungenügende Hinweise zur Handhabung der Ware) oder wenn der Verkäufer privatautonom eine Haltbarkeits- oder eine Beschaffenheitsgarantie übernommen hat. Freiheit von Rechtsmängeln Nach Art. 41 CISG darf die Ware nicht mit Rechten oder Ansprüchen Dritter be- 1003 lastet sein, andernfalls ist sie vertragswidrig. In Frage kommen sowohl begründete

398

5 Handelsrecht

Ansprüche (z.  B.  Eigentum eines Dritten oder Nutzungsrecht aufgrund Mietvertrages) als auch nur vermeintlich bestehende Ansprüche. Es ist Aufgabe des Verkäufers, diese vermeintlichen Ansprüche zunächst abzuwehren (z. B. Einwendungen Dritter auszuräumen) und dem Käufer „unbelastete Ware“ zu liefern. Der Verkäufer muss für die Rechtsmängelfreiheit dagegen nicht einstehen, wenn seine Haftung für Rechtsmängel vertraglich ausgeschlossen wurde, oder der Käufer beim Erwerb die Rechtsmängel kannte und sie in Kauf genommen hat (Art. 41 S. 1 CISG a. E.).

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Freiheit von geistigem Eigentum Gemäß Art. 42 Abs. 1 CISG darf die Ware nicht mit dem geistigen Eigentum Dritter behaftet sein (z.  B.  Patente, Urheberrechte). Dieser Unterfall der Rechtsmängelhaftung trifft eine Sonderregelung für die Verkäuferhaftung bei Belastung der Ware mit Immaterialgüterrechten Dritter. Allerdings – und insofern schränkt Art. 42 Abs. 2 CISG die Verkäuferpflichten ein – das Schutzrecht muss nach der Rechtsordnung des oder der voraussichtlichen Verwendungsländer (lit. a) bzw. des Staates, in dem sich die Niederlassung des Käufers befindet (lit. b), bestehen. Ferner haftet der Verkäufer nur, wenn er das geistige Eigentum kannte oder aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt zumindest dann vor, wenn das Schutzrecht in einem öffentlich zugänglichen Register (z. B. Markenregister) publiziert ist. Bei Kenntnis oder vorwerfbarer Unkenntnis des Käufers ist nach Art.  42 Abs.  2 lit. a die Haftung des Verkäufers ebenso ausgeschlossen, wie bei Handeln des Verkäufers nach Vorgaben des Käufers (lit. b) und im Falle von Haftungsfreizeichnungen. 5.8.1.6.2  Übergabe der Dokumente (§ 34 CISG) Neben der Ware hat der Verkäufer dem Käufer die erforderlichen Dokumente zu übergeben (Art. 34 CISG), wie z. B. Zertifikate betreffend die Qualität und Echtheit der Ware oder Lagerscheine, die der Käufer benötigt, um die Ware beim Lagerhalter auszulösen.

5.8.1.7 Rechtsbehelfe des Käufers Erfüllt der Verkäufer eine seiner Pflichten nicht, stehen dem Käufer verschiedene Rechtsbehelfe zu. Die Ansprüche lauten auf: • • • • • •

Erfüllung und Nacherfüllung (Art. 46 Abs. 1 CISG), Ersatzlieferung bei wesentlicher Vertragsverletzung (Art. 46 Abs. 2, 25 CISG), Nachbesserung bei nicht vertragsgemäßer Ware (Art. 46 Abs. 3 CISG), Minderung bei nicht vertragsgemäßer Ware (Art. 50 CISG), Schadensersatz bei Vertragsverletzung (Art. 74 CISG), Vertragsaufhebung bei wesentlicher Vertragsverletzung (Art.  49 Abs.  1 lit. a, 25 CISG), • Vertragsaufhebung bei Zuspätlieferung nach Nachfristsetzung (Art. 49 Abs. 1 lit. b CISG).

5.8  Internationaler Handelsverkehr

399

Der Erfüllungsanspruch (Lieferung der Ware) kann geltend gemacht werden, 1007 wenn der Käufer noch nichts erlangt hat, die Leistung also bislang ausgeblieben ist. Das CISG folgt dabei dem Prinzip der Erfüllung in natura. Die Vertragsparteien können an dem Vertrag festhalten und die Erfüllung der vereinbarten Leistungspflichten verlangen, ohne dass sie hierfür ein weiteres besonderes Interesse nachweisen müssen. Dieser Grundsatz wird durch Art. 28 CISG eingeschränkt, wonach ein Gericht eine Entscheidung auf Erfüllung in natura nur dann zu fällen braucht, wenn es eine solche Entscheidung auch nach eigenem Recht bei gleichartigen Kaufverträgen treffen würde (z.  B. ein deutsches Gericht im Rahmen des §  439 Abs.  1 BGB). Art. 28 CISG ist dabei eine Kompromisslösung, die den Ansatz des angelsächsischen Rechtskreises berücksichtigt, wonach Erfüllung in natura nur in wenigen Ausnahmefällen gestattet ist und im Regelfall eine Kompensation mittels Schadensersatzes für ausreichend erachtet wird. Würde daher ein us-amerikanisches Gericht entscheiden, müsste es wegen Art. 28 CISG keinen Erfüllungsanspruch gewähren; der Anspruch würde zwar materiell-rechtlich bestehen, wäre aber nicht gerichtlich durchsetzbar. Der Erfüllungsanspruch erlischt oder ist gehemmt, wenn der Käufer einen entgegenstehenden Rechtsbehelf (z. B. Vertragsaufhebung, Minderung) geltend macht, Art. 46 Abs. 1 CISG. Hat der Käufer bereits etwas erhalten, kommen nur noch Ersatzlieferung 1008 (Art. 46 Abs. 2 CISG) oder Nachbesserung (Art. 46 Abs. 3 CISG) in Betracht. Art. 46 Abs. 2 CISG hat gegenüber dem Art. 46 Abs. 1 CISG eine einschränkende Funktion: Liefert der Verkäufer mangelhafte Ware, könnte der Käufer an sich bereits nach Art.  46 Abs.  1 CISG Ersatzlieferung, sprich weiterhin Erfüllung verlangen, da die versprochene Leistung ja noch nicht bewirkt ist. Art. 46 Abs. 2 CISG beschränkt nun dieses grds. bestehende Recht auf Ersatzlieferung auf die Fälle, in denen eine wesentliche Vertragsverletzung (Art.  25 CISG) vorliegt und die Ersatzlieferung innerhalb angemessener Frist nach Entdeckung der Vertragswidrigkeit vom Käufer verlangt wurde. Unwesentliche Vertragsverletzungen sind demnach hinzunehmen und gewähren keinen Anspruch auf erneute Lieferung  – ebenso sind wesentliche Vertragsverletzungen hinzunehmen, die nicht innerhalb angemessener Frist gerügt wurden (Art. 46 Abs. 2 CISG a. E.). Eine wesentliche Vertragsverletzung liegt nach Art. 25 CISG nur vor, wenn die Erwartungen der vertragstreuen Partei derart enttäuscht werden, dass ihr Interesse an der Durchführung des Vertrages entfällt. Hierzu bedarf es einer Auslegung des Vertrages. Nach den Grundsätzen des Art. 8 Abs. 2 CISG ist dabei nicht allein die subjektive Bewertung der vertragstreuen Partei entscheidend, sondern kommt es darauf an, welche Erwartungen aus dem Vertrag und den Gesamtumständen (Art. 8 Abs. 3 CISG) objektiv gerechtfertigt sind. Eine wesentliche Vertragsverletzung ist jedenfalls nicht gegeben, wenn die Sache reparabel und der Verkäufer hierzu in der Lage ist (dann Nachbesserung) oder wenn es dem Käufer noch zuzumuten ist, die Sache  – notfalls auch zu Schleuderpreisen  – abzusetzen und die Differenz als Schadensersatz geltend zu machen. Das bedeutet, dass unwesentliche Mängel nicht zur Ersatzlieferung führen, sondern der Käufer sie zunächst behalten muss (evtl.

400

5 Handelsrecht

kann nachgebessert werden), aber ggf. einen Schadensersatz beanspruchen kann (Art. 74 CISG). Beispiel

Die K-GmbH aus Deutschland bestellt bei Textilhändler H in der Schweiz T-Shirts mit einem vorformulierten, aufgedruckten Spruch und in weißer Grundfarbe. Geliefert wurden von H T-Shirts in der Grundfarbe beige, auf denen der vorgegebene Spruch falsch wiedergegeben ist. Die K-GmbH verlangt Ersatzlieferung aus Art. 45 Abs. 1 lit. a, 46 Abs. 2 CISG. Hier muss darüber befunden werden, ob ein wesentlicher Vertragsmangel i. S. d. Art. 25 CISG vorliegt. • Falls „ja“ (kein Verkauf mehr denkbar) besteht ein Anspruch auf Ersatzlieferung, es sei denn H bietet Nachbesserung an (Art. 48 CISG), dann muss die K-GmbH, darauf eingehen, sofern ihr das zuzumuten ist. • Falls „nein“ (Verkauf zu Schleuderpreisen möglich) bleibt der K-GmbH lediglich ein Schadensersatzanspruch nach Art. 74 CISG. ◄ 1009

Liegt eine wesentliche Vertragsverletzung nach Art. 25 CISG vor, darf der Käufer nicht das Recht verloren haben, sich auf die Vertragswidrigkeit zu berufen (Art. 38, 39 CISG) – auch das würde den Anspruch auf Ersatzlieferung ausschließen. Nicht nur bei vertragswidriger Beschaffenheit der Ware (Art. 35 CISG), sondern auch bei Rechtsmängeln (Art. 41 ff. CISG) muss der Käufer – ähnlich dem § 377 HGB (Abschn. 5.6.2.4) – eine Untersuchung der Ware vornehmen und eine bestehende Vertragswidrigkeit innerhalb angemessener Frist rügen (Untersuchungs- und Rügeobliegenheit), um sich seine Rechtsbehelfe gegenüber dem Verkäufer zu erhalten. Die Untersuchung der Ware durch den Käufer hat dabei innerhalb einer so kurzen Frist zu erfolgen, wie es die Umstände erlauben. Eine aufgeschobene Untersuchung erlaubt Art. 38 Abs. 2 CISG für Versendungskäufe und Art. 38 Abs. 3 CISG für den Fall der Umleitung oder Weiterversendung der Ware. Die Untersuchung soll klären, ob eine Mängelanzeige zur Wahrung der Gewährleistungsrechte nach Art. 39 Abs. 1 CISG notwendig ist. Versäumt der Käufer die Untersuchung und damit auch eine fristgerechte Mängelrüge, verliert er u. U. seine Rechtsbehelfe wegen der Vertragswidrigkeit der Ware. Der Umfang der Untersuchungsobliegenheit richtet sich nach Parteivereinbarung, Gepflogenheiten und Gebräuchen, insbesondere nach der Handelsüblichkeit, wobei Sichtkontrollen, Stichproben, Probeläufe und Probeverarbeitungen durchzuführen sind. Nach Art. 39, 43 Abs. 1 CISG hat der Käufer die festgestellte Vertragswidrigkeit (Sach- oder Rechtsmangel) innerhalb angemessener Frist anzuzeigen, nachdem er davon Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen. Für die Frist, die frühestens mit dem Liefertermin beginnt, sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend, wobei Art der Ware, Art der Belastung sowie bereits eingeleitete Maßnahmen Bedeutung zukommt. In diesem Sinne beträgt bei leicht verderblichen Waren (z. B. Blumen, rohes Fleisch) die Untersuchungs- und Rügefrist z. B. nur wenige

5.8  Internationaler Handelsverkehr

401

Stunden und bei technischen Geräten ca. 1 Woche, wobei der BGH bei nicht verderblichen Waren inzwischen auch Rügefristen von bis zu einem Monat akzeptiert (BGH NJW 1995, 2099, 2101; BGH NJW-RR 2000, 1361, 1362). Nach Ablauf von zwei Jahren ist die Rüge in jedem Fall ausgeschlossen (Art. 39 Abs. 2 CISG), es sei denn, der Verkäufer hat eine längere Garantie übernommen. Die Rüge kann gegenüber dem Verkäufer formlos erfolgen, also auch mündlich; das Übermittlungsrisiko trägt nach Art.  27 CISG der Verkäufer, d.  h. die Rüge wird – schriftlich erklärt – mit ihrer Absendung wirksam. Die Anzeige muss allerdings hinreichend substantiiert sein. Ein allgemeiner Hinweis, dass die Ware vertragswidrig ist, reicht nicht aus. Vielmehr muss der Käufer die Vertragswidrigkeit zumindest so genau bezeichnen, dass der Verkäufer in die Lage versetzt wird, angemessen zu reagieren. Beispiel

Hersteller H aus Frankreich liefert an die deutsche Kaufhauskette K-GmbH 5000 originalverpackte Hemden verschiedener Muster und Größen. Die Hemdengrößen sind fehlerhaft ausgezeichnet. Bei einer Untersuchung der Ware auf ­Vollständigkeit schien der K-GmbH die Ware vertragsgemäß. Erst nach 14 Tage, als die Hemden in den Kaufhäusern angeboten wurden, stellte sich der Fehler heraus. Könnte die K-GmbH die Vertragswidrigkeit jetzt noch rügen? Nein, denn die K-GmbH hat nicht ausreichend untersucht – sie hätte Stichproben nehmen und dabei die Verpackung öffnen müssen. Wie vor, aber jetzt untersucht die K die Ware ordnungsgemäß, rügt allerdings erst nach acht Tagen, indem Sie dem Hersteller zumailt: „Hemden unbrauchbar!“. Einen Monat später weist der Hersteller die K-GmbH darauf hin, dass die Mängelrüge unzureichend war. Hier wurde zwar die Untersuchungs- und Rügefrist eingehalten, aber der Mangel wurde nicht substantiiert dargetan, so dass keine ordnungsgemäße Rüge vorliegt. Damit erlöschen die Mängelrechte der K. ◄ Verletzt der Käufer seine Untersuchungs- und Rügeobliegenheit, kann sich der Verkäufer nicht auf den Verlust der Rechtsbehelfe berufen, wenn er die Tatsachen, auf denen der Sach- bzw. Rechtsmangel beruhte, kannte oder aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Art. 40 CISG). Hat der Käufer seine Untersuchungs- und Rügeobliegenheit nicht beachtet, kann ihm neben Art. 40 CISG gegebenenfalls die Möglichkeit einer vernünftigen Entschuldigung nach Art. 44 CISG weiterhelfen. An deren Vorliegen sind allerdings hohe Anforderungen zu stellen. Wurde der Kaufpreis bereits vollständig bezahlt, hat der Käufer einen Rückzahlungsanspruch aus Art. 81 Abs. 2 CISG (analog i. V. m. Art. 7 Abs. 2 CISG). Beispiel

A aus Deutschland bestellt bei B aus Italien Marmorplatten. Auf dem Transport zu A werden diese am 03.02. beschädigt. A zeigt die Beschädigung am 04.02. dem B an und bestellt neue Marmorplatten. Eine Mängelrüge ist nicht enthalten.

402

5 Handelsrecht

Am 03.05 rügt A, dass die Verpackung der Marmorplatten mangelhaft war und verlangt Schadensersatz. Der Mangel in der Verpackung wurde durch ein Gutachten festgestellt, das die Transportversicherung in Auftrag gab. Das Gutachten lag dem A am 02.05. vor. Eigentlich wäre die Mängelrüge am 03.05. – 3 Monate nach Lieferung – verfristet. Vorliegend ist die Versäumnis jedoch nach Art. 44 CISG entschuldigt, da der Sachmangel nach Art. 35 Abs. 1 CISG weder für den Frachtführer noch den A erkennbar war und erst das Gutachten, auf das auch sofort reagiert wurde, die notwenige Klarheit brachte (Vgl. OLG Saarbrücken IHR 2008, 55). ◄ 1010

Der Käufer hat einen Anspruch auf Nachbesserung gemäß Art. 46 Abs. 3 CISG, wenn ein Sachmangel i. S. d. Art. 35 CISG vorliegt (Abweichung in Menge, Qualität, Art, Verpackung oder von vertraglichen Vereinbarungen), der Käufer sein Recht nicht verloren hat (Art. 39, 40 CISG) und die Nachbesserung für den Verkäufer zumutbar ist. Die Schwelle der Zumutbarkeit liegt dabei erheblich niedriger, als die Wesentlichkeitsschwelle im Rahmen des Art. 25 CISG. Beispiel

Ein Käufer aus Frankreich hat bei einem Verkäufer mit Sitz in der Schweiz eine Abfüllanlage erworben. Die Anlage erreicht nicht die vereinbarten Stückzahlen. Sie könnten allerdings erreicht werden, wenn die Anlage mit einem Zusatzteil ausgerüstet wird. Hier kann der Käufer gemäß Art.  45 Abs.  1 lit. a, 46 Abs.  3 CISG Nachbesserung verlangen, ein Sachmangel liegt vor und die Nachbesserung scheint dem Verkäufer zumutbar. ◄ 1011

Der Käufer kann nach Art. 50 CISG ferner den Kaufpreis durch einseitige Gestaltungserklärung mindern, wenn die Ware einen Sachmangel i.  S.  d. Art.  35 CISG aufweist und der Käufer nicht nach Art. 39, 40 CISG das Recht verloren hat, sich auf den Sachmangel zu berufen. Beispiel

V in Italien stellt Schuhe her. K aus Deutschland bestellt 72 Paar braune Schuhe mit der Artikelnummer 2517 und 2515 zum Preis von 13.000 EUR. Die Schuhe sollen mit Schnallen ohne Nieten versehen sein. Geliefert wurden, was K bei der Untersuchung der Ware feststellte und sofort rügte, Schuhe mit Schnallen und silbernen Nieten. Kann K den Kaufpreis mindern? Ja, das Minderungsrecht nach Art. 45 Abs. 1, 50 CISG besteht. Es liegt ein Sachmangel nach Art.  35 CISG vor und der K hat sein Recht auch nicht verloren – er hat untersucht und sofort gerügt. Der Anspruch bestünde allerdings nicht, wenn der V erklären würde, dass er die Schuhe zurücknimmt und verspricht, binnen „angemessener Frist“ vertragsgemäße Ware zu liefern (Art. 50 S. 2 CISG). ◄

5.8  Internationaler Handelsverkehr

403

Der Anspruch auf Schadensersatz wegen Vertragsverletzung (Art. 74 CISG) 1012 setzt irgendeine Vertragsverletzung des Verkäufers voraus. Hierunter fallen Sachund Rechtsmängel i. S. d. Art. 35, 41, 42 CISG ebenso wie die Nichtleistung, die verspätete Leistung oder die Nichterfüllung von Nebenpflichten (vergleichbar dem § 280 BGB). Indes kann sich der Käufer auf einen Sach- oder Rechtsmangel nur berufen, wenn er dieses Recht nicht verloren hat (Art. 39, 40 CISG). Der Schadensersatzanspruch ist  – im Unterschied zu den anderen Rechtsbehelfen – verschuldensunabhängig (sog. Prinzip der „strict liabilty“), d. h. der Verkäufer muss weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt haben. Allerdings ist nach Art. 79 Abs. 1 CISG der Verkäufer vom Schadensersatzanspruch befreit, wenn die Vertragsverletzung auf Umständen beruht, die außerhalb seiner Einflusssphäre liegen und die er nicht vorhersehen konnte (z. B. Ursachen höherer Gewalt wie Kriege, Katastrophen, Sabotage; nicht: wirtschaftliche Probleme, da der Verkäufer bei Vertragsschluss für sein wirtschaftliches Leistungsvermögen eine Garantie übernimmt). Hat sich der Verkäufer zur Vertragserfüllung eines Dritten bedient, kommt eine Befreiung von der Ersatzpflicht nur unter den Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 2 CISG in Betracht, so dass sowohl der Verkäufer als auch der Dritte von der Haftung i.  S.  d. Art.  79 Abs.  1 CISG befreit sein müssen. Diese Kumulation der Voraussetzungen führt am Ende zu einer Haftungsverschärfung. Der Schadensersatzanspruch richtet sich auf eine Geldzahlung (im Unterschied zum deutschen Recht daher keine Naturalrestitution Abschn. 1.6.5.5). Nach Art. 74 S. 1 CISG findet eine Totalreparation statt; Erfüllungs- und Integritätsinteresse sind zu befriedigen. Der Schadensersatzanspruch beschränkt sich jedoch gem. Art. 74 S. 2 CISG der Höhe nach auf den Schaden, den der Verkäufer bei Vertragsschluss vorhergesehen hat oder hätte vorhersehen müssen. Außergewöhnliche Weiterverkaufsgewinne werden von Art. 74 CISG nicht ersetzt. Sind die engen Voraussetzungen eines Aufhebungsgrundes gegeben  – wesent- 1013 liche Vertragsverletzung, erfolglose Nachfristsetzung, kein Verlust des Rechtsbehelfs  – kann der Käufer durch Erklärung von dem Vertrag zurücktreten (Art. 26 CISG). Vertragsverletzungen sind  – wie bereits erwähnt  – Sach- und Rechtsmängel i. S. d. Art. 35, 41, 42 CISG ebenso wie die Nichtleistung, die verspätete Leistung oder die Nichterfüllung von Nebenpflichten. Bei Sach- oder Rechtsmängeln darf der Käufer nicht das Recht verloren haben, sich darauf berufen zu können (Untersuchungs- und Rügeobliegenheit gem. Kenntnis nach Art. 40 CISG). Die Vertragsverletzung muss wesentlich sein, d. h. dem Käufer muss aufgrund der Vertragsverletzung im Wesentlichen das entgehen, was er nach dem Vertrag hätte erwarten dürfen (Art.  25 CISG). Sach- und Rechtsmängel sind nur in Ausnahmefällen wesentlich. Auch die bloß verspätete Lieferung ist i.  d.  R. keine wesentliche Vertragsverletzung, da der Verzögerungsschaden kompensiert werden kann (anders bei Fixgeschäften: Einhaltung der Lieferzeit erkennbar wesentlich). Ist der Verkäufer außer Stande zu liefern oder verweigert er ernsthaft und endgültig die Erfüllung seiner Pflichten, liegt hingegen eine wesentliche Vertragsverletzung vor.

404

5 Handelsrecht

Im Falle der Nichtlieferung (nicht bei den anderen Vertragsverletzungen) muss der Käufer zuvor eine angemessene Nachfrist zur Erfüllung eingeräumt haben, Art. 49 Abs. 1 lit. b) CISG. Erst nach erfolglosem Ablauf der Frist oder vorheriger Erfüllungsverweigerung durch den Verkäufer kann sich der Käufer vom Vertrag lösen. Rechtsbehelfe des Käufers wegen Vertragsverletzung durch den Verkäufer (Teil 1 von 4): Nacherfüllung (Art. 45 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 46 CISG) Ersatzlieferung Art. 46 Abs. 2 CISG

Varianten

Nachbesserung Art. 46 Abs. 3 CISG

Wirksamer Vertragsschluss Allgemeine Voraussetzungen

Vertragsverletzung durch Lieferung mangelhafter Ware i.S.v. Art. 35 CISG (inkl. fehlende Heilung durch Zeitablauf nach Art. 39 Abs. 1 oder Abs. 2 CISG) Keine Befreiung des Verkäufers nach Art. 80 CISG Kein entgegenstehender Rechtsbehelf ausgeübt, Art. 46 Abs. 1 CISG

Besondere Voraussetzungen

Wesentlichkeit der Vertragsverletzung und Rechtzeitigkeit des Verlangens Art. 46 Abs. 2 i.V.m. Art. 25 CISG

Zumutbarkeit für Verkäufer und Rechtzeitigkeit des Verlangens Art. 46 Abs. 3 CISG

Rückgabemöglichkeit oder Ausnahme Art. 82 CISG Vorrang des Nacherfüllungsrechts aus Art. 37 CISG und Verweigerungsrecht aus Art. 48 CISG (str.) Art. 28 CISG

 Rechtsbehelfe nach CISG – I

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 Rechtsbehelfe nach CISG – II

5.8  Internationaler Handelsverkehr

405

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 Rechtsbehelfe nach CISG – III

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 Rechtsbehelfe nach CISG – IV

5.8.1.7.1  Pflichten des Käufers Der Käufer hat nach Art. 53 CISG den Kaufpreis zu zahlen, die Ware abzunehmen 1014 und die ansonsten vereinbarten Pflichten (z.  B.  Einhaltung von Vertriebsbedingungen, Beachtung von Exportverboten, Qualitätsvorgaben) zu erfüllen. Zahlung des Kaufpreises (§§ 54 ff. CISG)

Der Käufer hat die Voraussetzungen für die Zahlung des Kaufpreises zu schaffen, 1015 damit dieselbe bewirkt werden kann. Dabei stellt Art. 54 CISG klar, dass die Pflicht zur Kaufpreiszahlung alle Handlungen und Förmlichkeiten umfasst, die mit der

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1016

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5 Handelsrecht

Durchführung der Zahlung in Zusammenhang stehen (z. B. Stellung eines Akkreditivs, Bestellen von Sicherheiten, Beachtung von devisenrechtlichen Vorgaben). Der Zahlungsort richtet sich vorrangig nach der Parteivereinbarung (Art.  57 Abs. 1 CISG). Mangels einer Vereinbarung ist der Kaufpreis am Ort der Niederlassung des Verkäufers zu zahlen (Bringschuld, Art. 57 Abs. 1 lit. a CISG). Wurde der Austausch der Leistungen an einem bestimmten Ort vereinbart, ist die Zahlung dort zu leisten (Art. 57 Abs. 1 lit. b CISG). Soweit sich aus dem Vertrag (Art. 6 CISG) oder einem Handelsbrauch (Art. 9 CISG) nichts anderes ergibt, ist die Zahlung in bar zu leisten, wobei der Barzahlung im internationalen Handelsverkehr die bargeldlose Zahlung durch Überweisung gleichsteht. Die Zahlung ist, sofern nichts anderes vereinbart wurde, nach Art.  58 Abs.  1 CISG mit der Aushändigung der Ware oder Dokumente fällig (Fernkauf: Andienung an dem vereinbarten Bestimmungsort; Versendungskauf: Ankunft am Bestimmungsort; Platzkauf: Bereitstellung am vereinbarten Abholort). Selbst wenn der Verkäufer die Ware nicht mehr liefern kann, bleibt der Käufer zur Zahlung verpflichtet, sofern die Preisgefahr bereits auf ihn übergangen ist (Art.  66  ff. CISG). Die Zahlungsverpflichtung des Käufers kann allerdings entfallen, wenn der Untergang der Ware oder deren Beschädigung durch den Verkäufer verursacht wurde (Art.  66 a.  E.  CISG; z.  B. weil der Verkäufer einen unzuverlässigen Beförderer beauftragt hat). Beispiel

Geht bei einem Versendungskauf die Ware während des Transportes von Land A nach Land B unter, muss der Käufer den Kaufpreis dennoch zahlen, da die Preisgefahr nach Art. 67 Abs. 1 CISG bereits mit Übergabe an den Beförderer übergegangen ist. ◄ Abnahme der Ware (§ 60 CISG)

Der Käufer hat die Ware zu übernehmen und damit körperlich (ggf. auch nur die Dokumente, wie Lagerschein) entgegen zu nehmen; dies umfasst mangels anderer Vereinbarung und Gepflogenheiten u. a. die Pflicht, die angelieferte Ware zu entladen (Art. 60 lit. b CISG). Ferner beinhaltet seine Abnahmepflicht die Verpflichtung zur Vornahme aller Handlungen, die von ihm erwartet werden können, um die Lieferung durch den Verkäufer zu ermöglichen (Art. 60 lit. a CISG; z. B. Vorarbeiten für die Montage durch den Verkäufer vornehmen, Zugänge zum Betriebsgrundstück eröffnen). 1021 Bei Lieferung nicht vertragsgemäßer Ware stellt sich die Frage, ob dem Käufer ein Annahmeverweigerungsrecht zusteht (sog. Recht auf Zurückweisung). Das ist zwar nicht geregelt, allerdings gilt: Nicht vertragsgemäße Ware, die eine wesentliche Vertragsverletzung begründet, kann der Käufer zurückweisen, soweit ihm ein Ersatzlieferungsanspruch (Art.  46 Abs.  2 CISG) oder das Recht zur Vertragsaufhebung (Art.  49 Abs.  1 lit. a CISG) zusteht. Bei nicht wesentlichen Vertragsverletzungen kann der Käufer nur ausnahmsweise nach Art. 7 Abs. 1 CISG ein An1020

5.8  Internationaler Handelsverkehr

407

nahmeverweigerungsrecht ausüben, etwa wenn er die am Sitz des Verkäufers oder am Lagerort zur Verfügung gestellte Ware sofort zurückweist und gemäß Art. 46 Abs. Abs. 3 CISG Nachbesserung verlangt. Ein Zurückweisungsrecht besteht jedoch im Falle vorzeitiger Lieferung (Art.  52 Abs.  1 CISG) oder einer Zuviellieferung (Art. 52 Abs. 2 CISG) Trotz eines bestehenden Zurückweisungsrechts muss der Käufer jedoch 1022 zwischenzeitlich alle erforderlichen Maßnahmen zur Erhaltung der Ware treffen (Art. 86 Abs. 2 CISG). 5.8.1.7.2  Rechtsbehelfe des Verkäufers (Art. 61 ff. CISG) Erfüllt der Käufer seine Verpflichtungen nicht, kommen für den Verkäufer folgende Rechtsbehelfe in Betracht:

1023

• Anspruch auf Zahlung und Abnahme (Erfüllung, Art. 62 CISG), • Zurückbehaltungsrecht (Art. 58 Abs. 1 S. 2 CISG), • Vertragsaufhebung bei wesentlicher Vertragsverletzung (Art.  64 Abs.  1 lit. a CISG), • Vertragsaufhebung bei Verzug nach Fristsetzung (Art. 64 Abs. 1 lit. b CISG), • Schadensersatz (Art. 74 CISG). Der Verkäufer kann vom Käufer die Erfüllung seiner Pflichten (Kaufpreis- 1024 zahlung, Annahme der Ware, Erfüllung sonstiger Pflichten) verlangen. Der Erfüllungsanspruch ist hinsichtlich seiner gerichtlichen Durchsetzbarkeit eingeschränkt (Art. 28 CISG). Nach Art. 62 a. E. CISG erlischt der Anspruch oder ist gehemmt, wenn der Verkäufer einen entgegenstehenden Rechtsbehelf ausgeübt hat (Vertragsaufhebung, Selbsthilfeverkauf gem. Art. 88 Abs. 1 CISG). Unterlässt der Käufer Spezifizierungspflichten, kann der Verkäufer die Spezifizierung selbst vornehmen (Art. 65 CISG). Haben die Parteien keine Vorausleistungspflicht des Verkäufers vereinbart, kann 1025 dieser die Übergabe der Ware von der Zahlung des Kaufpreises abhängig machen (Zurückbehaltungsrecht; Art. 58 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 CISG). Sollte der Verkäufer vorausleistungspflichtig sein, kann er die Erfüllung seiner Pflichten aussetzen, sofern sich herausstellt, dass der Käufer einen wesentlichen Teil seiner Pflichten nicht erfüllen wird (Art. 71 CISG). Insbesondere darf der Verkäufer die Aushändigung der Ware durch den Beförderer an den Käufer verhindern (Art. 71 Abs. 2 CISG; sog. Stoppungsrecht). Eine Vertragsaufhebung durch den Verkäufer kommt nur in Betracht, wenn 1026 eine wesentliche Vertragsverletzung anzunehmen ist (Art. 64 Abs. 1 lit. a CISG) oder bei Nichtleistung/-annahme trotz Fristsetzung (Art. 64 Abs. 1 lit. b CISG). Eine wesentliche Vertragsverletzung liegt vor, wenn der Käufer seine Pflichten auf Kaufpreiszahlung, Annahme oder bzgl. sonstiger Vereinbarungen verletzt und den Verkäufer derart enttäuscht ist, dass das Interesse an der Durchführung des Vertrages entfällt (Art.  25 CISG). Die verspätete Zahlung des Kaufpreises oder die verspätete Abnahme der Ware sind fast nie wesentliche Vertragsverletzungen, es sei denn, dass es dem Verkäufer erkennbar auf die pünktliche Räumung seines Lagers

408

5 Handelsrecht

ankommt oder es sich um gefährliche oder leicht verderbliche Ware handelt. Eine ernsthafte und endgültige Zahlungs- oder Abnahmeverweigerung seitens des Käufers ist hingegen als wesentlich anzusehen. Im Falle der Nichtzahlung oder Nichtabnahme (nicht bei anderen Vertragsverletzungen) kann der Verkäufer dem Käufer eine angemessene Nachfrist zur Erfüllung seiner Verpflichtung setzen. Verstreicht die Frist erfolglos, oder erklärt der Käufer, die Erfüllung endgültig verweigern zu wollen, kann der Verkäufer den Vertrag aufheben. Sofern der Käufer den Kaufpreis – wenn auch verspätet – zahlt, verliert der Verkäufer sein Vertragsaufhebungsrecht, soweit er es auf die verspätete Zahlung gestützt hatte (Art. 64 Abs. 2 lit. a CISG). Für den Verkäufer ist die Zahlung des Kaufpreises regelmäßig das wichtigste Interesse, so dass die Einschränkung des Aufhebungsrechts durchaus angemessen ist, sobald der Verkäufer den Kaufpreis erhalten hat. Stützt der Verkäufer sein Aufhebungsrecht auf einen anderen Grund als verspätete Erfüllung (z.  B. endgültige Verweigerung der Abnahme), muss er die Aufhebung nach Art. 64 Abs. 2 lit. b CISG innerhalb einer angemessenen Frist erklären, um Ungewissheiten über das weitere Schicksal des Vertrages zu vermeiden. Im Rahmen des Abwicklungsverhältnisses hat der Käufer sodann alle Vorteile herauszugeben, die er aus der Ware gezogen hat, Art. 84 Abs. 2 lit. a und Art. 81 Abs. 2 CISG. Schließlich kann der Verkäufer vom Käufer Schadensersatz wegen Vertragsver1027 letzung verlangen, ohne dass es auf ein Verschulden des Käufers ankäme. Der Käufer ist nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 79 CISG befreit. Zinsen kann der Verkäufer über Art. 74 CISG sowohl als Schadensersatz (Bsp.: Kreditaufnahme erforderlich, weil Käufer den Kaufpreis verspätet zahlt) als auch – schadensunabhängig – nach Art. 78 CISG geltend machen.

5.8.2 Incoterms Die Internationalen Regeln für die Auslegung der handelsüblichen Vertragsklauseln (International Commercial Terms; kurz: Incoterms) wurden 1936 von der Internationalen Handelskammer in Paris aufgestellt und seither mehrfach überarbeitet (aktuelle Fassung: Incoterms 2020). 1029 Sie ergänzen die vorgestellten CISG-Regeln insoweit, als dass sie Aussagen zum Lieferort, zur Lieferzeit, den Transportkosten und -versicherungen, der Risikozuordnung im Falle der Beschädigung oder des Untergangs der Kaufsache sowie zur Dokumentenbeschaffung treffen. 1030 Sie werden nur gültig, wenn die Vertragsparteien sie ausdrücklich in ihren Vertrag einbeziehen. 1031 Die einzelnen „Terms“ legen in unterschiedlicher Weise die Rechte und Pflichten des Käufers und des Verkäufers rund um die Lieferung einer Ware fest (Abb. 5.4 und 5.5), u. a. wann die Ware vom Verkäufer auf den Käufer übergeht. Welche Vertragspartei  welche Transportkosten  zu tragen hat.  Welche Vertragspartei ab welchem Übergabepunkt die Haftung für Verlust oder Beschädigung der Ware und/oder die Versicherungskosten  übernimmt  und welche sich  für die 1028

5.8  Internationaler Handelsverkehr

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Abb. 5.5  InCo-Terms – II

410

5 Handelsrecht

Warenprüfung nach Art. 38, 39 CISG verantwortlich zeichnet (z. B. Warenausgangs- oder Wareneingangskontrolle). Antwort auf diese und weitere Fragen können die im internationalen Handel gebräuchlichen Incoterms geben. Denn je nachdem, welche der 11 Incoterm-Klauseln die Vertragsparteien zum Inhalt ihres Vertrages machen, lassen diese Rückschlüsse auf das Gewollte zu. Beispiel

Verkäufer (V) aus Köln und Käufer (K) aus New York kommen aus verschiedenen CISG-Ländern. Sie schließen einen Kaufvertrag, der den Term „EXW Köln, Bahnhofstraße 9, Incoterms 2020“ enthält. Alleine aus dem Kürzel „EXW“, welches für Holschuld sowie Kosten- und Gefahrtragung am Lieferort steht, ergeben sich die nachfolgenden Verpflichtungen, ohne dass die Parteien dies im Vertragstext ausführen müssten: ◄ Der Verkäufer • sorgt für eine sachgemäße und transportgerechte Verpackung der Ware. • stellt dem Käufer die Ware bei sich (z. B. auf dem Hof) oder an einem von ihm benannten Ort (z. B. Werk, Fabrik, Lager) zur Verfügung. • trägt die Gefahr nur bis zu diesem Ort. • unterstützt den Käufer, damit dieser die Ausfuhr durchführen kann. Der Käufer • trägt die Kosten und Risiken ab dem Lieferort. • übernimmt die Ware am Lieferort, verlädt diese und kümmert sich um deren gesamte Beförderung. • führt die notwendigen Zollanmeldungen durch (ATLAS-Ausfuhr). • beschafft sich gegebenenfalls die erforderlichen Genehmigungen (Aus­ fuhrgenehmigung) mit Unterstützung des Verkäufers.

5.9

Lösungen zu den Fragen: Handelsrecht

1. Das Handelsrecht enthält im Vergleich zum bürgerlichen Recht Sonderregelungen für Kaufleute, weshalb es als auch als „Sonderprivatrecht“ bezeichnet werden kann. 2. Den Kaufmann kraft Gewerbebetrieb (§ 1 HGB), den Kannkaufmann, (§§ 2, 3 HGB), die Handelsgesellschaften als Formkaufmann (§ 6 HGB), den Kaufmann kraft Eintragung (§  5  HGB) und den Kaufmann kraft allgemeinen Rechtsscheins. 3. Als „Kannkaufmann mit Rückfahrkarte“ bezeichnet man den Kleingewerbetreibenden, der nicht unter § 1 Abs. 2 HGB fällt, aber sein Kleingewerbe nach § 2 S. 1 HGB ins Handelsregister eintragen lässt. Zur Eintragung besteht gem.

5.9 Lösungen zu den Fragen: Handelsrecht







411

§ 2 S. 2 HGB ein Recht, aber keine Pflicht. Gem. § 2 S. 3 HGB kann nach Eintragung jederzeit wieder Löschung beantragt werden. Das gilt freilich nicht, wenn der ursprüngliche Kleingewerbetreibende mittlerweile zum Ist-­ Kaufmann „aufgestiegen“ ist. 4. Zunächst muss als Grundlage einer Rechtsscheinhaftung ein entsprechender Rechtsscheintatbestand vorliegen (Bsp.: Auftreten des Scheinkaufmannes im Rechtsverkehr). Dem Scheinkaufmann muss der gesetzte Rechtsschein zurechenbar sein, d. h. er muss diesen in zurechenbarer Weise veranlasst haben. Des Weiteren muss das Verhalten des Dritten kausal auf dem Rechtsschein beruhen, d. h. der Dritte muss sich tatsächlich von dem Rechtsschein beeinflusst haben lassen, was dann nicht der Fall wäre, wenn er z. B. auch ohne Kenntnis der vermeintlichen Kaufmannseigenschaft einen Vertrag mit dem „Kaufmann“ geschlossen hätte. Letztlich muss der Dritte gutgläubig sein, d. h. weder positive Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis von der wahren Rechtslage haben. 5. § 17 Abs. 1 und 2 HGB: Die Firma eines Kaufmanns ist der Name, unter dem er seine Geschäfte betreibt und die Unterschrift abgibt. Ein Kaufmann kann unter seiner Firma klagen und verklagt werden. 6. Das Handelsregister ist ein öffentliches Verzeichnis von Rechtstatsachen, das über die Rechtsverhältnisse auf dem Gebiet des Handelsrechts Auskunft gibt. Es wird bei den Amtsgerichten elektronisch geführt. 7. § 15 HGB. 8. Rechtsschein durch Eintragung und Bekanntmachung, §§  9, 10  HGB; Handelsregister genießt öffentlichen Glauben (ähnlich: Grundbuch, §§ 891, 892 BGB) § 15 Abs. 1 HGB: negative Publizität – Sofern eine eintragungspflichtige Tatsache nicht ins Handelsregister eingetragen und bekanntgemacht worden ist, kann eine am Geschäftsverkehr teilnehmende dritte Person darauf vertrauen, dass diese Tatsache nicht besteht. § 15 Abs. 2 HGB: kein Vertrauen gegen Handelsregister (Normalfall) – Sofern eine eintragungspflichtige Tatsache ins Handelsregister eingetragen und bekanntgemacht worden ist, muss eine am Geschäftsverkehr teilnehmende dritte Person diese gegen sich gelten lassen. Ausnahme: Schonfrist (15 Tage nach Bekanntmachung i. S. d. § 10 HGB), sofern Dritter nachweislich die Tatsache nicht kannte oder kennen musste. § 15 Abs. 3 HGB: positive Publizität – Sofern eine eintragungspflichtige Tatsache unrichtig bekannt gemacht worden ist, kann sich eine am Geschäftsverkehr teilnehmende dritte Person auf die bekannt gemachte Tatsache berufen, wenn diese die Unrichtigkeit nicht kannte. 9. Nach einer teilweise vertretenen Meinung scheidet § 15 Abs. 1 HGB in diesen Fällen aus, da das Handelsregister nunmehr wieder der tatsächlichen Rechtslage entspricht, so dass eine erneute Eintragung zum Schutz des Dritten nicht erforderlich ist. Die h.  M. bejaht dagegen auch in diesen Fällen §  15 Abs. 1 HGB, da der Dritte zum einen auch anderweitig von der eintragungspflichtigen Tatsache Kenntnis erlangt haben kann und im Übrigen auch der Wortlaut von § 15 Abs. 1 HGB dahingehend keine Differenzierung vorsieht.

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5 Handelsrecht

10. § 15 Abs. 1 HGB gewährt einen abstrakten Vertrauensschutz. Ein solches Vertrauen kann/muss aber nur dort geschützt werden, wo es auch tatsächlich gebildet werden konnte. Im sog. reinen Unrechtsverkehr geht es um eine deliktische Schädigung eines bisher unbeteiligten Dritten, der folglich überhaupt kein Vertrauen hinsichtlich der negativen Publizitätswirkung des Handelsregisters bilden konnte. 11. Im vom BGH zu entscheidenden Fall (BGH NJW 1976, 569) ging es um die Frage der Haftung eines ausgeschiedenen Komplementärs einer Kommanditgesellschaft. Damit der Dritte, welcher den Haftungsanspruch gegen den Komplementär geltend machen wollte, tatsächlich den Komplementär in Anspruch nehmen konnte, musste er sich hinsichtlich einer haftungsbegründenden Voraussetzung (damals: Alleinvertretungsmacht des verbleibenden Gesellschafters) auf die wahre Rechtslage berufen, zum anderen aber auch auf den Verkehrsschutz gem. § 15 Abs. 1 HGB (damals: Haftung des Komplementärs, dessen Ausscheiden entgegen § 143 Abs. 2 HGB nicht ins Handelsregister eingetragen worden war). Zum Teil wurde darin ein verbotenes treuwidriges Verhalten gesehen, was der BGH jedoch ablehnte und damit die Wahlmöglichkeit des Anspruchsstellers zuließ. Dieses „Zusammensuchen einzelner Voraussetzungen“ – vergleichbar mit dem Herauspicken von Rosinen aus einem Brot – begründete der BGH unter anderem mit dem Wortlaut und dem Schutzzweck von § 15 Abs. 1 HGB. 12. Eintragungsfähig sind alle für den Handelsverkehr erheblichen Tatsachen. Eintragungspflichtig nennt man sie, wenn das HGB ausdrücklich deren Eintragung vorschreibt. Nach § 53 Abs. 1 ist die Prokura in das Handelsregister einzutragen. Es besteht eine Eintragungspflicht. 13. Die Konsequenzen ergeben sich aus § 14 HGB i. V. m. §§ 388–392 FamFG und §§ 35, 388 FamFG (Androhung von Zwangsgeld). Wird gegen die Androhung kein Einspruch eingelegt und die Eintragung auch nicht vorgenommen, so wird das Zwangsgeld festgesetzt (§  389 FamFG) und zugleich die Verfügung wiederholt und ein erneutes Zwangsgeld angedroht. 14. Konstitutiv bedeutet rechtsbegründend, deklaratorisch dagegen „nur“ rechtsbekundend. 15. Die Firmenbezeichnung „Meyer, Müller und Abel“ ist gesetzlich nicht zugelassen, es fehlt der Hinweis auf die Gesellschaftsform der oHG (§  19 Abs.  1 Nr.  2  HGB). Da es sich daher um eine unzulässige Firmenbezeichnung handelt, kann der Konkurrent X die Unterlassung des derzeitig unbefugten Firmengebrauchs verlangen, der in der Verwendung des Türschildes und des Briefkopfes liegt (§ 37 Abs. 2 HGB); diesen Anspruch kann er auch auf die Zukunft ausdehnen. Daneben kann ein Schadensersatzanspruch des X in Betracht kommen (§ 37 Abs. 2 S. 2 HGB i. V. m. § 823 BGB), wenn X nachweisen kann, dass er wegen eines verschuldeten unbefugten Firmengebrauchs Kunden verloren hat und er, wegen des damit verbundenen Geschäftsrückgangs, einen geringeren Gewinn erzielt hat. 16. Grundsätzlich ist die vollständige Aufgabe des Geschäftsbetriebes erforderlich. Eine Mindermeinung lässt jedoch auch die Veräußerung des Geschäfts-

5.9 Lösungen zu den Fragen: Handelsrecht







413

betriebes durch den Erben an einen Dritten genügen. Begründet wird dies damit, dass andernfalls ein Haftungsausschluss nur mit wirtschaftlichem Schaden (Firmenänderung vs. Verlust des Goodwills bzw. Unternehmenszerschlagung) möglich wäre. Die h.  M. lehnt die Gleichstellung von Veräußerung und Betriebsaufgabe ab, da der Schein der Firmenkontinuität nur bei völliger Einstellung zerstört sei und der Erbe durch die Veräußerung zudem uneingeschränkt die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Betrieb erhalte. Als Konsequenz müsse damit die Haftungskontinuität hingenommen werden, zumal auch ein Haftungsausschluss gem. §§  27 Abs.  1, 25 Abs. 2 HGB möglich sei. 17. Die Prokura ist eine Sonderform der rechtsgeschäftlich erteilten Vertretungsmacht/Vollmacht (§  166 Abs.  2 S.  1 BGB). Sie hat einen gesetzlich festgelegten Umfang und ist ins Handelsregister einzutragen. Die Handlungsvollmacht ist dagegen jede von einem Kaufmann in seinem Handelsgewerbe rechtsgeschäftlich erteilte Vertretungsmacht/Vollmacht, die nicht Prokura ist, § 54 Abs. 1 HGB. 18. Das Gesetz macht wegen der verschiedenen Interessenlagen bei Prokura und Handlungsvollmacht zwischen beiden eine Reihe von Unterschieden: • Der Geschäftsinhaber muss die Handlungsvollmacht nicht persönlich erteilen; vielmehr kann dies auch ein dazu vom Geschäftsinhaber Bevollmächtigter. • Es ist keine „ausdrückliche“ Erklärung erforderlich; vielmehr genügt auch eine stillschweigende Erklärung, so dass bei der Handlungsvollmacht auch eine Duldungs- oder Anscheinsvollmacht in Betracht kommt. • Wegen der Möglichkeit unterschiedlicher Umfänge einer Handlungsvollmacht ist diese im Gegensatz zur Prokura nicht in das Handelsregister eintragbar, so dass § 15 HGB für sie nicht gilt. • Da der Umfang der Handlungsvollmacht im Gegensatz zur Prokura sehr unterschiedlich sein kann, darf sich der Dritte nicht darauf verlassen, dass die Vollmacht des Handlungsbevollmächtigten auch das betreffende Geschäft umfasst. • Während der Prokurist mit dem die Prokura andeutenden Zusatz „ppa.“ zeichnet, zeichnet der Handlungsbevollmächtigte mit einem das Vollmachtsverhältnis andeutenden Zusatz „i. V.“. • Die Handlungsvollmacht ist anders als die Prokura mit Einwilligung des Geschäftsherrn übertragbar. 19. Die Prokura kann nicht mit Wirkung nach außen beschränkt werden, §  50  HGB.  Die Handlungsvollmacht kann gemäß §  54 Abs.  3  HGB beschränkt werden. 20. Grundsätzlich kann eine Prokura gem. § 48 Abs. 1 HGB nur von dem Inhaber des Handelsgeschäfts und damit nur von einem Kaufmann (§§ 1 ff. HGB) erteilt werden. Zu beachten ist aber, dass ein Kleingewerbetreibender möglicherweise durch die Erteilung der „Prokura“ einen Rechtsschein dahingehend setzt, ein Kaufmann zu sein, so dass er sich gegebenenfalls als Scheinkaufmann behandeln lassen muss. Dies hätte zur Konsequenz,

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5 Handelsrecht

dass auf indirektem Wege auch ein Kleingewerbetreibender eine „Prokura“ erteilen kann. 21. Die Arten werden in § 54 Abs. 1 HGB benannt. Den Grundfall bildet die Generalhandlungsvollmacht. Dabei handelt es sich um eine Vollmacht für alle Geschäfte, die der bestimmte Handelsbetrieb gewöhnlich, d.  h. branchenüblich mit sich bringt (Ausnahme: § 54 Abs. 2 HGB). Die Arthandlungsvollmacht ist dagegen eine Vollmacht nur für eine bestimmte Art von Geschäften. Bei der Spezialhandlungsvollmacht handelt es sich um eine Vollmacht nur für ein konkretes, bestimmtes Geschäft. 22. 1. Zulässigkeit der Stellvertretung (nicht bei höchstpersönlichen Rechtsgeschäften, z. B. Eheschließung, § 1311 BGB) 2. eigene Willenserklärung des Stellvertreters (Abgrenzung Botenstellung) 3. Offenkundigkeitsprinzip, d. h. Handeln im fremden Namen. Hier ist zu beachten, dass das Handeln im fremden Namen nicht nur ausdrücklich erklärt werden kann („ich möchte den Kaufmann K verpflichten“), sondern es kann sich gem. § 164 Abs. 1 S. 2 BGB auch aus den Umständen ergeben (Verwendung von Firmenstempeln/Firmenbriefpapier o. ä.). 4. Bestehen einer Vertretungsmacht und Handeln innerhalb der Vertretungsmacht. Hier ist auf die Prokura/Handlungsvollmacht einzugehen. Im Gesellschaftsrecht ist hier Wissen über die Vertretungsregeln der verschiedenen Gesellschaftstypen gefragt (Abschn. 6.1.2). 23. Der Handelsreisende ist als Handelsvertreter selbständig tätig, während er als Handlungsgehilfe in einem Handelsgewerbe zur Leistung kaufmännischer Dienste gegen Entgelt angestellt und damit unselbständig und abhängig ist. Anhaltspunkte für die Abhängigkeit können z.  B. sein: Eingliederung in den Betrieb, Weisungsgebundenheit hinsichtlich der Art, Weise und Reihenfolge des Kundenbesuchs, tägliche Berichterstattung über die Tätigkeit, Zahlung eines festen Gehalts, Spesensatz, Gewährung von Urlaub. 24. Ein Handelsvertreter ist ein selbständiger Gewerbetreibender, der ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer – meist ein Hersteller von Markenartikeln – Waren auf fremde Rechnung zu vermitteln oder in dessen (fremden) Namen abzuschließen, §§ 84 ff. HGB. Ein Vertragshändler ist ein selbständiger Gewerbetreibender, der ständig damit betraut ist, für einen anderen Unternehmer Geschäfte im eigenen Namen und auf eigene Rechnung zu schließen (gesetzlich nicht geregelt). 25. Ein Kommissionär ist ein Gewerbetreibender, der sich zum Abschluss eines Ausführungsgeschäfts im eigenen Namen aber für fremde Rechnung verpflichtet hat (§§ 383, 406 HGB). Anwendung finden die §§ 383 ff. HGB. 26. Nein, denn M ist nicht zur Vermittlung verpflichtet. Daher kann K von ihm auch keinen Schadensersatz verlangen. 27. Ja, in diesem Fall hat der K neben den kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüchen gegen den V einen Schadensersatzanspruch gegen M, da er ihn über den ihm bekannten Mangel des Weizens nicht aufgeklärt hat. M ver-

5.9  Lösungen zu den Fragen: Handelsrecht

















415

letzt hier schuldhaft seine Sorgfaltspflicht aus § 347 HGB – daher haftet er dem K auf den ihm dadurch entstandenen Schaden. 28. Legaldefinition: § 343 Abs. 1 HGB. Nach § 344 Abs. 1 HGB gelten die von einem Kaufmann vorgenommenen Rechtsgeschäfte im Zweifel als zu seinem Handelsgewerbe gehörig. Einem anderen Begriffsverständnis begegnen Sie dagegen beispielsweise in den §§ 25, 27 HGB! 29. Ein Handelsbrauch „ist die im kaufmännischen Verkehr bestehende freiwillige Übung, die mit einer gewissen Dauer praktiziert wird und allgemein anerkannt ist.“ Handelsbräuche „sind die Verkehrssitte des Handels.“ (Hopt in Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 36. Aufl. 2014, § 346 Rn. 1.) 30. Kaufmännisches Bestätigungsschreiben (KBS), §  346  HGB: Vertragsverhandlungen mit tatsächlichem/vermeintlichem Vertragsschluss; zwischen Kaufleuten oder Personen, die „wie ein Kaufmann“ handeln oder auftreten; Zugang kaufmännisches Bestätigungsschreiben unmittelbar nach Vertragsverhandlungen; kein unverzüglicher Widerspruch; Redlichkeit des Bestätigenden (Treu und Glauben); Schutzbedürftigkeit des Bestätigenden 31. Grundsätzlich ist nach dem bürgerlichen Recht nur der gute Glaube an das Eigentum geschützt, § 932 Abs. 2 BGB (vgl. § 1006 BGB). § 366 HGB erweitert diesen Gutglaubensschutz für das Handelsrecht: Guter Glaube an die Verfügungsbefugnis (§ 366 Abs. 1 und 2 HGB); guter Glaube an die Vertretungsmacht (§  366 Abs.  1 und 2  HGB analog); gutgläubiger Erwerb gesetzlicher Pfandrechte (§ 366 Abs. 3 HGB). 32. Es entstehen Schadensersatzansprüche aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB, wenn die Pflichtverletzung vor Vertragsschluss erfolgt, und aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB, falls die Verletzungshandlung nach Vertragsschluss erfolgt. 33. Gem. § 377 Abs. 1 HGB muss der Käufer bei einem beiderseitigen Handelskauf (§§ 343, 344 HGB) die Ware unverzüglich untersuchen und wenn er einen Mangel entdeckt, diesen auch unverzüglich rügen. Andernfalls gilt die Ware gem. § 377 Abs. 2 Hs. 1 HGB als genehmigt. Hier ist die Rüge des K verspätet, er hätte zumindest stichprobenartig am 1. Oktober überprüfen und sofort rügen müssen. Daher muss der K den vollen Kaufpreis entrichten; er kann weder zurücktreten noch mindern. Diese Rechte hat er verwirkt. Für eine eventuell noch in Betracht kommende Anfechtung wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§  119 Abs.  2 BGB) ist neben der Sachmängelhaftung ohnehin kein Raum. 34. Da K die Falschlieferung („Erbsen mittelfein“ statt „Erbsen fein“) ordnungsgemäß gerügt hat, kann er den Kaufpreis gem. § 441 Abs. 1 S. 1 BGB mindern. Da er allerdings die Menge nicht gerügt hat, d. h. die Zuvielleistung verschwiegen hat, muss er die 20 zu viel gelieferten Dosen bezahlen. Im Ergebnis kann er 500 Dosen mindern und 20 Dosen muss er voll bezahlen. 35. Nein, denn § 469 Abs. 2 HGB setzt die Einlagerung, d. h. die Vermischung voraus. Hat diese noch nicht stattgefunden, dann kann L dem E keine anderen als dessen Äpfel herausgeben.

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5 Handelsrecht

36. Grundsätzlich hat der Frachtführer die Weisungen des Absenders und Empfängers zu befolgen. Wenn sich die Anweisungen des Absenders und Empfängers widersprechen, geht allerdings die Weisung des Absenders vor, solange das Gut noch nicht beim Empfänger angelangt ist (§ 418 Abs. 1 und 2  HGB). F muss daher zurückliefern, er kann allerdings verlangen, dass seine Aufwendungen ersetzt werden und seine Leistung angemessen vergütet wird (§ 420 Abs. 1 HGB).

6

Gesellschaftsrecht

In Deutschland wird ein großer Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten von privat- 1032 rechtlichen Personenvereinigungen unternommen, die als Gesellschaften bezeichnet werden und Träger von Unternehmen sind. Dabei ermöglicht eine gemeinschaftliche Zweckverfolgung den beteiligten Personen- ihre Ressourcen, wie Kapital und Arbeit- zu bündeln, um gemeinsam größere wirtschaftliche oder nichtwirtschaftliche Projekte zu realisieren. Viele wichtige Industrieprodukte (z. B. Automobile, Maschinen, Produkte der Chemie- oder Elektronikindustrie) werden heute von großen Gesellschaften erzeugt, die zahlreiche Mitarbeiter beschäftigen und weltweite Niederlassungen unterhalten. Aber auch für Dienstleistungen (z. B. Rechtsanwälte und Berater) oder das Handwerk erweist sich die Bildung von privaten Personenvereinigungen als sinnvoll und notwendig, um im Wettbewerb effizienter zu agieren. Ohne den privatrechtlichen Zusammenschluss wäre das unternehmerische Ziel nicht immer, jedenfalls nicht mit demselben Erfolg erreichbar. Das wirtschaftliche Leben in Deutschland wird daher entscheidend von privaten Personenvereinigungen – den Gesellschaften – geprägt. Die Gesellschaften lassen sich ganz allgemein in Personengesellschaften und 1033 Körperschaften einteilen, wobei es kein einheitliches Gesetzbuch „Gesellschaftsrecht“ gibt, das alle gesellschaftsrechtlichen Fragen – von der Verfasstheit der Organisationen bis zu deren Erlöschen – aufnimmt und auflöst. Vielmehr ist das Gesellschaftsrecht in unterschiedlichen Gesetzen niedergelegt. Einschlägige Regelungen finden sich im BGB und HGB sowie in den Spezialgesetzen (z. B. AktG, GmbHG, UmwG). Die verschiedenen Arten von Gesellschaften, die das Privatrecht zur ge- 1034 meinsamen Zweckerreichung zur Verfügung stellt, unterliegen einem sog. „Numerus clausus“ der Gesellschaftsformen, was bedeutet, dass die zulässigen Gesellschaftsformen vom Gesetzgeber abschließend bestimmt und rechtlich ausgestaltet wurden (z. B. oHG, GmbH, AG). Unternehmensgründer können sich daher keine neue, nicht vorgesehene Gesellschaftsform „kreieren“, sondern sie müssen sich aus dem vorhandenen Kanon von Gesellschaftsformen den für ihre Zwecke passenden © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_6

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418

6 Gesellschaftsrecht

Typus aussuchen (z. T. auch als „Typenzwang“ bezeichnet). Das mag angesichts des Grundsatzes der Privat- bzw. Vertragsautonomie zunächst verwundern, wird aber verständlich, wenn man erkennt, dass die Beschränkung auf die vorgegebenen Gesellschaftsformen einen wichtigen Zweck verfolgt, nämlich dem Rechtsverkehr die notwenige Klarheit darüber zu verschaffen, mit „wem“ man es überhaupt zu tun hat und „wie“ die jeweiligen Gesellschaftsformen im Rechtsverkehr agieren dürfen und können, was zugleich auch dem Schutz Dritter (z.  B.  Geschäftspartnern, Gläubigern), aber auch der Gesellschafter selbst und ihren Interessen dient. Daneben ­belassen die zumeist dispositiv ausgestalteten Regelungen zu den Gesellschaftsformen den Gesellschaftern den notwendigen Spielraum, um ihre Bedürfnisse  – auch in Abweichung zu den gesetzlichen Vorgaben – rechtlich auszugestalten; sei es im Rahmen der Gesellschaftsverträge (bzw. Satzung) oder Gesellschaftsbeschlüsse. In diesem Kapitel soll ein Überblick über das Gesellschaftsrecht, als das Recht der privatrechtlichen Personenvereinigungen, gewährt werden. Dabei werden Sie erfahren, • welche zulässigen Gesellschaftsformen es gibt und wie sie verfasst sind; • wie die verschiedenen Gesellschaftsformen entstehen, wie sie sich im Rechtsverkehr verhalten und unter welchen Umständen sie wieder enden können; • wie das Innenverhältnis der Gesellschaften ausgestaltet ist, insbesondere wie die Willensbildung und Geschäftsführung innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsformen erfolgt und wie sich die Beziehung der Gesellschafter zur Gesellschaft und der Gesellschafter untereinander darstellt; • wie das Außenrecht in den jeweiligen Gesellschaften aussieht, d.  h. wie sie rechtsgeschäftlich handeln, wie die Vertretungsbefugnis ausgestaltet ist und wie die Gesellschaft bzw. die Gesellschafter gegenüber Dritten haften.

6.1 Gesellschaften und deren Einteilung 6.1.1 Begriff der Gesellschaft Unter einer Gesellschaft wird wirtschaftsrechtlich der auf einem Rechtsgeschäft beruhende Zusammenschluss von mehreren Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks verstanden. Dabei wird der Grundsatz, dass es sich eigentlich um den vertraglichen Zusammenschluss mehrerer Personen (mindestens zwei Personen) handeln muss, bei den Gesellschaftsformen GmbH, UG (haftungsbeschränkt) und der Aktiengesellschaft durchbrochen, da diese Gesellschaftsformen auch als Ein-Personen-­ Gesellschaften ausgestaltet sein können. 1036 Der zu verfolgende Gesellschaftszweck muss – gleich ob Personengesellschaft oder Körperschaft (§§ 705, 21, 22 BGB) – stets auf einen konkreten Vorgang ausgerichtet sein (z.  B.  Handeln mit holzverarbeitenden Maschinen; Erbringen von Anwaltsdienstleistungen); nicht ausreichend ist hingegen z. B. „Geld verdienen“, „Gewinne erwirtschaften“ oder „Kosten reduzieren“. Die Zweckrichtung der Ge1035

6.1  Gesellschaften und deren Einteilung

419

sellschaft kann dabei ideeller oder wirtschaftlicher Natur sein und sich dabei auf einen einmaligen Vorgang oder auf ein länger andauerndes Zusammenwirken beziehen. Bei einem wirtschaftlich agierenden Unternehmen ist der Gesellschaftszweck zumeist auf den Betrieb eines (Handels-)Gewerbes oder das Erbringen einer Dienstleistung ausgerichtet, doch gibt es auch Zusammenschlüsse die völlig andere Zwecke verfolgen, wie etwa Werbe- und Arbeitsgemeinschaften (ARGE) oder Konsortien, bei denen sich Unternehmen zusammenschließen, um eine zeitlich befristete und inhaltlich abgegrenzte Aufgabe gemeinsam zu erfüllen; selbst rechtswidrige Zwecke können Gesellschaftszweck sein (z. B. Kartelle). Erforderlich ist bei allen vorgenannten Zweckvarianten, dass die Vertrags- 1037 beteiligten bzw. Gesellschafter stets denselben Zweck verfolgen, d. h. der vertraglich festgelegte (Haupt-)Zweck muss ein gemeinsamer sein und bei allen Gesellschaftern identisch, auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass einzelne Gesellschafter daneben individuell weitere Zwecke verfolgen. Beispiel

Der Unternehmer Karl, sein Gläubiger Gustav und sein Zulieferer Ludwig führen gemeinsam eine Werbeaktion zugunsten der Erzeugnisse von Karl durch. Gemeinsamer Zweck ist das Werben für die Produkte von Karl, also liegt eine Gesellschaft vor. Unerheblich ist, dass es Karl letztlich um die Erhöhung seines Gewinns geht, Gustav um die Realisierung seiner Forderungen gegen Karl und Ludwig um die Erweiterung seiner eigenen Lieferungen an Karl. Dies sind alles nur weitere individuelle Zwecke, die neben den Hauptzweck der Gesellschaft treten. ◄ Wie wichtig der gemeinsame Zweck für eine Gesellschaft ist, ergibt sich z. B. aus §  726 BGB, der festschreibt, dass eine Gesellschaft endet, wenn der vereinbarte Zweck erreicht oder die Erreichung unmöglich geworden ist. Ein gemeinsamer, gesellschaftsrechtlicher Zweck liegt dagegen nicht vor, 1038 wenn die Vertragspartner lediglich am Geschäftsziel der anderen interessiert sind, ohne dass für die Erreichung eines gemeinsamen Ziels konkrete Rechte und Pflichten festgelegt werden. Ferner, wenn sich der Zusammenschluss nur auf das gemeinsame Innehaben von Rechtspositionen beschränkt (z.  B.  Gemeinschaft nach Bruchteilen, § 741 BGB). Ebenso fehlt ein solcher gemeinsamer Zweck beim normalen Austauschvertrag (z.  B.  Kaufvertrag). Denn während bei der Gesellschaft und im Gesellschaftsvertrag gleichgerichtete Willenserklärungen vorliegen, die Vertragspartner also gemeinsam auf dasselbe Ziel hinsteuern, liegen bei einem Austauschverhältnis, z. B. einem Kaufvertrag, gerade gegenläufige Interessen vor („do ut des“ = „gibst du mir, so geb’ ich dir“), der Käufer will z. B. günstig einkaufen, der Verkäufer teuer verkaufen. Beispiel

Die Nachbarn A und B kaufen gemeinsam einen Rasenmäher, den sie künftig für ihre Gartenarbeiten nutzen wollen. Der Grund für die gemeinsame Anschaffung liegt alleine in der Kostenersparnis. Insofern verfolgen die Nachbarn keinen ge-

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6 Gesellschaftsrecht

meinsamen Zweck, sondern jeder verfolgt seinen eigenen, individuellen Zweck, namentlich seine Anschaffungskosten zu reduzieren. Dementsprechend liegt keine Gesellschaft vor, sondern lediglich eine sog. Bruchteilgemeinschaft gemäß § 741 BGB, die sich auf das nur gemeinsame Innehaben einer Rechtsposition in Bruchteilen (Eigentum am Rasenmäher) beschränkt. Würden dagegen A und B den angeschafften Rasenmäher auch mit dem Ziel vermieten wollen, die Mieteinnahmen für gemeinsame Urlaube einzusetzen, verfolgen sie einen gemeinsamen Zweck; sie wären daher als eine Gesellschaft einzustufen. ◄

6.1.2 Einteilung der Gesellschaften Das Gesellschaftsrecht unterscheidet generell zwischen Personengesellschaften und Körperschaften. Dabei lassen sich diese beiden Gesellschaftsformen jeweils auf einen gemeinsamen Grundtypus zurückführen, nämlich die Personengesellschaften auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR; §§ 705 ff. BGB) und die Körperschaften auf den eingetragenen Verein (§§  21  ff. und  55  ff. BGB). Diese Grundtypen (GbR und Verein) weisen bestimmte allgemeine Strukturmerkmale auf, die auch bei allen nachfolgenden und sich auf den Grundtypus beziehenden Gesellschaftsformen zu finden sind. Ferner finden die Regelungen der Grundtypen immer dort Anwendung, wo die jeweiligen Spezialregelungen Lücken aufweisen (so ist z. B. die Zurechnung von deliktischem Verhalten der Organe auf die AG oder die GmbH gesetzlich nicht geregelt, weshalb ergänzend auf § 31 BGB – die Regelung des Grundtypus – zurückgegriffen werden kann; ähnliches gilt für das Nachschusspflichtverbot aus § 707 BGB, das nur bei der GbR geregelt ist, aber auch für die anderen Personengesellschaften gilt). 1040 Die auf dem Grundtypus der GbR (§§ 705–740 BGB) basierenden Personengesellschaften sind: 1039

• • • • •

die offene Handelsgesellschaft (oHG, §§ 105–160 HGB), die Kommanditgesellschaft (KG, §§ 161–177a HGB), die Partnerschaft (PartG, §§ 1 ff. PartGG), die stille Gesellschaft (§§ 230–236 HGB) sowie die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV, EG-Verordnung Nr. 2137/1985).

Alle Personengesellschaften beruhen nach dem gesetzlichen Leitbild der GbR auf einem besonderen persönlichen Vertrauen, das sich die einzelnen Gesellschafter untereinander entgegenbringen. Daraus folgt nicht nur eine besondere Treuepflicht der Gesellschafter gegenüber den Mitgesellschaftern, sondern die gesellschaftliche Organisation ist insgesamt stark mitglieds- bzw. gesellschafterbezogen ausgerichtet. Es ist Sache der Gesellschafter in ihrer gegenseitigen Verbundenheit, die Angelegenheiten der Gesellschaft selbst zu erledigen (sog. Prinzip der Selbstorganschaft). Insofern sind sie angehalten, den gemeinsamen Zweck der Gesellschaft durch die Leistung der vertraglich vereinbarten Beiträge sowie die

6.1  Gesellschaften und deren Einteilung

421

persönliche Mitarbeit zu fördern. Die Geschäftsführung obliegt den Gesellschaftern und kann nicht vollständig auf einen außen stehenden Dritten delegiert werden. Erforderlich werdende Gesellschafterbeschlüsse bedürfen der Zustimmung aller Gesellschafter und auch die Vertretung nach außen kann nur über die Gesellschafter selbst erfolgen. Der Fortbestand der Personengesellschaft ist weitgehend von der unveränderten Zusammensetzung des Personenkreises der Gesellschafter abhängig. Das erwirtschaftete Vermögen wird Gesamthandvermögen und die Gesellschafter haften für Verbindlichkeiten gegenüber Dritten persönlich und unmittelbar. Die auf dem Grundtypus des eingetragenen (rechtsfähigen) Verein basierenden 1041 Körperschaften bzw. Kapitalgesellschaften, namentlich • • • • •

die Aktiengesellschaft (AG, §§ 1 ff. AktG), Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA, §§ 278–290 AktG), die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH, §§ 1 ff. GmbHG), die eingetragene Genossenschaft (e.G., §§ 1 ff. GenG) sowie die Europäische Aktiengesellschaft (SE; EG-Verordnung Nr. 2157/2001)

sind – anders als die Personengesellschaft – darauf ausgelegt, das Einzelmitglied zu überdauern. Sie sind von einem Wechsel oder Ausscheiden der Mitglieder unabhängig und gegenüber ihren Mitgliedern verselbständigt, was sich nicht nur im Rechtsstatus als juristische Person zeigt, sondern auch in der einfachen Übertragbarkeit der Anteile sowie der Möglichkeit zur Gründung von Ein-Mann-­Gesellschaften. Vereine und Kapitalgesellschaften sind körperschaftlich verfasst, es gibt mindestens zwei Organe, die Mitglieder- bzw. Gesellschafterversammlung sowie den Vorstand bzw. Geschäftsführer. Die Willensbildung erfolgt nach dem Mehrheitsprinzip, der Vorstand bzw. Geschäftsführer vertritt die Körperschaft nach außen, wobei die mit der Geschäftsführung und Vertretung Betrauten nicht Mitglieder der Organisation sein müssen (sog. Prinzip der Fremd- oder Drittorganschaft). Rechtlich gebunden wird die Körperschaft und nicht diejenigen, die ihr als Mitglieder angehören. Die körperschaftliche Struktur sorgt demnach für eine strikte Trennung zwischen den Angelegenheiten der Mitglieder und denen der Körperschaft. Sie ermöglicht zudem ein eigenständiges Organisationsvermögen der Körperschaft, welches vom Gesellschaftervermögen getrennt ist und für Verbindlichkeiten der Körperschaft haftet. Häufig wird die Unterscheidung Personengesellschaft und Körperschaft alleine 1042 mit der persönlichen Haftung (§ 128 HGB) bzw. Nichthaftung (z. B. § 13 Abs. 2 GmbHG) der Mitglieder für die Gesellschaftsverbindlichkeiten erklärt. Dies ist nur zum Teil richtig. Bei der Kommanditgesellschaft ist die persönliche Haftung der Kommanditisten auf die Einlage begrenzt, § 171 Abs. 1 HGB. Sind sie ihrer Einlagenverpflichtung nachgekommen, so können sie persönlich grundsätzlich nicht mehr in Anspruch genommen werden. Die Kommanditgesellschaft ist aber auch Personengesellschaft. Auch bei den Körperschaften, insbesondere bei der GmbH, wird zunehmend seitens der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis anerkannt, dass der Ausschluss der persönlichen Haftung der Gesellschafter nicht Wesensmerkmal dieser Gesellschaftsformen ist. Zwar bestimmt z. B. § 13 Abs. 2 GmbHG den Ausschluss der persönlichen Haftung der Gesellschafter, Rechtsprechung und Rechtslehre erkennen aber für eine Reihe von Sachverhalten die Möglichkeit einer „Durch-

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6 Gesellschaftsrecht

griffshaftung“ an. Zur ersten Orientierung kann aber dennoch daran festgehalten werden, dass bei den Körperschaften nur die Gesellschaft haftet. 1043 Ein weiterer Unterschied zwischen der Personengesellschaft und der Körperschaft liegt darin, dass Körperschaften immer zugleich Innen- und Außengesellschaft sind, da sie mit ihrer Entstehung sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis rechtliche Wirkung entfalten; sie erlangen als juristische Personen Rechtsfähigkeit und sind damit alleine Trägerin von Rechten und Pflichten. Personengesellschaften können dagegen auch als reine Innengesellschaften ausgestaltet sein, wie beispielsweise die stille Gesellschaft als Sonderform der GbR. Bei ihr beteiligt sich ein sog. stiller Gesellschafter am Handelsgewerbe eines anderen mit einer Vermögenseinlage, die in das Vermögen des Geschäftsinhabers übergeht (§§  230, 231 HGB). Nach außen tritt der stille Gesellschafter dagegen gar nicht in Erscheinung; Träger von Rechten und Pflichten bleibt alleine der Geschäftsinhaber. Auch die GbR kann als reine Innengesellschaft ausgestaltet sein, wenn die Gesellschaft nicht am Rechtsverkehr nach außen teilnehmen soll (z. B. Fahrgemeinschaft). Diese Reduzierung des Gesellschaftszwecks auf das Innenverhältnis ist nur bei Personengesellschaften möglich, nicht dagegen bei Körperschaften. *HVHOOVFKDIWVIRUPHQ 7HLOYRQ 3HUVRQHQJHVHOOVFKDIWHQ ,QQHQJHVHOOVFKDIWHQ

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Überblick Gesellschaftsarten – I

*HVHOOVFKDIWVIRUPHQ 7HLOYRQ .|USHUVFKDIWHQ 9HUHLQH

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Überblick Gesellschaftsarten – II

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6.2 Personengesellschaften

423

*HVHOOVFKDIWVIRUPHQ 7HLOYRQ 6RQGHUIRUPHQ 3DUWQHUVFKDIWV JHVHOOVFKDIW

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Überblick Gesellschaftsarten – III

6.2 Personengesellschaften 6.2.1 BGB-Gesellschaft/Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) Die BGB-Gesellschaft oder GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts) ist der Grund- 1044 typ der Personengesellschaften. Gesellschafter können natürliche oder juristische Personen sein  – Einzelpersonen ebenso wie Gesellschaften. Geregelt ist sie in §§ 705–740 BGB. Die (Außen-)  GbR ist seit dem Urteil des BGH vom 29. Januar 2001 mit 1045 (Teil-) Rechtsfähigkeit ausgestattet (BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056). Sie kann daher selbst – obschon gesetzlich nicht geregelt – Trägerin von Rechten und Pflichten sein. Zugleich wurde ihr auch die aktive und passive Parteifähigkeit (§  50 ZPO) zuerkannt, so dass sie ihre Interessen im Prozess selbständig einklagen, aber auch verklagt werden kann. Die BGB-Gesellschaft ist für eine Vielzahl von Zwecken geeignet und kann 1046 daher für jeden erlaubten Zweck nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch ideeller Art (z. B. Lottogemeinschaft oder ein Freundeskreis zur Förderung kultureller Zwecke) gegründet werden. Sie darf allerdings kein Handelsgewerbe (§  1 HGB) betreiben, da aufgrund des Typenzwangs im Gesellschaftsrecht in diesem Fall die Rechtsformen der offenen Handelsgesellschaft (§  105 Abs.  1 HGB) oder Kommanditgesellschaft (§ 161 Abs. 1 HGB) zwingend vorgeschrieben sind. Beispiel

Die Studierenden A und B haben eine kleine Werkstatt eingerichtet und reparieren gegen Entgelt Fahrräder. Sie arbeiten in der heimischen Garage des A und die Einnahmen sind noch gering, so dass sie als Gesellschafter einer GbR einzustufen sind (§§ 705 ff. BGB). Würden A und B ein Ladenlokal betreiben, hätten Mitarbeiter eingestellt und ihre Umsätze wären so groß, dass sie bereits eine externe Buchhaltung für die Jahresabschlüsse bemühen müssten, würden sie ein Handelsgewerbe betreiben und wären kraft Gesetzes Gesellschafter einer oHG (§§  123 Abs.  2, 105 Abs. 1 HGB). ◄

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6 Gesellschaftsrecht

Die GbR eignet sich u. a. für Kleingewerbetreibende (Unternehmen, die keinen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordern), Bürogemeinschaften, wirtschaftliche Vereinigungen auf Zeit (z.  B.  Projektgemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften im Baugewerbe (ARGE), Gelegenheitsgesellschaften = Konsortien), überbetriebliche Zusammenschlüsse wie Kartelle, Konzerne, Werbeund Interessengemeinschaften sowie für Zusammenschlüsse von Angehörigen sog. freier Berufe (z. B. Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte und Steuerberater), auch wenn Letztere seit Juli 1995 auch die Möglichkeit besitzen, eine Partnerschaftsgesellschaft (Abschn. 6.2.3) zu bilden. Beispiel

Mehrere Banken schließen sich zusammen, um einen Großkredit zur Finanzierung eines Vorhabens aufzubringen. Hier handelt es sich im Zweifel um ein sog. Finanzierungs- und Kreditkonsortium in Gestalt einer GbR. Schließen sich mehrere Banken zusammen, um die Aktien einer neu gegründeten Aktiengesellschaft zu übernehmen und auf dem Markt unterzubringen, so bilden sie ein sog. Emissionskonsortium und damit ebenfalls eine GbR. ◄

6.2.1.1 Entstehung Die GbR entsteht durch einen schuldrechtlichen Vertrag (= Gesellschaftsvertrag), in welchem sich die Gesellschafter (mindestens zwei) gegenseitig verpflichten, einen gemeinsamen Zweck zu erreichen (§  705 BGB) und die Zweckerreichung durch Leistung vereinbarter Beiträge zu fördern (§  706 BGB). Diese Verpflichtungen bilden den Mindestinhalt des Gesellschaftsvertrags; häufig werden jedoch zusätzlich Regelungen betreffend der Beziehungen zu Dritten im Gesellschaftsvertrag aufgenommen, ebenso Absprachen zum organisatorischen Gefüge der Gesellschaft. 1048 Vertragsschließende und damit Gesellschafter können sowohl natürliche und juristische Personen als auch Personengesellschaften wie GbR, OHG und KG sein. 1049 Eine besondere Form ist für den Abschluss des Gesellschaftsvertrages nicht erforderlich, er kann daher auch mündlich oder konkludent abgeschlossen werden. Im Alltag kommen daher zahlreiche Gelegenheitsgesellschaften zustande, ohne dass dies den Beteiligten tatsächlich bewusst wird (z.  B.  Absprache zu einer gemeinsamen Autofahrt auf gemeinsame Rechnung). Der Gesellschaftsvertrag bedarf ausnahmsweise einer Form, wenn er ein formbedürftiges Leistungsversprechen enthält. 1047

Beispiel

Verpflichtet sich ein Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag, ein Grundstück einzubringen, das zum Gesellschaftsvermögen gehören soll, so bedarf der Gesellschaftsvertrag insgesamt der notariellen Beurkundung gemäß § 311b Abs. 1 BGB. ◄ 1050

Soweit der Gesellschaftsvertrag schuldrechtlicher Vertrag ist, finden auf ihn die allgemeinen Vorschriften des BGB über Rechtsgeschäfte und die Vorschriften des

6.2 Personengesellschaften

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allgemeinen Schuldrechts Anwendung. Ausgeschlossen ist allerdings die Anwendung der §§ 320 ff. BGB, da der Gesellschaftsvertrag gerade kein Austauschvertrag ist und die synallagmatische Verknüpfung von Leistungspflichten („gibst du mir, so geb’ ich dir“) fehlt. Bei sog. fehlerhaften Gesellschaftsverträgen, also Verträgen, die auf einer 1051 nichtigen oder anfechtbaren Vertragsgrundlage beruhen, gelten Besonderheiten. Die Anfechtung und Nichtigkeit eines Vertrages wegen Formmängeln, Willensmängeln (Irrtums, Täuschung oder Drohung) oder wegen einer sittenwidrigen Übervorteilung wirkt eigentlich nach §§ 142, 138 BGB auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses zurück. Diese Rechtsfolge kann aber für den Gesellschaftsvertrag nicht uneingeschränkt gelten, denn der Gesellschaftsvertrag kann nach der Aufnahme der Geschäfte durch die Gesellschafter nicht mehr ohne Weiteres rückabgewickelt werden, weil die erbrachten Leistungen nicht ohne Rechtsverlust zurückgefordert werden können. Die Gesellschafter haben u. U. schon Einlagen auf den gemeinsamen Gesellschaftszweck in verschiedener Form erbracht (z. B. Sach- oder Geldleistungen sowie Rechte, insbesondere gewerbliche Schutzrechte), sie haben Arbeitszeit aufgewandt (z. B. durch eine Tätigkeit als Geschäftsführer und Vertreter einer Gesellschaft) und Mitgliedschaftsrechte ausgeübt (z. B. eine actio pro socio angestrengt). Vielleicht sind auch schon Gesellschafter ein- und ausgetreten und es wurden Verträge und Folgeverträge mit Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern geschlossen (z.  B.  Kauf, Leasing,  Miete  von Geschäftsräumen, Durchführung von Werbemaßnahmen) auf deren Bestand dieselben vertrauen. Hier nun die Rückabwicklung einer werbenden Gesellschaft betreiben zu wollen, ist nahezu aussichtslos; die bereicherungsrechtlichen Regelungen könnten hier nicht mehr für den notwendigen Ausgleich bei Rückabwicklung sorgen (§§  812  ff., 818 Abs.  2 und 3 BGB). Daher hat die Rechtsprechung die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft entwickelt, nach welcher Gesellschaften, die durch die Aufnahme von Rechtsbeziehungen zu Dritten und/oder der Bildung eines Gesellschaftsvermögens bereits in Vollzug gesetzt wurden, rückwirkend wie eine fehlerfreie Gesellschaft behandelt werden. Der fehlerhafte Gesellschaftsvertrag löst nur Rechtsfolgen für die Zukunft aus, indem jeder Gesellschafter berechtigt ist, die Auflösung der Gesellschaft zu verlangen. Diese besondere Rechtsfolge (Auflösungs- bzw. Kündigungsrecht für die Zukunft) kann im Ausnahmefall wieder ausgeschlossen sein, wenn gewichtige Interessen der Allgemeinheit oder schutzwürdiger Personen entgegenstehen, z. B. wenn der Gesellschaftsvertrag nur zum Schein abgeschlossen wurde (§ 117 BGB), der verfolgte Gesellschaftszweck bereits gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB) oder gegen die guten Sitten (§ 138 BGB) verstößt, oder der Schutz nicht voll Geschäftsfähiger die Auflösung der Gesellschaft auf den Vertragsschluss gebietet. Beispiel

Die drei größten Kaffee-Röstereien A, B und C verabreden, ab sofort ihr Verhalten am Markt miteinander abzustimmen, um bessere Preise zu erzielen und die Umsätze zu maximieren; sie verabreden daher ein Kartell und zugleich eine GbR.

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6 Gesellschaftsrecht

Allerdings ist ein solcher Gesellschaftsvertrag, der gegen kartellrechtliche Vorschriften verstößt, bereits bei Abschluss nichtig (§ 134 BGB). Dies gilt auch, wenn die Gesellschafter bereits Aktivitäten veranlasst haben (z. B. Werbemaßnahmen in Gang setzten, Preisabsprachen mit nachgelagerten Händlern getroffen haben, usw.). Hier bleibt es bei der Rückwirkung der Nichtigkeit auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft ist aufgrund der Kollision mit gewichtigen Interessen der Allgemeinheit an einem funktionierenden Markt nicht anwendbar. ◄ 1052

Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Grundsätze zur fehlerhaften Gesellschaft auch bei einem fehlerhaften Beitritt oder Ausscheiden von Gesellschaftern oder der fehlerhaften Übertragung einer Gesellschafterstellung gelten, also immer dann, wenn sich die Folgen der Invollzugsetzung nicht mehr interessensgerecht rückabwickeln lassen (ähnliches gilt auch bei Arbeitsverhältnissen, Abschn. 9.7).

6.2.1.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter Mit der Gründung einer GbR trifft die Gesellschafter die Pflicht, den Gesellschaftszweck durch Beiträge zu fördern (§ 705 BGB). Beiträge der Gesellschafter sind alle Leistungen, zu denen sich diese im Gesellschaftsvertrag zur Förderung des Gesellschaftszwecks verpflichtet haben. Beiträge können z. B. Geldzahlungen, die Übereignung  beweglicher Sachen und Grundstücke, die Einbringung von Wertpapieren, das Überlassen von Patenten, die Gestattung des Gebrauchs von Sachen zur gemeinsamen Nutzung sowie Dienstleistungen (§ 706 Abs. 3 BGB) sein. Nach der gesetzlichen Regelung des § 707 BGB sind die Gesellschafter allerdings nicht verpflichtet, die im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Beiträge nachträglich nochmals zu erhöhen oder eine durch Verlust verminderte Einlage nachträglich zu ergänzen; es besteht gerade keine Nachschussverpflichtung (nur ganz ausnahmsweise aus Treu und Glauben nach  §  242 BGB herleitbar oder sofern vertraglich vorgesehen). Wollen die Gesellschafter die Beiträge nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages nochmals erhöhen, ist regelmäßig eine Änderung des Gesellschaftsvertrags erforderlich, und damit die Zustimmung aller Gesellschafter. 1054 Die Tatsache, dass sich die Gesellschafter zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes zusammengeschlossen haben, macht sie zu einer Art „Schicksalsgemeinschaft“, die eine besondere Treuepflicht gegenüber den Mitgesellschaftern und im Verhältnis zur Gesellschaft begründet. Die Gesellschafter schulden daher eine besondere Rücksichtnahme und Loyalität. Sie müssen alles unterlassen, was den Interessen der Mitgesellschafter bzw. Gesellschaft zuwiderlaufen würde. Verletzt ein Gesellschafter diese Pflicht (z. B. weil er Geschäftsgeheimnisse preisgibt oder zu Lasten der GbR konkurrierend in einem anderen Unternehmen tätig wird), haftet er für den daraus entstehenden Schaden nach den allgemeinen Regeln (§ 280 Abs. 1 BGB). Die Haftung wird jedoch durch §  708 BGB entschärft, wonach der Gesellschafter nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt (§ 277 BGB). 1055 In Ausübung ihrer Pflichten sind die Gesellschafter stets gleich zu behandeln (sog. Gleichbehandlungsgebot), es sei denn, die Gesellschafter selbst haben ihr 1053

6.2 Personengesellschaften

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Einverständnis zu einer ungleichen Behandlung erteilt. Dieses Gleichbehandlungsgebot findet auch mehrfach Ausdruck im Gesetz (§ 706 Abs. 1 BGB „gleiche Beiträge“; § 722 Abs. 1 BGB „gleicher Anteil“).

6.2.1.3 Gesellschafts-/Gesellschaftervermögen Bei Gründung der GbR wird ein Sondervermögen gebildet, das vom Privatver- 1056 mögen der Gesellschafter zu trennen ist. Zu diesem Sondervermögen (=  Gesellschaftsvermögen) gehören die Beiträge der Gesellschafter (die Einlagen) sowie die Gegenstände, die durch die Geschäftsführung für die Gesellschaft erworben worden sind (§ 718 BGB). Dazu zählen bewegliche Sachen, Grundstücke, Forderungen und sonstige Rechte aller Art.  Diese zum Gesellschaftsvermögen gehörenden Sachen und Rechte der Gesellschafter unterliegen einigen Sonderregelungen, die sich daraus ergeben, dass das Gesellschaftsvermögen nicht mehr im unabhängigen und freien Willen des einzelnen Gesellschafters stehen kann, sondern dem gemeinsamen Zweck der Gesellschaft untergeordnet wird. Das Gesellschaftsvermögen ist Gesamthandsvermögen (Gesamthands- 1057 gemeinschaft), d.  h. während des Bestehens der Gesellschaft kann kein Gesellschafter seine Einlage zurückfordern oder auch nur über einen Teil des Gesellschaftsvermögens frei verfügen. Über das Gesellschaftsvermögen als Ganzes sowie auch über Teile des Gesellschaftsvermögens können nur alle Gesellschafter gemeinsam verfügen (§ 719 BGB). Gesamthandsvermögen bedeutet also: die dazugehörigen Sachen und Rechte stehen allen Gesellschaftern gemeinschaftlich zu; über einzelne Vermögensgegenstände können die Gesellschafter nur noch gemeinsam verfügen. Beispiel

Hat sich ein Gesellschafter einer GbR im Gesellschaftsvertrag verpflichtet, ein ihm gehörendes Grundstück in die Gesellschaft einzubringen, und übereignet er dieses Grundstück der Gesellschaft wirksam, so gehört dieses Grundstück nicht mehr zu seinem Privatvermögen. Es ist nun Teil des Gesellschaftsvermögens. Träger des Vermögens der Gesellschaft sind zwar die einzelnen Gesellschafter, die Verfügung über das Gesellschaftsvermögen steht jedoch nicht mehr dem einzelnen einbringenden Gesellschafter zu. Verfügungen erfolgen vielmehr nur noch nach dem Willen der Gesellschaft, der nach den gesellschaftsvertraglichen oder den gesetzlich vorgeschriebenen Regeln zustande kommt. ◄ Anteile am Gesellschaftsvermögen gibt es aus diesem Grunde auch nur „rechne- 1058 risch“. Dies wird insbesondere durch das für alle Personengesellschaften bestehende Prinzip der An- und Abwachsung verdeutlicht. Scheidet ein Gesellschafter aus der Gesellschaft aus, wächst sein „Anteil“ am Gesellschaftsvermögen den anderen Gesellschaftern zu. Nur diese Gesellschafter sind jetzt über das Gesellschaftsvermögen verfügungsberechtigt. Der ausscheidende Gesellschafter erhält für den „Verlust“ lediglich eine Forderung gegen die Gesellschaft bzw. die Mitgesellschafter (Abfindungsanspruch), die wertmäßig seinem rechnerischen Anteil am Gesellschaftsvermögen entspricht (§ 738 Abs. 1 BGB).

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6 Gesellschaftsrecht

Nach der gesetzlichen Regelung haben die Gesellschafter ohne Rücksicht auf die Höhe des von ihnen zu erbringenden Beitrages gleichen Anteil am Gewinn und Verlust (§§ 721, 722 BGB). Das bedeutet, dass die gesetzliche Gewinn- und Verlustbeteiligung grundsätzlich nach gleichen Anteilen erfolgt, nachdem die Gesellschaft aufgelöst ist oder, bei Gesellschaften längerer Dauer, am Schluss jedes Geschäftsjahres. Allerdings treffen die Gesellschafter in der Praxis regelmäßig abweichende Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag, indem sie darin die Gewinnund Verlustbeteiligung vom Umfang der geleisteten Beiträge abhängig machen.

6.2.1.4 Geschäftsführung und Vertretung Die Führung der Geschäfte im Innenverhältnis (sog. Geschäftsführung) steht allen Gesellschaftern gemeinschaftlich zu (§ 709 Abs. 1 BGB; Gesamtgeschäftsführung). Danach bedarf jede Entscheidung über Angelegenheiten der Gesellschaft der Zustimmung aller Gesellschafter (= positives Konsensprinzip). Dies ist natürlich recht schwerfällig, weshalb in der Praxis häufig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, abweichende Regelungen zu treffen. Solche Regelungen – z. B. Mehrheitsbeschlüsse oder die Übertragung der Geschäftsführung auf Einzelne – können im Gesellschaftsvertrag festgeschrieben werden (§§ 709 Abs. 2, 710 BGB). Sofern die Geschäftsführungsbefugnis auf Einzelne übertragen wird, ist durchaus damit zu rechnen, dass die Geschäftsführenden den Gesellschafterinteressen zuwider entscheiden. Für diesen Fall steht den anderen, von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschaftern ein Widerspruchsrecht nach § 711 BGB zu (= negatives Konsensprinzip). Wird von diesem Gebrauch gemacht, muss das beabsichtigte Geschäft unterbleiben. Auch dieses Widerspruchsrecht ist dispositiver Natur und könnte im Gesellschaftsvertrag abbedungen werden. Unter keinen Umständen darf hingegen die Geschäftsführung insgesamt auf außenstehende Dritte übertragen werden (sog. Prinzip der Selbstorganschaft). Wird erkennbar, dass ein geschäftsführender Gesellschafter sich als unfähig erweist, seinen Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen oder verletzt er seine Pflichten grob, so kann ihm die Geschäftsführung entzogen werden (§ 712 Abs. 1 BGB). Sind Gesellschafter – gleichgültig aus welchem Grund – von der Geschäftsführung ausgeschlossen, behalten sie allerdings einige Kontrollrechte (Informations- und Einsichtsrechte) nach § 716 BGB, die auch vertraglich erweitert werden können. 1061 Die rechtsgeschäftliche Vertretung der GbR nach außen ist von Gesetzes wegen mit der Geschäftsführungsbefugnis verbunden (§  714 BGB); wem die Geschäftsführung zusteht, dem soll auch die Vertretungsbefugnis zustehen. Daher sind nach §§ 714, 709 BGB auch alle Gesellschafter gemeinschaftlich zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt. Daraus folgt, dass wirksame Willenserklärungen für die Gesellschaft nur abgegeben werden können, wenn sämtliche Gesellschafter mitwirken. Schriftliche Verträge sind von allen Gesellschaftern zu unterzeichnen, bei mündlichen Vertragsabschlüssen müssen alle Gesellschafter anwesend sein. Schließt ein Gesellschafter ein Rechtsgeschäft alleine, obwohl die Gesellschafter nur gemeinschaftlich zur Vertretung befugt sind, so ist das Geschäft zunächst schwebend unwirksam und falls es die Gesellschaft nicht genehmigt, haftet der Gesellschafter als Vertreter ohne Vertretungsmacht (§ 179 Abs. 1 BGB). Da die gesetzliche Regelung in der Praxis zu Schwierigkeiten

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6.2 Personengesellschaften

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führt, werden deshalb häufig von der Gesamtvertretung abweichende Regelungen im Gesellschaftsvertrag getroffen (z.  B.  Einzelvertretungsbefugnis in Entsprechung zur vertraglich festgelegten Einzelgeschäftsführungsbefugnis). Die Vertretungsbefugnis kann nach Maßgabe des § 712 Abs. 1 BGB entzogen werden (§ 715 BGB).

6.2.1.5 Haftung Für die im Außenverhältnis begründeten rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten 1062 haften zum einen das Gesellschaftsvermögen der rechtsfähigen (Außen-)GbR, in das auch vollstreckt werden kann (BGHZ 146, 341= NJW 2001, 1056), und zum anderen die Gesellschafter. Sie haften für die im Namen der GbR begründeten Verbindlichkeiten kraft Gesetzes akzessorisch (§ 128 HGB analog; BGHZ 146, 341= NJW 2001, 1056), persönlich und unbeschränkt als Gesamtschuldner. Dabei steht es den Gesellschaftsgläubigern frei, wen sie für ihre Verbindlichkeit in Anspruch nehmen, die GbR oder den Gesellschafter. Persönliche Haftung des Gesellschafters bedeutet, dass sich ein Gesellschaftsgläubiger wegen seines Zahlungsanspruchs unmittelbar an jeden einzelnen Gesellschafter wenden, und von diesem die volle Zahlung der Gesellschaftsverbindlichkeit verlangen kann. Die persönliche Haftung des Gesellschafters wird normativ über § 714 BGB begründet, denn danach verpflichten die vertretungsberechtigten Gesellschafter bei dem Abschluss von Verträgen jeweils auch die Mitgesellschafter. Eine Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag dahingehend, dass für die Gesellschaftsschulden nur die Gesellschaft haften soll, ist Dritten gegenüber ebenso unwirksam, wie eine selbst kreierte Haftungsbeschränkung durch Namenszusätze (z. B. GbRmbH = GbR mit beschränkter Haftung). Ein Ausschluss der persönlichen Haftung der Gesellschafter kann überhaupt nur durch eine vertragliche (Individual-) Vereinbarung mit dem Gesellschaftsgläubiger selbst herbeigeführt werden (BGHZ 142, 315 = NJW 1999, 3483; selbst AGB genügen dafür nicht). Die Gesellschafter haften unbeschränkt, d. h. eben nicht nur mit ihrem rechnerischen Anteil am Gesellschaftsvermögen, sondern auch mit ihrem Privatvermögen (= Gesellschaftervermögen). Den Gläubigern stehen damit stets zwei Haftungsmassen zur Verfügung, sie können in das Gesellschaftsvermögen und das Privatvermögen vollstrecken. Insofern sind die Gesellschafter „faktisch“ doch immer von einer sog. Nachschussverpflichtung bedroht, obwohl diese nach § 707 BGB eigentlich nicht besteht. Und schließlich haften die Gesellschafter als Gesamtschuldner, d. h. jeder von ihnen ist dem Gläubiger gegenüber zur Zahlung der Gesamtsumme verpflichtet (nicht nur anteilsmäßig) und kann erst nach Leistung an den Gläubiger im Innenverhältnis gegenüber seinen Mitgesellschaftern seinen Ausgleichsanspruch geltend machen (§ 426 BGB, Abschn. 1.6.7.3). Im Zuge seiner Entscheidungen zur (Außen-)GbR hat der BGH ferner befunden, 1063 dass sich die Haftung des Gesellschafters auch auf deliktische Verbindlichkeiten erstreckt, für welche die GbR analog § 31 BGB einzustehen hat (BGH NJW 2003, 1445). Ferner, dass auch neu eintretende Gesellschafter für Altverbindlichkeiten der GbR (Verbindlichkeiten, die bereits vor ihrem Eintritt entstanden sind) in Anspruch genommen werden können (analog § 130 HGB; BGH NJW 2003, 1803).

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6 Gesellschaftsrecht

6.2.1.6 Gesellschafterwechsel Die Rechtsstellung der Gesellschafter wird mit Vertragsschluss erworben. Dabei beruht der Zusammenschluss  – wie bereits erwähnt  – auf dem persönlichen Vertrauen, dass sich die Gesellschafter untereinander entgegenbringen und ist durch das Leitbild der „Einheitlichkeit der Mitgliedschaft“ und „Gesamthand“ geprägt. Damit wäre es zum einen nicht zu vereinbaren, wenn einzelne Mitverwaltungsrechte durch die Übertragung auf Dritte von einem Gesellschafteranteil abgespalten werden könnten. Deshalb normiert §  717 S.  1 BGB das sog. Abspaltungsverbot, nach welchem wesentliche Gesellschafterrechte (folglich auch die Gesellschafterstellung) grundsätzlich nicht auf Dritte übertragbar sind. Eine Ausnahme gilt nur für Vermögensrechte, sofern sie sich aus dem Gesellschaftsverhältnis lösen lassen, ohne dass es einer Auseinandersetzung nach den §§  730  ff. BGB bedarf (z.  B.  Abtretung der Geschäftsführervergütung oder des Anspruchs auf einen Gewinnanteil). Zum anderen folgt daraus, dass sich kein Gesellschafter nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages gegen seinen Willen einen neu hinzukommenden Gesellschafter aufzwingen lassen muss. Daher bedarf es für die Aufnahme neuer Gesellschafter grundsätzlich einer Änderung des Gesellschaftsvertrages unter Zustimmung aller Gesellschafter. Aus demselben Grund („Einheitlichkeit der Mitgliedschaft“) ordnet § 727 Abs. 1 BGB an, dass sich die GbR in dem Moment auflöst, in welchem ein Gesellschafter durch Tod, Kündigung oder wegen Insolvenz ausscheidet, es sei denn, die Gesellschafter haben diese Rechtsfolge im Gesellschaftsvertrag durch eine sog. Fortsetzungsklausel relativiert (§  736 Abs.  1 BGB). Überhaupt können die Gesellschafter im Rahmen des Gesellschaftsvertrages vereinbaren, dass in die bestehende Gesellschaft andere Personen aufgenommen werden können, und die Entscheidung über diesen Vorgang entweder einer Mehrheitsentscheidung, aber auch der Entscheidung einzelner Gesellschafter überantworten. Der Gesellschaftsvertrag einer (Außen-)GbR kann daher durchaus – und damit entgegen § 717 S. 1 BGB – auch eine freie Übertragbarkeit der Mitgliedschaft auf Dritte vorsehen. 1065 Scheidet ein Gesellschafter aus der GbR aus (§§ 736, 737 BGB), wächst sein Anteil am Gesellschaftsvermögen den übrigen Gesellschaftern zu (§ 738 Abs. 1 S. 1 BGB; Unauflösbarkeit des Gesamthandsvermögen). Nach dem gesetzlichen Prinzip der Anwachsung erübrigt es sich, alle mit der Mitgliedschaft verbundenen Rechte einzeln zu übertragen, alle bestehenden Forderungen abzutreten und über das Eigentum zu verfügen. Der ausscheidende Gesellschafter wird stattdessen für den Rechtsverlust entschädigt, indem er zum Ausgleich für den Verlust seines Anteils am Gesellschaftsvermögen einen Abfindungsanspruch gegen die GbR erhält, die dem anteiligen Wert seiner Mitgliedschaft entspricht (§ 738 Abs. 1 S. 2 BGB). Er kann von den übrigen Gesellschaftern die Herausgabe der Gegenstände verlangen, die er der Gesellschaft zur Nutzung überlassen hat. Ferner hat er u. U. einen Anspruch auf die Befreiung von den gemeinschaftlichen Schulden (sofern vertraglich vorgesehen). Soweit der Gesellschafter für die Gesellschaftsschulden auch weiter persönlich, d. h. mit seinem privaten Vermögen, einzustehen hat, besteht diese Haftung gegenüber den Gläubigern auch nach seinem Ausscheiden fort (sogenannte Nachhaftung). Sie wird jedoch durch die in § 736 Abs. 2 BGB angeordnete An1064

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wendung der Verjährungsvorschrift des §  160 HGB auf längstens fünf Jahre begrenzt, wobei die Frist mit dem Ende des Tages beginnt, der auf die Eintragung des Ausscheidens im Handelsregister folgt, §§ 160 Abs. 1 S. 2 HGB, 187 Abs. 1 BGB.

6.2.1.7 Beendigung und Liquidation Die Beendigung einer GbR vollzieht sich in zwei voneinander zu trennenden 1066 Schritten: • die Auflösung der Gesellschaft und • die Auseinandersetzung (Liquidation) der Gesellschaft, nach deren Abschluss die Vollbeendigung der Gesellschaft erreicht ist. Die §§ 723 ff. BGB benennen eine Reihe von Gründen, die zur Auflösung der 1067 GbR führen. Darüber hinaus ist es den Gesellschaftern unbenommen, weitere Auflösungsgründe im Gesellschaftsvertrag zu definieren. Die wichtigsten Gründe, die nach dem Gesetz zur Auflösung führen, sind: • Kündigung durch einen Gesellschafter (§ 723 BGB) Eine solche Kündigung darf grundsätzlich jederzeit form- und fristlos von jedem Gesellschafter ausgesprochen werden. Bei einem befristeten Gesellschaftsvertrag kann allerdings nur eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund zur vorzeitigen Auflösung der Gesellschaft führen. • Kündigung durch Pfändungsgläubiger (§ 725 BGB) Ist ein Gesellschafter gegenüber einem Dritten verschuldet, so gehören seine Geschäftsanteile nicht zum vollstreckbaren Eigentum, da sie sich als Gesamthandseigentum seiner Verfügungsgewalt entziehen. Um den Gläubiger zu schützen, darf dieser nun nach §  725 Abs.  2 BGB bei bestehender Gesellschaft die Gewinnanteile abschöpfen oder nach § 725 Abs. 1 BGB die Gesellschaft beenden, um so das Vermögen des Schuldners aus der Gesamthand zu lösen. • Tod eines Gesellschafters (§ 727 BGB) Die Gesellschaft besteht durch die und in der Gemeinschaft der Gesellschafter. Scheidet ein Gesellschafter aus, so wird die Gesellschaft aufgelöst. Diese Bestimmung kann durch entsprechende Regelungen des Gesellschaftsvertrages ersetzt werden (Fortsetzungs- oder Nachfolgeklausel). • Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Gesellschafters (§ 728 Abs. 2 BGB) Die Insolvenz eines Gesellschafters verlangt, dass dessen Vermögen verfügbar gemacht und an seine Gläubiger verteilt wird. Auch hier ist die Beendigung der Gesellschaft notwendig, um die Einlagen aus dem Gesamthandsvermögen zu lösen. Eine Auflösung kann im Vorhinein durch geeignete Vertragsklauseln und im Nachhinein durch eine Einigung der verbleibenden Gesellschafter unter Zustimmung des Insolvenzverwalters verhindert werden. Im Übrigen endet die Gesellschaft nach § 728 Abs. 1 BGB ebenso, wenn über das Gesellschaftsvermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wird.

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• Zweckerreichung (§ 726 BGB) Mit dem Erreichen oder dem Unmöglichwerden des Gesellschaftszwecks endet die Gesellschaft. Die Auflösung erfolgt dabei erst bei einer dauernden, offenbaren und ausgemachten Unmöglichkeit. Bloß vorübergehende Unmöglichkeit reicht hingegen nicht aus, kann aber das Ruhen der Gesellschaft bewirken. • Zeitablauf Ist die Gesellschaft nur auf eine bestimmte Zeit eingegangen, so löst sie sich am Ende dieser Zeit auf. • Auflösungsbeschluss Ebenso wie die Gesellschaft durch Gesellschaftsvertrag in Gang gesetzt wird, kann sie wieder aufgelöst werden, namentlich durch eine einvernehmliche Aufhebung des Gesellschaftsvertrages durch die Gesellschafter. 1068

Tritt ein Auflösungsgrund ein, ändert sich die Zweckrichtung der Gesellschaft. War die GbR bisher auf die Erreichung des bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages vereinbarten gemeinsamen Zweckes ausgerichtet, so verfolgt sie nun das Ziel der Liquidation (Abwicklung, Auseinandersetzung) – „von der werbenden zur sterbenden Gesellschaft“, wobei sie zunächst Gesamthandsgemeinschaft bleibt. Der Eintritt eines Auflösungsgrundes führt also noch nicht zur Beendigung der GbR, sondern zum Eintritt in das Abwicklungsstadium (Liquidation). Die Art und Weise, wie die Gesellschaft nach Auflösung abgewickelt oder auseinandergesetzt wird, ist in aller Regel vertraglich vereinbart.  Fehlt eine solche Vereinbarung, greifen die gesetzlichen Regeln (§§ 730–735 BGB): • Vertraglich festgelegte Geschäftsführungsbefugnisse (z.  B.  Einzelgeschäftsführung) erlöschen, die Geschäfte müssen von allen Gesellschaftern gemeinschaftlich geführt werden, § 730 Abs. 2 S. 2 BGB; • es wird eine Auseinandersetzungsbilanz angefertigt, um das Gesellschaftsvermögen festzustellen; • sodann werden diejenigen Gegenstände zurückgegeben, die die einzelnen Gesellschafter der Gesellschaft lediglich zur Benutzung überlassen hatten (§ 732 BGB); • anschließend werden die Gläubiger wegen ihrer Forderungen gegen die Gesellschaft aus dem Vermögen der Gesellschaft befriedigt – dazu wird erforderlichenfalls das Gesellschaftsvermögen in Geld umgesetzt (§ 733 Abs. 1 und 3 BGB); • falls danach noch Vermögen übrig bleibt, sind zunächst die Einlagen der Gesellschafter in Geld zurückzuzahlen (§  733 Abs.  2 BGB), ein darüber hinausgehender Rest wird dann in natura oder in Geld, entsprechend der Gewinnbeteiligung, an die Gesellschafter verteilt (§ 734 BGB); • falls ein Verlust bleibt, müssen die Gesellschafter den Fehlbetrag anteilig übernehmen (§ 735 BGB) – erst hiernach ist die GbR beendet.

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In dem Zwischenstadium – vom Auflösungsgrund bis zur Beendigung der GbR (§ 735 BGB) – handelt es sich um eine sog. fortsetzungsfähige GbR, d. h. dass die in Liquidation befindliche Gesellschaft vor der Beendigung durch (erneute) vertrag-

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liche Zweckänderung wieder in eine „werbende“ Gesellschaft nach §  705 BGB zurückverwandelt und fortgesetzt werden kann. Voraussetzung ist allerdings, dass der Auflösungsgrund behoben ist (z.  B. die zunächst unmöglich erscheinende Zweckerreichung wird doch möglich) und die Gesellschafter einstimmig die Fortsetzung der GbR beschließen. Ein solcher Fortsetzungsbeschluss muss nicht ausdrücklich gefasst werden, eine konkludente Beschlussfassung genügt. Von ihr ist auszugehen, wenn die Gesellschafter in Kenntnis der Auflösungsgründe von Liquidationsmaßnahmen absehen und den Geschäftsbetrieb wieder unverändert fortsetzen, etwa indem sie gemeinsam längerfristige Verträge abschließen oder Personal einstellen.

6.2.2 Offene Handelsgesellschaft (oHG) Die offene Handelsgesellschaft (oHG) ist eine Personengesellschaft, die sich von der GbR dadurch unterscheidet, dass sie auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet ist, wobei die Gesellschafter – wie bei der GbR – den Gesellschaftsgläubigern unbeschränkt haften (§§ 105 Abs. 1, 128 HGB). Handelsgewerbe ist dabei jeder Gewerbebetrieb, der nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert (§  1 Abs. 2 HGB) oder der im Handelsregister eingetragen ist (§ 2 HGB); ausgenommen sind daher insbesondere Kleingewerbetreibende, die nicht ins Handelsregister eingetragen sind (§ 105 Abs. 2 HGB) – ihnen steht als Personengesellschaft die Rechtsform der GbR zur Verfügung; ebenso bleibt den Freiberuflern die Rechtsform der oHG verschlossen. Die oHG ist eine Sonderform der Personengesellschaft, die wegen des handelsgewerblichen Zwecks als Personenhandelsgesellschaft bezeichnet wird. Gesellschafter einer oHG können alle natürlichen und juristischen Personen sein  – auch andere oHGs oder KGs. Auf die oHG finden neben den §§ 105 ff. HGB ergänzend die Vorschriften der §§ 705 ff. BGB Anwendung, sofern im Handelsgesetzbuch keine Sonderregelungen vorhanden sind (§  105 Abs.  3 HGB). Dies gilt beispielsweise für das Prinzip der Anwachsung und für den Abfindungsanspruch des ausscheidenden Gesellschafters. Als Handelsgesellschaft ist die oHG sog. Formkaufmann (§ 6 Abs. 1 HGB), so dass auf sie die für Kaufleute geltenden Vorschriften Anwendung finden (insofern kann die oHG z. B. einem Angestellten gemäß § 48 Abs. 1 HGB Prokura erteilen; sie kann nach § 350 HGB eine Bürgschaftserklärung mündlich abgeben; sie ist nach §§ 238 ff. HGB zur Buchführung verpflichtet). Im Unterschied zur GbR ist die oHG kraft Gesetzes mit Rechtsfähigkeit (§ 124 HGB) ausgestattet, d. h. sie wird faktisch wie eine juristische Person behandelt. Sie kann unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundstücken erlangen, vor Gericht klagen und verklagt werden (§ 124 Abs. 1 HGB). Diese Rechtsfähigkeit verleiht der oHG die notwendige Eigenständigkeit und Flexibilität, um den handelsrechtlichen Erfordernissen entsprechend unverzüglich agieren und reagieren zu können. Diese Flexibili-

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tät ließe sich nicht erreichen, wenn sie rechtlich nicht verselbständigt wäre und nur mittels einer Gesamtgeschäftsführung und -vertretung handeln könnte. Als Folge ihrer rechtlichen Selbständigkeit wird die oHG – das sei hier vorweggenommen – z.  B. auch selbst verpflichtet und haftet auch bei Vertragsverletzungen oder unerlaubten Handlungen. 1074 Die oHG wird als Rechtsform zumeist von mittelständischen Unternehmen, insbesondere der Handels- und Handwerksbranche gewählt, bei denen die (zumeist wenigen) Gesellschafter bereit sind, ihre volle Arbeitskraft sowie ihr gesamtes Vermögen – einschließlich ihres Privatvermögens (im Unterschied zu einer GmbH) – als Haftungsgrundlage in das Unternehmen einzubringen. Da bei der oHG die Gesellschafter persönlich und unbeschränkt, d. h. mit ihrem Privatvermögen haften, ist die oHG in besonderem Maße kreditfähig, wenngleich sie in der Vergangenheit an Zuspruch verloren hat.

6.2.2.1 Entstehung Wie die GbR entsteht auch die oHG grundsätzlich mit dem Abschluss eines Gesellschaftsvertrages von mindestens zwei Gesellschaftern. Der Vertrag ist vor allem für die Ausgestaltung des Innenverhältnisses der Gesellschaft maßgeblich (§ 109 HGB), weshalb Inhalt des Vertrages u. a. die Verpflichtung aller Beteiligten ist, den gemeinsamen Zweck  – hier den Betrieb eines kaufmännischen Unternehmens unter gemeinsamer Firma – in der vereinbarten Art und Weise zu fördern (§  706 BGB), insbesondere durch die Leistung der vereinbarten Beiträge (u.  a. Geld- und Sachwerte oder Dienste). 1076 Der Abschluss des Gesellschaftsvertrages ist bis auf wenige Ausnahmen (es wird ein formbedürftiges Leistungsversprechen abgegeben) formfrei möglich. Da aber die oHG durchweg für einen längerfristigen Betrieb eines Handelsgewerbes gegründet wird, und diese langfristige Bindung auch eine gründliche Regelung des Verhältnisses der Gesellschafter untereinander (Beitragspflichten, Geschäftsführung und Vertretung, Gewinnverteilung etc.) erforderlich macht, wird der Gesellschaftsvertrag in der Praxis zumeist schriftlich abgefasst – auch, um im Streitfall Beweis über die getroffenen Absprachen führen zu können. Im Übrigen gelten bezogen auf den Vertragsschluss die allgemeinen Regelungen (siehe dazu die Ausführungen bei der GbR Abschn. 6.2.1.1). 1077 Nach Abschluss des Gesellschaftsvertrags sind die Gesellschafter verpflichtet, die oHG zur Eintragung in das Handelsregister bei dem Gericht anzumelden, in dessen Bezirk sie ihren Sitz hat (§ 106 HGB). Die Anmeldung muss folgende Angaben enthalten, wobei die firmenrechtlichen Grundsätze (§§  17  ff. HGB, Abschn. 5.4) zu beachten sind: 1075

• Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnort jedes Gesellschafters, • die Firma der Gesellschaft und den Ort ihres Geschäftssitzes, • die Vertretungsmacht der Gesellschafter. 1078

Eine oHG ist kraft Definition auf eine Tätigkeit nach außen gerichtet („Betrieb … unter gemeinsamer Firma“, § 105 Abs. 1 HGB), weshalb es keine reine Innengesell-

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schaft geben kann, sie vielmehr auch im Außenverhältnis entstehen muss. Im Unterschied zur GbR ist daher zwischen der Entstehung der oHG im Innenverhältnis (im Verhältnis der Gesellschafter untereinander) und ihrer Entstehung im Außenverhältnis (im Verhältnis der Gesellschaft und der Gesellschafter zu Dritten) zu differenzieren. Der Gesellschaftsvertrag lässt die oHG zunächst nur im Innenverhältnis entstehen. Er reicht alleine nicht dazu aus, um die oHG auch im Außenverhältnis und für den Handelsverkehr sichtbar in Gang zu setzen. Beim Vertragsschluss handelt es sich gerade um einen (verborgenen) Akt der Gesellschafter, der für Dritte nicht ohne weiteres erkennbar ist. Daher müssen für die Entstehung (und das Sichtbarwerden) der oHG nach außen weitere Voraussetzungen erfüllt werden, die sich aus § 123 HGB ergeben: Nach § 123 Abs. 1 HGB ist die oHG auch nach außen hin entstanden, wenn die Gesellschaft ins Handelsregister eingetragen ist (§  123 Abs.  1 HGB; konstitutive Wirkung der Eintragung), wozu die Gesellschafter einer oHG mit Vertragsschluss verpflichtet sind (§§ 106, 108 Abs. 1 HGB). Sie kann aber auch schon vor der Eintragung ins Handelsregister nach außen entstehen, wenn die Gesellschaft mit ihrer Geschäftstätigkeit beginnt (z. B. durch den Abschluss eines Mietvertrages über Geschäftsräume, die Einstellung von Mitarbeitern, den Erwerb von Geschäftsfahrzeugen, Einrichtungsgegenständen oder Büromaterial) und alle Gesellschafter diesem Geschäftsbeginn ausdrücklich oder konkludent zugestimmt haben (§  123 Abs.  2 HGB; nur noch deklaratorische Wirkung der Eintragung). Dabei muss es sich um Geschäfte handeln, die zum Handelsgewerbe nach § 1 HGB gehören, denn für alle anderen Gewerbe (z. B. Kleingewerbe, reine Vermögensverwaltung) ist das Erlangen der Kaufmannseigenschaft zwingend an die Handelsregistereintragung gebunden (§§ 2, 3 und 105 Abs. 2 HGB). Insofern lässt sich zusammenfassen: • Betreibt die Gesellschaft ein vollkaufmännisches Handelsgewerbe (§ 1 Abs. 2 HGB, „Ist-Kaufmann“), so entsteht die oHG nach außen entweder durch Eintragung (§ 123 Abs. 1 HGB) oder bereits zuvor, wenn sie ihre Geschäfte aufnimmt (§ 123 Abs. 2 HGB). • Betreibt die Gesellschaft dagegen ein Kleingewerbe nach §  2 HGB („Kann-­ Kaufmann“), kann die oHG erst mit der (statusbegründenden) Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister entstehen (§ 123 Abs. 1 HGB); vor der Eintragung ist die Gesellschaft als GbR einzustufen.

Beispiel

Krämer und Schmidt wollen unter der Firma „Baustoffhandlung Krämer & Co.“ eine oHG gründen, deren Gegenstand der An- und Verkauf von Baustoffen sein soll. Sie schließen einen Gesellschaftsvertrag ab. Noch vor Eintragung in das Handelsregister kauft Schmidt im Namen und unter Verwendung der Firma 20 t Zement und lässt sich von einer Bank ein Darlehen in Höhe von 50.000 EUR

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gewähren. Damit hat Schmidt mit der Geschäftstätigkeit des Handelsgewerbes bereits vor Eintragung i. S. d. § 123 Abs. 2 HGB begonnen, die oHG ist – trotz fehlender Eintragung – nach außen entstanden, und die begründeten Verbindlichkeiten sind solche der oHG (§ 124 Abs. 1 HGB). ◄

6.2.2.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter Mit der Gründung der oHG trifft die Gesellschafter die Pflicht, den Gesellschaftszweck durch Beiträge in Form von Geldleistungen, Sach- und Dienstleistungen oder der Einbringung von gewerblichen Schutzrechten zu fördern (§§ 105 Abs. 3 HGB, 706 BGB). Gemäß § 707 BGB, der auch auf die oHG anwendbar ist, sind die Gesellschafter weder zur Erhöhung des vereinbarten Beitrages noch zur Ergänzung einer durch Verlust verminderten Einlage verpflichtet, es sei denn im Gesellschaftsvertrag ist etwas anderes vereinbart. 1080 Neben der Beitragspflicht und den Geschäftsführungs- und Vertretungsaufgaben (siehe unten) sind die Gesellschafter zur besonderen Treue verpflichtet, was insbesondere die Pflicht zur Interessenwahrnehmung, zur Wahrung der Betriebsgeheimnisse sowiezum  Unterlassen von geschäftsschädigenden Handlungen einschließt. Bei Verletzung dieser Pflichten sind Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche der Gesellschaft gegen die Gesellschafter, aber auch der Gesellschafter untereinander möglich (§§ 280 Abs. 1, 242 BGB). 1081 Schließlich normiert § 112 HGB als besondere Ausprägung der Treuepflicht ein Wettbewerbsverbot, wonach ein Gesellschafter ohne die Einwilligung der anderen Gesellschafter weder in dem Handelszweig der Gesellschaft Geschäfte machen, noch an einer anderen gleichartigen Handelsgesellschaft als persönlich haftender Gesellschafter teilnehmen darf. Die Einwilligung zur Teilnahme an einer anderen Gesellschaft kann unterstellt werden, wenn den Mitgesellschaftern die Tatsache der konkurrierenden Tätigkeit bereits bei Vertragsschluss bekannt ist (§  112 Abs.  2 HGB). Bei Verstoß gegen das Wettbewerbsverbot kann die Gesellschaft von dem Gesellschafter wahlweise entweder Schadensersatz oder den Eintritt in die Geschäfte des Gesellschafters fordern (§ 113 Abs. 1 HGB). 1079

Beispiel

A ist Gesellschafter der Transport oHG aus Dresden, die ein Transportunternehmen betreibt. Zweck des Unternehmens ist „der Betrieb eines Transportunternehmens, insbesondere im Nahverkehr, Raupen- und Baggerbetrieb, Absetzmulden bei Tiefbau und für Gewerbebetriebe, sowie deren Verleih und Transport für alle Großbaustellen“. A gründet mit seiner Ehefrau die A-Schnelle-Transporte oHG, im Dresdner Umland, das sich von Anfang an darauf spezialisiert, „Container, Bobcats und kleinere Baugeräte für Haus- und Gartensanierungen aller Art“ zu verleihen. Umsatzeinbrüche der Transport oHG führen die Mitgesellschafter des A auf dessen Unternehmen zurück und verlangen daher von A Schadensersatz für die erlittenen Umsatzeinbußen. Die Gesellschafter der Transport oHG hätten gegen den A einen Schadensersatzanspruch nach § 113 Abs. 1 Hs. 1 HGB, wenn A gegen das Wettbewerbs-

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verbot, dem er als Gesellschafter der oHG nach § 112 HGB unterliegt, verstoßen hätte und der oHG aus dem Wettbewerbsverstoß ein Schaden entstanden wäre. Der Ersatzanspruch besteht nicht. Das Wettbewerbsverbot i. S. d. § 112 HGB hätte A nur verletzt, wenn er ohne Einwilligung der anderen Gesellschafter in dem Handelszweig der Transport oHG tätig geworden wäre. Auch wenn A ausweislich seines Gesellschaftszwecks ein „Transportunternehmen“ betreibt, so ist nicht jedes Geschäft, das unter diesen Begriff fällt, verboten. Es kommt nicht auf die Firmenbezeichnung, sondern auf die konkret ausgeübte Geschäftstätigkeit an. Es müsste sich bei der A-Schnelle-Transporte oHG um eine Geschäftstätigkeit handeln, wie sie auch in dem von der Transport oHG betriebenen Geschäftszweig vorkommt. Hat sich die Transport oHG  – wie hier  – auf bestimmte Transport-­Geschäfte spezialisiert, so untersagt das Wettbewerbsverbot den Gesellschaftern solche Geschäfte nicht, die außerhalb dieses Rahmens liegen, wohl aber solche, die im Betriebe der Transport oHG auch nur gelegentlich vorkommen. Im vorliegenden Fall befasst sich die Transport oHG allerdings nur mit Transportgeräten für Straßenbau und Großbaustellen, nicht jedoch mit dem Kleingeräte-Verleih. Insofern hat A nicht gegen das Wettbewerbsverbot verstoßen, als er sein Unternehmen betrieb; ein Ersatzanspruch ist ausgeschlossen. ◄ Aus der Gesellschafterstellung erwachsen den Mitgliedern der oHG auch Rechte: 1082 • Gewinn- und Verlustbeteiligung (§§ 120, 121 HGB), • Entnahmerechte (§ 122 HGB), • Stimmrechte (§ 119 HGB; das Gesetz geht in Abs. 1 von der einstimmigen Beschlussfassung aus, lässt aber in Abs.  2 eine gesellschaftsvertragliche Abweichung ausdrücklich zu), • Informations- und Kontrollrechte (§ 118 HGB, z. B. Einsichtnahmen in Handelsbücher oder Auskunft über Geschäftstätigkeit), • Anspruch auf Aufwendungsersatz, soweit die Aufwendungen für die Gesellschaft getätigt wurden (§ 110 HGB, z. B. Geldauslagen; Begleichung von Gesellschaftsverbindlichkeiten).

6.2.2.3 Gesellschafts-/Gesellschaftervermögen Das Gesellschaftsvermögen der oHG ist – wie bei der GbR (Abschn. 6.2.1.3) – 1083 gesamthänderisch gebundenes Sondervermögen (Gesamthandsvermögen; §  105 Abs. 3 HGB i. V. m. §§ 718, 719 BGB), allerdings ist Vermögensträgerin die Gesellschaft unter ihrer Firma, so dass zur Zwangsvollstreckung in das Gesellschaftsvermögen ein gegen die oHG gerichteter vollstreckbarer Titel erforderlich, aber auch ausreichend ist (§ 124 Abs. 2 HGB). Der Kapitalanteil des einzelnen Gesellschafters ist das auf dem Kapitalkonto 1084 ausgewiesene Guthaben des Gesellschafters, das sich aus seiner Einlage und den gutgeschriebenen Gewinnen, vermindert um Abschreibungen, Entnahmen und Verluste, zusammensetzt. Eine Bedeutung hat der Kapitalanteil insbesondere für den Wert der Einlage, den Umfang der Mitgliedschaftsrechte und den Abfindungsanspruch des einzelnen Gesellschafters. Da der Kapitalanteil auch zum Privatver-

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mögen des Gesellschafters gehört, kann ein Privatgläubiger des Gesellschafters wegen eines vollstreckbaren Schuldtitels nach erfolgloser Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen des Gesellschafters die Pfändung und Überweisung dieses Kapitalanteils vornehmen und ist aus diesem Grund sogar zur Kündigung der Gesellschaft berechtigt (§ 135 HGB). 1085 Die Gewinn- und Verlustverteilung erfolgt mangels anderweitiger Regelungen im Gesellschaftsvertrag nach den §§  120, 121 HGB für jeden Gesellschafter in Höhe von 4 % seines Kapitalanteils, höhere Gewinne werden zu gleichen Anteilen verteilt. Dabei wird nach dem Prinzip der variablen Kapitalanteile verfahren, indem der einem Gesellschafter zukommende Gewinn seinem Kapitalanteil zugeschrieben und der auf ihn entfallende Verlust sowie das während des Geschäftsjahres auf den Kapitalanteil entnommene Geld davon abgeschrieben wird. Entnahmen sind mangels entgegenstehender Vertragsabrede nach §  122 HGB bis zu einem Betrag von 4 % des für das letzte Geschäftsjahr festgestellten Kapitalanteils des Gesellschafters zulässig. Soweit der Gesellschaft kein Schaden entsteht, kann ein Gesellschafter auch verlangen, dass ihm der Anteil am Gewinn des letzten Jahres, der den bezeichneten Betrag übersteigt, ausgezahlt wird.

1086

6.2.2.4 Geschäftsführung und Vertretung Im Unterschied zur GbR (Gesamtgeschäftsführung) sind bei der oHG alle Gesellschafter zur Führung der Geschäfte berechtigt und verpflichtet (§  114 Abs.  1 HGB), d. h. jeder Gesellschafter ist berechtigt, alleine zu handeln (sog. Prinzip der Einzelgeschäftsführung), soweit nicht ein anderer Gesellschafter widerspricht (§ 115 Abs. 1 HGB). Das Gesetz stellt der großzügigen Einzelgeschäftsführungsbefugnis daher ein absolut wirkendes Vetorecht der anderen Gesellschafter gegenüber, die einen gewissen kontrollierenden Einfluss auf die Geschäftstätigkeit der jeweils anderen behalten sollen. Der Widerspruch darf daher auch nur im Gesellschaftsinteresse erklärt werden. Wird ein Widerspruch seitens eines Gesellschafters erklärt, muss das Geschäft unterbleiben (§ 115 Abs. 1 HGB). Beispiel

A ist Gesellschafter der A&B-oHG und beabsichtigt, mit der Gewerbepark AG einen Mietvertrag über Büroräume abzuschließen. Wenn der ebenfalls geschäftsführungsbefugte Gesellschafter B diesem Ansinnen widerspricht, weil er der Meinung ist, dass die Büroräume zu weit von Betriebsstätte entfernt liegen, muss der A seine geschäftlichen Aktivitäten diesbezüglich einstellen (§  115 Abs. 1 HGB). ◄ 1087

Die Vorschriften zur Geschäftsführungsbefugnis sind dispositiv, so dass die Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag abweichende Regelungen vereinbaren können. Sie können das Widerrufsrecht bei einzelnen oder allen Gesellschaftern ausschließen (vgl. §  109 HGB), sie können einzelne Gesellschafter von der Geschäftsführung ausnehmen (§  114 Abs.  2 HGB) oder eine Gesamtgeschäftsführung anordnen (§ 115 Abs. 2 HGB).

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Eine Gesamtgeschäftsführung würde den Geschäftsführungsregeln der GbR entsprechen (Abschn. 6.2.1.4) und ist für die oHG nicht zu empfehlen, weil das gesellschaftliche Handeln für den schnellen Handelsverkehr dann zu schwerfällig und unflexibel wäre. Daher erleichtert die gesetzliche Grundform der Einzelgeschäftsführung die Entscheidungsfähigkeit der oHG, birgt allerdings auch die Gefahr eigenmächtiger Geschäftsabschlüsse der geschäftsführungsbefugten Gesellschafter oder einer Lähmung der Handlungsfähigkeit durch die übertriebene Ausübung des Widerspruchsrechts, vor allem bei einer größeren Zahl von Gesellschaftern. Deshalb werden die Gesellschafter einer oHG eine flexible und doch kontrollierbare Geschäftsführungsregelung im Gesellschaftsvertrag anstreben, wie z.  B. die Gesamtgeschäftsführung von nur einigen Gesellschaftern (ggf. aufgabenbezogen) unter Ausschluss der Widerspruchsmöglichkeit aller anderen Gesellschafter. Beispiel

Müller, Meier und Schulze gründen eine oHG. Im Gesellschaftsvertrag vereinbaren sie, dass „Müller und Meier gemeinsam zur Geschäftsführung“ berechtigt sein sollen. Damit liegt eine Gesamtgeschäftsführungsbefugnis vor, die jedenfalls eine gemeinsame Beratung und Zustimmung der Gesellschafter Meier und Müller vor jeder Entscheidung erfordert, während Schulze von der Geschäftsführung ausgenommen ist und auch kein Vetorecht besitzt. Müller, Meier und Schulze haben im Gesellschaftsvertrag vereinbart, dass „Müller und Meier Einzelgeschäftsführung“ erhalten. Mangels weiterer Ausgestaltung der Geschäftsführungsbefugnis spiegelt es das gesetzliche Prinzip der Einzelgeschäftsführung wider, mit der Folge, dass Müller und Meier einzeln handeln können, wobei der jeweils andere Gesellschafter ein Widerspruchsrecht hat. Wünscht Müller beispielsweise eine Erweiterung des Sortiments und widerspricht Meier, muss diese Maßnahme unterbleiben. Sollte hingegen Schulze widersprechen, ist sein Widerspruch unbeachtlich, da er durch die vertragliche Regelung aus dem Kreis der Geschäftsführungsbefugten herausgefallen ist, und ihm damit auch sein Vetorecht entzogen wurde. ◄ Der Umfang der Geschäftsführungsbefugnis erstreckt sich zunächst auf alle 1088 Handlungen, die der gewöhnliche Betrieb des Handelsgewerbes der oHG mit sich bringt (§ 116 Abs. 1 HGB). Gewöhnliche Geschäfte sind alle Geschäfte, die den Gegenstand des Unternehmens anbetreffen, z.  B.  Beschaffung (An- und Verkauf von Waren), Produktion, Absatz, Marketing (z. B. Veranlassen von Werbeaktionen), Rechnungs- und Personalwesen (z. B. Vornahme von Kredit- und Finanzierungsgeschäften, Versicherungsgeschäfte, Einstellung und Kündigung von Mitarbeitern). Außergewöhnliche Geschäfte überschreiten nach Art, Inhalt, Bedeutung und Risiko den Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs und bedürfen deshalb eines Beschlusses sämtlicher Gesellschafter, auch derer ohne Geschäftsführungsbefugnis (§  116 Abs.  2 HGB). Zu solchen außergewöhnlichen Geschäften gehören z. B. die Errichtung einer Zweigniederlassung, Baumaßnahmen auf dem Geschäfts-

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grundstück, Ersteigern von Grundstücken, Übertragung des Gesellschaftsvermögens, Verkauf von Wertpapieren oder die Aufnahme stiller Gesellschafter. Die Erteilung der Prokura ist zwar ein gewöhnliches Geschäft, bedarf aber wegen ihrer besonderen Bedeutung (Vertretungsmacht) gemäß § 116 Abs. 3 HGB der Zustimmung aller geschäftsführungsbefugten Gesellschafter, während ihr Widerruf durch jeden einzelnen geschäftsführenden Gesellschafter erfolgen kann. Beispiel

Müller, Meier und Schulze haben im Gesellschaftsvertrag vereinbart, dass Müller und Meier zur Geschäftsführung berechtigt sein sollen. Jeder von ihnen hat deshalb Einzelgeschäftsführungsbefugnis mit Widerspruchsrecht des anderen. Die oHG betreibt einen Weingroßhandel. Falls Müller eine Zweigniederlassung errichten will, muss er einen gemeinsamen Beschluss aller Gesellschafter herbeiführen, da es sich um ein außergewöhnliches Geschäft handelt. Falls Müller einen Prokuristen bestellen möchte, braucht er die Zustimmung von Meier. Nur über gewöhnliche Geschäfte, wie z. B. den Ein- und Verkauf von Wein, kann er allein entscheiden. ◄ Den nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschaftern verbleiben – auch um ihr Widerspruchsrecht ausüben zu können – Kontrollrechte nach § 118 HGB. Danach können sie sich von den Angelegenheiten der Gesellschaft persönlich unterrichten, die Handelsbücher und die sonstigen Papiere (Verträge, Korrespondenz, Akten) der Gesellschaft einsehen, ggf. weitere Auskunft verlangen und sich aus den Unterlagen eine Bilanz und einen Jahresabschluss anfertigen. Zur sachgerechten Information dürfen sie ferner geeignete Sachverständige hinzuziehen, die beruflich zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, wie Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte. Die Ausübung der Kontrollrechte findet ihre Grenze allerdings dort, wo der Gesellschafter missbräuchlich und zum Schaden der Gesellschaft agiert (sog „übertriebene Kontrolle“). Die Kontrollrechte können vertraglich ausgeschlossen werden, was je nach Geschäftsführungsmodell durchaus sinnvoll ist (z. B. bedarf es bei einer Gesamtgeschäftsführung wohl keiner vorgeschalteten Kontrollmechanismen), allerdings wirkt eine solche Ausschlussklausel nicht beim Verdacht einer unredlichen Geschäftsführung. 1090 Die Geschäftsführungsbefugnis kann nach § 117 HGB auf Antrag aller übrigen Gesellschafter durch gerichtliche Entscheidung entzogen werden, sofern ein wichtiger Grund vorliegt, beispielsweise bei schweren Pflichtverstößen oder der Begehung von Straftaten. Im Gesellschaftsvertrag werden die Entziehungsgründe allerdings häufig sehr genau eingegrenzt, um die gerichtliche Auslegung zu vermeiden. Ein geschäftsführungsbefugter Gesellschafter kann die Geschäftsführung auch aus wichtigem Grund niederlegen (§§  105 Abs.  3 HGB, 712 Abs.  2 BGB; z. B. wegen erschüttertem Vertrauen). 1091 Sind im Rahmen der Geschäftsführung Entscheidungen zu treffen, die einen Gesellschafterbeschluss erfordern, so bedarf es der Zustimmung aller zur Mitwirkung an der Beschlussfassung berufenen Gesellschafter (§ 119 Abs. 1 HGB). Hat nach 1089

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dem Gesellschaftsvertrag die Mehrheit der Stimmen zu entscheiden, so ist die Mehrheit im Zweifel nach der Zahl der Gesellschafter zu berechnen (§  119 Abs. 2 HGB). Einvernehmliche Gesellschafterbeschlüsse sind beispielsweise erforderlich bei Entscheidungen über: • Änderung des Gesellschaftsvertrages, • außergewöhnliche Geschäfte, • Ansprüche der Gesellschaft aus Verletzung des Wettbewerbsverbots (§  113 Abs. 2 HGB), • Gerichtlicher Antrag zur Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis oder der Vertretungsmacht (§§ 117, 127 HGB), • Gerichtlicher Antrag auf Ausschließung eines Gesellschafters (§ 140 HGB), • Auflösung der Gesellschaft (§ 131 Nr. 2 HGB). Zur Vertretung der oHG ist jeder Gesellschafter ermächtigt; die gesetzliche 1092 Grundkonzeption sieht in Anlehnung an die Regelung zur Geschäftsführung die Einzelvertretung vor (§  125 Abs.  1 HGB). Daher kann jeder Gesellschafter im Namen der oHG wirksame, diese rechtsgeschäftlich bindende Erklärungen (Willenserklärungen) abgeben und entgegennehmen. Die Rechtsfolgen einer solchen Erklärung treffen die oHG (§  124 HGB) sowie akzessorisch die Gesellschafter (§ 128 HGB). Im Gesellschaftsvertrag können die Gesellschafter von dem vorgegebenen Ver- 1093 tretungsmodell abweichen (§ 125 Abs. 2 und 3 HGB). Sie können eine echte oder unechte Gesamtvertretung vereinbaren, wobei sie auch einzelne, nicht jedoch alle Gesellschafter von der Vertretung ausnehmen können; letzteres würde dem Prinzip der Selbstorganschaft widersprechen (Abschn. 6.1.2). Bei einer echten Gesamtvertretung können alle oder mehrere Gesellschafter die oHG nur noch gemeinsam vertreten (§ 125 Abs. 2 HGB), d. h. sie würden sozusagen im „Verbund“ Rechtsgeschäfte im Namen der oHG tätigen und dieselbe nach außen verpflichten. Dabei betrifft die echte Gesamtvertretung nur die Aktiv-, nicht die Passivvertretung, d. h. sofern ein Dritter z. B. einen Vertrag gegenüber der oHG kündigt, gilt die Kündigung als wirksam erklärt, selbst wenn sie nur einem der gesamtvertretungsberechtigten Gesellschafter zugeht (§ 125 Abs. 2 S. 3 HGB). Beispiel

Müller, Meier und Schulze gründen eine oHG und vereinbaren im Gesellschaftsvertrag, dass Müller und Meier gemeinsam zur Vertretung berechtigt sind, wogegen Schulze von der Vertretung ausgeschlossen sein soll. Es besteht eine echte Gesamtvertretung. ◄ Im Gesellschaftsvertrag kann ferner bestimmt werden, dass ein oder mehrere Gesellschafter die Gesellschaft nur gemeinsam mit einem Prokuristen vertreten können (sog. gemischte oder unechte Gesamtvertretung, §  125 Abs.  3 HGB).

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Auch hier ist das Prinzip der Selbstorganschaft zu beachten, d. h. die vertragliche Regel muss so gefasst sein, dass es den Gesellschaftern jederzeit möglich ist, die Gesellschaft auch ohne die Mitwirkung des Nicht-Gesellschafters zu vertreten. Insofern lässt sich die unechte Gesamtvertretung nur neben einer bestehenden Einzelvertretung oder einer echten Gesamtvertretung vereinbaren (vgl. auch den Wortlaut des § 125 Abs. 3 HGB). Beispiel

Meier, Müller und Schulze haben in ihrem Gesellschaftsvertrag neben der Gesamtvertretung von Müller und Meier folgende Vereinbarung getroffen: „Falls Müller und Meier nicht gemeinsam handeln, dürfen sie die oHG nur in Gemeinschaft mit dem Prokuristen P vertreten.“ Dabei handelt es sich um einen typischen Fall der unechten Gesamtvertretung. Die Vertretungsregelung ist gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 4 HGB, die Erteilung der Prokura gemäß § 53 Abs. 1 HGB zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden. Vertretungsberechtigt sind danach Müller und Meier gemeinsam oder Müller und P oder Meier und P. Müller, Meier und Schulze vereinbaren im Gesellschaftsvertrag, dass „Müller alleine und Meier nur gemeinsam mit dem Prokuristen P“ vertreten darf. Dies wäre ebenfalls ein Fall der zulässigen unechten Gesamtvertretung. Müller, Meier und Schulze vereinbaren im Gesellschaftsvertrag, dass „Müller und Meier zur Vertretung berechtigt sein sollen, allerdings jeder von ihnen nur gemeinsam mit dem Prokuristen P“. Diese Vertretungsregel ist unzulässig, denn sie verstößt gegen § 125 Abs. 3 HGB und gegen das Prinzip der der Selbstorganschaft. Denn danach kann die oHG nicht mehr von den Gesellschaftern alleine vertreten werden (was nach dem benannten Prinzip erforderlich wäre), sondern ausschließlich unter Mitwirkung des Prokuristen als Nicht-Gesellschafter. ◄ Der Umfang der Vertretungsmacht erstreckt sich auf alle gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäfte und Rechtshandlungen einschließlich der Veräußerung und Belastung von Grundstücken sowie der Erteilung und des Widerrufs der Prokura (§ 126 Abs. 1 HGB). 1095 Eine Beschränkung dieser weitreichenden Vertretungsmacht ist Dritten gegenüber unwirksam (§ 126 Abs. 2 HGB). Die in der betrieblichen Praxis häufig vorkommenden gesellschaftsvertraglichen Beschränkungen der Vertretungsmacht, z. B. auf bestimmte Arten von Geschäften, bestimmte Zeiträume oder auf Zweigniederlassungen, wirken daher nur im Innenverhältnis. Die Verletzung einer solchen vertraglich vereinbarten Beschränkung löst daher allenfalls Schadensersatzansprüche der oHG gegen den Gesellschafter wegen Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) aus. Im Außenverhältnis bleibt eine solche Beschränkung dagegen ohne Wirkung, so dass die Rechtsgeschäfte selbst dann wirksam zustande kommen, wenn der Gesellschafter seine Vertretungsmacht deutlich überschritten hat. Der Missbrauch der Vertretungsmacht wirkt sich im Außenverhältnis nicht aus, sondern ausschließlich im Innenverhältnis. Eine Ausnahme von diesem zentralen Grundsatz bildet lediglich die Filialprokura (§ 126 Abs. 3 HGB). 1094

6.2 Personengesellschaften

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Beispiel

Müller, Meier und Schulze haben im Gesellschaftsvertrag ihrer oHG Einzelvertretung vereinbart, aber diese auf Rechtsgeschäfte bis zu einem Betrag in Höhe von 50.000 EUR beschränkt. Meier kauft bei Autohändler A ein Dienstfahrzeug für 90.000 EUR. Durch die Willenserklärung von Meier wurde die oHG wirksam verpflichtet; sie muss den Kaufpreis an A zahlen. Allerdings hat die oHG im Innenverhältnis einen Schadensersatzanspruch gegen Meier wegen Pflichtverletzung aus § 280 Abs. 1 BGB, weil sich dieser zum Schaden der oHG vorsätzlich über die vertraglichen Vereinbarungen hinweggesetzt hat. ◄ Die Vertretungsbefugnis erstreckt sich grundsätzlich nicht auf solche Geschäfte, 1096 die das Innenverhältnis der Gesellschafter und den Bestand der Gesellschaft an sich betreffen (sog. Grundlagengeschäfte). Sie sind der Dispositionsbefugnis einzelner Gesellschafter entzogen. Deshalb kann selbst ein vertretungsberechtigter Gesellschafter den Gesellschaftsvertrag nicht ändern, anderen Gesellschaftern die Geschäftsführungsbefugnis oder die Vertretungsmacht entziehen, neue Gesellschafter aufnehmen, bisherige Gesellschafter ausschließen oder die oHG auflösen. Die Vertretungsbefugnis kann schließlich aus wichtigem Grund auf Antrag der 1097 übrigen Gesellschafter durch gerichtliche Entscheidung entzogen werden, so z.  B. bei grober Pflichtverletzung oder Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Vertretung der Gesellschaft (§ 127 HGB).

6.2.2.5 Haftung Für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet die oHG mit ihrem Gesellschafts- 1098 vermögen, da sie rechtlich selbständig ist (§§ 124, 105 Abs. 3 HGB, 718 BGB). Dabei haftet die oHG • auf Erfüllung der in ihrem Namen von Vertretern der oHG (z.  B. des Gesellschafters oder des Prokuristen) abgeschlossenen Rechtsgeschäfte, • auf Schadensersatz wegen der Verletzung vertraglicher Verpflichtungen (u.  a. Pflichtverletzungen i. S. der §§ 280 ff. BGB, Mängelgewährleistungsansprüche, Rücktritts- oder Kündigungsfolgen), wobei ihr das Verschulden ihrer Erfüllungsgehilfen (z. B. des Gesellschafters oder des Prokuristen) nach § 278 BGB zugerechnet wird, • auf Schadensersatz aus unerlaubten Handlungen ihrer Verrichtungsgehilfen (u. a. weisungsgebundene Mitarbeiter), sofern sie sich nicht exkulpieren kann (§ 831 BGB) sowie • auf Schadensersatz aus unerlaubten Handlungen ihrer „verfassungsmäßig berufenen Vertreter“ analog § 31 BGB (Haftung für Organverschulden). Die Haftung für Organverschulden (§ 31 BGB analog) ist dabei unabhängig von der Vertretungsbefugnis oder Weisungsgebundenheit und ergibt sich ausschließlich aus der Stellung einer Person innerhalb des Unternehmens, z. B. als Filialleiter,

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Abteilungsleiter oder Sachbearbeiter mit eigener Entscheidungskompetenz. Daraus folgt zugleich eine Verantwortlichkeit für Organisationsmängel, denn die Körperschaft und auch die Personenhandelsgesellschaften sind verpflichtet, ihre unternehmerische Tätigkeit so zu organisieren, dass für alle Aufgabenbereiche ein Vertreter zuständig ist, der die erforderlichen Entscheidungen sachgemäß treffen kann. Entspricht die Organisation diesen Anforderungen nicht, haftet sie für alle daraus entstehenden Schäden ohne Entlastungsmöglichkeit. Während im Rahmen der bürgerlich-rechtlichen Haftung aus unerlaubter Handlung der Exkulpationsnachweis gemäß §  831 BGB geführt werden kann, haftet die Gesellschaft nach §  31 BGB ohne Entlastungsoption und selbst für strafbare Handlungen ihrer Organe. Zwar verfügt die oHG über keine „Organe“ im Rechtssinne, doch muss sie in Analogie zur Organhaftung für deliktische Handlungen ihrer Gesellschafter und anderer Personen, denen sie Entscheidungsbefugnisse einräumt, einstehen. Beispiel

Eine oHG haftet für betrügerische Handlungen ihres Filialleiters, die er unter Ausnutzung seiner Stellung den Kunden gegenüber vornimmt, analog § 31 BGB. ◄ 1099

Neben der Gesellschaft haften auch die Gesellschafter der oHG persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch für alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft (§§ 105 Abs. 1, 128 HGB; sog. akzessorische Haftung). Der Gesellschaftsgläubiger kann daher nach seiner Wahl die oHG oder den Gesellschafter unmittelbar – beispielsweise auf Zahlung – in Anspruch nehmen. Letzterer haftet sodann mit seinem gesamten Vermögen, einschließlich seines Privatvermögens (Abschn.  6.2.1.5). Sofern ein Gesellschafter eine solche Zahlung leisten muss, kann er entweder den geleisteten Betrag von der oHG als Aufwendungsersatz zurückfordern (§ 110 HGB) oder (subsidiär) die anderen Gesellschafter anteilig in Regress nehmen (§ 426 BGB). Denn nach dem gesamtschuldnerischen Ausgleich sind die Gesellschafter einander zu gleichen Teilen verpflichtet, soweit nicht ein anderes vereinbart ist. Falls allerdings im Gesellschaftsvertrag eine Haftungsregelung enthalten ist, richtet sich die Höhe des Ausgleichsanspruchs im Innenverhältnis nach der vertraglichen Vereinbarung. Beispiel

Die „Heizstrahler MMS oHG“ hat, wirksam vertreten durch den Gesellschafter Müller, mit V einen Kaufvertrag abgeschlossen, aus dem ein Anspruch des V gegen die oHG auf Kaufpreiszahlung in Höhe von 6000 EUR entstanden ist. V kann die Zahlung in Höhe von 6000 EUR von der oHG verlangen (§§ 433 Abs.  2 BGB, 124 HGB). Er kann den Kaufpreis auch von Müller verlangen (§§  433 Abs.  2 BGB, 105, 128 HGB). Sollte Müller in Anspruch genommen werden und die Zahlung leisten, kann er anschließend von Meier und Schulze je 2000 EUR fordern. Wurde im Gesellschaftsvertrag ein Haftungsausschluss zu-

6.2 Personengesellschaften

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gunsten des Schulze vereinbart, könnte Müller von Meier 3000 EUR verlangen (§ 426 BGB). ◄ In der Praxis ist es durchaus üblich, dass ein Gesellschafter mit seiner oHG 1100 Verträge schließt, beispielsweise ein Grundstück an die oHG verkauft oder vermietet. Für die daraus resultierende Kaufpreis- oder Mietzinsforderung haften die oHG (§ 124 HGB) und die Gesellschafter (§ 128 HGB). Allerdings muss der Gesellschafter im Falle seiner Drittgläubigerstellung zunächst versuchen, die Zahlung aus dem Gesellschaftsvermögen zu erlangen, bevor er sich an seine Mitgesellschafter wenden darf. Dies folgt aus der gesellschaftsvertraglichen Treuepflicht. Erst wenn die oHG zahlungsunfähig ist, kann er seinen Anspruch gegen die Mitgesellschafter richten, wobei er einen seiner Beteiligungsquote entsprechenden Verlustanteil selbst zu tragen hat. Insoweit ist ein Gesellschafter als Gläubiger der oHG in der Auswahl seines Anspruchsgegners bei Geltendmachung seiner Forderungen eingeschränkt. Ein Gesellschafter kann, sofern er von einem Gesellschaftsgläubiger in An- 1101 spruch genommen wird, diesem alle Einwendungen und Einreden entgegenhalten, die entweder in seiner Person begründet sind oder die der Gesellschaft zustehen (§ 129 Abs. 1 HGB). Ein Gesellschafter kann z. B. einwenden, der Gläubiger habe ihm die Forderung gestundet; dies wäre eine persönliche Einwendung, die dem Gesellschafter, nicht aber der Gesellschaft, zusteht. Der Gesellschafter kann aber auch die Einwendungen der oHG geltend machen, beispielsweise die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts infolge Formmangels oder die bereits eingetretene Verjährung der Forderung. Schließlich kann der Gesellschafter eine Zahlung bei Inanspruchnahme verweigern, sofern der oHG das Recht zur Anfechtung (§ 129 Abs. 2 HGB) oder zur Aufrechnung mit einer Gegenforderung (§ 129 Abs. 3 HGB) zusteht. Tritt ein Gesellschafter in eine bestehende oHG ein, haftet er für alle vor seinem 1102 Eintritt begründeten Verbindlichkeiten der Gesellschaft (§ 130 HGB). Die Haftung eines in eine oHG eintretenden Gesellschafters erstreckt sich daher auch auf Altverbindlichkeiten und zwar ohne Unterschied, ob die Firma eine Änderung erleidet oder nicht (§ 130 Abs. 1 HGB). Diese Haftungsregel scheint zwar der des § 28 HGB ähnlich, der die Haftung bei Eintritt in ein bestehendes Einzelunternehmen auch auf Altverbindlichkeiten erstreckt. Allerdings ist nach §  130 Abs.  2 HGB  – im Unterschied zu §  28 Abs.  2 HGB  – die Möglichkeit eines Haftungsausschlusses für den eintretenden Gesellschafter nicht gegeben. § 130 Abs. 2 HGB bestimmt, dass eine der Haftung für Altverbindlichkeiten entgegenstehende Vereinbarung (=  Haftungsausschluss) ­Dritten gegenüber unwirksam ist. Der in das Geschäft eines Einzelkaufmanns eintretende Gesellschafter kann nach §  28 HGB einen vertraglich vereinbarten Haftungsausschluss durch Eintragung ins Handelsregister oder Mitteilung an die Gläubiger auch nach außen wirksam werden lassen und sich damit von der Haftung für Altschulden befreien. Diese Möglichkeit steht dem in eine oHG eintretenden Gesellschafter nicht zu. Zwar kann auch hier im Innenverhältnis eine Haftungsfreistellung (Haftungsausschluss) vereinbart werden, doch diese entfaltet wegen § 130 Abs. 2 HGB keine Außenwirkung.

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6 Gesellschaftsrecht

Der persönlichen Inanspruchnahme kann sich ein Gesellschafter nicht mit der Auflösung der oHG oder mit seinem Ausscheiden aus der Gesellschaft entziehen. Vielmehr ordnet das Gesetz eine Nachhaftung des austretenden Gesellschafters an; er muss für alle bis zu seinem Ausscheiden begründeten Gesellschaftsverbindlichkeiten noch fünf weitere Jahre einstehen; ähnliches gilt bei Auflösung der Gesellschaft (§§ 159, 160 HGB).

6.2.2.6 Gesellschafterwechsel Der Eintritt sowie das Ausscheiden von Gesellschaftern sollte durch vertragliche Regelungen begleitet werden. Fehlt eine entsprechende Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag, müssen die Gesellschafter über den Eintritt eines neuen Gesellschafters einstimmig beschließen (sog. Grundlagengeschäft). Ausscheidungsgründe nennt hingegen §  131 Abs.  3 HGB.  Alle Änderungen im Gesellschafterbestand sind gemäß §§ 107, 143 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 2 HGB zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. Scheidet ein Gesellschafter aus der oHG aus (z. B. durch Tod, § 131 Abs. 3 Nr.  1 HGB oder Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen, §  131 Abs. 3 Nr. 2 HGB), wird die Gesellschaft mangels anderweitiger vertraglicher Bestimmung von den übrigen Gesellschaftern fortgeführt. Mit dem Ausscheiden erlöschen seine gesellschaftsrechtlichen Mitgliedschaftsrechte und -pflichten; ebenso endet seine Beteiligung am Gesellschaftsvermögen, indem sein Gesellschaftsanteil ohne weiteren Übertragungsakt den verbleibenden Gesellschaftern zuwächst (§ 105 Abs. 3 HGB, 738 Abs. 1 BGB). Der Ausscheidende – bzw. seine Erben – erhalten zum Ausgleich für den Verlust der Beteiligung einen schuldrechtlichen Abfindungsanspruch gegen die oHG (§§ 105 Abs. 3 HGB, 738 Abs. 1 S. 2 BGB). 1105 Die Ausschließung eines Gesellschafters aus der oHG kann durch Gesetz oder Vertrag erfolgen. Tritt gemäß § 140 HGB in der Person eines Gesellschafters ein Umstand ein, der nach § 133 HGB für die übrigen Gesellschafter das Recht begründet, die Auflösung der oHG aus wichtigem Grund zu verlangen, so kann auf Antrag der übrigen Gesellschafter vom Gericht anstatt der Auflösung der oHG auch nur die Ausschließung des Gesellschafters aus der Gesellschaft ausgesprochen werden. Die Ausschließung eines Gesellschafters kann nur aus wichtigem Grund nach Antrag der übrigen Gesellschafter durch gerichtliche Entscheidung erfolgen, insbesondere bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der Gesellschafterpflichten. Sind nur zwei Gesellschafter vorhanden und tritt in der Person des einen ein Ausschließungsgrund ein, so kann der andere Gesellschafter auf Antrag das Handelsgeschäft ohne Liquidation mit Aktiva und Passiva übernehmen (§ 140 Abs. 1 S. 2 HGB). 1104

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6.2.2.7 Beendigung und Liquidation Der Prozess der Auflösung und Liquidation (= Abwicklung) der oHG startet bei Vorliegen eines der in §  131 HGB genannten Gründe (oder ergänzend, aufgrund vertraglich vereinbarter Gründe): • Zeitablauf (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 HGB), • Gesellschafterbeschluss (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 HGB),

6.2 Personengesellschaften

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• Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der oHG (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 HGB), • gerichtliche Entscheidung (§ 131 Abs. 1 Nr. 4 HGB). Die Auflösung der oHG ist gemäß § 143 Abs. 1 HGB zur Eintragung ins Handels- 1107 register anzumelden. Die Gesellschaft erhält den Zusatz „i. L.“ und wird liquidiert. Mangels einer gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung erfolgt die Liquidation durch sämtliche Gesellschafter (§ 146 Abs. 1 HGB); die Liquidatoren sind nunmehr die „Organe“ der Gesellschaft – ihnen steht die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis zu. Den Liquidatoren obliegt die Beendigung der Geschäfte, Einziehung der Forderungen, Umsetzung des übrigen Vermögens in Geld und die Befriedigung der Gläubiger (§§ 149, 154, 155 HGB). Nach dem Abschluss der Liquidation ist das Erlöschen der Firma von den Liquidatoren zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden (§ 157 Abs. 1 HGB).

6.2.3 Partnerschaft Mit dem am 1. Juli 1995  in Kraft getretenen „Gesetz über Partnerschaftsgesellschaften Angehöriger Freier Berufe“  – kurz Partnerschaftsgesellschaftsgesetz (PartGG)  – eröffnet sich auch den Freiberuflern (Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Journalisten – siehe § 1 Abs. 2 PartGG) die Möglichkeit, für ihren Zusammenschluss eine handelsrechtsähnliche Rechtsform zu wählen, nämlich die Partnerschaft (§ 1 Abs. 1 PartGG). Partner können daher auch nur natürliche Personen werden; jedoch kann die Partnerschaft als solche ohne weiteres Anteile an einer juristischen Person erwerben. Ein Rechtsformzwang besteht für die Freiberufler dagegen nicht, so dass z.  B.  Wirtschaftsberatungs- und Steuerberatungsgesellschaften auch weiterhin in der Rechtsform der GmbH, der Aktiengesellschaft oder in der Rechtsform der GbR betrieben werden können. Den Hauptanreiz für die Wahl der Rechtsform der Partnerschaft dürfte in der Möglichkeit liegen, die Haftung für Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübung auch unter Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu beschränken (§ 8 Abs. 2 und 3 PartGG). Die Partnerschaftsgesellschaft ist eine Personengesellschaft. Auf sie sind gemäß § 1 Abs. 4 PartGG die Vorschriften über die GbR anwendbar; kraft a­ usdrücklicher Einzelverweisung im PartGG finden auch wichtige Regeln über die oHG Anwendung (siehe z. B. §§ 4 Abs. 1 S. 1, 6 Abs. 3 S. 2, 7 Abs. 2, 3 und 5 PartGG). Die Partnerschaft ist ebenso wie die oHG rechts- und parteifähig, d. h. sie kann Trägerin von Rechten und Pflichten sein und als Partei in einem Prozess auftreten (§ 7 Abs. 2 PartGG i. V. m. § 124 HGB).

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6.2.3.1 Entstehung Die Partnerschaft wird von mindestens zwei Partnern durch Abschluss eines 1112 Partnerschaftsvertrages gegründet (§ 3 Abs. 1 PartGG), Nach § 3 Abs. 1 PartGG

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6 Gesellschaftsrecht

bedarf der Partnerschaftsvertrag der Schriftform. Ferner ist sein Mindestinhalt in § 3 Abs. 2 PartGG festgelegt: • • • •

Namen und Sitz der Partnerschaft, den vollständigen Namen und Wohnort jedes Partners, dessen Beruf und den Gegenstand der Partnerschaft.

Durch den Partnerschaftsvertrag entsteht die Partnerschaft im Innenverhältnis. Der Name der Partnerschaft muss den Namen mindestens eines Partners (der Vorname ist nicht erforderlich) sowie die Berufsbezeichnung aller Partner (nur die ausgeübten Berufe)  mit dem Rechtsformzusatz „Partner“ oder „Partnerschaft“ enthalten (§ 2 Abs. 1 PartGG), wobei das Prinzip der Firmenwahrheit (§ 2 Abs. 2 PartGG; § 18 Abs. 2 HGB) auch bei der Namensgebung im Rahmen der Partnerschaft gilt, d. h. der Name der Partnerschaft darf nicht über Art, Umfang oder sonstige Verhältnisse täuschen (z. B. darf ein Zusammenschluss ausschließlich von Architekten nicht unter dem Namen „Architekten & Statiker Partnerschaft“ auftreten). 1114 Die Partnerschaft ist zudem im Partnerschaftsregister einzutragen, das bei den örtlich zuständigen Amtsgerichten am Sitz der Partnerschaft geführt wird (§ 4 Abs. 1 PartGG i. V. m. § 106 Abs. 1 HGB). Die Vorschriften zum Handelsregister (insbesondere Publizitätswirkung) geltend entsprechend (§ 5 Abs. 2 PartGG). 1115 Wegen der Haftung der Partner nach § 8 Abs. 1 PartGG kommt der Frage, wann die Partnerschaft gegenüber Dritten – also im Außenverhältnis – wirksam entsteht, besondere Bedeutung zu. Im Außenverhältnis entsteht die Partnerschaft nicht allein durch den Abschluss des Partnerschaftsvertrages; denn hierbei handelt es sich lediglich um einen internen Akt zwischen den Partnern, der nach außen für Dritte nicht unbedingt zu erkennen ist. Im Verhältnis zu Dritten ist die Partnerschaft daher erst entstanden, wenn sie in das Partnerschaftsregister eingetragen ist (§  7 Abs.  1 PartGG). Die Eintragung hat dabei konstitutive (rechtsbegründende) Wirkung. Letzterer bedarf es insbesondere deshalb, weil es bei der Partnerschaft – im Gegensatz zu anderen Personengesellschaften – kein erkennbares Abgrenzungskriterium zur GbR gibt. Eine Regelung ähnlich des § 123 Abs. 1 HGB (Entstehung mit Aufnahme der Geschäftstätigkeit) gibt es bei der Partnerschaft hingegen nicht. Da §  7 PartGG überdies gerade nicht auf § 123 HGB verweist (obschon es möglich gewesen wäre), darf die Vorschrift auch nicht analog angewandt werden. Vor Eintragung der Partnerschaft besteht daher eine GbR. 1113

1116

6.2.3.2 Rechte und Pflichten der Partner Das Rechtsverhältnis der Partner untereinander ist in §  6 PartGG geregelt. Die Rechte und Pflichten der Partner ergeben sich, wie bei den anderen Personengesellschaften auch, zum einen aus dem Partnerschaftsvertrag (§ 6 Abs. 3 PartGG). Zum anderen kann wegen der Rechte und Pflichten der Partner auf die entsprechend anwendbaren Vorschriften im Recht der oHG, insbesondere über das Wettbewerbsverbot (§§ 112 f. HGB) und den Aufwendungsersatzanspruch, verwiesen werden.

6.2 Personengesellschaften

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6.2.3.3 Partner- und Partnerschaftsvermögen Das Vermögen der Partnerschaft ist Gesamthandsvermögen. 1117 Die Verteilung von Gewinn- und Verlust richtet sich, soweit der Partnerschafts- 1118 vertrag nichts anderes bestimmt, nach den §§  721, 722 BGB.  Die Partner haben danach – unabhängig von geleisteten Beiträgen – den gleichen Anteil am Gewinn und Verlust. Eine Nachschusspflicht der Partner besteht nicht (§ 707 BGB). Auch ein Ent- 1119 nahmerecht steht den Partnern nicht zu. Es ist jedoch üblich, feste Gehaltszahlungen als Vorabentnahmen auf den Jahresgewinn zu vereinbaren. 6.2.3.4 Geschäftsführung und Vertretung Hinsichtlich der Geschäftsführungsbefugnis kann, sofern der Partnerschaftsver- 1120 trag nichts anderes bestimmt, auf die §§ 110–116 Abs. 2, 117–119 HGB verwiesen werden (§  6 Abs.  3 PartGG); die oHG-Regeln gelten entsprechend. Ergänzend weist § 6 Abs. 2 PartGG darauf hin, dass ein einzelner Partner nur bei „sonstigen Geschäften“ von der Geschäftsführung ausgeschlossen werden kann, was klarstellt, dass ein Ausschluss nicht möglich ist, soweit es seine Berufsausübung als solche anbetrifft (Art.  12 GG). Für die Beschlussfassung gilt mangels abweichender partnerschaftsvertraglicher Regelungen das Einstimmigkeitsprinzip (§§  6 Abs.  3 PartGG, 119 Abs. 1 HGB). Es ist zwingend zu beachten bei Beschlüssen, die den Kernbereich der Partnerschaft anbetreffen (sog. Grundlagengeschäfte). Auch bei der Vertretung ergeben sich keine Besonderheiten gegenüber der 1121 oHG; die Vertretungsmacht steht nach der gesetzlichen Regelung jedem einzelnen Partner zu (§ 7 Abs. 3 PartGG i. V. m. § 125 Abs. 1 HGB) und die Vertretungsmacht ist gemäß § 7 Abs. 3 PartGG i. V. m. § 126 HGB grundsätzlich unbeschränkt, d.  h. sie erstreckt sich auf alle gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtshandlungen. Die Partnerschaft kann jedoch, anders als die oHG, keinen Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten bestellen, da die Partnerschaft keine Handelsgesellschaft ist. Zum Schutz des Rechtsverkehrs sind, wie bei der oHG auch, andere ­Einschränkungen betreffend den Umfang der Vertretungsmacht Dritten gegenüber unwirksam (§ 7 Abs. 3 PartGG i. V. m. § 126 Abs. 3 HGB). 6.2.3.5 Haftung An die Regelungen zur oHG (§§ 128, 129, 130 HGB) angelehnt, haften die Partner 1122 neben der Partnerschaft persönlich und gesamtschuldnerisch für die Verbindlichkeiten der Partnerschaft (§ 8 Abs. 1 PartGG). Sowohl das Vermögen der Partnerschaft als auch das private Vermögen der Partner steht den Gläubigern daher als Haftmasse zur Verfügung. Die Partner trifft auch die von der oHG bekannte Nachhaftung (§§ 10 Abs. 1 PartGG, 159 Abs. 1, 160 HGB). § 8 Abs. 2 PartGG beschränkt allerdings die Haftung auf den oder die einzel- 1123 nen mit der Bearbeitung eines Auftrags befassten Partner, also denjenigen der „den Auftrag selbst bearbeitet oder seine Bearbeitung überwacht hat oder dies nach der internen Zuständigkeitsverteilung hätte tun müssen“ (BT-Drucks. 21/9820, S.  13; BGH NJW 2010, 1360, 1362 Rn.  17). Diese Bestimmung lässt es zu, die Haftung auf den leistungserbringenden Partner zu beschränken, und schließt auf

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diese Weise eine wechselseitige unbeschränkte Schadensersatzhaftung aus. So verschafft sie gerade den Partnern großer Gemeinschaftspraxen und Sozietäten erhebliche Erleichterung. 1124 § 8 Abs. 3 PartGG sieht zudem vor, dass die Haftung aus fehlerhafter Berufsausübung durch Gesetz auf einen Höchstbetrag beschränkt werden kann, wenn die Partner oder die Partnerschaft zugleich zum Abschluss einer Berufshaftpflicht verpflichtet werden. Durch individuelle vertragliche Abrede können die Partner auf diesem Wege die Haftung der Partnerschaft oder der ihr angehörigen Partner bzw. Berufszweige eingrenzen. 1125 Nach § 8 Abs. 4 S. 1 PartGG besteht seit dem Jahr 2013 zudem die Möglichkeit, die Haftung der Gesellschafter für Schäden aus Berufsfehlern auszuschließen und auf das Gesellschaftsvermögen zu beschränken. Die Regelung wurde insbesondere als Alternative zur britischen „limited liability partnership“ eingeführt und erfordert, dass die Partnerschaft eine entsprechende Berufshaftpflichtversicherung unterhält sowie den Namenszusatz „mit beschränkter Berufshaftung“ oder eine andere allgemein verständliche Abkürzung führt (§ 8 Abs. 4 S. 3 PartGG). Die Haftung für sonstige Schäden ist hiervon hingegen nicht betroffen. Beispiel

Die Anwälte A und B sowie der Steuerberater C gründen eine Partnerschaft. A nimmt ein Mandat an. Wenn nun A schuldhaft eine Frist versäumt und dabei seinem Mandanten erheblichen Schaden zufügt, kann dieser mögliche Schadensersatzansprüche gegenüber der Partnerschaft oder dem A geltend machen. Eine Inanspruchnahme der Partner B und C ist wegen der Haftungsbeschränkung auf A nach § 8 Abs. 2 PartGG ausgeschlossen. ◄ 1126

6.2.3.6 Partnerwechsel Grundsätzlich ist es möglich, dass mit Zustimmung aller Partner neue Partner in die Partnerschaft eintreten oder aus dieser ausscheiden; dafür verweist §  9 Abs.  1 PartGG auf die §§ 131–144 HGB. Der Verlust der Berufszugehörigkeit (z. B. durch behördliches Berufsausübungsverbot) bewirkt automatisch das Ausscheiden aus der Partnerschaft (§ 9 Abs. 3 PartGG). Die Beteiligung an der Partnerschaft ist unvererblich (§  9 Abs.  4 PartGG), es sei denn der Partnerschaftsvertrag trifft eine abweichende Regelung und der Erbe verfügt über die notwendigen beruflichen Voraussetzungen.Wie bei der oHG führt der Tod eines Partners nicht zur Auflösung der Partnerschaft; der verstorbene Partner scheidet aus, und die Partnerschaft wird, sofern mehrere Partner verbleiben, mit diesen fortgeführt. Der Anteil des verstorbenen Partners am Vermögen der Partnerschaft wächst entsprechend § 738 BGB ohne besondere Übergangshandlung den verbleibenden Partnern zu und der ausscheidende Partner erhält einen Abfindungsanspruch zum Wert seines Anteils (§ 738 Abs. 1 S. 2 BGB). In der Praxis werden die gesetzlichen Regelungen regelmäßig auf die Bedürfnisse der Partner angepasst (z.  B.  Fortsetzungsklauseln, Abfindungsklauseln mit klaren Vorgaben zur Berechnung der Abfindung, insbesondere der zugrunde liegenden Methoden).

6.2 Personengesellschaften

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6.2.3.7 Beendigung und Liquidation Die Partnerschaft endet und wird abgewickelt entsprechend den oHG-Regeln, d. h. 1127 durch Auflösung (§§ 9 Abs. 1 PartGG i. V. m. §§ 131–144 HGB) und Liquidation (§§ 10 Abs. 1 PartGG i. V. m. §§ 145–158 HGB).

6.2.4 Kommanditgesellschaft (KG) Die Kommanditgesellschaft (KG) ist eine Personenhandelsgesellschaft, deren Gesellschaftszweck  – wie bei der oHG  – auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet ist (§  161 Abs.  1 HGB). Sie unterscheidet sich von der oHG dadurch, dass in der Kommanditgesellschaft zwei Arten von Gesellschaftern beteiligt sind, die Komplementäre und die Kommanditisten. Während die Komplementäre persönlich haftende Gesellschafter sind, die gleich einem oHG-Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft vollumfänglich und persönlich haften (§§ 161 Abs. 2, 128, 130 HGB), ist die Haftung der Kommanditisten nach § 161 Abs. 1 HGB auf den Betrag einer bestimmten Haftsumme bzw. Vermögenseinlage beschränkt (Kommanditisten, §§  171–176 HGB). Die Kommanditistenstellung ermöglicht also die Beteiligung an einer Personenhandelsgesellschaft mit einem beschränkten Haftungsrisiko. Gleichzeitig sind aber auch deren Mitwirkungsrechte eingeschränkt, weil die Kommanditisten von der Geschäftsführung und Vertretung ausgeschlossen sind (§§ 164, 170 HGB). Die KG, die in den §§ 161–177a HGB geregelt ist, ist eine modifizierte oHG, auf die das Recht der oHG daher auch nachrangig anzuwenden ist (§ 161 Abs. 2 HGB). Praktisch bedeutsame Unterschiede zur oHG entstehen nur aus der Rechtsstellung der Kommanditisten. Die KG ist zwar keine juristische Person, kann aber als Unternehmerin eines Handelsgewerbes im Rechtsverkehr mit weitgehender Selbständigkeit auftreten. Sie ist rechts- und parteifähig, d. h. sie kann insbesondere unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verpflichtungen eingehen, vor Gericht klagen und verklagt werden (§ 124 HGB i. V. m. § 161 Abs. 2 HGB). Sie ist Kaufmann i. S. des § 6 Abs. 1 HGB; ihre Firma muss nach §  19 Abs.  1 Nr.  3 HGB den Rechtsformzusatz „Kommanditgesellschaft“ oder „KG“ enthalten. Der Zweck der KG ist  – wie bei der oHG  – auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter einer gemeinsamen Firma gerichtet (§ 161 Abs. 1 HGB). Dabei hat die KG in der Praxis – anders als die oHG – ständig an Bedeutung gewonnen. Zunächst ist sie die Gesellschaftsform, die viele Familienunternehmen nutzen, weil die KG eine Gesellschaftszugehörigkeit auch denjenigen Familienmitgliedern ermöglicht, die zur persönlichen Mitarbeit nicht willens oder fähig sind und nur ein beschränktes Haftungsrisiko tragen möchten. Das Haftungsrisiko ist dabei kalkulierbar, denn die Kommanditisten haben nur mit ihrer Einlage einzustehen. Ferner besteht die Möglichkeit, eine Kapitalgesellschaft, insbesondere eine selbst nur mit dem Gesellschaftsvermögen haftende GmbH (§  13 Abs.  2 GmbHG) zum einzig persönlich haftenden Gesellschafter (= GmbH & Co. KG) zu machen und dadurch das Privatvermögen sämtlicher natürlicher Personen in der Kommanditgesellschaft zu

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schonen. Denn ist die GmbH persönlich haftende Gesellschafterin (Komplementärin), so steht für Verbindlichkeiten nur das Gesellschaftsvermögen der KG und das Haftkapital der GmbH (mindestens 25.000 EUR) zur Verfügung; alle anderen Gesellschafter bleiben mit ihrem Privatvermögen, soweit sie ihre Einlagen als Kommanditisten geleistet haben, außen vor (§ 171 Abs. 1 Hs. 2 HGB). Denkbar ist dabei auch eine Einpersonen-GmbH & Co. KG – der Alleingesellschafter der GmbH ist dann zugleich deren Geschäftsführer (§ 6 GmbHG) und der einzige Kommanditist.

6.2.4.1 Entstehung Die KG wird durch den Abschluss eines Gesellschaftsvertrages begründet. Dieser unterliegt den allgemeinen Regelungen, bedarf keiner besonderen Form und die Gesellschafter können den Vertragsinhalt entsprechend ihrer jeweiligen Interessenlage frei festlegen. Im Verhältnis der Gesellschafter untereinander (Innenverhältnis) kann daher ohne weiteres von den dispositiven Vorschriften abgewichen werden, beispielsweise kann einem Kommanditisten entgegen § 164 HGB die Geschäftsführungsbefugnis erteilt werden. Die Gesellschafter müssen sich allerdings bei Vertragsschluss entscheiden, ob sie die Rechtsstellung eines Komplementärs oder eines Kommanditisten begleiten wollen, beides ist nicht zulässig. Dies wäre ein Verstoß gegen die Einheitlichkeit des Gesellschaftsanteils. Gegenüber Dritten (Außenverhältnis) sind die Vorschriften des HGB dagegen zwingend, so dass z. B. ein Kommanditist die KG nicht wirksam organschaftlich vertreten kann (§ 170 HGB), es sei denn, ihm wird zugleich Prokura erteilt. 1133 Die KG ist zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden. Dabei sind einerseits die auf den Komplementär bezogenen Angaben zu machen (§§ 162 Abs. 1, 106 Abs. 2 HGB). Andererseits erfordert die Anmeldung auch Angaben zu den Kommanditisten (§ 162 Abs. 1 S. 1 HGB): 1132

• Bezeichnung der Kommanditisten, sowie • der Betrag der Hafteinlage eines jeden Kommanditisten als ziffernmäßig ausgewiesene Geldsumme. In der Bekanntmachung ist allerdings nur die Zahl der Kommanditisten enthalten, nicht dagegen ihre Namen, Berufe, Anschriften und die Höhe der Kommanditeinlage (§  162 Abs.  2 HGB). Der Kommanditist wird aber – trotz der reduzierten  Pflichtangaben  – regelmäßig ein besonderes Interesse daran haben, seine Haftungsbeschränkung auch zu veröffentlichen. 1134 Im Innenverhältnis entsteht die KG durch Gesellschaftsvertrag; im Außenverhältnis durch Eintragung ins Handelsregister (§  123 Abs.  1 und 3 i.  V.  m. §  161 Abs. 2 HGB). Die Wirksamkeit der KG gegenüber Dritten tritt – wie bei der oHG – aber auch schon dann ein, wenn die KG ihre Geschäfte aufgenommen hat, sofern es sich dabei um ein Handelsgewerbe nach §  1 Abs.  2 HGB handelt (§  123 Abs.  2 HGB). Für diesen Fall ordnet § 176 Abs. 1 HGB an, dass die Kommanditisten, sofern sie dem Geschäftsbeginn vor Eintragung zugestimmt haben, für die vor Eintragung der KG begründeten Verbindlichkeiten der Gesellschaft wie Komplemen-

6.2 Personengesellschaften

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täre haften. Sie können sich auf die Beschränkung ihrer Haftung nur berufen, wenn dem Gläubiger bekannt war, dass sie sich nur als Kommanditisten beteiligen wollten; es soll das Vertrauen des rechtsgeschäftlichen Verkehrs geschützt werden. Deshalb ist es für die Kommanditisten wichtig, dass mit dem Geschäftsbeginn bis zur Eintragung gewartet wird.

6.2.4.2 Rechte und Pflichten der Gesellschafter Die Rechte und Pflichten des Komplementärs sind die des Gesellschafters einer 1135 oHG: er ist wie dieser im Zweifel geschäftsführungsbefugt (§§ 114 ff. HGB) und vertretungsberechtigt (§§ 125 ff. HGB), unterliegt dem Wettbewerbsverbot gemäß §§ 112 f. HGB und hat ein Entnahmerecht gemäß § 122 HGB (Abschn. 6.2.2.2). Das HGB kann sich deshalb in §§ 163 ff. HGB damit begnügen, nur die Rechtsstellung des Kommanditisten – in einigen Punkten auch abweichend von der des Komplementärs – zu regeln. Bei den Rechten und Pflichten des Kommanditisten ergeben sich Besonder- 1136 heiten, da seine Rolle eigentlich der eines „Kapitalanlegers“ gleichkommt, der gerade nicht lenkend auf die Gesellschaft einwirkt. Zwar trifft auch den Kommanditisten die für die Personengesellschaft charakteristische „Treuepflicht“. Allerdings unterliegt sie wesentlich weniger strengen Anforderungen als die des Komplementärs. Das zeigt sich insbesondere in § 165 HGB, wonach der Kommanditist keinem Wettbewerbsverbot nach den §§ 112, 113 HGB unterworfen ist. Diese Ausnahme entfällt allerdings wieder, wenn der Kommanditist ob seines eingelegten Kapitals die Gesellschaft beherrscht oder in anderer Weise erheblichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft ausübt. 6.2.4.3 Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen Das Vermögen der KG ist  – wie bei der oHG  – Gesamthandsvermögen 1137 (Abschn. 6.2.1.3). Für die vermögensrechtliche Beteiligung der Gesellschafter gelten grundsätz- 1138 lich die für die oHG maßgeblichen Regeln. Das Gesellschaftsvermögen steht dabei allen Gesellschaftern in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit, also auch den Kommanditisten zu. Der vor allem für die Verteilung des Gewinns und des Liquidationsüber- 1139 schusses maßgebliche Umfang der Beteiligung wird wie bei der oHG durch den Begriff des Kapitalanteils erfasst. Auch bei der KG geht das HGB von variablen Kapitalanteilen aus, die für die Kommanditisten freilich durch den Betrag der Kommanditeinlage nach oben begrenzt sind; über diesen Betrag hinaus können Gewinne nicht gutgeschrieben werden (§ 167 Abs. 2 HGB). Vom Gewinn erhält jeder Gesellschafter zunächst 4 % seines Kapitalanteils (§ 168 Abs. 1 HGB i. V. m. § 121 HGB). Der Rest wird ebenso wie der Verlust nicht nach Köpfen (anders bei der oHG gemäß § 121 Abs. 3 HGB), sondern „angemessen“ verteilt (§ 168 Abs. 2 HGB): grundsätzlich gebührt den die Geschäfte führenden und unbeschränkt haftenden Komplementären ein höherer Anteil. Die Verluste werden von den Kapitalanteilen abgeschrieben. Dabei kann auch der Kapitalanteil eines Kommanditisten passiv (oder negativ) werden; er ist dann durch spätere Gewinne wieder aufzufüllen, bevor

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6 Gesellschaftsrecht

an ihn Gewinne ausbezahlt werden können (§ 169 Abs. 1 S. 2 HGB). Der Kommanditist ist dagegen nicht deckungspflichtig; auch bei Auflösung der Gesellschaft hat er nur den (eventuell noch) ausstehenden Teil seiner Einlage zu zahlen; im Übrigen nimmt er am Verlust nicht teil (§  167 Abs.  3 HGB). Der Kommanditist hat kein gewinnunabhängiges Entnahmerecht; §  169 Abs.  1 S.  1 HGB schließt die Anwendung von § 122 HGB aus, da der Kommanditist in der Regel nicht hauptberuflich für die KG tätig ist. Von diesen Regeln kann durch Gesellschaftsvertrag abgewichen werden.

6.2.4.4 Geschäftsführung und Vertretung Das Rechtsverhältnis der Gesellschafter untereinander richtet sich maßgeblich nach den Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag (§  163 HGB), ergänzend gelten die §§ 164–169 HGB. Danach liegt die Geschäftsführung bei den Komplementären (hierbei gelten die Ausführungen zur oHG sinngemäß, Abschn. 6.2.2.4), während die Kommanditisten nicht geschäftsführungsbefugt sind (§ 164 S. 1 Hs. 1 HGB). 1141 Die Kommanditisten sind von der Geschäftsführung ausgeschlossen; sie können insbesondere nicht der Geschäftsführung der Komplementäre widersprechen; § 164 HGB schließt auch insoweit die Anwendung von § 115 Abs. 1 HGB aus. Das gilt aber nur für den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes (§ 164 S. 1 Hs. 2 HGB); ungewöhnliche Geschäfte bedürfen dagegen auch dem Einvernehmen der Kommanditisten. Als solche außergewöhnlichen Maßnahmen gelten z.  B.  Geschäfte, die bereits im Zusammenhang mit dem Widerspruchsrecht des nichtgeschäftsführungsbefugten Gesellschafters einer oHG dargestellt wurden, wie die Errichtung einer Zweigniederlassung oder langfristig kapitalbindende bauliche Maßnahmen. Die Erteilung und der Widerruf der Prokura gehören dagegen nicht dazu, so dass der Kommanditist insoweit kein Widerspruchsrecht besitzt (§§ 164 S. 2, 116 Abs. 3 HGB). Außerdem stehen den Kommanditisten Kontrollrechte gemäß § 166 HGB zu, namentlich die Mitteilung des Jahresabschlusses in Abschrift, die Einsicht in Bücher und Papiere sowie außergewöhnliche Überwachungsrechte aus wichtigem Grund durch gerichtliche Anordnung (insbesondere bei Verdacht unredlicher Geschäfts- oder nicht ordnungsgemäßer Buchführung). Damit bleiben seine Kontrollrechte zwar hinter denen eines von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Gesellschafters einer oHG zurück und können durch Gesellschaftsvertrag weiter eingeschränkt werden, dennoch sind sie im Kern nicht entziehbar, denn der Kommanditist soll nachverfolgen können, wie sich seine Einlage entwickelt (ähnlich eines Bankkunden, der auch Auskunft über seine Spareinlagen erhält). 1142 Die Vertretung der KG erfolgt durch die Komplementäre (§§ 161 Abs. 2, 125 – 127 HGB); insoweit gilt das Recht der oHG (Abschn. 6.2.2.4). 1143 Der Kommanditist hat keine Vertretungsmacht (§  170 HGB). Diese Bestimmung betrifft aber nur die organschaftliche Vertretung der KG, wie sie den Komplementären zusteht. Sie hindert die Gesellschafter nicht, durch Gesellschaftsvertrag zu vereinbaren, dass dem Kommanditisten, wie einem Angestellten, für einzelne Handlungen oder für bestimmte betriebliche Abteilungen rechtsgeschäftliche Vollmacht (§ 164 BGB) erteilt wird. Eine zulässige Regelung ist deshalb auch 1140

6.2 Personengesellschaften

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die Erteilung der Prokura (§ 48 HGB) oder der Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) an einen Kommanditisten, der im Handelsgeschäft mitarbeitet. Bei der gesellschaftsvertraglichen Gestaltung solcher Vertretungsregelungen ist das Verbot der Fremdorganschaft für Personengesellschaften zu beachten. Sofern eine unechte Gesamtvertretung vereinbart wird, darf der gesamtvertretungsberechtigte Gesellschafter, wenn er nicht mit dem anderen vertretungsberechtigten Gesellschafter gemeinsam handelt, die Gesellschaft nur zusammen mit einem Prokuristen vertreten. Diese Regelung ist sowohl für die oHG als auch für die KG zulässig (§§ 161 Abs. 2, 125 Abs. 3 HGB). Dagegen wäre eine Vertretungsregelung unzulässig, wonach ein Gesellschafter die Gesellschaft nur gemeinsam mit einem Prokuristen vertreten darf. Diese Grundsätze müssen auch Berücksichtigung finden, wenn einem Kommanditisten Prokura erteilt wird. Beispiel

Die Gesellschafter Müller, Meier und Schulze gründen die MMS-KG mit Schmidt als Kommanditisten. Im Gesellschaftsvertrag wird vereinbart, dass Müller und Meier zur Vertretung der MMS-KG berechtigt sein sollen. Nach dem gesetzlichen Prinzip der Einzelvertretung können Müller und Meier die MMS-KG jeweils allein vertreten (§§ 161 Abs. 2, 125 Abs. 1 Hs. 1 HGB), während Schulze nach § 125 Abs. 1 Hs. 2 HGB und Schmidt nach § 170 HGB von der Vertretung ausgeschlossen sind. Die Gesellschafter der MMS-KG mit Schmidt als Kommanditisten vereinbaren, dass Müller und Meier gesamtvertretungsberechtigt sein sollen und ­erteilen dem Schmidt Prokura. Dies ist eine zulässige Vertretungsregelung nach §§ 161 Abs. 2, 125 Abs. 2 HGB (= echte Gesamtvertretung). Der Gesellschaftsvertrag könnte auch vorsehen, dass Müller und Meier, falls sie nicht zusammen handeln, jeweils nur mit dem Prokuristen Schmidt die MMS-KG vertreten können (§§ 161 Abs. 2, 125 Abs. 3 HGB = unechte Gesamtvertretung). ◄

6.2.4.5 Haftung Für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haftet die KG mit ihrem Gesellschafts- 1144 vermögen, da sie rechtlich selbständig ist (§§ 161 Abs. 2, 124 HGB). Daneben tritt die akzessorische Haftung der Komplementäre, die gleich einem 1145 oHG-Gesellschafter nach §§ 161 Abs. 2, 128 HGB persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch haften (Abschn. 6.2.2.5). Die Kommanditisten haften ebenfalls persönlich und gesamtschuldnerisch, je- 1146 doch nicht unbeschränkt, sondern nur bis zur Höhe ihrer Hafteinlage nach §§ 171 ff. HGB. Hat der Kommanditist die Einlage erbracht, d. h. z. B. auf das KG-­ Konto eingezahlt, ist er von jeder weiteren Haftung befreit, weil er seine Verpflichtung erfüllt hat (Haftungsbefreiung durch Einlageleistung). Allerdings greift die Haftungsbefreiung nicht, wenn er die Pflichteinlage entweder gar nicht geleistet hat (§ 171 Abs. 1 HGB) oder ihm diese wieder zurückgezahlt wurde (§ 172 Abs. 4 S. 1 HGB). Gerade im Falle einer offenen oder versteckten Rückzahlung, kommt es daher zur Wiederauflebung seiner Haftung auch gegenüber den Gläubigern, allerdings nur in Höhe seiner geschuldeten bzw. erneut geschuldeten Haftsumme (siehe dazu unten).

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6 Gesellschaftsrecht

Um den Umfang der Kommanditistenhaftung zu bestimmen, ist grundsätzlich zwischen der Hafteinlage (Haftsumme) und der Pflichteinlage zu unterscheiden. Die Haftung des Kommanditisten im Außenverhältnis bestimmt sich stets nach dem Betrag der im Handelsregister eingetragenen Hafteinlage. Die Hafteinlage ist dabei maßgebend für den Umfang der Haftungsbeschränkung (§ 172 Abs. 1 HGB). Dagegen ergibt sich die Pflichteinlage des Kommanditisten aus dem Gesellschaftsvertrag, der die Einlagen des Kommanditisten im Innenverhältnis beschreibt, wobei der Kommanditist, wie jeder andere Gesellschafter auch, dazu verpflichtet ist, seine Einlage in der im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Weise zu erbringen, z. B. durch Leistung von Geldbeträgen, Übernahme von Gesellschaftsverbindlichkeiten, Aufrechnung gegenüber der KG mit einer Forderung, die dem Kommanditisten gegen seine Gesellschaft zusteht, Einbringung von Sachen und Rechten, Dienstleistungen, stehen gelassene Gewinne (§ 167 Abs. 2 HGB) oder die Übernahme eines Gesellschaftsanteils. Besteht die der Gesellschaft geschuldete Pflichteinlage in der Einzahlung eines Geldbetrags, kann diese mit der im Handelsregister eingetragenen Hafteinlage identisch sein. Die Pflicht- und Hafteinlage müssen aber nicht übereinstimmen. Falls der Kommanditist seine Pflichteinlage nach dem Gesellschaftsvertrag nicht durch die Einzahlung eines der Hafteinlage entsprechenden Geldbetrages erbringt, kann sie durchaus summenmäßig von der Hafteinlage nach dem Handelsregister abweichen. Aus Gründen des Gläubigerschutzes ist der ­Kommanditist aber von der Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten nur insoweit ausgeschlossen, als er die Einlage bereits geleistet hat (§ 171 Abs. 1 Hs. 2 HGB). Beispiel

Im Gesellschaftsvertrag wird vereinbart, dass der Kommanditist eine Pflichteinlage von 50.000 EUR in der Weise zu erbringen hat, dass er 25.000 EUR bar einzahlt und für ein Jahr der KG die Nutzung von Geschäftsräumen in einem ihm gehörenden Haus überlässt. Im Handelsregister wird als Hafteinlage des Kommanditisten der Betrag von 50.000 EUR eingetragen. Vor der Bareinzahlung und vor der Geschäftsraumnutzung haftet der Kommanditist in Höhe von 50.000 EUR gegenüber den Gläubigern. Nach der Bareinzahlung und vor der Geschäftsraumnutzung haftet der Kommanditist bis zu einer Höhe von 25.000 EUR. Die in das Gesellschaftsvermögen einbezahlten 25.000 (Pflichteinlage) werden also gem. § 171 Abs. 1 Hs. 2 HGB von seiner Hafteinlage abgezogen. Nach der Bareinzahlung und nach Ablauf des Jahres ist die Haftung des Kommanditisten ausgeschlossen. Nach der Bareinzahlung und nach Ablauf eines halben Jahres würde der Kommanditist rechnerisch noch in Höhe von 12.500 EUR haften, doch kommt es in diesem Fall auf eine Bewertung des Mietzinses an. ◄ Wird die Pflichteinlage nicht in der Form von Bareinzahlungen geleistet, sondern nach gesellschaftsvertraglicher Vereinbarung in Form von Sachen, Rechten, Dienstleistungen oder in anderer Weise, muss sie bewertet werden. Denn nur durch

6.2 Personengesellschaften

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eine Bewertung kann festgestellt werden, ob ein Haftungsausschluss des Kommanditisten eingetreten ist. Im Fall der Überbewertung gilt die Einlage als nicht erbracht (§ 171 Abs. 1 Hs. 2 HGB: soweit die Einlage geleistet ist). Beispiel

Im Gesellschaftsvertrag wird vereinbart, dass der Kommanditist seine Pflichteinlage erbringt, indem er der KG einen Lieferwagen übereignet. Im Handelsregister wird als Hafteinlage der Betrag von 30.000 EUR eingetragen. Stellt sich heraus, dass der Lieferwagen im Zeitpunkt der Übereignung nur einen Wert von 20.000 EUR hatte, haftet der Kommanditist persönlich gegenüber den Gesellschaftsgläubigern bis zur Höhe von 10.000 EUR.  Gemäß §  171 Abs.  1 Hs.  2 HGB wird also nur der tatsächliche Wert der erbrachten Pflichteinlage von der Hafteinlage abgezogen. ◄ Im Grundsatz entfällt die Haftung des Kommanditisten nur insoweit, als er seine 1147 Einlage bereits geleistet hat (§  171 Abs.  1 Hs.  2 HGB). Falls die Einlage eines Kommanditisten zurückbezahlt wird, gilt sie den Gläubigern gegenüber als nicht geleistet mit der Folge, dass der Kommanditist wieder bis zur Höhe seiner Hafteinlage haftet (§ 172 Abs. 4 HGB). Auch wenn der Kapitalanteil des Kommanditisten durch Gewinnentnahme unter den Betrag der Hafteinlage gebracht wird, haftet der Kommanditist, weil die Minderung der Kommanditeinlage wirtschaftlich der Einlagenrückgewähr gleichsteht (§ 172 Abs. 4 S. 2 HGB). Beispiel

In einem oHG-Gesellschaftsvertrag wird eine Nachfolgeklausel dergestalt vereinbart, dass im Fall der rechtsgeschäftlichen Veräußerung eines Gesellschaftsanteils der Erwerber als Kommanditist in die Gesellschaft eintritt. Dadurch wird erreicht, dass die Gesellschafter die Geschäftsführungs- und Vertretungsrechte behalten und das Gesellschaftsvermögen erhalten bleibt. Die oHG wird in eine KG umgewandelt. Der eintretende Kommanditist ist von der Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten befreit, wenn er seinen Geschäftsanteil stehen lässt. ◄ Die Erhöhung oder Herabsetzung der Kommanditeinlage ist den Gläubigern 1148 gegenüber erst mit der Eintragung in das Handelsregister oder bei handelsüblicher Bekanntmachung wirksam (§§ 174, 175 HGB). Eine KG kann nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages und vor der 1149 Handelsregistereintragung bereits den Betrieb eines Handelsgewerbes aufnehmen. In diesem Fall ist auch die Haftungsbeschränkung des Kommanditisten noch nicht im Handelsregister eingetragen, so dass er gegenüber den Gesellschaftsgläubigern unbeschränkt haftet (§ 176 Abs. 1 HGB). Dies gilt nicht, wenn die Beteiligung als Kommanditist dem Gläubiger positiv bekannt war. Gleiches, d. h. eine Haftung vor Handelsregistereintragung, kommt auch im Fall des Eintritts eines Kommanditisten in eine bereits bestehende Handelsgesellschaft in Betracht. Auch hier haftet der Eintretende für Verbindlichkeiten, die im Zeitpunkt zwischen

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seinem Eintritt und der Eintragung der Haftungsbeschränkung in das Handelsregister begründet werden, persönlich und unbeschränkt (§ 176 Abs. 2, 130 HGB). Die Regelung hat deshalb große Bedeutung, weil beim Eintritt in ein bestehendes Handelsgeschäft praktisch immer die Voraussetzung vorliegt, dass der Kommanditist dem „Geschäftsbeginn“ zugestimmt hat. Beispiel

Der A soll Kommanditist der KG werden, weshalb er eine Einlage von 20.000 EUR vertraglich verspricht. Seine Rechtsstellung ergibt sich allerdings noch nicht aus dem Handelsregister. Wenn nun die KG eine Maschine zum Preis von 30.000 EUR erwirbt, könnte der Verkäufer auch den A für die volle Kaufpreissumme persönlich in Anspruch nehmen (§ 176 Abs. 2 HGB). In der Praxis wird einer solchen unbeschränkten persönlichen Haftung für Gesellschaftsschulden, die zwischen Eintritt und Handelsregistereintragung begründet werden, vorgebeugt, indem der Kommanditist seinen Beitritt in die Gesellschaft nach §  158 Abs.  1 BGB unter die aufschiebende Bedingung der Handelsregistereintragung stellt (BGHZ 82, 209, 212; BGH NJW 1983, 2258, 2259). Damit entfällt der für die Haftung nach §  176 Abs.  1 HGB relevante „Zwischenzeitraum“. ◄

6.2.4.6 Gesellschafterwechsel Für die Haftung bei Eintritt und den Austritt von Gesellschaftern einer KG gelten grundsätzlich die Regeln der oHG entsprechend (§§ 161 Abs. 2, 160, 130, 128 HGB; Abschn.  6.2.2.6). Selbst der eintretende Kommanditist haftet  – wie aufgezeigt – von Gesetzes wegen für die vor seinem Eintritt entstandenen Verbindlichkeiten der KG (§ 173 i. V. m. §§ 171, 172 HGB). 1151 Aus einer KG können ohne weiteres alle Kommanditisten austreten oder ausgeschlossen werden, ohne dass nach dem Grundsatz der Firmenbeständigkeit eine Änderung der Firma erforderlich würde (§ 24 Abs. 1 HGB). Sofern dagegen der einzige Komplementär einer KG aus der Gesellschaft ausscheidet, muss diese aufgelöst werden, weil in einer Personenhandelsgesellschaft ein unbeschränkt haftender Gesellschafter vorhanden sein muss (§ 161 HGB). 1152 Im Falle, dass ein Kommanditist, der seine Kommanditeinlage bereits erbracht hat, einvernehmlich aus der KG ausscheidet und seinen Gesellschaftsanteil auf den Eintretenden übertragen will, darf er gegenüber Gesellschaftsgläubigern nicht den Eindruck erwecken, dass er seine Pflichteinlage zurückgeleistet erhält oder sich die Haftsumme um diejenige des Eintretenden erweitern würde. Beides hätte nämlich ein Wiederaufleben der persönlichen Haftung des ausscheidenden Kommanditisten nach § 172 Abs. 4 HGB zur Folge. Um dieses zu vermeiden, kann vorsorglich ein entsprechender Rechtsnachfolgevermerk im Handelsregister eingetragen werden. 1153 Da im Fall des Kommanditistenwechsels unter gleichzeitiger Übertragung der Geschäftsanteile  – dem Kommanditisten wird seine Einlage vom Eintretenden zurückerstattet  – sich aus wirtschaftlicher Sicht für die Gesellschaftsgläubiger nichts ändert, weil  die Kommanditeinlage nach wie vor als Haftsumme zur Ver1150

6.2 Personengesellschaften

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fügung steht, soll bei der Übertragung von Kommanditanteilen ohne Herabsetzung ihrer Höhe eine Haftung des ausscheidenden Kommanditisten unterbleiben.

6.2.4.7 Beendigung und Liquidation Die Auflösung der KG erfolgt aus den gleichen Gründen wie die Auflösung der 1154 oHG (§§ 161 Abs. 2, 131 HGB); der Tod des Kommanditisten ist allerdings kein Auflösungsgrund, vielmehr wird die Gesellschaft mit den Erben fortgesetzt (§ 177 HGB). Die Liquidation der KG findet entsprechend den Vorschriften der oHG statt (§§ 161 Abs. 2, 145 ff. HGB; Abschn. 6.2.2.7).

6.2.5 Stille Gesellschaft Die stille Gesellschaft ist eine vermögensmäßige Beteiligung am Handelsgewerbe eines Kaufmanns. Der stille Gesellschafter leistet seine Einlage in das Vermögen des Geschäftsinhabers und erhält dafür eine Gewinnbeteiligung (§§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 HGB). Die stille Gesellschaft tritt nicht nach außen im Rechtsverkehr auf; sie ist eine reine Innengesellschaft, die in den §§ 230–236 HGB geregelt ist. Als reine Innengesellschaft ist die stille Gesellschaft eine nicht rechtsfähige Personengesellschaft, da sie gerade nicht nach außen in Erscheinung tritt. Stille Gesellschafter können natürliche und juristische Personen sein, aber auch oHG, KG, GbR und sogar eine Erbengemeinschaft können sich als stille Gesellschafter am Handelsgewerbe eines anderen beteiligen. Aufseiten des Geschäftsinhabers wird vorausgesetzt, dass er Inhaber eines Handelsgewerbes, also Kaufmann i. S. der §§ 1–6 HGB ist. Fehlt die Kaufmannseigenschaft, dann liegt nur eine auf das Innenverhältnis beschränkte GbR vor; das ist namentlich der Fall bei einer Unterbeteiligung, d. h. der „Stille“ hat sich z. B. nicht an der A&B oHG, sondern nur am Gesellschaftsanteil des A beteiligt. Wer sich als stiller Gesellschafter an einem Handelsgewerbe eines anderen mit einer Vermögenseinlage beteiligt, hat die Einlage so zu leisten, dass sie in das Vermögen des Inhabers des Handelsgeschäfts übergeht (§ 230 Abs. 1 HGB). Daher ist die stille Gesellschaft eine zwei- oder mehrgliedrige Gesellschaft (und kein Überlassungs- bzw. Austauschverhältnis z. B. in Form eines „paritätischen Darlehens“), die durch Vertrag zwischen dem Inhaber eines Handelsgeschäftes und dem stillen Gesellschafter entsteht. Als Form der Kapitalbeteiligung ist die stille Gesellschaft von ähnlichen Rechtsverhältnissen abzugrenzen. Im Unterschied zur GbR ist die Verlustbeteiligung auf die Einlage begrenzt (§ 232 Abs. 2 HGB) und die Mitgliedschaftsrechte auf die Kontrollrechte des § 233 HGB beschränkt. In Abweichung zur oHG oder KG wird kein Handelsgewerbe betrieben und es erfolgt auch keine Eintragung in das Handelsregister. Anders als bei einer Unterbeteiligung ist der stille Gesellschafter am Gewinn des Kaufmanns, d. h. der oHG, KG oder GmbH beteiligt und nicht nur am Kapitalanteil eines Gesellschafters. Im Unterschied zu einem Treuhandverhältnis wird der stille Gesellschafter nicht Inhaber des Handelsgeschäfts und des Firmenrechts, wie z. B. ein Testamentsvollstrecker.

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Die Motive für die Beteiligung eines stillen Gesellschafters liegen aus Sicht des Kaufmanns in der Stärkung der Kapitalbasis seines Unternehmens durch die Einlage des stillen Gesellschafters, ohne dass der stille Gesellschafter nach außen in Erscheinung tritt (keine Eintragung im Unterschied z.  B. zum Kommanditisten) oder Geschäftsführungs- und Vertretungsrechte wahrnimmt. Aus Sicht des stillen Gesellschafters ist die Beteiligung vorteilhaft, weil ihm infolge der Geheimhaltung seiner Mitwirkung eine wirtschaftliche Beteiligung ermöglicht wird, die bei einer Offenlegung unzulässig sein könnte (z. B. wegen Verstoßes gegen ein Wettbewerbsverbot). Ebenso kann das Fehlen von gewerberechtlichen bzw. berufsrechtlichen Konzessionen überwunden werden. Auch familienrechtliche Gesichtspunkte oder der Aspekt der Mitarbeiterbeteiligung können bei der Entscheidung für die stille Beteiligung eine Rolle spielen (z. B. die stille Beteiligung als vermögenswirksame Leistung des Arbeitgebers, §§ 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. i, 13 VermBG). Schließlich sind es auch steuerrechtliche Überlegungen (z. B. Verteilung des Gewinns auf mehrere Personen), die eine stille Beteiligung attraktiv erscheinen lassen. Gerade aus steuerlichen Gründen hat sich neben der typischen stillen Gesellschaft mit Gewinn- und ggf. Verlustbeteiligung die Form der atypischen stillen Gesellschaft entwickelt, bei der eine zusätzliche Beteiligung an den stillen ­Reserven des Handelsbetriebs vereinbart wird. Dies hat zur Folge, dass der stille Gesellschafter wie ein Mitunternehmer Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb nach dem Einkommenssteuergesetz erzielt und oftmals auch Mitspracherechte eingeräumt bekommt. Eine besondere Form der stillen Gesellschaft ist auch die stille Beteiligung an einer GmbH. Geschäftsinhaber ist allein die GmbH, so dass sich der Unterschied ausschließlich im Außenverhältnis auswirkt; im Innenverhältnis gilt das Recht der stillen Gesellschaft.

6.2.5.1 Entstehung Die stille Gesellschaft entsteht durch Gesellschaftsvertrag zwischen mindestens zwei Personen (§§ 230 Abs. 1, 231 Abs. 2 HGB), dem Geschäftsinhaber und dem stillen Gesellschafter. 1161 Der im Vertag festzulegende Zweck liegt in dem Bestreben des stillen Gesellschafters, den Erfolg des vom Geschäftsinhaber betriebenen Handelsgewerbes durch eine Vermögenseinlage zu fördern und hierdurch eine Gewinnbeteiligung zu erwirtschaften. 1162 Der Vertrag bedarf keiner besonderen Form, es sei denn, dass sich im Einzelfall gesetzliche Formerfordernisse ergeben. Sofern die Einlage z. B. als Schenkung erfolgen soll, ist die notarielle Beurkundung gemäß §  518 BGB erforderlich. Falls Minderjährige als stille Gesellschafter beteiligt werden, bedarf es grundsätzlich der familiengerichtlichen Genehmigung nach §  1822 Nr.  3 BGB  (LG München II NJW-RR 99, 108). 1160

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6.2.5.2 Rechte und Pflichte der Gesellschafter Die Vorschriften der §§  230–236 HGB sind weitgehend dispositiv, so dass die Rechtsbeziehungen der Gesellschafter untereinander (insbesondere bei atypischen stillen Gesellschaften) zumeist durch den Gesellschaftsvertrag ausgestaltet werden. Das gilt allerdings nicht für die §§ 230, 231 Abs. 2 Hs. 2 HGB; diese Vorschriften

6.2 Personengesellschaften

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sind in jeder Konstellation zwingend zu beachten. Im Übrigen gilt ergänzend das Recht der GbR (§§ 705 ff. BGB). Der Geschäftsinhaber ist zuvörderst verpflichtet, sein Handelsgewerbe zu be- 1164 treiben, wobei er daraus alleine berechtigt und verpflichtet wird (§ 230 Abs. 2 HGB). Dem stillen Gesellschafter kommt die Pflicht zu, die versprochene Einlage, die 1165 in jedem geldwerten Vorteil liegen kann (z. B. Geldzahlung, Übertragung von Rechten, Gebrauchsüberlassung), in das Vermögen des Geschäftsinhabers zu leisten (§ 230 Abs. 1 HGB). Im Übrigen besitzt der Stille im wesentlichen Rechte. Er hat einen unabdingbaren Anspruch auf eine Gewinnbeteiligung (§§ 231 Abs. 2 Hs. 2, 232 HGB); die gesetzlich vorgesehene Verlustbeteiligung bis zur Höhe seiner Einlage (§  232 Abs.  2 HGB) wird zumeist vertraglich ausgeschlossen. Zur Überwachung seiner Kapitalanlage stehen dem Stillen – wenngleich in eingeschränktem Umfang – Kontrollrechte zu. Danach kann er schriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses sowie die Einsicht in Bücher und Papiere verlangen (233 Abs. 1 HGB). Im Falle einer atypischen stillen Gesellschaft (hier trägt der stille Gesellschafter auch ein unternehmerisches Risiko und erhält deswegen auch Mitspracherechte) können sich seine Kontroll- und eingeräumten Mitspracherechte zu einer Treuepflicht verdichten, die ihn u. U. einem Wettbewerbsverbot unterwirft (§§ 112, 113 HGB analog).

6.2.5.3 Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen Die Vermögenssituation des Unternehmensträgers (z. B. GbR, oHG, GmbH) richtet 1166 sich nach den zugrundeliegenden Rechtsformen (siehe jeweils dort). Bezogen auf den stillen Gesellschafter gilt, dass er einen unabdingbaren An- 1167 spruch auf Gewinnbeteiligung besitzt (§§ 231 Abs. 2 Hs. 2, 232 HGB). Sofern der Gesellschaftsvertrag keine Regelung zur Gewinnbeteiligung enthält, gilt ein den Umständen nach angemessener Anteil als vereinbart (§ 231 Abs. 1 HGB), regelmäßig auch eine Verzinsung nach der Höhe der Einlage. Der Gewinn wird dem stillen Gesellschafter am Schluss eines jeden Geschäftsjahres ausgezahlt (§  232 Abs. 1 HGB). Nicht ausgezahlte Gewinne erhöhen nicht die Einlage, sondern werden zumeist zur Deckung eines eventuellen Verlustes verwendet („Verlustpuffer“), bis die Einlage wieder die ursprünglich vereinbarte Höhe erreicht hat. Der stille Gesellschafter nimmt an den Verlusten entweder überhaupt nicht teil (sofern vertraglich bestimmt) oder eben nur bis zum Betrag seiner eingezahlten oder rückständigen Einlage (§ 232 Abs. 2 S. 1 HGB). Er ist auch nicht verpflichtet, den bezogenen Gewinn wegen späterer Verluste zurückzuzahlen (§ 232 Abs. 2 S. 2 HGB); ihn trifft also keine Nachschusspflicht (§ 707 BGB). Verluste werden vom Kapitalkonto des Stillen in der Weise abgeschrieben, dass sie zunächst aufzufüllen sind, bevor neue Gewinnansprüche entstehen (§ 232 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 HGB). 6.2.5.4 Geschäftsführung und Vertretung Die Geschäftsführung unterliegt bei der typischen stillen Gesellschaft den In- 1168 habern des Handelsgeschäfts (z.  B. den Gesellschaftern der oHG), die die Geschäfte im eigenen Namen für gemeinschaftliche Rechnung durchführen, wobei sie die Interessen des stillen Gesellschafters zu berücksichtigen haben (vgl. § 232 HGB).

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Eine Geschäftsführungsbefugnis des stillen Gesellschafters ist im HGB nicht vorgesehen. Ihm stehen lediglich die gesetzlichen Kontrollrechte zu, wonach er eine Mitteilung des Jahresabschlusses in Abschrift oder die Einsicht in Bücher und Papiere verlangen kann (§  233 Abs.  1 HGB). Unter Umständen darf er auch ein außerordentliches Kontrollrecht ausüben, wenn das Vorliegen eines wichtigen Grundes gerichtlich festgestellt wurde (§  233 Abs.  3 HGB). Diese gesetzlichen Überwachungsrechte des stillen Gesellschafters entsprechen denen des Kommanditisten. Sie können durch Gesellschaftsvertrag erweitert oder eingeschränkt werden. Bei atypischen stillen Gesellschaften kann eine weitergehende Beteiligung des stillen Gesellschafters im Innenverhältnis vereinbart sein (z. B. Zustimmungsrechte). 1169 Die Vertretungsbefugnis kommt ausschließlich den Inhabern des Handelsgeschäfts zu (§ 230 Abs. 2 HGB). Der stille Gesellschafter hat keine Vertretungsbefugnis, da die Gesellschaft nicht im Außenverhältnis tätig wird, sondern nur im Innenverhältnis entsteht. Allerdings ist die Erteilung einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht, insbesondere Prokura oder Handlungsvollmacht, möglich und auch üblich, wenn der stille Gesellschafter im Handelsgeschäft der Gesellschaft mitarbeitet.

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6.2.5.5 Haftung Der stille Gesellschafter haftet nicht für die Verbindlichkeiten des Kaufmanns. Gemäß § 230 Abs. 2 HGB wird ausschließlich der Inhaber des Handelsgeschäfts aus den im Betrieb geschlossenen Geschäften allein berechtigt und verpflichtet. Der stille Gesellschafter ist lediglich zur Leistung seiner Einlage verpflichtet. Dies ist eine Sozialverpflichtung des stillen Gesellschafters gegenüber dem Kaufmann, die dieser bei Nichterfüllung einfordern, und die bei Insolvenz des Unternehmens von den Gesellschaftsgläubigern gepfändet werden kann. 6.2.5.6 Gesellschafterwechsel Die Rechtsstellung des stillen Gesellschafters ist grundsätzlich nicht übertragbar (§ 717 BGB), so dass ein Wechsel im Gesellschafterbestand der Stillen nicht eintreten kann. Sofern der Kaufmann weitere Beteiligungen vergeben will, muss er jeweils einzelne Gesellschaftsverträge in der Form der stillen Gesellschaft abschließen. 6.2.5.7 Beendigung und Liquidation Die Auflösung der stillen Gesellschaft erfolgt durch Aufhebungsvertrag oder durch Kündigung; der Tod des stillen Gesellschafters hat keine Auflösung der Gesellschaft zur Folge (§ 234 Abs. 2 HGB). Auf die Kündigung der stillen Gesellschaft finden die Vorschriften über die Kündigung der oHG (§§ 132, 134 und 135 HGB) entsprechend Anwendung (§ 234 Abs. 1 HGB). Danach kann die stille Gesellschaft mit einer Frist von sechs Monaten zum Abschluss des Geschäftsjahres ordentlich gekündigt werden (§ 132 HGB). Daneben bleibt die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund möglich (§§ 234 Abs. 1 S. 2 HGB, 723 BGB). Die ordentliche Kündigung kann durch Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen werden, wogegen die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund bei der stillen Gesellschaft – wie bei allen anderen Dauerschuldverhältnissen auch – bestehen bleiben muss.

6.2 Personengesellschaften

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Nach ihrer Auflösung erfolgt die Liquidation der stillen Gesellschaft unter Fort- 1173 dauern der Beteiligung des stillen Gesellschafters (§ 235 HGB). Die zur Zeit der Auflösung schwebenden Geschäfte werden von dem Inhaber des Handelsgeschäfts abgewickelt. Der stille Gesellschafter nimmt teil an dem Gewinn und Verlust, der sich aus diesen Geschäften ergibt. Fragen

1. Was versteht man unter einer Gesellschaft? 2. Definieren Sie die Begriffe Selbst- und Fremdorganschaft! 3. Gesellschafter B einer GbR, der sich im Gesellschaftsvertrag verpflichtet hat, ein ihm gehörendes Grundstück in die Gesellschaft einzubringen, hat dieses Grundstück der Gesellschaft übereignet. Er fragt nun an, ob das Grundstück der Gesellschaft oder seinem Privatvermögen zuzurechnen ist. 4. Wie unterscheiden sich Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis bei der GbR und der oHG? 5. Darf A als gesellschaftsvertraglich bestimmter alleiniger Geschäftsführer der GbR, deren übrige Mitglieder der B und C sind, die Neuaufnahme von D als Gesellschafter beschließen? Begründen Sie Ihre Entscheidung! 6. Warum bedarf es der Lehre von der „fehlerhaften Gesellschaft“? Gehen Sie bei Ihrer Begründung auf deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen ein! 7. B und K gründen unter der Firma „B & Co Elektro oHG“ ein Handelsunternehmen. Die X-Bank gewährt der oHG ein Darlehen in Höhe von 100.000 EUR. Als bei Fälligkeit die Gesellschaft die Darlehenssumme nicht zurückzahlen kann, nimmt die X-Bank den Gesellschafter B in Anspruch. Mit Recht? 8. Wie gestaltet sich nach dem Gesetz die Haftung der Partner für die Verbindlichkeiten der Partnerschaftsgesellschaft und welche Möglichkeiten der Haftungsbeschränkung gibt es? 9. K ist Kommanditist der A-Elektro KG.  Er hat die Einlage in Höhe von 15.000 EUR bei der Gründung der Gesellschaft im Jahre 2016 durch eine Geldzahlung in bar erbracht. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 werden Gewinne in Höhe von 400.000 EUR erwirtschaftet, von denen 100.000 EUR auf K entfallen, der davon nichts entnimmt. 2019 und 2020 entstehen der KG Verluste in Höhe von insgesamt 500.000 EUR; 125.000 EUR davon entfallen auf den K. Als im Frühjahr 2021 eine Betriebsprüfung durchgeführt wird, stellt sich heraus, dass K für die Jahre 2016 und 2017 zu wenig Einkommenssteuer entrichtet hat. Als das Finanzamt von ihm eine Einkommens- und Kirchensteuernachzahlung in Höhe von 11.000 EUR verlangt, veranlasst K, dass dieser Betrag aus der Gesellschaftskasse gezahlt wird. Bereits 2016 hatte die KG bei der X-Bank AG ein Darlehen in Höhe von 120.000 EUR aufgenommen, dessen Rückzahlung am 1. Juni 2021 fällig wurde. Die X-Bank AG verlangt von K nun Rückzahlung eines Teilbetrages in Höhe von 40.000 EUR. Zu Recht? 10. Was ist das Charakteristikum einer „stillen Gesellschaft“?

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6 Gesellschaftsrecht

6.3 Körperschaften 1174

Die Wahl einer körperschaftlichen Struktur bietet sich für eine Gesellschaft an, deren Bestand und Funktionieren von den Mitgliedern unabhängig sein soll. Wesensmerkmale einer Körperschaft (Abschn. 6.1.2) sind ihre Rechtsfähigkeit als juristische Person, die mit Registereintragung entsteht (z. B. §§ 11, 13 Abs. 1 GmbHG), die Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen (z. B. § 13 Abs.  2 GmbHG), der einfach zu vollziehende Mitgliederwechsel (z.  B. §  15 GmbHG) sowie die Möglichkeit der Fremdorganschaft (z.  B. §  6 Abs.  3 S. 1 GmbHG). Die Tatsache, dass die Körperschaft rechtlich stärker verselbständigt ist, hat den Gesetzgeber auf der anderen Seite dazu bewogen, aus Gründen des Gläubigerschutzes auch strengere Vorgaben zu definieren. Das betrifft u.  a. den formalen ­Entstehungsprozess, die Festlegung von gesellschaftsvertraglichen Mindestinhalten sowie Vorschriften zur Kapitalaufbringung und -erhaltung.

6.3.1 Verein Die organisatorische Grundform aller Körperschaften ist der Verein. Da für wirtschaftliche Zwecke die GmbH und die AG als die spezielleren Rechtsformen zur Verfügung stehen, wird nachfolgend am Beispiel des Vereins nur die körperschaftliche Struktur erläutert, die sich in ähnlicher Weise auch bei der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) und der Aktiengesellschaft (AG) wieder findet. 1176 Der Verein ist ein Personenzusammenschluss zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks, der ideeller oder wirtschaftlicher Natur sein kann. Verfolgt der Verein ideelle Zwecke (z.  B.  Sportverein, Haus- und Grundbesitzvereine, Berufs- und Interessenvereine) wird er als sog. Idealverein bezeichnet und erlangt Rechtsfähigkeit durch die Eintragung in das Vereinsregister (§§ 21, 55 BGB); er wird damit zu einer juristischen Person. Der seltenere wirtschaftliche Verein (z. B. Taxizentrale, Schauspielbühne, ADAC), erlangt Rechtsfähigkeit durch staatliche Konzession (§  22 BGB); ihm gehen jedoch die vorhandenen Gesellschaftsformen vor (z. B. die GbR). Die Gründung eines Idealvereins geschieht zur Verfolgung eines beliebigen ideellen, also nichtwirtschaftlichen Zwecks, der unabhängig von den Gründungsmitgliedern von nachfolgenden wechselnden Vereinsmitgliedern getragen wird. 1177 Die Struktur ist körperschaftlich, d. h. der Verein handelt im Rechtsverkehr durch Organe. Notwendige Vereinsorgane sind: 1175

• der Vorstand (§ 26 BGB) und • die Mitgliederversammlung (§ 32 BGB).

6.3 Körperschaften

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Der Vorstand, der auch aus mehreren Personen bestehen kann, ist das vertretungsberechtigte Organ eines Vereins, das im Rechtsverkehr für den Verein auftritt und diesen rechtlich bindet (§ 26 Abs. 1 S. 2 BGB); Beschränkungen der Befugnisse sind möglich, sofern dies im Vereinsregister eingetragen oder dem Vertragspartner bekannt gegeben ist (§§ 26 Abs. 1 S. 3, 68, 70 BGB). Der Vorstand wird von der Mitgliederversammlung bestellt, kontrolliert und mitunter wieder abberufen (§ 27 BGB). Die Mitgliederversammlung ist das Willensbildungsorgan des Vereins, sie trifft die Entscheidungen über die Angelegenheiten des Vereins durch Mehrheitsbeschluss (§ 32 BGB). Sie beschließt die Vereinssatzung, in der u. a. der Name, die Ziele des Vereins sowie weitere Einzelheiten, wie Rechte und Pflichten der Mitglieder (in Ergänzung zu den gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere der §§ 31b, 34, 38 BGB) sowie der Organe festgelegt sind. Das Vereinsvermögen ist ein dem Verein zugeordnetes Sondervermögen. Der 1178 Verein haftet den Gläubigern gegenüber als juristische Person mit seinem ­Vermögen. Die Mitglieder haften nicht, abgesehen von den Ausnahmefällen der Durchgriffshaftung auf die Mitglieder wegen vorsätzlicher Gläubigerschädigung. Die sog. Organhaftung betrifft die Haftung des Vereins für ein Verschulden 1179 seiner Organe. Der Verein ist für den Schaden verantwortlich, den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtung begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt (§  31 BGB). Als zum Schadensersatz verpflichtende Handlung ist jede Schadensherbeiführung durch Vertragsverletzung oder außervertragliche Verletzungshandlung anzusehen.

6.3.2 Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) Die GmbH ist eine Kapitalgesellschaft, die nicht nur zum Betrieb eines Handels- 1180 gewerbes, sondern zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck durch eine oder mehrere Personen errichtet werden kann (§ 1 GmbHG) und die ihren Gläubigern nur mit dem Gesellschaftsvermögen haftet (§13 Abs. 2 GmbHG). Sie ist juristische Person mit eigener Rechtspersönlichkeit (§ 13 Abs. 1 GmbHG), d. h. sie hat eigene Rechte und Pflichten, kann Eigentum und Rechte an Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden und haftet für unerlaubte Handlungen, die ihre Organe im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben begehen. Ferner gilt sie immer als Handelsgesellschaft i. S. d. HGB, auch wenn sie kein Handelsgewerbe betreibt; sie ist Formkaufmann (§§ 13 Abs. 3 GmbHG, 6 Abs. 1 HGB). Geregelt ist sie im Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG). Der geringe Kapitalaufwand, die Haftungsbegrenzung auf das Gesellschaftsver- 1181 mögen, der Einfluss der Gesellschafter auf die Unternehmensführung (mitunter in einer Ein-Personen-GmbH) sowie die flexiblen Gestaltungsmöglichkeiten im Innenverhältnis sind wichtige Gründungsmotive für die Rechtsform der GmbH, die sie zu einer idealen Gesellschaftsform für kleine und mittlere Unternehmen sowie Existenzgründer macht. Aber auch als Komplementärin einer KG, als Unternehmensform für die öffentliche Hand oder als Holding-Gesellschaft in Konzern-

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strukturen hat sie ihren festen Platz. Sie ist die wohl bedeutendste Gesellschaftsform in unserem mittelständisch geprägten Wirtschaftsverkehr. 1182 Das GmbHG erfuhr im Jahre 2008 eine grundlegende Reform. Die Überarbeitung verfolgte dabei unterschiedliche Ziele: Neben der Beseitigung missbräuchlicher Verwendungsmöglichkeiten der GmbH (z. B. Gründungsschwindel oder „Firmenbestattungen“) und der Verschiebung von insolvenzrechtlichen Regelungen in die Insolvenzordnung (InsO) ging es dem Gesetzgeber vor allem um die Vereinfachung von Unternehmensgründungen und einer Erhöhung der Attraktivität der GmbH im Wettbewerb mit Auslandsgesellschaften, die sich bereits mit einem Euro oder ohne Kapital gründen ließen (wie z.  B. der britischen Ltd.). Hierfür wurde eigens die haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft (UG haftungsbeschränkt) geschaffen (§ 5a GmbHG), die ebenfalls schnell und mit einem Kapitalaufwand von nur einem Euro seither gegründet werden kann. Nachfolgend wird die Organisationstruktur einer „klassische GmbH“ beschrieben, wobei auf Abweichungen/Erleichterungen, die sich für die „UG haftungsbeschränkt“ ergeben an den jeweiligen Stellen eingegangen wird. Dort, wo keine Hinweise erfolgen, ist von der Gleichbehandlung der „klassischen GmbH“ und der „UG haftungsbeschränkt“ auszugehen.

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6.3.2.1 Entstehung Die Errichtung und Entstehung der GmbH vollzieht sich immer in mehreren Phasen, in denen sich der Rechtscharakter der Organisation ändert und, damit verbunden, auch die Haftung der Beteiligten: Phase 1: Einigung der Gesellschafter, eine GmbH zu gründen (= Vorgründungsgesellschaft). Die Vorgründungsgesellschaft ist entweder eine GbR mit dem Zweck, die GmbH-Gründung vorzubereiten (§ 705 ff. BGB). Betreibt die Vorgründungsgesellschaft nach Art und Umfang ihrer Tätigkeit bereits ein Handelsgewerbe (§ 123 Abs. 2 HGB), ist sie als oHG zu behandeln. Phase 2: Abschluss des notariellen Gesellschaftsvertrages und Anmeldung zum Handelsregister (= Vor-GmbH oder GmbH in Gründung, GmbH i.Gr.). Mit der notariellen Beurkundung des Gesellschaftsvertrags bzw. der Errichtungserklärung bei einer Einmann-Gründung (Satzung) entsteht die Vor-GmbH. Als Gesellschaft sui generis ist sie eine Organisationsform „auf dem Weg zur GmbH“. Auf diese Vor-­ GmbH ist das Recht der GmbH bereits insoweit anzuwenden, als dieses noch nicht die Eintragung der Gesellschaft voraussetzt. Die Vor-GmbH kann bereits Verbindlichkeiten der künftigen GmbH begründen; hierfür haften das bereits eingezahlte Gesellschaftsvermögen sowie die Handelnden persönlich und gesamtschuldnerisch (§  11 Abs.  2 GmbHG). Als Handelnde gelten diejenigen, die die Geschäfte der GmbH i.Gr. durchführen (in der Regel der bereits in der Satzung benannte Geschäftsführer). Phase 3: Eintragung in das Handelsregister (= GmbH). Erst mit der Eintragung in das Handelsregister entsteht die GmbH als juristische Person (§  11 Abs.  1 GmbHG). Das Gesellschaftsvermögen der Vor-GmbH geht auf die GmbH über und die Haftung der Handelnden aus § 11 Abs. 2 GmbHG erlischt. Ab diesem Zeitpunkt haftet nur noch das Gesellschaftsvermögen für alle Verbindlichkeiten der GmbH.

6.3 Körperschaften

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6.3.2.1.1 Gesellschaftsvertrag Zur Gründung der GmbH ist der Abschluss eines Gesellschaftsvertrages erforder- 1184 lich, der in der Praxis – in einer für Körperschaften üblichen Terminologie – häufig als „Satzung“ oder „Statut“ bezeichnet wird. Als Gesellschafter kommen natürliche oder juristische Personen sowie Personenhandelsgesellschaften und die GbR in Betracht. Der Gesellschaftsvertrag, der von sämtlichen Gesellschaftern zu unterzeichnen ist (§ 2 Abs. 1 S. 2 GmbHG), bedarf der notariellen Beurkundung (§ 2 Abs.  1 S.  1 GmbHG). Diese Form ist auch für alle späteren Änderungen vorgeschrieben (§ 53 Abs. 2 GmbHG). In § 3 Abs. 1 GmbHG ist der Mindestinhalt des Gesellschaftsvertrages fest- 1185 gelegt. Demnach sind in der Satzung folgende Punkte verpflichtend a­ ufzunehmen, wenngleich in der Praxis zumeist weitere Regelungen vorgesehen werden (§  3 Abs. 2 GmbHG; z. B. Vorkaufsrechte, Vorzugstimmrechte etc.). • Firma und Sitz der Gesellschaft Die Firma der GmbH ist gemäß §§ 17 Abs. 1, 6 Abs. 1 HGB, 13 Abs. 3 GmbHG der Name, unter dem diese ihre Geschäfte betreibt. Die Gestaltung der Firma ist nach § 18 HGB, 4 GmbHG frei, soweit sie hinreichend kennzeichnungskräftig sowie nicht irreführend ist und sich von anderen Kaufleuten bzw. Handelsgesellschaften unterscheidet. So kann sowohl eine „klassische“ Firma nach Namen der Gesellschafter oder Betätigungsfeld gewählt werden („Müller, Meier, Schulze GmbH“; „Innenstadt-Fahrradverleih GmbH“), wie auch weniger aussagekräftige Fantasienamen („Stone, Wind & Earth GmbH“). Verpflichtend ist in jedem Fall der Zusatz „GmbH“ oder eine allgemein verständliche Abkürzung dieser Bezeichnung (§ 4 GmbHG). Sitz der GmbH (§ 4a GmbHG) ist der Ort im Inland, den der Gesellschaftsvertrag bestimmt (i.  d.  R. der Verwaltungssitz); soll die Rechtsfähigkeit der GmbH nach deutschem Recht gegeben sein, muss die GmbH nach deutschem Recht – unter Nennung des Inlandssitzes – gegründet worden sein. Falls eine deutsche GmbH ins Ausland verlagert wird (Wegzug), wird sie nach deutschem Recht beseitigt und es erfolgt die Liquidation mit allen zivil- und steuerrechtlichen sowie kostentechnischen Folgen. Zieht eine europäische haftungsbeschränkte Gesellschaft (z. B. britische Ltd.) ins Inland ein (Zuzug), bringt sie ihr Rechtsstatut mit und wird wie eine Ltd. auch in Deutschland behandelt. • Gegenstand des Unternehmens Der Gegenstand des Unternehmens beschreibt den Bereich sowie die Art der Tätigkeit der Gesellschaft. Er deckt sich nicht mit dem Gesellschaftszweck aus § 1 GmbHG. Er bildet vielmehr das Mittel (z. B. Gewinnung von Rohstoffen, Herstellung von bestimmten Gegenständen, Handel mit Waren), mit dem die Gesellschaft ihren Zweck (Gewinnerzielung, Förderung bestimmter Allgemeininteressen) zu erreichen sucht. • Betrag des Stammkapitals (mindestens 25.000 EUR) Das Stammkapital beläuft sich bei der „klassischen GmbH“ auf mindestens 25.000 EUR (§ 5 Abs. 1 GmbHG), bei der „UG haftungsbeschränkt“ kann es auf einen Betrag zwischen einem und 24.999 EUR lauten (§ 5a Abs. 1 GmbHG). Es

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6 Gesellschaftsrecht

errechnet sich aus der Summe aller Stammeinlagen der Gesellschafter beim Eintritt in die Gesellschaft; nach § 5 Abs. 3 S. 2 GmbHG muss die Summe der Nennbeträge aller Geschäftsanteile mit dem Stammkapital übereinstimmen. Die Erhaltung des Stammkapitals dient dem Interesse der Gläubiger, die sich nur an das Vermögen der Gesellschaft, nicht an das Privatvermögen der Gesellschafter halten können. Daher sieht das GmbHG auch zahlreiche Vorschriften vor, die dem Erhalt des Stammkapitals dienen. So darf die Gesellschaft z. B. keine Zahlungen an die Gesellschafter auf Kosten des Stammkapitals leisten und ebenso wenig Kredite an die Geschäftsführer, Prokuristen oder sonstige Bevollmächtigte aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Gesellschaftsvermögen gewähren (§§  30 Abs.  1,  43a GmbHG). Verbotswidrige ­Auszahlungen sind sofort zurückzuzahlen (§§  31, 43a S. 2 GmbHG). Spätere Herabsetzungen und der Erwerb eigener Geschäftsanteile durch die Gesellschaft sind erschwert (§ 33 GmbHG). Über das wirkliche Vermögen der GmbH gibt das Stammkapital hingegen keinen Aufschluss. Das Vermögen der GmbH kann daher wesentlich höher sein, als das Stammkapital, aber im Laufe der Zeit auch geringer werden, was ggf. zu einer Überschuldung der GmbH führt und weitere Rechtsfolgen auslöst. Soweit das Stammkapital allerdings schon im Zeitpunkt der Eintragung nicht mehr ungeschmälert zur Verfügung steht – z. B. wegen Vorbelastungen durch die Vor-­ GmbH oder Leistung einer nicht werthaltigen Sache – sind die Gründer persönlich der GmbH gegenüber zum Ausgleich verpflichtet (z. B. durch Nachzahlungen bis zur Eintragung oder der Differenzhaftung des Sacheinlegers bei fehlender Werthaltigkeit der Sache, § 9 GmbHG). • Betrag der Stammeinlage (Geschäftsanteil) Die Stammeinlage ist der Betrag des einzelnen Gesellschafters den dieser gegen Einlage auf das Stammkapital übernimmt, sein Geschäftsanteil (§§  5, 14 GmbHG). Die Satzung muss den Betrag des jeweiligen Geschäftsanteils genau in Euro als Leistung auf das Stammkapital bezeichnen. Die Geschäftsanteile können – anders als vor der GmbH-Reform – sehr klein gestückelt werden (ab 1 EUR Nennbetrag) und ein Gesellschafter kann auch mehrere Anteile übernehmen (§ 5 Abs. 2 GmbHG). Die Angabe von Zahl und Nennbeträgen der jeweils übernommenen Geschäftsanteile liefert den Beteiligungsmaßstab für die Rechte und Pflichten des einzelnen Gesellschafters, soweit nicht der Gesellschaftsvertrag abweichende Regelung trifft (§ 3 Abs. 2 GmbHG), u. a. für das Stimmrecht (§ 47 Abs. 2 GmbHG), die Ergebnisverwendung und Vermögensverteilung (§ 29 Abs. 3, 72 GmbHG). Geschäftsanteile sind – anders als Aktien – keine Wertpapiere. Die Mitgliedschaft in einer GmbH kann zwar auch übertragen werden, dabei gelten aber nicht die sachenrechtlichen Bestimmungen wie im Falle von Wertpapieren (§§ 929 ff. BGB), sondern die Regeln zur Übertragung von Rechten (§§  398 BGB, 15 Abs. 3 und 4 GmbHG). In § 16 Abs. 3 GmbHG ist seit der GmbH-Reform nun auch – die in §§ 398 ff. BGB nicht geregelte – Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs des Geschäftsanteils vom Nichtberechtigten vorgesehen, um Übertragungsvorgänge zu erleichtern. Der gutgläubige Erwerb findet statt, wenn die

6.3 Körperschaften

469

Gesellschafterliste (§  40 GmbHG) den Veräußerer fälschlicherweise als Gesellschafter ausweist, die Liste schon drei Jahre falsch ist oder vor Ablauf der Dreijahresfrist der eigentliche Gesellschafter etwas für die Unrichtigkeit kann und der Erwerber nicht weiß oder nicht wissen musste, dass der Veräußerer gar keinen Geschäftsanteil hat (§ 16 Abs. 3 S. 2 und 3 GmbHG). Damit das Stammkapital auch wirklich eingezahlt wird, dürfen die Stammeinlagen den Gesellschaftern weder erlassen noch gestundet werden (§ 19 Abs. 2 S. 1 GmbHG). Die Gesellschafter können auch nicht aufrechnen oder ein Zurückbehaltungsrecht geltend machen  (§ 19 Abs. 2 S. 2 GmbHG). Einem zahlungssäumigen Gesellschafter kann in einem besonderen Verfahren sein Geschäftsanteil entzogen werden (Kaduzierungsverfahren, § 21 GmbHG). Die GmbH kann den Geschäftsanteil versteigern lassen, Ausfälle haben die übrigen Gesellschafter aufzubringen. Wird eine Ein-Mann-Gesellschaft errichtet, muss der Alleingesellschafter für den nicht eingezahlten Teil des Stammkapitals Sicherheit leisten. 6.3.2.1.2  Herstellen der Handlungsfähigkeit Wenn ein oder mehrere Geschäftsführer (§ 6 Abs. 1 GmbHG) nicht schon im Ge- 1186 sellschaftsvertrag bestellt worden sind, hat diese Bestellung der Geschäftsführer nunmehr durch Beschluss der Gesellschafter zu erfolgen (§ 6 Abs. 3 S. 2 GmbHG). Die Geschäftsführer müssen natürliche Personen (§ 6 Abs. 2 S. 1 GmbHG), brauchen aber nicht Gesellschafter zu sein (§  6 Abs.  3 S.  1 GmbHG  – sog. Fremdgeschäftsführer). 6.3.2.1.3  Eintragung ins Handelsregister Die Geschäftsführer haben sodann die Gesellschaft zur Eintragung in das Handels- 1187 register anzumelden (§§ 7, 8 GmbHG). Im Zeitpunkt der Anmeldung der GmbH zum Handelsregister muss eine Mindesteinzahlung von 25 % auf jede Stammeinlage erfolgt sein, mindestens aber 12.500 EUR auf das Stammkapital (§ 7 Abs. 2 GmbHG). In der Anmeldung ist zu versichern, dass sich die Leistung „­ endgültig in der freien Verfügung der Geschäftsführer befindet“ (§  8 Abs.  2 GmbHG). Das kann dem Registergericht durch eine Bestätigung des kontoführenden Kreditinstituts nachgewiesen werden; in diesem Fall haftet die Bank analog § 37 Abs. 1 S. 4 AktG für die Richtigkeit ihrer Erklärung. Die Kapitalaufbringung im Gründungsstadium wird weiter durch die strengen Haftungsregeln des GmbHG gesichert: • Differenzhaftung (Abb. 6.1) für Vorbelastungen (§ 9 GmbHG analog), • Schadensersatzpflicht bei Falschangaben (§ 9a Abs. 1 GmbHG), • Schadensersatzpflicht bei Einlageschädigungen (§ 9a Abs. 2 GmbHG).

Exkurs Verlustdeckungshaftung: „Scheitert die Gründung einer GmbH, die im Einverständnis ihrer Gesellschafter schon vor der Eintragung in das Handelsregister die Geschäfte aufgenommen hat, finden die Grundsätze der Verlustdeckungshaftung allein dann Anwendung, wenn die Geschäftstätigkeit sofort beendet und die Vorgesellschaft abgewickelt wird. Werden dem entgegen die Geschäfte nach diesem Zeitpunkt

470

6 Gesellschaftsrecht

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Abb. 6.1 Differenzhaftung fortgeführt, haben die Gründer für sämtliche Verbindlichkeiten der Vorgesellschaft, auch für die bis zum Scheitern entstandenen, nach personengesellschaftsrechtlichen Grundsätzen einzustehen.“ (Leitsatz aus BGHZ 152, 290 = NJW 2003, 429). Die Vor-GmbH wird in eine oHG/GbR umgewandelt, wenn die Eintragung als GmbH endgültig gescheitert ist z. B. weil die Gesellschafter ihren Eintragungswillen endgültig aufgegeben haben, so dass die Gesellschafter nunmehr persönlich, unmittelbar und unbeschränkt nach § 128 HGB (analog) haften, sofern die Vor-GmbH nicht sofort in einem geordneten Liquidationsverfahren (z. B. Insolvenzverfahren) beendet/abgewickelt wird (Rechtsmissbrauchsgedanke).

Das Registergericht hat den Gründungsvorgang zu überprüfen; es prüft vor allem, ob die Mindesteinlagen auf das Stammkapital erbracht wurden und lehnt die Eintragung ab, wenn die Gesellschaft nicht ordnungsgemäß errichtet und angemeldet worden ist (§ 9c Abs. 1 GmbHG). 1189 Beim Aufbringen des Mindestkapitals kann zwischen Geldeinlage (§ 7 Abs. 2 GmbHG; Bargründung) und Sacheinlage (§ 7 Abs. 3 GmbHG; Sachgründung) differenziert werden: 1188

• Geld-/Bareinlagen werden auf das Geschäftskonto der GmbH eingezahlt. Dabei reicht es aus, wenn auf jede Stammeinlage zunächst 1/4 der versprochenen Summe eingezahlt wird (§  7 Abs.  2 S.  1 GmbHG). Allerdings muss auf das Stammkapital mindestens so viel eingezahlt sein, dass der Gesamtbetrag der eingezahlten Geldeinlagen zumindest die Hälfte des gesetzlichen Mindeststamm-

6.3 Körperschaften

471

kapitals – also 12.500 EUR – erreicht (§ 7 Abs. 2 S. 2 GmbHG). Eine Ausnahme gilt bei der UG haftungsbeschränkt; hier muss der Betrag vollständig eingezahlt sein (§ 5a Abs. 2 GmbHG). • Die Stammeinlage muss nicht durch die Zahlung von Geld, sondern kann auch durch die Leistung anderer Vermögensgegenstände (z. B. Grundstücke, Maschinen, Patente, Forderungen, ein bestehendes Unternehmen) erfolgen, sog. Sacheinlagen. Sie müssen bei Handelsregisteranmeldung dem Geschäftsführer vollständig und endgültig zur freien Verfügung stehen (§ 7 Abs. 3 GmbHG), d. h. schon vor der Anmeldung zum Registergericht voll eingebracht sein. Vor allem für den Gläubigerschutz bedeuten Sacheinlagen ein erhöhtes Risiko, 1190 da die Gefahr besteht, dass der Wert der Sacheinlage hinter dem Betrag der versprochenen Stammeinlage zurückbleibt, was bedeuten würde, dass das Stammkapital nicht mehr zum Schutz der Gläubiger vollumfänglich zur Verfügung stünde (z. B. ein Gesellschafter bringt seinen alten und wertlosen PKW in die Gesellschaft ein und bewertet diesen deutlich über dem wahren Wert). Um diese Konstellationen zu vermeiden, sieht das GmbHG einige Sonderregelungen betreffend die Sacheinlage vor: Im Gesellschaftsvertrag müssen der Gegenstand der Sacheinlage sowie der für sie angesetzte Wert ausdrücklich benannt werden (§  5 Abs.  4 S.  1 GmbHG). Die Angemessenheit der Bewertung von Sacheinlagen ist von den Gesellschaftern in einem Sachgründungsbericht darzulegen und dieser als zutreffend zu bestätigen; wird ein Unternehmen eingebracht, dann sind auch die Ergebnisse der beiden letzten Geschäftsjahre mitzuteilen (§ 5 Abs. 4 S. 2 GmbHG). Für die Richtigkeit der Angaben haften die Gesellschafter und die Geschäftsführer (§§ 9, 9a GmbHG); sie machen sich bei Unrichtigkeit außerdem strafbar (§ 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG). Entspricht der Wert der Sacheinlage im Zeitpunkt der Handelsregisteranmeldung nicht dem Betrag der hierfür übernommenen Stammeinlage, ist der Fehlbetrag von den Gesellschaftern in Geld auszugleichen (§ 9 Abs. 1 GmbHG; Differenzhaftung). Bareinlagen, die unter Umgehung des Sachgründungsberichts zu Sacheinlagen 1191 werden, bezeichnet man als „verdeckte“ oder „verschleierte Sacheinlage“. Dem liegt folgende Konstellation zugrunde: Zwischen den Beteiligten wird eine Bareinlage vereinbart, obschon allen klar ist, dass die Gesellschaft eigentlich einen Sachwert erhalten soll. Diesen erhält die Gesellschaft dann auch binnen der nächsten sechs Monate (= notwendiger räumlich-zeitlicher Zusammenhang zur Gründung oder Kapitalerhöhung), indem die Sache nun gegen Entgelt an die Gesellschaft veräußert wird. Den Beteiligten geht es dabei ausschließlich darum, eine Offenlegung, Bewertung und Kontrolle der Sacheinlage durch das Registergericht bei Gründung oder Kapitalerhöhung zu vermeiden. Um ein solches Vorgehen der Beteiligten zu unterbinden, bestimmt das Gesetz, dass der leistende Gesellschafter durch eine solche „verdeckte Sacheinlage“ nicht von seiner Einlagenverpflichtung befreit wird, er also seine Bareinlage weiter zu erbringen hat. Allerdings wird auf die Bareinlagepflicht der tatsächliche Wert des zugeflossenen Vermögensgegenstandes angerechnet (§ 19 Abs. 4 S. 1 und 3 GmbHG).

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6 Gesellschaftsrecht

Beispiel

Gesellschafter A leistet seine Einlage in Höhe von 15.000 EUR. Zwei Tage nach Eintragung der GmbH in das Handelsregister veräußert er der GmbH seinen alten Mercedes (Wert: 5000 EUR) für 15.000 EUR.  Da hier ein zeitlich-­räumlicher Zusammenhang zur Gründung gegeben ist, ist das Procedere unter wirtschaftlicher Betrachtung als Sachgründung unter Umgehung des Sachgründungsberichts zu werten und eine Befreiung des A von seiner Einlageverpflichtung ist daher nicht gegeben (§  19 Abs.  4 GmbHG). Der tatsächliche Wert des PKW (5000 EUR) wird allerdings gemäß § 19 Abs. 4 S. 3 GmbHG auf die Einlageverpflichtung des A angerechnet, sodass er nunmehr 10.000 EUR schuldet. ◄ 1192

Ergibt die registergerichtliche Prüfung keine Beanstandungen (vgl. §  9c GmbHG), erfolgen Eintragung und Bekanntmachung nach § 10 GmbHG. Durch die Eintragung in das Handelsregister entsteht die GmbH als rechtsfähige Kapitalgesellschaft (§ 11 Abs. 1 GmbHG); die Eintragung entfaltet konstitutive Wirkung.

6.3.2.1.4  Besonderheiten: Musterprotokoll und UG haftungsbeschränkt Für unkomplizierte Standardgründungen (höchstens drei Gesellschafter, nur ein Geschäftsführer, keine Sacheinlagen) wird Gründern seit der GmbH-­Reform alternativ die Möglichkeit gegeben, eine GmbH „von der Stange“ zu wählen und damit ihre Gestaltungsfreiheit zugunsten einer etwas vereinfachten Gründung aufzugeben (§  2 Abs.  1a GmbHG). Hierfür wird ein unveränderbares Musterprotokoll angeboten (abgedruckt im Anhang des GmbHG), das sowohl für die Gründung der „klassischen“ GmbH als auch für die Gründung einer UG haftungsbeschränkt verwendet werden kann. Das Protokoll fasst den Gesellschaftsvertrag, die Gesellschafterliste und die Geschäftsführerbestellung in einem Dokument zusammen und muss, versehen mit den individuellen Angaben, wie ein normaler Gesellschaftsvertrag notariell beurkundet werden. 1194 Die UG haftungsbeschränkt darf nur mit Bareinlagen gegründet werden. Diese müssen schon vor der Anmeldung zum Handelsregister vollständig eingezahlt sein (§ 5a Abs. 2 GmbHG). Bei der haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft (UG) kommt dem Stammkapital – das anfangs auch nur 1 EUR betragen könnte – allerdings nicht dieselbe Bedeutung zu, wie bei einer „klassischen“ GmbH. Da die UG mit einem Euro gegründet werden kann, ist insbesondere in der Anfangsphase der Verlustpuffer Stammkapital und damit ein Stück des präventiven Gläubigerschutzes praktisch nicht vorhanden; die Gesellschaft steht bei jeder Ausgabe „mit einem Bein“ in der Überschuldung. Unabhängig von den bestehenden Schadensersatz- und Erstattungspflichten, die die Geschäftsführer und Gesellschafter treffen könnten (§§ 30, 31 GmbHG; § 15 b Abs. 4 S. 1 InsO, vormals § 64 GmbHG), muss die Gesellschaft im Rechtsverkehr auf ihre eingeschränkte Kapitaldecke hinweisen, indem sie als „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“ oder „UG (haftungsbeschränkt)“ aufzutreten hat (§ 5a Abs. 1 GmbHG). Ferner besteht nach der Gründung die Pflicht, das „normale“ Stammkapital i. H. v. 25.000 EUR aus Gewinnen 1193

6.3 Körperschaften

473

(wenn sie denn erzielt werden) anzusparen. Jeweils ein Viertel des Jahresüberschusses muss in eine Gewinnrücklage eingestellt werden (§  5a Abs.  3 GmbHG). Diese Ausschüttungssperre endet erst, wenn mit den angesparten Beträgen eine Kapitalerhöhung (§  57c GmbHG) auf mindestens 25.000 EUR stattgefunden hat. Dann kann sich die Gesellschaft in eine „vollwertige“ GmbH umbenennen (§ 5a Abs. 5 GmbHG), § 5a Abs. 1 bis Abs. 4 GmbHG finden dagegen kraft Gesetzes auch bereits vor Umbenennung keine Anwendung mehr. 6.3.2.1.5  Haftung der Beteiligten in den Gründungsphasen Für die Haftung der Beteiligten im Gründungsstadium einer GmbH sind die 1195 Phasen ihrer Entstehung hin zur juristischen Person entscheidend. In der Phase vor dem Abschluss des notariellen Gesellschaftsvertrags (§ 2 Abs. 1 1196 S. 1 GmbHG) besteht eine Vorgründungs-/Personengesellschaft. Hierfür gelten die allgemeinen Regeln der GbR (§§ 705 ff. BGB) und, falls ein Handelsgewerbe betrieben wird, die Vorschriften über die oHG (§§ 123 Abs. 2, 105 ff. HGB). Die Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten richtet sich nach dem Recht der GbR bzw. OHG; die Gesellschafter haften akzessorisch jedenfalls persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch (§ 128 HGB). Die Vorgründungsgesellschaft endet mit dem Abschluss des notariellen Gesellschaftsvertrags. Es erfolgt allerdings keine automatische Umwandlung der Vorgründungsgesellschaft in die Vor-GmbH bzw. in die letztendlich zu gründende GmbH. Verbindlichkeiten der Vorgründungsgesellschaft (insbesondere aus Dauerschuldverhältnissen wie Mietverträgen, Lieferbeziehungen usw.) werden deshalb auch nicht automatisch zu Verbindlichkeiten der GmbH; dafür bedarf es vielmehr einer besonderen Festlegung im Gesellschaftsvertrag. Beispiel

Die Ehepartner A und B mieten von M ein Gebäude in der Absicht, darin ein Hotel in der Rechtsform einer noch zu gründenden GmbH zu betreiben. Spätestens mit Abschluss des Mietvertrages haben sich die A und der B zu einer GbR zusammengeschlossen, denn ihr Zusammenwirken bei Abschluss des Mietvertrages vor Gründung der GmbH lässt erkennen, dass sie sich dem gemeinschaftlichen Zweck verpflichtet haben, den in Aussicht genommenen Betrieb eines Hotels durch rechtsgeschäftliche Maßnahmen vorzubereiten. Als GbR haften sie für den Mietzins persönlich, unbeschränkt und gesamtschuldnerisch. Damit die Mietverbindlichkeit später eine der GmbH wird, müssen sie einen entsprechenden Verweis im Gesellschaftsvertrag aufnehmen. ◄ In der Phase ab dem Abschluss des notariellen GmbH-Vertrages bis zur Ein- 1197 tragung in das Handelsregister (§§ 7, 11 GmbHG) besteht eine Vor-GmbH, welche die Firma, das Stammkapital, die Stammeinlagen und die Organe, d.  h. die Organisationsform der GmbH erkennen lässt. Sie gilt als eine Rechtsform sui generis, auf die bereits die GmbH-Regeln soweit als möglich angewandt werden. Inso-

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6 Gesellschaftsrecht

fern gilt sie auch als verpflichtungsfähig und verfügt – weil es der Gesellschaftsvertrag anordnet – über einen Geschäftsführer und über ein Geschäftskonto. In Analogie zu §  24 GmbHG haften die Gesellschafter der Vor-GmbH beschränkt auf die Höhe ihrer Einlage (sog. anteilige Verlustausgleichshaftung). Eine solche gesellschafterinterne Verlustausgleichshaftung kann sich ergeben, wenn sich bis zum Eintragungszeitpunkt eine bereits eingebrachte Bareinzahlung „verflüchtigt“ bzw. aufgebraucht wird oder ein Gesellschafter vor Eintragung ausscheidet. Denn die Mindesteinlage muss bei Eintragung jedenfalls vorliegen und ist wieder aufzufüllen, um die Eintragung überhaupt zu ermöglichen. Insofern erlischt diese Haftung auch erst mit der Eintragung der GmbH in das Handelsregister. Die Haftung des für eine Vor-GmbH Handelnden (Abb. 6.2), in der Regel der Geschäftsführer, ist in § 11 Abs. 2 GmbHG geregelt. Der Handelnde haftet nach Inhalt und Umfang so, als sei das abgeschlossene Rechtsgeschäft bereits mit der GmbH zustande gekommen. Der BGH (u. a. BGH NJW 1984, 2164) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass, wenn eine Person im Namen einer GmbH oder einer GmbH in Gründung (Vor-GmbH) auftritt, der wahre Rechtsträger aus dem (betriebsbezogenen) Rechtsgeschäft berechtigt und verpflichtet wird, falls der Handelnde bevollmächtigt war. Fehlt die Vollmacht und wird das Rechtsgeschäft nicht genehmigt, haftet der Handelnde nach § 179 BGB selbst. Die Handelndenhaftung, d. h. die Haftung für Geschäfte, die mit Ermächtigung aller Gründer im Namen der Gesellschaft abgeschlossen wurden, erlischt ohne Rücksicht darauf, ob es sich um eine Bar- oder Sachgründung handelt, erst mit Eintragung der GmbH. 1198 Mit der Eintragung entsteht die GmbH als juristische Person (§  11 Abs.  1 GmbHG). Das Gesellschaftsvermögen der Vor-GmbH geht mit allen Rechten und Pflichten und ohne besondere Übertragungsregelungen durch GesamtrechtsHaftung der Beteiligten in den Gründungsphasen einer GmbH

Entschluss GmbH zu gründen

Notarielle Beurkundung des Gesellschaftsvertrages, § 2 Abs. 1 S. 1 GmbHG

Vorgründungsgesellschaft

= Personengesellschaft (GbR oder oHG) → Haftung auch mit dem Privatvermögen

Eintragung in das Handelsregister, §§ 7, 11 GmbHG

Vor-GmbH

GmbH

= Rechtsform sui generis

→ Haftung nur mit dem Gesellschaftsvermögen

GmbH-Recht anwendbar, sofern dies gerade keine Handelsregistereintragung voraussetzt → Handelndenhaftung und Innenhaftung (§ 11 Abs. 2 GmbHG)

Abb. 6.2  Haftung der Beteiligten in der Gründungsphase einer GmbH

6.3 Körperschaften

475

nachfolge auf die (Voll-)GmbH über. Die Handelndenhaftung nach §  11 Abs.  2 GmbHG erlischt; ab jetzt haftet nur noch die GmbH.

6.3.2.2 Organe der GmbH Die körperschaftliche Struktur der GmbH wird im Wesentlichen durch nach- 1199 folgende Organe bestimmt: • Geschäftsführer (zwingend) • Gesellschafterversammlung (zwingend), • Aufsichtsrat bzw. Beirat (fakultativ). 6.3.2.2.1 Geschäftsführer Die GmbH muss nach § 6 Abs. 1 GmbHG einen oder mehrere Geschäftsführer 1200 als leitendes Organ haben. Das können Gesellschafter (sog. Gesellschafter-­ Geschäftsführer) oder andere Personen sein (§ 6 Abs. 3 GmbHG), da die Fremdorganschaft im Unterschied zu Personengesellschaften zulässig ist. Die Bestellung zum Organ der GmbH erfolgt durch den Gesellschaftsvertrag oder durch Beschluss der Gesellschafterversammlung (§§ 6 Abs. 3 S. 2, 46 Nr. 5 GmbHG); nur in der mitbestimmten GmbH ist diese Funktion dem Aufsichtsrat zugewiesen (§ 31 Abs. 2 MitbestG). Die Geschäftsführer müssen, um bestellt werden zu können, die persönlichen Voraussetzungen nach § 6 Abs. 2 GmbHG erfüllen, d. h. sie müssen natürliche und unbeschränkt geschäftsfähige Person sein und es darf kein Ausschlussgrund vorliegen (z.  B.  Berufsausübungsverbot, Verurteilung wegen Vermögensstraftaten). Überlassen die Gesellschafter die Geschäftsführung vorsätzlich oder grob fahrlässig Personen, die nicht Geschäftsführer sein dürfen, machen sich gegenüber der GmbH nach § 6 Abs. 5 GmbHG schadensersatzpflichtig. Die Geschäftsführer können jederzeit fristgebunden oder aus wichtigem Grund abberufen werden (§ 38 Abs. 1 GmbHG). Sowohl die Bestellung zu Geschäftsführern als auch deren Abberufung sind eintragungspflichtige Tatsachen. Die Geschäftsführer führen die Geschäfte der GmbH und vertreten sie ge- 1201 richtlich und außergerichtlich in allen Angelegenheiten (§ 35 Abs. 1 GmbHG); sie sind die gesetzlichen Vertreter der GmbH (einzige Ausnahme bei Führungslosigkeit der GmbH, § 35 Abs. 1 S. 2 GmbHG). Der gesetzliche Regelfall geht von einer Gesamtgeschäftsführung und -vertretung aus, wobei im Gesellschaftsvertrag davon abgewichen werden kann (§ 35 Abs. 2 S. 1 GmbHG). Die GmbH wird durch die im Namen der GmbH vorgenommenen Rechtsgeschäfte der Geschäftsführer berechtigt und verpflichtet (z. B. Abschluss eines Kaufvertrages). Ähnlich wie bei der Prokura (Abschn.  5.5.1.1) ist die Vertretungsmacht der Geschäftsführer im Außenverhältnis nicht beschränkbar, sie kann aber im Innenverhältnis durch den Gesellschaftsvertrag oder Gesellschafterbeschluss begrenzt werden (§  37 Abs.  1 GmbHG). Halten die Geschäftsführer derartige Beschränkungen nicht ein und setzen sich darüber hinweg, so kann dies den Widerruf ihrer Geschäftsführungsbefugnis begründen (§  38 GmbHG) oder Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen die Geschäftsführer im Innenverhältnis auslösen (§ 43 Abs. 2 GmbHG); das Rechtsgeschäft kommt hingegen nach außen wirksam zustande.

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1202

6 Gesellschaftsrecht

Weiter sind die Geschäftsführer dazu verpflichtet, u. a. für eine ordentliche Buchführung zu sorgen, innerhalb der vorgeschriebenen Fristen Jahresabschluss und Lagebericht aufzustellen und – ggf. mit Abschlussprüfervermerk – der Gesellschafterversammlung vorzulegen; außerdem unterliegen sie einem Wettbewerbsverbot im Geschäftszweig der GmbH. In allen Angelegenheiten haben sie „die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“ anzuwenden (§ 43 Abs. 1 GmbHG). Verletzen sie ihre Obliegenheiten (z. B. verdeckte Gewinnausschüttung bei Unterbilanz; wiederholte Verletzung von Weisungen der Gesellschafterversammlung), haften sie der Gesellschaft auf Schadensersatz (§ 43 Abs. 2 und 3 GmbHG). Beispiel

G ist Geschäftsführer der S-Software GmbH, die auf das Erstellen von Unternehmenssoftware spezialisiert ist. Er ist der Ansicht, dass die Gesellschaft verstärkt Programme auch für private Anwender entwickeln sollte. Die Gesellschafterversammlung ist von dem Konzept nicht überzeugt und fasst mehrheitlich einen Beschluss, wonach alle Investitionen in die Verbesserung bestehender Programme fließen sollen. G beauftragt trotzdem im Namen der S-GmbH das Marktforschungsunternehmen M mit einer Umfrage bezogen auf die Marktchancen verschiedener Programme für Privatkunden. Rechtslage? Der Vertrag zwischen der S-GmbH und M kommt wirksam zustande, die S-GmbH ist zur Abnahme der Leistung gegen Zahlung verpflichtet. Der G konnte die S-GmbH wirksam verpflichten (§§ 675, 164 BGB), er ist gemäß §§ 35 Abs. 1, 37 Abs. 2 GmbHG vertretungsbefugt. Allerdings überschreitet er im Innenverhältnis seine Geschäftsführungsbefugnis, denn grundsätzlich muss er Weisungen der Gesellschafterversammlung beachten (§ 37 Abs. 1 GmbHG). Es liegt daher eine Pflichtverletzung vor, die zu Schadensersatzansprüchen der GmbH gegen G aus §  43 Abs.  2 GmbHG führt. Derartige Ansprüche sind jedoch gemäß § 46 Nr. 8 GmbHG seitens der Gesellschafterversammlung beschlussbedürftig, weshalb sie insbesondere gegen Gesellschaftergeschäftsführer oftmals nicht geltend gemacht werden.  ◄ Bei Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit der GmbH müssen die Geschäftsführer nach § 15a Abs. 1 und 2 InsO  unverzüglich, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Insolvenzreife (vgl. §§  17 bis 19 InsO) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen. Eine Insolvenzverschleppung begründet eine persönliche Haftung der Geschäftsführer, nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber Dritten (§§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO; Schutz vor Schmälerung der Insolvenzmasse). Ferner machen sie sich strafbar (§ 15a Abs. 3 InsO). Außerdem haben die Geschäftsführer der Gesellschaft Zahlungen nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu erstatten, § 15b Abs. 4 S. 1 i. V. m. Abs. 1 InsO. 1204 Bei Rechtsgeschäften zwischen der GmbH und Gesellschafter (z. B. Darlehens-, Kauf- oder Mietverträge), ist das Selbstkontrahierungsverbot aus § 181 BGB zu beachten (§§ 35 Abs. 3 GmbHG). Weil solche Verträge aber durchaus von Nutzen sind, werden die Gesellschafter in der Praxis von diesem Verbot im Gesellschaftsvertrag befreit. 1203

6.3 Körperschaften

477

Kommt es in Ausübung der geschäftsführenden Tätigkeit zur deliktischen Schä- 1205 digung Dritter muss die GmbH gemäß § 31 BGB analog dafür einstehen. Von der Organstellung der Geschäftsführer ist deren Angestelltenverhältnis zu 1206 unterscheiden. Es entsteht durch Vertrag (§§ 611, 611a BGB) und endet mit Aufhebungsvertrag, fristloser (§ 626 BGB) oder ordentlicher Kündigung (§§ 621, 622 BGB). Beide Rechtsverhältnisse  – Organstellung und Arbeitnehmerstatus  – sind nicht identisch und können durchaus ein verschiedenes Schicksal haben: Ein bestimmter Sachverhalt kann für die Gesellschaft einen wichtigen Grund für den Widerruf der Bestellung (Organstellung), aber nicht auch für die Kündigung des Anstellungsvertrages bilden. Umgekehrt kann der Geschäftsführer sein Amt aus wichtigem Grund niederlegen, ohne zugleich sein Angestelltenverhältnis zu beenden. Ist eine GmbH führungslos, werden seit der GmbH-Reform ein Teil der Ge- 1207 schäftsführeraufgaben kraft Gesetzes auf die Gesellschafter übertragen. Das soll helfen die in der Vergangenheit häufig auftauchenden „Firmenbestattungen“ zu erschweren, bei denen die in Schwierigkeiten geratenen GmbH nicht ordentlich abgewickelt wurden, sondern einfach „verschwanden“, indem die Geschäftsführer abberufen, die Geschäftslokale aufgegeben oder der Gesellschaftssitz kurzerhand verlegt wurde. Jetzt werden ersatzweise auch die Gesellschafter verpflichtet, den Insolvenzantrag zu stellen (§ 15a Abs. 3 InsO) oder die GmbH sogar ersatzweise passiv zu vertreten (§ 35 Abs. 1 S. 2 GmbHG). Ferner wird für diese Fälle die Zustellung von Post – an die ins Handelsregister eingetragene Geschäftsanschrift – erleichtert (§ 35 Abs. 2 S. 3 GmbHG). 6.3.2.2.2 Gesellschafterversammlung Die Gesellschafterversammlung, als die Gesamtheit aller Gesellschafter (§  48 1208 Abs. 1 GmbHG), ist das oberste Willensbildungsorgan der GmbH, da deren Entscheidungen für die Geschäftsführer bindend sind (§ 37 Abs. 1 GmbHG). Die Entscheidungen der Gesellschafterversammlung kommen durch formlose Beschlüsse mit einfacher Kapitalmehrheit (1 EUR-Einlage = 1 Stimme) zustande (§§  47 Abs. 1 und 2, 48 Abs. 1 GmbHG; zur Einberufung: §§ 49–51 GmbHG); ggf. auch im Umlaufverfahren (§ 48 Abs. 2 GmbHG). Fehlerhafte Beschlüsse (z. B. schwerwiegende Form- und Fristmängel bei Einberufung der Gesellschafterversammlung, schwerwiegende Mängel der Abschlussprüfung, Missachtung von Beurkundungserfordernissen, Verstoß gegen gesetzliches Verbot) können durch Anfechtungsklage gegen die GmbH binnen Monatsfrist für unwirksam erklärt werden (§ 246 AktG analog). Satzungsänderungen bedürfen der notariellen Form und einer ¾-Mehrheit der 1209 abgegebenen Stimmen (§  53 Abs.  1 und 2 GmbHG); die wichtigsten Satzungsänderungen betreffen dabei die Kapitalerhöhung und -herabsetzung. Solche Satzungsänderungen werden erst mit der Eintragung im Handelsregister wirksam (§ 54 Abs. 3 GmbHG). Ebenso ist die Auflösung der GmbH mit ¾-Mehrheit zu beschließen (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG). Die Aufgaben der Gesellschafterversammlung sind zumeist in der Satzung 1210 festgelegt, subsidiär folgen sie aus den §§ 46 ff. GmbHG:

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6 Gesellschaftsrecht

• • • • • • • •

Feststellung des Jahresabschlusses und der Gewinnverteilung, Einforderung von Einzahlungen auf die Stammeinlage, Rückzahlung von Nachschüssen, Teilung oder Einziehung von Geschäftsanteilen, Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern sowie deren Entlastung, Maßregeln zur Prüfung und Überwachung der Geschäftsführung, Bestellung von Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten, Geltendmachung von Ersatzansprüchen, welche der Gesellschaft gegen Geschäftsführer oder Gesellschafter zustehen, • Vertretung der Gesellschaft in Prozessen, welche diese gegen den Geschäftsführer führt.

1211

1212

6.3.2.2.3 Aufsichtsrat Die GmbH hat nach § 52 Abs. 1 GmbHG die Möglichkeit, im Gesellschaftsvertrag die Bestellung eines Aufsichtsrates (bzw. Beirates) zu vereinbaren; es handelt sich um ein freiwilliges (fakultatives) Organ. Nur ausnahmsweise kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Verpflichtung zur Bestellung eines Aufsichtsrates bestehen, wie etwa nach dem Mitbestimmungsgesetz oder dem Drittelbeteiligungsgesetz, wonach eine GmbH die in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt, einen Aufsichtsrat zu bilden hat (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG). Hierdurch soll eine Aufsicht durch die Arbeitnehmer ermöglicht werden. 2UJDQLVDWLRQVPRGHOOHLQHU*PE+ *HVFKlIWVIKUHU *HVFKlIWVIKUXQJXQG9HUWUHWXQJ /HLWXQJVIXQNWLRQ

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Organisationsmodell einer GmbH

6.3 Körperschaften

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6.3.2.3 Rechte und Pflichten der Gesellschafter Die Rechtsstellung als Gesellschafter einer GmbH entsteht bei Gründung mit 1213 Übernahme einer Stammeinlage (§ 14 GmbHG) oder später durch den Erwerb eines Geschäftsanteils (§ 15 GmbHG). Die Rechte und Pflichten des G ­ mbH-­Gesellschafters ergeben sich aus dem Gesellschaftsvertrag (§  3 Abs.  2 GmbHG) sowie aus den §§ 45 ff. GmbHG. Die Rechte des GmbH-Gesellschafters sind insbesondere Mitverwaltungs- und 1214 Vermögensrechte. Dazu gehört auf der Ebene der Mitverwaltung insbesondere das Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung (§ 47 GmbHG) und das unabdingbare Recht, von den Geschäftsführern unverzüglich Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft und Einsicht in die Bücher und Schriften zu verlangen (§  51a GmbHG). Ferner das Recht zur Anfechtung der Gesellschafterbeschlüsse (§§ 241 ff. AktG analog), der klageweise Geltendmachung von Forderungen gegen die Mitgesellschafter (actio pro socio) oder den Geschäftsführer (§§ 43 Abs. 2, 15b Abs. 4 S. 1 InsO) sowie die eingeräumten Minderheitsrechte nach § 50 GmbHG (Einberufung der Gesellschafterversammlung) oder § 61 Abs. 2 GmbHG (Auflösungsklage). Als Vermögensrechte sind insbesondere der Anspruch auf Teilhabe am Gewinn (§  29 Abs. 1 GmbHG; Dividendenanspruch) sowie den Liquidationserlös (§ 72 GmbHG) zu nennen. Die Hauptpflicht des GmbH-Gesellschafters besteht in der Pflicht zur Leistung 1215 der versprochenen Stammeinlage (§§ 5, 19 Abs. 2 GmbHG) sowie der Pflicht zur Kapitalerhaltung, insbesondere dem Rückgewährverbot von Einlagen (§§ 30, 31 GmbHG) und „kapitalersetzender“ Darlehen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und §§ 44a, 135 Abs. 1 InsO). Auch Nachschusspflichten können dazu gehören, sofern dies in der Satzung angelegt ist (§  26 GmbHG). Die Gesellschafter können dann beschließen, dass weitere Einzahlungen von den Gesellschaftern erbracht werden müssen (§§  26, 27 GmbHG). Durch Beschluss der Gesellschafterversammlung kann eine effektive Kapitalerhöhung, d. h. eine Kapitalerhöhung unter Zuführung neuer Mittel, beschlossen werden (§ 55 GmbHG). Denkbar ist auch eine nominelle Kapitalerhöhung, die nach dem Kapitalerhöhungsgesetz durch die Umwandlung von Rücklagen in Stammeinlagen erfolgt (§ 57c GmbHG). Daneben besteht eine Treuepflicht der Gesellschafter gegenüber der GmbH und den Mitgesellschaftern, die der gesteigerten Pflichtbindung bei Personengesellschaften entspricht. 6.3.2.4 Haftung Wie bereits erwähnt (Abschn. 6.3.2.1) haftet mit Entstehung der GmbH für alle Ge- 1216 sellschaftsverbindlichkeiten nur noch das Gesellschaftsvermögen (§  13 Abs.  2 GmbHG). Insofern sind die Gesellschafter einer GmbH grundsätzlich nicht mehr haftbar, was auch der entscheidende Vorteil gegenüber der Personengesellschaft ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bildet die sog. Durchgriffshaftung, die 1217 eine persönliche und unbeschränkte Haftung der Gesellschafter zulässt. Sie kommt nach der Rechtsprechung des BGH in Betracht (u. a. BGH NJW 1986, 188; BGH NJW-RR 2008, 918), wenn besondere Umstände dies nach den Grundsätzen von Treu und Glauben im redlichen Geschäftsverkehr rechtfertigen.

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6 Gesellschaftsrecht

Solche Umstände, die eine Durchgriffshaftung begründen, wurden ­angenommen: • Wenn die juristische Person der GmbH zu eigennützigen Zwecken der Gesellschafter missbraucht wird, z. B. wenn den Gesellschaftern ein sog. existenzvernichtender Eingriff zulasten der Gläubiger vorgeworfen werden kann. Ein solcher ist anzunehmen, wenn die Gesellschafter gezielt und zu betriebsfremden Zwecken der GmbH Vermögen oder Geschäftschancen entziehen und die Gesellschaft deshalb ihre Verbindlichkeiten nicht mehr oder nur noch in geringem Maße erfüllen kann. Dabei geht es vor allem um Maßnahmen, die auf eine „kalte“ Liquidation der Gesellschaft hinauslaufen, wie der Abzug von Finanzmitteln, Geschäftsräumen, betriebsnotwendigen Maschinen und Personal oder die Verlagerung von Geschäftsrisiken (bloße Managementfehler gehören nicht dazu). Beispiel

Die beiden Gesellschafter der Backwaren-GmbH beschließen, deren Geschäftsbetrieb einzustellen. Die Geschäfts- und Fabrikationsräume werden gekündigt. Personal und Vermögen (Warenbestände und außenstehende Forderungen im Wert von ca. 600.000 EUR) werden auf die neu gegründete New-Co-Auffanggesellschaft übertragen, die im Gegenzug aber nur einen Teil der Verbindlichkeiten übernimmt. Das Verhalten der Gesellschafter ist als existenzvernichtender Eingriff in den Bestand der Backwaren-GmbH zu werten und führt zur persönlichen Schadensersatzhaftung der Gesellschafter aus § 826 BGB gegenüber der Backwaren-GmbH (bzw. dem Insolvenzverwalter). ◄ • Wenn seitens der GmbH-Gesellschafter eine Vermögensvermischung stattgefunden hat, weil die Abgrenzung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen durch eine undurchsichtige oder fehlende Buchführung verschleiert wurde, und deshalb die Kapitalerhaltungsvorschriften, deren Einhaltung ein unverzichtbarer Ausgleich für die Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen (§ 13 Abs. 2) ist, zu Lasten der Gläubiger nicht mehr funktionieren (BGH NJW 1994, 1801, 1802). • Wenn die Verwendung der Rechtsfigur der juristischen Person „GmbH“ nicht mehr mit dem avisierten Zweck der Rechtsordnung vereinbar ist. • Ferner finden sich in den §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 44a, 135 InsO Regelungen, deren Wirkung mit denen einer Durchgriffshaftung vergleichbar erscheinen. Diese Vorschriften gelten dabei nicht nur für die GmbH. Nach § 39 Abs. 4 InsO sind sie generell bei Gesellschaften anwendbar, bei denen keine natürliche Person persönlich haftet (AG, Kapitalgesellschaft & Co. KG Abschn. 6.4.2, KGaA gem. § 279 Abs. 2 AktG Abschn. 6.4.1). Gewährt ein Gesellschafter einer solchen Gesellschaft ein Darlehen, hat er grundsätzlich einen Darlehensrückzahlungsanspruch gegen die Gesellschaft gem. § 488 Abs. 1 S. 2 BGB. Er ist also auch Gläubiger der Gesellschaft. Die

6.3 Körperschaften

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Rückzahlung dieses Darlehens ist gemäß § 30 Abs. 1 S. 3 GmbHG grds. erlaubt. Wird aber über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet, noch bevor das Darlehen an den Gesellschafter zurückgezahlt wurde, ist er kein Insolvenzgläubiger gem. § 38 InsO, sondern nur noch nachrangiger Insolvenzgläubiger gem. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO (Abschn. 6.3.2.9). Das heißt, seine Darlehensforderung wird erst dann (anteilig) aus der Insolvenzmasse befriedigt, wenn nach Verteilung an alle vorrangigen Gläubiger noch etwas übrig ist. Dabei ist es unerheblich, ob der Gesellschafter das Darlehen in einer Krisensituation gewährt hat. Vielmehr sind seit der Reform des GmbHG alle Forderungen der Gesellschafter aus Gesellschafterdarlehen gem. §  39 Abs.  1 Nr.  5 InsO nachrangig. Da es faktisch selten dazu kommt, dass noch an nachrangige Gläubiger etwas verteilt wird, und selbst unter den nachrangigen Gläubigern der Gesellschafterdarlehensgeber auf dem letzten Rang steht („werden in folgender Rangfolge ... berichtigt“, § 39 Abs. 1 InsO), ist es sehr unwahrscheinlich, dass seine Forderung im Verfahren realisiert wird. Dass das ausgezahlte Darlehen (soweit es noch in der Masse vorhanden ist) zur Gläubigerbefriedigung genutzt wird und der Gesellschafter mit seiner Forderung wohl ausfallen wird, rückt diesen Tatbestand also in die Nähe einer Durchgriffshaftung, wenngleich sich nichts daran ändert, dass die Gläubiger vom Gesellschafter nicht direkt Zahlung verlangen können. Hat der Gläubiger der Gesellschaft ein Darlehen gewährt und wurde dieses bereits vor dem Eröffnungsantrag (§ 13 InsO) zurückgezahlt, kann der Insolvenzverwalter diese Zahlung anfechten (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO), wenn sie im letzten Jahr vor dem Eröffnungsantrag (oder danach) vorgenommen wurde. Der Gesellschafter muss die erhaltene Zahlung dann der Insolvenzmasse zurückgewähren (§ 143 InsO). Beispiel

G ist Gesellschafter der florierenden „Irgendwas mit Medien GmbH“. Um den Gang zur Hausbank zu vermeiden, gewährt er der GmbH selbst im Oktober 2020 ein Darlehen i. H. v. 50.000 EUR, um weitere Investitionen zu ermöglichen. Als im August 2021 drei bedeutende Schuldner der GmbH ausfallen, gerät diese selbst in die Krise. Schließlich sieht sich der Geschäftsführer gezwungen, einen Insolvenzantrag zu stellen; das Verfahren wird am 1. Oktober 2021 eröffnet. G kann hier seine Forderung aus § 488 Abs. 1 S. 2 BGB nur als nachrangiger Gläubiger geltend machen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO). Dass er das Darlehen noch zu wirtschaftlich rosigen Zeiten gewährt hat und nicht, um eine Krise abzuwenden, spielt dabei keine Rolle. Hätte ihm die GmbH im Juli 2019 das Darlehen zurückgezahlt, könnte der Insolvenzverwalter dies gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechten. Der G müsste den Zahlungsbetrag nach § 143 Abs. 1 InsO der Insolvenzmasse zurückgewähren. Auch hier ist es nach dem Wortlaut des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO unbedeutend, dass sich die Krise in diesem Zeitpunkt noch nicht abgezeichnet hat. ◄

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6 Gesellschaftsrecht

6.3.2.5 Finanzverfassung der GmbH Die GmbH bildet ihr eigenes Vermögen, es gilt der Grundsatz der Haftungstrennung (§  13 Abs.  2 GmbHG), wobei zudem zwischen dem erwirtschafteten ­Vermögen der GmbH und dem zum Schutz der Gläubiger vorzuhaltenden Stammkapital zu trennen ist. 1220 Das in der Satzung festgelegte Nennkapital (Stammkapital) kann seitens der Gesellschafter jederzeit verändert werden (¾-Mehrheitsbeschluss gemäß § 53 Abs. 1 und 2 GmbHG). Dabei kann es zu einer effektiven Erhöhung des Stammkapitals kommen, indem der GmbH zusätzliche Mittel von den bisherigen oder neu eintretenden Gesellschaftern zugeführt werden (§§  55 Abs.  2 und 3 GmbHG) oder einer nominellen Kapitalerhöhung aus bereits vorhandenen Gesellschaftsmitteln (§§  57c ff. GmbHG), z.  B. durch die Umwandlung von umwandlungsfähigen Bilanzposten (z.  B.  Rücklagen; nicht dagegen: Gewinnvorträge oder Gesellschafterdarlehen). Selbst eine Herabsetzung des Stammkapitals ist möglich, sofern der Gläubigerschutz sichergestellt ist, d.  h. jedenfalls das Mindeststammkapital erhalten bleibt und ggf. die Gläubiger zuvor befriedigt werden (§ 58 GmbHG). 1221 Dem Gläubigerschutz dienen ferner die Vorschriften zur Kapitalerhaltung §§ 30, 31 GmbHG. Nach § 30 Abs. 1 GmbHG darf das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen nicht ausgezahlt werden. Zahlungen unter Verstoß gegen das Verbot müssen der GmbH zurück erstattet werden (§ 31 Abs. 1 GmbHG). Dabei ist insbesondere jede Auszahlung durch den Geschäftsführer an einen Gesellschafter, die zu einer Unterdeckung des Kapitalkontos führt, untersagt. Dabei ist der Begriff Zahlung weit auszulegen. Verboten sind Leistungen aller Art, denen keine gleichwertige Gegenleistung gegenübersteht und die wirtschaftlich das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Gesellschaftsvermögen angreifen (z.  B. die GmbH erfüllt eine Privatverbindlichkeit des Gesellschafters und gerät dadurch finanziell unter Druck). Das gilt dagegen nicht, wenn z. B. Darlehen und andere Leistungen der GmbH mit Kreditcharakter an die Gesellschafter erfolgen, aber die GmbH im Gegenzug einen vollwertigen Rückzahlungsanspruch erhält (z. B. gesichert durch eine Bürgschaft eines Dritten oder durch eine Grundschuld am Grundstück des Gesellschafters). Bei der Bewertung wird eine bilanzielle Sichtweise zugrunde gelegt. Der Gesellschafter muss eine Zahlung, die ihm entgegen § 30 Abs. 1 GmbHG geleistet wurde, der Gesellschaft zurückzahlen  (§ 31 Abs. 1 GmbHG). Der Erstattungsanspruch der Gesellschaft ist dabei auf Wiederauffüllung des Nettoaktivvermögens der Gesellschaft durch Rückführung der Leistung (Wertausgleich in voller Höhe) gerichtet. Verboten ist daher nicht eine Auszahlung an den Gesellschafter an sich, sondern nur, soweit diese das Stammkapital angreift. Erfolgte die Auszahlung an mehrere Gesellschafter, haften sie als Gesamtschuldner auf Rückerstattung, so dass die Gesellschaft die Leistung von jedem ganz oder zum Teil fordern kann. Kann die Gesellschaft die Zahlung nicht mehr vom Leistungsempfänger zurückerhalten, müssen dafür die übrigen Gesellschafter entsprechend ihres Anteils aufkommen (§ 31 Abs. 3 GmbHG). Diese Rückzahlungsverpflichtung kann den Gesellschaftern nicht erlassen werden (§ 31 Abs. 4 GmbHG). Sofern die Mitgesellschafter anstatt des Leistungsempfängers in Anspruch genommen werden 1219

6.3 Körperschaften

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(§ 31 Abs. 3 GmbHG), erhalten sie jedenfalls gegen den die verbotene Auszahlung veranlassenden Geschäftsführer einen Regressanspruch (§ 31 Abs. 6 GmbHG). Überhaupt ist der Geschäftsführer, der eine solche verbotene Auszahlung veranlasst hat, der GmbH nach den allgemeinen Grundsätzen zum Schadensersatz verpflichtet (§ 43 Abs. 3 GmbHG; Abschn. 6.3.2.2). Der Anspruch, der vor allem dann relevant wird, wenn die Erstattung durch die Gesellschafter scheitert, erstreckt sich der Höhe nach auf die gesamte unzulässige Auszahlung; er ist gerade nicht auf die Höhe der Stammkapitalziffer beschränkt. Beispiel

Das Nettovermögen der ABC-GmbH, die mit einem Stammkapital von 30.000 EUR gegründet worden ist, beträgt 35.000 EUR.  Gesellschafter A erhält vom Geschäftsführer G eine Sonderzuwendung in Höhe von 10.000 EUR ausgezahlt. Die Auszahlung führt eine Unterbilanz von 5000 EUR herbei und verstößt in dieser Höhe gegen das Auszahlungs-/Ausschüttungsverbot des §  30 Abs. 1 GmbHG. Hätte das Nettovermögen der GmbH zur Zeit der Zahlung nur 28.000 EUR betragen, würde die Auszahlung eine schon bestehende Unterbilanzierung vertiefen. Läge das Nettovermögen nur noch bei 8000 EUR, würde die Auszahlung sogar eine Überschuldung in Höhe von 2000 EUR herbeiführen. In allen Fallvarianten verstößt die Auszahlung gegen § 30 Abs. 1 GmbHG. Insofern besteht ein Rückerstattungsanspruch der GmbH gegen den Gesellschafter aus § 31 Abs. 1 GmbHG. Sollte der GmbH darüber hinaus ein Schaden entstehen, z.  B. der Gesellschafter ist zur Rückzahlung nicht mehr in der Lage, kann der G schadensersatzpflichtig werden (§§  43 Abs.  3, 31 Abs.  6 GmbHG; in der dritten Variante ist auch an § 15b Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 und 4 InsO zu denken). Möglicherweise fragen Sie sich, unter welchen Umständen ein solcher Rückzahlungsanspruch geltend gemacht wird, wenn doch die Gesellschafter selbst einen entsprechenden Beschluss fassen müssten. In der Tat hemmt dies im normalen Geschäftsgang oftmals die Geltendmachung dieser Ansprüche. Allerdings finden solche verbotswidrigen Zahlungen zumeist in finanziellen Krisen statt. Sollte am Ende eine Insolvenzanmeldung erforderlich werden und der Insolvenzverwalter die Geschäfte übernehmen, so kennt zumindest er weder „Freund“ noch „Feind“ und wird jede verbotene Auszahlung zum Gesellschaftsvermögen zurückholen; es handelt sich um einen Anspruch der Gesellschaft gegen die Gesellschafter, den der Insolvenzverwalter nunmehr durchsetzen kann (§ 35 InsO). ◄ Eine Besonderheit ergibt sich noch bei den sog. Krisendarlehen. Leistet ein Ge- 1222 sellschafter zur Stützung seiner GmbH in einer wirtschaftlichen Notlage ein Darlehen an die Gesellschaft und erkennt, dass die Insolvenz nicht abwendbar ist, weshalb er die eilige Rückzahlung veranlasst, kann der Insolvenzverwalter diese Rückzahlung anfechten (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Der Gesellschafter ist dann zur Rückzahlung in das GmbH-Vermögen (in die Insolvenzmasse) verpflichtet (§  143 InsO). Insofern

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6 Gesellschaftsrecht

werden solche Zahlungen „wie Eigenkapital“ behandelt (daher auch die Bezeichnung „eigenkapitalersetzende Darlehen“). Die Rechtsfolge (Rückholung der Mittel ins Gesellschaftsvermögen) ist auch legitim, denn ein redlicher Gesellschafter hätte der Gesellschaft Eigenkapital zur Rettung zugeführt oder sie ordentlich beendet. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass grundsätzlich die Möglichkeit des Insolvenzverwalters besteht, alle Gesellschafterdarlehen oder Forderungen aus Rechtshandlungen zur Insolvenzmasse zurückzuholen, sofern solche (Aus-)Zahlungen im letzten Jahr vor dem Eröffnungsantrag oder danach stattgefunden haben (§§  39 Abs.  1 Nr.  5 InsO, 135 Abs.  1 InsO).  Der Begriff „Krisendarlehen“ entstammt noch aus einer älteren Gesetzeslage und ist genau genommen überholt, weil die insolvenzrechtlichen Regelungen heute für alle Gesellschafterdarlehen gelten. Dennoch beschreibt er sehr schön, wann diese Art der Darlehenskonstruktionen in der Praxis relevant werden, weshalb er hier weiter genutzt wird. 1223 Der Erwerb und die Veräußerung von Geschäftsanteilen sind ohne weiteres möglich; es sind Rechte, die unter den Vorgaben des § 15 GmbHG veräußert und übertragen werden können. Auch die Gesellschaft kann eigene Geschäftsanteile erwerben, allerdings nur dann, wenn auf sie die Einlagen vollständig erbracht sind (§ 33 Abs. 1 GmbHG), wenn sie die Gegenleistung für den Erwerb aus dem über den Betrag des Stammkapitals hinaus vorhandenen Vermögen leistet und die vorgeschriebene Rücklage für eigene Anteile aus freiem Vermögen bilden kann (§§ 33 Abs. 2 S. 1 GmbHG, 272 Abs. 4 HGB). Ein Verstoß gegen diese Bestimmungen lässt den dinglichen Erwerb der Geschäftsanteile unangetastet, das schuldrechtliche Geschäft ist jedoch nichtig (§  33 Abs.  2 S.  3 GmbHG); es entstehen Rückübertragungsansprüche aus § 812 BGB. 1224 Im Hinblick auf die Rechnungslegung und Gewinnverteilung gilt in der GmbH, dass die Geschäftsführer zur ordnungsgemäßen Buchführung verpflichtet sind (§  41 GmbHG). Sie haben den Jahresabschluss nebst Anhang und Lagebericht aufzustellen (§ 264 Abs. 1 HGB, §§ 42, 42a GmbHG). Für mittelgroße und große Gesellschaften ist eine Abschlussprüfung durchzuführen (§ 267 Abs. 2 und 3 HGB i. V. m. § 316 HGB). Der Jahresabschluss und der Bericht der Abschlussprüfer sind den Gesellschaftern vorzulegen (§  42a Abs.  1 GmbHG), die über die Feststellung des Jahresabschlusses sowie die Ergebnisverwendung beschließen (§ 42a Abs. 2 GmbHG). Verfügt die GmbH über einen Aufsichtsrat, muss ihm der Jahresabschluss zuvor bekannt gegeben werden (§ 42a Abs. 1 S. 3 GmbHG).

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6.3.2.6 Gesellschafterwechsel Der Geschäftsanteil, der das Mitgliedschaftsrecht verkörpert, ist grundsätzlich frei übertragbar. Er kann ohne Gestattung seitens der GmbH vom Gesellschafter veräußert oder vererbt werden, es sei denn, dass der Gesellschaftsvertrag diese Möglichkeiten ausschließt oder einschränkt (sog. Vinkulierung, z. B. durch Vorkaufsrechte der Gesellschafter). Die Veräußerung erfolgt schuldrechtlich durch ein Verkaufsgeschäft (§§  453, 433 BGB) und dinglich durch eine Abtretung (§  398 BGB). Sowohl die Vereinbarung, durch welche die Verpflichtung eines Gesellschafters zur Abtretung eines Geschäftsanteils begründet wird (§ 15 Abs. 4 GmbHG), als auch die Abtretung der Geschäftsanteile (§ 15 Abs. 3 GmbHG) bedürfen dabei der notariellen Form. An-

6.3 Körperschaften

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schließend sind die Rechtsänderungen im Handelsregister in der Gesellschafterliste auszuweisen. Denn als Gesellschafter einer GmbH gilt nur, wer in der Gesellschafterliste geführt ist (§  16 Abs.  1 GmbHG). Ist der Abtretende nicht Berechtigter (also nicht Inhaber des Geschäftsanteils) kann es zu einem Gutglaubenserwerb kommen, wenn der Abtretende in der Gesellschafterliste geführt wird (§ 16 Abs. 3 GmbHG; Schutz des Vertrauens in die Richtigkeit der Gesellschafterliste). Auf den Vertrauensschutz kann sich der Erwerbe nicht berufen, wenn ein Widerspruch in die Liste eingetragen ist, die Unrichtigkeit der Liste nicht dem Gesellschafter zugerechnet werden kann (sondern z. B. dem Registergericht) oder dem Erwerber die Unrichtigkeit der Liste bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist (§ 16 Abs. 3 S. 2 und 3 GmbHG). Gesellschafter können ihre Mitgliedschaft in der GmbH verlieren, durch 1226 • Kaduzierung des Geschäftsanteils, um den säumigen Gesellschafter zur Zahlung seiner rückständigen Zahlung auf die Stammeinlage anzuhalten, wobei Mahnung, Fristsetzung sowie Androhung des Ausschlusses vorausgegangen sein müssen (§ 21 Abs. 1 GmbHG). • Einziehung des Geschäftsanteils, wobei die Bedingungen konkret im Gesellschaftsvertrag festgelegt sein müssen (§ 34 GmbHG; sog. Amortisation) • Aufgabe bzw. Rückgabe des Geschäftsanteils, sofern im Gesellschaftsvertrag z. B. eine unbegrenzte Nachschusspflicht vereinbart ist und der Gesellschafter eine zusätzlich zu seiner Stammeinlage eingeforderte Einlage nicht einbringt (§ 27 Abs. 1 GmbHG; sog. Abandon). Schließlich kann ein Gesellschafter aus wichtigem Grund und gegen Abfindung aus 1227 der GmbH ausgeschlossen werden, sofern den Mitgesellschaftern die Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnisses nicht mehr zumutbar ist (z. B. die Fortsetzung der Gesellschaft ist mit dem Gesellschafter, der ständig als „Störenfried“ auftritt, unzumutbar; der Gesellschafter handelt den Interessen der GmbH zuwider; §  737 BGB analog). Er kann aber auch aus der GmbH gegen Abfindung auf eigenem Wunsch austreten, wobei sodann die Mitgesellschafter oder die Gesellschaft selbst die Anteile erwerben. Zumeist werden in der Satzung sowohl zu Ausschluss- als auch Austrittskonstellationen konkretisierende Regelungen getroffen.

6.3.2.7 Beendigung und Liquidation Unter den in §§  60, 61 GmbHG genannten Gründen kann eine GmbH aufgelöst 1228 werden. Auflösung bedeutet bei der GmbH ebenso wie bei anderen Gesellschaftsformen Eintritt in das Liquidations- oder Abwicklungsstadium, nicht aber die sofortige Beendigung. Auflösungsgründe können sich aus der Satzung ergeben oder aus den §§ 60, 61 1229 GmbHG, welche eine Reihe von Auflösungsgründen benennen, wie • Zeitablauf, • Gesellschafterbeschluss, der einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen bedarf,

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6 Gesellschaftsrecht

• Auflösung der GmbH durch gerichtliches Gestaltungsurteil aufgrund einer Auflösungsklage, die von einem oder mehreren Gesellschaftern erhoben werden kann, deren Geschäftsanteile mindestens 10 % des Stammkapitals ausmachen, • Auflösung durch Verfügung des Registergerichts, falls ein Mangel des Gesellschaftsvertrags festgestellt wird, • Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die Auflösung ist zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden (§  65 GmbHG) und von den Liquidatoren, den Geschäftsführern oder den durch Gesellschaftsvertrag oder Beschluss berufenen Personen, welche die Geschäfte in der Liquidation übernehmen, in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen, verbunden mit der Aufforderung an die Gläubiger, sich zu melden (§ 65 Abs. 2 GmbHG). Dies ist wichtig, da die GmbH mit ihrer Löschung nicht mehr existiert und damit auch kein Anspruchsgegner für die Gläubiger mehr vorhanden ist. 1231 Sodann erfolgt die Liquidation der GmbH. Die GmbH führt einen Liquidationsvermerk in ihrer Firmenbezeichnung (z. B. „in Liquidation“ oder „i. L.“). Die Liquidatoren haben die laufenden Geschäfte zu beenden, die Verpflichtungen der aufgelösten Gesellschaft zu erfüllen, die Forderungen einzuziehen und das Vermögen der Gesellschaft in Geld umzusetzen (§ 70 GmbHG). Wenn die Schulden der Gesellschaft getilgt bzw. sichergestellt sind und ein Sperrjahr abgelaufen ist, das mit der Aufforderung an die Gläubiger, sich bei der Gesellschaft zu melden (§ 65 Abs. 2 GmbHG) beginnt, erfolgt die Verteilung eines etwaigen Liquidationserlöses (§§ 72, 73 Abs. 1 GmbHG). Ist das verbliebene Vermögen verteilt, ist die Gesellschaft beendet und im Handelsregister zu löschen (§ 74 Abs. 1 GmbHG). Die GmbH existiert nicht mehr. 1230

6.3.2.8 Ein-Personen-GmbH Seit 1981 lässt es das GmbHG zu, dass auch eine Einzelperson eine GmbH gründet. Die sog. Einmann-GmbH kann durch eine einseitige Erklärung errichtet werden (sog. Errichtungserklärung), die dem Gesellschaftsvertrag gleichsteht und genau wie dieser notariell beurkundet werden muss (§ 1 GmbHG). Hinsichtlich des Aufbringens der Stammeinlage und der Anmeldung zum Handelsregister gelten keine Besonderheiten.   1233 Auch Einmann-Gesellschafter als alleinige Geschäftsführer sind nicht vom Verbot des „Insichgeschäfts“ (§ 181 BGB) ausgenommen, § 35 Abs. 3 GmbHG. Das Selbstkontrahieren muss dem Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag ausdrücklich gestattet und die Gestattung im Handelsregister eingetragen sein. Nur dann ist er z. B. berechtigt, mit sich selbst einen Anstellungsvertrag abzuschließen. 1234 Gesellschafterbeschlüsse, die ein Einmann-Gesellschafter still für sich fassen kann, ohne dass sie nach außen in Erscheinung treten, müssen zum Schutz der Gläubiger unverzüglich nach der Beschlussfassung schriftlich niedergelegt und unterschrieben werden; andernfalls sind sie ungültig (§  48 Abs. 3 GmbHG). 1232

6.3 Körperschaften

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Der alleinige Gesellschafter als natürliche Person und die GmbH als selbständige 1235 juristische Person sind gedanklich zu trennen. Auch bei der Einmann-GmbH haftet den Gesellschaftsgläubigern nur das Gesellschaftsvermögen, nicht das sonstige Vermögen des alleinigen Gesellschafters. Nur ausnahmsweise darf der Gesellschafter persönlich in Anspruch genommen werden, wenn Umstände eintreten, die eine Durchgriffshaftung rechtfertigen (siehe dazu oben). Beispiel

Die Müller Elektrohandel GmbH, deren alleiniger Gesellschafter Müller ist, hat durch grobe Fehler so große Verluste erlitten, dass sie in die Insolvenz gerät. Hier haftet den Insolvenzgläubigern nur das Vermögen der GmbH, nicht aber das Privatvermögen des Alleingesellschafters Müller. ◄

6.3.2.9 Exkurs zum Insolvenzrecht Im Rahmen der Geschäftsführerpflichten wurde der §  15a Abs.  1 InsO  an- 1236 gesprochen, der den Geschäftsführer dazu verpflichtet, unverzüglich, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Insolvenzreife (vgl. §§ 17 bis 19 InsO) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen. Um das Verständnis für das Insolvenzverfahren zu erhöhen, soll nachfolgend das Regelinsolvenzfahren, an dessen Ende eine Verwertung und Verteilung des Schuldnervermögens steht, beschrieben werden. Dabei sei nur ergänzend darauf hingewiesen, dass im Rahmen eines Insolvenzverfahrens ein Unternehmen auch saniert werden kann, entweder indem es im Rahmen des Insolvenzverfahrens auf einen anderen Rechtsträger übertragen wird (sog. übertragende Sanierung) oder ein Insolvenzplanverfahren nach dem Vorbild des US-amerikanischen Reorganisationsverfahrens durchläuft (§§ 217 ff. InsO). 6.3.2.9.1  Zweck des Regelinsolvenzverfahrens und Ereignisse im Vorfeld Leistet ein Schuldner trotz fälliger und einredefreier Forderung nicht, wird dessen 1237 Gläubiger früher oder später einen vollstreckbaren Titel (§§ 704, 794 ZPO) gegen ihn erwirken und hieraus die Zwangsvollstreckung betreiben. Das Zwangsvollstreckungsverfahren ist ein staatliches Verfahren und soll u. a. verhindern, dass der Gläubiger seine Forderung eigenmächtig – schlimmstenfalls mit Gewalt – durchzusetzen versucht. Es ist darauf ausgelegt, dass ein Gläubiger seine Forderung verwirklicht. Dieses nach dem Prioritätsprinzip organisierte Verfahren (§ 804 Abs. 3 ZPO: wer zuerst pfändet, hat Vorrang) versagt, wenn einer Vielzahl von Gläubigern ein Schuldnervermögen gegenübersteht, das zu gering ist, um jeden von ihnen zu befriedigen. Gäbe es in diesen Fällen nur die Zwangsvollstreckung, würde eine Art Wettrennen der Gläubiger um die letzten verwertbaren Vermögensgegenstände stattfinden. Ein schneller Gläubiger mit einer vergleichsweise hohen Forderung könnte das verbleibende Vermögen des Schuldners pfänden und verwerten lassen, um seine Forderung zu verwirklichen. Für die übrigen Gläubiger bliebe nichts. Die u.  a. friedensstiftende Wirkung gerichtlicher Vollstreckungsverfahren kann in solchen

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6 Gesellschaftsrecht

Fällen nicht erreicht werden. Außerdem sind schwer abschätzbare wirtschaftliche Gesamtschäden denkbar, wenn viele Gläubiger mit hohen Forderungen vollends ausfallen. Dieser zweite Gedanke sieht sich allerdings in der Praxis sehr niedrigen Insolvenzquoten gegenüber. 1238 Um dies zu verhindern, bezweckt das Insolvenzfahren als Gesamtvollstreckungsverfahren gem. § 1 InsO vorrangig, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt wird. Stattdessen besteht auch die Möglichkeit, in einem Insolvenzplan abweichende Regelungen zum Erhalt des Unternehmens zu treffen. Das Insolvenzverfahren ist ein gerichtliches Verfahren. Anders als in der Zwangsvollstreckung, in der jeder Gläubiger seine Forderung alleine und für sich eintreibt, wird im Insolvenzverfahren das, was noch vom Schuldnervermögen übrig ist, gleichmäßig verteilt. Beispiel

Die X-GmbH sieht sich Forderungen ihrer Bank, des Fiskus, der Arbeitnehmer und von Lieferanten in einer Gesamthöhe von 650.000 EUR ausgesetzt. Dem steht ein Gesellschaftsvermögen in Höhe von 30.000 EUR gegenüber; weitere Zahlungseingänge zugunsten der X-GmbH sind nicht zu erwarten. Banken verweigern weitere Darlehen. Die Mittel der Einzelzwangsvollstreckung versagen hier. Es besteht das Bedürfnis, das Vermögen der X-GmbH zu verwerten, um die Erlöse gleichmäßig an die Gläubiger zu verteilen, § 1 InsO. ◄ 6.3.2.9.2  Insolvenzverfahren – Ablauf bis zum Eröffnungsbeschluss Ein Insolvenzverfahren wird gem. §  13 Abs.  1 InsO nur auf schriftlichen Antrag (sog. Insolvenzantrag) eröffnet. Das heißt, dass die Gerichte nicht von sich aus Ausschau nach zahlungsunfähigen Schuldnern halten. Eine antragsberechtigte Person muss den Sachverhalt selbst an das Insolvenzgericht herantragen. 1240 Natürliche und juristische Personen sind gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 InsO insolvenzfähig, d.  h. über deren Vermögen kann ein Insolvenzverfahren eröffnet werden. Auch die rechtsfähigen Personengesellschaften, die in der InsO als „Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit“ genannt sind, sind nach §  11 Abs.  2 Nr.  1 InsO insolvenzfähig. §  12 InsO benennt Körperschaften, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren nicht eröffnet werden kann (z. B. juristische Personen des öffentlichen Rechts). 1241 Einen Insolvenzantrag können nach §  13 Abs.  1 S.  2 InsO Gläubiger und Schuldner stellen. Bei juristischen Personen (wie zum Beispiel einer GmbH) ist jedes Mitglied des Vertretungsorgans (also nach §  35 GmbHG der bzw. die Geschäftsführer) zur Antragstellung berechtigt, §  15 Abs.  1 S.  1 InsO.  Bei Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit und der KGaA kann den Antrag jeder persönlich haftende Gesellschafter stellen. Bei der GmbH & Co. KG ist der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH antragsberechtigt, §  15 Abs.  3 InsO.  Bei juristischen Personen besteht außerdem eine Antragspflicht (§  15a InsO). Bei der GmbH haben die Geschäftsführer, bei der AG hat der Vorstand im Fall von Überschuldung 1239

6.3 Körperschaften

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oder Zahlungsunfähigkeit ohne schuldhaftes Zögern einen Eröffnungsantrag nach §  13 InsO zu stellen (§  15a Abs.  1 S.  1 InsO). Bei Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit besteht die Antragspflicht, wenn keine natürliche Person persönlich und unbeschränkt haftet, so bspw. bei der GmbH & Co. KG. Bei dieser muss der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH den Antrag stellen (§ 15a Abs. 1 S. 3 InsO). Die Antragspflicht ist strafbewehrt (§ 15a Abs. 4 bis 6 InsO). Allgemeiner Eröffnungsgrund ist nach § 17 InsO die Zahlungsunfähigkeit. 1242 Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht mehr in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (§ 17 Abs. 2 S. 1 InsO). Der Schuldner – nicht aber seine Gläubiger – kann den Antrag auch bei „nur“ drohender Zahlungsunfähigkeit stellen, wenn er also voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine Verbindlichkeiten rechtzeitig zu erfüllen (§ 18 Abs. 1 und 2 InsO). Speziell für juristische Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, bei denen kein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist (wie bei der GmbH & Co. KG) sieht die InsO auch den Eröffnungsgrund der Überschuldung vor (§ 19 InsO). Sie ist anzunehmen, wenn weder das vorhandene Vermögen noch die zu erwartenden Einnahmen eines Schuldners dessen bestehende Verbindlichkeiten decken und eine Fortführung des Unternehmens in den nächsten 12 Monaten unwahrscheinlich ist (§ 19 Abs. 2 InsO). In der Zeit, die das Insolvenzgericht benötigt, um den Antrag zu prüfen, wäre das 1243 verbleibende Vermögen nach wie vor dem Zugriff des Schuldners und der Gläubiger ausgeliefert. Deshalb hat das Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 1 S. 1 InsO alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um bis zur Entscheidung eine den Gläubigern nachteilige Veränderung der Vermögenslage des Schuldners zu verhüten (sog. vorläufige Maßnahmen). Dazu gehören zum Beispiel die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, Verfügungsverbote an den Schuldner oder Untersagung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen (§ 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 2 und 3 InsO). Der Eröffnungsantrag wird abgelehnt, wenn das verbleibende Schuldnerver- 1244 mögen nicht ausreicht, um die Kosten des Verfahrens zu decken (§ 26 Abs. 1 S. 1 InsO; sog. Abweisung mangels Masse). Wurde eine Antragspflicht pflichtwidrig und schuldhaft verletzt (§ 15a Abs. 1 InsO), hat die pflichtige Person (Geschäftsführer, Vorstand) einen Kostenvorschuss zu leisten (§  26 Abs.  4 S.  1 InsO). Den Kostenvorschuss können zudem andere Personen leisten (§ 26 Abs. 1 S. 2 InsO) und im Falle eines säumigen Antragspflichtigen Erstattung von diesem verlangen, § 26 Abs. 3 S. 1 InsO. Beispiel

Die Geschäftsführerin G der X-GmbH stellt am 1.10. die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft fest. Dennoch stellt sie keinen Antrag, sondern versucht stattdessen Investoren zu überzeugen, um doch noch einen Kredit zu bekommen. Mit den letzten zur Verfügung stehenden Mitteln leistet sie noch anteilig auf die Forderungen von zwei Zulieferern. Schließlich stellt am 1.12. der Gläubiger Z einen Insolvenzantrag. Schnell wird klar, dass das Vermögen nicht ausreicht, um auch nur die Kosten des Verfahrens zu begleichen.

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6 Gesellschaftsrecht

Z war gem. § 13 Abs. 1 S. 2 InsO antragsberechtigt. Grundsätzlich wäre hier der Eröffnungsantrag mangels Masse gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 InsO abzuweisen. Allerdings wäre die G nach § 15a Abs. 1 InsO verpflichtet gewesen, unverzüglich nach Feststellung der Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen. Deshalb hat sie gemäß § 26 Abs. 4 S. 1 InsO einen Vorschuss zu leisten. Die Zahlungen an die beiden Zulieferer muss G außerdem nach § 15b Abs. 4 S. 1 i. V. m. Abs. 1 S. 1 InsO der Gesellschaft ersetzen. Der Insolvenzverwalter wird diesen Anspruch geltend machen. Außerdem hat sich G strafbar gemacht, indem sie den Antrag nicht unverzüglich nach Feststellung der Zahlungsunfähigkeit gestellt hat, § 15a Abs. 4 Nr. 1 Alt. 1 InsO. ◄ 6.3.2.9.3  Insolvenzverfahren – Ablauf ab dem Eröffnungsbeschluss Das Insolvenzgericht ernennt mit der Eröffnung einen Insolvenzverwalter (§ 27 Abs. 1 S. 1 InsO) und macht den Eröffnungsbeschluss sofort öffentlich bekannt (§  30 Abs.  1 InsO). Die öffentliche Bekanntmachung erfolgt nach §  9 InsO insbesondere im Internet (www.insolvenzbekanntmachungen.de). Maßgeblich ist dabei die Aufforderung an die Gläubiger im Eröffnungsbeschluss, ihre Forderungen beim Insolvenzverwalter anzumelden (§ 28 Abs. 1 InsO). Denn während des Insolvenzverfahrens können die Insolvenzgläubiger (Begriff: § 38 InsO) ihre Forderungen nur noch nach den Regeln des Insolvenzrechts verfolgen (§ 87 InsO), sie sind darauf beschränkt, diese zur Tabelle anzumelden (§§ 174, 175 InsO). Das Insolvenzgericht bestimmt außerdem einen Berichts- und einen Prüftermin (§ 29 InsO). 1246 Die Wirkung der Insolvenzeröffnung richtet sich nach § 80 InsO: Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse (Begriff: § 35 InsO) geht auf den Insolvenzverwalter über. Der Schuldner kann nach § 81 Abs. 1 S. 1 InsO nicht mehr wirksam über Gegenstände aus der Insolvenzmasse verfügen (zu beachten bleibt § 81 Abs. 1 S. 2 InsO). Seine eigenen vor der Eröffnung entstandenen Ansprüche sind zur Insolvenzmasse (Begriff: § 35 InsO) zu erfüllen (§ 82 InsO). Drittschuldner leisten also nicht an den Insolvenzschuldner sondern fügen ihre Leistungen stattdessen der Insolvenzmasse zu. 1247 Im Berichtstermin berichtet der Insolvenzverwalter nach § 156 InsO über die wirtschaftliche Lage des Schuldners und deren Ursachen, die Gläubigerversammlung beschließt über den Fortgang des Verfahrens (§ 157 InsO). Wurden keine entgegenstehenden Beschlüsse gefasst, hat der Insolvenzverwalter nach dem Berichtstermin das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwerten (§ 159 InsO). 1248 Der Prüfungstermin dient dazu, die zur Tabelle angemeldeten Forderungen ihrem Betrag und Rang nach zu überprüfen (§ 176 S. 1 InsO). Dabei können der Insolvenzverwalter, andere Gläubiger wie auch der Schuldner angemeldete Forderungen bestreiten (§ 176 S. 2 InsO). Denn Insolvenzverwalter und -gläubiger sind daran interessiert, dass sich die Masse vermehrt und nicht durch eine Vielzahl von Forderungen aufgezehrt wird. Bildlich gesprochen verlangt jede angemeldete Forderung „ein Stück vom Kuchen“. Haben der Insolvenzverwalter oder ein Insolvenzgläubiger eine Forderung bestritten, muss derjenige, der sie angemeldet hat, die Feststellung der Forderung gegen den Bestreitenden auf dem Klageweg betreiben (§§ 179 Abs. 1, 180 InsO), außer er hat einen vollstreckbaren Titel über diese For1245

6.3 Körperschaften

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derung (§ 179 Abs. 2 InsO). Wird einer Forderung im Prüftermin von Insolvenzverwalter oder Insolvenzschuldnern nicht widersprochen oder wird ein solcher Widerspruch beseitigt, gilt diese als festgestellt. Bestreitet demgegenüber der Schuldner eine angemeldete Forderung, wird dies vor allem nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens relevant (§ 201 Abs. 2 S. 1 InsO). Nach dem Prüfungstermin kann mit der Befriedigung der Gläubiger be- 1249 gonnen werden (§ 187 InsO). Die InsO kennt verschiedene Arten von Insolvenzgläubigern. Welcher Gläubigergruppe man angehört, ist für die Reihenfolge der Verteilung relevant: • Absonderungsberechtigte Gläubiger (§§  49 bis 52 InsO) haben an einzelnen Gegenständen der Insolvenzmasse besondere Rechte (z.  B.  Sicherungseigentum). Wird bspw. eine bewegliche Sache verwertet, an der ein Absonderungsrecht besteht, gebührt der Erlös hieraus, nach Abzug der Kosten für Feststellung und Verwertung, diesem Gläubiger zur Befriedigung seiner Forderung, §  170 Abs. 1 InsO. • Masseverbindlichkeiten sind aus der Insolvenzmasse vorweg zu berichtigen (§ 53 InsO). Masseverbindlichkeiten sind Kosten des Insolvenzverfahrens und die in § 55 InsO aufgezählten Verbindlichkeiten. Anschließend werden die Forderungen der Insolvenzgläubiger (Begriff: § 38 InsO) berichtigt. • Zuletzt werden Beträge – falls noch etwas von der Insolvenzmasse übrig ist – an die nachrangigen Insolvenzgläubiger verteilt (§ 39 InsO). Diese fallen mit ihren Forderungen meist aus und sollen diese auch nur zur Tabelle anmelden, wenn das Insolvenzgericht besonders hierzu auffordert (§ 174 Abs. 3 InsO). • Wurde die Forderung eines Insolvenzgläubigers bestritten, kann dieser dem Insolvenzverwalter nachweisen, dass er Klage auf Feststellung seiner Forderung erhoben hat. In diesem Fall wird bei der Verteilung der auf seine Forderung entfallende Betrag zurückbehalten, solange der Rechtsstreit anhängig ist (§  189 Abs. 1 und 2 InsO). Ist die Verwertung der Insolvenzmasse beendet, folgt die Schlussverteilung, 1250 wenn das Insolvenzgericht zustimmt (§  196 InsO). Mit dieser korrespondiert ein Schlusstermin (§ 197 InsO). Sobald die Schlussverteilung vollzogen ist, hebt das Gericht das Insolvenzver- 1251 fahren auf (§ 200 InsO). Ausgehend davon, dass die Zahlungsquoten, die die Gläubiger auf ihre Forderungen erhalten, niedrig sind (bei Insolvenzverfahren, die im Jahr 2010 eröffnet und bis Ende 2017 beendet wurden, betrug die Quote durchschnittlich 3,9 % der Forderung), erklärt sich, dass § 201 InsO gestattet, restliche Forderungen nun unbeschränkt gegen den Schuldner geltend zu machen. Hier zeigt sich die Bedeutung des Widerspruchs des Schuldners im Prüftermin: nur Forderungen, die im Prüftermin festgestellt wurden (§  178 InsO) und die der Schuldner nicht bestritten hat, können aus der Eintragung in die Tabelle wie ein vollstreckbares Urteil vollstreckt werden (§ 201 Abs. 2 S. 1 InsO). Nach Aufhebung des Verfahrens kann es immer noch vorkommen, dass weiteres 1252 Vermögen zu verteilen ist. Nach §  203 Abs.  1 Nr.  1 InsO können bspw. zurück-

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behaltene Beträge zur Verteilung frei werden (siehe § 189 Abs. 2 InsO) oder aus der Insolvenzmasse gezahlte Beträge zurückfließen (§ 203 Abs. 1 Nr. 2 InsO). In diesen Fällen ordnet das Insolvenzgericht eine Nachtragsverteilung an (§ 203 InsO). Beispiel

G1 hat eine Forderung in Höhe von 80.000 EUR gegen die X-GmbH, die durch Sicherungseigentum an drei Lieferwägen der GmbH gesichert ist. G2 hatte vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens der X-GmbH einen Multifunktionsdrucker zum Preis von 2000 EUR verkauft; ein Leistungsaustausch hat noch nicht stattgefunden. Der Insolvenzverwalter zeigt G2 an, dass der Vertrag erfüllt werden solle (§ 103 Abs. 1 InsO). G3 hat eine ungesicherte Forderung gegen die X-GmbH über 10.000 EUR.  Die zuständige Aufsichtsbehörde hatte außerdem vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen die X-GmbH wegen Verstößen gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) eine Geldbuße in Höhe von 40.000 EUR verhängt. Wenn der Insolvenzverwalter die drei Lieferwägen verwertet, darf sich G1 an dem Erlös hieraus bis zur Höhe seiner Forderung befriedigen, § 170 Abs. 1 S. 2 InsO. Das Sicherungseigentum gibt ihm ein Absonderungsrecht, §§ 50 Abs. 1, 51 Nr. 1 InsO. Reicht dieser Betrag nicht aus, um die gesamte Forderung zu erfüllen, kann G1 diesen Restbetrag als Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) gegen die X-GmbH geltend machen, § 52 S. 2 InsO. Die Forderung der G2 aus der Insolvenzmasse wird vorweg berichtigt, weil sie Massegläubigerin ist, §§ 53, 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Der Insolvenzverwalter hat von G2 Erfüllung des Kaufvertrages mit der X-GmbH verlangt; dies rechtfertigt, den Gegenleistungsanspruch der G2 (§ 433 Abs. 2 BGB) bevorzugt zu behandeln. G3 ist Insolvenzgläubiger i. S. d. § 38 InsO und kommt zum Zug, wenn Absonderungsberechtigte und Massegläubiger befriedigt sind. Die Geldbuße wegen Verstößen gegen die DSGVO wird gem. § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO nur nachrangig befriedigt, also wenn nach Verteilung an alle vorrangigen Gläubiger und ranghöheren Gläubiger nach § 39 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO noch etwas übrig ist. ◄

6.3.3 Aktiengesellschaft (AG) 1253

Die Aktiengesellschaft (AG) ist eine Kapitalgesellschaft, die – wie die GmbH – zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck durch eine oder mehrere Personen errichtet werden kann (§ 2 AktG) und die ihren Gläubigern nur mit dem Gesellschaftsvermögen haftet (§ 1 Abs. 1 S. 2 AktG). Die AG ist – wie die GmbH – eine juristische Person und eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit (§ 1 Abs. 1 S. 1 AktG); sie hat eigene Rechte und Pflichten, kann Eigentum und Rechte an Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden und haftet für unerlaubte Handlungen, die ihre Organe im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben begehen  nach § 31 BGB analog. Sie ist körperschaftlich strukturiert und gilt als Handelsgesellschaft, auch wenn sie kein Handelsgewerbe betreibt; sie ist Form-

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kaufmann gemäß §§ 3 Abs. 1 AktG, 6 Abs. 1 HGB. Die Mitgliedschaftsrechte der Gesellschafter (Aktionäre) folgen aus ihren Anteilen an dem in Aktien zerlegten Grundkapital (§§ 1 Abs. 2, 6 AktG), das einen Mindestbetrag von 50.000 EUR aufweisen muss (§ 7 AktG). Die AG ist im Aktiengesetz (AktG) geregelt. Je nach Verteilung der Aktien kann man verschiedene Typen von Aktiengesell- 1254 schaften unterscheiden: • die sog. majorisierten Gesellschaften, bei denen die Mehrheit der Aktien von einer kleinen Zahl von Personen (Mehrheitsaktionären)  – oftmals Familienmitgliedern  – gehalten wird; die steuernde Macht in der AG liegt also in den Händen weniger Aktionäre. • die sog. Publikumsgesellschaften, bei denen sich die Aktien in den Händen einer Vielzahl anonymer Aktionäre befinden, ohne dass diese die Gesellschaft beherrschen oder über besondere unternehmerische Kompetenz verfügen; die Lenkungsbefugnis liegt vielmehr beim Vorstand und dem Aufsichtsrat. Nicht selten besteht eine gewisse Abhängigkeit von Banken, da diese oftmals das Stimmrecht (Depotstimmrecht) für die Aktionäre ausüben. Die AG hat aus mehreren Gründen gerade in den vergangenen Jahren an Be- 1255 deutung gewonnen: Sie wird bis heute als die geeignetste Gesellschaftsform für Großunternehmen mit erheblichem Kapitalbedarf gesehen. Denn die Rechtsform der AG ermöglicht es, dass ein beträchtlicher Kapitalbedarf, der das Vermögen einer einzelnen Person oder Familie übersteigen würde, über den Verkauf von Geschäftsanteilen (Aktien) aufgebracht werden kann. Dies tritt insbesondere bei börsennotierten AG in den Vordergrund, also Gesellschaften, bei denen die Aktien zu einem Markt zugelassen sind, der von staatlich anerkannten Stellen geregelt und überwacht wird und für das breite Publikum zugänglich ist (§ 3 Abs. 2 AktG). Das Kapital wird dort durch eine Vielzahl von anonymen Kapitalanlegern aufgebracht, welche die handelbaren Aktien gegen eine Bareinlage übernehmen, ohne selbst unternehmerisch tätig werden zu wollen. Zugleich ist die Bindung des Aktionärs an die AG eine denkbar lose; der Aktionär kann seine Aktien jederzeit an jede beliebige Person veräußern. Zwischen den Aktionären selbst besteht keine rechtliche Verbindung, die besondere Pflichten begründen könnte. Aus Sicht der Aktionäre ist die AG deshalb interessant, da sich die Aktionäre an einer Unternehmung – gewinnbringend und ggf. auch nur auf Zeit  – beteiligen können, ohne einem unternehmerischen Risiko ausgesetzt zu sein. Ferner eignet sich die Struktur der AG im besonderen Maße für die Konzentration von Unternehmen (Kap. 7). Und selbst für Existenzgründer („start ups“) und mittelständische Unternehmen hat die AG an Bedeutung gewonnen, da die formellen Anforderungen an die Errichtung und Führung (Hauptversammlung und Arbeitnehmermitbestimmung) einer AG vom Gesetzgeber im Jahr 1994 durch das „Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktiengesetzes“ deutlich zurückgenommen wurden (z.  B.  Möglichkeit zur formwechselnden Umwandlung oder zur Gründung einer Ein-Personen-AG).

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6 Gesellschaftsrecht

6.3.3.1 Entstehung Die AG entsteht entweder durch einen Rechtsformwechsel in eine AG oder durch Neugründung. Dabei vollzieht sich die Neugründung – ebenso wie bei der GmbH – in mehreren Phasen, beginnend mit der Feststellung der Satzung bis zur Eintragung in das Handelsregister. Phase 1: Die Gründer streben gemeinsam die Errichtung einer Aktiengesellschaft an. Zu diesem Zeitpunkt sind die Gründer entweder als GbR oder als oHG einzustufen. Die Gesellschaft endet mit Abschluss des Gesellschaftsvertrags (Satzung) nach Maßgabe des § 23 AktG durch Zweckerreichung. Die Handelnden werden in dieser Vorgründungsgesellschaft wie GbR-Gesellschafter behandelt. Phase 2: Mit Feststellung der Satzung (§§ 2, 23, 28 AktG) durch notarielle Beurkundung übernehmen die Gründer alle Aktien, d.  h. sie  verpflichten sich, das Grundkapital vollständig aufzubringen (§  29 AktG), setzen die Organe ein (§  30 AktG) und erbringen nach § 36a AktG ihre versprochenen Leistungen. Mit notarieller Beurkundung der Satzung (§ 23 Abs. 1 AktG) bis zur Eintragung als Aktiengesellschaft ist sie ein Rechtsträger sui genesis, die sog. Vor-Aktiengesellschaft (= Vor-AG; AG i. Gr.). Die für die Vor-AG Handelnden, Vorstand und Aufsichtsrat haften Dritten gegenüber persönlich (§ 41 Abs. 1 S. 2 AktG; Handelndenhaftung). Gegenüber der AG, also im Innverhältnis, haften die an der Gründung Beteiligten nach Maßgabe der §§ 46 ff. AktG (z. B. auf Verlustübernahme). Phase 3: Mit vollzogener Eintragung in das Handelsregister entsteht die AG als juristische Person (§ 41 Abs. 1 AktG). Ab diesem Zeitpunkt haftet nur noch das Gesellschaftsvermögen der AG für alle Verbindlichkeiten.

6.3.3.1.1  Satzung (Gesellschaftsvertrag) Der oder die Gründer haben nach §§ 2, 28 AktG zunächst die Satzung der AG in notariell beurkundeter Form festzustellen (§ 23 Abs. 1 S. 1 AktG). Hierfür ist die Mitwirkung von einem oder mehreren Gründern erforderlich, die Aktien gegen Einlagen übernehmen (§ 2 AktG); die Einmann-Gründung ist ebenfalls zugelassen. Die Satzung kann zwar die Regelungen des AktG ergänzen, allerdings gilt der sog. Grundsatz der Satzungsstrenge, der besagt, dass die Satzung von Vorschriften des AktG nur abweichen darf, wenn dies das Gesetz ausdrücklich zulässt (§  23 Abs. 5 AktG). 1258 Für die Satzung ist gemäß §  23 Abs.  3 und 4 AktG ein Mindestinhalt vorgeschrieben: 1257

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• Firma, Sitz und Gegenstand des Unternehmens Die Firmenbezeichnung der AG (§ 4 AktG) wird in der Regel dem Gegenstand des Unternehmens entnommen. Sie muss den Zusatz „Aktiengesellschaft“ oder eine allgemein verständliche Abkürzung (z. B. „AG“) enthalten. Führt die AG den Namen eines bestehenden Handelsgeschäfts fort, so ist die Bezeichnung „Aktiengesellschaft“ anzufügen. Hinsichtlich des Sitzes (§  5 AktG) und des Gegenstandes des Unternehmens (§ 3 Abs. 1 AktG) gelten die Ausführungen zur GmbH entsprechend (Abschn. 6.3.2.1).

6.3 Körperschaften

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• Betrag des Grundkapitals (mindestens 50.000 EUR) 1260 Die AG verfügt über ein in Aktien zerlegtes Grundkapital (§ 1 Abs. 2 AktG). Das Grundkapital muss auf einen Nennbetrag in EUR lauten (§  6 AktG); der Mindestnennbetrag beläuft sich auf 50.000 EUR (§  7 AktG). Die Höhe des Grundkapitals ist dabei in der Satzung festzulegen (§  23 Abs.  3 Nr.  3 AktG). Spätere Erhöhungen oder Herabsetzungen sind möglich, bedürfen jedoch einer Satzungsänderung, für die ein Beschluss der Hauptversammlung mit qualifizierter Mehrheit (¾-Mehrheit) erforderlich ist (§ 182 Abs. 1 S. 1 AktG). Der Nennbetrag des Grundkapitals ist eine feste, von den Aktionären festgelegte rechnerische Größe, die vom effektiven Vermögen der AG scharf zu unterscheiden ist. Denn das Gesellschaftsvermögen kann sich ständig verändern; es wird sowohl durch geschäftliche Transaktionen als auch durch Marktschwankungen tangiert. Ebenso können Wertsteigerungen z.  B. des Firmengeländes oder Preissenkungen für eingelagerte Waren die Erhöhung bzw. Minderung des Gesellschaftsvermögens bewirken. Das Grundkapital verändert sich dagegen nicht, es weist immer die in der Satzung festgelegte Höhe aus. Es bezeichnet in der Summe den Kapitalbetrag, der in Aktien zerlegt bei der Gründung der AG von den Gründern und Aktionären erbracht werden muss (§§ 29, 36 Abs. 2 AktG).

Beispiel

Das Grundkapital beträgt 50.000 EUR; es ist in Aktien zum Nennbetrag von je 50 EUR zerlegt. Werden die Aktien zum Nennbetrag ausgegeben, dann verfügt die AG zu Beginn ihrer Geschäftstätigkeit über eine finanzielle Ausstattung in Höhe ihres Grundkapitals. Gemäß § 9 Abs. 2 AktG können die Aktien für einen höheren Betrag (etwa 60 EUR) ausgegeben werden (sog. Überpari-Emission); dann liegt das Startvermögen der AG über ihrem Grundkapital. Untersagt ist dagegen durch § 9 Abs. 1 AktG, die Aktien zu einem geringeren Betrag als den Nennwert (z. B. zu 40 EUR) auszugeben; das Verbot der Unterpari-Emission soll verhindern, dass die effektive Kapitalausstattung der AG hinter dem in der Satzung festgelegten Betrag des Grundkapitals zurückbleibt. ◄ Die wichtigste Funktion des Grundkapitals ist der Schutz der Gesellschafts- 1261 gläubiger. Denn gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 AktG haftet für Verbindlichkeiten der AG nur das Gesellschaftsvermögen; die Gläubiger können sich nicht an die Aktionäre halten. Deshalb zielt das AktG  – wie schon das GmbHG  – darauf ab, die Aufbringung und Erhaltung des Gesellschaftsvermögens wenigstens in Höhe des Grundkapitals zu sichern. Der in der Satzung festgelegte Nennbetrag hat also eine Art Garantiefunktion. Den Gründern und Aktionären ist daher auch verwehrt, die Gesellschaftsgläubiger dadurch zu schädigen, dass sie der AG die finanzielle Mindestausstattung vorenthalten oder diese nachträglich entziehen. Der Durchsetzung dieses Ziels gelten eine Reihe wichtiger Einzelbestimmungen im AktG,

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die die Kapitalaufbringung und -erhaltung sichern und von denen auch durch die Satzung nicht abgerückt werden darf: • Verbot der Unterpari-Emission (§ 9 Abs. 1 AktG), • Rechtsfähigkeit der AG erst mit Übernahme aller Aktien durch die Gründer, d. h. bei Anmeldung zur Eintragung der AG in das Handelsregister müssen alle Aktien von den Gründern übernommen sein (§§ 29, 36 Abs. 2 AktG), • die von den Gründeraktionären zum Erwerb der Aktien übernommenen Zahlungsverpflichtungen dürfen nicht erlassen (§ 66 AktG) und die geleisteten Zahlungen (Einlagen) dürfen nicht zurückgewährt werden (Verbot der Einlagenrückgewähr, § 57 AktG), • Grundsätzliches Verbot des Erwerbs eigener Aktien durch die AG (§ 71 AktG), • Pflicht zur Bildung gesetzlicher Rücklagen (§ 150 AktG), • Nachrang von Aktionärsdarlehen in der Insolvenz (§ 57 Abs. 1 S. 4 AktG i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO). • Nennbeträge und Zahl der Aktien Gemäß § 1 Abs. 2 AktG wird das Grundkapital in einzelne Anteile zerlegt, die als Aktien bezeichnet werden. Die Aktie ist also ein Bruchteil des Grundkapitals. Sie muss  – wie das Grundkapital selber  – auf eine feste Summe, den Aktien-­ Nennbetrag, festgelegt sein (§ 8 Abs. 2 AktG). Der Mindestaktiennennbetrag beläuft sich auf 1 EUR (§ 8 Abs. 2 S. 1 AktG); höhere Aktienbeträge müssen auf volle Euro lauten (§ 8 Abs. 2 S. 4 AktG). Der Nennbetrag einer Aktie allein besagt allerdings noch nichts über ihren wirklichen Wert. Das Verhältnis zum Grundkapital gibt Auskunft über den Umfang der von ihr repräsentierten Beteiligung (Verkörperung der Mitgliedschaftsrechte), während sich ihr „Handelswert“ am Markt- oder Börsenpreis (Kurs) der Aktie orientiert. Die „Aktie“ verkörpert die Mitgliedschaftsrechte des Aktionärs in der AG (§ 12 AktG), d. h. sie begründet die vermögens- und personenbezogenen Rechte und Pflichten der Aktionäre. Außerdem versteht man unter „Aktie“ auch die Aktienurkunde selbst. Das AktG geht davon aus, dass die Mitgliedschaft zur Erleichterung ihrer Übertragung in Urkunden verbrieft wird. Wo dies geschehen ist, kann die Mitgliedschaft grundsätzlich nur durch Vorlage der Aktienurkunde ausgeübt werden: die Aktie ist Wertpapier (§§  10 AktG, §  2 Abs.  1 Nr.  1 WpHG). Die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre hängen nicht davon ab, dass Aktienurkunden physisch ausgegeben worden sind – das ist nicht notwendig. Allerdings können die Aktionäre die Ausgabe solcher Urkunden verlangen, aber erst, wenn die AG in das Handelsregister eingetragen ist (§ 41 Abs. 4 AktG). 1263 Die Aktien können als Inhaber- oder als Namensaktien ausgegeben werden (§§  10 Abs.  1, 23 Abs.  3 Nr.  5 AktG), wobei Inhaberaktien die Standardverbriefung sind. Inhaberaktien bleiben anonym und können  – bei Einzelverbriefung – als Inhaberpapier wie bewegliche Sachen gemäß § 929 BGB durch Einigung und Übergabe übertragen werden. Wer das Eigentum an ihr erwirbt, erwirbt zugleich das in dem Wertpapier verkörperte Mitgliedschaftsrecht an der 1262

6.3 Körperschaften

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AG. Dabei legitimiert bereits der Besitz der Aktie zur Ausübung der in ihr verbrieften Rechte (§§ 793 Abs. 1, 1006 Abs. 1 S. 1 BGB), d. h. der Besitzer kann in der Hauptversammlung abstimmen und die Dividende beanspruchen, sofern ihm nicht das fehlende Eigentum nachgewiesen wird. Namensaktien werden unter Angabe des Namens, Geburtsdatums und der Adresse des Inhabers in das Aktienregister der Gesellschaft eingetragen (§§  67 Abs.  1 AktG, 239 Abs.  4 HGB). Sie sind keine Namens- (oder Rekta-)Papiere im Sinne der bekannten Einteilung des Wertpapierrechts, sondern es handelt sich um Orderpapiere, die durch Abtretung des verbrieften Rechts (§§  398  ff. BGB), durch Indossament und Übergabe (§  68 Abs.  1 AktG) oder nach depotrechtlichen Bestimmungen (§§ 18, 24 DepotG) übertragen werden kann. Der Übergang ist der AG unter Vorlage der Aktienurkunde mitzuteilen und von ihr im Aktienregister zu vermerken (§§ 67 Abs. 1, 68 Abs. 3 AktG). Letzteres ist wichtig, weil erst die Eintragung im Aktienregister den Aktionär zur Ausübung seiner Mitgliedsrechte legitimiert (§ 67 Abs. 2 S. 1 AktG). Von der Möglichkeit, Namensaktien auszustellen, wird in jüngerer Zeit häufiger Gebrauch gemacht. Nicht nur, weil die Namensaktie die Transparenz der Beteiligungen erhöht, sondern auch, um die Übertragung der Aktien an die Zustimmung der Gesellschaft zu binden (sog. Vinkulierung, § 68 Abs. 2 AktG), was nur bei Namensaktien möglich ist. Ferner müssen Aktien auf den Namen lauten, solange die Einlage noch nicht voll geleistet ist (§ 10 Abs. 2 AktG); schließlich muss die AG wissen, von wem sie den noch ausstehenden Betrag verlangen kann. Im Hinblick auf die Rechtsstellung des Aktionärs kann zwischen Stamm- 1264 und Vorzugsaktien unterschieden werden (§ 11 AktG). Stammaktien gewähren den Inhabern die gleichen Rechte (das ist die Regel), während Vorzugsaktien für ihren Inhaber bevorzugte Rechte bei der Verteilung der Dividende und des Liquidationserlöses verkörpern; sie können ausnahmsweise und entgegen des Grundsatzes „keine Aktie ohne Stimmrecht“ auch ohne Stimmrecht ausgegeben werden (§ 12 Abs. 1 S. 2 AktG). Überhaupt lassen sich weitere Rechte mit der Aktie verbinden (z.  B. besondere Verwaltungs- und Vermögensrechte, wie ­Vorzugsstimmrechte), so dass verschiedene Gattungen von Aktien entstehen können (§§ 179 Abs. 3, 182 Abs. 2, 222 Abs. 2 AktG). 6.3.3.1.2  Übernahme der Aktien Nach Feststellung der Satzung und notarieller Beurkundung ist es nach § 29 AktG 1265 erforderlich, dass die Gründer alle Aktien übernehmen. Das bedeutet nicht, dass die Einzahlung des Startkapitals bereits stattgefunden haben muss, vielmehr verpflichten sich die feststellenden Aktionäre (§  28 AktG) dazu, den Ausgabebetrag nunmehr für alle Aktien (§ 54 Abs. 1 AktG) als Einlage in das Gesellschaftsvermögen zu leisten, d. h. das Grundkapital aufzubringen. Mit erfolgter Aktienübernahme ist die Gesellschaft – zunächst als sog. Vor-AG – errichtet (§§ 29, 41 AktG). 6.3.3.1.3  Herstellen der Handlungsfähigkeit Im nächsten Schritt haben die Gründer für die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft 1266 zu sorgen, indem sie die (vorläufigen) Organe der AG bestellen. Sie haben den ers-

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ten Aufsichtsrat (dessen Mandat mit der ersten Hauptversammlung wieder endet, § 30 Abs. 3 AktG) und die Abschlussprüfer für das erste Geschäftsjahr zu bestellen (§  30 Abs.  1 AktG). Dafür ist wiederum notarielle Beurkundung vorgeschrieben (§  30 Abs.  1 S.  2 AktG); deshalb wird dieser Vorgang in der Praxis oftmals mit der Feststellung der Satzung verbunden. Der erste Aufsichtsrat hat die Aufgabe, den ersten Vorstand zu berufen (§ 30 Abs. 4 AktG).

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6.3.3.1.4  Erbringen der Leistungen Sodann sind die Einlagen, d. h. auf jede Aktie der eingeforderte Betrag an die Gesellschaft zu entrichten (§ 36 Abs. 2 S. 1 AktG). Sind Bareinlagen geschuldet, ist mindestens ein Viertel des geringsten Ausgabebetrages und bei Überpari-­Emission zusätzlich der Mehrbetrag (§ 36a Abs. 1 Alt. 2 AktG) zur freien Verfügung des Vorstands einzuzahlen (§§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1, 54 Abs. 2 AktG); § 54 Abs. 3 AktG regelt den Zahlungsmodus. Sacheinlagen (§ 27 Abs. 1 AktG; z. B. Fahrzeuge, Maschinen, Grundstücke) müssen vollständig geleistet und übertragen worden sein (§§  36 Abs.  2, 36a Abs.  2 AktG). Anschließend haben die Gründer einen Gründungsbericht zu erstatten (§  32 Abs.  1 AktG). Im Gründungsbericht sind insbesondere Angaben über die Angemessenheit vereinbarter Sachleistungen (§ 32 Abs. 2 AktG) zu machen. Ihm folgt die Gründungsprüfung durch den ersten Vorstand und den ersten Aufsichtsrat (§ 33 Abs. 1 AktG); gegebenenfalls auch durch weitere Gründungsprüfer, wenn bspw. eine Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen stattgefunden hat (§ 33 Abs. 2 Nr. 4 AktG). Sie haben insbesondere darauf zu achten, dass keine Überbewertung der Sacheinlagen erfolgt ist (§  34 Abs. 1 Nr. 2 AktG). Aus diesem Grund ist die qualifizierte (Sach-)Gründung auch umständlicher und teurer als die einfache (Bar-)Gründung. 6.3.3.1.5  Eintragung ins Handelsregister Nunmehr kann die AG – durch alle Gründer, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder vertreten – zum Handelsregister angemeldet werden (§§ 36 Abs. 1, 37 ff. AktG); alle den Gründungsprozess dokumentierenden Urkunden sind b­ eizufügen, so dass das Registergericht die ordnungsgemäße Errichtung und Anmeldung überprüfen kann. Stellt das Registergericht fest, dass die Gesellschaft ordnungsgemäß errichtet und angemeldet worden ist, wird die Gesellschaft mit den in §  39 AktG vorgeschriebenen Angaben in das Handelsregister eingetragen. Diese Eintragung hat gemäß § 41 Abs. 1 S. 1 AktG konstitutive Wirkung, mit ihr entsteht die AG als juristische Person. Wird die AG bereits in der Gründungsphase durch eine Pflichtverletzung der Gründer in irgendeiner Form geschädigt, so kommt es zur sogenannten Gründerhaftung, die in den §§ 46–51 AktG geregelt ist. 6.3.3.1.6  Qualifizierte Gründung Bestimmte Abreden, die unter dem wenig aussagefähigen Begriff der „qualifizierten Gründung“ zusammengefasst werden, sind für die künftigen Aktionäre und Gläubiger deshalb problematisch, weil sie schwer überschaubare Unsicherheiten schaffen. Deshalb sieht das AktG in den §§ 26 und 27 vor, dass sie ausdrücklich in die Satzung aufgenommen werden, um sie den übrigen Aktionären und den

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Gläubigern zur Kenntnis zu bringen. Diese besonderen Fälle, die eine sog. „qualifizierte Gründung“ (= Aufnahme in die Satzung) bedingen, sind: • Einem Aktionär oder einem Dritten werden Sondervorteile eingeräumt (§  26 Abs. 1 AktG; z. B. die AG verpflichtet sich zur Abnahme von Waren oder Dienstleistungen). • Die AG soll mit dem Gründungsaufwand belastet werden (§ 26 Abs. 2 AktG). • Die Aktionäre erbringen Einlagen, die nicht in Geld, sondern in Sachwerten bestehen (Sacheinlagen, § 27 Abs. 1 AktG; zum Begriff der Sacheinlage siehe § 27 Abs. 2 AktG; z. B. urheberrechtliche Lizenz an einer Operette); oder die Gesellschaft vereinbart mit den Aktionären, von ihnen Anlagen oder andere Vermögensgegenstände gegen Entgelt zu übernehmen (Sachübernahmen, §  27 Abs. 1 Var. 2 AktG; z. B. als praktisch wichtigster Fall: die Einbringung eines Unternehmens). 6.3.3.1.7  Haftung für Gründungsfehler Zur Durchsetzung der Gründungsvorschriften sieht das AktG Straf- (§§  399  ff. 1270 AktG) und Haftungstatbestände (§§ 46–51 AktG) vor. Schadensersatz kann nach diesen Bestimmungen zunächst die AG verlangen. Gemäß § 147 Abs. 1 AktG muss von der Hauptversammlung mit einfacher Stimmmehrheit (Mehrheit der abgegebenen Stimmen, § 133 Abs. 1 AktG) beschlossen werden, diese Ansprüche geltend zu machen. Nach §  148 AktG hat außerdem eine Aktionärsminderheit die Möglichkeit, die in § 147 Abs. 1 AktG bezeichneten Ansprüche der Gesellschaft im eigenen Namen geltend zu machen. Hierfür müssen sie Zulassung beim Landgericht (§ 148 Abs. 2 AktG) beantragen. In Sachsen entscheidet z. B. über den Zulassungsantrag nach §§  148 Abs.  2 S.  3 AktG, 10 Nr.  10 Sächsische Justizorganisationsverordnung das Landgericht Leipzig. Der Zulassungsantrag muss von Aktionären gestellt werden, deren Anteile im Zeitpunkt des Antrags ein Prozent des Grundkapitals oder einen anteiligen Betrag von 100.000 EUR erreichen. Die Klage wird zugelassen, wenn die Anforderungen nach § 148 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 AktG erfüllt sind. War dieser Antrag erfolgreich, müssen die entsprechenden Aktionäre binnen drei Monaten nach Rechtskraft des Zulassungsbeschlusses im eigenen Namen Leistung an die Gesellschaft einklagen, sofern die Gesellschaft nach weiterer Aufforderung und Fristsetzung nicht mittlerweile selbst Klage erhoben hat (§ 148 Abs. 4 AktG). Der Gesellschaft haften nach den Bestimmungen des Aktienrechts: 1271 • Gründer wegen falscher Angaben (§ 46 Abs. 1 AktG), Schädigung der Gesellschaft insbesondere durch Sacheinlagen und Gründungsaufwand (§  46 Abs.  2 AktG) und wegen Ausfalls eines Aktionärs bei Wissen um dessen Zahlungs- oder Leistungsunfähigkeit (§ 46 Abs. 4 AktG); • Hintermänner (Strohmänner) der Gründer gemäß §  46 Abs.  5 AktG wie diese selber; • „Gründergenossen“, die durch Regelverstöße begünstigt werden oder an der Schädigung der AG mitwirken (§ 47 Nr. 1 und 2 AktG);

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• Emittenten (Emissionsbanken) für schädigende Einlagen und für unrichtige oder unvollständige Angaben beim Vertrieb der Aktien (§ 47 Nr. 3 AktG); • Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrates für die Verletzung der ihnen obliegenden Sorgfaltspflicht (§ 48 AktG); • Gründungsprüfer nach den für die Abschlussprüfer maßgeblichen Bestimmungen (§§ 49 AktG, 323 HGB).

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6.3.3.2 Organe der AG Die AG ist körperschaftlich strukturiert, sie handelt als juristische Person durch ihre zwingend vorgegebenen Organe: • Vorstand, • Aufsichtsrat, • Hauptversammlung.

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6.3.3.2.1 Vorstand Der Vorstand ist eigenverantwortliches Leistungsorgan der AG (§  76 Abs.  1 AktG). Seine Mitglieder sind in der Satzung festgelegt. Er hat die Aufgabe, die Geschäfte der AG zu führen und sie nach außen zu vertreten (§§ 77, 78 AktG). Die Vertretungsbefugnis des Vorstands ist im Außenverhältnis unbeschränkt und unbeschränkbar (§ 82 Abs. 1 AktG); sie kann nur im Innenverhältnis beschränkt werden (§ 82 Abs. 2 AktG). Der Vorstand besteht aus einer oder mehreren natürlichen, unbeschränkt geschäftsfähigen Personen (§ 76 Abs. 3 AktG). Wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, sind sämtliche Vorstandsmitglieder gemeinschaftlich zur Geschäftsführung und zur Vertretung der AG berufen (§§  77 Abs.  1, 78 Abs.  2 AktG; Gesamtgeschäftsführung und -vertretung). Der Aufsichtsrat kann bei mehreren Vorständen einen Vorstandsvorsitzenden ernennen (§ 84 Abs. 2 AktG). Die Vorstandsmitglieder werden, soweit die persönlichen Voraussetzungen gem. § 76 Abs. 3 AktG vorliegen, vom Aufsichtsrat auf höchstens fünf Jahre ­bestellt (§ 84 Abs. 1 S. 1 AktG) und im Handelsregister eingetragen. Die Bestellung kann beliebig oft wiederholt werden (§ 84 Abs. 1, Satz 2–4 AktG). Die Bestellung zum Vorstandsmitglied, wie auch die Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden kann jederzeit aus wichtigem Grund widerrufen werden (§  84 Abs.  4 AktG). Wichtige Gründe liegen vor, wenn das Vertrauensverhältnis dermaßen erschüttert ist, das ein Zusammenwirken nicht mehr möglich erscheint (z.  B. bei grober und wiederholter Pflichtverletzung, Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung aus sachlichen Gründen) oder Umstände eintreten, die eine ordnungsgemäße Geschäftsführung ausschließen (z. B. Alkoholproblem). Die Bestellung zum Organ der AktG ist vom Angestelltenverhältnis zu unterscheiden. Der Anstellungsvertrag beruht auf einem zwischen dem Aufsichtsrat (§  112 AktG) und dem einzelnen Vorstandsmitglied abgeschlossenen Dienstvertrag (§  611 BGB) und richtet sich allein nach dienstrechtlichen Vorschriften. In ihm werden neben gegenseitigen Rechten und Pflichten insbesondere die Vergütung und Zulagen (z. B. Tantiemen, Firmenfahrzeug) festgelegt, sowie alle ar-

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beits- und sozialrechtlichen Aspekte geregelt (z.  B.  Urlaubsanspruch, Berufsunfähigkeit, Altersversorgung), da der Vorstand als Teil der Unternehmensleitung keine Ansprüche aus arbeitsschutz- und sozialrechtlichen Bestimmungen herleiten kann. Zu den wesentlichen Leitungsaufgaben und -pflichten des Vorstands gehören 1278 ganz allgemein die Geschäftsführung (§  77 AktG) und die Vertretung (§  78 AktG), wobei das AktG weitere konkrete Aufgaben- und Pflichtenbereiche benennt, u. a. • • • • • • • •

Berichterstattung an den Aufsichtsrat (§ 90 AktG), Buchführung (§ 91 AktG), Einrichtung von Frühwarnsystemen und Compliance (§ 91 Abs. 2 AktG), Einberufen der Hauptversammlung (§§ 92 Abs. 1, 121 Abs. 2, 175 Abs. 1 AktG), Erstellen des Jahresabschlusses (§§ 264, 242 HGB,170 AktG), Sorgfaltspflicht (§ 93 Abs. 1 AktG), Schadensersatzpflicht (§ 93 Abs. 2 und 3 AktG), Pflichten bei Verlusten, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit (§ 92 AktG), insbesondere Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 1 S. 1 InsO).

Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Aufgabenerfüllung die Sorgfalt eines 1279 ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG). Über vertrauliche Angaben sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der AG, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren (§ 93 Abs. 1 S. 3 AktG). Verletzen sie ihre Pflichten (z.  B.  Weitergabe von Betriebsgeheimnissen; Auszahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife), sind sie der Gesellschaft – ggf. als Gesamtschuldner – zum Schadensersatz verpflichtet (§  93 Abs.  2–4 AktG). Sie können sich von dem Vorwurf der Pflichtverletzung befreien, wenn sie plausibel machen, dass sie bei ihrer unternehmerischen Entscheidung auf der Grundlage angemessener Information und zum Wohl der Gesellschaft gehandelt haben (§ 93 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 2 AktG, sog. Business Judgement Rule). Der Grundgedanke hinter der Business Judgement Rule ist der, dass unternehmerische Entscheidungen immer auch mit Risiken verbunden sind. Würde es die Rechtsordnung verbieten, Risiken einzugehen, die (im Falle ihres Eintretens) zu einem Schaden für die Gesellschaft und entsprechenden Ersatzansprüchen gegen die Entscheidungsträger führen, würde sie im Prinzip unternehmerische Entscheidungen verbieten, da niemand mehr risikogeneigt handeln würde. Umgekehrt sollen sich die Gesellschaftsorgane in einem Schadensfall aber auch nicht einfach mit dem Hinweis auf ein gewissermaßen schicksalhaft eingetretenes Risiko exkulpieren können. Dieses Spannungsverhältnis löst nun die Business Judgement Rule auf, indem sie den Organen eines Unternehmens bei ihren unternehmerischen Entscheidungen ein freies (nicht „haftungsbedrohtes“) Ermessen zubilligt, sofern diese Entscheidung unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen, die in § 93 Abs.  1 S.  2 AktG benannt sind, getroffen wurde. Es muss sich um eine unternehmerische Entscheidung gehandelt haben, die zum Wohl der Gesellschaft getroffen wurde, keine Sonderinteressen bzw. sachfremde Interessen verfolgte und auf

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der Basis angemessener Informationen sowie in gutem Glauben getroffen wurde. Liegen diese fünf Voraussetzungen kumulativ vor, gilt das Handeln des Geschäftsleiters als rechtmäßig, wobei die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen das Organmitglied trägt (§ 93 Abs. 2 S. 2 AktG). 1280 Der Vorstand unterliegt außerdem einem Wettbewerbsverbot (§  88 Abs.  1 AktG), welches im Falle eines Verstoßes Schadensersatzansprüche der Gesellschaft oder die Abtretung der Vergütungsansprüche begründet (§ 88 Abs. 2 AktG). 1281 Sofern der Vorstand pflichtwidrig die Eröffnung des Insolvenzverfahrens verschleppt (sog. Insolvenzverschleppung), haftet er nicht nur der AG gegenüber aus § 93 Abs. 2 AktG, sondern hat auch den Gesellschaftsgläubigern Ersatz zu leisten (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO oder §§ 823, 826 BGB). Zudem macht er sich strafbar (§ 15a Abs. 4 InsO). 1282 Schädigt ein Vorstandsmitglied in Ausübung seiner Tätigkeit einen Dritten (z.  B. der Vorstand verletzt während einer Fahrzeugpräsentation einen Hauptversammlungsteilnehmer), dann muss die AG dafür einstehen (§ 31 BGB analog). Beispiel

Infolge einer durch Bestechung verursachten Fehlentscheidung des Vorstandes verliert die X-AG bei einem Investitionsprojekt 2 Mio. EUR. Hier kann die AG, vertreten durch den Aufsichtsrat, der zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen ihre Vorstandsmitglieder berufen ist, Ersatz des verursachten Schadens von den Vorstandsmitgliedern als Gesamtschuldner verlangen; eine Entlastung auf Basis der Business Judgement Rule ist hier ausgeschlossen (§ 93 Abs. 2 AktG). Der Aufsichtsrat kann zudem das Vorstandsmitglied aus wichtigem Grund  – Korruption und Bestechlichkeit sind grobe Pflichtverletzungen – abberufen (§ 84 Abs. 4 AktG). ◄ 1283

6.3.3.2.2 Aufsichtsrat Der Aufsichtsrat ist das Kontrollorgan der AG. Seine wichtigste Aufgabe ist die Bestellung, Überwachung und  – erforderlichenfalls  – Abberufung des Vorstands (§§  84 Abs.  1 und 4, 111 Abs.  1 und 2 AktG). Zur Kontrolle und Überwachung stehen ihm umfassende Einsichts- und Prüfrechte zu (§§ 90, 111 Abs. 2 AktG). Daneben begleitet er die Unternehmensführung beratend und vertritt die Gesellschaft gegenüber dem Vorstand gerichtlich und außergerichtlich (§ 112 AktG). Die Aufgaben und Pflichten, die das AktG dem Aufsichtsrat zuweist (weitere können durch Satzung bestimmt werden), sind: • Bestellung und Abberufung des Vorstandes (§ 84 AktG); • Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands (§ 111 AktG) verbunden mit weitreichenden Informations-, Einsichts- und Prüfungsrechten; • Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand (§ 112 AktG); • Einberufung der Hauptversammlung (§ 111 Abs. 3 AktG); • Prüfung und Feststellung des Jahresabschlusses und des Gewinnverwendungsvorschlages (§§ 170, 171, 172 AktG); • Vertretung der AG im Anfechtungs- oder Nichtigkeitsprozess, ggf. gemeinsam mit dem Vorstand (§§ 246 Abs. 2, 249 Abs. 1 AktG).

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Der Aufsichtsrat besteht aus mindestens drei Mitgliedern (§ 95 S. 1 AktG). Die 1284 Anzahl der Mitglieder kann durch die Satzung festgelegt werden, muss dann allerdings durch drei teilbar sein, wobei sich die Höchstanzahl der Mitglieder an der Höhe des Grundkapitals orientiert (§ 95 S. 4 AktG). Die Hauptversammlung bestimmt die Aufsichtsratsmitglieder (§ 101 Abs. 1 1285 AktG). Dabei sind mitbestimmungsrechtliche Regelungen hinsichtlich der Beteiligung von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat zwingend zu beachten: • Betriebe unter 500 Arbeitnehmern: ausschließlich Vertreter der Anteilseigner; • Betriebe mit 500  – 2000 Arbeitnehmern: 2/3 Anteilseigner und 1/3 Arbeitnehmervertreter (§§ 4 Abs. 1, 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 DrittelbG); • Betriebe über 2000 Arbeitnehmer: ½ Anteilseigner und ½ Arbeitnehmervertreter (§§ 7, 1 Abs. 1 MitbestG). Die Mitglieder des Aufsichtsrats werden von der Hauptversammlung (Anteils- 1286 eigner) und ggf. nach mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften von den Arbeitnehmern (Arbeitnehmervertreter) auf höchstens vier Jahre gewählt (§§ 101 Abs. 1, 102 Abs. 1 AktG.). Das Geschäftsjahr in dem die Amtszeit beginnt, wird allerdings nicht mitgerechnet § 102 Abs. 1 S. 2 AktG, so dass die Höchstdauer der Amtszeit in der Regel bei fünf Jahren liegt. Aufgrund der etwas unklaren gesetzlichen Regel wird die Amtszeit zumeist in der Satzung festgelegt. Ebenso finden sich dort Regelungen, die bestimmten Aktionären oder den jeweiligen Inhabern bestimmter Aktien das Recht einräumen, Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden (§ 101 Abs. 2 AktG). In den Aufsichtsrat wählbar sind nur natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige 1287 Personen (§ 100 Abs. 1 S. 1 AktG), die zudem den folgenden Anforderungen genügen müssen: • sie dürfen nicht Mitglied des Vorstandes sein (§ 105 Abs. 1 AktG); • sie dürfen nicht gesetzliche Vertreter (Vorstandsmitglied, Geschäftsführer) eines von der AG abhängigen Unternehmens sein (§ 100 Abs. 2 Nr. 2 AktG), weil sie in dieser Funktion vom Vorstand der herrschenden AG abhängig und deshalb kaum zu einer wirksamen Kontrolle in der Lage sein würden; • sie dürfen nicht gesetzlicher Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft sein, deren Aufsichtsratsmitglied dem Vorstand der AG angehört (§ 100 Abs. 2 Nr. 3 AktG). Durch dieses Verbot der Überkreuzverflechtung soll verhindert werden, dass die dem Aufsichtsrat obliegende Überwachung durch gegenseitige Rücksichtnahme beeinträchtigt wird. • Sie dürfen nicht bereits Mitglied in zehn anderen Aufsichtsräten sein (§  100 Abs.  2 Nr.  1 AktG). Dadurch soll erreicht werden, dass jedes übernommene Mandat mit der erforderlichen Sorgfalt wahrgenommen werden kann. Der Aufsichtsrat wählt einen Aufsichtsratsvorsitzenden und mindestens einen 1288 Stellvertreter (§  107 AktG) und entscheidet in allen Angelegenheiten durch förmlichen, gemäß §  107 Abs.  2 AktG zu protokollierenden Beschluss (§  108 Abs. 1 AktG).

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Der Aufsichtsrat börsennotierter Gesellschaften muss zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten (§ 110 Abs. 3 S. 1 AktG). Bei nichtbörsennotierten Gesellschaften kann der Aufsichtsrat auch beschließen, nur eine Sitzung pro Kalenderhalbjahr abzuhalten (§ 110 Abs. 3 S. 2 AktG). Allerdings kann auch jedes Mitglied oder der Vorstand jederzeit eine Einberufung erzwingen, indem er diese vom Aufsichtsratsvorsitzenden unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangt. Kommt der Vorsitzende diesem Verlangen nicht nach, kann das Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand den Aufsichtsrat selbst einberufen (Selbstvornahme, § 110 Abs. 1 und 2 AktG). Die Satzung oder die Geschäftsordnung können weitere Einzelheiten, bezogen auf die innere Organisation der AG, festlegen. 1290 Die von der Hauptversammlung als Vertreter der Anteilseigner gewählten Aufsichtsratsmitglieder können jederzeit von diesen abberufen werden; mangels abweichender Vereinbarung in der Satzung bedarf der Beschluss jedoch einer ¾-Mehrheit (§ 103 Abs. 1 AktG). 1291 Jedes Mitglied des Aufsichtsrates ist der AG zur sorgfältigen und gewissenhaften Erfüllung der übertragenen Aufgaben verpflichtet und haftet bei Pflichtverletzung auf Schadensersatz (§§ 116, 93 Abs. 2 AktG). 1289

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6.3.3.2.3 Hauptversammlung Die Hauptversammlung ist das Organ der AG, in dem die Anteilseigner (Aktionäre) ihre Rechte in Angelegenheiten der Gesellschaft ausüben (§ 118 Abs. 1 AktG) und dabei die grundlegenden Entscheidungen im gesetzlich oder satzungsmäßig zugewiesenen Zuständigkeitsbereich treffen. Hierzu gehören nach §  119 Abs.  1 AktG insbesondere • Bestellung und Abberufung der Aktionärsvertreter im Aufsichtsrat (§§  101 Abs. 1, 103 Abs. 1 AktG), • Verwendung des Jahresgewinns (§ 174 AktG), • Entlastung des Vorstands und Aufsichtsrats (§ 120 AktG), • Bestellung der Abschlussprüfer (§ 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG) • Satzungsänderungen (§ 179 AktG), • Maßnahmen zur Kapitalbeschaffung und -herabsetzung (§ 182 ff. AktG), • Auflösung der Gesellschaft (§ 262 Nr. 2 AktG). Die Rechtsprechung (BGH NJW 2004, 1860 und BGH ZIP 2004, 1001 („Gelatine I und II“); BGH NJW 1982, 1703 („Holzmüller“) hat zudem ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung anerkannt. Nach den Leitsätzen der sog. „Gelatine“-Entscheidung kommen solche ungeschriebenen Mitwirkungsbefugnisse in Betracht, „wenn eine von dem Vorstand in Aussicht genommene Umstrukturierung der Gesellschaft an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche alleine durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können.“ Insofern sind Mitwirkungsbefugnisse gegeben, wenn schwerwiegende Maßnahmen im Raume stehen, die die Existenz oder die Grundlagen der AG anbetreffen und die in erheblichem Maße in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und deren Vermögens-

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interesse eingreifen. Vor solchen Entscheidungen muss die Hauptversammlung befragt werden. Über Fragen der Geschäftsführung kann die Hauptversammlung ansonsten nur entscheiden, wenn der Vorstand es ausdrücklich verlangt (§ 119 Abs. 2 AktG). Erbittet der Vorstand allerdings eine solche Empfehlung von der Hauptversammlung und nimmt anschließend eine Handlung in Anlehnung an diese Empfehlung vor, scheidet eine Ersatzpflicht der Vorstandsmitglieder gegenüber der AG bezogen auf diese Handlung aus (§ 93 Abs. 4 S. 1 AktG). Jeder Aktionär hat das Recht, an der Hauptversammlung mit seinem Stimmrecht aktiv teilzunehmen (§§ 12, 118 AktG). Dieses Mitgliedschaftsrecht ist unentziehbar und schließt das Recht ein, das Wort zu ergreifen, Anträge zur Tagesordnung und Fragen zu stellen, das Stimmrecht auszuüben und gegen Beschlüsse der Versammlung Widerspruch zu Protokoll zu erklären. Die Satzung kann die Teilnahme an weitere Bedingungen knüpfen (z. B. dass der Aktionär seine Aktien rechtzeitig bei einer Bank hinterlegt und sich zur Hauptversammlung anmeldet). Die ordentliche Hauptversammlung muss in den ersten acht Monaten eines jeden Geschäftsjahres stattfinden, um den Jahresabschluss entgegenzunehmen, über die Verwendung des Bilanzgewinns zu beschließen und die Organe zu entlasten (§§  120 Abs.  1, 175 Abs.  1 AktG). Außerdem kann sie in anderen durch Gesetz oder Satzung bestimmten Fällen  – z.  B. auf Verlangen einer Aktionärsminderheit (Anteil insgesamt fünf Prozent des Grundkapitals, §  122 Abs. 1 S. 1 AktG) – „außerordentlich“ einberufen werden. Die Einberufung erfolgt durch den Vorstand (§ 121 Abs. 2 AktG), ersatzweise durch den Aufsichtsrat (§ 111 Abs. 3 AktG) mit einer Frist von mindestens 30 Tagen (§ 123 Abs. 1 AktG). Dabei ist die Tagesordnung nebst Vorschlägen zur Beschlussfassung bekannt zu geben. Besondere Vorschriften stellen sicher, dass die Aktionäre, die sich durch Banken oder Aktionärsvereinigungen bei der Hauptversammlung vertreten lassen, hinreichend unterrichtet werden, und zwar auch von Gegenanträgen und Wahlvorschlägen anderer Aktionäre (§§  125 bis 127 AktG). Verstöße bei der Einberufung können zur Nichtigkeit der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse führen. Wer die Versammlung leitet, ergibt sich aus der Satzung; in der Regel ist es der Aufsichtsratsvorsitzende oder sein Stellvertreter. Der Versammlungsleiter hat für einen geordneten Ablauf der Hauptversammlung zu sorgen und die Beschlussfassung zu den Tagesordnungspunkten, die zuvor auch elektronisch eingereicht werden können, in der von ihm bestimmten Reihenfolge herbeizuführen. Er hat die Befugnis, im Interesse eines ordnungsgemäßen Ablaufs der Hauptversammlung, die Rechte der Aktionäre zu beschränken (z.  B. durch Verkürzung der Redezeit, Wortentzug bis hin zum Ausschluss von der Hauptversammlung, bei schwerwiegenden Verstößen), wobei stets das Spannungsverhältnis zum Auskunftsrecht des Aktionärs (§  131 Abs.  2 AktG) zu beachten ist (ultima-ratio der auskunftsbeschränkenden Maßnahmen). Ein Aktionär, der vom Versammlungsleiter zu Unrecht ausgeschlossen wurde, kann die in seiner Abwesenheit gefassten Beschlüsse anfechten, ohne vorher Widerspruch zu Protokoll erklärt zu haben. Das Gesetz gewährt den Aktionären ein umfassendes Auskunftsrecht, das die allgemeinen Vorschriften über die zu veröffentlichende Rechnungslegung und über

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die Mitteilungspflichten der AG ergänzt (§§ 131, 132 AktG). Jeder Aktionär – ganz gleich, wie groß sein Aktienbesitz ist – kann in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der AG verlangen, soweit diese Auskunft zur sachgemäßen Beurteilung eines Tagesordnungspunktes erforderlich ist. Die Auskunft muss den Grundsätzen gewissenhafter und getreuer Rechenschaft entsprechen. Der Vorstand darf sie nach Maßgabe des §  131 Abs.  3 Nr.  1  – Nr.  7 AktG verweigern, z. B. soweit ihre Erteilung nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung geeignet ist, der Gesellschaft einen nicht unerheblichen Nachteil zuzufügen (Nr. 1). Um dem Auskunftsverlangen des Aktionärs genügend Nachdruck zu verleihen, ist ein besonderes gerichtliches Verfahren vorgesehen, in dem darüber entschieden wird, ob der Vorstand eine verlangte Auskunft geben muss oder nicht (§ 132 AktG). 1298 Die Hauptversammlung entscheidet durch Beschluss, in der Regel mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (einfache Stimmenmehrheit, § 133 Abs. 1 AktG), soweit nicht das Gesetz oder die Satzung andere Mehrheitsverhältnisse vorschreiben. Mit einfacher Mehrheit wird z.  B. über die Verwendung des Gewinns beschlossen; dagegen bedürfen grundlegende Modifikationen des Gefüges der AG, wie etwa Änderung der Satzung (§ 179 Abs. 2 AktG), des Grundkapitals (z. B. § 182 Abs. 1 AktG) oder Auflösung der AG (§ 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG) einer Mehrheit von ¾ des Grundkapitals. Das Stimmrecht wird innerhalb der Hauptversammlung von den Aktionären nach Aktiennennbeträgen, bei Stückaktien nach deren Zahl ausgeübt (§ 134 Abs. 1 S.  1 AktG). Der Aktionär braucht sein Stimmrecht dabei nicht selbst auszuüben, sondern kann es von einem Bevollmächtigten mit Vollmacht in Textform (§§ 134 Abs. 3 S. 1 und 3 AktG, 126b BGB) ausüben lassen. Die Vollmacht ist der AG vorzulegen und bleibt auch in deren Verwahrung. Die praktisch wichtigste Form der Stimmrechtsausübung durch Dritte ist die der Kreditinstitute für Aktionäre, deren Aktien sie verwahren (Bankenstimmrecht, auch Depot- oder Vollmachtsstimmrecht genannt). Das Bankenstimmrecht ermöglicht, dass auch Kleinaktionäre regelmäßig in den Hauptversammlungen vertreten sind und mitbestimmen. Das Aktiengesetz schreibt im Einzelnen vor, wie die Banken das Stimmrecht ausüben dürfen (§ 135 AktG), d. h. unter welchen Voraussetzungen sie Weisungen ihres Kunden einholen müssen, wann sie von diesen Weisungen abweichen dürfen und wie sie sich verhalten müssen, wenn sie keine Anweisungen erhalten. Außerdem müssen sie die Mitteilungen der Gesellschaft an alle Depotkunden weitergeben. 1299 Über die Hauptversammlung wird eine notarielle Niederschrift (Protokoll) gefertigt, in der alle Beschlüsse und Minderheitsbegehren zu beurkunden sind (§ 130 Abs. 1 AktG). Nicht beurkundete Beschlüsse sind gemäß § 241 Nr. 2 AktG nichtig. Ausnahmen gelten für nichtbörsennotierte Gesellschaften. Hier genügt auch eine vom Aufsichtsratsvorsitzenden zu unterzeichnende Niederschrift, sofern keine Beschlüsse gefasst werden, die eine qualifizierte Mehrheit erfordern (§ 130 Abs. 1 S. 3 AktG). 1300 Wenn ein Beschluss der Hauptversammlung unter besonders schweren, im Gesetz benannten Mängeln leidet (§  241 Nr.  1  – Nr.  6 AktG), ist er nichtig. Die Nichtigkeit kann von Aktionären, dem Vorstand bzw. einem Mitglied sowie Aufsichtsratsmitgliedern im Wege der Klage geltend gemacht werden, § 249 Abs. 1 S. 1 AktG. Außerhalb des Klageweges besteht ferner die Möglichkeit der Nichtigkeits-

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einrede gegen Ansprüche, die aus dem Beschluss folgen (§ 249 Abs. 1 S. 2 AktG). Beschlüsse der Hauptversammlung, die das Gesetz oder die Satzung verletzen, ohne dass diese Verletzung einen Nichtigkeitsgrund darstellt, können binnen eines Monats (§ 246 Abs. 1 AktG) von Aktionären nach § 245 Nr. 1 bis 3 AktG, Vorstand (Nr.  4) und Mitgliedern des Vorstands oder Aufsichtsrates unter den Voraussetzungen des § 245 Nr. 5 AktG durch Klage angefochten werden (§§ 243 Abs. 1, 246, 251, 254, 255 AktG). Das Anfechtungsrecht des in der Hauptversammlung erschienenen Aktionärs setzt allerdings voraus, dass er in der Versammlung gegen den Beschluss seinen Widerspruch erklärt hat und diesen hat protokollieren lassen (§ 245 Nr. 1 AktG am Ende). Die Anfechtungsklage darf nicht rechtsmissbräuchlich erhoben werden. Beispiel

In der Hauptversammlung der X-AG wurde ein Beschluss gefasst, der den Regelungen in der Satzung entgegensteht. Das stört keinen, bis auf den Aktionär A. Dieser erhebt Anfechtungsklage. Während des Verfahrens räumt er gegenüber der AG ein, dass er gegen eine geringe Sonderzahlung bereit wäre, sich das Anfechtungsrecht „abkaufen zu lassen“. Hierin sieht die Rechtsprechung einen Verstoß gegen die Treuepflicht des Aktionärs gegenüber der AG. Diese Tatsache führt weiter dazu, dass selbst dann, wenn die Klage eigentlich begründet wäre, d. h. das Anfechtungsrecht gegeben wäre, das Gericht allein wegen des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Aktionärs die Klage als unbegründet abweisen kann. ◄

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Organisationsmodell einer AG

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6.3.3.3 Rechte und Pflichten der Aktionäre Die Aktionäre sind die „Eigentümer“ der Gesellschaft. Ihre Mitgliedschaft an der AG kann entweder durch die Teilnahme am Gründungsprozess oder durch rechtsgeschäftliche Übertragung erworben werden. Aus dieser Mitgliedschaft leiten sich sodann die Rechte und Pflichten der Aktionäre ab. Zu den zentralen Rechten der Aktionäre zählen die Mitverwaltungs- und Vermögensrechte. Als Mitverwaltungsrechte gelten u. a. das Recht auf Teilnahme an der Hauptversammlung (§ 118 Abs. 1 AktG), das Stimmrecht (§§ 12, 134 AktG), das Auskunftsrecht (§§  131, 132 AktG), das Recht, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Hauptversammlung einzuberufen (§  122 AktG), sowie das Recht, die Hauptversammlungsbeschlüsse anzufechten (§§  243  ff. AktG). Das wichtigste Vermögensrecht ist der Anspruch auf die Dividende (§§  58 Abs.  4 AktG), also das Recht auf Teilhabe an dem von der AG erwirtschafteten Bilanzgewinn (§§ 60 Abs. 1, 58 Abs. 4, 174 AktG). Daneben treten das Bezugsrecht bei Kapitalerhöhung (§ 186 Abs. 1 AktG) sowie der Anspruch auf den sog. Liquidationsanteil bei Auflösung der Gesellschaft (§ 271 AktG). Ergänzend bleibt das Recht auf gleichmäßige Behandlung aller Aktionäre (§ 53a AktG) zu erwähnen, welches jedoch die gesetzlich eingeräumten (z. B. Vorzugsaktien nach § 139 AktG) sowie durch Satzung festgelegten (§ 26 Abs. 1 AktG) Sonderrechte unberührt lässt. Ein Minderheitsaktionär kann seine Mitgliedschaftsrechte verlieren, wenn er im Rahmen eines „Squeeze-out“ aus der AG ausgeschlossen wird. Dies ist seit dem 1. Januar 2002 auch in Deutschland möglich (§§ 327a bis 327 f AktG), wobei die ausgeschlossenen Minderheitsaktionäre vom Hauptaktionär (der 95 % des Grundkapitals halten muss) eine angemessene Barabfindung erhalten müssen (§  327a Abs. 1 S. 1 AktG). Die Pflichten des Aktionärs beziehen sich überwiegend auf die Gründungsphase. Die Hauptpflicht des Aktionärs besteht darin, die übernommene Kapitaleinlage zu leisten (§ 54 Abs. 2 AktG). Auf die Bedeutung dieser Vorschrift wurde bereits hingewiesen; der Gesetzgeber war im besonderen Maße darauf bedacht, dass das einmal zur Verfügung gestellte Eigenkapital bei der Gesellschaft verbleiben muss. Die Rückgewähr der Einlagen ist daher strikt untersagt (§ 57 Abs. 1 S. 1 AktG), auch jede Form der Befreiung von der Pflicht zu ihrer Leistung ist verboten (§ 66 Abs. 1 S. 1 AktG). Lange war umstritten, ob auch Aktionäre Treuepflichten gegenüber ihrer Gesellschaft und gegenüber den Mitaktionären unterworfen sind. Mittlerweile ist zumindest eine begrenzte Treuepflicht der Aktionäre anerkannt, die allerdings nicht so weit reicht wie die Treuepflicht bei den Personengesellschaften und der GmbH. Denn die Bindung des Aktionärs an die Gesellschaft und die Mitaktionäre ist bei der AG nicht so eng, wie die Bindung der Gesellschafter in den Personengesellschaften und der GmbH. Wie weit die Loyalitäts- und Rücksichtsnahmepflichten in der AG reichen, muss daher immer im Einzelfall anhand der Struktur der Gesellschaft bestimmt werden. Ausgehend von den üblichen Machtverhältnissen innerhalb der AG wird z. B. eine Treuepflicht des Mehrheitsaktionärs angenommen, aber auch von Minderheitsaktionären, denen eine bestimmte Machtstellung zukommt (z.  B. im Rahmen einer Sperrminorität bei bestimmten Beschlussgegenständen).

6.3 Körperschaften

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6.3.3.4 Haftung Für Verbindlichkeiten der AG haftet den Gläubigern nur das Gesellschaftsver- 1305 mögen (§ 1 Abs. 1 S. 2 AktG). Eine Haftung der Aktionäre ist damit ausgeschlossen. Bei der Verletzung von Sorgfaltspflichten haften die Vorstandsmitglieder der Ge- 1306 sellschaft nach Maßgabe des § 93 Abs. 2 und 3 AktG, die Aufsichtsratsmitglieder nach §§ 116, 93 Abs. 2 und 3 AktG (siehe Abschn. 6.3.3.2). Für deliktische Handlungen der Organe muss die AG mangels spezieller Regelungen im AktG nach § 31 BGB analog einstehen. 6.3.3.5 Finanzverfassung der AG Der Mindestnennbetrag des Grundkapitals beträgt 50.000 EUR (§  7 AktG). 1307 Dabei ist das Grundkapital – wie bei der GmbH (Abschn. 6.3.2.5) – zumindest begrifflich vom Vermögen der Gesellschaft zu trennen; es kann durch Bar- oder Sacheinlagen aufgebracht werden (§§ 54 Abs. 1, 27 AktG). Von der Einlagepflicht kann der Aktionär nicht befreit werden (§ 66 AktG); es gilt der Grundsatz der effektiven Mittelaufbringung (Abschn. 6.3.3.1). Im normalen Geschäftsbetrieb der AG ist der Vorstand dazu verpflichtet, in den ersten drei Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres den Jahresabschluss (Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung nebst Anhang) und Lagebericht aufzustellen (§§  264 Abs.  1, 242 HGB), der anschließend durch den Abschlussprüfer (§  316 HGB; mit Ausnahme kleiner Kapitalgesellschaften i. S. des § 267 Abs. 1 HGB) und den Aufsichtsrat (§ 171 AktG) überprüft wird. Billigt der Aufsichtsrat den Jahresabschluss, so ist er festgestellt (§ 172 AktG) und kann der der Hauptversammlung zur Beschlussfassung über die Gewinnverwendung vorgelegt werden (§ 174 Abs. 1 AktG). Der Hauptversammlungsbeschluss legt dann u. a. das Dividendenbezugsrecht der Aktionäre fest, was zugleich auch den gesetzlichen Rahmen der Entnahmemöglichkeiten für die Aktionäre bildet. Im Recht der AG gilt der Grundsatz der strengen Kapitalbindung. Nach § 57 AktG dürfen Einlagen den Aktionären nicht zurückgewährt (Abs. 1), insbesondere keine festen Zinszusagen gegeben werden (Abs. 2). Die Ausschüttung an die Aktionäre (Dividendenleistung) ist auf den Bilanzgewinn der AG beschränkt (Abs.  3). Dieses Ausschüttungsverbot wirkt absolut, d.  h. es knüpft anders als bei der GmbH nicht an das zur Erhaltung des Grundkapitals erforderliche Gesellschaftsvermögen an, sondern bezieht sich auf das gesamte Vermögen der AG. Die strenge Kapitalbindung des Aktienrechts besteht – im Unterschied zur GmbH – nicht nur im Interesse von Gläubigern der Gesellschaft, die auf das Gesellschaftsvermögen zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten zugreifen wollen, sondern auch im Interesse der (Minderheits-)Aktionäre, die gegen eine Aushöhlung des wirtschaftlich auch ihnen gehörenden Gesellschaftsvermögens durch die Mehrheitsaktionäre geschützt werden sollen. § 57 AktG verbietet daher auch nicht nur jede „offene“ Ausschüttung außerhalb der ordnungsgemäßen Verteilung des Bilanzgewinns, sondern auch jede „verdeckte Gewinnausschüttung“ (z. B. in Form von Austauschgeschäften zwischen dem Aktionär und der AG zu unangemessenen Konditionen). Die verbotswidrige Ausschüttung – sei sie offen oder verdeckt – löst einen verschuldensunabhängigen Rückgewähranspruch der AG gegen den Aktionär aus (§ 62 Abs. 1 S. 1 AktG).

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6 Gesellschaftsrecht

Der Aktionär hat daher bei unangemessenen Austauschgeschäften mit der AG den Differenzbetrag zu erstatten, um den er entweder eine Leistung zu teuer an die AG erbracht oder umgekehrt eine Leistung der AG zu günstig erhalten hat. Beispiel

Der Groß-Aktionär A ist zugleich Unternehmensberater und berät in dieser Funktion die AG u. a. bei strategischen Entscheidungen. Da er die Gewinnausschüttungen im letzten Jahr als zu niedrig empfand, veranschlagte er in einer seiner letzten Abrechnungen einen Stundensatz, der 100 % über dem bisher üblichen Honorar lag und ca. 75 % über den ortsüblichen Sätzen in seiner Branche. Die AG zahlte ohne Zögern. In einer solchen Sachverhaltskonstellation folgt ein Anspruch der AG gegen A aus § 62 Abs. 1 S. 1 AktG, der u. U. auch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt, z.  B. in einem Insolvenzverfahren vom Insolvenzverwalter geltend gemacht wird. ◄ 1308

Die AG kann – ähnlich der GmbH (Abschn. 6.3.2.5) – auf der Grundlage eines Hauptversammlungsbeschlusses (§§ 179 Abs. 1, 23 Abs. 3 Nr. 3 AktG) eine Veränderung ihres Grundkapitals durch Kapitalerhöhungen und -herabsetzungen vornehmen. Bei einer effektiven Kapitalerhöhung wird der AG zusätzliches Kapital von außen zugeführt. Dabei kann unterschieden werden zwischen: • ordentlicher effektiver Kapitalerhöhung, als Kapitalerhöhung gegen Einlagen, also einer tatsächlichen Mittelzuführung durch Aktionäre an die Gesellschaft mit einem Bezugsrecht der vorhandenen Aktionäre (§§ 182 ff. AktG), • bedingter Kapitalerhöhung, insbesondere im Zusammenhang mit Umwandlungen (z.  B.  Verschmelzungen Abschn.  8.3.1.3), als eine Erhöhung des Grundkapitals, die allerdings nur soweit durchgeführt werden soll, wie von einem Umtausch- oder Bezugsrecht der Aktionäre Gebrauch gemacht wird, welches die Gesellschaft auf die neuen Aktien (Bezugsaktien) einräumt (§ 192 ff. AktG). • genehmigtem Kapital, als der durch Satzung festgelegte Betrag, bis zu dem der Vorstand einer AG das Grundkapital durch Ausgabe neuer Aktien gegen Einlagen erhöhen kann (§§ 202 ff. AktG). Bei einer nominellen Kapitalerhöhung (§§ 207 ff. AktG) findet kein tatsächlicher Mittelzufluss statt, sondern es werden umwandlungsfähige Rücklagen (§ 208 AktG) in Grundkapital umgewandelt und die Aktionäre erhalten neue Aktien (sog. „Gratis- oder Freiaktien“) im Verhältnis ihrer bisherigen Beteiligung (§ 212 AktG). Entsprechend der Kapitalzufuhr, kann auch die Kapitalherabsetzung effektiv oder nominell stattfinden:

6.3 Körperschaften

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• effektive Kapitalherabsetzung durch die Herabsetzung des Grundkapitals, entweder durch Einzug von Aktien und Rückzahlung der Einlagen an die Aktionäre (sehr selten: §§ 237 ff. AktG) oder durch die Veränderung des Nennbetrages der Aktien sowie durch die Zusammenlegung der Aktien (§§ 222 ff. AktG). • nominelle Kapitalherabsetzung (§§ 229 ff. AktG), bei der kein tatsächlicher Mittelabfluss aus der Gesellschaft stattfindet, sondern lediglich die nominelle Verminderung des Grundkapitals, um nach bereits entstandenen Verlusten der Gesellschaft das Soll- an das Ist-Kapital anzupassen (setzt allerdings voraus, dass das Grundkapital über die Mindestsumme lautet), um z. B. überhaupt künftige Dividendenauszahlungen zu ermöglichen („Sanierung der bilanziellen Deckung“). Die Verbindung einer nominellen Herabsetzung des Kapitals einer AG, bei 1309 gleichzeitiger effektiver Kapitalerhöhung bezeichnet man als „Kapitalschnitt“. Dieser erfolgt in der Regel dann, wenn die Gesellschaft gravierende Verluste erlitten hat, durch die das Grundkapital (zu weiten Teilen) aufgezehrt wird. Dabei wird das Grundkapital zunächst um den Bilanzverlust verringert (soweit dieser das Grundkapital nicht übersteigt), wodurch zunächst die Verlusthistorie des Unternehmens beseitigt wird. Um diesem dann einen Neustart zu ermöglichen, wird in einem weiteren Schritt das Kapital erhöht. Die Aktionäre leiden dabei doppelt: Zum einen werden Anteile entschädigungslos eingezogen, zum anderen müssen bei der nachfolgenden Kapitalerhöhung dem Unternehmen frische Mittel zugeführt werden.

6.3.3.6 Aktionärswechsel Bei der AG ist – wie bereits erwähnt (Abschn. 6.3.3.1) – eine Übertragung der in 1310 den Aktien verbrieften Gesellschaftsanteile und damit ein Aktionärswechsel weitgehend frei möglich (abgesehen bei Haltepflichten). Eine seltene Ausnahme besteht bei sog. vinkulierten Namensaktien, deren Veräußerung zusätzlich der Zustimmung der Gesellschaft bedarf (§ 68 Abs. 2 AktG). Die Mitgliedschaft eines Aktionärs in der AG endet neben der Veräußerung der 1311 Aktien im Wege des Kaduzierungsverfahrens (§ 64 AktG) bei säumiger Zahlung auf den Aktiennennbetrag, durch Einziehung der Aktien im Rahmen der Kapitalherabsetzung (sog. Amortisation) und durch die Auflösung der AG. Eine Kündigung der Mitgliedschaft ist dagegen nicht möglich, allerdings ein Squeeze-out gemäß §§ 323a ff. AktG. 6.3.3.7 Beendigung und Liquidation Die Auflösungsgründe sind durch Gesetz abschließend geregelt; es können durch 1312 Satzung keine zusätzlichen Gründe eingeführt werden. Die AG wird unter folgenden Bedingungen aufgelöst: • Ablauf der in der Satzung bestimmten Zeit (§ 262 Abs. 1 Nr. 1 AktG); • Beschluss der Hauptversammlung mit einer Mehrheit von ¾ des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals (§ 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG);

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6 Gesellschaftsrecht

• Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Gesellschaftsvermögen bzw. durch die Ablehnung des Insolvenzantrags mangels Masse (§  262 Abs.  1 Nr.  3 und 4 AktG); • rechtskräftiges Auflösungsurteil wegen Gefährdung des Gemeinwohls durch gesetzwidriges Verhalten (§ 396 AktG); • behördliches Verbot; • Löschung im Handelsregister wegen Vermögenslosigkeit (§  262 Abs.  1 Nr. 6 AktG). 1313

Nachdem der Vorstand den Auflösungsgrund festgestellt und die Auflösung zum Handelsregister angemeldet hat (§ 263 AktG), wird das Liquidationsverfahren in Gang gesetzt, welches den Vorschriften der §§ 264–274 AktG folgt. Dabei treten an die Stelle des Vorstands die – häufig personenidentischen – Liquidatoren (§§ 265, 269 AktG). Der Firma ist nun zum Schutz des Rechtsverkehrs ein die Abwicklung andeutender Zusatz beizufügen (z.  B. „in Liquidation“ oder „i.L.“, §  269 Abs.  6 AktG). Die Liquidatoren beenden in der Folge die Geschäfte der AG, ziehen u. a. Forderungen ein und setzen das Vermögen in Geld um (§ 268 AktG). Sie fordern die Gläubiger durch Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern zur Anmeldung ihrer Ansprüche auf (§ 267 AktG), um deren Forderungen zu befriedigen. Nach Ablauf eines Sperrjahres (§ 272 Abs. 1 AktG) wird das verbleibende Vermögen unter den Aktionären verteilt (§§ 271 AktG). Nach Beendigung der ­Abwicklung wird die AG im Handelsregister gelöscht (§  273 AktG); die juristische Person ist damit untergegangen.

6.3.4 Societas Europaea (SE) Die Societas Europaea ist eine europäische Aktiengesellschaft. Sie wurde geschaffen, um Unternehmen die Möglichkeit zu geben, eine europäische Organisation mit nationalem Sitz zu begründen. Ihre rechtliche Verankerung findet sie in der VO 2157/2001 (SE-VO), wobei es den jeweils nationalen Gesetzgebern überlassen bleibt, weitere Details zu regeln; in Deutschland erfolgt dies hauptsächlich durch das SE-Ausführungsgesetz (SEAG) sowie das SE-Beteiligungsgesetz (SEBG). 1315 Im Rahmen dieser Gesetze wurde die SE weitestgehend der deutschen AG angepasst. So ist sie als juristische Person auch Kaufmann kraft Rechtsform (Art. 1 SE-VO, § 6 HGB). Dabei besteht nach Art. 2 SE-VO – auch wenn der Gesetzeswortlaut hier auf den ersten Blick missverständlich ist – eine Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen, wie auch bei der AG.  Die Gesellschaft hat unter dem Zusatz „SE“ zu firmieren (Art. 11 Abs. 1 SE-VO). Ihr Satzungssitz muss in dem EU-Mitgliedsstaat liegen, in dem die Hauptverwaltung der SE sitzt. 1316 Die SE kann in verschiedener Weise entstehen, durch Verschmelzung von Aktiengesellschaften (Art.  2 Abs.  1, 17  ff. SE-VO), Bildung einer SE-Holding (Art.  2 Abs.  2, 32  ff. SE-VO), Gründung einer SE-Tochtergesellschaft (sog. „Sekundärgründung“; Art.  2 Abs.  3, 35  f. SE-VO) oder durch die Umwandlung einer bestehenden AG in eine SE (Formwechsel; Art. 2 Abs. 4, 37 SE-VO). Für jede 1314

6.3 Körperschaften

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Art der Gründung ist das Vorliegen eines „grenzüberschreitenden Bezuges“ jedoch zwingend Voraussetzung. Das Grundkapital der SE muss mindestens 120.000 EUR betragen (Ar. 4 Abs. 2 SE-VO). Die Organisation der SE ist in den Art. 38 ff. SE-VO geregelt. Nach Art. 38 1317 SE-VO verfügt die SE stets über eine Hauptversammlung, bestehend aus den Aktionären der Gesellschaft, die der Hauptversammlung der AG vergleichbar ist und die grundlegenden Entscheidungen treffen (Art. 52 SE-VO, §§ 50, 51 SEAG). Hinsichtlich der Organisation der laufenden Verwaltung stellt die SE-VO zwei mögliche Systeme zur Wahl: • das aus dem deutschen Recht bekannte dualistische  System, in welchem die Aufgaben auf Leitungsorgan (Vorstand, Art.  39 SE-VO) und Aufsichtsorgan (Aufsichtsrat, Art. 40 ff. SE-VO) aufgeteilt werden, sowie • das aus dem angloamerikanischen Rechtskreis stammende monistische System, bei dem die Leitung der Gesellschaft einem Verwaltungsrat obliegt, der die geschäftsführenden Direktoren bestellt, die die Gesellschaft vertreten. Welches Leistungsmodell der Organisation der SE zugrunde gelegt werden soll – dualistisch oder monistisch – können die Verantwortlichen selbst entscheiden, wobei sie ihre Entscheidung sowohl in der Satzung als auch im Handelsregister zum Ausdruck bringen müssen. Das dualistische System der SE (mit Aufsichts- und Leistungsorgan; §§ 15–19 SEAG) entspricht zum größten Teil demjenigen der AG (Abschn. 6.3.3.2). Dagegen ist der monistische Aufbau („Board-System“; §§  20–49 SEAG) dem angelsächsischen Gesellschaftsrecht entlehnt. Im monistischen System ist der Verwaltungsrat zentral. Die Mitglieder des Ver- 1318 waltungsorgans – mindestens drei Mitglieder – werden von der Hauptversammlung bestellt, soweit sie nicht als erste Mitglieder in der Satzung genannt sind (Art. 43 Abs. 3 SE-VO). Der Bestellungszeitraum darf, wie im dualistischen System, sechs Jahre nicht überschreiten (Art. 46 SE-VO). Der Verwaltungsrat leitet die SE nach innen und außen (§ 22 Abs. 1 SEAG), legt die Grundlinien ihrer Unternehmenspolitik fest und überwacht deren Umsetzung. Die laufende Geschäftsführung und Vertretung delegiert der Verwaltungsrat auf die geschäftsführenden Direktoren. Die SE muss mindestens einen, kann aber auch mehr geschäftsführende Direk- 1319 toren ausweisen, welche dem Verwaltungsrat angehören können, aber nicht müssen. Die geschäftsführenden Direktoren sind kein gesondertes Organ. Sie sind weisungsgebunden und können vom Verwaltungsrat jederzeit ohne Begründung abberufen werden, allerdings kann die Satzung die Abberufung von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen (§  40 SEAG). Ihre Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit entspricht der eines AG-Vorstands (§ 40 Abs. 8 SEAG). Eine wichtige Frage bei der Besetzung des Aufsichtsrates bzw. des Verwaltungs- 1320 rates ist die Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft. Sowohl das Drittelbeteiligungsgesetz (DrittbG) als auch das Mitbestimmungsgesetz (MitbG) sind auf die SE nicht anwendbar. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist – auf der Grundlage der RL 2001/86/EG – im Gesetz über die Beteiligung der

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6 Gesellschaftsrecht

Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG) geregelt, das als Art. 2 des Ausführungsgesetzes erlassen wurde (BGBl 2004, 3686). Wesentlich ist hierbei ein besonderes Verhandlungsgremium, das die Interessen der Arbeitnehmer vertritt und mit der Geschäftsleitung Vereinbarungen schließen kann. Soweit eine Einigung nicht erfolgt, wird nach den Auffangregelungen der §§ 35 ff. SEBG verfahren. Danach ist bei einem Formwechsel zu einer SE die bisherige Mitbestimmungspraxis beizubehalten, wohingegen sich in den übrigen Gründungsvarianten der jeweils höchste Mitbestimmungsstandard durchsetzt. 1321 Hinsichtlich der Auflösung der SE kann auf die Ausführungen zur AG verwiesen werden, da nach Art. 63 SE-VO die jeweiligen nationalen Regelungen für Aktiengesellschaften auf die SE anzuwenden sind. 1322 Ein Vorschlag der europäischen Kommission zur Einführung einer Einpersonengesellschaft mit beschränkter Haftung (Societas Unius Personae – SUP) auf EUEbene wurde allerdings zurückgenommen. Ein Äquivalent zur GmbH, wie die SE im Vergleich zur AG, wurde damit noch nicht geschaffen.

6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen 6.4.1 Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) Die Kommanditgesellschaft auf Aktien ist eine in den §§ 278–290 AktG geregelte Mischform, in der sich Elemente der AG mit denen der KG verbinden. Sie ist eine rechtsfähige Kapitalgesellschaft und als solche juristische Person, bei der mindestens ein Gesellschafter den Gesellschaftsgläubigern unbeschränkt haftet (Komplementär), während die anderen nur an dem in Aktien zerlegten Grundkapital beteiligt sind, ohne persönlich für die Gesellschaftsverbindlichkeiten einstehen zu müssen (§ 278 Abs. 1 AktG). Die Bedeutung dieser Gesellschaftsform ist eher gering. 1324 Die KGaA hat zwei Arten von Gesellschaftern, nämlich persönlich haftende Gesellschafter (Komplementäre), auf die das Recht der Kommanditgesellschaft anzuwenden ist (§ 278 Abs. 2 AktG), sowie die Kommanditaktionäre, die mit Aktien am Grundkapital beteiligt sind und für die die Bestimmungen des Aktiengesetzes gelten (§ 278 Abs. 3 AktG). 1325 Die Organe dieser typenvermischten Gesellschaftsform KGaA sind: 1323

• Persönlich haftende Gesellschafter (Komplementäre): Sie üben die Funktion des bei einer KG nicht bestehenden Vorstandes aus, d.  h. sie sind für die Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft zuständig (§§ 278 Abs. 2, 283 AktG). Sie werden nicht vom Aufsichtsrat bestellt. Ihre Beteiligung muss vielmehr in der Satzung festgelegt werden (§ 281 Abs. 1 AktG), weshalb sich die Aufnahme, der Wechsel und das Ausscheiden der Komplementäre auch nur durch eine Satzungsänderung bewirken lässt. Persönlich haftende Gesellschafter müssen nicht notwendig natürliche Personen sein, denkbar ist auch eine GmbH (§ 279 Abs. 2 AktG; z. B. GmbH & Co. KGaA). Für das Rechtsverhältnis der persönlich haftenden Gesellschafter der KGaA gelten nach § 278 Abs. 2 AktG

6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen

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die Vorschriften zur KG (§§ 161–177a HGB), die ihrerseits auf das Recht der oHG verweisen (§ 161 Abs. 2 HGB). • Aufsichtsrat: Der Aufsichtsrat überwacht die Geschäftstätigkeit der persönlich haftenden Gesellschafter, führt die Beschlüsse der Kommanditaktionäre aus und fungiert zugleich als Vertreter der Kommanditaktionäre gegenüber den Komplementären (§ 287 AktG). • Hauptversammlung: Die Hauptversammlung ist das Organ der Kommanditaktionäre; ihr Aufgabenbereich wird in § 285 Abs. 1 AktG umrissen. Die persönlich haftenden Gesellschafter können sich in ihr nur dann aktiv durch Stimmrecht an der Hauptversammlung beteiligen, wenn sie auch über Aktien verfügen (§ 285 Abs. 1 AktG); aber selbst dann dürfen sie nicht mitwirken, wenn es um Angelegenheiten geht, die ihre Verantwortung gegenüber den Kommanditaktionären anbetrifft. Andererseits bedürfen die Beschlüsse der Hauptversammlung der Zustimmung der persönlich haftenden Gesellschafter, soweit sie Angelegenheiten betreffen, für die bei einer Kommanditgesellschaft das ­Einverständnis der persönlich haftenden Gesellschafter und der Kommanditisten erforderlich ist (§ 285 Abs. 2 AktG). Dies gilt insbesondere für die Feststellung des Jahresabschlusses (§ 286 Abs. 1 AktG), aber auch für ungewöhnliche Geschäfte, wie z.  B.  Baumaßnahmen, Errichtung von Zweigniederlassungen und ähnliche Entscheidungen.

6.4.2 GmbH & Co. KG Die GmbH & Co. KG ist eine weitere zulässige Form der Grundtypenvermischung, 1326 die allerdings gesetzlich nicht geregelt ist. Bei ihr handelt es sich um eine KG, an der eine GmbH als – meist einziger – Komplementär beteiligt ist. Neben steuerlichen Gesichtspunkten hat diese Grundtypenvermischung von 1327 Personengesellschaft und Körperschaft vor allem gesellschaftsrechtliche Vorteile, die in den letzten Jahren zu einem steten Anstieg dieser Unternehmensform geführt haben: • Die Rechtsform der GmbH & Co. KG führt faktisch  zu einer zulässigen Haftungsbeschränkung in  einer Personenhandelsgesellschaft. Die KG ist eine Personenhandelsgesellschaft mit einem oder mehreren persönlich und unmittelbar haftenden Gesellschaftern (Komplementäre; §  161 Abs.  1 HGB, Abschn.  6.2.4.5). Wird die Rechtsstellung des Komplementärs in der KG von einer GmbH eingenommen, entsteht die haftungsrechtliche Besonderheit, dass nun keine natürliche Person, sondern die GmbH als juristische Person die unbeschränkte Komplementärhaftung übernimmt. Zwar haftet nun die GmbH als Komplementärin unbeschränkt für Verbindlichkeiten der KG; aber deren Gläubiger können sich gemäß § 13 Abs. 2 GmbHG nur an das Gesellschaftsvermögen und eben nicht an die Gesellschafter der GmbH halten; die Komplementär-GmbH beschränkt die Haftung auf das Gesellschaftsvermögen der GmbH.

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6 Gesellschaftsrecht

• Außerdem besteht die Möglichkeit der faktischen Fremd- oder Drittorganschaft, weil die GmbH – im Unterschied zur „normalen“ KG – ihre Geschäftsführung und Vertretung auch an einen Nichtgesellschafter übertragen kann. Die GmbH vertritt als Komplementärin die KG (§§ 170, 161 Abs. 2, 125 HGB). Die GmbH kann freilich nur durch ihren Geschäftsführer handeln, § 35 GmbHG, der aber gerade nicht GmbH-Gesellschafter sein muss (6 Abs.  3 GmbHG). Eine Fremdorganschaft in dem Sinne, dass nicht die GmbH als Komplementärin organschaftlich durch ihren Geschäftsführer für die KG handelt, sondern irgendein Dritter, bleibt auch bei der GmbH & Co. KG ausgeschlossen. Wegen der Möglichkeit der Fremdorganschaft hat sich die GmbH & Co. KG als zweckmäßiges Instrument zur Lösung z. B. von Führungs- und Nachfolgeproblemen in Familienunternehmen erwiesen. Denn auch wenn die Familienmitglieder zur Geschäftsführung und Vertretung nicht mehr bereit oder fähig sind, können qualifizierte Kräfte (z. B. zuverlässige Mitarbeiter) mit der Unternehmensleitung der Komplementär-GmbH betraut werden, ohne dass diese in die ­(Familien-) Gesellschaft aufgenommen werden müssten oder die Gesellschaft von der Personen- in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt werden müsste. • Gegenüber einer reinen Kapitalgesellschaft gewährt die GmbH & Co. KG größeren Spielraum für finanzielle Transaktionen. Für das Vermögen der KG besteht – anders als gemäß § 30 Abs. 1 GmbHG für das der GmbH – z. B. kein Verbot der Rückzahlung an die Gesellschafter. Die Gesellschafter können sich daher im Gesellschaftsvertrag Entnahmen auch für den Fall gestatten, dass längere Zeit keine Gewinne erzielt worden sind und das Gesellschaftsvermögen aus diesem Grund stark geschrumpft ist. • Dank ihrer großen Flexibilität vermag die GmbH & Co. KG die Kooperation mehrerer  – unter Umständen auch zahlreicher  – Unternehmen zu erleichtern; insbesondere lässt sich die generelle Beschränkung des Haftungsrisikos mit der Ausübung der Geschäftsführung durch einige oder alle der als Kommanditisten beteiligten Partner verbinden, da sie nun in der GmbH (im Unterschied zu § 164 HGB) durchaus Verantwortung tragen dürfen. Ferner kann die Intransparenz der konkreten Form des Zusammenschlusses als zusätzlicher Vorteil empfunden werden. • Schließlich kann mit der Wahl der GmbH & Co. KG die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat nach dem BetrVG vermieden und diejenige nach dem MitbestG entschärft werden. 1328

Die Gründung einer GmbH & Co. KG kann sich auf verschiedene Weise vollziehen. Zum einen kann von Anfang an eine GmbH & Co. KG angestrebt sein, was erfordert, dass zunächst eine GmbH errichtet wird, die nach ihrer Entstehung (Eintragung in das Handelsregister) mit einem oder mehreren Kommanditisten einen Gesellschaftsvertrag zur Gründung einer Kommanditgesellschaft schließt. Die GmbH & Co. KG entsteht sodann wie eine KG im Innenverhältnis mit Abschluss des Gesellschaftsvertrags zwischen Komplementär(en) und Kommanditist(en) und im Außenverhältnis mit Aufnahme der Geschäftstätigkeit oder Eintragung ins Handelsregister (Abschn. 6.2.4.1.). Zum anderen kann eine GmbH & Co. KG allerdings auch durch den Eintritt einer GmbH in eine bereits bestehende Kommandit-

6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen

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gesellschaft unter Ausscheiden des bisherigen Komplementärs begründet werden (Gesellschafterwechsel, Abschn.  6.2.4.6). GmbH und KG werden in beiden Gründungsvarianten getrennt zum Handelsregister angemeldet. Regelmäßig wird eine sog. personenidentische GmbH & Co. KG vorliegen, bei der die gleichen Personen sowohl Gesellschafter der GmbH und Kommanditisten der KG sind, und zwar mit jeweils gleichen Beteiligungen (auch als Einmann-GmbH & Co. KG möglich). Dabei entsteht eine sog. Einheitsgesellschaft, wenn die Gesellschaften wechselseitig aneinander beteiligt sind, die GmbH persönlich haftende Gesellschafterin der KG ist und die KG Alleingesellschafterin der Komplementär-­ GmbH, also alle Anteile der Komplementär-GmbH hält. Eine sog. personenverschiedene GmbH & Co. KG zeichnet sich dadurch aus, dass die GmbH-Gesellschafter und die Kommanditisten personenverschieden sind. Typisch sind dabei Publikumsgesellschaften (Publikums-KG), bei denen die Kommanditisten ad hoc als Kapitalgeber für zumeist steuerbegünstigte Vorhaben eintreten, um eigene Steuerersparnisse zu generieren. Die Firma der GmbH & Co. KG muss den firmenrechtlichen Vorschriften entsprechen (§§ 4 GmbHG und 17 ff. HGB) und einen Haftungszusatz enthalten (§ 19 Abs. 2 HGB). Die Rechte und Pflichten der Gesellschafter einer GmbH & Co. KG richten sich nach dem Recht der KG (§§ 161 ff. HGB). Auch für die GmbH in ihrer Eigenschaft als Komplementärin der KG gelten die Vorschriften über die KG; bezogen auf die Organisation der Komplementärin (z.  B. wer handelt in der vertretungsbefugten Komplementär-GmbH) ist das GmbHG anzuwenden. Die Vertretung der KG wird durch die Komplementärin „GmbH“ vorgenommen. Der Geschäftsführer oder Prokurist handelt für die GmbH und damit auch für die KG. Das Problem des Selbstkontrahierens nach § 181 BGB wird in der Regel durch gesellschaftsvertragliche Regeln gelöst. Sind die Kommanditisten zugleich auch Gesellschafter und Geschäftsführer der GmbH, so erlaubt dies ausnahmsweise die mittelbare Stellvertretung der KG durch die grundsätzlich von der Vertretung ausgeschlossenen (§ 170 HGB), aber doch haftungsprivilegierten Kommanditisten (Abb. 6.3). Dies liegt nur darin begründet, dass die Kommanditisten zugleich als GmbH-Geschäftsführer die GmbH vertreten dürfen (§ 35 GmbHG) und diese selbst wiederum als Komplementär zur Vertretung der KG im Außenverhältnis berechtigt ist (§ 161 Abs. 2 HGB i. V. m. §§ 125 ff. HGB). Die Ausführungen gelten in entsprechender Weise auch für die Geschäftsführungsbefugnis der Kommanditisten im Innenverhältnis, vgl. § 164 HGB und § 161 Abs. 2 HGB i. V. m. §§ 114 ff. HGB. Auch die GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin (Komplementärin) muss sich an das gesetzlich normierte Wettbewerbsverbot halten (§§ 161 Abs. 2, 112 HGB). Inhaberin des Handelsgeschäfts sowie des Gesellschaftsvermögens ist die KG (Abschn. 6.2.4.3). Die GmbH & Co. KG tritt entsprechend der Vielzahl der Gründungsmotive (siehe bereits oben) in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf, nämlich als:

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1331 1332

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6 Gesellschaftsrecht

Mittelbare Stellvertretung der GmbH & Co. KG durch Kommanditisten GmbH & Co. KG Beteiligung vertritt nach § 125 HGB

Kommanditist A Beteiligung

Kommanditist B Kommanditist C

Anteile

Komplementär GmbH als GmbH-GF: Vertretung nach § 35 GmbHG

Abb. 6.3  Mittelbare Stellvertretung der GmbH & Co. KG durch Kommanditisten

• Einmann-GmbH & Co. KG Die Einmann-GmbH & Co. KG wird von einer natürlichen Person gegründet. Diese errichtet zunächst eine GmbH und übernimmt darin die Stellung des Geschäftsführers. Sodann gründet sie als Geschäftsführer der GmbH mit sich selbst als Kommanditistin eine KG. Nach wirtschaftlicher Betrachtung ist ein Einzelunternehmen mit beschränkter Haftung entstanden. • Nicht personen- und beteiligungsgleiche GmbH & Co. KG Bei einer nicht personen- und beteiligungsgleichen GmbH & Co. KG sind die Gesellschafter der GmbH und die Kommanditisten der KG verschiedene Personen oder ihre Beteiligungen weichen voneinander ab. Sofern eine GmbH in mehreren Kommanditgesellschaften als Komplementärin fungiert, entsteht durch die gesellschaftsrechtlichen Verflechtungen eine sternförmige GmbH & Co. KG. Die nicht personengleiche GmbH & Co. KG kann vom Normalfall der Personengesellschaft ferner durch die Gestaltung des Gesellschaftsvertrags erheblich abweichen, indem sie ein kapitalistisches Gepräge dadurch erhält, dass die Kommanditisten als Geldgeber die KG beherrschen. • Publikums-GmbH & Co. KG mit Anlagegesellschaftern oder Arbeitnehmern als Kommanditisten Besonderheiten gelten für die Publikums-KG (auch Massen-KG), die zur Kapitalbeschaffung eine unbestimmte Vielzahl kapitalistisch beteiligter Kommanditisten als Anlagegesellschafter aufnimmt. Aus wirtschaftlicher Sicht handelt es sich um eine Kapitalgesellschaft in der Form einer Personengesellschaft. Die rechtliche Behandlung der GmbH & Co. KG wirft eine Reihe von Problemen auf. Die Gründungsgesellschafter, meist die Gesellschafter einer GmbH, behalten in aller Regel die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis innerhalb der KG, während die Kommanditisten  – lediglich Anleger  – auf Kontrollrechte beschränkt werden, häufig über einen Beirat oder einen Kommanditistenvertreter. Die Beteiligung der Kommanditisten als Anlagegesellschafter erfolgt regelmäßig durch Formular-Aufnahmeverträge, die von der GmbH abgeschlossen werden. Unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten hat sich für die Publikums-KG be-

6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen

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reits ein Sonderrecht herausgebildet: Im Fall einer arglistigen Täuschung des beitretenden Kommanditisten durch die GmbH bzw. ihren Geschäftsführer ist der Getäuschte weder zur Anfechtung noch nach den Grundsätzen der fehlerhaften Gesellschaft zur Auflösungsklage nach § 133 HGB berechtigt, sondern er erhält ein Recht zur fristlosen außerordentlichen Kündigung mit Wirkung seines sofortigen Ausscheidens aus der KG. Nach den Grundsätzen der zivilrechtlichen Prospekthaftung bei Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Werbeprospekte und Vertriebsangaben kann ein Schadensersatzanspruch gegen die GmbH und darüber hinaus gegen alle Initiatoren entstehen, die das Management bilden und als Gestalter und Gründer der Gesellschaft Einfluss ausüben und Mitverantwortung tragen. Die KG und deren Kommanditisten sind dagegen nicht haftbar, da ihnen die arglistige Täuschung durch die GmbH nicht zuzurechnen ist. Alle an diesen Finanzierungsgeschäften beteiligten Banken, Kreditinstitute und Anlageberater treffen besondere Warn- und Hinweispflichten mit der Folge, dass sie gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB auf Schadensersatz haften, falls sie ihren vertraglichen Nebenleistungspflichten nicht nachgekommen sind. Die Fragen des Anlegerschutzes bilden dabei aber nur einen Teilaspekt der Rechtsprobleme die im Zusammenhang mit der Gründung und Tätigkeit einer Publikums-GmbH & Co. KG entstehen. Der Abschluss von Formulargesellschaftsverträgen führt häufig zur gerichtlichen Inhaltskontrolle (§§ 307, 242 BGB). Daher wurden in der Vergangenheit bereits mannigfach Rechte und Pflichten der Kommanditisten, beispielsweise Nachschusspflichten, Pflicht zur Bürgschaftsübernahme, Einlage- und Darlehenspflicht, weitere Pflicht zu stillen Beteiligungen und Kontrollrechte auf ihre Zulässigkeit hin überprüft und kassiert, wobei eine breite Kasuistik entstanden ist. Ein weiteres Problem stellt das Konfliktpotential zum Kapitalmarktrecht dar, insbesondere weil der Vertrieb von Vermögensanlagen und die Vertriebspublizität für die Publikums-KG nur unzureichend geregelt sind. Auch das Steuerrecht und die Finanzgerichtsbarkeit sind immer mit Publikums-KGs befasst, die als Abschreibungsgesellschaften gegründet werden, um die steuerlichen Vorteile der Investitionsförderung auszunutzen. • Wechselseitig beteiligte GmbH & Co. KG (sogenannte Einheits-GmbH & Co. KG) Bei der wechselseitig beteiligten GmbH & Co. KG hält die KG alle Geschäftsanteile an der Komplementär-GmbH. Dadurch wird die KG Alleingesellschafterin der GmbH, also ihrer Komplementärin. Diese Konstruktion kann im Einzelfall gegen die im GmbHG zum Schutz der Gläubiger verankerten Grundsätze der Kapitalaufbringung und -erhaltung verstoßen. • Doppelstöckige GmbH & Co. KG Bei der doppelstöckigen GmbH & Co. KG ist (einziger) persönlich haftender Gesellschafter wiederum eine GmbH & Co. KG. Die steuerrechtlichen Motive, die dieses Konstrukt in der Vergangenheit befördert haben, sind mittlerweile in den Hintergrund getreten.

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1333

6 Gesellschaftsrecht

Die GmbH & Co. KG wird entsprechend der Vorschriften zur KG beendet und liquidiert (Abschn. 6.2.4.7) Bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der KG sind die Geschäftsführer der persönlich haftenden GmbH – wie bei Kapitalgesellschaften auch  – dazu verpflichtet, rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellt dann einen Auflösungsgrund nach §  131 Abs. 1 Nr. 3 HGB dar. Allerdings zieht die Insolvenz der KG nicht notwendig die Insolvenz der Komplementär-GmbH nach sich; sie wird auch nicht automatisch mit aufgelöst. Ihre Beendigung und Liquidation richtet sich alleine nach dem GmbHG. Alle Gesellschaftsformen, die in diesem Kapitel besprochen wurden, sollen im Folgenden nochmals als Übersicht dargestellt werden: Personengesellschaften Gesellschaft des bürgerlichen Die Gesellschafter verpflichten sich durch den Abschluss eines Rechts (GbR) Gesellschaftsvertrages zur Förderung eines gemeinsamen Zwecks. Offene Handelsgesellschaft (oHG)

Der Gesellschaftsvertrag ist auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet, wobei alle Gesellschafter den Gesellschaftsgläubigern gegenüber unbeschränkt, persönlich und gesamtschuldnerisch haften.

Partnerschaftsgesellschaft

Der Gesellschaftsvertrag ist auf die Verbindung von Freiberuflern unter gemeinschaftlichem Namen gerichtet, wobei alle Partner den Gläubigern gegenüber unbeschränkt haften. Allerdings ist eine Haftungsbeschränkung auf Fälle fehlerhafter Berufsausübung unter Verwendung von AGB möglich.

Kommanditgesellschaft (KG)

Der Gesellschaftsvertrag ist auf den Betrieb eines Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet, wobei die Haftung der Kommanditisten auf den Betrag einer bestimmten Vermögenseinlage beschränkt ist, während die Komplementäre unbeschränkt haften.

Stille Gesellschaft

Der Vertrag ist auf die Beteiligung des stillen Gesellschafters an einem Handelsgewerbe gerichtet. Die Einlage des stillen Gesellschafters geht in das Vermögen des Geschäftsinhabers über, während der stille Gesellschafter eine Gewinnbeteiligung erhält.

Gesellschaftsformen – I

Körperschaften Verein

Personenzusammenschluss, der auf einen beliebigen Zweck gerichtet ist und Rechtsfähigkeit durch die Eintragung in das Vereinsregister erhält.

Die Gesellschaft ist auf einen beliebigen gesetzlich zulässigen Gesellschaft mit beschränkter Zweck gerichtet und entsteht als juristische Person durch die Haftung (GmbH) Eintragung in das Handelsregister. Die Gesellschafter sind mit Einlagen am Stammkapital beteiligt.

Aktiengesellschaft (AG)

 Gesellschaftsformen – II

Die Gesellschaft ist auf einen beliebigen gesetzlich zulässigen Zweck gerichtet und entsteht als juristische Person durch die Eintragung in das Handelsregister. Ihr Grundkapital ist in Aktien zerlegt. Die Gesellschafter sind durch Übernahme der Aktien an der Aktiengesellschaft beteiligt.

6.4 Typenvermischte Gesellschaftsformen

521

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Gesellschaftsformen – III

Fragen & Zusammenfassung 11. Warum ist bei der Gründung einer Personengesellschaft im Vergleich zu einer Kapitalgesellschaft kein Mindestkapital erforderlich? 12. Wie ist es zu dem Merksatz „Gehst du mit, bist du hin!“ gekommen? Inwiefern ist diesbezüglich die sog. Ausfallhaftung in einer GmbH relevant? 13. Benennen Sie die verschiedenen Stadien der Gründung einer GmbH und bezeichnen Sie die jeweiligen Besonderheiten! 14. Kann man eine „GmbH“ auch mit einem Euro Stammkapital gründen? 15. Was versteht man unter einer Unternehmergesellschaft bzw. UG? Erläutern Sie die vier wesentlichen Unterschiede zur klassischen GmbH! 16. A, B und C gründen eine GmbH, deren Gegenstand der An- und Verkauf von Pflanzen ist. Das Stammkapital in Höhe von 25.000 EUR ist voll eingezahlt und der Gesellschaft nicht wieder entzogen worden. C ist Geschäftsführer der GmbH und nimmt im Namen der GmbH bei der S-Bank AG ein Darlehen in Höhe von 100.000 EUR auf. Es wird vereinbart, dass das Darlehen innerhalb von fünf Jahren zurückzuzahlen ist. Als die GmbH nach fünf Jahren nicht in der Lage ist, den Darlehensbetrag vollständig zurückzuzahlen, will sich die S-Bank AG an den C halten. Zu Recht? 17. Erläutern Sie die vom BGH entwickelte Verlustdeckungs-/Differenzhaftung zur Vor-GmbH in Abgrenzung zur gesetzlich geregelten Differenzhaftung in § 9 Abs. 1 GmbHG! 18. Wann spricht man von einer „verdeckten Sacheinlage“? 19. Was ist unter dem Stichwort „Hin- und Herzahlen“ bei der GmbH-Gründung zu verstehen? Erklären Sie die Bedeutung anhand der einschlägigen Norm! 20. Was ist die Rechtsfolge für einen Geschäftsführer, wenn er gegen § 8 Abs. 2 GmbHG verstößt? Erörtern Sie die Frage unter Bezugnahme auf die entsprechenden Normen! 21. Die S-GmbH befindet sich in permanenten Zahlungsschwierigkeiten; die Lage spitzt sich zu, von den Banken gibt es keine Kredite mehr. Deshalb gewährt der Gesellschafter G der S-GmbH ein Darlehen in Höhe von 50.000 EUR.  Da sich die Situation auch in den folgenden drei Monaten nicht

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6 Gesellschaftsrecht

verbessert, wird die GmbH insolvent. Der G will unbedingt seine Darlehenssumme zurück. Zu Recht? 22. S ist Inhaber einer Kaffeerösterei mit lokalem Kundenkreis. Er möchte das Risiko einer unbeschränkten persönlichen Haftung nicht länger tragen, will aber wirtschaftlicher Alleininhaber des Unternehmens bleiben. Was raten Sie ihm? 23. Die B-Textil AG hatte sich verpflichtet, zum 30. Januar 2019 700 blaue Röcke für die Frühjahrskollektion an Einzelhändler W zu liefern. Als die Röcke trotz einer sofortigen Nachfristsetzung mit Ablehnungsandrohung am 27. März 2019 noch nicht eingetroffen waren, weil das für den Versand zuständige Vorstandsmitglied der AG die Bestellung vergessen hatte, verlangt W von der B-Textil AG Schadensersatz statt der Leistung gemäß §§ 280 Abs. 1 u. 3, 281 Abs. 1 BGB. Zu Recht? 24. Die Raff & Gierig Warenhaus oHG ist mit 51 % am Grundkapital des Haushaltsgeräteherstellers Exklusivia AG beteiligt. Es gelingt ihr, die Exklusivia AG zur Lieferung von Kaffeemaschinen unter Marktpreis zu veranlassen, die die oHG als „Preishit“ im Weihnachtsgeschäft 2019 einsetzt. Der Exklusivia AG entgehen dadurch 500.000 EUR. Dieser Nachteil sei, so meint man bei der Raff & Gierig oHG, mehr als ausgeglichen, weil sie auch die Kühlschränke der Exklusivia AG vertreibe, obwohl sie Kühlschränke billiger aus ausländischen Produktionen beziehen könne. Aktionär S, der 100 Aktien der Exklusivia AG hält, meint, dass „seiner“ Gesellschaft ein Schadensersatzanspruch zustehe, den auch er geltend machen könne. Ist er damit im Recht?

6.5 Lösungen zu den Fragen: Gesellschaftsrecht 1. Eine Gesellschaft ist eine durch Rechtsgeschäft begründete Personenvereinigung zur Verfolgung eines konkreten gemeinsamen Zweckes, der sowohl wirtschaftlicher als auch ideeller Natur sein kann. Obwohl der Begriff „Personenvereinigung“ eine Gründung durch mehrere Personen nahelegt, können die GmbH gem. § 1 GmbHG und die Aktiengesellschaft gem. § 2 AktG auch durch eine Person gegründet werden. 2. Bei Personengesellschaften gilt der Grundsatz der Selbstorganschaft. Die Geschäftsführung der Gesellschaft erfolgt durch die Gesellschafter selbst, so dass es keine besonderen Geschäftsführungs- oder Vertretungsorgane gibt. Die Gesellschafter dürfen daher nicht vollständig von der Geschäftsführung/Vertretung der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Unter dieser Prämisse dürfte aber auch einem außenstehenden Dritten rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht erteilt werden, solange nicht alle Gesellschafter alle Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse aus der Hand geben. Bei den Kapitalgesellschaften sind dagegen die Geschäftsführung und die Vertretung der Gesellschaft unabhängig von den Gesellschaftern und werden durch besondere Gesellschaftsorgane wahrgenommen, so dass daran auch Nichtgesellschafter beteiligt sein können, siehe § 6 Abs. 3 GmbHG für die GmbH (das schließt einen Gesellschaftergeschäftsführer freilich nicht aus!).

6.5  Lösungen zu den Fragen: Gesellschaftsrecht

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3. Das Grundstück gehört nicht mehr zu seinem Privatvermögen, es ist vielmehr Teil des Gesellschaftsvermögens geworden, als er es an die Gesellschaft wirksam übereignet hat. Träger des Vermögens der Gesellschaft sind zwar die einzelnen Gesellschafter (§ 718 BGB), die Verfügung über das Gesellschaftsvermögen steht jedoch nicht mehr dem einzelnen einbringenden Gesellschafter zu. Vielmehr erfolgen die Verfügungen nur noch nach dem Willen der Gesellschaft, der nach den gesellschaftsvertraglichen oder gesetzlich vorgeschriebenen Regeln zustande kommt. 4. Bei der GbR gilt der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführungs- und Gesamtvertretungsbefugnis (§§  709, 714 BGB), während bei der oHG Einzelgeschäftsführungs- und Einzelvertretungsbefugnis gesetzlich normiert sind (§§ 114, 125 HGB). 5. Nein, die Aufnahme eines neuen Gesellschafters bedarf einer Änderung des Gesellschaftsvertrages selbst (sog. Grundlagengeschäft) und damit der Zustimmung aller Gesellschafter. Ausnahmen können sich beispielsweise aus einer vorweggenommenen Zustimmung oder aus dem Gesellschaftsvertrag selbst ergeben, sofern dieser bestimmt, dass ein Aufnahmebeschluss durch A allein ausreichend sein soll. 6. Voraussetzungen für die Anwendung der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft sind: nichtiger Gesellschaftsvertrag, Invollzugsetzung der Gesellschaft nach innen und außen, Rückabwicklung nicht denkbar bzw. nicht praktizierbar. Als Rechtsfolge gilt die Gesellschaft nach innen und außen als wirksam begründet (Rechtsscheintatbestand). Der eigentlich von Anfang an wirkende Nichtigkeitsgrund begründet lediglich ein Kündigungsrecht, so dass der Vertrag ex nunc – d. h. nur für die Zukunft – vernichtet werden kann. 7. Ja. Die Bank kann ihren Anspruch auf § 488 Abs. 1 S. 2 BGB i. V. m. § 128 HGB stützen. Ein Darlehensvertrag ist zwischen der Bank und der oHG zustande gekommen. Aus diesem Vertrag ist für die Bank eine Darlehensrückzahlungsforderung nach § 488 Abs. 1 S. 2 BGB entstanden. Bei dieser Verpflichtung, das Darlehen zurückzuzahlen, handelt es sich um eine Verbindlichkeit der Gesellschaft. Für Verbindlichkeiten der Gesellschaft haften gemäß § 128 HGB alle Gesellschafter der oHG als Gesamtschuldner. Infolgedessen kann sich die Bank an den B halten und von ihm die Rückzahlung der vollen 100.000 EUR verlangen. B muss sich einen Ausgleich im Innenverhältnis zur oHG und zu K suchen. 8. Den Gläubigern haften für die Verbindlichkeiten der Partnerschaftsgesellschaft neben dem Vermögen der Partnerschaft die Partner als Gesamtschuldner unmittelbar (§ 8 Abs. 1 PartGG). Als Möglichkeiten der Haftungsbeschränkung lässt es § 8 Abs. 2 PartGG zu, dass für berufliche Fehler nur noch die Partner, die mit der Bearbeitung des Auftrags tatsächlich befasst waren, haften. § 8 Abs. 3 PartGG gestattet, einen Haftungshöchstbetrag für Ansprüche aus Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübung gegenüber den Vertragspartnern festzulegen, wenn ein Gesetz dies erlaubt und eine Berufshaftpflichtversicherung verpflichtend ist.

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6 Gesellschaftsrecht

9. Die X-Bank AG könnte gegen den K einen Anspruch auf Zahlung der 40.000 EUR aus § 488 Abs. 1 S. 2 BGB i. V. m. § 172 Abs. 4 HGB haben. K haftet den Gläubigern der Gesellschaft gegenüber, zu denen auch die X-Bank AG gehört, gemäß § 171 Abs. 1 HGB nur in Höhe seiner Einlage. Die Haftung ist ausgeschlossen, soweit die Einlage erbracht ist und der Kommanditist sie zur Verfügung durch die Gesellschaft belässt. Durch die Zahlung von 15.000 EUR ist K zunächst von der Haftung frei geworden. Die Haftung könnte jedoch durch die Zahlung von 11.000 EUR an das Finanzamt wieder aufgelebt sein, wenn es sich dabei um eine Entnahme i. S. d. § 172 Abs. 4 S. 2 HGB handelte. Durch die Verluste der Jahre 2017 und 2018 waren die Gewinnanteile des K aus den Vorjahren aufgezehrt und sein Kapitalkonto negativ geworden. Der Kapitalanteil des K war unter den Betrag der geleisteten Einlage herabgesunken. Die Steuerforderung des Finanzamtes an K bildete eine persönliche Verpflichtung des K, denn dieser und nicht die KG waren einkommens- und kirchensteuerpflichtig. Wenn diese persönliche Verbindlichkeit des K aus der Kasse der KG beglichen wurde, so handelt es sich dabei um eine Entnahme i. S. d. § 172 Abs. 4 HGB. Dadurch lebt die Haftung des K in Höhe von 11.000 EUR wieder auf. Gemäß §  488 Abs. 1 S. 2  BGB i. V. m. §§ 171 Abs. 1, 172 Abs. 4 S. 2 HGB haftet der K der X-Bank AG deshalb in Höhe von 11.000 EUR, nicht aber in Höhe von 40.000 EUR. 10. Die stille Gesellschaft ist eine nicht rechtsfähige Personengesellschaft, bei der sich der stille Gesellschafter am Handelsgewerbe eines tätigen Gesellschafters (oder Komplementärs) mit einer Vermögenseinlage in der Weise beteiligt, dass die Einlage in das Vermögen des tätigen Gesellschafters übergeht (§ 230 Abs. 1 HGB) und der stille Gesellschafter (zumindest) am Gewinn des Unternehmens teilnimmt (§ 231 Abs. 2 HGB). Die stille Gesellschaft ist daher eine Beteiligungsform am Handelsgewerbe eines Kaufmanns, die ausschließlich als Innengesellschaft betrieben wird. 11. Bei Personengesellschaften wird der Gläubigerschutz durch die persönliche, unbeschränkte und unmittelbare Haftung von mindestens einem Gesellschafter gewährleistet (§  128 HGB). Ist wie bei den Kapitalgesellschaften die Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten aber auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt (vgl. bspw. §  13 Abs.  2 GmbHG), so ist der Gläubigerschutz u. a. über das erforderliche Mindestkapital erforderlich. 12. Gemeint ist damit die Ausfallhaftung der liquiden Gesellschafter gemäß §  24 GmbHG.  Voraussetzung hierfür ist, dass die Kaduzierung erfolgt ist (§  21 GmbHG), der Rechtsvorgänger erfolglos in Anspruch genommen wurde (§  22 GmbHG), die Versteigerung des Geschäftsanteils nach §  23 GmbHG ebenfalls erfolglos war und auch die Inanspruchnahme des ausgeschlossenen Gesellschafters (§ 21 Abs. 3 GmbHG) keinen Erfolg brachte. Im „worst case“ hat damit ein einziger Gesellschafter verschuldensunabhängig (!) für das gesamte Stammkapital zu haften, wenn alle anderen zahlungsunfähig sind (vgl. BGHZ 132, 390 = NJW 1996, 2306). 13. 1. Stufe = Vorgründungsgesellschaft. Diese entsteht mit Entschlussfassung der Gesellschafter, eine GmbH zu gründen, und dauert bis zur notariellen Beurkundung des Gesellschaftsvertrages. Sie ist eine GbR gemäß den

6.5  Lösungen zu den Fragen: Gesellschaftsrecht









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§§ 705 ff. BGB. Betreibt bereits die Vorgründungsgesellschaft ein Handelsgewerbe, ist sie eine OHG gem. § 105 Abs. 1 HGB. Die Gesellschafter haften persönlich und unbeschränkt, auch mit dem privaten Vermögen. 2. Stufe = Vorgesellschaft oder Vor-GmbH. Diese entsteht mit notarieller Beurkundung des Gesellschaftsvertrages und dauert bis zur Eintragung ins Handelsregister an. Sie ist eine Rechtsform eigener Art, auf die das GmbH-­ Recht Anwendung findet, soweit nicht die Eintragung vorausgesetzt ist. Die Gesellschafter haften nur bis zur Höhe ihrer Einlagen  gegenüber der ­Gesellschaft und alle, die im Namen der Gesellschaft handeln, können nach § 11 Abs. 2 GmbHG mit ihrem Privatvermögen haften. In der Regel ist das der Geschäftsführer, der bereits mit Vertragsschluss feststeht.   3. Stufe = GmbH. Diese entsteht mit Eintragung ins Handelsregister, § 11 Abs.  1 GmbHG.  Nur noch das GmbH-Recht findet Anwendung. Die Gesellschafter haften nur noch mit ihrer Einlage. 14. Ja, §  5a GmbHG eröffnet die Möglichkeit eine Unternehmergesellschaft (UG) mit einem Stammkapital von einem Euro zu gründen. Dabei besteht allerdings die Pflicht zur Rücklagenbildung gem. § 5a Abs. 3 S. 1 GmbHG, wobei die Rücklagen u. a. nur zur Kapitalerhöhung gem. § 57c GmbHG verwendet werden dürfen (Umwandlung der Rücklagen in Stammkapital § 5a Abs. 3 S. 2 Nr. 1 GmbHG). Durch diese Umwandlung wandelt sich die UG in eine GmbH, wenn das Mindeststammkapital nach § 5 Abs. 1 GmbHG (25.000,-- EUR) erreicht worden ist (vgl. § 5a Abs. 5 GmbHG). 15. Die „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“ oder „UG (haftungsbeschränkt)“, ist eine GmbH, die mit einem Mindeststammkapital von einem Euro gegründet werden kann, § 5a GmbHG. Es wird daher auf das Mindeststammkapital i. H. v. 25.000 EUR (§ 5a Abs. 1 GmbHG) verzichtet. Dafür muss die UG zwingend einen entsprechenden Zusatz führen, §  5a Abs.  1 GmbHG.  Zudem besteht eine „Ansparpflicht“, §  5a Abs.  3 GmbHG.  Eine Gründung mittels Sacheinlagen ist ferner ausgeschlossen, das Stammkapital muss bei der Anmeldung zudem in voller Höhe eingezahlt sein, § 5a Abs. 2 GmbHG. 16. Die S-Bank AG kann sich mit ihrer Darlehensrückzahlungsforderung nach § 488 Abs. 1 S. 2 BGB nur dann an C halten, wenn dieser für die Verbindlichkeiten der GmbH auch mit seinem Privatvermögen haftet. Nach §  13 Abs. 2 GmbHG haftet jedoch für Verbindlichkeiten der Gesellschaft allein das Gesellschaftsvermögen. Soweit Gesellschaftsvermögen nicht vorhanden ist, kann der Gläubiger keine Befriedigung erlangen. Etwas anderes könnte gelten, wenn der Gesellschafter seine Einlage nicht oder noch nicht voll erbracht hätte. Der Gläubiger könnte dann versuchen, sich aufgrund eines Titels gegen die Gesellschaft den Anspruch der Gesellschaft gegen den säumigen Gesellschafter pfänden und überweisen zu lassen. Hier war jedoch die Stammeinlage voll eingezahlt und der Gesellschaft nicht wieder entzogen worden, so dass die S-Bank AG keine Möglichkeit hat, sich wegen ihrer Darlehensrückzahlungsforderung an C zu halten. 17. Die Verlustdeckungshaftung betrifft die Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber ihrer Vor-GmbH, wenn der tatsächliche Wert des Gesellschafts-

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6 Gesellschaftsrecht

vermögens bis zur Handelsregistereintragung unter das erforderliche Stammkapital absinkt. Kommt es dennoch zu einer Eintragung der GmbH, so setzt sich diese Verlustdeckungshaftung auch im Stadium der GmbH weiter fort und wird dann als sog. Vorbelastungs-/Unterbilanzhaftung oder aber auch als Differenzhaftung bezeichnet. Im Unterschied dazu beschreibt die Differenzhaftung in § 9 Abs. 1 GmbHG das Stadium nach der Eintragung der GmbH ins Handelsregister, wenn der Wert der geleisteten Sacheinlage im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft hinter dem im Handelsregister registrierten Nennbetrag für die Einlage des Gesellschafters zurückbleibt. Der Gesellschafter hat dann die Differenz in Form einer Geldeinlage nachzuzahlen. Ein Anspruch der Gläubiger der Gesellschaft gegen die Gesellschafter besteht dadurch nicht! 18. Eine „verdeckte Sacheinlage“ ist eine Bareinlage, die unter Umgehung des Sachgründungsberichts in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zur Eintragung der GmbH (sechs Monate) zur Sacheinlage wird. Beispiel: A leistet eine Bareinlage in Höhe von 15.000 EUR. Drei Monate nach der Eintragung der GmbH veräußert er seinen Schrott-PKW (Wert: 3000 EUR) an die GmbH für 15.000 EUR. 19. In Abgrenzung zur verdeckten Sacheinlage wird beim „Hin- und Herzahlen“ die Einlage an den Gesellschafter zurückgezahlt, ohne dass dem Gesellschaftsvermögen gleichzeitig irgendein (adäquater) Gegenwert zufließt (vgl. auch Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, 1. Aufl., Heidelberg 2012, S. 124, Rn. 45.).  Grundsätzlich verstößt ein solches Verhalten gegen § 8 Abs. 2 GmbHG, so dass die Bareinlagepflicht bestehen bleibt. § 19 Abs. 5 GmbHG enthält insoweit – gilt auch für das „Hin- und Herzahlen“ – allerdings einen Ausnahme-/Privilegierungstatbestand. Es tritt demnach dann eine Befreiung von der Einlageforderung beim Hin- und Herzahlen ein, wenn die Gesellschaft einen vollwertigen, liquiden, jederzeit fälligen bzw. durch fristlose Kündigung fälligen Rückgewähranspruch erhält. Dies ist insbesondere im sog. Cash-Pool relevant. Nach der Rechtsprechung ist aber die Anmeldung zum Handelsregister für § 19 Abs. 5 GmbHG zwingend (vgl. S. 2). Zudem ist zu beachten, dass § 19 Abs. 4 GmbHG Vorrang genießt. 20. Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer wegen Pflichtverletzung: §§  9a Abs.  1, 43 Abs.  2 GmbHG sowie §§  280 Abs. 1, 611 ff. BGB (Anstellungsverhältnis); strafrechtliche Konsequenzen: § 82 GmbHG (beachte: § 6 Abs. 2 GmbHG); Widerruf der Bestellung aus wichtigem Grund, § 38 Abs. 2 GmbHG; sonstige arbeitsrechtliche Sanktionen (z. B. Abmahnung, Kündigung etc.) 21. Nein. Ein Gesellschafter, der einer GmbH in einem Zeitpunkt, in dem ihr die Gesellschafter als ordentliche Kaufleute Eigenkapital zugeführt hätten, stattdessen ein Darlehen gewährt, kann den Anspruch auf Rückgewähr des Darlehens im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft nur als nachrangiger Insolvenzgläubiger geltend machen (§  39 Abs.  1 Nr.  5 InsO). Das Darlehen des G war in diesem Sinne kapitalersetzend, weil es gewährt wurde, um die Insolvenz der GmbH abzuwenden und weil die

6.6  Lösungen zu den Fragen: Gesellschaftsrecht

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GmbH darüber hinaus von Dritten keinen Kredit mehr zu marktüblichen Bedingungen hätte erhalten können und deshalb ohne das Darlehen schon hätte liquidiert werden müssen. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass dieser Nachrang auch für Darlehen gilt, die unabhängig dieser besonderen Krisen-Situation gewährt wurden. 22. Sie werden ihm raten, eine Einmann-GmbH zu gründen, in welcher er die Alleingeschäftsführungsbefugnis übernimmt (§§  1,  6 Abs.  1 und 3, 35 ff. GmbHG). 23. Ja. Da die AG nicht selbst handeln kann, muss ihr das Handeln der für sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätigen Personen zugerechnet werden. Für ein Verschulden der Vorstandsmitglieder muss die AG nach § 31 BGB analog eintreten, während sie für Erfüllungsgehilfen und Verrichtungsgehilfen nach den allgemeinen Vorschriften der § 278 BGB und § 831 BGB einzustehen hat. Die B-Textil AG muss für den durch ihr vergessliches Vorstandsmitglied verursachten Schaden gemäß §§  280 Abs.  1 u.  3, 281 Abs.  1, 31 BGB einstehen. 24. Der Schadensersatzanspruch, an den S denkt, könnte sich aus § 317 Abs. 1 AktG i. V. m. § 311 AktG ergeben und von ihm als Aktionär gemäß § 309 Abs. 4 AktG i. V. m. § 317 Abs. 4 AktG geltend gemacht werden. § 317 Abs. 1 AktG setzt voraus, dass die oHG herrschendes Unternehmen und die AG eine von ihr abhängige Gesellschaft ist, mit der kein Beherrschungsvertrag besteht. So liegt es im vorliegenden Fall. Die Mehrheitsbeteiligung der Raff & Gierig oHG (§ 16 Abs. 1 AktG) trägt die Abhängigkeitsvermutung (§ 17 Abs. 2 AktG), die nach dem Sachverhalt nicht widerlegt ist. Auch über den Abschluss eines Vertrages i.  S.  d. §  291 AktG sagt der Sachverhalt nichts. Weiter müsste die Raff & Gierig Warenhaus oHG die Exklusivia AG veranlasst haben, ein für sie nachteiliges Rechtsgeschäft vorzunehmen. Die Lieferung der Kaffeemaschinen unter Marktpreis ist ein derartiges nachteiliges Rechtsgeschäft, weil es der Vorstand der Exklusivia AG als ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter (§§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG) nicht geschlossen hätte. Also ist die oHG zu Schadensersatz verpflichtet, zumal ein Nachteilausgleich nicht erfolgt ist. Den begründeten Schadensersatzanspruch darf auch der S als Aktionär geltend machen, indem er in eigenem Namen auf Leistung an die Exklusivia AG klagt (§§ 309 Abs. 4, 317 Abs. 4 AktG). Der S agiert also zu Recht

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Konzernrecht

Für Unternehmen – die heute zunehmend im globalen Wettbewerb stehen – kann 1334 es von Vorteil sein, wenn sie sich miteinander verbinden, um die Effektivität im Markt zu erhöhen (z.  B.  Rationalisierung und Zusammenlegen von Produktion, Just-in-time Logistik, zentrale Strategie und Mitteleinsatz), Transaktionskosten einzusparen oder – sofern die Zusammenarbeit grenzüberschreitend erfolgt – existierende Handelsschranken zu überwinden. Dabei kann die Verbundform rein vertraglicher Natur sein (z.  B.  Hersteller-­ 1335 Zulieferverträge; Gebiets- und Mengenabsprachen) oder sich auf organisatorischer Ebene vollziehen. Für Letzteres bietet das Gesellschaftsrecht vielfältige Möglichkeiten auf unterschiedlichen Integrationsstufen an. Unternehmen können organisatorisch in einer Weise miteinander verbunden werden, dass aus zunächst rechtlich und wirtschaftlich unabhängigen Gesellschaften völlig neue rechtliche Einheiten werden, wie etwa bei der Fusion oder der Verschmelzung. Aus zunächst mehreren selbständigen Unternehmen wird – oftmals begleitet von einer Umwandlung der Rechtsform (Kap. 8) – ein einziges rechtlich selbständiges Unternehmen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die rechtliche Selbständigkeit der Unternehmen zu erhalten und sie lediglich miteinander zu verbinden, wobei die Intensität dieser Verbindung durchaus variieren kann. Angefangen von einer einfachen Beteiligung über eine Mehrheitsbeteiligung bis hin zur Verbindung unter einer einheitlichen Leitung (Konzerne i.  e.  S.) sind diverse Stufen von Unternehmensverflechtungen vorstellbar. Beispiel

Die Gesellschaften A, B und C können dadurch miteinander verbunden werden, dass A an B und C die Kapitalmehrheit erwirbt (§ 16 AktG) oder A, B und C durch wechselseitige Beteiligungen miteinander verflochten werden (§ 19 AktG).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_7

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7 Konzernrecht

A ist Automobilhersteller und gliedert einen Teil seiner unternehmerischen Tätigkeit (z. B. die Produktion der Bremsanlagen) aus, indem er die Geschäftstätigkeit auf eine zu diesem Zweck gegründete  – rechtlich selbständige  – z. B. Einpersonen-Gesellschaft oder eine hierfür zu gründende GmbH überträgt und diese anschließend unter eine einheitliche Leitung stellt (§  18 Abs.  2 AktG). ◄ Um diese verbundenen Unternehmen soll es im nachfolgenden Kapitel gehen, in welchem die Grundzüge des sog. Konzernrechts vermittelt werden, insbesondere • • • •

wann von einem verbundenen Unternehmen gesprochen wird, welche Formen von Unternehmensverbünden es gibt, welche Gefahren von verbundenen Unternehmen ausgehen können und wie der Gesetzgeber diesen Gefahren mittels des Konzernrechts entgegentritt.

7.1

 onzernrecht als Sonderrecht der K verbundenen Unternehmen

In der Unternehmenspraxis nehmen Unternehmensverbünde  – wie angedeutet  – eine bedeutende Rolle ein. Etwa zwei Drittel der in Deutschland bestehenden Aktiengesellschaften sind verbunden bzw. „konzernverflochten“. Auch andere Gesellschaftsformen sind Teil von solchen Unternehmensverbünden, wenngleich nicht in demselben Umfang wie die AG. Trotz der benannten Vorteile haben die Unternehmensverbünde nicht nur posi1337 tive Wirkung, sondern von ihnen gehen auch Gefahren aus. Hält beispielsweise eine AG in einem Unternehmensverbund die Mehrheit an einer GmbH, so hat die AG als Mehrheitsgesellschafterin die Möglichkeit, die Geschäftstätigkeit der GmbH unmittelbar zu beeinflussen. So kann die Muttergesellschaft die Tochtergesellschaft etwa dazu veranlassen, auf lohnende Aufträge zugunsten der Muttergesellschaft zu verzichten oder bestimmte Dienstleistungen unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Insofern besteht die Gefahr, dass die AG als Mehrheitsgesellschafterin der GmbH diese für ihre eigenen unternehmerischen Interessen ausbeutet und zu deren Nachteil agiert, bis hin zu der Situation, dass die Muttergesellschaft die Tochtergesellschaft „entleert“. Damit wird nicht nur die Existenz der GmbH als Gesellschaft gefährdet, sondern in der Folge auch die Interessen der Anteilseigner (in der Regel Minderheitsgesellschafter) und Gläubiger. 1338 Das Konzernrecht verfolgt nun das Ziel, bei größtmöglicher Gestaltungsfreiheit für einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu sorgen. Daher stellt es nicht nur Gestaltungsinstrumente zur Verfügung, um eine konzernweite Unternehmenspolitik durchzusetzen (§§ 15 ff. AktG), sondern es hält auch die notwendigen Regelungen zum Schutz der abhängigen Gesellschaften, deren Anteilseigner und Gläubiger vor (§§ 291 ff. AktG). Das Konzernrecht ist daher das Sonderrecht der Unternehmensverbünde, das zum einen die o­ rganisationsrechtlichen 1336

7.2  Verbundene Unternehmen

531

Aspekte sämtlicher Formen von Unternehmensverbindungen umschreibt und zum anderen den Schutz der gefährdeten Anspruchsgruppen sicherstellt. Seine rechtliche Ausgestaltung findet das Konzernrecht in erster Linie in den 1339 §§ 15 ff. AktG, 291 ff. AktG. Die Klammer bildet dabei zunächst der „Allgemeine Teil“ in den §§ 15–19 AktG, der für alle Rechtsträger die verschiedenen Formen von Unternehmensverbindungen – einschließlich des eigentlichen Konzerns (§ 18 AktG)  – vorstellt und definiert. Daneben treten der „Besondere Teil“ für Aktiengesellschaften (§§ 291 ff. AktG), das unkodifizierte Konzernrecht für alle anderen Rechtsträger (GmbHs oder Personengesellschaften) sowie zahlreiche Einzelvorschriften. Dass dabei z. B. im GmbHG keine Vorschriften zu finden sind, obwohl gerade auch die GmbH Bestandteil eines Unternehmensverbunds sein kann (ungefähr die Hälfte aller GmbHs sind konzernverflochten) führt nun nicht dazu, dass die GmbH-Verbünde schutzlos sind, sondern das Aktienrecht (§§ 291 ff. AktG) wird auf diese Verbünde analog angewandt. Abzugrenzen ist das Konzernrecht 1340 • von der Akquisition/Transaktion: Eine Akquisition ist die Übernahme von Beteiligungen oder Aktiva und Passiva eines Unternehmens. Sie führt nicht ­zwingend zur Konzernierung, da Unternehmen auch gekauft werden, ohne dass sie anschließend in den Konzern (oder das kaufende Unternehmen) inte­ griert werden. • vom Kartellrecht: Während das Konzernrecht die gesellschafts- und organisationsrechtlichen Probleme des Unternehmensverbundes regelt, bestimmt das Kartellrecht die Kontrolle über Unternehmensverbindungen im Hinblick auf die hiermit u. U. verbundene Marktmacht/Marktballung, die sich insbesondere auf der vertraglichen Ebene manifestiert.

7.2

Verbundene Unternehmen

Die Vorschriften der §§  15–19 AktG bilden den allgemeinen Teil des Konzern- 1341 rechts. In diesen Regelungen sind die Verbundformen definiert, die – auch wenn die Regelungen im AktG zu finden sind – nicht nur für Verbünde mit Aktiengesellschaften gelten, sondern auch für Verbünde, in denen Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Personengesellschaften beteiligt sind; § 15 AktG ist nämlich rechtsformneutral formuliert („Unternehmen“ und nicht „AG“) und schließt insoweit alle Organisationsformen ein, selbst solche Verbindungen, an denen auf keiner Seite eine AG oder eine KGaA beteiligt ist. ▶▶

Merke  Die Definitionen der Verbundformen bilden den „Allgemeinen Teil“ des Konzernrechts, während die §§ 291 ff. AktG den „Besonderen Teil“ des Aktienkonzernrechts bilden.

§ 15 AktG fasst unter dem Oberbegriff „Verbundene Unternehmen“ alle im 1342 System des Konzernrechts relevanten Formen von Unternehmensverbünden zusammen. Danach sind verbundene Unternehmen rechtlich selbständige Unter-

532

7 Konzernrecht

nehmen, die in einer bestimmten Art und Weise miteinander verbunden sein ­müssen, wobei sich fünf unterschiedliche Unternehmensverbundsformen aus den §§ 16 ff. AktG ableiten lassen: • • • • • 1343

1344

Mehrheitsbeteiligung (§ 16 AktG), Abhängige und herrschende Unternehmen (§ 17 AktG), Konzern (§ 18 AktG), wechselseitige Beteiligung (§ 19 AktG), Verbindung durch Unternehmensvertrag (§§ 291, 292 AktG).

Die in § 15 AktG enthaltene Aufzählung (Abb. 7.1) ist dabei eine abschließende Umschreibung der möglichen Verbundformen, die nicht nur für das AktG relevant werden, sondern für eine Reihe von gesetzlichen Vorschriften maßgeblich sind (z. B. §§ 8, 11 UmwG; § 54 BetrVG; §§ 36 ff. GWB; §§ 2b, 10a, 12a KWG). Dabei können sich die genannten Unternehmensverbindungen auch überlagern, wenn beispielsweise eine Mehrheitsbeteiligung und ein Beherrschungsvertrag zu einem Konzern führen oder wechselseitige Unternehmen auch in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Zentrale Bedeutung kommt dem konzernrechtlichen Unternehmensbegriff in § 15 AktG zu, denn er eröffnet überhaupt erst die Anwendung des Konzernrechts, ebenso wie der Kaufmannsbegriff die Anwendung des HGB ermöglicht. Dabei hat das Gesetz den für das Konzernrecht maßgeblichen Unternehmensbegriff nicht selbst umschrieben oder abgegrenzt. Ferner findet sich auch in anderen Gesetzen kein einheitlicher Unternehmensbegriff – weder die allgemeine Rechtsordnung (§ 14 BGB) noch das AktG (§ 15 AktG) gehen daher von einem einheitlichen Unternehmensbegriff aus. Gleichwohl muss der Begriff des „Unternehmens“ definiert werden, um die Frage beantworten zu können, ob z. B. ein Großaktionär einer AG bereits als (herrschendes) Unternehmen i. S. des § 17 AktG einzuordnen ist. Einigkeit besteht dahingehend, dass der Begriff des Unternehmens jedenfalls am Zweck des Konzernrechts auszurichten ist, welches – wie beschrieben – den Gefahren begegnen möchte, die innerhalb verbundener Unternehmen insbesondere für abhängige Gesellschaften, Minderheitsgesellschafter und Gläubiger entstehen können. Legt man diesen Zweck zugrunde, kann alleine die Eigenschaft ­„Großaktionär“ 9HUEXQGHQH8QWHUQHKPHQ †$NW*

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Abb. 7.1  Verbundene Unternehmen

7.2  Verbundene Unternehmen

533

oder „Mehrheits- oder Alleingesellschafter einer Gesellschaft“ noch nicht ausreichen, um die Unternehmensqualität im konzernrechtlichen Sinne zu begründen. Vielmehr muss ein weiteres Merkmal hinzutreten, um einen Interessenskonflikt auszulösen, namentlich ein weiteres „eigenständig betriebenes Unternehmen“ des Großaktionärs oder aber eine „maßgebliche Beteiligung an einem anderen Unternehmen“. Erst dann kann nämlich aus den Aktivitäten des Großaktionärs tatsächlich eine Beeinträchtigung der Interessen der Gesellschaft, der Minderheitsaktionäre und der Gläubiger entstehen. Denn erst dann besteht die Gefahr, dass ein Mehrheitsoder Alleingesellschafter seinen Einfluss auf die Gesellschaft nicht mehr ausschließlich in deren Interesse ausüben wird, sondern seinen Einfluss nun auch dazu nutzt, um u. U. ein gegenläufiges Interesse eines anderen Unternehmens oder einer Gruppe von Unternehmen, an denen er beteiligt ist, zu befriedigen. Beispiel

Der BGH hat dies z. B. im Hinblick auf GmbH-Gesellschafter bejaht, die neben ihrer Eigenschaft als Gesellschafter darüber hinaus z. B. auch als Einzelkaufleute unternehmerisch tätig waren (BGHZ 115, 187 ff.; BGHZ 122, 123 ff.). ◄ Das Konzernrecht kann daher schon auf einzelne natürliche Personen Anwendung finden, „wenn der Gesellschafter noch anderweitig Unternehmensinteressen verfolgt und innerhalb der Gesellschaft die notwendigen Einwirkungsmöglichkeiten besitzt, um deren Geschäftstätigkeit an seinen anderen unternehmerischen Interessen auszurichten“ (so BGHZ 95, 330, 335 – „Autokran“) oder eigene gesellschaftsfremde Interessen wirtschaftlicher Art hat, die ihrerseits stark genug sind, um die Gefahr zu begründen, dass diese Interessen vorrangig zu Lasten der (abhängigen) Gesellschaft verfolgt werden. Die Unternehmenseigenschaft kann demnach durch das Vorliegen einer anderweitigen erwerbswirtschaftlichen Interessenbindung konstituiert werden, die nach Art und Intensität stark genug ist, um die Besorgnis einer schädigenden Einflussnahme zu begründen. In einer solchen Konstellation kann herrschendes Unternehmen in einem Verbund auch einfach eine natürliche Person sein (sog. zweckorientierter Unternehmensbegriff). Beispiele

• Autokran-Entscheidung (BGHZ 95, 330): Ein Gläubiger hatte eine Forderung gegen die Autokran GmbH, deren Geschäftsführer und Alleingesellschafter der G war. G selbst hatte noch acht weitere GmbHs. Zwischen den GmbHs verschob er je nach Geschäftslage sein Vermögen. Die Autokran GmbH wurde insolvent  – der Geschäftsführer würde jetzt nicht haften, sofern er seine Einlage bereits erbracht hat, § 13 II GmbHG. Das wäre ein Dilemma für die Gläubiger. Daher hat die Rspr. im sog. Autokran-Urteil eine Erweiterung des Unternehmensbegriffs auf natürliche Personen vorgenommen und den Geschäftsführer als Unternehmen  – namentlich als herrschendes Unternehmen  – behandelt. Damit war er Teil eines Konzerns und haftete „als Unternehmen“ aus §§ 302 f. AktG analog.

534

7 Konzernrecht

• Süssen (BGHZ 80, 69): Ein Gesellschafter G, der selbst zu 25 % und zusammen mit seiner Familie zu 75 % an der beklagten X-GmbH beteiligt war, hatte zusammen mit den Stimmen seiner Familienmitglieder und gegen den klagenden Minderheitengesellschafter die Befreiung von einem in der Satzung enthaltenen Wettbewerbsverbot durch Gesellschafterbeschluss durchgesetzt. G war außerdem zu 60 % am Stammkapital einer weiteren GmbH beteiligt, die im gleichen Geschäftszweig wie die X-GmbH tätig werden wollte. Aufgrund seiner doppelten maßgeblichen Beteiligung an beiden Gesellschaften wurde der G als Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne eingestuft. ◄ Fragen

1. Die rentable Buchhandel- GmbH hat den Tod ihres Firmengründers und Mehrheitsgesellschafters X zu beklagen. Der Alleinerbe A wird neuer Geschäftsführer, hat aber mit Büchern nichts am Hut, sondern macht vielmehr Internetgeschäfte. Er entzieht deshalb der Buchhandel-GmbH Geld und investiert in seine neue Surffix-­Einzelhandlung. Der Minderheitsgesellschafter der Buchhandel-GmbH ist empört und wittert konzernrechtliche Konflikte – zu Recht?

7.2.1 Mehrheitsbeteiligung § 16 AktG regelt die Mehrheitsbeteiligung. Eine solche ist gegeben, wenn ein rechtlich selbständiges Unternehmen im Mehrheitsbesitz eines anderen Unternehmens steht oder mit Mehrheit an einem anderen Unternehmen beteiligt ist. Gehört also die Mehrheit der Anteile oder Stimmrechte an einem Unternehmen einem anderen Unternehmen, so handelt es sich um eine Mehrheitsbeteiligung i.  S.  v. §  16 AktG.  Sie ist die schwächste Form einer Unternehmensverbindung i. S. v. §§ 15 ff. AktG. 1346 Die Mehrheitsbeteiligung spielt in der Systematik des Konzernrechts eine zen­ trale Rolle, da sie die Grundlage der Abhängigkeits- und Konzernvermutung ist (§§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 1 AktG). Eigenständige Bedeutung erlangt sie nur in den Fällen des § 56 Abs. 2 und § 71d S. 2 AktG (die Regeln sind allerdings nahezu irrelevant). 1347 Die Mehrheitsbeteiligung kann sich entweder aus der Mehrheit der Anteile an einem anderen Unternehmen ergeben (sog. Mehrheitsbesitz: §  16 Abs.  1 und  2 AktG, z.  B. 52  % der GmbH-Geschäftsanteile) oder aus einer sich ergebenden Stimmrechtsmehrheit (sog. Mehrheitsbeteiligung: §  16 Abs.  1 und  3 AktG, z. B. Stimmrechte aufgrund von Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag). In der Regel sind Anteile und Stimmen gleich verteilt, d. h. wer die Mehrheit der Anteile eines Unternehmens besitzt, hat auch die Stimmrechtsmehrheit. Allerdings kann diese Ausgewogenheit auch einmal auseinanderfallen, z.  B. wenn Vorzugsaktien ohne Stimmrecht ausgegeben wurden oder wenn die Satzung ein Höchststimmrecht vorschreibt (§§ 12, 134 Abs. 1 S. 2 AktG). Für diese Konstellationen 1345

7.2  Verbundene Unternehmen

535

stellt § 17 Abs. 2 AktG klar, dass es für die konzernrechtlich relevante Abhängigkeitsvermutung nur noch auf die Anteilsmehrheit ankommt. Beispiel

Ein Unternehmen besitzt zwar die Mehrheit der Anteile (Aktien), es sind jedoch ausschließlich stimmrechtslose Vorzugsaktien. Fraglich ist dann, ob das Unternehmen trotzdem beherrschend ist – es kann ja eigentlich keinen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit des anderen Unternehmens ausüben. Für die Frage nach der Abhängigkeit ist dies allerdings ohne Belang. Denn nach §  17 Abs.  2 AktG (Abhängigkeitsvermutung) spielt es zunächst einmal keine Rolle, dass das Unternehmen auf der Hauptversammlung mangels Stimme kaum Einfluss hat, es kommt nur auf die Anteilsmehrheit an. Demnach ist ein Unternehmen, welches die Mehrheit der Anteile hält, beherrschend! ◄ Nach § 16 Abs. 4 AktG sind bei der Berechnung des Mehrheitsbesitzes auch 1348 immer die Anteile hinzuzurechnen, die zwar nicht dem Rechtsträger/Gesellschafter selbst, aber einem von ihm abhängigen Unternehmen oder einem Dritten für seine Rechnung gehören. Denn auch über diese Anteile kann der Rechtsträger/Gesellschafter Einfluss auf das abhängige Unternehmen ausüben. § 16 Abs. 4 AktG lässt es daher nicht zu, dass die Anhängigkeit durch zwischengeschaltete Personen/ Rechtsträger kaschiert bzw. verwässert wird; umgekehrt ergibt sich die Mehrheit oft erst aus der Zurechnungsvorschrift des § 16 Abs. 4 AktG. Beispiel

Die Bayerische Chemie Werke AG ist an der Pharma Dortmund AG mit 33 %, die Keil Arzneimittel AG  – ein Tochterunternehmen der Bayerischen Chemie Werke AG (abhängiges Unternehmen) – mit 20 % beteiligt. Nach § 16 Abs. 4 AktG werden die Anteile der Bayerischen Chemie Werke AG und der Keil Arzneimittel AG zusammengerechnet (53 %). Danach ist die Pharma Dortmund AG ein in Mehrheitsbesitz der Bayerischen Chemie Werke AG stehendes Unternehmen. Diese beiden sind verbundene Unternehmen. ◄ An die Mehrheitsbeteiligung sind diverse Rechtsfolgen geknüpft, u. a.: • Abhängigkeits- und Konzernvermutung (§§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 1 S. 1 und 3 AktG); • Kapitalschutzregelungen, insbesondere kein Zeichnungsrecht bei Kapitalerhöhungen (§§ 56 Abs. 2 und 3 AktG), kein Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung des herrschenden Unternehmens verbunden mit dem Verbot, weitere Anteile an dem herrschenden Unternehmen zu erwerben (§§ 71a Abs. 2, 71d S. 2 AktG); • Mitteilungs- und Offenlegungspflichten (§§  20 Abs.  4, 21 Abs.  2, 160 Abs.  1 Nr. 1 und 2 AktG) • Abfindungsregelung (§ 305 Abs. 2 AktG); • Ausübung des Depotstimmrechts (§ 135 Abs. 1 S. 3 AktG);

1349

536

7 Konzernrecht

• Rechnungslegung (§ 160 Nr. 1 und 8 AktG); • Ausweisungspflicht in der Bilanz (§§ 266 Abs. 3, 271, 290 HGB).

7.2.2 Abhängige und herrschende Unternehmen Dem Tatbestandsmerkmal der Abhängigkeit kommt für das Konzernrecht eine zentrale Bedeutung zu, denn es ist zum einen die Grundlage für die Konzernvermutung (§  18 Abs.  1 S.  3 AktG) und zum anderen knüpfen daran zahlreiche konzernrechtliche Sanktionen an (sog. Konzernschutzrecht), bei denen oftmals schon das Tatbestandsmerkmal der „Abhängigkeit“ genügt, und die tatsächlich ausgeübte Konzernleitungsmacht (§ 18 AktG) gerade nicht eingefordert wird (z. B. beim sog. faktischen Konzern, wenn zwischen dem herrschenden und dem abhängigen Unternehmen gerade kein Beherrschungsvertrag vorliegt, §§ 311–318 AktG). Steht ein Unternehmen unmittelbar (z.  B. durch Beherrschungs- und Gewinn1351 abführungsvertrag) oder mittelbar (z.  B.  Stimmbindungsverträge) unter dem beherrschenden Einfluss eines anderen Unternehmens, so wird es dadurch gemäß § 17 Abs. 1 AktG zu einem abhängigen Unternehmen. Abhängig ist also ein rechtlich selbständiges Unternehmen, über das ein anderes Unternehmen (das herrschende Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann. Unerheblich ist dabei, ob tatsächlich Einfluss ausgeübt wird; ausreichend ist vielmehr, dass die beständige und umfassende Möglichkeit zur Einflussnahme besteht. Hierfür müssen fortdauernde (beständige und nicht zufällige) sowie organisatorische Mittel vorhanden sein, aufgrund derer das herrschende Unternehmen dem abhängigen Unternehmen seinen Willen aufzwingen kann. Das abhängige Unternehmen muss aufgrund gesellschaftsrechtlicher Mittel beherrscht werden können (BGHZ 90, 381, 395  f.). Nicht ausreichend ist dagegen die nur vage bzw. zufällige Möglichkeit der Herrschaftsausübung (z. B. wegen familiärer oder freundschaftlicher Verbundenheit); ebenso wenig ist eine rein wirtschaftliche Abhängigkeit ausreichend (denn dort liegt keine gesellschaftsrechtlich begründete Herrschaft vor) – wie sie etwa bei Liefer- oder Kreditbeziehungen vorkommen mag. Die Abhängigkeit beruht vielfach auf einer Mehrheitsbeteiligung (§ 16 AktG). Wie bereits dargelegt, geht das Gesetz in §  17 Abs.  2 AktG von einer widerlegbaren Vermutung bezüglich der Abhängigkeit aus, d. h. von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen (Anteils- oder Stimmrechtsbeteiligung von mehr als 50 %) wird – widerlegbar – vermutet, dass es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist. Allerdings kann auch eine unter 50 % liegende Beteiligung zusammen mit anderen Umständen rechtlicher oder tatsächlicher (organisatorischer) Art eine Abhängigkeit gem. § 17 Abs. 1 AktG begründen (z. B. bei Identität der Leitungspersonen (BGH BGHZ 69, 334, 337); bei bestehenden Stimmbindungsverträgen oder vertraglich eingeräumten Sonderrechten; bei Treuhandabreden; bei Organisationsverträgen z. B. zentrales Cash-Manage­ment). 1350

7.2  Verbundene Unternehmen

537

Beispiel

Die B-Bank ist langjährige Hausbank der mittelständischen Kamerafabrik K-AG. Sämtliche zu finanzierenden Investitionen wurden in der Vergangenheit ohne große Formalitäten über die B-Bank abgewickelt. Als sich die K-AG in einer finanziellen Schieflage befindet, drängt das Bankhaus auf eine veränderte Absatzpolitik. Um ihrer Ansicht Nachdruck zu verleihen, droht die Bank auf der jährlichen Hauptversammlung der K-AG als Anteilseignerin (die Bank hält 5 % der Anteile) offen damit, die Kreditlinien zu kündigen, falls nicht der Bankvertreter A in den Aufsichtsrat gewählt werden würde. Die „verständigen Aktionäre“ wählen daraufhin A. Bestehen hier Bedenken aus konzernrechtlicher Sicht? Nein, da die B-Bank zwar großen wirtschaftlichen Druck ausüben kann, aber nicht beherrschendes Unternehmen ist. Ihr Einfluss rührt aus den Kreditgeschäften, nicht aus der 5  %-Beteiligung! Anders wäre dagegen zu entscheiden, wenn die Bank z. B. künftig den Vorstand stellen oder 55 % der Anteile halten würde. ◄ Beim Vorliegen der Abhängigkeit ordnet das AktG eine Reihe von konzernrechtlichen Rechtsfolgen an, u. a. • Schutz der abhängigen Gesellschaft, ihrer (Minderheits-)Aktionäre und Gläubiger: §§ 311 ff. AktG (faktische Konzernierung i. w. S), § 302 Abs. 2 AktG (Verlustübernahme bei Betriebspacht oder – überlassung an herrschendes Unternehmen), § 305 Abs. 2 Nr. 2 AktG (Abfindung der Aktionäre bei Abschluss eines Beherrschungsvertrages mit abhängiger Obergesellschaft), §  293d S.  2 AktG (Auskunftsrecht der Vertragsprüfer). Gerade durch die §§ 311 ff. AktG soll verhindert werden, dass das herrschende Unternehmen seinen Einfluss zu Lasten des abhängen Unternehmens missbraucht. Dazu sieht § 311 Abs. 1 AktG vor, dass ein herrschendes Unternehmen seinen Einfluss nicht darauf verwenden darf, ein abhängiges Unternehmen zu einem nachteiligen Rechtsgeschäft zu veranlassen oder Maßnahmen zu dessen Nachteil zu treffen. Die §§ 311 ff. AktG regeln ein umfassendes System für den Nachteilsausgleich und eventuellen Schadensersatz zugunsten des abhängigen Unternehmens. Für das abhängige Unternehmen ergeben sich aus §§ 312–316 AktG Berichtspflichten gegenüber dem herrschenden Unternehmen. Nach § 317 AktG ist das herrschende Unternehmen zum Ersatz des dem abhängigen Unternehmen entstehenden Schadens verpflichtet. • Schutz vor Umgehung von Vorschriften, –– die der Sicherstellung der Kapitalaufbringung und -erhaltung im herrschenden Unternehmen dienen: §§ 56 Abs. 2 und 3, 71d S. 2 AktG (Verbot der Zeichnung bzw. des Erwerbs oder des Besitzes von Aktien des herrschenden Unternehmens), –– die Aktionäre des herrschenden Unternehmens vor einer Verwaltungsherrschaft durch die Umgehung des zwingenden Organisationsrechts schützen: §§ 71d S. 4 , 71b AktG (keine Rechte aus Aktien des herrschenden Unternehmens); §  100 Abs.  2 S.  1 Nr.  2 AktG (gesetzliche Vertreter des ­abhängigen Unternehmens dürfen nicht Mitglied im Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens werden); § 134 Abs. 1 S. 4 AktG (satzungsmäßige

1352

538

7 Konzernrecht

Stimmrechtsbeschränkungen erfassen auch Beteiligung des abhängigen Unternehmens); § 136 Abs. 2 S. 1 AktG (unzulässige Stimmbindung des Aktionärs an Weisung eines abhängigen Unternehmens; das Stimmrecht darf nicht so ausgeübt werden, dass das herrschende Unternehmen in das abhängige Unternehmen hineinregiert). –– die den Schutz des herrschenden Unternehmens vor Unregelmäßigkeiten oder „Selbstbedienung“ der Verwaltung bezwecken: §  89 Abs.  2 S.  2 Alt. 1, § 115 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 (Kreditgewährung); § 145 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 (Auskunftsanspruch der Sonderprüfer auch gegenüber dem abhängigen Unternehmen).

7.2.3 Konzern In § 18 Abs. 1 AktG wird der Begriff des Konzerns i. e. S. definiert. Über die bloße Abhängigkeit hinaus setzt ein Konzern i. e. S. voraus, dass ein oder mehrere Unternehmen unter einer einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefasst sind; die einzelnen über die Leitung miteinander verbundenen Unternehmen werden als Konzernunternehmen bezeichnet (§ 18 Abs. 2 AktG). Der für den Konzern konstitutive Begriff der „einheitlichen Leitung“ ist im 1354 Gesetz nicht definiert. Nach h.  M. liegt eine einheitliche Leitung vor, wenn die Konzernspitze für die zentralen unternehmerischen Bereiche eine Gesamtplanung aufstellt und deren Vollzug durch die Gliedgesellschaften (rechtlich selbständige Einheiten) sicherstellt und kontrolliert. Kriterien/Indizien, die für eine einheitliche Leitung sprechen, sind: 1353

• Strategische Zielvorgaben für den Gesamtkonzern und allenfalls Konkretisierung für jedes abhängige Unternehmen; • Festlegung der Struktur des Konzerns (Regelelemente); • Vorgaben für die personelle Besetzung der Geschäftsleitungen bei den Konzernunternehmen oder Identität der Organmitglieder auf Geschäftsleitungsebene; • übergeordnete Organisation des Finanz- und Rechnungswesens (Zuteilung der finanziellen Mittel, Ausstattung der abhängigen Unternehmen mit Eigenkapital, Fremdkapital usw.); • Aufbau einer übergeordneten institutionalisierten Überwachung (Weisungen, Kontrolle, Korrektur). Neben diesen minimalen Anforderungen nimmt die Konzernleitung oft weitere (zentrale) Aufgaben wahr, die ebenfalls als indiziell gelten können (wenngleich weitere Umstände hinzutreten müssen): • Detaillierte Zielvorgaben für die Konzernunternehmen; • Erbringung zentraler Dienstleistungen, welche für das einzelne Konzernunternehmen zu teuer wären (Forschung und Entwicklung, EDV, Recht, zentrales Marketing usw.); • zentrale Verwaltung der Immaterialgüterrechte.

7.2  Verbundene Unternehmen

539

Voraussetzung für einen Konzern i.  e.  S. ist demnach die Zusammenfassung 1355 eines herrschenden und eines oder mehrerer abhängiger Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens. Eine unwiderlegliche Konzernvermutung besteht für den Fall eines Beherrschungsvertrages (Vertragskonzern, § 291 AktG) oder im Falle einer Eingliederung (§ 319 AktG), § 18 Abs. 1 S. 2 AktG. Im Fall der einfachen Abhängigkeit (faktischer Konzern) besteht nur eine widerlegliche Konzernvermutung, § 18 Abs. 1 S. 3 AktG. Beispiel

Die X-GmbH erwirbt 60 % der Anteile der Y-AG und nimmt sie in Besitz. Es handelt sich bei der X-GmbH sich um ein Unternehmen, so dass die §§ 15 ff. AktG Anwendung finden. Die Voraussetzungen einer Mehrheitsbeteiligung nach § 16 Abs. 1 AktG sind erfüllt. Somit greift die Vermutung des § 17 Abs. 2 AktG ein, dass die Y-AG von der X-GmbH abhängig ist. Ebenso greift die Vermutung des §  18 Abs.  1 S.  3 AktG ein, dass die X-GmbH und Y-AG einen Konzern i. S. des § 18 Abs. 1 S. 1 AktG bilden. ◄ Das Gesetz unterscheidet zwischen Unterordnungs- und Gleichordnungs- 1356 konzernen. Bei einem Unterordnungskonzern (vertikaler Konzern) wird die einheitliche Leitung durch ein herrschendes Unternehmen über ein oder mehrere abhängige Unternehmen ausgeübt, §§ 18 Abs. 1, 291 AktG. Zwischen dem leitenden Unternehmen und den abhängigen Unternehmen besteht ein Über-/Unterordnungsverhältnis, was den Begriff „Unterordnungskonzern“ erklärt. Bei einem Gleichordnungskonzern (horizontaler Konzern) sind mehrere Unternehmen unter einheitlicher Leitung (z. B. gemeinsame Geschäftsführungsorgane oder Personalunion in der Verwaltung) zusammengefasst (§ 319 AktG), ohne dass das eine vom anderen abhängig wäre, § 18 Abs. 2 AktG; sie bewegen sich – trotz gemeinsamer Leitung – damit auf Augenhöhe. Der Gleichordnungskonzern kann vertraglich begründet sein, indem sich die Vertragspartner darauf einigen, den Weisungen einer installierten Leitung Folge zu leisten, oder dadurch, dass sich mehrere Unternehmen faktisch (also ohne Vertrag, konkludent) einheitlich leiten (faktischer Gleichordnungskonzern). Zahlreiche verbotene Preiskartelle entsprechen dem Bild eines faktischen Gleichordnungskonzerns. Beim Gleichordnungskonzern haben naturgemäß die konzernrechtsrelevanten Paragraphen, die an die Abhängigkeit anknüpfen, keine Bedeutung, da die Abhängigkeit gerade fehlt. Außer zwischen Unterordnungs- und Gleichordnungskonzern wird noch zwischen Vertragskonzern und faktischem Konzern unterschieden. Vertragskonzerne werden nur durch den Abschluss eines Beherrschungsvertages begründet, weil da­ raus ein echtes Weisungsrecht erwächst (Abschn.  7.2.5). Alle anderen Arten von Konzernen, die beispielsweise nur aufgrund faktischer Leitungsmacht aufgrund von Beteiligungsverhältnissen entstehen, werden als faktische Konzerne bezeichnet (Abschn. 7.2.7). Neben den speziellen Vorschriften zum Vertrags- (§§  291 ff.) und Ein- 1357 gliederungskonzern (§§ 319 ff.) gibt es nur wenige weitere, speziell auf den Kon-

540

7 Konzernrecht

zern i.  e.  S. abstellende Regelungen, die konzernrechtliche Folgen festschreiben, u. a.: • Verpflichtung der Muttergesellschaft, einen gemeinsamen Konzernabschluss vorzulegen (§§ 290 ff. HGB); • Auskunftsrechte der Sonderprüfer und Abschlussprüfer gegenüber verbundenen Konzernunternehmen (§ 145 Abs. 3 AktG, §§ 320 Abs. 3, 323 Abs. 1 HGB); • Statusverfahren bei fehlerhafter Zusammensetzung des Aufsichtsrates (§  97 Abs. 1 AktG); • Konzernprivileg bei der Höchstzahl der Aufsichtsratsmandate (§  100 Abs.  2 S. 2 AktG); • Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern (§97 Abs. 1 AktG); • Weisungsrecht im Interesse konzernverbundener Unternehmen (§  308 Abs.  1 und 2 AktG); • Mitbestimmung der Arbeitnehmer (§ 5 Abs. 1 S. 1 MitbestG): In einem Unterordnungskonzern werden die Arbeitnehmer sämtlicher Konzernunternehmen dem herrschenden Unternehmen zugerechnet, sodass einerseits aufgrund der erfolgten Zurechnung eine wegen ihrer geringen eigenen Arbeitnehmerzahl eigentlich mitbestimmungsfreie Konzernspitze mitbestimmungspflichtig werden kann und andererseits auch die Arbeitnehmer solcher Konzernunternehmen ihr Mitbestimmungsrecht wahrnehmen können, obschon die Konzernunternehmen als solche die Voraussetzungen der Mitbestimmung nicht erfüllen.

7.2.4 Wechselseitige Beteiligung 1358

§  19 AktG regelt die sog. wechselseitige Beteiligung. Wechselseitig beteiligte Unternehmen sind Kapitalgesellschaften, die dadurch verbunden sind, dass jedem Unternehmen mehr als 25  % der Anteile des anderen Unternehmens gehören. In diesem Fall liegt eine einfache wechselseitige Beteiligung vor (§ 19 Abs. 1 AktG). Sofern einem wechselseitig beteiligten Unternehmen eine Mehrheitsbeteiligung gehört oder das eine auf das andere Unternehmen unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann, ist das eine als herrschendes, das andere als abhängiges Unternehmen anzusehen (§ 19 Abs. 2 AktG). In diesem Fall ist ein Beherrschungsverhältnis bei wechselseitiger Beteiligung in der Weise gegeben, dass das abhängige Unternehmen mehr als 25  % der Anteile des herrschenden ­Unternehmens hält, während dieses mehr als 51  % der Anteile des abhängigen Unternehmens hält. Gehört jedem der wechselseitig beteiligten Unternehmen an dem anderen Unternehmen eine Mehrheitsbeteiligung oder kann jedes auf das andere unmittelbar oder mittelbar Einfluss ausüben, so gelten beide Unternehmen als beherrschend und abhängig (§  19 Abs.  3 AktG). Diese beiderseitig herrschende oder abhängige Beteiligung entsteht, wenn jedes Unternehmen mehr als 51 % der Anteile des anderen hält.

7.2  Verbundene Unternehmen

541

Bei wechselseitigen Beteiligungen differenziert das Gesetz also danach, ob zu- 1359 gleich die Voraussetzungen einer Mehrheitsbeteiligung und damit einer Abhängigkeit vorliegen. Für wechselseitige Beteiligungen ohne Abhängigkeit gilt § 328 AktG. Danach bestehen zum einen Mitteilungspflichten nach §§ 20, 21 AktG, zum anderen dürfen die Rechte an dem anderen Unternehmen zu höchstens einem Viertel ausgeübt werden. Beispiel

Die X-AG hält 26 % an der Y-AG und die Y-AG 38 % an der X-AG. Wenn X seine Beteiligung an Y dieser gemäß § 20 Abs. 1 AktG mitteilt oder Y dies in anderer Weise erfährt, kann Y gemäß § 328 Abs. 1 S. 1 AktG seine aus der Beteiligung fließenden Dividendenansprüche und Stimmrechte nur noch für höchstens 25  % des Grundkapitals ausüben. Hat umgekehrt Y der X zuerst die Beteiligung mitgeteilt, dann greift die in § 328 AktG angeordnete Beschränkung nur gegen X ein (§  328 Abs.  2 AktG). Solange keine Mitteilung gemacht ist, bestehen gemäß § 20 Abs. 7 und 6 AktG keine Beteiligungsrechte. Sobald die wechselseitige Beteiligung eingetreten ist, sind sich die beiden Gesellschaften gemäß § 328 Abs. 4 AktG zur Mitteilung jeder Änderung ihrer jeweiligen Beteiligung an der anderen verpflichtet. ◄ Führt eine wechselseitige Beteiligung auch zu einer Abhängigkeit (§ 19 Abs. 2, 3 AktG), findet § 328 AktG keine Anwendung (§ 19 Abs. 4 AktG). Allerdings sind stattdessen alle konzernrechtlichen Vorschriften über herrschende und abhängige Unternehmen anzuwenden (z. B. Beschränkungen der §§ 56, 71 ff. AktG); ferner sind die wechselseitigen Beteiligungen im Anhang zur Bilanz auszuweisen (§ 160 Abs. 1 Nr. 7 AktG). Beispiel

Die X-AG hält an der Y-AG 52 %, die Y-AG an der X-AG 42 %. Dann gilt X als herrschendes Unternehmen: Y hat gemäß §§ 71d S. 4, 71b AktG in der Hauptversammlung von X kein Stimmrecht; zum Schutz der Gläubiger und Minderheitsaktionäre der Y sind die §§  311  ff. AktG anzuwenden; außerdem greift die Konzernvermutung gemäß § 18 Abs. 1 S. 3 AktG ein. ◄ Die Gefahren, die durch eine wechselseitige Beteiligung entstehen können, liegen 1360 zum einen darin, dass die Massierung des Grundkapitals zu einer Gefährdung für die Gläubiger der Gesellschaft werden kann. Zum anderen kann es auch zu einer Herrschaft der Unternehmensverwaltung in der Hauptversammlung kommen, weil die Rechte aus wechselseitigen Beteiligungen durch die Unternehmensverwaltung ausgeübt werden, die dadurch die Willensbildung der Hauptversammlung der anderen Gesellschaft erheblich – bei größeren Beteiligungen sogar maßgeblich – beeinflussen kann und dann keiner Kontrolle durch die Aktionäre der Gesellschaft mehr unterliegt. Praktisch relevant sind die in §§ 20 AktG ff. geregelten Mitteilungspflichten. 1361 Danach sind Erwerb und Veräußerung maßgeblicher Beteiligungen durch Unter-

542

7 Konzernrecht

nehmen den davon betroffenen Gesellschaften mitzuteilen. Die erhebliche praktische Bedeutung dieser Vorschriften besteht darin, dass sie Publizität erzwingen. Beispiel

Die A-AG erwirbt 50 % der börsennotierten B-AG. Hier besteht eine Mitteilungspflicht gem. § 20 Abs. 1 AktG. Wird diese Mitteilungspflicht verletzt, gilt § 20 Abs. 7 AktG, d. h. Rechte aus der Mitgliedschaft bestehen nicht „für die Zeit, für die das Unternehmen die Mitteilungspflicht nicht erfüllt“. Die A-AG erwirbt 6 % der börsennotierten B-AG. § 20 Abs. 1 AktG greift nicht ein, da kein Erwerb von 1/4 des Kapitals vorliegt. Aber besondere Mitteilungspflichten ergeben sich auch aufgrund des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG). Nach § 33 Abs. 1 S. 1 WpHG besteht bereits eine Mitteilungspflicht bei einem Erwerb von 5 % der Anteile. Diese Mitteilungen werden veröffentlicht, §  40 WpHG.  Bei einer Verletzung der Mitteilungspflicht bestehen keine Rechte aus den betreffenden Aktien, § 44 WpHG. ◄

Wechselseitige Beteiligungen (Teil 1 von 3): Einfache wechselseitige Beteiligung, § 19 Abs. 1 S. 1 AktG Beteiligung

Über 25 Prozent

Unternehmen X

Über 25 Prozent

Beteiligung

Unternehmen Y

Wechselseitige Beteiligungen – I

Wechselseitige Beteiligungen (Teil 2 von 3): Beherrschungsverhältnis bei wechselseitiger Beteiligung, § 19 Abs. 2 AktG Mehrheitsbeteiligung Unternehmen X

Über 25 Prozent

Wechselseitige Beteiligungen – II

oder beherrschender Einfluss

Über 50 Prozent

Beteiligung

Unternehmen Y

7.2  Verbundene Unternehmen

543

Wechselseitige Beteiligungen (Teil 3 von 3): Beiderseits herrschendes/abhängiges Unternehmen, § 19 Abs. 3 AktG Mehrheitsbeteiligung Unternehmen X

oder beherrschender Einfluss

Über 50 Prozent

Über 50 Prozent

Mehrheitsbeteiligung

Unternehmen Y

oder beherrschender Einfluss

Wechselseitige Beteiligungen – III

7.2.5 Vertragskonzerne im Aktienrecht Ausgangspunkt für Vertragskonzerne ist § 18 Abs. 1 AktG. Diese Vorschrift regelt, 1362 wann von einem Unterordnungskonzern gesprochen werden kann. Der Gleichordnungskonzern gem. § 18 Abs. 2 AktG soll im Folgenden außer Betracht bleiben. Für die Entstehung eines Unterordnungskonzerns kommen zwei Möglichkeiten 1363 in Betracht, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Gem. § 18 Abs. 1 S. 2 AktG geschieht dies entweder durch einen Unternehmensvertrag i.  S.  d. §  291 AktG und/oder durch eine Eingliederung gem. § 319 AktG; der Unternehmensvertrag ist für den Vertragskonzern von Bedeutung. Nachfolgend werden die besonderen Formen der vertraglichen Verbundenheit vorgestellt, wobei die §§ 291, 292 AktG abschließend nur Verträge benennen, die zwischen Unternehmen geschlossen werden, von denen mindestens eines der Unternehmen eine AG oder KGaA sein muss: • Beherrschungsvertrag (§ 291 Abs. 1, Alt. 1 AktG), • Gewinnabführungsvertrag (§ 291 Abs. 1, Alt. 2 AktG), • Teilgewinnabführungsvertrag (§  292 Abs.  1 Nr. 2 AktG) und Gewinngemeinschaftsvertrag (§ 292 Abs. 1 Nr. 1 AktG), • Betriebspacht- und Betriebsüberlassungsvertrag (§ 292 Abs. 1 Nr. 3 AktG).

7.2.5.1 Unternehmensverträge/Beherrschungsvertrag Der Beherrschungsvertrag ist gem. § 291 Abs. 1, Alt. 1 AktG die Grundlage eines 1364 Unterordnungskonzerns gem. § 18 Abs. 1 AktG. Durch den Beherrschungsvertrag unterstellt eine AG oder eine KGaA die Leitung der Gesellschaft einem anderen Unternehmen. Wichtigste Folge des Abschlusses ist, dass das herrschende Unternehmen be- 1365 rechtigt ist, dem Vorstand der Untergesellschaft Weisungen zu erteilen (§ 308 AktG)

544

7 Konzernrecht

und der Vorstand der abhängigen Gesellschaft verpflichtet ist, diese Weisungen zu befolgen. Diese Weisungen dürfen für ein beherrschtes Unternehmen auch von Nachteil sein, solange sie nur im Konzerninteresse liegen, § 308 Abs. 1 S. 2 AktG. Somit besteht eine umfassende Leitungsmacht des herrschenden Unternehmens und § 308 Abs. 1 und 2 AktG – die sich im Einzelfall auch als Gefahr für die Aktionäre des abhängigen Unternehmens erweisen kann (Verlust der Dividenden wegen Konzerninteresse).

7.2.5.2 Unternehmensverträge/Gewinnabführungsvertrag Durch Gewinnabführungsverträge verpflichtet sich ein Unternehmen, seinen ganzen Gewinn an ein anderes Unternehmen abzuführen, §  291 Abs.  1, Alt.  2 AktG.  In der Praxis werden Unternehmensverträge regelmäßig mit Gewinnabführungsverträgen verbunden, um so die Vorteile der sog. körperschaftssteuerlichen Organschaft zu erreichen, § 14 KStG. Steuerliche Folge dieses Vertragsverhältnisses ist nämlich, dass das Einkommen 1367 der beherrschten Gesellschaft der herrschenden zugerechnet wird. Somit fällt eine körperschaftliche Mehrfachbelastung weg und es besteht die Möglichkeit der Verrechnung. 1366

Beispiel

Erwirtschaftet das herrschende Unternehmen einen Gewinn i. H. v. 2 Mio EUR und macht das beherrschte Unternehmen Verluste i. H. v. 2 Mio EUR, so können beide Ergebnisse miteinander verrechnet werden. ◄

7.2.5.3 Unternehmensverträge/andere Unternehmensverträge 1368

Andere Unternehmensverträge i. S. d. § 292 AktG sind: • Gewinngemeinschaftsvertrag: Dieser Vertrag hat das Pooling von Gewinnen der Unternehmen und die Gewinnaufteilung zum Gegenstand. Der Abschluss eines solchen Vertrags führt zur GbR. Hierdurch wird versucht, das Risiko der beteiligten Unternehmen zu minimieren. • Teilgewinnabführungsvertrag: Unternehmensvertrag, durch den sich eine AG oder KGaA dazu verpflichtet, einen Teil ihres Gewinns oder den Gewinn einzelner ihrer Betriebe ganz oder zum Teil an einen anderen abzuführen. • Betriebspacht- und Betriebsüberlassungsvertrag: Durch Betriebspachtverträge überlässt eine AG oder KGaA einem Pächter den Besitz und die Nutzung ihres Betriebs (§§  581  ff. BGB), wobei das gesamte Unternehmen verpachtet werden muss, ohne dass die AG oder KGaA noch selbst geschäftlich tätig ist. Der Betriebsüberlassungsvertrag unterscheidet sich davon dadurch, dass die AG oder KGaA ihren Betrieb mit dem erwirtschafteten Gewinnen dem Vertragspartner überlässt und der Vertragspartner im Innenverhältnis verantwortlich bleibt, selbst wenn er im Außenverhältnis im Namen der überlassenden Gesellschaft auftritt.

7.2  Verbundene Unternehmen

545

Diese Verträge begründen keinen Vertragskonzern. Sie lassen im Gegensatz zu 1369 den Verträgen nach §  291 AktG die Verantwortungsstrukturen und Organkompetenzen intakt. An sich handelt es sich lediglich um schuldrechtliche Austauschverträge.

7.2.5.4 Konzernrechtliche Folgen Die besonderen Regeln über Abschluss, Änderung und Beendigung von Unter- 1370 nehmensverträgen gelten für alle der in §§ 291, 292 AktG aufgeführten Verträge, also auch für die „anderen Unternehmensverträge“, die eigentlich reine Austauschverträge sind. Neben der Schriftform (§ 293 Abs. 3 AktG) ist vor allem die Zustimmung der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft (mit qualifizierter Mehrheit) gemäß § 293 Abs. 1 AktG sowie des anderen Vertragsteils nach § 293 Abs. 2 AktG einzuholen. Der Vertrag wird erst wirksam, wenn er in das für die sich verpflichtende oder unterwerfende AG zuständige Handelsregister eingetragen wird (§ 294 AktG). Die Regeln über eine Änderung und Beendigung, ggf. Kündigung aus wichtigem Grund finden sich in §§ 295, 296 AktG. Die besonderen Gefahren bei Vertragskonzernen realisieren sich bei den Ge- 1371 sellschaftsgläubigern und den außenstehenden Aktionären. Insbesondere der Beherrschungs- und der Gewinnabführungsvertrag gem. § 291 AktG kann Maßnahmen zum Nachteil der abhängigen AG legalisieren. Betroffen sind vor allem die außenstehenden Aktionäre, deren Gewinnaussichten beeinträchtigt werden. Diese Personen bedürfen des Schutzes. Daher müssen neben den formalen Anforderungen besondere Sicherungsmechanismen den notwendigen Schutz herstellen. Nachfolgend wird eine Auswahl des Sicherungsinstrumentariums dargestellt: • Verlustübernahme: Zum Schutz des beherrschten Unternehmens hat das herrschende Unternehmen den Verlust des beherrschten Unternehmens zu übernehmen, § 302 AktG. Dieser Anspruch kann von den Gläubigern der abhängigen Gesellschaft gepfändet werden. • Angemessener Ausgleich: Ein angemessener Ausgleich kann durch eine Dividendengarantie gem. §  304 Abs.  1 S.  2 AktG oder durch wiederkehrende Ausgleichszahlungen gem. § 304 Abs. 1 S. 1 AktG erreicht werden. • Abfindung: Den Aktionären der abhängigen AG muss angeboten werden, die Aktien auf Verlangen des Aktionärs gegen eine angemessene Abfindung zu erwerben (§ 305 AktG).

7.2.6 GmbH-Vertragskonzerne Die Bestimmungen der §§ 15–19 AktG gelten für alle Kapitalgesellschaften, also 1372 auch für die GmbH. Die Mitteilungspflichten nach §§ 20, 21 AktG sind aber nur verbindlich, wenn wenigstens auf einer Seite eine AG oder KGaA beteiligt ist. Noch enger ist der An-

546

7 Konzernrecht

wendungsbereich der §§ 291 ff. AktG. Hier kann die GmbH zwar als herrschendes Unternehmen fungieren, während die Rolle der durch diese Vorschriften zu schützenden Gesellschaft den Rechtsformen der AG und KGaA vorbehalten bleibt. Die GmbH eignet sich aber grundsätzlich, um ihr gegenüber Weisungen zu erteilen und dadurch beherrscht zu werden. Denn anders als bei der AG können die Gesellschafter der Geschäftsführung Weisungen erteilen, d. h. bereits mit der Mehrheit wird die GmbH beherrscht bzw. besteht die Möglichkeit hierzu. Deshalb ist die GmbH als beherrschte Gesellschaft vor allem Teil von faktischen Konzernen und nicht hingegen von Vertragskonzernen (s. o.). In der GmbH können Mehrheitsgesellschafter die GmbH beherrschen, ohne dass es eines Beherrschungsvertrages bedarf. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, mit einer GmbH einen Vertragskonzern zu gründen. Die Zulässigkeit von Unternehmensverträgen mit einer GmbH als Untergesellschaft ist heute anerkannt. Folgende Motive sprechen für einen Unternehmensvertrag mit einer GmbH: • steuerliche Vorteile der steuermindernden Organschaft. Die körperschaftssteuerliche Organschaft ermöglicht die Verrechnung von Gewinnen und Verlusten im Organkreis. Voraussetzung hierfür ist nach § 14 KStG, § 17 KStG der Abschluss zumindest eines Gewinnabführungsvertrages zwischen Obergesellschaft und GmbH, um die finanzielle und organisatorische Eingliederung der Untergesellschaft i. S. d. § 14 Nr. 2 KStG nachweisen zu können. • Vermeidung einer denkbaren Haftung des herrschenden Unternehmens, denn durch den Unternehmensvertrag wird ein Handeln zum Nachteil der beherrschten GmbH legalisiert. 1373

Die Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Unternehmensvertrags mit einer GmbH ergeben sich nicht aus dem Gesetz, sondern diese hat die Rechtsprechung entwickelt (BGHZ 105, 324, sog. „Supermarkt-­Beschluss“); erforderlich sind danach: • schriftlicher Vertrag entsprechend § 293 Abs. 3 AktG • notariell beurkundeter einstimmiger Zustimmungsbeschluss der Gesellschafter der abhängigen GmbH entsprechend § 53 Abs. 2 GmbHG • Zustimmungsbeschluss der Gesellschafter der herrschenden Gesellschaft mit qualifizierter Mehrheit entsprechend § 293 Abs. 2 S. 2, Abs. 1 S. 2 AktG • Eintragung in das Handelsregister entsprechend § 54 Abs. 3 GmbHG

1374

Bei Abschluss eines Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrages gilt die Regelung über den Verlustausgleich nach § 302 AktG entsprechend. Durch das Erfordernis der Einstimmigkeit der Gesellschafter der beherrschten GmbH erübrigt sich eine Anwendung von § 305 AktG, da die Gesellschafter dies durch entsprechende Forderung im Vertrag mit dem herrschenden Unternehmen durchsetzen könnten.

7.2  Verbundene Unternehmen

547

7.2.7 Faktische Konzerne Vertragskonzerne sind dadurch gekennzeichnet, dass zwischen dem herrschenden 1375 und dem abhängigen Unternehmen ein Unternehmensvertrag besteht. Dies ist vielfach der Fall, aber nicht zwingend. Vielmehr kann zwischen Gesellschaften ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen, ohne dass ein Beherrschungsvertrag vorliegt. Für solche rein faktischen Unternehmensverbindungen gelten die §§ 311–318 AktG jedenfalls entsprechend, wenn das beherrschte Unternehmen eine AG oder eine KGaA ist.

7.2.7.1 Faktischer Konzern im Aktienrecht Voraussetzungen der Anwendbarkeit der §§ 311 ff. AktG:

1376

• Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses i. S. d. § 17 Abs. 1 AktG; • Abhängigkeit einer AG oder KGaA; • kein Beherrschungsvertrag oder Eingliederungsverhältnis zwischen dem herrschenden Unternehmen und dem abhängigen Unternehmen; Einfluss kann das herrschende Unternehmen z. B. ausüben durch Abstimmungen in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft oder durch Vertreter des herrschenden Unternehmens im Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft oder bei Vorstandsdoppelmandaten. Die zentrale Vorschrift des § 311 AktG statuiert das grundsätzliche Verbot, die 1377 abhängige AG zu veranlassen, „ein für sie nachteiliges Rechtsgeschäft vorzunehmen oder Maßnahmen zu ihrem Nachteil zu treffen oder zu unterlassen“. Das Verbot gilt aber nicht, wenn die dem abhängigen Unternehmen entstehenden Nachteile ausgeglichen werden, § 311 Abs. 1 a. E. AktG. Wie sich aus § 311 Abs. 2 AktG ergibt, muss der Ausgleich der Nachteile nicht sofort erfolgen, sondern es reicht aus, wenn der abhängigen AG am Ende des Geschäftsjahres ein Rechtsanspruch auf Vorteile eingeräumt wird. Zur Sicherung des Ausgleichs hat die abhängige AG jährlich einen Abhängig- 1378 keitsbericht aufzustellen, in dem sie über die Beziehungen zum herrschenden Unternehmen berichtet, § 312 AktG. Für den Fall, dass der Nachteilsausgleich gem. § 311 Abs. 1 und 2 AktG unterbleibt, räumen § 317 AktG und § 318 AktG sowohl der abhängigen Gesellschaft wie auch ihren Aktionären Schadensersatzansprüche ein. §  317 AktG regelt Schadensersatzansprüche gegen das herrschende Unternehmen, § 318 AktG regelt Schadensersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder des herrschenden Unternehmens.

7.2.7.2 Faktischer GmbH-Konzern Die §§ 311 ff. AktG sind ausdrücklich nur anwendbar, wenn das abhängige Unter- 1379 nehmen eine AG oder KGaA ist. Denkbar  – und in der Praxis noch häufiger der Fall – ist, dass das abhängige Unternehmen eine GmbH ist. Bei der GmbH ist insbesondere die Möglichkeit der Einflussnahme noch einfacher durchzusetzen, da die Geschäftsführer weisungsabhängig sind.

548

1380

7 Konzernrecht

Eine faktisch abhängige GmbH liegt  – ähnlich wie beim aktienrechtlichen Regelungsmodell nach §  311 AktG  – vor, wenn eine GmbH von einem anderen Unternehmen abhängig ist, ohne dass zuvor der Abschluss eines Beherrschungsvertrages erfolgt ist. Der Begriff des faktischen GmbH-Konzerns wird wie folgt umschrieben: • Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses i. S. d. § 17 Abs. 1 AktG; • Abhängigkeit einer GmbH; • kein Beherrschungsvertrag zwischen dem herrschenden Unternehmen und dem abhängigen Unternehmen.

1381

Die rechtliche Behandlung des faktischen GmbH-Konzerns war lange Zeit umstritten. Die überwiegende Meinung ist sich heute darüber einig, dass die aktienrechtlichen Vorschriften keine Anwendung finden. Der Schutz der abhängigen GmbH erfolgt aufgrund der allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht (entwickelt durch die sog. „ITT-Entscheidung“ des BGH [BGHZ 65, 15]). Beispiel

Das herrschende Unternehmen hatte die Geschäftsführung der abhängigen GmbH veranlasst, an eine eigene Tochtergesellschaft eine Konzernumlage abzuführen, der keine gleichwertige Gegenleistung gegenüberstand. Das herrschende Unternehmen verfolgte damit zu Lasten der Minderheitsgesellschafter der abhängigen GmbH einen eigenen, wenn auch nur mittelbaren Vermögensvorteil. Nach dem BGH ist kraft der allgemeinen mitgliedschaftlichen Treuebindung dem herrschenden Unternehmen die Schädigung der beherrschten GmbH strikt untersagt, sofern nicht alle Mitgesellschafter ihre Zustimmung erteilen. Jede Nachteilszufügung ohne Zustimmung aller Mitgesellschafter stellt eine Treuepflichtverletzung dar, die zur Rechtswidrigkeit der zugrunde liegenden Beschlüsse führt und das herrschende Unternehmen zum Schadensersatz verpflichtet. Der Anspruch steht der abhängigen GmbH zu und ist vom Geschäftsführer geltend zu machen bzw. im Wege der actio pro socio auch durch einzelne Gesellschafter. ◄ 1382

7.2.7.2.1  Qualifiziert faktischer GmbH-Konzern Die Rechtsprechung des BGH in der ITT-Entscheidung betrifft lediglich den Schutz des Mitgesellschafters, nicht hingegen den Schutz der Gläubiger der GmbH. Hierzu hat sich die Rechtsprechung in den letzten Jahren erst entwickelt. Während man früher die Ähnlichkeit zur AG in den Vordergrund rückte, ist man heute bestrebt, den Besonderheiten der Rechtsorganisationen besser Rechnung zu tragen. Die Rechtsprechungsentwicklung soll zum besseren Verständnis hier nachgezeichnet werden:

7.2  Verbundene Unternehmen

549

Rechtsprechung früher Zum Schutz der Gläubiger der abhängigen GmbH hat der BGH einen anderen Weg gewählt und hatte hierzu die Figur des sog. qualifizierten faktischen GmbH-­ Konzerns entwickelt. Danach lag ein qualifiziertes Konzernverhältnis vor, wenn das Eigeninteresse der abhängigen GmbH in einem durch die Kontrolle von Einzelmaßnahmen und durch einen individuellen Nachteilsausgleich nicht mehr beherrschbaren Ausmaß nachhaltig beeinträchtigt wird. Da faktisch die gleiche Abhängigkeit wie bei einem Beherrschungsvertrag i. S. d. § 291 AktG bestand, sollten auch dieselben Rechtsfolgen wie bei Bestehen eines Beherrschungsvertrages gelten (siehe hierzu BGHZ 107, 7 [„Tiefbau“]; BGHZ 115, 187 (194) [„Video“]). Eine grundlegende Rechtsprechungsänderung erfolgte durch die sog. „Bremer Vulkan“-Entscheidung (BGH ZIP 2001, 1874 ff. = GmbHR 2001, 1036 ff.): Danach besteht kein Schutz einer abhängigen Gesellschaft gegen Eingriffe ihres Alleingesellschafters analog §§ 291 ff. AktG., §§ 311 ff. AktG, sondern ist auf die Erhaltung ihres Stammkapitals (§§  30  f. GmbHG) und die Gewährleistung ihres Bestandsschutzes beschränkt, der eine angemessene Rücksichtnahme auf die Eigenbelange der GmbH erfordert. In einer späteren Entscheidung hat der BGH die Rechtsfigur des qualifiziert faktischen GmbH-Konzerns ausdrücklich aufgegeben. Rechtsprechung heute An dessen Stelle tritt die Haftung aus dem sog. existenzvernichtendem Eingriff 1383 (BGHZ 150, 61 = BB 2002, 1012 = ZIP 2002, 848 = NJW 2002, 1803). Wörtlich heißt es: „Das System der auf das Gesellschaftsvermögen beschränkten Haftung beruht auf der unausgesprochenen, für das Recht der Kapitalgesellschaften jedoch grundlegenden Voraussetzung, dass das Gesellschaftsvermögen, das zur Erfüllung der im Namen der Gesellschaft eingegangenen Verbindlichkeiten benötigt wird, in der Gesellschaft zum Zwecke der Befriedigung ihrer Gläubiger verbleiben muss und damit der – im Recht der GmbH im Übrigen sehr weitgehenden – Dispositionsbefugnis der Gesellschafter entzogen ist. Die GmbH hat zwar keinen Anspruch gegen ihre Gesellschafter auf Gewährleistung ihres Bestandes. Sie können die Existenz der Gesellschaft im Grundsatz jederzeit – sei es im Rahmen einer freiwilligen Liquidation, sei es im Rahmen eines Insolvenzverfahrens  – beenden (BGHZ 76, 352 (353); 103, 184 (192); 129, 136 (151)). In jedem Fall hat ihre Beendigung jedoch in einem geordneten Verfahren zu erfolgen, in dem die Vermögenswerte der Gesellschaft zunächst zur Befriedigung ihrer Gläubiger zu verwenden sind. Auf keinen Fall kann es ihnen erlaubt sein, der Gesellschaft ihr Vermögen ohne Rücksichtnahme auf ihre gesetzliche Funktion, anstelle ihrer Gesellschafter als Haftungsträger zu dienen, zu entziehen und ihr dadurch die Möglichkeit zu nehmen, ihre Verbindlichkeiten – ganz oder wenigstens teilweise – zu erfüllen. Den Gesellschaftern steht innerhalb wie außerhalb der Liquidation nur der Zugriff auf den zur Erfüllung der Gesellschaftsverbindlichkeiten

550

7 Konzernrecht

nicht benötigten Überschuss zu. Die Notwendigkeit der Trennung des Vermögens der Gesellschaft von dem übrigen Vermögen der Gesellschafter und die strikte Bindung des ersteren zur – vorrangigen – Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger bestehen während der gesamten Lebensdauer der GmbH. Beide – Absonderung und Zweckbindung – sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass die Gesellschafter die Beschränkung ihrer Haftung auf das Gesellschaftsvermögen in Anspruch nehmen können. Allein dieses Zusammenspiel von Vermögenstrennung und Vermögensbindung einerseits sowie die Haftungsbeschränkung andererseits vermag das Haftungsprivileg des §  13 Abs.  2 GmbHG zu rechtfertigen. Entziehen die Gesellschafter unter Außerachtlassung der gebotenen Rücksichtnahme auf diese Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens der Gesellschaft durch offene oder verdeckte Entnahmen Vermögenswerte und beeinträchtigen sie dadurch in einem ins Gewicht fallenden Ausmaß die Fähigkeit der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten, so liegt darin, wie der Senat schon früher ausgesprochen hat (vgl. BGHZ 122, 123 – TBB), ein Missbrauch der Rechtsform der GmbH, der zum Verlust des Haftungsprivilegs führen muss, soweit nicht der der GmbH durch den Eingriff insgesamt zugefügte Nachteil schon nach §§ 30, 31 GmbHG vollständig ausgeglichen werden kann oder kein ausreichender Ausgleich in das Gesellschaftsvermögen erfolgt (…). Das gilt auch und erst recht bei Vorliegen einer Unterbilanz. Außerhalb des Insolvenzverfahrens müssen die Gläubiger, soweit sie von der Gesellschaft keine Befriedigung erlangen können, deshalb grundsätzlich berechtigt sein, ihre Forderungen unmittelbar gegen die Gesellschafter geltend zu machen ….“ (BGHZ 151, 181 ff. = NJW 2002, 3024 ff.). Als Anspruchsgrundlage diente der § 826 BGB (vorsätzlich sittenwidrige Schädigung). Diese Rechtsprechung hat das Gericht mittlerweile fortgeführt. Danach sind bloße Managementfehler für eine Haftung wegen „existenzvernichtenden Eingriffs“ nicht ausreichend. Voraussetzung der Haftung ist vielmehr ein gezielter, ­betriebsfremden Zwecken dienender Eingriff des Gesellschafters in das Gesellschaftsvermögen. Weitere Voraussetzung ist ein Eingriff in den der Befriedigung der Gläubiger dienenden Haftungsfonds der Gesellschaft. Nicht ausreichend ist der Entzug von Sicherungsgut eines einzelnen Gläubigers. Eine Haftung komme auch dann in Betracht, wenn die Gesellschaft im Zeitpunkt des „existenzvernichtenden Eingriffs“ bereits insolvenzreif war (so zuletzt BGH NJW-RR 2005, 681 = BB 2005, 286).

1384

7.2.7.2.2  Qualifiziert faktische AG-Konzern Die Existenz eines qualifizierten faktischen AG-Konzerns wird von der Rechtsprechung für unzulässig erachtet, weil dies mit der Weisungsfreiheit des Vorstands gem. § 76 AktG nicht zu vereinen ist (OLG Hamm NJW 1987, 1030). Fragen

2. Wo ist das Konzernrecht geregelt? 3. Was versteht man unter „verbundenen Unternehmen“?

7.3  Lösungen zu den Fragen: Konzernrecht

551

4. Was steht hinter dem Begriff der „einheitlichen Leitung“? 5. Was sind wechselseitig beteiligte Unternehmen? 6. Was sind „Unternehmensverträge“? 7. Was ist ein „existenzvernichtender Eingriff?“

7.3

Lösungen zu den Fragen: Konzernrecht

1. Ja, denn A ist ein Unternehmen im konzernrechtlichen Sinne, da bei ihm eine wirtschaftliche Interessenbindung in Form einer anderweitigen maßgeblichen Beteiligung (hier an der Surffix-Einzelhandlung) vorliegt. 2. Regelungen zum Konzernrecht finden sich nur im AktG. Die Grundlagen des Konzernrechts, die Definitionen der einzelnen Verbundformen, sind in den §§  15–19 AktG geregelt. In den §§  291–337 AktG finden sich ergänzende Vorschriften u. a. zum Vertrags- und faktischen Konzern. 3. Verbundene Unternehmen sind rechtlich selbständige Unternehmen, die im Verhältnis zueinander in Mehrheitsbesitz stehende Unternehmen, mit Mehrheit beteiligte Unternehmen, abhängige und herrschende Unternehmen, Konzernunternehmen, wechselseitig beteiligte Unternehmen oder Vertragsteile eines Unternehmensvertrages sind (§ 15 AktG). 4. Der für den Konzern konstitutive Begriff der „einheitlichen Leitung“ ist im Gesetz nicht definiert. Nach h. M. liegt eine einheitliche Leitung vor, wenn die Konzernspitze für die zentralen unternehmerischen Bereiche eine Gesamtplanung aufstellt und deren Vollzug durch die Gliedgesellschaften (rechtlich selbständige Einheiten) sicherstellt und kontrolliert. Im Falle der Beherrschung oder Eingliederung werden die Unternehmen als unter einheitlicher Leitung stehend angesehen (§§  18  Abs.  1  Satz  2,  319  AktG). Eine widerlegbare Vermutung gilt für abhängige Unternehmen (§ 17 Abs. 1 AktG), der zufolge vermutet wird, dass diese mit dem herrschenden Unternehmen einen Konzern bilden (§ 18 Abs. 1 Satz 3 AktG). 5. Wechselseitig beteiligte Unternehmen sind Kapitalgesellschaften, die dadurch verbunden sind, dass z.B. jedem Unternehmen mehr als ein Viertel der Anteile des anderen Unternehmens gehört (§ 19 Abs. 1 AktG). 6. Unternehmensverträge sind Verträge, durch die eine AG oder KGaA die Leitung ihrer Gesellschaft einem anderen Unternehmen unterstellt (Beherrschungsvertrag) oder sich verpflichtet, ihren ganzen Gewinn an ein anderes Unternehmen abzuführen (Gewinnabführungsvertrag) (Legaldefinition § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG). 7. Ein existenzvernichtender Eingriff ist ein gezielter, betriebsfremden Zwecken dienender Eingriff des Gesellschafters in das Gesellschaftsvermögen der dazu führt, dass die Gesellschaft nicht mehr den Verbindlichkeiten gegenüber ihren Gläubiger nachkommen kann. Dieser Eingriff stellt eine Form der sittenwidrigen Schädigung nach § 826 BGB dar.

8

Grundzüge des Umwandlungsrechts

Im Zuge sich schnell verändernder Marktumstände oder in Vorbereitung personeller sowie finanzieller Erneuerungen kann es für die Unternehmensleitung durchaus er­ forderlich werden, eine einmal gewählte Gesellschaftsform eines Rechtsträgers zu einem späteren Zeitpunkt nochmals zu verändern („die Gesellschaft neu zu klei­ den“) und sie an die neuen Herausforderungen anzupassen. Umwandlungen sind daher häufig die Folge von Unternehmensveräußerungen, Umstrukturierungen in Unternehmensgruppen oder ergeben sich aus steuerlichen Optimierungsüberle­ gungen im Rahmen von Nachfolgegestaltungen. Welche rechtliche Form ein Unternehmen hat, können die Eigentümer prinzipiell selbst entscheiden. Unsere Rechtsordnung sichert den Gesellschaftern ein hohes Maß an Privatautonomie, welches auch den Wechsel von einer in die andere Rechts­ form gestattet, sofern nur die davon betroffenen Kreise (Gesellschafter, Gläubiger) hinreichend geschützt sind. Um dies sicherzustellen, wurde eigens das seit dem 01.01.1995 geltende Umwandlungsgesetz (UmwG) geschaffen, welches die wesent­ lichen Regelungen zur umwandelnden Strukturänderung inländischer Rechtsträger vorhält. Im nachfolgenden Kapitel wird das Umwandlungsrecht überblicksartig dargestellt, wobei Sie erfahren • welche Rechtsträger als umwandlungsfähig gelten, • welche Umstrukturierungen das UmwG vorsieht und • wie das UmwG die betroffenen Kreise schützt.

8.1 Regelungsgegenstand des UmwG Das Umwandlungsrecht ist in einem eigenen Gesetz, dem Umwandlungsgesetz 1385 (UmwG), geregelt; ganz vereinzelt finden sich auch Regelungen in den für be­ stimmte Gesellschaftsformen geltenden Spezialgesetzen (vgl. z. B. § 179a AktG). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_8

553

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1386

Nach §  1 Abs.  1 UmwG können inländische Rechtsträger umstrukturiert werden, wobei das Gesetz vier Grundformen von Umstrukturierungen vorsieht und näher ausgestaltet: • • • •

1387

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

Verschmelzung (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UmwG, §§ 2–122m UmwG) Spaltung (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UmwG, §§ 123–173 UmwG) Vermögensübertragung (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 UmwG, §§ 174–189 UmwG) Formwechsel (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwG, §§ 190–304 UmwG).

Sonstige Maßnahmen der Umstrukturierung von Rechtsträgern, wie etwa der schuldrechtliche Erwerb von Anteilen durch die übernehmende Gesellschaft (sog. „share deal“) oder durch Erwerb des Unternehmensvermögens (sog. „asset deal“; Abschn. 5.4.3) erfasst das UmwG dagegen nicht.

8.2 Umwandlungsfähige Rechtsträger In § 1 Abs. 1 UmwG benennt das Gesetz die umwandlungsfähigen Rechtsträger. Dabei ist der Begriff „Rechtsträger“ weiter zu fassen als der im Gesellschaftsrecht vorherrschende Begriff des Unternehmensträgers. Neben Kapitalgesellschaften können auch privatrechtliche Verbände (z.  B.  Genossenschaften), in Einzelfällen natürliche Personen sowie öffentlich-rechtliche Körperschaften (vgl. §  3 UmwG, § 124 UmwG) darunter subsumiert werden. 1389 Welche inländischen Rechtsträger im Einzelnen an einer Umwandlung beteiligt sein können, bestimmt das Gesetz für jede Umwandlungsart allerdings gesondert (vgl. §§ 3, 124, 175, 191 UmwG), d. h. im Rahmen der Umwandlungsart wird fest­ gelegt, ob sich ein Rechtsträger für eine bestimmte Umwandlungsform eignet. 1388

▶▶

Merke  In der Klausur muss stets zuerst geprüft werden, ob überhaupt ein um­

wandlungsfähiger Rechtsträger gegeben ist. Erst dann sind die umwandlungs­ rechtlichen Fragestellungen zu behandeln. Ggf. sind bei den jeweiligen Um­ wandlungsformen nochmals Aussagen darüber zu finden, ob ein bestimmter Rechtsträger die Umwandlung vollziehen darf.

8.3 Umwandlungsarten 1390

Die Beschreibung der Umwandlungsarten (insbes. Begriff, Verfahren, Schutz) lässt sich sehr schön aus dem Gesetz selbst erlesen, daher sollte man sich die Vorschriften auch genauer ansehen. Die dort vozufindende Darstellung der verschiedenen Um­ wandlungsarten folgt derselben einheitlichen Struktur, sodass es nachfolgend aus­ reichend sein wird, eine Umwandlungsart ausführlicher zu beschreiben – hier die Verschmelzung  – und bei den anderen Umwandlungsarten nur noch deren Be­ sonderheiten herauszustellen.

8.3 Umwandlungsarten

555

8.3.1 Verschmelzung Das Gesetz benennt in § 2 UmwG zwei Arten der Verschmelzung: • Bei der Verschmelzung durch Aufnahme (Abb. 8.1) übertragen ein oder meh­ rere Rechtsträger (übertragende Rechtsträger) ihr Vermögen als Ganzes (mit allen Aktiva und Passiva) auf einen bereits bestehenden Rechtsträger als über­ nehmenden Rechtsträger (§ 2 Nr. 1 UmwG).

Beispiel

Die X-AG überträgt ihr ganzes Gesellschaftsvermögen auf die Y-AG; ihre Aktio­ näre erhalten Y-Aktien. Die X-AG erlischt. ◄ • Bei der Verschmelzung durch Neugründung (Abb.  8.2) übertragen mindestens zwei oder mehrere Rechtsträger (übertragende Rechtsträger) ihr Vermögen als Gan­ zes auf einen neuen, von ihnen dadurch gegründeten Rechtsträger (§ 2 Nr. 2 UmwG).

Beispiel

Die X-AG und die Y-AG übertragen alle Aktiva und Passiva auf die von ihnen zu diesem Zweck geschaffene Z-AG, deren Aktien die bisherigen Aktionäre der (nunmehr aufgelösten) X und Y erhalten. Die X-AG und die Y-AG erlöschen. ◄

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Abb. 8.1  Verschmelzung durch Aufnahme

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1391

556

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

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Abb. 8.2  Verschmelzung durch Neugründung

1392

1393

Durch die Verschmelzung werden die übertragenden Rechtsträger ohne Liquidation aufgelöst. Dafür erhalten die Anteilsinhaber der übertragenden Rechtsträger in beiden Fällen einen Ausgleich in Form von Beteiligungen an dem übernehmenden bzw. neuen Rechtsträger (§§ 2, 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG). Wer übertragender, über­ nehmender oder neuer Rechtsträger sein kann, benennt § 3 UmwG. Das Gesetz differenziert hinsichtlich der weiteren (insbesondere formalen) An­ forderungen zwischen diesen beiden Arten, der Verschmelzung durch Aufnahme und durch Neugründung.

8.3.1.1 Verschmelzung durch Aufnahme Die Verschmelzung durch Aufnahme ist – wie auch die anderen Umstrukturierungs­ instrumente – in ihrem Ablauf, von der Beschlussfassung bis zur Eintragung, stark formalisiert, d.  h. es ist von Gesetzes wegen ein bestimmter Ablauf des Umwandlungsvorgangs vorgegeben. Grundsätzlich setzt die Verschmelzung durch Aufnahme zunächst einen notariell beurkundeten Verschmelzungsvertrag voraus, der von den Vertretungs­ organen der an der Verschmelzung beteiligten Rechtsträger abgeschlossen wird (§§ 4, 6 UmwG). Die Wirksamkeit des Verschmelzungsvertrags erfordert die Zustimmung der Anteilsinhaber der beteiligten Rechtsträger durch einen notariell beurkundeten Be­ schluss (§ 13 Abs. 1 und 3 UmwG); der Vertrag ist bis zu diesem Zeitpunkt schwe­ bend unwirksam. Bei diesem Beschluss handelt es sich um ein Grundlagengeschäft, der je nach beteiligtem Rechtsträger bestimmte Mehrheitserfordernisse voraussetzt (bei einer

8.3 Umwandlungsarten

557

AG fordert § 65 UmwG beispielsweise eine Mehrheit von mindestens 3/4 des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals). Der Mindestinhalt des Verschmelzungsvertrags richtet sich nach § 5 UmwG. Zen­ tral ist die Festlegung des Umtauschverhältnisses sowie des Stichtages. Eine Abweichung von diesem geregelten Verlauf lässt §  4 Abs.  2 UmwG zu, wonach die Beschlussfassung ausnahmsweise auch schon vor Abschluss des Ver­ schmelzungsvertrags möglich sein soll. Erforderlich ist dann aber, dass der Be­ schlussfassung ein schriftlicher Entwurf des Verschmelzungsvertrags zugrunde liegt, der mit dem später abzuschließenden Vertrag identisch ist (sog. vorweggezogene Einigung). Eine weitere Voraussetzung kann (beachte § 8 Abs. 3 UmwG) die Aufstellung eines Verschmelzungsberichts im Sinne von § 8 UmwG sein. In diesem Bericht, der durch die Vertretungsorgane der an der Verschmelzung beteiligten Rechtsträger erstellt werden muss, sind die in § 8 Abs. 1 UmwG benannten Informationen ent­ halten. Zentraler Punkt ist dabei erneut das Verhältnis der Anteile, welche die An­ teilseigner am aufnehmenden Rechtsträger im Gegenzug für den Verlust ihrer An­ teile am übertragenden Rechtsträger erhalten. Einen weitergehenden Schutz der Anteilseigner eröffnet § 9 UmwG, wonach die Möglichkeit einer Verschmelzungsprüfung durch unabhängige und sachverständige Prüfer besteht, die im Vergleich zu den Vertretungsorganen einen neutraleren Stand­ punkt innehaben. Zu beachten ist jedoch, dass dieses Verfahren nur einsetzt, soweit dies im UmwG vorgeschrieben ist (etwa, wenn eine AG beteiligt ist, § 60 UmwG). Findet eine Verschmelzungsprüfung statt, sind die Anteilseigner hinsichtlich späterer Einwände betreffend der Ausgleichsvornahme präkludiert (d. h. es dürfen keine An­ sprüche diesbezüglich formuliert werden). Die Verschmelzung ist schließlich unter den Voraussetzungen der §§  16, 19 UmwG ins Handelsregister einzutragen und bekannt zu machen; der formale Pro­ zess ist damit abgeschlossen. Beispiel

Zum Umtauschverhältnis bei Verschmelzung: Hat die übernehmende Gesellschaft ein Grundkapital von 10 Mio EUR ein­ geteilt in 100.000 Aktien à 100  EUR, die zum Kurs von 200  EUR gehandelt werden und die übertragende Gesellschaft ein Grundkapital von 1  Mio  EUR, eingeteilt in 1000 Aktien à 100 EUR, die zu 120 EUR gehandelt werden, so sind die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft – sofern man den Börsenwert zu­ grunde legt – dergestalt abzufinden, dass für je zwei Aktien der übertragenden Gesellschaft eine Aktie der übernehmenden Gesellschaft zu gewähren ist. Der darüber ­liegende Spitzenbetrag von 2 x 20 = 40 EUR ist durch Zuzahlung auszu­ gleichen. Besitzt z.  B. ein Aktionär der übertragenden Gesellschaft 5 Aktien (5 x 120 EUR = 600 EUR), erhält er 3 Aktien (3 x 200 EUR = 600 EUR) der übernehmenden Gesellschaft. ◄

558

1394

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

Mit der Eintragung ins Handelsregister geht sodann das gesamte Vermögen ein­ schließlich der Verbindlichkeiten des oder der übertragenden Rechtsträger im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den übernehmenden Rechtsträger über, wobei der oder die übertragenden Rechtsträger endgültig erlöschen (§  20 Abs.  1 Nr.  1, Nr. 2 UmwG). Dies hat den Vorteil, dass eine ansonsten nach den allgemeinen Re­ geln des Privatrechts (Spezialitätsprinzip) vorzunehmende Einzelübertragung jedes einzelnen Vermögensgegenstandes und jeder einzelnen Verbindlichkeit unterbleiben kann. Dabei können nicht nur erhebliche Kosten erspart werden (z.  B.  Notar­ gebühren bei Grundstücksübertragungen), sondern über das Vehikel der Gesamt­ rechtsnachfolge kann zudem die Auflösung und Versteuerung von stillen Reserven der Gesellschaft vermieden werden.

8.3.1.2 Verschmelzung durch Neugründung Bei der Verschmelzung durch Neugründung verweist das Gesetz in §  36 Abs.  1 UmwG weitgehend auf das Verfahren der Verschmelzung durch Aufnahme. An die Stelle des übernehmenden Rechtsträgers tritt der neue Rechtsträger (§§  2 Abs.  1 Nr. 2, § 36 Abs. 1 S. 2 UmwG). 1396 Allerdings sind zudem die Gründungsvorschriften des neuen Rechtsträgers zu beachten (§ 36 Abs. 2 UmwG) und in den Verschmelzungsvertrag mit einzu­ beziehen. Deshalb muss der Verschmelzungsvertrag nach § 37 UmwG den Gesell­ schaftsvertrag, die Satzung oder das Statut des neuen Rechtsträgers mit enthalten. 1395

1397

8.3.1.3 Schutz der Anteilseigner/Gläubiger vor der Verschmelzung Für beide Formen der Verschmelzung sind – insbesondere, weil der übertragende Rechtsträger endgültig wegfällt – Vorschriften vorhanden, die sowohl den Anteils­ eigner als auch die Gläubiger (betroffene Anspruchsgruppen) vor ungewollten Rechtsfolgen schützen. Beispiel

Die A-AG und die B-AG sollen miteinander verschmolzen werden. An der A-AG sind neben dem M die Gesellschafter L mit 10 % sowie der K mit 4 % beteiligt. Bei der B-AG sind neben dem M der S mit 40 % beteiligt. Während S die Ver­ schmelzung in Ordnung findet, gilt L als geldgierig. Es wird befürchtet, dass er die Umtauschverhältnisse zum Anlass nimmt, den Verschmelzungsbeschluss zu torpedieren. Wie müsste verschmolzen werden, um das Risiko der Anfechtung zu minimieren? Es muss die A-AG auf die B-AG verschmolzen werden (die A-AG ist danach nicht mehr existent). Nur dann greift § 14 Abs. 2 UmwG ein, welcher eine Klage wegen eines zu niedrigen Umtauschverhältnisses ausschließt; eine dennoch er­ hobene Klage wäre unzulässig. Würde dagegen die B-AG auf die A-AG verschmolzen (die B-AG gibt es da­ nach nicht mehr), könnte der Verschmelzungsbeschluss der A-AG von dem L mit der Begründung angefochten werden, dass das Umtauschverhältnis zugunsten der Gesellschafter der B-AG zu hoch sei, weil die Unternehmensbewertung un­

8.3 Umwandlungsarten

559

zutreffend vorgenommen worden ist. Hier würde die Anfechtung den Prozess verzögern. ◄ 8.3.1.3.1  Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage Der einzelne Anteilseigner kann den Zustimmungsbeschluss durch die Anfech­ 1398 tungs- bzw. Nichtigkeitsklage gerichtlich überprüfen lassen. Das UmwG enthält diesbezüglich keine speziellen Vorschriften, so dass hierzu auf die allgemeinen Regelungen des Gesellschaftsrechts zurückzugreifen ist. Die Klage muss innerhalb eines Monats nach Beschlussfassung erhoben werden (§ 14 Abs. 1 UmwG). Die Bedeutung einer Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage unterstreicht der § 16 Abs. 2 UmwG: Hiernach wird die Eintragung ins Handelsregister gehemmt (sog. Registersperre). Dadurch kann sich die Verschmelzung verzögern, eventuell kommt sie dann gar nicht mehr zustande. Um dem damit verbundenen Missbrauchspotential einzelner Anteilseigner zu begegnen, die in der Vergangenheit die Rücknahme einer Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage von der Zahlung hoher Geldsummen ab­ hängig machten, hat der Gesetzgeber in §  16 Abs.  3 UmwG ein eigenständiges Unbedenklichkeitsverfahren aufgenommen, das dem Gericht die Möglichkeit einer Vorwegentscheidung einräumt. 8.3.1.3.2 Spruchverfahren Eine Ausnahme von der Möglichkeit einer Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage 1399 sieht das Gesetz in § 14 Abs. 2 UmwG für eine spezielle Fallkonstellation vor. Da­ nach kann eine Klage gegen die Wirksamkeit des Verschmelzungsbeschlusses eines übertragenden Rechtsträgers nicht darauf gestützt werden, dass das Umtauschverhältnis der Anteile zu niedrig bemessen ist, oder dass die Mitgliedschaft bei einem übernehmenden Rechtsträger kein ausreichender Gegenwert für die Anteile oder die Mitgliedschaft bei dem übertragenden Rechtsträger darstellt. Vielmehr hat der Gesetzgeber für diese Konstellation ein eigenes Verfahren nach dem Spruchverfahrensgesetz eingeführt (§ 15 Abs. 1 UmwG i. V. m. § 1 Nr. 4 SpruchG). Wichtigste Konsequenz ist, dass im Klagefall – z. B. betreffend die Ab­ findungshöhe – die Hemmungswirkung von § 16 Abs. 2 UmwG zunächst einmal nicht eintritt. Zu beachten ist jedoch, dass das Spruchverfahren nur für die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers gilt (§§ 14 Abs. 2, 15 UmwG); für die Anteilseigner des übernehmenden Rechtsträgers bleibt es ausschließlich bei der Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage (Grund: s. oben Verschmelzungsprüfung). 8.3.1.3.3 Schadensersatzansprüche Für die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers enthält § 25 UmwG einen 1400 speziellen Schadensersatzanspruch gegenüber ihren Organen für den Fall, dass ihnen durch deren schuldhaftes sowie pflichtwidriges Verhalten ein Schaden ent­ standen ist. Bei der Geltendmachung ist § 26 UmwG zu beachten. Erneut gilt § 25 UmwG nur für die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers; für die Anteilseigner des übernehmenden Rechtsträgers bleibt es (nur) bei den allgemeinen Regelungen.

560

1401

1402

1403

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

8.3.1.3.4  Austrittsrecht + Abfindung Jedem Anteilseigner steht unter den Voraussetzungen in §§ 29 ff. UmwG ein Austrittsrecht zu. Ein solches Austrittsrecht kommt regelmäßig nur bei Minderheits­ anteilseignern in Betracht, da es ein widersprüchliches Verhalten darstellen würde, wenn ein Anteilseigner auf der einen Seite für die Verschmelzung stimmt, auf der anderen Seite wegen ihrer Unzumutbarkeit aber austreten möchte. Von daher muss der Anteilseigner auch gegen die Verschmelzung gestimmt und den Widerspruch zur Niederschrift erklärt haben (§ 29 Abs. 1 UmwG), um überhaupt austreten zu dürfen. 8.3.1.3.5 Gläubigerschutz Einen besonderen Gläubigerschutz sieht zudem §  22 UmwG vor. Hintergrund dieser Regelung ist, dass den Gläubigern des übertragenden Rechtsträgers durch die Verschmelzung ihr Schuldner genommen wird und sie nun einem neuen Schuldner gegenüberstehen, den sie gerade nicht ausgewählt haben. Auch für die Gläubiger des übernehmenden Rechtsträgers entstehen Nachteile, da sie nun mit den Gläubi­ gern des übertragenden Rechtsträgers konkurrieren müssen. Unter den Voraus­ setzungen des § 22 UmwG haben die Gläubiger einen Anspruch auf Sicherheitsleistung. Hierdurch wird die Forderung gegen den Rechtsträger abgesichert.

8.3.1.4 Besonderer Teil des Verschmelzungsrechts Das UmwG enthält in den §§ 39 ff. UmwG darüber hinausgehend besondere Vor­ schriften für den Fall der Verschmelzung bestimmter Rechtsträger. Geregelt ist die Verschmelzung unter Beteiligung von Personengesellschaften (§§  39–45e UmwG), Gesellschaften mit beschränkter Haftung (§§  46–59 UmwG), Aktien­ gesellschaften (§§  60–76 UmwG), Kommanditgesellschaften auf Aktien (§  78 UmwG), eingetragener Genossenschaften (§§  79–98 UmwG), rechtsfähiger Ver­ eine (§§  99–104a UmwG), genossenschaftlicher Prüfungsverbände (§§  105–108 UmwG), Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit (§§  109–119 UmwG) sowie von Kapitalgesellschaften mit dem Vermögen eines Alleingesellschafters (§§ 120–122 UmwG).

8.3.2 Spaltung 1404

Der Begriff Spaltung ist ein Oberbegriff für drei Vorgänge, bei denen der „über­ tragende“ Rechtsträger – der seinerseits spaltungsfähig sein muss (§ 124 UmwG) – einen Teil oder sein gesamtes Vermögen auf einen oder mehrere andere Rechts­ träger überträgt, die entweder schon bestehen können oder aber (das ist die Regel) für diese Operation neu geschaffen werden: • Aufspaltung (§ 123 Abs. 1 UmwG) Bei der Aufspaltung des Rechtsträgers wird dessen gesamtes Vermögen auf min­ destens zwei andere Rechtsträger übertragen; der sich aufspaltende Rechtsträger wird aufgelöst. Den Anteilseignern des aufgelösten Rechtsträgers werden An­

8.3 Umwandlungsarten

561

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Abb. 8.3  Aufspaltung durch Aufnahme

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Abb. 8.4  Aufspaltung durch Neugründung

teile oder Mitgliedschaften an den übernehmenden Rechtsträgern gewährt. Auch hier unterscheidet man zwischen Aufspaltung durch Aufnahme (Abb. 8.3) und Aufspaltung durch Neugründung (Abb. 8.4). Die Aufspaltung stellt somit die Umkehrung der Verschmelzung dar.

562

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

Beispiel

Das Vermögen der X-AG wird auf die neu gegründeten Y-AG und Z-AG über­ tragen. Dadurch entfällt die X-AG; ihre Aktionäre erhalten Y- und Z-Aktien. ◄ • Abspaltung (§ 123 Abs. 2 UmwG) Bei der Abspaltung begibt der „übertragende Rechtsträger“ einen Teil seines Vermögens auf einen oder mehrere schon bestehende oder neu gegründete Rechtsträger; den Anteilseignern des übertragenden Rechtsträgers werden An­ teile an dem „übernehmenden Rechtsträger“ gewährt. Auch hier wird zwischen der Abspaltung zur Aufnahme (Abb.  8.5) und der Abspaltung zur Neugründung (Abb. 8.6) differenziert.

Beispiel

Die X-AG, die hauptsächlich Computer herstellt, überträgt nur ihren Software­ bereich auf die eigens dafür gegründete Y-AG; die Aktionäre der X-AG erhalten Y-Aktien. ◄ • Ausgliederung (§ 123 Abs. 3 UmwG) Bei der Ausgliederung überträgt der „übertragende Rechtsträger“ einen Teil sei­ nes Vermögens auf einen oder mehrere bestehende oder neu gegründete Rechts­ träger (Abb. 8.7 und 8.8); der Unterschied zur Abspaltung liegt darin, dass die Anteile des „übernehmenden Rechtsträgers“ beim „übertragenden Rechtsträger“ verbleiben und nicht an dessen Anteilseigner ausgegeben werden.

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Abb. 8.5  Abspaltung durch Aufnahme

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8.3 Umwandlungsarten

563

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Abb. 8.6  Abspaltung durch Neugründung

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Abb. 8.7  Ausgliederung durch Aufnahme

Beispiel

Die X-Computer-AG überträgt den Softwarebereich auf die dafür gegründete Y-GmbH; alle Anteile an der Y-GmbH bleiben in der Hand der X-AG. ◄ Allen Formen der Spaltung ist gemeinsam, dass der übertragende Rechtsträger 1405 sein Vermögen in mindestens zwei Teile spaltet und mindestens ein Teil auf einen übernehmenden bzw. neuen Rechtsträger übertragen wird (partielle Gesamtrechts­ nachfolge). Auch hier erfolgt – wie bei der Verschmelzung – ein vermögensrecht­ licher Ausgleich an dem übernehmenden Rechtsträger.

564

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

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Abb. 8.8  Ausgliederung durch Neugründung

Im Verfahrensablauf unterscheidet das Gesetz  – ähnlich der Verschmelzung  – zwischen der Spaltung durch Aufnahme (§§ 126–134 UmwG) sowie der Spaltung durch Neugründung (§§ 135–137 UmwG), wobei § 135 Abs. 1 UmwG hin­ sichtlich der Spaltung durch Neugründung weitgehend auf die Regelungen der Spaltung durch Aufnahme verweist. Da die Spaltungsarten in § 123 UmwG gewisse Ähnlichkeiten zu den zuvor be­ schriebenen Verschmelzungsarten aufweisen, verweist § 125 UmwG insbesondere im Hinblick auf die partielle Gesamtrechtnachfolge großzügig auf die Regelun­ gen der Verschmelzung. Darüber hinaus befinden sich im Spaltungsrecht besondere formale Regelungen, die nur für die Spaltung gelten, aber im prozessualen Ablauf denjenigen der Verschmelzung ähneln, u. a. zum Spaltungs- und Übernahmevertrag bzw. Spaltungs­ plan (§§ 126, 136 UmwG), zum Spaltungsbericht (§ 127 UmwG), zur Anmeldung und Eintragung der Spaltung (§§ 129, 130, 131, 137 UmwG) bis hin zum Gläubiger­ schutz (§§ 133, 134 UmwG). 1407 Im Anschluss folgen – wie bei der Verschmelzung – besondere Vorschriften in Bezug auf die Beteiligung bestimmter Rechtsträger (§§ 138–173 UmwG). 1406

Beispiel

M möchte die C-AG, an der er zu 80 % beteiligt ist, umstrukturieren. Die C-AG ist Automobilzulieferer und entwickelt und betreibt patentierte Autoteile, mit deren Hilfe die Leistung der Fahrzeuge um 10  % gesteigert werden kann. M möchte nun die Vertriebsabteilung der C-AG auf eine neu zu gründende G-GmbH „abspalten“. Er bezweckt damit eine Haftungsabschirmung der C-AG vor den Risiken des Vertriebs (u.  a. Verzug/Gewährleistung). Welche Möglichkeiten hat der M?

8.3 Umwandlungsarten

565

Aufspaltung (§ 123 Abs. 1 UmwG) – es wäre eine weitere Gesellschaft er­ forderlich; auf die sind die Anteile der C-AG zu übertragen; M würde 80 % an den beiden neuen Gesellschaften halten; die C-AG würde sodann erlöschen (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 UmwG). Abspaltung (§ 123 Abs. 2 UmwG) – M erhält 80 % der (neuen) G-GmbH; die darüber hinaus zu verteilenden 20 % fallen den anderen Gesellschaftern der wei­ ter fortbestehenden C-AG zu (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 UmwG). Ausgliederung (§ 123 Abs. 3 UmwG) – die C-AG würde 100 %ige Mutter der G-GmbH; die Anteile werden bei dieser Variante nicht an die Anteilseigner der C-AG ausgegeben (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 S. 3 UmwG). ◄

8.3.3 Vermögensübertragung Die in §§  174  ff. UmwG geregelte Vermögensübertragung hat praktisch kaum Be­ 1408 deutung, weil sie wegen des begrenzten Rechtsträgerkreises in § 175 UmwG über­ haupt nur in wenigen Fällen möglich ist. Ihr enger Anwendungsbereich erfasst lediglich Träger der öffentlichen Hand und Versicherungsunternehmen (§ 175 UmwG). Das Gesetz sieht in § 174 Abs. 1 UmwG die Vollübertragung vor, bei der das 1409 gesamte Vermögen von einem auf den anderen Rechtsträger übertragen wird. In § 174 Abs. 2 UmwG ist die Teilübertragung geregelt, bei der nur ein abgespaltener Vermögensteil übertragen wird. Im Unterschied zur Verschmelzung und zur Spaltung werden den Anteilseignern 1410 hier keine Anteile, sondern eine andere Gegenleistung, zumeist Geld, gewährt (denkbar wären auch Anteile an anderen Unternehmen). Im Anschluss an §§ 174, 175 UmwG folgen wiederum besondere Vorschriften in Bezug auf die Beteiligung bestimmter Rechtsträger (§§ 176–189 UmwG).

8.3.4 Formwechsel Bei einem Formwechsel eines Rechtsträgers bleibt dessen wirtschaftliche Identi- 1411 tät erhalten; es findet lediglich eine Änderung der Rechtsform des Rechtsträgers statt (§ 190 Abs. 1 UmwG). Die für einen Formwechsel in Betracht kommenden Rechtsträger führt dabei § 191 UmwG auf. Demnach fehlt es aber im Unterschied zu den anderen Umwandlungsarten beim Formwechsel an einer Vermögensüber­ tragung an einen anderen Rechtsträger. In formaler Hinsicht sind für einen Formwechsel zuerst ein Umwandlungs­ 1412 bericht (§  192 UmwG) sowie ein Umwandlungsbeschluss (§  193 UmwG) erforderlich. Der Formwechsel ist ebenfalls beim Handelsregister anzumelden ­ (§ 198 UmwG) und wird mit der Eintragung wirksam (§ 202 UmwG). Die § 214 UmwG – § 304 UmwG enthalten wiederum besondere Vorschriften in 1413 Bezug auf die Beteiligung bestimmter Rechtsträger (§ 191 UmwG).

566

8  Grundzüge des Umwandlungsrechts

8.3.5 Umwandlungsvorgang Auch wenn es im Rahmen der Verschmelzung bereits angedeutet wurde (Abschn.  8.3.1), folgt die Umwandlung  – gleich welche Umwandlungsform vor­ liegt – einem einheitlichen Schema, welches hier nochmals nachgezeichnet wer­ den soll: • Abschluss des Verschmelzungs- oder Spaltungsvertrags bzw. Entwurf des Um­ wandlungsbeschlusses mit dem vorgegebenen Mindestinhalt (z.  B. §§  4, 5, 6 UmwG); • Zuleitung des Vertrags bzw. des Beschlussentwurfs an die zuständigen Betriebs­ räte soweit vorhanden (z. B. § 5 Abs. 3 UmwG); • ausführlicher schriftlicher Bericht der Vertretungsorgane der beteiligten Rechts­ träger mit einer Begründung, weshalb und in welcher Weise die Umwandlung erfolgen soll und wie sich das Umtauschverhältnis gestaltet (z. B. § 8 UmwG); • gegebenenfalls (soweit vorgeschrieben, wenngleich auch empfehlenswert) Prü­ fung des Umwandlungsvorhabens durch sachverständige Prüfer (z. B. §§ 9, 10 UmwG) mit abschließendem schriftlichen Prüfungsbericht (z. B. § 12 UmwG); • förmliche Einberufung einer Versammlung der Anteilseigner unter Vorlage der Umwandlungsdokumentation (u. a. Vertrag bzw. Beschlussvorlage, Bericht der Vertretungsorgane, Prüfungsbericht; z. B. § 63 UmwG); • Beschlussfassung der Anteilseigner der beteiligten Rechtsträger mit satzungs­ ändernder Mehrheit (z. B. §§  13, 65 UmwG) und notariell beurkundet (§  13 Abs. 3 UmwG); • Anmeldung (§ 16 UmwG) und konstitutive Eintragungen in die (Handels-)Re­ gister der beteiligten Rechtsträger (z.  B. §§  19, 20 UmwG), womit der Um­ wandlungsvorgang abgeschlossen ist.

8.3.6 Umwandlungsklauseln in Gesellschaftsverträgen In Gesellschaftsverträgen befinden sich regelmäßig Klauseln, in denen die rechtlichen Bedingungen für Umstrukturierungsmaßnahmen geregelt sind. Darin sind häufig Zustimmungserfordernisse, Ein- und Austrittsrechte sowie antizipierte Ab­ findungsregelungen enthalten. Die Klauseln müssen  – um Wirksamkeit zu besitzen  – mit den Vorgaben des UmwG übereinstimmen, denn von den Regelungen des UmwG kann nur unter den engen Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 UmwG abgewichen werden. In der Praxis bedeutet dies allerdings auch, dass stets die Gesellschaftsverträge der beteiligten Rechtsträger mit in Augenschein zu nehmen sind, bevor ein Um­ wandlungsvorgang angestoßen wird. 1415 Da Maßnahmen nach dem Umwandlungsgesetz zum Teil recht komplex sind und außerdem die Einhaltung von strengen (z. T. auch kostenintensiven) Formalien erfordern, kann es sich durchaus anbieten, alternativ auf Umstrukturierungsmaßnahmen außerhalb des UmwG zurückzugreifen. Bisweilen können nämlich 1414

8.4  Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Umwandlungsrechts

567

wirtschaftlich identische Ergebnisse deutlich unkomplizierter, schneller und kosten­ sparender erzielt werden. Beispielsweise kann ein einzelkaufmännisches Unter­ nehmen mit allen Aktiva und Passiva im Wege der sog. Einbringung im Rahmen einer Sachkapitalerhöhung (oder auch Sachgründung) in eine Kapitalgesellschaft überführt werden. Dies führt zum selben Ergebnis wie eine Ausgliederung aus dem Vermögen des Einzelkaufmannes nach §§ 152 ff. UmwG. Oftmals interessant sind auch die verschiedenen Arten sog. Anwachsungs­ modelle. Diese beruhen stets auf dem Grundsatz, dass eine Personengesellschaft für ihren Bestand mindestens zwei Gesellschafter haben muss. Scheiden alle bis auf einen Gesellschafter aus, vereinigen sich alle Gesellschaftsanteile in der ver­ bleibenden Person. Die Personengesellschaft wird so automatisch beendet, ihr Ver­ mögen geht im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den verbleibenden Ge­ sellschafter über. Insofern sollte zunächst immer erst strategisch überlegt werden, welche Maß­ nahmen zum Ziel führen können und welche Interessen zu schützen sind. Entfällt das Schutzbedürfnis beteiligter Kreise, führen die vertraglichen Lösungen deutlich unkomplizierter zum gleichen Ziel. Fragen

1. Was ist im Umwandlungsgesetz (UmwG) geregelt? 2. Welche Umstrukturierungsmaßnahmen sieht das UmwG vor? 3. Welche Arten der Verschmelzung kennen Sie?

8.4 Lösungen zu den Fragen: Grundzüge des Umwandlungsrechts 1. Das UmwG setzt die Rahmenbedingungen für die Änderungen von Gesell­ schaftsformen; es enthält Regelungen zur umwandelnden Strukturänderung in­ ländischer Rechtsträger. Nicht vom UmwG erfasst sind dagegen schuldrecht­ liche Umstrukturierungen z. B. in Form von „share deals“ oder „asset deals“. 2. Das UmwG sieht grundsätzlich vier verschiedene Umstrukturierungsmaß­ nahmen vor: a. Verschmelzung (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UmwG, §§ 2–122m UmwG) b. Spaltung (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UmwG, §§ 123–173 UmwG) c. Vermögensübertragung (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 UmwG, §§ 174–189 UmwG) d. Formwechsel (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwG, §§ 189–304 UmwG) 3. § 2 UmwG sieht zwei Arten der Verschmelzung vor: a. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwG regelt die Aufnahme, bei der das Vermögen eines oder mehrerer Rechtsträger (übertragender Rechtsträger) als Ganzes auf einen an­ deren bestehenden Rechtsträger (übernehmender Rechtsträger) über­ tragen wird. b. § 2 Abs. 1 Nr. 2 UmwG betrifft die Neugründung, indem das Vermögen zweier oder mehrerer Rechtsträger (übertragender Rechtsträger) jeweils als Ganzes auf einen neuen, von ihnen dadurch gegründeten Rechtsträger übertragen wird.

Teil III Arbeitsrecht

Das Arbeitsrecht umfasst das Recht der abhängigen Arbeit und ist eine Rechts- 1416 materie von außerordentlicher Bedeutung. Ungefähr 40  Millionen Erwerbstätige sind arbeitsvertraglich gebunden und vertrauen darauf, dass die arbeitsrechtlichen Vorschriften einen verlässlichen und sozial verträglichen Rahmen für ihre Beschäftigung bilden; Personalverantwortliche müssen sich am bestehenden Arbeitsrecht sowie den arbeitsgerichtlichen Entscheidungen orientieren. Das Arbeitsrecht schützt die Arbeitnehmer. Zwar gilt auch im Arbeitsrecht 1417 der Grundsatz der Privatautonomie und ermöglicht es den Vertragsparteien, die Inhalte des Arbeitsvertrages frei auszuhandeln und festzulegen, allerdings existiert in den meisten Fällen eine Übermachtstellung aufseiten des Arbeitgebers, da er es ist, der den Arbeitsplatz zur Verfügung stellt und z. B. darüber entscheiden kann, welche Beschäftigten er einstellt, welche er mit höherwertigen Aufgaben betraut oder auch wieder entlässt. Die Arbeitgeberseite befindet sich daher in einem strukturellen Vorteil, welchen sie auch zulasten der Arbeitnehmer ausnutzen könnte. Um solchen Fehlentwicklungen vorzubeugen, bildet das Arbeitsrecht ein wichtiges Korrektiv, indem es u. a. die Gestaltungsfreiheit begrenzt (z. B. zeitliche Begrenzung von befristeten Arbeitsverhältnissen), Ansprüche der Arbeitnehmer gesetzlich festlegt (z.  B.  Mindestlohn, Urlaubsanspruch) und insgesamt für ein ausgeglichenes Verhältnis in der Rechtsbeziehung zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer sorgt. Die arbeitsrechtlichen Bestimmungen sind daher in erster Linie Arbeitnehmerschutzrecht, sie schränken die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers zugunsten des Arbeitnehmers ein. Das Arbeitsrecht spielt allerdings nicht nur auf der Ebene der Beschäftigten eine 1418 Rolle, sondern es hat auch eine wirtschafts- und sozialpolitische Relevanz. Zwar schreibt das Grundgesetz keine bestimmte Arbeits- und Wirtschaftsordnung vor, jedoch garantiert die Verfassung das Recht, frei von staatlicher Einflussnahme, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden (Art. 9 Abs. 3 GG). Die Tarifautonomie sowie die Möglichkeit, die Interessen auch mittels Arbeitskampf durchsetzen zu können, sind Ausfluss dieses Verfassungsrechts und zentrale Kernbereiche der Arbeitsmarktpolitik. Arbeitsrechtliche Grundsatzentscheidungen werden daher häufig erst in heftigen politischen

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Arbeitsrecht

Auseinandersetzungen errungen – man erinnere sich nur an die Diskussion um die Behandlung der Scheinselbstständigkeit, des Mindestlohns oder neuerdings der Möglichkeiten zum Home Office und der entgrenzten Arbeit. Das Arbeitsrecht wird daher zurecht als das „Nervenzentrum“ der Wirtschaft- und Sozialpolitik bezeichnet. 1419 Entsprechend den verschiedenen Zielsetzungen des Arbeitsrechts unterscheidet man zwischen dem Individualarbeitsrecht und dem Kollektivarbeitsrecht. Während das Individualarbeitsrecht (Kap. 9) die Rechtsbeziehungen zwischen dem Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer regelt – beginnend mit der Ausschreibung und der Bewerbungsphase, über die Einstellung, die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses bis hin zu dessen Beendigung  – regelt das Kollektivarbeitsrecht (Kap. 10) die Beziehungen der arbeitsrechtlichen Koalitionen mit ihren jeweiligen Vertreterorganen auf Arbeitgeberseite (Arbeitgeberverbände) und auf Arbeitnehmerseite (Betriebsräte und Gewerkschaften). Beim kollektiven Arbeitsrecht geht es um (über-)betriebliche Zielsetzungen, einschließlich Koalitions-, Arbeitskampf-, Tarifvertrags-, Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht, die den einzelnen Arbeitnehmer jedenfalls nicht direkt, sondern allenfalls mittelbar betreffen. 1420 Nachfolgend wird ein Überblick über das Individual- und Kollektivarbeitsrecht vermittelt, u. a. • die Grundbegriffe eines Arbeitsverhältnisses  – Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Arbeitsvertrag, • wie ein Arbeitsverhältnis begründet und ausgestaltet werden kann, • welche Pflichten für die Vertragsparteien daraus erwachsen, • welche Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen eintreten, • in welcher Weise Arbeitsverhältnisse beendet werden können, • wie der arbeitnehmerseitige Kündigungsschutz ausgestaltet ist, • durch wen und wie Tarifverträge zustande kommen, • welche Arbeitskampfmaßnahmen es gibt und wie sie wirksam eingesetzt werden können und • wie sich die betriebliche Mitbestimmung gestaltet.

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Individualarbeitsrecht

9.1

Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses

Gegenstand des Arbeitsrechts sind die Arbeitsverhältnisse. Darunter werden ganz allgemein die auf einem privatrechtlichen Vertrag beruhenden Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber verstanden. Das Arbeitsverhältnis ist ein personenbezogenes Dauerschuldverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, das durch den Arbeitsvertrag, mitunter ergänzt um gesetzliche und kollektivrechtliche Bestimmungen (z.  B.  Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen) sowie ungeschriebenen Rechtsregelungen (z. B. betriebliche Übung), ausgestaltet wird. Der Arbeitsvertrag ist seit dem 01.04.2017 in § 611a BGB gesetzlich normiert. Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienst eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Die systematische Stellung der Vorschrift zeigt, dass der Arbeitsvertrag ein Unterfall des Dienstvertrages nach §  611 BGB ist, wenngleich ein wesentlicher Unterschied zum Grundtypus darin besteht, dass der Arbeitnehmer abhängige Arbeit zu leisten hat, d. h. weisungsgebunden und fremdbestimmt agiert (§ 611a Abs. 1 S. 1 BGB). Ausgehend von der generell-abstrakten Definition des Arbeitsverhältnisses, sind die zentralen Merkmale eines Arbeitsverhältnisses demnach: • privatrechtlicher Vertrag, • Arbeitnehmer, • Arbeitgeber. Obschon die vorgenannten Merkmale eindeutig zu sein scheinen, gibt es oft Unsicherheiten und Streitigkeiten darüber, ob auf bestimmte Beschäftigungsverhältnisse das Arbeitsrecht bzw. die arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften überhaupt anwendbar sind. Abgrenzungsschwierigkeiten treten vor allem auf, wenn neue © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_9

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9 Individualarbeitsrecht

Arbeitsformen entstehen, wie etwa das Crowd-Working oder Scrum, und dabei nicht eindeutig entschieden werden kann, welchem Vertragstypus die Rechtsbeziehung zuzuordnen ist und ob die Handelnden als Arbeitnehmer, Scheinselbständige oder Selbständige einzustufen sind.

9.1.1 Privatrechtlicher Vertrag Ein Arbeitsverhältnis kann nur durch einen privatrechtlichen Vertrag  – den Arbeitsvertrag (§ 611a BGB) – begründet werden. Wird ein Dienstverhältnis in anderer Weise in Gang gebracht, so liegt kein Arbeitsverhältnis vor, die Anwendung des Arbeitsrechts und seiner Schutzvorschriften scheidet aus. Beamte, Richter, Soldaten und Zivildienstleistende sind keine Arbeitnehmer. Sie werden aufgrund eines sog. öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses verpflichtet. Diese Verpflichtung erfolgt durch einen hoheitlichen Akt (Verwaltungsakt); für diese Personengruppen gelten die Beamten- und Richtergesetze des Bundes und der Länder bzw. das Soldaten- oder Zivildienstgesetz. Abgrenzungsschwierigkeiten gibt es manchmal im Hinblick auf Familienangehörige, die Dienste aufgrund familienrechtlicher Bestimmungen zu erbringen haben (Ehegatten: §§ 1353 Abs. 1 S. 2, 1360 BGB; Kinder: § 1619 BGB). Zwar schließen diese Vorschriften nicht aus, dass ein Arbeitgeber auch Arbeitsverträge mit seinen Familienangehörigen (Ehefrau, Kinder) schließen kann, allerdings muss hier sehr genau geprüft werden, ob tatsächlich ein Arbeitsverhältnis vorliegt oder die Leistung in Erfüllung familienrechtlicher  und damit außervertraglicher Verpflichtungen erfolgt. Die Rechtsprechung entscheidet im Einzelfall unter Berücksichtigung der Einzelumstände, u. a. Eingliederung in den Betrieb, Höhe der Bezüge im Verhältnis zu der verrichteten Tätigkeit und im Vergleich zu anderen Arbeitskräften sowie der steuerlichen Behandlung der Ehegattenmitarbeit. Persönliche Arbeitsleistung kann auch auf der Grundlage anderer Vertragsarten 1426 erbracht werden, weshalb der Arbeitsvertrag (§ 611a BGB) von diesen Vertragsarten abzugrenzen ist: 1425

• Beim freien Dienstvertrag (z. B. Vertrag mit einem selbständig niedergelassenen Arzt oder Rechtsanwalt) ist der Dienstverpflichtete zwar ebenfalls zur Leistung versprochener Dienste verpflichtet (§ 611 Abs. 1 BGB), allerdings ist der Dienstverpflichtete  – im Unterschied zum Arbeitnehmer  – nicht weisungsgebunden. Bei der Abgrenzung zwischen einem freien Dienst- und einem Arbeitsvertrag geht es daher letztlich immer um die Unterscheidung zwischen einer selbständigen (freier Dienstvertrag) und einer unselbständigen (Arbeitsvertrag) Tätigkeit, wobei maßgebliches Abgrenzungskriterium die Weisungsgebundenheit und die persönliche Abhängigkeit ist, durch welche sich die Arbeitnehmereigenschaft auszeichnet. • Vom Auftrag unterscheidet sich der Arbeitsvertrag durch seine Entgeltlichkeit. Der Beauftragte ist – im Unterschied zum Arbeitnehmer (§ 611a Abs. 2 BGB) – dazu verpflichtet, die ihm übertragene Geschäftsbesorgung unentgeltlich zu er-

9.1  Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses









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bringen (§ 662 BGB). Seitens des Auftragnehmers besteht ein Anspruch auf Auslagen- bzw. Aufwendungsersatz (vgl. §§ 675, 670 BGB). Diese Vorschrift wird mitunter  auch im Arbeitsrecht analog angewandt, wenn der Arbeitnehmer z. B. Aufwendungen im Zusammenhang mit seinem Arbeitsverhältnis macht, die er für erforderlich halten durfte; diese Aufwendungen sind ihm dann gemäß §§ 675, 670 BGB analog zu ersetzen. Vom Werkvertrag (§ 631 BGB) unterscheidet sich der Arbeitsvertrag dadurch, dass der Arbeitnehmer „nur“ das Tätigwerden an sich verspricht (den Arbeitseinsatz bzw. das „Wirken“), während der aus einem Werkvertrag Verpflichtete einen konkreten Erfolg (ein „Resultat“) schuldet. Letzterer hat sich  – im Gegensatz zum Arbeitnehmer – bis zur Abnahme (§ 640 BGB) oder Vollendung des Werks (§ 646 BGB) auf eigene Gefahr darum zu kümmern, dass ein über das bloße Bemühen hinausgehender Erfolg eintritt; er trägt das volle (Haftungs-)Risiko, was beim Arbeitnehmer gerade nicht der Fall ist. Von einem Gesellschafter (z. B. § 705 BGB) unterscheidet sich der Arbeitnehmer dadurch, dass der Gesellschafter seine Dienste zur Erreichung bzw. Förderung des im Gesellschaftsvertrag benannten gemeinsamen (Gesellschafts-)Zwecks leistet (§§ 705, 706 Abs. 3 BGB) und gerade nicht „für“ den Arbeitgeber. Er gibt das Versprechen nicht im Rahmen eines Über- und Unterordnungsverhältnis ab, welches für das Arbeitsverhältnis charakteristisch wäre, sondern gleichwertig sowie gleichgerichtet zum Versprechen der Mitgesellschafter. Davon unberührt kann ein Gesellschafter  – sofern zulässig (z.  B.  Kommanditist, GmbH-Gesellschafter)  – natürlich auch Arbeitnehmer seiner Gesellschaft sein und in einem weisungsgebundenen Arbeitsverhältnis stehen; diese arbeitsrechtliche Verpflichtung ist aber von der gesellschaftsvertraglichen gesondert zu betrachten. Auch der gesetzlich nicht geregelte Franchisevertrag ist kein Arbeitsvertrag. Der Franchisenehmer ist Selbständiger, er wird im eigenen Namen und für eigene Rechnung tätig, auch wenn er an ein genau geregeltes Organisations- und Marketing-Konzept des Franchisegebers gebunden ist. Beamte, Richter und Soldaten werden – wie bereits erwähnt – aufgrund eines durch Verwaltungsakt begründeten öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses tätig, das durch eigene Gesetze begleitet wird. Sie werden nicht auf der Basis eines privatrechtlichen Vertrages tätig. Allerdings können juristische Personen des öffentlichen Rechts (z.  B.  Hochschulen, Kommunen) auch Arbeitnehmer auf der Basis eines privatrechtlichen Vertrages beschäftigen. Umfangreiche Tarifverträge (BAT, MTL, MTG-G) regeln dann die Einzelheiten, die diesem Sonderstatus des sog. „öffentlichen Dienstes“ Rechnung tragen.

9.1.2 Arbeitnehmer 9.1.2.1 Definition des Arbeitnehmers Der Begriff des „Arbeitnehmers“ ist zentral für die Anwendung des Arbeitsrechts 1427 sowie für große Teile des Sozialversicherungsrechts; vom Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft hängt es z. B. ab, ob ein gesetzlicher Anspruch auf Erholungs-

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9 Individualarbeitsrecht

urlaub (§ 1 BUrlG), Kündigungsschutz (§ 1 KSchG) oder auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 3 EntgFG) besteht. Allerdings hat der Gesetzgeber – trotz der grundlegenden Bedeutung des Arbeitnehmerbegriffs  – bislang keine eigenständige gesetzliche Definition zur Verfügung gestellt. Daran änderte auch die Einführung des § 611a Abs. 1 S. 1 BGB zunächst einmal nichts. Zwar wird nach dieser Vorschrift der Arbeitnehmer durch den Arbeitsvertrag „zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet“, eine klassische Begriffsdefinition folgt daraus allerdings nicht, sie lässt sich allenfalls daraus ableiten. Ähnliches gilt auch für andere arbeitsrechtliche Gesetze, die weitere Unterkategorien des Arbeitnehmerbegriffs einführen (Arbeiter, Angestellte, leitende Angestellte, Auszubildende), ohne den Begriff des Arbeitnehmers zuvor definiert zu haben. Legt man für eine Annäherung an eine Arbeitnehmer-Definition den § 611a BGB zugrunde, lassen sich daraus zumindest drei Merkmale ableiten, die für die Arbeitnehmereigenschaft und den Oberbegriff der „unselbständigen Arbeit“ entscheidend sind: weisungsgebunden, fremdbestimmt und persönlich abhängig. Wesentlich ist dabei das Merkmal der Weisungsgebundenheit, da sich aus ihr die Fremdbestimmtheit und die persönliche Abhängigkeit des Dienstverpflichteten ohnehin ableiten. Weisungsgebunden ist gemäß §  611a Abs. 1 S. 3  Hs. 1  BGB, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann (also nicht selbständig ist). Dabei orientiert sich die Weisungsgebundenheit und Fremdbestimmtheit nicht anhand starrer Kriterien, sondern bestimmt sich nach dem Grad der persönlichen Abhängigkeit, welche sich aus der Gesamtbetrachtung aller objektiven Umstände des Einzelfalls und der tatsächlichen Durchführung des Vertrages ableitet (§ 611a Abs. 1 S.  4 BGB). Kriterien, welche dieser Gesamtbetrachtung und Beurteilung zugrunde gelegt werden können, sind u. a.: • Grad der Weisungsgebundenheit (insbesondere bezüglich Inhalt, Durchführung): Hohe Weisungsgebundenheit = Arbeitnehmer. • Bindung an Ort und Zeit der Arbeitsleistung: Ort und Zeit der Arbeitsleistung vorgegeben und besteht keine Dispositionsbefugnis des Leistenden = Arbeitnehmer. • Übernahme von Unternehmensrisiken: Fehlendes Unternehmensrisiko = Arbeitnehmer. • Eingliederung in die betriebliche Organisation: enge, vorgegebene Einbindung = Arbeitnehmer. • Tatsächliche Handhabe bei Ausführung der Tätigkeit: Fremdbestimmtheit = Arbeitnehmer. Die Frage, ob und ggf. in welcher Höhe Vergütung gezahlt wird oder welchen Beitrag eine gezahlte Vergütung zum Lebensunterhalt leistet, gehört dagegen nicht zu den relevanten Kriterien.

9.1  Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses

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Beispiel

Der Chefarzt eines privaten Krankenhauses ist hinsichtlich seiner ärztlichen Tätigkeit nicht weisungsabhängig, allerdings in die organisatorischen Abläufe des Krankenhauses eng eingebunden  – Ort, Zeit und Tätigkeit sind festgelegt und er übernimmt auch kein wirtschaftliches Risiko, so dass er als Arbeitnehmer gilt. Der D ist Schriftsteller und verfasst für eine lokale Tageszeitung in regelmäßigen Abständen Essays. Hier mag die Vergütung zwischen D und der Zeitung geregelt sein (wie viel Cent pro Zeile), allerdings kann er seine Texte inhaltlich frei verfassen, ist weder räumlich noch zeitlich beim Erbringen seiner Leistung gebunden und auch nicht in die betriebliche Organisation eingebunden, so dass D als „freier Mitarbeiter“ (und nicht als Arbeitnehmer) gilt. ◄ § 611a BGB wiederholt damit im Wesentlichen eine frühe Definition des BAG, 1432 wonach als Arbeitnehmer angesehen wird „wer seine Dienstleistung gegenüber einem Dritten im Rahmen einer von diesem Dritten bestimmten Arbeitsorganisation zu erbringen hat“, wobei die Eingliederung in die fremde Arbeitsorganisation danach bemessen wird, „inwieweit der Arbeitnehmer hinsichtlich Zeit, Dauer und Ort der Ausführung der übernommenen Dienste einem umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt“ (BAG v. 25.03.1992  – 7 ABR 52/91). Für eine Arbeitnehmereigenschaft sprachen in ständiger Rechtsprechung u. a. die mangelnde Freiheit, die Arbeitszeit oder die geschuldete Leistung frei zu gestalten oder den Arbeitsort zu bestimmen; Erbringung der Leistung überwiegend in den Räumen oder mit den Mitteln eines anderen und/oder in Zusammenarbeit mit Personen, die von einem anderen eingesetzt oder beauftragt sind; Tätigkeit überwiegend für einen anderen; keine eigene betriebliche Organisation, um die geschuldete Leistung zu erbringen.

9.1.2.2 Abgrenzung zu Selbständigen Ein Arbeitnehmer verpflichtet sich zu Dienstleistungen in „sozialabhängiger Stel- 1433 lung“ und ist – wie dargelegt – weisungsgebunden. Dem gegenüber stehen die selbständigen Gewerbetreibenden, d. h. Personen, die ihre Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten und ihre Arbeitszeit frei bestimmen können (§ 84 Abs. 1 S. 2 HGB) und die freiberuflich Tätigen. Sie sind keine Arbeitnehmer, weshalb ihnen auch der Zugang zu den arbeitnehmerschützenden Vorschriften des Arbeitsrechts (z. B. Arbeitszeitgesetz, Kündigungsschutzgesetz, Entgeltfortzahlungsgesetz) verwehrt bleibt. Indizien für eine selbständige Tätigkeit sind u. a. das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Disposition über die eigene Arbeitskraft, das Übernehmen eines Unternehmerrisikos sowie die Möglichkeit, frei über die Arbeitszeit und den -ort zu verfügen. Die Unterscheidung von unselbständiger und selbständiger Dienstleistung 1434 ist nicht immer einfach. Im Wirtschaftsleben haben sich in der Vergangenheit immer wieder Betätigungsformen herausgebildet, bei denen die Einordnung trotz der vorhandenen Indizien Schwierigkeiten bereitet.

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9 Individualarbeitsrecht

Beispiel

Ein Beispiel ist das sog. Scrum, ein Vorgehensmodell des heutigen Projekt- und Produktmanagements, was ursprünglich für die Softwaretechnik entwickelt wurde, mittlerweile aber in vielen anderen Bereichen eingesetzt wird. Dem Scrum-Team wird unternehmensseitig nur noch ein Ziel vorgegeben und das Team entscheidet selbständig, wer welche Teilaufgabe übernimmt, um das Ziel zu erreichen. Dabei genießen gerade die Softwareentwickler zahlreiche Freiheiten bezüglich der Arbeitszeit sowie des Arbeitsortes. In einer solchen Konstellation kann es daher durchaus streitig sein, ob eine Arbeitnehmereigenschaft anzunehmen ist. Sie würde eindeutig vorliegen, wenn der Softwarespezialist fest in die Betriebsorganisation eingebunden wäre, also Arbeitszeiten einzuhalten hätte, ein festes Büro hätte und seine Tätigkeit durch die betrieblichen „Kontrollmechanismen“ reglementiert wäre. Umgekehrt wäre er eindeutig als Selbständiger zu qualifizieren, wenn er nicht Teil des unternehmensseitigen Scrum-Teams wäre. ◄ 1435

Mit dem vorgenannten Beispiel ist zugleich eine weitere Thematik, nämlich die der „neuen Selbständigkeit“ oder „Scheinselbständigkeit“ angesprochen. „Scheinselbständige“ sind solche Personen, die sich wegen der fehlenden Eingliederung in eine betriebliche Organisation, aufgrund geringer Weisungsunterworfenheit und der Möglichkeit einer im Wesentlichen freien Zeitbestimmung als Selbständige betrachten, es aber nach einer objektiven Gesamtbetrachtung nicht sind und daher als Arbeitnehmer eingestuft werden müssen. Sie üben ihre Tätigkeit nur scheinbar selbständig aus, während sie bei näherer Betrachtung eigentlich als Arbeitnehmer gelten müssten. Da die Selbständigkeit bedeutet, dass arbeitsrechtliche Schutzvorschriften nicht anwendbar sind, haben Unternehmen in der Vergangenheit sogar sehr bewusst Arbeitnehmer in die Selbständigkeit entlassen und sie anschließend – jetzt als „freie Mitarbeiter“ mit den bereits vorher bestehenden Aufgaben betraut. Beispiel

Die Putzfrau wird entlassen und mit ihr wird ein neuer Dienstvertrag geschlossen, in dem sie nicht mehr Arbeitnehmerin ist, sondern jetzt als Selbständige ihre Dienste erbringt. Die Aufgaben sind allerdings gleich geblieben. Der Verkaufsfahrer, der als Angestellter einer Spedition oder eines Unternehmens tätig war, wird mit einem eigenen Fahrzeug ausgestattet und als selbständiger Unternehmer beschäftigt, wobei er wirtschaftlich ausschließlich an das alte Unternehmen gebunden bleibt. Um hier einem Missbrauch vorzubeugen, wird man also sehr genau hinsehen müssen, ob es sich um Arbeitnehmer oder Selbständige handelt. Dabei wird man zum einen abstellen müssen, ob die genannten Personengruppen auch für andere Auftraggeber tätig werden, ob sie über eine eigene Organisation (sachliche, persönliche, immaterielle Betriebsmittel) verfügen und ob ihnen bei Erledigung der Auf-

9.1  Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses

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träge hinsichtlich der Gestaltung der Arbeitsprozesse so viel Spielraum verbleibt, dass noch von einer unternehmerischen Tätigkeit die Rede sein kann. Arbeitnehmer sind diese Personen dann, wenn sie in ihrer gesamten sozialen Stellung einem Arbeitnehmer vergleichbar und deshalb sozial schutzbedürftig sind. Entscheidend ist eine umfassende Gesamtbetrachtung, die ergeben muss, ob es sich hierbei um einen Arbeitnehmer oder Selbständigen handelt. Beispiel

Notwendig wird eine solche Gesamtabwägung z.  B. auch beim sog. Crowd-­ Working. Crowdworker bekommen ihre Aufgaben und Projekte über eine unternehmensfremde Internetplattform vermittelt, die sie anschließend bearbeiten. Manchmal handelt es sich dabei um komplexe Tätigkeiten wie die Entwicklung und Ausarbeitung eines Designs, in der Regel aber um einfache Arbeiten wie das Abgleichen von Adressen, das Sammeln von Daten oder das Testen von Software oder Apps. Auch hier liegt die besondere Situation vor, dass der Crowdworker auf Abruf und ggf. auch nur für ein bestimmtes Unternehmen arbeitet, aber eben nicht über feste Arbeitszeiten oder einen festen Arbeitsplatz verfügt und sogar prinzipiell die Freiheit besitzt, auch für andere Unternehmen tätig zu sein. Informativ dazu: BAG, Urteil v. 01.12.2020, 9 AZR 102/20, welches nach einer Abwägung der Gesamtumstände den Crowdworker, anders als die Vorinstanz, als Arbeitnehmer einstufte und dabei vornehmlich auf die arbeitnehmertypische Steuerung des Crowdworkers abstellte. ◄ Die zunehmende Herausverlagerung unselbständig durchgeführter Tätigkeiten 1436 in die Selbständigkeit bewirkt auch erhebliche Einnahmeausfälle in der Sozialversicherung. In diesem Sinne stellte die „Kommission Scheinselbständigkeit“ in ihrem Zwischenbericht vom August 1999 fest: „Es gibt im Grenzbereich (zwischen selbständig-unternehmerischer Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung) eine Grauzone, die sich mehr und mehr verbreitet. … Die gesetzliche Sozialversicherungspflicht wird also ausgeschaltet. Das kann ein Rechtsstaat auf Dauer nicht hinnehmen, weil dadurch der Wettbewerb verzerrt wird und der soziale Zusammenhalt entfällt.“ Der Gesetzgeber hatte zunächst darauf reagiert und in § 7 Abs. 4 SGB IV und § 2 Nr.  9 SGB VI a.F. die Kriterien der versicherungspflichtigen Beschäftigung verschärft. Diese Vorschriften erweiterten den sozialversicherungspflichtigen Personenkreis und halfen, die Scheinselbständigen von den „echten“ Selbständigen abzugrenzen. In §  7 Abs.  4 SGB IV a.F. wurden für ein versicherungspflichtiges (abhängiges) Beschäftigungsverhältnis Vermutungsmerkmale aufgestellt. Sozialversicherungspflicht stand danach fest, wenn drei der dort genannten fünf Merkmale vorlagen: • keine Beschäftigung versicherungspflichtiger Arbeitnehmer, deren Arbeitsentgelt 325 EUR übersteigt, • nur ein Auftraggeber,

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9 Individualarbeitsrecht

• arbeitnehmertypische Arbeitsleistungen, • kein unternehmerisches Auftreten am Markt, • die Tätigkeit entspricht im Wesentlichen der, die vorher schon für denselben Auftraggeber in einem Beschäftigungsverhältnis ausgeübt wurde (z. B. ehemals angestellter Fahrer nimmt die Beförderungsaufträge nunmehr als Selbständiger entgegen, wobei die Aufträge ausschließlich vom früheren Arbeitgeber herrühren). Diese Regelung, die mittlerweile aus dem SGB herausgenommen wurde, galt unmittelbar nur für das Sozialrecht; nur dort waren die Vorschriften installiert. Vom Schutzzweck des Arbeitsrechts her betrachtet können diese Kriterien zumindest mittelbar Bedeutung für die Abgrenzung zwischen Arbeitsvertrag und (selbständigem) Dienstvertrag haben. Die Tätigkeit für nur ein Unternehmen bei Fehlen ins Gewicht fallender sachlicher und persönlicher Betriebsmittel verbunden mit einer erheblichen Einbindung in die jeweilige betriebliche Organisation sind ein erhebliches Indiz dafür, dass ein Arbeitsverhältnis vorliegt.

9.1.2.3 Besondere Beschäftigtengruppen 1437

9.1.2.3.1  Angestellte und leitende Angestellte Nach einer aus dem Sozialversicherungsrecht stammenden Differenzierung wurden die Arbeitnehmer früher in Angestellte und Arbeiter unterschieden. Für Angestellte und Arbeiter gab es unterschiedliche Sozialversicherungsträger. Träger der Sozialversicherung für die Angestellten waren die Deutsche Rentenversicherung (Bund) in Berlin, für die Arbeiter in der Arbeiterrentenversicherung waren die Träger die Landesversicherungsanstalten. Nach § 133 Abs. 2 SGB VI a.F. und nach der Rechtsprechung bestand der Unterschied zwischen Angestellten und Arbeitern im Wesentlichen darin, dass der Angestellte überwiegend geistige Tätigkeit, der Arbeiter überwiegend körperliche Arbeit leistet. Als Angestellte galten z.  B. die Handlungsgehilfen (§ 59 HGB), die kaufmännisch Tätigen, die mit Büroarbeit Beschäftigten, nicht dagegen die Reinigungskraft im Büro. Die Abgrenzungen waren vage und auch die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ergangenen Auslegungshilfen waren nicht immer überzeugend. So war es kaum nachvollziehbar, weshalb eine Bürofachkraft, die rein mechanische Karteieintragungen vornahm als Angestellte galt, während die Facharbeiterin in einem Industriebetrieb zur Gruppe der Arbeiterinnen gehörte. Die arbeitsrechtliche Bedeutung dieser Unterscheidung ist im Laufe der Zeit immer mehr zurückgegangen. Mittlerweile ist diese Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten auch aus dem Blickwinkel des Sozialversicherungsrechts überholt  – letzte Meilensteine hin zum einheitlichen Begriffsverständnis waren der Wegfall des § 6 BetrVG a.F. und des § 133 Abs. 2 SGB VI a.F. sowie der Neuorganisation der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Januar 2005. Die früher ebenfalls recht unterschiedlichen Regelungen zur Vergütung im Krankheitsfall wurden durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 angeglichen. Außerdem werden seit Jahren einheitliche, für alle Arbeitnehmer gleichermaßen geltende

9.1  Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses

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Tarifverträge abgeschlossen. Die in den Tarifverträgen noch ganz vereinzelt ­vorkommenden Differenzierungen lassen sich sachlich begründen und fußen nicht ausschließlich auf der Differenzierung zwischen Angestellten und Arbeitern. Aus der ursprünglichen Differenzierung verbleibt die Gruppe der sog. „leiten- 1438 den Angestellten“. Der Begriff ist in § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG definiert. Darunter fallen Personen, die nach Arbeitsvertrag und Stellung im Unternehmen bestimmte, im Katalog des § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG näher bezeichnete, Aufgaben wahrnehmen. Sie sind  – betrachtet man die Aufgaben  – einerseits Arbeitnehmer, üben aber andererseits in gewissem Umfang Arbeitgeberfunktionen aus (z. B. der Personalchef) und werden deshalb auch anders als die anderen Arbeitnehmer behandelt: • Leitende Angestellte sind vom Geltungsbereich des BetrVG ausgenommen, sie sind weder aktiv noch passiv wahlberechtigt (§§ 5 Abs. 3 S. 1, 7 BetrVG). • Die Interessenvertretung der leitenden Angestellten erfolgt über sogenannte Sprecherausschüsse nach dem Sprecherausschussgesetz. • Das Arbeitszeitgesetz findet auf leitende Angestellte keine Anwendung (§  18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG). • Der Kündigungsschutz des leitenden Angestellten ist schwächer ausgestaltet (§ 14 Abs. 2 KSchG). Besondere Bedeutung hat daher die Eingrenzung in § 5 Abs. 3 BetrVG, die sich an der ausgeübten Tätigkeit orientiert. Dabei geht es im Wesentlichen um die Zugehörigkeit zur Leitungsebene (Nr. 1) und die Fähigkeit, unternehmerische Führungsaufgaben von nicht untergeordneten Bedeutung eigenverantwortlich wahrzunehmen (Nr. 2 und 3). 9.1.2.3.2  Arbeitnehmerähnliche Personen und Heimarbeiter Arbeitnehmerähnliche Personen sind nach § 2 S. 1 BUrlG, § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG 1439 „Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind“. Zu ihnen gehören Heimarbeiter, Handelsvertreter und bestimmte freie Mitarbeiter. Die Grundlage ihres Tätigwerdens ist ein Dienst- oder Werkvertrag. Wegen ihrer fehlenden Eingliederung in eine betriebliche Organisation sowie der im Wesentlichen freien Zeiteinteilung sind sie nicht in gleichem Maße persönlich abhängig wie Arbeitnehmer. Allerdings sind auch sie typischerweise wirtschaftlich unselbständig und von einem bestimmten Unternehmen abhängig („wirtschaftliche Abhängigkeit“). Um eine arbeitnehmerähnliche Person handelt es sich daher immer dann, wenn der wirtschaftlich Abhängige seiner gesamten sozialen Stellung nach einem Arbeitnehmer vergleichbar und sozial schutzbedürftig ist. Dies kann nur im Einzelfall durch eine wertende Gesamtbetrachtung beurteilt werden. Für die arbeitnehmerähnlichen Personen gibt es einige wenige Sonderbestimmungen: § 2 S. 2 BurlG, § 2 Abs. 2 Nr. 3 ArbSchG, § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AGG sowie § 5 ArbGG; lediglich die Heimarbeiter genießen durch das HAG einen umfassenden Schutz.

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9 Individualarbeitsrecht

Heimarbeiter i. S. d. § 2 Abs. 1 HAG ist, wer in selbstgewählter (oftmals häuslicher) Arbeitsstätte allein oder mit seinen Familienangehörigen im Auftrag von Gewerbetreibenden erwerbsmäßig arbeitet, jedoch die Verwertung der Arbeitsergebnisse und das Eigentum an diesen dem unmittelbar oder mittelbar auftraggebenden Gewerbetreibenden überlässt. Im Unterschied zu den Arbeitnehmern unterliegen Heimarbeiter nicht dem Weisungsrecht (Direktionsrecht) des Arbeitgebers. Sie werden nach speziellen Lohnvorschriften bezahlt (§§ 17, 23 HAG), für sie gelten besondere Schutzvorschriften (§§ 6 ff. HAG) und ihre Tätigkeit unterliegt einer speziellen Aufsicht durch die Arbeitsschutzbehörden (§ 3 HAG). 9.1.2.3.3  Auszubildende und Praktikanten Auszubildende (Lehrlinge) sind Arbeitnehmer. Allerdings wird das Ausbildungsverhältnis entscheidend vom Ausbildungszweck geprägt. Um eine sachgerechte Ausbildung sicherzustellen, sieht das Berufsbildungsgesetz (BBiG) Sondervorschriften vor, die das allgemeine Arbeitsrecht modifizieren (z. B. Pflicht zum Gang in die Berufsschule und Anspruch auf Freistellung von der Arbeitsleistung). Weitere Besonderheiten gelten bezüglich der Probezeit, Kündigung und Vergütung. Die Probezeit darf nur zwischen einem und vier Monaten betragen (§ 20 S. 2 BBiG). Ist die Probezeit abgelaufen, kann nur noch aus wichtigem Grund sowie arbeitnehmerseitig wegen Aufgabe oder Wechsel der Berufsausbildung gekündigt werden (§ 22 Abs. 2 BBiG); eine ordentliche Kündigung ist ausgeschlossen. Schließlich hat der Auszubildende einen gesetzlichen Anspruch auf eine angemessene Vergütung (§ 17 Abs. 1 BBiG). Soweit Sondervorschriften nicht eingreifen, ist auf das Ausbildungsverhältnis das allgemeine Arbeitsrecht anwendbar. Praktikant ist, wer sich im Rahmen einer Gesamtausbildung vorübergehend einer bestimmten betrieblichen Tätigkeit und Ausbildung unterzieht bzw. unterziehen muss, um praktische Kenntnisse zu erwerben (z. B. als Nachweis zur Aufnahme eines Berufes; hochschulrechtlich verpflichtendes Praktikum). Der rechtliche Status von Praktikanten war lange ungeklärt, insbesondere was den Vergütungsanspruch von Praktikanten anbetraf. Aus § 22 Abs. 4 MiLoG  folgt zwar nunmehr ein Anspruch auf Vergütung, allerdings bleibt dessen Höhe ebenso unspezifisch, wie der Begriff „Praktikant“ an sich. Sofern allerdings Mitarbeiter eines Unternehmens nur als „Praktikanten“ bezeichnet werden, aber Tätigkeiten wie normale Mitarbeiter ausüben, sind sie auch entsprechend ihres Tätigkeitsprofils zu vergüten (z. B. Ferienjobber, die als „Praktikanten“ bezeichnet werden). 9.1.2.3.4  Leiharbeitnehmer

1443 Ein Leiharbeitnehmer ist eine Person, die in der Regel bei einer Zeitarbeitsfirma

oder einer Personal-Service-Agentur (Verleiher) beschäftigt ist und von dieser an ein passendes Unternehmen (Entleiher) vermittelt wird. Der Leiharbeitnehmer stellt anschließend seine Arbeitsleistung für einen bestimmten Zeitraum dem Entleiher zur Verfügung. Rechtsgrundlage für die Ausgestaltung der arbeitsrechtlichen Verhältnisse in diesem Dreiecksverhältnis ist das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Dieses sieht u.  a. vor, dass der Leiharbeitnehmer in den Betrieb des Entleihers einzugliedern ist und seine Tätigkeit allein nach den Weisungen des Entleihers und in

9.1  Grundbegriffe des Arbeitsverhältnisses

581

dessen Interesse erbringt (§ 1 Abs. 1 AÜG). Zeitarbeitskräfte dürfen dabei bis zu 18 Monate ununterbrochen im selben Betrieb arbeiten (§  1 Abs.  1b AÜG); Abweichungen können sich aus einem Tarifvertrag ergeben. Im Unternehmen müssen die Leiharbeiter im Hinblick auf die Arbeits- und Entgeltbedingungen weitgehend gleich zu den vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleihers behandelt werden (Grundsatz des „equal pay“ – Schlechterstellungsverbot; § 8 AÜG), es sei denn, Tarifverträge sehen eine berechtigte Ausnahme vor (§ 8 Abs. 4 AÜG). Das Verleihunternehmen benötigt zur Arbeitnehmerüberlassung an Dritte eine behördliche Erlaubnis (§§ 1, 2 AÜG). Ohne diese ist der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag unwirksam. Aus der Unwirksamkeit einer Arbeitnehmerüberlassung (z.  B. wegen fehlender Erlaubnis, aber auch wegen zu lang bemessener Überlassungsdauer (vgl. §  9 Abs.  1 AÜG) wird aus dem vormals vorübergehenden Arbeitsverhältnis ein direktes und dauerhaftes Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer (vgl. § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG).

9.1.3 Arbeitgeber Arbeitgeber ist, wer als natürliche (z. B. Einzelkaufmann, Freiberufler) oder juristi- 1444 sche Person (z.  B.  Aktiengesellschaft, GmbH) oder als Personengesellschaft (z. B. oHG, KG) zumindest einen Arbeitnehmer beschäftigt. Ein Arbeitgeber zeichnet sich ferner dadurch aus, dass er gegenüber seinen 1445 Arbeitnehmern das Weisungs- oder Direktionsrecht besitzt, d. h. einseitig Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung festlegen kann (vgl. auch § 106 GewO). Diese Befugnis ist nur insofern eingeschränkt, als dass sich die Weisungen im Rahmen der arbeitsvertraglichen, kollektivrechtlichen sowie gesetzlichen Vorgaben bewegen müssen und zudem die Grenzen der Billigkeit nach §  315 Abs. 3  BGB beachtet werden. Weisungen, die den Vorgaben zuwiderlaufen, muss der Arbeitnehmer nicht nachkommen. Die Ausübung der Arbeitgeberrolle kommt bei Personengesellschaften den 1446 Gesellschaftern und bei juristischen Personen den zuständigen Organen (z. B. Geschäftsführer bei der GmbH) bzw. den hierzu bevollmächtigten Mitarbeitern zu. Vertragspartner des Arbeitsvertrages bleibt aber weiterhin die Personengesellschaft oder die juristische Person als solche.

9.1.4 Betrieb, Unternehmen und Konzern Im Arbeitsrecht ist zwischen den Begriffen „Betrieb“ und „Unternehmen“ zu differenzieren: • Betrieb ist die organisatorische Einheit sachlicher und persönlicher Mittel, mit denen bestimmte arbeitstechnische Zwecke unmittelbar und fortgesetzt verfolgt werden.

1447

582

9 Individualarbeitsrecht

• Unternehmen ist die übergeordnete organisatorische Einheit, mit welcher der Inhaber einen entfernteren wirtschaftlichen oder ideellen Zweck verfolgt. Der Betrieb als räumliche  sowie arbeitstechnisch-organisatorische Einheit ist jedenfalls enger als der des Unternehmens. Insofern sind Unternehmen und Betrieb nur identisch, wenn das Unternehmen aus nur einem Betrieb besteht. Das Unternehmen kann dagegen auch aus mehreren Betrieben bestehen (z. B. einzelne Werke, Filialen). Beispiel

Das Lebensmittelgeschäft eines Kaufmanns ist sowohl dessen Betrieb als auch sein Unternehmen. Die Deutsche Bank ist das Unternehmen, ihre im operativen Geschäft tätigen Filialen sind ihre (einzelnen) Betriebe. ◄ Die beiden Begriffe „Betrieb“ und „Unternehmen“ können zwar im Hinblick auf eine Organisation zusammengehören, sie müssen aber arbeitsrechtlich immer differenziert behandelt werden, da sich unterschiedliche Rechtsfolgen daran anknüpfen können. In den „Betrieben“ werden z.  B. die Betriebsräte gewählt (vgl. §  1 Abs.  1 BetrVG) oder auf der Ebene der „Betriebe“ findet die Sozialauswahl im Rahmen des Kündigungsschutzes statt (§  1 Abs.  3 KSchG). Demgegenüber ist bei einem „Unternehmen mit mehreren Betriebsräten“ ein Gesamtbetriebsrat zu errichten (§ 47 Abs. 1 BetrVG) oder das Kündigungsschutzgesetz kann nur eingreifen, wenn ein Arbeitsverhältnis „im selben Betrieb oder Unternehmen“ ohne Unterbrechung länger als sechs Monate gedauert hat (§  1 Abs. 1 KSchG). Das Arbeitsrecht kennt keinen eigenständigen Konzernbegriff, sondern über1449 nimmt den in § 18 Abs. 1 S. 1 AktG definierten Konzernbegriff (Kap. 7). Danach bilden mehrere verbundene Unternehmen einen Konzern, wenn ein herrschendes oder ein oder mehrere abhängige Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefasst sind. Das Arbeitsrecht ist zwar grundsätzlich unternehmens- bzw. betriebsbezogen, doch in Ausnahmefällen erlangt es auch eine Konzerndimensionalität. Zwar ist die Reichweite eines konzernweiten Kündigungsschutzes umstritten und ein konzernweiter Gleichbehandlungsanspruch der Mitarbeiter ausgeschlossen, da im Konzern die Unternehmen ihre Eigenständigkeit behalten. Allerdings kann nach § 54 Abs. 1 BetrVG in einem Konzern ein Konzernbetriebsrat gewählt werden, wobei die Errichtung desselben fakultativ ist. Da außerdem § 54 Abs. 1 BetrVG auf § 18 Abs. 1 AktG verweist, ist klargestellt, dass ein Konzernbetriebsrat nur in einem sog. Unterordnungskonzern errichtet werden kann, in einem Gleichordnungskonzern (§  18 Abs. 2 AktG) kann er dagegen nicht entstehen. 1448

9.2  Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses

9.2

583

Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses

Die bedeutsamste Rechtsquelle innerhalb eines Arbeitsverhältnisses ist sicher der 1450 zwischen den Parteien begründete Arbeitsvertrag; er ist „Begründungsakt“ des Arbeitsverhältnisses und wesentliches Mittel zur Inhaltsgestaltung des individuellen Arbeitsverhältnisses. Zum Arbeitsvertrag im weitesten Sinne gehören auch die betriebliche Übung und das Direktionsrecht. • Die betriebliche Übung bezeichnet die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen seitens des Arbeitgebers, aus denen der Arbeitnehmer auf eine dauerhafte Vergünstigung oder Leistung schließen kann. Nach überwiegender Meinung stellt die Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen ein (konkludentes) Vertragsangebot dar, das vom Arbeitnehmer gemäß §  151 BGB stillschweigend angenommen und damit Vertragsbestandteil wird (Vertragstheorie). Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber bestimmte Verhaltensweisen regelmäßig wiederholt und damit den objektiven Tatbestand einer verbindlichen Zusage setzt (Sichtweise des verständigen Empfängers entscheidend), die der Arbeitnehmer stillschweigend annimmt (§ 151 BGB) oder auf dessen Fortsetzung er nach Treu und Glauben vertrauen darf (§  242 BGB). Wie oft eine Leistung wiederholt werden muss, um dieses besondere vertrauen des Arbeitnehmers zu begründen, hängt dabei von der Art der Leistung ab. Beispiel

Zahlt ein Arbeitgeber 3 Jahre lang und ohne weiteren Vorbehalt am 31.11. eine Weihnachtsgratifikation aus, darf der Arbeitnehmer diese Leistung auch in den nächsten Jahren einfordern, weil sie zur betrieblichen Übung und damit Teil der arbeitsvertraglichen Zusage geworden ist. Dies würde nicht gelten, wenn der Arbeitgeber die Zahlungen unter einen Vorbehalt gestellt hätte (z. B. Steigerung des Umsatzes um 15 %) oder von Anfang an transparent gemacht hätte, dass es sich um eine Leistung handelt, die keinen Rechtsanspruch für die Zukunft begründet (z.  B. „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“; „kein Rechtsanspruch für die Zukunft“). ◄ • Der Arbeitgeber kann den Inhalt des Arbeitsverhältnisses durch einseitige Weisung genauer festlegen. Dieses Recht, die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers nach Zeit, Art und Ort zu konkretisieren und diesem bestimmte Arbeiten zuzuweisen, nennt man Direktionsrecht bzw. Direktionsbefugnis. Das Direktionsrecht ist seit 2003 für alle Arbeitnehmer in § 106 GewO gesetzlich geregelt. Der Arbeitnehmer ist hiernach zur Übernahme einer Aufgabe verpflichtet, wenn sich die Weisung des Arbeitgebers im Rahmen des Arbeitsvertrags und der Billigkeit (§§ 106 GewO, 315 Abs. 3 BGB) bewegt und nicht gegen Gesetz oder Kollektivvereinbarungen verstößt.

584

9 Individualarbeitsrecht

Neben dem Arbeitsvertrag werden zahlreiche Gesetzesbestimmungen relevant, die zumeist dem Schutz des Arbeitnehmers dienen. Der Gesetzgeber (national und europäisch) will mit dem Gesetzesrecht häufig das zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer typischerweise bestehende Machtungleichgewicht kompensieren. Das für das Individualarbeitsrecht maßgebliche Gesetzesrecht ist das Dienstvertragsrecht in den §§ 611a ff. BGB. Daneben greifen jedoch noch andere gesetzliche Bestimmungen  – z.  B.  Kündigungsschutzgesetz (KSchG), Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), Arbeitszeitgesetz (ArbZG), Mutterschutzgesetz (MuSchG) usw. – die das Dienstvertragsrecht meist zum Schutz des Arbeitnehmers ergänzen und welches vom europäischen Recht immer mehr beeinflusst wird. Ein Arbeitsgesetzbuch, das alle maßgeblichen Bestimmungen in einem Gesetzeswerk vereinen würde, ist daher utopisch und bislang auch nicht geschaffen worden, sodass gerade im Arbeitsrecht zur Klärung von Lebenssachverhalten oftmals ein mühsames Aufsuchen der einschlägigen gesetzlichen Regelungen erfolgen muss. Bei den arbeitsrechtlichen Gesetzen ist zwischen zwingenden und dispositiven Gesetzen zu unterscheiden. Zwingenden Charakter haben jedenfalls die Arbeitsschutzgesetze, z. B. KSchG, MutterschutzG, BUrlG, von ihnen darf zu Ungunsten des Arbeitnehmers nicht abgewichen werden. Dispositives Gesetzesrecht liegt dagegen vor, wenn Abweichungen auch zu Ungunsten des Arbeitnehmers zulässig sind (§§  612–614 BGB); von tarifdispositivem Recht spricht man, wenn die Abweichung in Tarifverträgen vereinbart werden kann (z. B. § 13 Abs. 1 BUrlG). Ein für das gesamte Arbeitsrecht bedeutender Grundsatz ist das Gebot der Gleichstellung und der Schutz vor Diskriminierungen. Der Grundsatz hat seine positiv-rechtliche Ausgestaltung im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) gefunden. Danach sind unmittelbare und mittelbare Benachteiligungen zulasten bestimmter Personen oder Personengruppen im gesamten Arbeitsrecht  – von der Stellenausschreibung, über die Begründung und Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses, bis hin zur Kündigung – verboten. Neben den Gesetzen und dem Arbeitsvertrag spielen die Regelungen der Tarif1452 verträge und der sog. Betriebsvereinbarungen eine große Rolle (sog. Kollektivvereinbarungen). Soweit diese Normen zwingender Natur sind, gehen sie den arbeitsvertragsrechtlichen Bestimmungen vor. Sie dürfen aber andererseits nicht einer zwingenden Gesetzesbestimmung widersprechen. Zwischen dem Tarifvertrag und der Betriebsvereinbarung gibt es eine Rangordnung. Gegenüber dem Tarifvertrag und dem Gesetz tritt die Betriebsvereinbarung als die schwächere Rechtsquelle zurück, sog. Sperrwirkung des Tarifvertrages (vgl. §§ 77 Abs. 3 BetrVG, 4 Abs. 1 TVG). Große Bedeutung hat im Arbeitsrecht das sogenannte Richterrecht. Das liegt 1453 daran, dass viele Teilgebiete des Arbeitsrechts so gut wie gar nicht (z. B. das Arbeitskampfrecht) oder aber in äußerst weitgefassten Generalklauseln geregelt sind; diese Generalklauseln bedürfen der Konkretisierung durch Gerichtsurteile (Richterrecht). 1454 Die Flucht des Gesetzgebers aus dem Arbeitsrecht wird häufig mit dem schnellen Wandel der technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fakten des ­Arbeitslebens begründet. Es wird argumentiert, dass der Gesetzgeber nicht in der 1451

9.2  Rechtliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses

585

gebotenen Eile für eine Lösung der anstehenden Konflikte sorgen könne, dazu seien nur die Gerichte in der Lage. Im allgemeinen Zivilrecht bzw. im zivilrechtlichen Wirtschaftsrecht gibt es z. B. auch bei der Produkthaftung und der Konkretisierung der Verkehrssicherungspflichten ebenfalls seit Langem eine „Flucht des Gesetzgebers“, der hier das Feld der Rechtswissenschaft und den Gerichten überlässt. Auch in diesem Bereich begründet man dies damit, dass die Materie für den Gesetzgeber zu schwierig geworden ist. Das schwunghafte Anwachsen des Richterrechts hat überdies dazu geführt, dass allein das Studium der einschlägigen Gesetzestexte das deutsche Arbeitsrecht nicht mehr transparent werden lässt. Wer sich mit einzelnen Problemen beschäftigen will oder muss, kann daher ohne Studium der Urteilssammlungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nicht auskommen; zum Teil spricht man davon, dass das Arbeitsrecht dem amerikanischen „case-law“ vergleichbar sei. Prinzipiell geht auch im Arbeitsrecht die ranghöhere Regelung der rang- 1455 niedrigeren Regelung vor. Allerdings gilt diese allgemeine Kollisionsregel nicht, wenn die rangniedrigere Rechtsquelle für den Arbeitnehmer günstiger ist, in einem solchen Fall geht die günstigere Regelung vor (sog. Günstigkeitsprinzip). Bei einer Konkurrenz auf derselben Rangebene (z.  B.  Firmen- und Verbandstarifvertrag) gelten dagegen das sog. Spezialitäts- und Ordnungsprinzip, wonach die speziellere der allgemeineren bzw. die neuere der älteren vorgeht; für das Günstigkeitsprinzip ist auf dieser Ebene dann kein Raum mehr. Beispiel

Der Arbeitsvertrag des Herrn Müller sieht 27 Urlaubstage vor. Im Firmentarifvertrag sind 26 Urlaubstage benannt, im Verbandstarifvertrag 28 Tage und die Betriebsvereinbarung im Unternehmen sieht sogar 30 Urlaubstage vor. Herr Müller möchte wissen, wie viele Urlaubstage ihm zustehen. In eine Reihung vom ranghöheren zum rangniedrigen Recht würde sich zunächst – von oben nach unten – folgendes Bild ergeben: • • • •

Gesetz: § 3 Abs. 1 BUrlG = 24 Tage Tarifverträge: FirmenTV = 26 Tage/VerbandsTV = 28 Tage Betriebsvereinbarung: 30 Tage Arbeitsvertrag: 27 Tage

Werden nun die besonderen Kollisionsregelungen des Arbeitsrechts dazu gezogen, gilt folgendes: 1. Das Günstigkeitsprinzip würde in der Gesamtschau zunächst zur Betriebsvereinbarung führen, allerdings ist sie wegen des Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam und muss aus der Betrachtung herausgenommen werden. 2. Als nächstes scheint der Verbandstarifvertrag den umfassendsten Urlaubsanspruch zu gewähren. Allerdings gilt bei einer Konkurrenz auf derselben Ebene das Günstigkeitsprinzip nicht, vielmehr geht per se der Firmentarifver-

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9 Individualarbeitsrecht

trag als lex specialis dem Verbandstarifvertrag vor, so dass auf dieser Ebene nur noch 26 Tage stehen bleiben. 3. Schließlich bietet also der Arbeitsvertrag mehr Urlaubstage, als der Firmentarifvertrag. Hier gilt jetzt – obschon der Arbeitsvertrag im Rang unterhalb des Tarifvertrages steht – wieder das Günstigkeitsprinzip, so dass am Ende tatsächlich der Arbeitsvertrag Herrn Müller einen Urlaubsanspruch von 27 Urlaubstagen gewährt. ◄ Fragen

1. Was ist ein Arbeitsvertrag? 2. Warum kommt dem Richterrecht im Arbeitsrecht eine so immense Bedeutung zu? 3. Welche Elemente finden sich in der Begriffsbestimmung des Arbeitnehmers? 4. Was ist das entscheidende Kriterium der Unselbständigkeit? 5. Wodurch unterscheiden sich arbeitnehmerähnliche Personen von Arbeitnehmern? 6. Was versteht man unter dem Begriff des Arbeitgebers?

9.3

Begründung des Arbeitsverhältnisses

9.3.1 Vertragsanbahnung 1456

Vor Abschluss eines Arbeitsvertrages liegt die Phase der Vertragsanbahnung, insbesondere die der Stellenausschreibung und Bewerberauswahl. Bereits in dieser Phase ist der Arbeitgeber zahlreichen Bindungen unterworfen, deren Nichtbeachtung unter Umständen zu Schadensersatzansprüchen führen kann. Bereits nach den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen besteht mit der Aufnahme von Vertragsverhandlungen unter den Beteiligten ein vorvertragliches Schuldverhältnis, das u.  a. Rücksichtnahmepflichten begründet; man hat auf den potenziellen Vertragspartner Acht zu geben. Die Verletzung dieser Rücksichtsnahmepflichten führt zu einer vorvertraglichen Haftung, die ihre gesetzliche Regelung in §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB findet (Abschn. 1.6.5.3).

9.3.1.1 Stellenausschreibung Die Suche nach einem neuen Mitarbeiter beginnt mit der Stellenausschreibung als dem öffentlichen Anbieten einer freien Arbeitsstelle. Diese Ausschreibung kann sowohl betriebsintern als auch extern erfolgen, beispielsweise über Stellenanzeigen in Zeitungen und/oder die Bundesagentur für Arbeit (§§ 35 ff. SGB III) oder die Dienste privater Arbeitsvermittler (z. B. sog. Headhunter). Der Betriebsrat kann nach § 93 BetrVG verlangen, dass Arbeitsplätze vor ihrer 1458 Besetzung innerhalb des Betriebes ausgeschrieben werden. Soweit sich der Arbeitsplatz dafür eignet, muss ihn der Arbeitgeber auch als Teilzeitarbeitsplatz ausschreiben (§  7 Abs.  1 TzBfG). Unterlässt der Arbeitgeber die geforderte Aus1457

9.3  Begründung des Arbeitsverhältnisses

587

schreibung im Betrieb, kann der Betriebsrat nach § 99 Abs. 2 Nr. 5 BetrVG seine Zustimmung zur Einstellung verweigern. Der Arbeitgeber ist trotz einem Verlangen nach interner Ausschreibung nicht daran gehindert, die Stelle gleichzeitig auch extern auszuschreiben, wobei extern keine geringeren Anforderungen an die Qualifikation der Bewerber gestellt werden dürfen als bei der innerbetrieblichen Ausschreibung. Eine Stellenausschreibung muss grundsätzlich merkmals-, alters- und 1459 geschlechtsneutral formuliert sein (§§ 11, 7 Abs. 1, 1 AGG), um jegliche Form der Benachteiligung bestimmter Personen oder Personengruppen bereits bei der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Rechtswidrige, sozial verwerfliche Benachteiligungen sind als Diskriminierung gemäß § 7 AGG verboten und können bereits in der Bewerbungsphase Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche des Benachteiligten gemäß § 15 AGG auslösen. Um eine Benachteiligung von Personen bzw. Personengruppen im Auswahlver- 1460 fahren zu vermeiden, ist u. a. eine geschlechtsneutrale Stellenausschreibung erforderlich, was bedeutet, dass sich die Stellenausschreibung an „männliche“, „weibliche“ und seit 2019 auch „intersexuelle“ Personen richten muss, was in der Regel mit dem Kürzel „m/w/d“ zum Ausdruck kommt. Beispiel

Wird in einer Stellenanzeige beispielsweise ein „junge erfolgshungrige Verkäuferin“ gesucht, liegt gleich in mehrerer Hinsicht eine benachteiligende Ausschreibung vor. Zum einen findet eine geschlechterspezifische Benachteiligung statt und zum anderen eine Altersdiskriminierung (§§ 11, 7 Abs. 1, 1 AGG). ◄ Von einer geschlechtsneutralen Stellenausschreibung kann abgesehen werden, 1461 wenn die Art der auszuübenden Tätigkeit oder das Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes ein bestimmtes Geschlecht erfordert, es sozusagen unverzichtbare Voraussetzung für die auszuübende Tätigkeit ist. Davon ist z. B. auszugehen, wenn die vertraglich geschuldete Leistung durch das andere Geschlecht nicht erbracht werden kann. Für solche Konstellationen lässt § 8 Abs. 1 AGG eine Ungleichbehandlung und damit eine geschlechtsspezifische Auswahl zu. Sie ist gerechtfertigt, wenngleich dies nur sehr selten der Fall sein wird. Beispiel

Das Theater sucht eine Person, die eine weibliche Hauptrolle verkörpern soll. Hier ist das Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für die auszuübende Tätigkeit. Ein männlicher Bewerber kann die Hauptrolle nicht ausfüllen. Insofern ist eine geschlechterspezifische Ausschreibung nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Ebenso hat es die Rechtsprechung für zulässig erachtet, dass für ein Mädcheninternat, bei dem auch eine nächtliche Betreuung geleistet werden sollte, nur „weibliche“ Personen gesucht wurden. Während beispielsweise die avisierte Tätigkeit als „Frauenbeauftragte“ oder „das Erfordernis, schwere Lasten tragen

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9 Individualarbeitsrecht

zu müssen“ eine geschlechterspezifische Ausschreibung nicht rechtfertigten. Genauso wenig ist die Erhöhung des Frauenanteils ein hinreichender Rechtfertigungsgrund. ◄ Selbst wenn in der Praxis zumeist die geschlechterneutrale Stellenausschreibung im Vordergrund steht, schützt das AGG vor nahezu allen Arten der Benachteiligung, u.  a. wegen ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität (§ 1 AGG). Insofern muss eine Ausschreibung auch im Hinblick auf die anderen, in §  1 AGG benannten Eigenschaften neutral gestaltet sein, weshalb sich beispielsweise Formulierungen wie „junge dynamische Mitarbeiter“, „attraktives Äußeres“ oder „Europäer gesucht“ regelmäßig verbieten, es sei denn, die spezifische Ausschreibung lässt sich ausnahmsweise rechtfertigen (§§ 8–10 AGG), wobei gerade für Benachteiligungen aus Altersgründen § 10 AGG einen gegenüber § 8 AGG abgesenkten Rechtfertigungsmaßstab vorhält (zur Rechtfertigung reicht ein „legitimes Ziel“). Ein Verstoß gegen das Benachteiligungsgebot, z. B. aufgrund einer geschlechter1463 spezifischen Ausschreibung (§ 11 i. V. m. § 7 Abs. 1 AGG), bringt dem redlichen Bewerber zunächst einmal keine unmittelbaren Vorteile, d.  h. der Benachteiligte kann sich zwar bei der zuständigen Stelle (Personalabteilung, Betriebstrat etc.) beschweren (§ 13 Abs. 1 AGG), aus dem Verstoß folgt aber gerade kein Anspruch auf Begründung des Arbeitsverhältnisses (§ 15 Abs. 6 AGG). Allerdings besteht ein Anspruch auf angemessene Entschädigung des ab1464 gelehnten Bewerbers. Dieser Anspruch kann die „frustrierten Aufwendungen“ (§ 15 Abs. 1 AGG) sowie bis zu drei „fiktive“ Monatsgehälter umfassen (§§ 1, 5 Abs. 2 AGG), sofern das Entschädigungsbegehren binnen zwei Monaten schriftlich gegenüber dem Ausschreibenden geltend gemacht wird. Die Frist beginnt im Falle der Bewerbung mit dem Zugang der Ablehnung (§ 15 Abs. 4 AGG). Für die Geltendmachung des Anspruchs reicht es aus, dass der Bewerber Indizien vorträgt, die auf die Ungleichbehandlung bei der Bewerberansprache und -auswahl hindeuten (§ 22 AGG); der Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot und der damit einhergehenden Schlechterstellung wird sodann vermutet. Der Arbeitgeber kann den Entschädigungsanspruch abwenden, sofern er den Gegenbeweis führen kann, was ihm allerdings oftmals  – insbesondere bei geschlechter- und altersspezifischen Ausschreibungen – nicht gelingen wird. 1465 Im Gegenteil ist die Erfolgsaussicht der Anspruchsteller hoch, was in der Vergangenheit auch schon zu einer eher unangenehmen Nebenerscheinung geführt hat, den sog. AGG-Hoppern. Das sind Personen, die systematisch Stellenanzeigen auf AGG-Verstöße hin sichten und sich bei einem entdeckten Verstoß nur zum Schein bewerben, einzig mit dem Ziel, bei der erhofften Ablehnung den Entschädigungsanspruch gegenüber dem Ausschreibenden geltend zu machen. Zwar wird das (offenkundige) Verhalten von AGG-Hoppern, die nicht ernsthaft an der Stelle interessiert sind, sondern in Wirklichkeit nur eine Entschädigung anstreben, als rechtsmissbräuchlich und sogar betrügerisch eingestuft, allerdings bleibt der Rechtsmissbrauch bzw. die Scheinbewerbung in den meisten Fällen nur schwer nachweisbar. 1462

9.3  Begründung des Arbeitsverhältnisses

589

9.3.1.2 Bewerbungsgespräch Grundsätzlich ist der Arbeitgeber dazu berechtigt, sich vor Abschluss des Arbeits- 1466 vertrages über den Bewerber umfassend in einem persönlichen Gespräch  – dem Bewerbungs- oder Vorstellungsgespräch  – zu informieren; insoweit besitzt er ein Fragerecht. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der Unverletzlichkeit der Individualsphäre sind jedoch den Ausforschungen und Fragemöglichkeiten des Arbeitgebers Grenzen gesetzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) dürfen nur Fragen gestellt werden, an deren wahrheitsgemäßer Beantwortung der Arbeitgeber ein berechtigtes, überwiegend billigens- und schützenswertes Interesse hat. Ein solches Interesse ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Beantwortung der Frage für den angestrebten Arbeitsplatz und die zu verrichtende Tätigkeit von Bedeutung ist. Der Arbeitgeber darf sich nur über solche Umstände durch Fragen informieren, die auch sachlich und unmittelbar mit der Beschäftigung zusammenhängen, wie etwa zur fachlichen Qualifikation für die in Aussicht genommene Tätigkeit (z.  B.  Schulabschlüsse, Prüfungen, Sprachkenntnisse, berufsqualifizierende Kenntnisse). Dagegen ist Privates und „Allzuprivates“ (Intimsphäre) für den Arbeitgeber tabu. Entsprechende Informationen müssen vonseiten des Bewerbers gerade nicht offenbart werden. Insofern sind auch Fragen, die keinen Bezug zu der ausgeschriebenen Tätigkeit aufweisen oder unverhältnismäßig in die Privatsphäre des Bewerbers eingreifen, unzulässig. Stellt der Arbeitgeber eine unzulässige Frage, dann darf der Bewerber nicht nur 1467 schweigen, vielmehr steht ihm auch das „Recht zur Lüge“ zu, d. h. er darf die Unwahrheit sagen. Ist die Frage allerdings zulässig, muss sie vom Bewerber auch zutreffend be- 1468 antwortet werden. Beantwortet der Bewerber eine zulässige Frage wahrheitswidrig, kann dem Arbeitgeber – auch zu einem späteren Zeitpunkt – das Recht zur Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) oder Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB) zustehen. Der Arbeitsvertrag endet allerdings, sofern er bereits in Vollzug gesetzt wurde, nicht – wie bei der Anfechtung eigentlich üblich  – rückwirkend (§  142 Abs.  1 BGB, Abschn.  1.6.3.3), sondern die Anfechtung wirkt ex nunc (von nun an). Der Grund für diese Besonderheit ist, dass eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung, die aus der Unwirksamkeit in die Vergangenheit folgen würde, im Arbeitsrecht nicht mehr interessengerecht realisiert werden könnte (z. B. ließe sich nur schwer feststellen, ob und in welchem Umfang ein Arbeitgeber bereichert ist, weil er eigene Aufwendungen für die Dienste des Arbeitnehmers erspart hat). Darum wird die Nichtigkeitsfolge im Arbeitsrecht nur für die Zukunft ausgesprochen (sog. Lehre vom fehlerhaften Arbeitsvertrag), das zwischenzeitlich bestehende Arbeitsverhältnis bleibt daher von der Anfechtung unberührt. Die Möglichkeit zur Anfechtung schließt ferner das Recht zur außerordentlichen Kündigung (§ 626 BGB) nicht aus. Vielmehr stehen beide Rechte nebeneinander, wenngleich nicht jeder Anfechtungsgrund auch als „wichtiger Grund“ i. S. d. § 626

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9 Individualarbeitsrecht

BGB anzusehen ist, der das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in unzumutbarer Weise stört. Beispiel

Der Arbeitgeber sucht eine Bürokraft und fragt die B im Rahmen des Vorstellungsgesprächs, ob sie schwanger sei. Die B verneint dies wahrheitswidrig, woraufhin A sie einstellt. Sollte sich nach sechs Monaten die Schwangerschaft nicht mehr verbergen lassen, hat der A keine Handhabe. Er kann den Arbeitsvertrag weder anfechten, noch hat er ein außerordentliches Kündigungsrecht. Behauptet die B im Vorstellungsgespräch und auf Nachfrage des A wahrheitswidrig die IHK-Qualifikation „Officemanager“ zu besitzen, obschon sie keine solche Qualifikation vorweisen kann, könnte A den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten (§ 123 BGB), wenn er nach sechs Monaten zufällig feststellt, dass die B im Vorstellungsgespräch die Unwahrheit sagte. Der Arbeitsvertrag würde dann durch die Anfechtungserklärung mit Wirkung für die Zukunft beseitigt. Neben der Möglichkeit zur Anfechtung besteht das Recht zur außerordentlichen Kündigung (§  626 BGB); beide Rechte bestehen nebeneinander. Für das Kündigungsrecht ist es allerdings erforderlich, dass der Kündigungsgrund so stark in das Arbeitsverhältnis hineinwirkt, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist (dies wäre zu prüfen, scheint hier zumindest fraglich). ◄ 1469

Betrachtet man einzelne typische Fragekategorien, so ist hinsichtlich deren „Zulässigkeit“ folgendes zu konstatieren: • Beruflicher Werdegang: Die Frage nach dem beruflichen Werdegang ist regelmäßig gestattet, zumal dieser ohnehin in einem dem Arbeitgeber vorzulegenden Lebenslauf dokumentiert ist. • Vorstrafen: Nach Vorstrafen darf gefragt werden, wenn sie für die Art des zu besetzenden Arbeitsplatzes bzw. die konkrete Arbeitsleistung relevant sind. Nach Vorstrafen auf vermögensrechtlichem Gebiet darf z. B. bei Bankangestellten oder Kassenpersonal gefragt werden, nach verkehrsrechtlichen Vorstrafen z.  B. bei Kraftfahrern, Busfahrern). Die Vorstrafen dürfen allerdings verschwiegen werden, wenn sie im Bundeszentralregister nicht (mehr) gelistet sind und daher auch in keinem polizeilichen Führungszeugnis mehr auftauchen würden (§§ 32, 51, 53 Abs. 1 BZRG). • Krankheiten: Fragen nach Erkrankungen des Bewerbers sind enge Grenzen gesetzt, weil sie einen nicht unerheblichen Eingriff in die Intimsphäre des Bewerbers bedeuten. Statthaft sind lediglich Fragen nach bestehenden Krankheiten, welche die Einsatzfähigkeit am Arbeitsplatz ausschließen oder erheblich einschränken, einen pünktlichen Arbeitsbeginn dauerhaft verhindern oder eine unmittelbare Ge-

9.3  Begründung des Arbeitsverhältnisses









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fährdung für Dritte – Kollegen oder Kunden – hervorrufen (z. B. Tuberkulose bei Anstellung als Busfahrer oder in öffentlichen Einrichtungen; nicht hingegen: HIV-Infektion). Schwangerschaft: Die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft ist unzulässig. Sie verstößt im Hinblick auf ihren frauendiskriminierenden Charakter gegen §§ 1, 7 AGG. Sie ist nur dann ausnahmsweise gestattet, wenn die Frage darauf zielt, Gefahren für das ungeborene Leben zu verhindern (z.  B. bei erhöhter Infektionsgefahr bei Labortätigkeiten). Gewerkschaftszugehörigkeit, Konfession, Parteizugehörigkeit: Fragen zur Gewerkschaftszugehörigkeit sind wegen der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in der Bewerbungsphase generell unzulässig. Nach der Einstellung kann sie zulässig sein, wenn der Arbeitsgeber ein berechtigtes Interesse an der Antwort hat, etwa weil er Gewerkschaftsangehörige tarifkonform vergüten möchte. Unzulässig sind wegen Art. 4 GG Fragen zur Konfession der Bewerber. Etwas anderes kann nur für bestimmte Tendenzbetriebe gelten (vgl. auch § 9 AGG), in denen es für den Träger auf eine bestimmte Konfession ankommt (z.  B.  Beschäftigung in einer kirchlichen Einrichtung). Aufenthaltsgestattung/-titel: Die Frage nach dem Aufenthaltstitel kann ausländische Bewerber wegen ihrer ethnischen Herkunft benachteiligen (§  1 AGG); sie ist allerdings dennoch zulässig, weil der Arbeitgeber einen ausländischen Bewerber mit Erwerbsverboten oder -beschränkungen  ohne die  erforderliche Erlaubnis gar nicht beschäftigen darf (§ 4a Abs. 2 AufenthG). Persönliche Lebensführung: Fragen nach der persönlichen Lebensführung, wie z. B. Heiratswünsche, Kinderwünsche, Urlaubsreisen etc. sind generell unzulässig; selbst in sog. Tendenzbetrieben (z.  B. kirchliche Einrichtungen) hat die Rechtsprechung zuletzt die Zulässigkeit solcher Fragen verneint.

Unter ganz bestimmten engen Voraussetzungen besteht auch eine Offenbarungs- 1470 pflicht des Bewerbers, d. h. die Verpflichtung, ohne ausdrückliche Befragung Umstände mitzuteilen, die für das Erbringen der in Aussicht genommenen Arbeitsleistung erheblich sind (sie folgt aus §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB). Hierzu gehört es z. B., dass der Bewerber mitteilt, wenn er aufgrund fehlender Qualifikation für die Arbeit völlig ungeeignet ist, wenn er seinen Dienst aus persönlichen Gründen nicht pünktlich antreten kann (z. B. fehlende Fahrerlaubnis, behördliches Berufsausübungsverbot). Auch schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die Kollegen oder Kunden gefährden könnten oder die der Erbringung der Arbeitsleistung entgegenstehen, muss der Bewerber auch von sich aus mitteilen. Arbeitgeber setzen zum Teil weitere Auswahlinstrumente ein, wie Fragebögen, 1471 Eignungstests oder Gesundheitschecks. Werden Personalfragebögen eingesetzt, dürfen nur solche Fragen enthalten sein, die der Bewerber auch im Bewerbungsgespräch beantworten müsste. Um dies sicherzustellen, verlangt § 94 Abs. 1 BetrVG die vorherige Zustimmung des Betriebsrates. Tests (z. B. Arbeitsproben, Leistungs-

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9 Individualarbeitsrecht

tests, Assessment-Center) werden für zulässig erachtet, sofern sie nicht auf eine Ausforschung des Bewerbers hinauslaufen, was nur bei ­ wissenschaftlich anerkannten und unter fachkundiger Leitung durchgeführten Tests angenommen wird. Einstellungsuntersuchungen sind zulässig, wenn die Tätigkeit eine körperliche Verfassung erfordert. Bei Jugendlichen ist sie sogar gesetzlich vorgeschrieben (§ 32 Abs. 1 JArbSchG) und führt beim Fehlen der ärztlichen Bescheinigung zu einem Beschäftigungsverbot. Inwieweit der Arbeitgeber auch andere Quellen nutzen kann, um sich ein Bild über den Bewerber zu machen, wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Zugriff auf soziale Medien (z. B. Facebook, Instagram) diskutiert. Hierbei wird in Ansehung des Datenschutzrechts (§ 26 Abs. 1 BDSG) seitens der Rechtsprechung differenziert: Zwar darf sich der Arbeitgeber grundsätzlich über einen Bewerber aus allgemein zugänglichen Quellen (z.  B.  Zeitung oder „Google-Abfrage“) informieren. Eine Einschränkung ist allerdings bezogen auf soziale Netzwerke gegeben. Soweit nämlich soziale Netzwerke ausschließlich der privaten Kommunikation dienen (z. B. Facebook, schülerVZ, studiVZ, StayFriends), darf sich der Arbeitgeber daraus nicht informieren. Allerdings darf er Informationsquellen nutzen, die geradewegs zur Darstellung der beruflichen Qualifikation ihrer Mitglieder bestimmt sind (z. B. Xing, LinkedIn). Wie bereits erwähnt, können schuldhafte Verletzungen von Rücksichtnahme-, 1472 Mitteilungs-, Obhuts- und Verschwiegenheitspflichten im Zusammenhang mit der Vertragsanbahnung zu Schadensersatzansprüchen des Bewerbers sowie des Arbeitgebers führen (§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 Abschn. 1.6.5.3). Beide Parteien werden vorvertraglich zur Rücksichtnahme verpflichtet und auch haftbar, wenn sie diese Nebenpflichten verletzen. Beispiel

Der Bewerber wird zum Vorstellungsgespräch eingeladen, obwohl die Stelle bereits vergeben ist. Der Einladende wollte nur etwas über die bisherige Arbeitsstelle des Bewerbers erfahren. Obwohl dies nicht der Wahrheit entspricht, wird dem Bewerber erklärt, der Betriebsrat habe bereits seiner Einstellung zugestimmt und er könne sein noch bestehendes Arbeitsverhältnis beruhigt kündigen. Der Bewerber erfährt im Vertrauen auf den bevorstehenden Vertragsabschluss bereits Betriebsgeheimnisse vom Arbeitgeber. Nachdem er das Vertragsangebot abgelehnt hat, verwertet er sein Wissen bei der Konkurrenz des Arbeitgebers. ◄ 1473

Der Bewerber hat einen Anspruch auf Erstattung der Vorstellungskosten, sofern er vom Arbeitgeber zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde (§§ 662, 670 BGB) und zwar unabhängig davon, ob er später eingestellt wird oder nicht. Will der Arbeitgeber diese Erstattungspflicht ausschließen, muss er dies unmissverständlich dem Bewerber gegenüber zum Ausdruck bringen (z. B. in der Einladung). Als erstattungspflichtige Vorstellungskosten gelten: Fahrtkosten, Übernachtungskosten, wenn es für den Bewerber unzumutbar ist, innerhalb eines Tages an- und zurück zu reisen sowie unter Umständen die Mehrkosten für Verpflegung. Verdienstausfall ist

9.3  Begründung des Arbeitsverhältnisses

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hingegen nicht zu ersetzen; insoweit trägt der Bewerber das Risiko für seine erstrebte berufliche Veränderung. Unter Umständen hat er allerdings gegen seinen aktuellen Arbeitgeber aus §§ 629, 616 BGB einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts.

9.3.2 Vertragsschluss Der Arbeitsvertrag kommt, wie jeder andere Vertrag auch, durch Angebot und An- 1474 nahme zustande (§§ 145 ff. BGB), es gelten die allgemeinen Bestimmungen, insbesondere zur Geschäftsfähigkeit und Vertretung (Abschn. 1.6.2). Die Stellenausschreibung ist noch kein Angebot zum Abschluss eines Arbeitsvertrages. Hier fehlt es noch am Rechtsbindungswillen des Ausschreibenden, sie ist lediglich „invitatio ad offerendum“ (Aufforderung, Angebote zu machen; Abschn. 1.6.2.1). Erst das der Ausschreibung nachfolgende Bewerbungsschreiben ist das Angebot zum Abschluss des Arbeitsvertrages, das der Ausschreibende, d.  h. der potenzielle Arbeitgeber durch eine entsprechende Willenserklärung annimmt. Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer zur Leistung weisungs- 1475 gebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet (§ 611a Abs. 1 S. 1 BGB) und der Arbeitgeber zur Zahlung der vereinbarten Vergütung (§  611a Abs.  2 BGB). Die Arbeitspflicht wird im Einzelnen durch das Weisungsrecht des Arbeitgebers weiter konkretisiert. Die Höhe der Vergütung wird regelmäßig im Arbeitsvertrag ausdrücklich geregelt sein; hilfsweise gilt §  612 Abs.  2 BGB, der mangels Vereinbarung eine taxmäßige oder übliche Vergütung unterstellt.

9.3.2.1 Form des Arbeitsvertrages Grundsätzlich sind Arbeitsverträge formfrei, d. h. sie müssten nicht einmal schrift- 1476 lich abgeschlossen werden. Allerdings sind dem Arbeitnehmer spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses und auf dessen Verlangen die wesentlichen Vertragsbedingungen schriftlich auszuhändigen (§ 2 Abs. 1 S. 1 NachwG; deklaratorisches Schriftformgebot). Daher vereinbaren die Parteien eines Arbeitsvertrages zumeist – obschon sie es nicht müssten – von vornherein die Schriftform. Für bestimmte Arbeitsformen ordnet allerdings das Gesetz die Schriftform 1477 (§ 126 Abs. 1 BGB) an: • Arbeitnehmerüberlassungsvertrag (§ 12 Abs. 1 S. 1 AÜG): Der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag ist von beiden Parteien bzw. den vertretungsberechtigten Personen eigenhändig zu unterschreiben oder durch notariell beglaubigtes Handzeichen zu unterzeichnen. Den Formerfordernissen ist bereits Genüge getan, wenn der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag der elektronischen Form i.  S.  d. § 126a BGB entspricht. • Befristeter Arbeitsvertrag: Die Befristungsabrede bedarf zwingend der Schriftform (§ 14 Abs. 4 TzBfG); ohne Schriftform ist die Befristungsabrede unwirk-

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9 Individualarbeitsrecht

sam (§§  126, 125 BGB) und der Vertrag gilt auf unbestimmte Zeit geschlossen (§ 16 TzBfG). • Berufsausbildungsvertrag (§  11 Abs.  1 BBiG): Der wesentliche Inhalt eines Berufsausbildungsvertrags ist schriftlich niederzulegen und von den Vertragsparteien zu unterzeichnen, wenngleich der Mangel der Form nicht zur Nichtigkeit des Vertrags führt. 1478

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Die Schriftform kann auch durch einen Tarifvertrag festgelegt werden. Liegt ein solches Schriftformerfordernis vor, so ist hinsichtlich der Wirksamkeit eines nur mündlich abgeschlossenen Arbeitsvertrages zu unterscheiden: Soll nach dem Tarifvertrag die Wirksamkeit des Vertrages von der Einhaltung der Schriftform abhängen, so ist der nur mündlich abgeschlossene Vertrag unwirksam (§§ 126, 125 BGB). Dient die Schriftform hingegen nur der Beweiserleichterung, so ist auch der mündlich abgeschlossene Vertrag wirksam. Der Arbeitnehmer kann aber vom Arbeitgeber – ähnlich des § 2 NachwG – die schriftliche Niederlegung des wesentlichen Vertragsinhalts noch im Nachgang verlangen. Schließlich haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer die Möglichkeit, ein Schriftformerfordernis vertraglich festzulegen. Davon wird in der Regel Gebrauch gemacht, wenn sich in einem schriftlichen Vertrag Klauseln zur Änderung desselben befinden. Solche künftigen Änderungen werden dann an eine Schriftform geknüpft (Schriftformklauseln). Die Rechtsfolgen des Verstoßes gegen das vereinbarte Schriftformerfordernis hängen zum einen davon ab, ob das Formerfordernis konstitutiver oder nur deklaratorischer Natur ist und zum anderen, ob die Parteien bestimmte Rechtsfolgen festgelegt haben.

9.3.3 B  eteiligung des Betriebsrates bzw. des Sprecherausschusses 1480

In Betrieben mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern (§ 7 BetrVG) hat der Arbeitgeber vor Abschluss eines Arbeitsvertrages die Zustimmung des Betriebsrates einzuholen (§ 99 Abs. 1 BetrVG). Bei Einstellung eines leitenden Angestellten ist der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten rechtzeitig zu informieren (§ 31 Abs. 1 SprAuG).

9.3.4 Abschlussgebote und -verbote Nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit können die Parteien den Inhalt des Arbeitsvertrags eigentlich frei bestimmen (§ 105 S. 1 GewO). Allerdings wird die Vertragsautonomie im Arbeitsrecht durch gesetzliche Abschlussgebote und -verbote eingeschränkt. 1482 Abschlussgebote sind an die Arbeitgeber adressiert und dienen dazu, erkannten Benachteiligungen bestimmter Personengruppen entgegenzusteuern oder Personen1481

9.3  Begründung des Arbeitsverhältnisses

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gruppen in die Arbeitswelt zu integrieren. Abschlussgebote können sich dabei aus dem Gesetz, einer Kollektivvereinbarung oder dem Arbeitsvertrag ergeben. Gesetzliche Abschlussgebote bestehen in der Regel zugunsten besonders schutzbedürftiger Personengruppen. So normiert §  154 SGB IX eine öffentlich-­ rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers, der mindestens über 20 Arbeitsplätze verfügt, eine bestimmte Quote (derzeit 5  %) der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Diese Vorschrift begründet nun kein Recht eines arbeitssuchenden Schwerbehinderten auf Einstellung gegenüber einem bestimmten Arbeitgeber, sondern die Arbeitgeber sind dem Sozialstaat gegenüber verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Schwerbehinderten zu beschäftigen. Einstellungen können daher nur mittelbar erzwungen werden, indem das Gesetz im Falle der Nichteinstellung von Schwerbehinderten eine Ausgleichsabgabe (vgl. § 160 SGB IX) oder Bußgeld (z. B. § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) vorsieht. Ebenso ist für Jugend- und Auszubildendenvertreter ein Weiterbeschäftigungsanspruch nach deren Ausbildung gesetzlich vorgesehen, sofern diese eine Weiterbeschäftigung vom Arbeitgeber fordern (§ 78a Abs. 2 BetrVG). Hierdurch wird ihr Engagement geschützt, denn es wird sichergestellt, dass die mitunter auch streitige Interessenwahrnehmung nicht mit einem Verlust des Arbeitsplatzes nach der Ausbildung sanktioniert werden kann. Ebenso wie im Gesetz können auch in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen Abschlussgebote geregelt sein. Hier kann z. B. vereinbart werden, dass der Arbeitgeber eine bestimmte Anzahl älterer Arbeitnehmer ständig zu beschäftigen hat; es können außerdem Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien (Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften) darüber geschlossen werden, dass eine bestimmte Anzahl von Auszubildenden aufzunehmen ist. Solche „Quotenregelungen“ können mit dem Ziel, benachteiligende Wirkungen zu beseitigen, zu nahezu allen Arbeitnehmergruppen vorgesehen werden. Schließlich lassen sich Abschlussgebote auch in einzelnen Arbeitsverträgen vereinbaren, z.  B. wenn der Arbeitgeber zunächst einen nur befristeten Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer schließt, diesem aber einen zeitlich unbegrenzten Vertrag zusagt, sofern er sich bewährt. Im Unterschied zu den Abschlussgeboten können Abschluss- bzw. Beschäftigungsverbote, weil sie in die Berufsausübungsfreiheit nach Art.  12 GG eingreifen, nur durch ein Gesetz erfolgen, wobei das gesetzgeberische Handeln einer besonderen Rechtfertigung bedarf; der Eingriff muss erforderlich sein. Daher hat sie der Gesetzgeber auch nur dort implementiert, wo er zum einen bestimmte Gruppen von Arbeitnehmer für besonders schützenswert erachtet und ihnen deshalb bestimmte Tätigkeiten untersagt (z.  B.  Kinder und Jugendliche nach §§  2, 5, 7 JArbSchG, Schwangere nach dem MuSchG sowie Schwerbehinderte nach SGB IX) und zum anderen, wo es der Schutz der Allgemeinheit vor illegaler Beschäftigung oder Gesundheitsgefahren erfordert (z. B. Verbot der Schwarzarbeit nach §§ 1 Abs. 2 Nr. 1, 2 SchwarzArbG oder das Verbot der Beschäftigung von Personen mit ansteckenden Krankheiten in Lebensmittelbetrieben, § 31 IfSG).

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9.3.5 Mängel des Arbeitsvertrages 1487

Die Wirksamkeit des Arbeitsvertrages richtet sich grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts. Der Arbeitsvertrag oder einzelne Absprachen können daher nichtig oder anfechtbar sein. Außerdem können die Vertragsbedingungen der AGB-Kontrolle (§§  305, 307, 310 Abs.  4 S.  2 BGB) unterliegen, sofern sie für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert und nicht ausgehandelt sind (Abschn. 1.6.3.3).

9.3.5.1 Nichtigkeit Arbeitsverträge können aus verschiedenen Gründen nichtig sein. Als Nichtigkeitsgründe kommen beispielsweise Formmängel (es wurde die erforderliche Schriftform nicht eingehalten), fehlende Geschäftsfähigkeit (beachte aber §§  112, 113 BGB für den minderjährigen Arbeitnehmer), Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB, Verbotsgesetz kann jede Rechtsnorm sein, ebenfalls Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen) oder die Sittenwidrigkeit des Vertrages (§  138 BGB, z.  B.  Wuchergeschäfte, Arbeit als Drucker in einer Falschmünzenwerkstatt) in Betracht. Hinsichtlich der daraus resultierenden Rechtsfolgen ist im Arbeitsrecht danach 1489 zu differenzieren, ob der Arbeitsvertrag bereits vollzogen wurde oder nicht: Ist das Arbeitsverhältnis noch nicht vollzogen, gelten die allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts. Danach sind der Arbeitsvertrag oder einzelne Bestimmungen von Anfang an unwirksam. Ist das Arbeitsverhältnis dagegen schon vollzogen, kann es als sog. „fehlerhaftes Arbeitsverhältnis“ nicht mehr rückwirkend, sondern allenfalls mit Wirkung für die Zukunft beseitigt werden, indem sich nun jede Seite durch einseitige Erklärung (Kündigung) vom Vertrag lösen kann. Soweit nur einzelne Bestimmungen des Arbeitsvertrags unwirksam sind, führt diese Teilnichtigkeit nicht zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages (die Rechtsfolge des § 139 BGB wäre für den Arbeitnehmer unzumutbar), sondern die unwirksamen Vertragsregelungen können im Wege der Vertragsauslegung oder durch geltendes Recht ersetzt werden. 1488

Beispiel

Eine arbeitsvertragliche Regelung, die dem Arbeitnehmer 26 Tage Urlaub zugesteht und dabei vorsieht, dass er auch während seines Urlaubs ständig erreichbar sein muss, ist mit §  8 BurlG nicht zu vereinbaren und daher unwirksam (§ 134 BGB). Damit entfällt aber die Urlaubsklausel im Vertrag nicht, sondern sie wird durch geltendes Recht – hier § 3 Abs. 1 BUrlG (24 Tage) – ersetzt. Der Arbeitgeber A schließt mit M einen Arbeitsvertrag, wobei er bei der Vergütungsabsprache unter dem gesetzlichen Mindestlohn bleibt. Eine solche Vereinbarung ist unwirksam und nichtig (§ 3 S. 1 MiLoG). An die Stelle der unwirksamen Vergütungsvereinbarung tritt der gesetzliche Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 MiLoG. Ähnliches gilt, wenn eine Vergütungsabsprache sittenwidrig und deswegen nichtig ist; an deren Stelle tritt dann entweder der Mindestlohn oder – sofern für den Arbeitnehmer günstiger (Günstigkeitsprinzip) – die übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB. ◄

9.3  Begründung des Arbeitsverhältnisses

597

9.3.5.2 Anfechtung Arbeitsverträge können, wie jedes andere Rechtsgeschäft, wegen Irrtums (§  119 1490 BGB) oder arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) angefochten werden (Abschn. 1.6.3.3). Die Anfechtung ist Gestaltungsrecht und bedarf der Erklärung gegenüber dem 1491 Vertragspartner, an dem Arbeitsvertrag nicht mehr festhalten zu wollen (§  143 BGB). Abzugrenzen ist die Anfechtung von der fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses (§  626 BGB). Während die Anfechtung darauf zielt, einen Willensmangel bei Vertragsschluss zu korrigieren, soll die Kündigung ein Rechtsverhältnis beenden, das ursprünglich fehlerfrei zustande gekommen war. Ob der Erklärende anficht oder kündigt, ist nach den Gesamtumständen zu beurteilen. Als Anfechtungsgründe kommen die §§ 119, 123 BGB in Betracht, wobei diese 1492 auch nebeneinander einschlägig sein können. Für das Arbeitsrecht ist insbesondere der Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften von Personen (§ 119 Abs. 2 BGB) von Bedeutung. Wer sich bei Vertragsschluss über „verkehrswesentliche Eigenschaften“ des Arbeitnehmers geirrt hat, kann den Arbeitsvertrag anfechten. Der Begriff der „verkehrswesentlichen Eigenschaften einer Person“ bedarf dabei der Eingrenzung, damit die Anfechtungsmöglichkeiten nicht ausufern. Als Eigenschaft des Arbeitnehmers, die zu einer Anfechtung berechtigt, kommt nur eine Dauereigenschaft in Betracht, wie z. B. die Vorbildung, seine beruflichen Fähigkeiten, sein Gesundheitszustand, seine Vertrauenswürdigkeit. Diese Eigenschaft muss erheblich (verkehrswesentlich) sein; dies setzt voraus, dass sie in einer unmittelbaren Beziehung zum Inhalt des Arbeitsvertrages steht. Der Arbeitgeber, der nichts von den Vorstrafen seines Kassierers wegen Unterschlagung wusste, ist zur Anfechtung berechtigt; ist der Kassierer wegen Nötigung im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs verurteilt worden, so ist diese Verurteilung kein Anfechtungsgrund. Die Schwangerschaft ist keine verkehrswesentliche Eigenschaft i. S. d. § 119 Abs. 2 BGB, weil die Schwangerschaft zum einen nicht von Dauer ist und zum anderen ein solches Anfechtungsrecht dem Sinn des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) widersprechen würde. Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§  123 BGB) setzt im Zusammenhang mit dem Arbeitsvertrag voraus, dass der Arbeitnehmer eine zulässige Frage (!) bewusst falsch beantwortet hat. Die Täuschung muss widerrechtlich sein. Diese Widerrechtlichkeit liegt nicht vor, wenn die Frage gar nicht hätte gestellt werden dürfen. Der Arbeitgeber darf nur auf zulässige Fragen eine wahrheitsgemäße Antwort erwarten. Es wäre dem Arbeitnehmer auch nicht damit geholfen, dass er auf unzulässige Fragen die Antwort verweigern könnte, auch in diesem Fall würde er die Stelle nicht bekommen. Zulässig sind nur solche Fragen, die mit der in Aussicht genommenen Tätigkeit und deren Dauer im Zusammenhang stehen. Beispiel

Schwangerschaft: Der EuGH hat inzwischen entschieden, dass die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach der Richtlinie 76/207/EWG generell unzulässig ist. Das EG-Recht geht dem nationalen Recht vor, sodass die bisherige Recht-

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9 Individualarbeitsrecht

sprechung des BAG obsolet wurde. Es gibt aber auch nach dieser Entscheidung des EuGH Ausnahmesituationen, in denen nach der Schwangerschaft zulässigerweise gefragt werden darf. Das sind die Fälle, in denen das Arbeitsverhältnis ansonsten überhaupt nicht in Vollzug gesetzt werden könnte, z. B. eine Schwangere bewirbt sich für eine Aushilfstätigkeit als Schichtarbeiterin in der Nachtschicht. Im Mutterschutzgesetz (MuSchG) ist ein Nachtarbeitsverbot für Schwangere vorgesehen und deshalb könnte hier das Arbeitsverhältnis überhaupt nicht in Vollzug gesetzt werden. Behinderung: Nach Behinderungen des Arbeitnehmers darf nur dann gefragt werden, wenn eine konkrete Behinderung mit der Arbeitstätigkeit unvereinbar wäre, z.  B.  Nachtblindheit eines Nachtwächters, Farbenblindheit eines Lackierers. ◄ 1493

Im Hinblick auf die Anfechtungsfrist ist zwischen der Anfechtung nach § 119 BGB und § 123 BGB zu unterscheiden. Auf die Anfechtung nach § 119 BGB wendet das BAG die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB entsprechend an mit der Folge, dass eine Anfechtung nur dann unverzüglich i. S. d. § 121 Abs. 1 BGB erfolgt ist, wenn zwischen der Kenntniserlangung und dem Zugang der Anfechtungserklärung höchstens zwei Wochen liegen. Bei der Anfechtung nach § 123 BGB ist dagegen die Ausschlussfrist des § 626 BGB nicht entsprechend anzuwenden. Hier richtet sich die Anfechtungsfrist nach § 124 BGB. Die Ausübung des Anfechtungsrechts unterliegt jedoch den allgemeinen Beschränkungen des § 242 BGB. So kann eine Anfechtung gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn der Anfechtungsgrund im Zeitpunkt der Anfechtungserklärung seine Bedeutung für das Arbeitsverhältnis bereits verloren hat. Beispiel

Der A ist seit drei Jahren beim Maschinen-Unternehmen U als Schlosser tätig. Als er eingestellt wurde füllte er einen Personalfragebogen aus und gab auf die Frage, welche Beschäftigung er bislang ausgübt habe, Schlosser-Lehrling ein. In Wahrheit hatte er allerdings eine betriebliche Anlernung als Hilfs-Galvaniseur durchlaufen. In diesem Fall könnte der U nun keine Anfechtung mehr erklären, da der A durch die mehr als dreijährige Tätigkeit gezeigt hat, dass er die Eigenschaften besaß, auf die der U Wert legte. Der Anfechtungsgrund hat angesichts der nachträglichen Bewährung des A an Bedeutung verloren, er kann die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr rechtfertigen (BAGE 22, 278, 281). ◄ 1494

Liegt ein Anfechtungsgrund vor (Irrtum über verkehrswesentliche Eigenschaften, arglistige Täuschung) so führt die Anfechtung zur Nichtigkeit, d. h. zur Unwirksamkeit des Arbeitsvertrages (§ 142 BGB). Eine Modifizierung ergibt sich – ebenso wie beim Vorliegen von sonstigen Nichtigkeitsgründen – bei der Anfechtung nach Arbeitsbeginn, d. h. wenn das Arbeitsverhältnis bereits in Vollzug gesetzt ist. Recht-

9.4  Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen

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sprechung und Lehre legen dann den § 142 Abs. 1 BGB dahingehend aus, dass eine Anfechtung nach Beginn des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich nur Wirkung für die Zukunft entfaltet (s.  o.). Das bedeutet insbesondere, dass bereits geleistete Arbeit zu entlohnen ist.

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Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen

Die Vertragsparteien können den Inhalt ihres Arbeitsverhältnisses grundsätzlich 1495 privatautonom, also frei ausgestalten. Allerdings ist das Arbeitsrecht von der Einschätzung geprägt, dass der Arbeitnehmer stets der unterlegene Teil dieser Verbindung ist. Deshalb werden der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien zahlreiche Grenzen zum Schutz der Arbeitnehmer gesetzt, die sich insbesondere aus vorrangigen Gesetzen (Verbotsgesetze wie z. B. §§ 617, 618 BGB, TzBfG, BUrlG, MuSchG, ArbZG), Tarifverträgen (§  4 Abs.  1 TVG), Betriebsvereinbarungen (§ 77 Abs. 4 BetrVG) oder aus den Grundsätzen der Rechtsprechung (z.  B.  Verbot sittenwidriger Rechtsgeschäfte gemäß §  138 BGB, Verbot überraschender Klauseln, Verbot unangemessen belastender Klauseln) ergeben. Die Arbeitsgerichte kontrollieren anhand dieser Maßstäbe vor allem die Angemessenheit der Vertragsinhalte. Bei der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse können seitens der Vertragspartner 1496 verschiedene Arbeitsvertragstypen angesprochen sein, die zum Teil gesetzlich verortet sind und besondere Anforderungen an die Vertragsparteien definieren. Gerade das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) schafft hier z. B. den notwendigen Raum, um dem Wunsch nach flexiblerem Arbeiten gerecht zu werden.

9.4.1 Vollzeitarbeitsverhältnis Ein Arbeitsverhältnis, das auf unbestimmte Zeit vereinbart ist, gilt als Regel, 1497 wenngleich auch dieses Arbeitsverhältnis eigentlich ein befristetes ist, da es enden soll, wenn die Regelaltersgrenze erreicht wird (§§ 35 S. 2, 235 SGB VI). Ein normales Vollzeitarbeitsverhältnis ist die sog. geringfügige Beschäftigung, 1498 die nach §  8 Abs.  1 Nr.  1 SGB IV vorliegt, wenn die Beschäftigung gegen ein Arbeitsentgelt ausgeübt wird, welches regelmäßig 450 EUR im Monat nicht übersteigt.

9.4.2 Teilzeitarbeitsverhältnis Arbeitnehmer sind teilzeitbeschäftigt, sofern ihre regelmäßige Wochenarbeitszeit 1499 kürzer ist, als die vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer (§  2 Abs.  1 S.  1 TzBfG). Wenn die regelmäßige Wochenarbeitszeit von Vollzeitkräften also üblicherweise bei 40 Stunden liegt, sind Arbeitnehmer mit 39 ­Wochenstunden bereits teilzeitbeschäftigt. Ist keine regelmäßige Wochenarbeitszeit vereinbart, so ist

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auf die Arbeitszeit abzustellen, die im Durchschnitt eines Jahres oder eines sonstigen zwischen einer Woche und einem Jahr liegenden Zeitraums regelmäßig zu leisten ist. Die Teilzeitbeschäftigung soll in Ansehung sich verändernder Arbeitswelten flächendeckend gefördert werden (§ 1 TzBfG), wofür das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) den notwendigen Rahmen schafft. Um Teilzeitarbeit zu ermöglichen, hat der Arbeitgeber einen Arbeitsplatz, den er innerhalb oder außerhalb des Betriebs ausschreibt, auch als Teilzeitarbeitsplätze auszuschreiben, sofern sich dieser dafür eignet (§ 7 Abs. 1 TzBfG). Er muss ferner Arbeitnehmer, die ihm den Wunsch nach einer Veränderung der Dauer oder der Lage ihrer Arbeitszeit angezeigt haben, über entsprechende offene Stellen informieren (§ 7 Abs. 2 TzBfG). Nach sechsmonatigem Bestehen eines Arbeitsverhältnisses kann der Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten verlangen, dass seine vertragliche Arbeitszeit verringert wird (§ 8 Abs. 1 und 7 TzBfG). Der Wunsch nach Teilzeitbeschäftigung muss dabei mindestens drei Monate vor dem beabsichtigten Beginn der Teilzeit gegenüber dem Arbeitgeber artikuliert werden (§  8 Abs.  2 TzBfG); die Ankündigung ist dabei in Textform und ohne Begründung möglich (§ 8 Abs. 2 TzBfG), wenngleich letzteres für die arbeitgeberseitige Entscheidung (§ 8 Abs. 3 TzBfG) eine wichtige Unterstützung sein kann. Das Gesetz sieht keine konkreten Regelungen vor, in welcher Weise die Arbeitszeit verkürzt werden muss, dies sollen die Vertragsparteien einvernehmlich aushandeln und festlegen. Das Begehren des Arbeitnehmers kann im Einzelfall durch den Arbeitgeber aufgrund gewichtiger betrieblicher Gründe abgelehnt werden. Als solche gelten erhebliche Beeinträchtigungen der Organisation und des Arbeitsablaufes (z. B. weil eine Ersatz- oder „Zweitkraft“ fehlt), unverhältnismäßig hohe Kosten (z. B. weil ein Dienstfahrzeug angeschafft werden müsste oder sich Fortbildungskosten um 30 % erhöhen) sowie Beeinträchtigung der Sicherheit im Betrieb (z. B. weil der einzige Sicherheitsbeauftragte seine Stundenzahl reduzieren möchte). Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer seine Entscheidung spätestens einen Monat vor dem gewünschten Teilzeitbeginn schriftlich mitzuteilen, d. h. ob er dem Teilzeitbegehren zustimmt oder nicht. Geschieht dies nicht fristgerecht, verringert sich die Arbeitszeit automatisch, d.  h. allein aufgrund des Gesetzes (§  8 Abs.  5 TzBfG) in dem vom Arbeitnehmer gewünschten Umfang (Zustimmungsfiktion des Schweigens). Kommt der Arbeitgeber dem Teilzeitwunsch des Arbeitnehmers nicht nach, kann der Arbeitgeber vor dem zuständigen Arbeitsgericht klagen (§  894 ZPO). Das Arbeitsgericht wird dann prüfen, ob die Ablehnung der beantragten Teilzeitarbeit zu Recht erfolgt ist. Dabei wird es darauf ankommen, ob der Arbeitgeber betriebliche Gründe für die Ablehnung darlegen und beweisen kann. Wird dem Teilzeitbegehren stattgegeben, kann die vereinbarte Verteilung der Wochenarbeitszeit später auch wieder geändert werden (§ 8 Abs. 5 S. 4 TzBfG); der Prozess folgt erneut dem § 8 Abs. 2–4 TzBfG. Im Übrigen ordnet § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG an, dass Teilzeitbeschäftigte wie Vollzeitbeschäftigte zu behandeln sind, es sei denn, dass eine Benachteiligung (i. d. R. Schlechterstellung) gegenüber Voll-

9.4  Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen

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zeitkräften aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist hinsichtlich des Vorliegens solcher Gründe streng und erachtete bereits eine Reihe von Ungleichbehandlungen für unzulässig. Falls z. B. Vollzeitbeschäftigte die Verringerung ihrer Arbeitszeit nach tariflichen Regelungen verlangen können, dann muss das auch für Teilzeitbeschäftigte gelten. Ebenso können Teilzeitarbeitskräfte nicht grundsätzlich von der betrieblichen Altersversorgung ausgeschlossen werden.

9.4.3 Job-Sharing Unter „Job-Sharing“ oder „Arbeitsplatzteilung“ versteht man die Besetzung eines 1507 Arbeitsplatzes mit zwei oder mehreren Arbeitnehmern, wobei die Arbeitnehmer gemeinsam die Verantwortung für die Arbeitspflicht übernehmen. Eine Definition findet sich in § 13 Abs. 1.S. 1 TzBfG. Da die Job-Sharer regelmäßig unterhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit bleiben, handelt es sich dabei um eine besondere Form der Teilzeitarbeit.

9.4.4 Abrufarbeitsverhältnis Eine weitere Sonderform der Teilzeitarbeit ist das sog. Abrufarbeitsverhältnis. Hier 1508 erbringt der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall auf Abruf des Arbeitgebers. Im Arbeitsvertrag ist ein festes Arbeitszeitkontingent z.  B. täglich, wöchentlich oder monatlich vereinbart, wobei dem Arbeitgeber die Möglichkeit eingeräumt ist, die Dauer (z. B. nur 3 oder 6 Std.) und die Lage der Arbeitszeit (z. B. nur Montag oder Montag bis Dienstag) zu bestimmen. Die Zulässigkeit einer solchen Vereinbarung setzt voraus, dass im Arbeitsvertrag 1509 die Gesamtdauer der Arbeitszeit verbindlich festgelegt wird (§  12 Abs.  1 S.  2 TzBfG) und dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mindestens vier Tage im Voraus mitteilt, wann er die Arbeitsleistung zu erbringen hat (§ 12 Abs. 2 TzBfG). Letzteres, um dem Arbeitnehmer auch die Freiheit zu belassen, den nicht vertraglich gebundenen Teil seiner Arbeitskraft in angemessener Weise anderweitig verwerten zu können.

9.4.5 Befristete Arbeitsverhältnisse Von einem befristeten Arbeitsverhältnis ist die Rede, wenn der Arbeitsvertrag nur 1510 auf bestimmte Zeit geschlossen ist (§ 3 Abs. 1 TzBfG). Letzteres ist anzunehmen, wenn seine Dauer kalendermäßig bestimmt oder bestimmbar ist (sog. kalendermäßig befristeter Arbeitsvertrag, z. B. „bis zum 31.12.“ oder „ab dem 1.2. für 6 Monate“) oder sich die Befristung aus Art, Zweck oder Beschaffenheit der Arbeitsleistung ergibt (sog. zweckbefristeter Arbeitsvertrag, z.  B.  Spargelstechen, Urlaubsvertretung, Projektarbeit).

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9 Individualarbeitsrecht

In formeller Hinsicht bedarf ein befristetes Arbeitsverhältnis ebenso wie dessen Verlängerung der Schriftform (§ 14 Abs. 4 TzBfG i. V. m. § 126). Wird sie nicht eingehalten, gilt das Arbeitsverhältnis nach § 16 TzBfG als auf unbestimmte Zeit geschlossen. Beispiel

Herr Meier vereinbart am 1.1. mündlich mit dem Arbeitgeber ein befristetes Arbeitsverhältnis das im März beginnen soll. Am 1.3. nimmt Herr Meier seine Arbeit auf. Erst am 5.3. wird der  – nun in Schriftform vorliegende Vertrag  – nachgereicht. Hier ist mangels Einhaltung der Schriftform die Befristungsabrede nach § 125 S. 1 BGB nichtig, mit der Folge, dass ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zwischen Herrn Meier und dem Arbeitgeber vorliegt (vgl. BAG, Urteil v. 01.12.2004 – 7 AZR 198/04). ◄ 1512

Eine Befristung des Arbeitsverhältnisses ist materiell-rechtlich zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist (§  14 Abs.  1 S.  1 TzBfG), wobei das Gesetz in einem offenen Tatbestand („insbesondere“) einschlägige Sachgründe aufzählt: • betrieblicher Bedarf an einer nur vorrübergehenden Arbeitsleistung (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TzBfG) • unmittelbare Anschlussbeschäftigung an Ausbildung oder Studium (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 TzBfG) • Vertretung von anderen Arbeitnehmern (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 TzBfG) • Eigenart der Arbeitsleistung (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG) • Erprobung des Arbeitnehmers (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 TzBfG) • in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 TzBfG) • Vergütung über Haushaltsmittel (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 TzBfG) • Anordnung durch einen gerichtlichen Vergleich (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 8 TzBfG)

Da dieser Katalog nicht abschließend ist, können weitere Sachgründe die Befristung rechtfertigen, sofern bereits bei Abschluss des Vertrages mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist, dass für eine Beschäftigung auf Dauer kein Bedarf besteht und die Befristung auch nicht unangemessen erscheint. 1513 Ausnahmsweise können Zeitverträge bis zu zwei Jahren auch ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes geschlossen werden (§ 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG). Bei einer solchen sachgrundlosen Befristung endet der Arbeitsvertrag durch schlichten Zeitablauf; eine Kündigung ist nicht mehr erforderlich. Voraussetzung der sachgrundlosen Befristung ist allerdings, dass es sich um eine „Neueinstellung“ handelt, d. h. dass zuvor kein Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber bestanden hat (§ 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG). Durch dieses Verbot der unmittelbaren Vorbeschäftigung bzw. Anschlussverbot sollen Kettenarbeitsverträge auf der Grundlage des §  14 Abs.  1 S. 1 TzBfG vermieden werden.

9.4  Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen

603

Inwieweit nun aber Vorbeschäftigungen vom Anschlussverbot erfasst sind, die bereits länger zurück liegen, war zunächst umstritten. Das BAG hatte versucht, die Anforderungen zu konkretisieren, indem es Vorbeschäftigungen vom Anschlussverbot ausgenommen hat, die mehr als drei Jahre zurücklagen (BAGE 137, 275; 139, 213). Allerdings wurde diese Auslegung vom BVerfG als verfassungswidrig eingestuft, da die richterliche Rechtsfortbildung den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers, der sich offenkundig gegen eine konkrete Frist entschieden habe, übergehe und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetze. Zugleich hat das BVerfG jedoch eine verfassungskonforme Auslegung des Anschlussverbots angemahnt (BVerfG NJW 2018, 2542): Danach sei ein generelles Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber unverhältnismäßig, wenn und soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten gar nicht bestehe und das Verbot der sachgrundlosen Befristung auch nicht erforderlich sei, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Eine solche Situation könne u.  a. angenommen werden, wenn eine Vorbeschäftigung schon sehr lang zurückliege, ganz anders geartet war oder nur von sehr kurzer Dauer gewesen sei (z. B. geringfügige Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studienzeit, der Tätigkeit von Werkstudierenden oder bei einer lang zurückliegenden Beschäftigung von Menschen, die sich später beruflich völlig neu orientieren). In solchen Fallgestaltungen dürften die Fachgerichte den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG ausnahmsweise einschränken. Wird der Zeitvertrag nicht für zwei Jahre, sondern für eine kürzere Laufzeit abgeschlossen (z.  B. 6 Monate), kann er maximal dreimal verlängert werden (sog. Kettenarbeitsverträge), auch verbunden mit kleineren Änderungen. Allerdings darf die Gesamtlaufzeit insgesamt (Grundvertrag und Verlängerungen) zwei Jahre nicht überschreiten. Trotz dieser vermeintlich engen zeitlichen Vorgaben kann in der Praxis festgestellt werden, dass befristete Arbeitsverträge zwischen denselben Personen durchaus länger als zwei Jahre bestehen. Dies liegt insbesondere an der geschickten Kombination zwischen sachlich begründeten und sachgrundlosen Befristungsabreden (Abb. 9.1). Beispiel

Herr Müller könnte mit seinem Arbeitgeber zunächst einen ersten sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag von 6 Monaten vereinbaren, an den sich zunächst eine weitere sachgrundlose Befristung von 18 Monaten, und nach Ablauf von zwei Jahren eine sachlich begründete Befristung zunächst aus § 14 Abs. 1 Nr. 2 TzBfG (Ausbildung) und anschließend aus § 14 Abs. 1 Nr. 3 (Vertretung anderer Arbeitnehmer) anschließen könnte. Auf diese Weise könnte Herr Müller über mehrere Jahre in ein und demselben Unternehmen nur befristet beschäftigt sein. ◄ Mit Wirkung vom 01.01.2004 wurde zudem § 14 Abs. 2a TzBfG eingefügt, der 1514 Unternehmen in den ersten vier Jahren nach ihrer Gründung privilegiert. D ­ anach

604

9 Individualarbeitsrecht

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Abb. 9.1  Mehrere befristete Arbeitsverhältnisse nach dem TzBfG (Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht Bd. 1, 2018, S. 95.)

können Arbeitsverträge bis zur Dauer von vier Jahren sachgrundlos befristet und bis zu dieser Gesamtdauer beliebig oft verlängert werden (sog. Gründungsprivileg). Nach dem Wortlaut der Vorschrift wäre es sogar möglich, eine Vierjahresbefristung erst am Ende der vierjährigen Gründungsphase auszusprechen und so den Zeitraum auf acht Jahre auszudehnen. Voraussetzung ist allerdings, dass das Unternehmen tatsächlich neu gegründet wurde, wozu rechtliche Umstrukturierungen von bestehenden Unternehmen bzw. Betriebsübernahmen gerade nicht gehören. Für den Gründungszeitpunkt entscheidend ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit; sie ist nach § 138 AO der Gemeinde oder dem Finanzamt mitzuteilen und daher auch bekannt bzw. nachvollziehbar. 1515 Eine weitere Sonderregelung besteht für „ältere“ Arbeitnehmer ab Vollendung des 52. Lebensjahres (vor dem 01.01.2003: 58 Jahre). Sollten diese mindestens vier Monate beschäftigungslos gewesen sein (§ 138 SGB III), Transferleistungen bezogen (§ 111 SGB III) oder an Beschäftigungsmaßnahme teilgenommen haben, können sie ohne sachlichen Grund bis zu einer Dauer von 5 Jahren befristet beschäftigt werden (sog. Altersprivileg); wiederkehrende Verlängerungen sind bis zur Gesamtdauer möglich (§ 14 Abs. 3 TzBfG). Den älteren Personengruppen soll durch diese Regelung der Wiedereintritt in die Arbeitswelt erleichtert werden. Ausschlaggebend für das Lebensalter ist der Zeitpunkt, an dem das Arbeitsverhältnis tatsächlich beginnt, nicht der Zeitpunkt, an dem der befristete Vertrag geschlossen wurde. Ein enger zeitlicher Zusammenhang zu einem vorherigen ­Beschäftigungsverhältnis mit demselben

9.4  Inhalt des Arbeitsverhältnisses: Arbeitsvertragsformen

605

Arbeitnehmer im selben Betrieb bzw. beim selben Arbeitgeber darf auch nicht bestehen; die Rechtsprechung zieht die Grenze derzeit bei vier Monaten. Für die Vereinbarung einer Befristung ist – wie bereits erwähnt – die Schriftform erforderlich (§  14 Abs.  4 TzBfG i.  V.  m. §  126 BGB). Bei Nichteinhaltung gilt das Arbeitsverhältnis nach §  16 TzBfG als auf unbestimmte Zeit geschlossen. Der Arbeitnehmer wird also so behandelt, als habe er einen unbefristeten Vertrag geschlossen. Kündigungen sind dann auch nur nach den allgemeinen Vorschriften möglich (§§  620  ff., 622 BGB). Ansonsten läuft das Arbeitsverhältnis, wie oben bereits geschildert, zum Ende der Befristung ohne Kündigung aus. Hält der Arbeitnehmer eine Befristung für unwirksam, muss er dies innerhalb von drei Wochen nach dem vorgesehenen Vertragsende beim Arbeitsgericht durch Klage geltend machen (§ 17 TzBfG). Die Unzulässigkeit einer Befristung kann sich auch aus einem Tarifvertrag ergeben, wie überhaupt durch tarifliche Vereinbarungen vorgenannten Grundsätzen abgewichen werden kann. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Arbeitnehmer, die sich in einem befristeten Vertrag befinden, dieselben Rechte und Pflichten wie Arbeitnehmer haben, die unbefristet beschäftigt sind; es gilt § 4 Abs. 1 und 2 TzBfG.

1516

1517

1518

1519

9.4.6 Probearbeitsverhältnis Das Probearbeitsverhältnis verfolgt den Zweck, beiden Vertragsparteien die Möglichkeit zu geben, sich ein Bild den Vertragspartner zu machen (Personen und Arbeitsstätte). Es kann in unterschiedlicher Weise ausgestaltet sein: • Ein befristetes Probearbeitsverhältnis – auch hier sind Schriftform und Sachgrund erforderlich (§§ 14 Abs. 1 und 4 TzBfG) – endet nach Ablauf der Frist automatisch, falls nicht ein Arbeitsvertrag zwischen den Parteien abgeschlossen wird. Eine ordentliche Kündigung ist vor Fristablauf nur zulässig, wenn die Möglichkeit zur Kündigung zwischen den Parteien vereinbart ist (§  15 Abs. 3 TzBfG). • Üblich ist ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit vorgeschalteter Probezeit, die bis längstens sechs Monate vereinbart sein darf (§ 622 Abs. 3 BGB; in der Regel werden auch sechs Monate festgelegt, es sei denn Tarifverträge sehen kürzere Fristen vor). Zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Probezeit bedarf es keines neuen Vertragsschlusses. Eine Kündigung ist jederzeit mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen möglich (§ 622 Abs. 3 BGB). Da der Kündigungsschutz nach dem KSchG erst nach 6-monatiger Beschäftigung anwendbar wird (§ 1 Abs. 1 KSchG), kann sich der Arbeitgeber in der Probezeit unkompliziert von einem sich nicht bewährenden Arbeitnehmer lösen.

1520

606

9.5

9 Individualarbeitsrecht

Pflichten des Arbeitnehmers

9.5.1 Arbeitspflicht Nach dem Arbeitsvertrag ist der Arbeitnehmer vor allem zur Arbeitsleistung verpflichtet. Durch den Arbeitsvertrag verspricht er dem Arbeitgeber die Leistung von Diensten nach dessen Weisungen (§ 611a Abs. 1 S. 1 BGB). 1522 Der Arbeitnehmer hat seine Dienste „im Zweifel in Person zu leisten“ (§ 613 S. 1 BGB). Es besteht also eine persönliche Arbeitspflicht; eine „Ersatzperson“ darf vom Arbeitnehmer nicht einfach geschickt werden. Allerdings kann – da § 613 S. 1 BGB dispositiv ist  – durchaus vereinbart werden, dass die Arbeitsleistung auch durch einen Vertreter oder Gehilfen erbracht werden kann. 1521

Beispiel

Bei der Leistungserbringung durch ein Hausmeisterehepaar ist davon auszugehen, dass sich die Verpflichteten gegenseitig vertreten können. ◄ Eine gesetzliche Abweichung vom Prinzip der persönlichen Leistungserbringung enthält außerdem § 13 TzBfG, der die Möglichkeit der Arbeitsplatzteilung vorsieht (Abschn. 9.4.3). Gläubiger der Arbeitsleistung ist der Arbeitgeber. Der Anspruch auf Arbeits1523 leistung ist nicht übertragbar (§ 613 S. 2 BGB), der Arbeitgeber kann daher seinen Arbeitnehmer auch nicht ohne weiteres an einen anderen Arbeitgeber abgeben. Eine Ausnahme bildet das Leiharbeitsverhältnis, bei welchem der Arbeitnehmer schon mit dem Ziel eingestellt wird, ihn gewerbsmäßig an andere zu überlassen (sog. Arbeitnehmerüberlassung), wenngleich sich dabei die Gläubigerstellung nicht ändert, das Zeitarbeitsunternehmen auch weiter Gläubigerin der Arbeitsleistung bleibt (Abschn. 9.1.2.3). Beispiel

Eine Schreibkraft wird von einem Zeitarbeitsunternehmen eingestellt, um sie regelmäßig an verschiedene Anwaltskanzleien in der Region als Bürokraft auszuleihen (§ 1 Abs. 1 S. 1 AÜG). ◄ 1524

Der Inhalt der Arbeitspflicht, d. h. die geschuldete Leistung, ergibt sich in erster Linie aus dem Arbeitsvertrag. In ihm legen die Vertragsparteien üblicherweise Art und Umfang der Leistungspflicht, den Arbeitsort sowie die Arbeitszeit fest, wobei auch Gesetze, Tarifvereinbarungen oder Betriebsvereinbarungen diese Vereinbarungen mit beeinflussen, da sie beispielsweise Grenzen definieren, von denen zu Ungunsten des Arbeitnehmers nicht abgewichen werden kann. Neben den Arbeitsvertrag tritt das Weisungsrecht des Arbeitgebers (sog. Direktionsrecht, § 106 GewO), welches die Möglichkeit bietet, vertragliche Regelungen im Rahmen des Zulässigen noch weiter zu konkretisieren. Letzteres kann so weit reichen, dass der

9.5  Pflichten des Arbeitnehmers

607

Arbeitgeber an konkretisierende Weisungen, aber auch Zusagen, für die Zukunft gebunden ist (z. B. betriebliche Übung). Zu einer anderen Arbeitsleistung als die im Vertrag vereinbarten kann der Arbeitnehmer selbst durch Weisung nicht aufgefordert werden. Wer als Krankenschwester eingestellt wird, kann nicht angewiesen werden, Aufzüge im Krankenhaus instand zu setzen. Nur im Ausnahmefall kann der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine andere als die geschuldete Arbeitsleistung vom Arbeitnehmer abfordern, insbesondere wenn dies im Rahmen des unbedingt Notwendigen oder einem übergeordneten betrieblichen Interesse erforderlich wird (z.  B.  Löscharbeiten beim Brand). Aus dem Charakter des Arbeitsvertrages als Dienstvertrag (§§ 611 ff. BGB) er- 1525 gibt sich, dass im Zweifel eine Arbeitsleistung von nur mittlerer Art und Güte geschuldet ist (jedenfalls kein Erfolg). Dabei ist strittig, welcher Maßstab anzulegen ist. Die Rechtsprechung legt dabei eine subjektive Betrachtung zugrunde und stellt auf die Leistung ab, die der Arbeitnehmer bei angemessener Bündelung der individuellen Kräfte und Fähigkeiten überhaupt erbringen kann (das kann ggf. auch nur die Anwesenheit sein). An welchem Ort der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung zu erbringen hat, 1526 bestimmt sich in erster Linie nach dem Arbeitsvertrag. Erfüllungsort wird dabei regelmäßig die Betriebsstätte oder das Unternehmen des Arbeitgebers sein, wenngleich auch andere Erfüllungsorte vertraglich vereinbart, oder sich aus den Umständen ergeben können. Ist ein Arbeitnehmer etwa für den technischen Kundendienst eines Kaufhauses eingestellt, so hat er seine Pflichten beim Kunden zu erfüllen. Haben die Parteien keinen Leistungsort vereinbart, so bestimmt ihn der Arbeitgeber nach billigem Ermessen; dabei kann er auch einen durch Arbeitsvertrag festgelegten Arbeitsort durch Weisung weiter konkretisieren (§  106 S.  1 GewO; z. B. die Bäckereifachverkäuferin von einer örtlichen Filiale zu einer anderen entsenden). Zum Teil wird dies in Zweifel gezogen, sodass sich entsprechende Öffnungsklauseln bereits im Arbeitsvertrag anbieten. Bei der Veränderung des Leistungsortes richtet sich die Beantwortung der 1527 Frage, ob ein Arbeitnehmer seine Leistung an einem anderen Ort erbringen muss, im Wesentlichen danach, welche Tätigkeit der Arbeitnehmer erbringt und welcher Aufwand für den Arbeitnehmer mit der Veränderung verbunden ist. Während z. B. der Bäckereifachangestellte zwar die örtliche Filiale, aber nicht ohne weiteres eine Tätigkeit in einer anderen Stadt zumutbar ist, kann es dem Außendienstmitarbeiter durchaus zumutbar sein, da sein Tätigkeitsprofil verkaufsgebietsabhängig ist. Von der Konkretisierung des Leistungsorts ist die Folgepflicht des Arbeitnehmers bei Verlegung von Betriebsstätten zu unterscheiden, d. h. die Situation, dass eine Betriebsstätte oder ein Unternehmen komplett von einem geographischen Ort an einen anderen verlegt wird (z. B. von Chemnitz nach München). Dies kann der Arbeitnehmer nicht verhindern; er hat keine Befugnis die unternehmerische Standortentscheidung zu beeinflussen. Was bleibt ist die Frage, ob er folgen muss. Auch hier wird über Zumutbarkeitskriterien differenziert (Kosten, Verkehrsanbindung etc.): Befindet sich die Betriebsstätte noch in seinem Lebensumfeld

608

9 Individualarbeitsrecht

(i. d. R. 70 km–100 km), dann soll eine Folgepflicht bestehen, wobei der Arbeitgeber die Mehraufwendungen nach § 670 BGB zu tragen hat (z. B. erhöhte Fahrtkosten). Ist dem Arbeitnehmer der längere Anfahrtsweg allerdings nicht zumutbar, so besteht keine Folgeverpflichtung. Er darf dann seine Arbeitsbereitschaft weiterhin am alten Betriebsstandort anbieten, um seinen Lohnanspruch zu erhalten; der Arbeitgeber kommt nämlich, wenn er die Arbeitsleistung dort nicht annimmt, in Gläubigerverzug und ist deshalb weiterhin zur vollen Gegenleistung verpflichtet (§  326 Abs.  2 BGB). Die betriebswirtschaftlich notwendige Betriebsverlegung räumt dem Arbeitgeber allerdings regelmäßig ein Kündigungsrecht ein, wenn die Arbeitnehmer – trotz Kostenübernahme für Umzug etc. – den Nachzug ablehnen. 1528 Der zeitliche Umfang sowie die Lage der Arbeitszeit ergeben sich ebenfalls aus dem Arbeitsvertrag und, sofern nichts vereinbart ist, nach billigem Ermessen (§ 106 S. 1 GewO). Dabei kommt dem Arbeitgeber ein weiter Spielraum zu (z. B. feste Arbeitszeit, Gleitzeit, Schichtarbeit oder Zeitkonten). Obendrein können unterschiedliche Rechtsquellen die getroffenen Festlegungen bzw. das Direktionsrecht beeinflussen: • Arbeitszeitgesetz: Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) enthält Regelungen zur Festlegung von Arbeitszeit. Sie dienen dem Schutz des Arbeitnehmers, insbesondere dem Gesundheitsschutz, was u. a. durch die Festlungen von Ruhezeiten und -pausen zum Ausdruck kommt. Ferner enthält das ArbZG empfindliche Sanktionen (Straf- und Bußgeldkatalog), wenn gegen die zentralen Bestimmungen arbeitgeberseitig verstoßen wird. • Tarifvertrag: Tarifverträge können die gesetzlichen Regelungen modifizieren (§ 7 ArbZG). Sie legen u. a. den Beginn und das Ende der Arbeitszeit branchenspezifisch fest, verändern die Höchstgrenze der gesetzlich vorgegebenen Arbeitszeit und definieren die Anforderungen an Schichtzeiten, Bereitschaftsdienste oder Nachtarbeit. • Betriebsvereinbarung: Auf betrieblicher Ebene kommt den Betriebsvereinbarungen Bedeutung zu. Sie können die Dauer von Arbeitszeit nur dann regeln, wenn nicht tarifvertragliche Bestimmungen vorgehen (§ 77 Abs. 3 BetrVG). Betriebsvereinbarungen treffen häufig organisatorische Aussagen, z. B. wie Arbeitszeit erfasst wird (z.  B.  Stechuhr) oder in welcher Weise entgegen den gesetzlichen Bestimmungen Ankleide- und Wegezeiten eingerechnet werden und wann Unterbrechungen der Arbeit aus technisch-organisatorischen Gründen stattfinden (sog. Betriebspausen, z. B. Wartungspausen an Maschinen). 1529

Die Arbeitszeit umfasst den Zeitraum vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen (§ 2 Abs. 1 ArbZG). Sie definiert damit die Zeitspanne, während der der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen muss und für die er eine Vergütung erhält. Zur Arbeitszeit gehören nicht: die Wegezeiten (An- und Abfahrt), die Ruhezeit (§ 5 Abs. 1 ArbzG, als die Zeitspanne zwischen Ende der täglichen Arbeitszeit und Wiederaufnahme derselben am nächsten Tag) sowie Ruhepausen. Die gesetzlich erlaubte Arbeitszeit ergibt sich aus §  3 ArbZG. Danach darf die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden

9.5  Pflichten des Arbeitnehmers

609

nicht überschreiten (§  3 S.  1 ArbZG); der Regelfall ist danach ein 8-Stunden-­ Werktag (wozu grds. auch der Samstag gehört), was in Summe eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden bedeutet. Zulässig ist eine Verlängerung bis auf zehn Stunden je Werktag, sofern innerhalb eines Ausgleichszeitraumes von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen der Durchschnitt von acht Stunden werktäglich nicht überschritten wird (§ 3 S. 2 ArbZG). Abweichende (günstigere) Regelungen können durch einen Tarifvertrag zugelassen werden (§ 7 ArbZG), ferner lässt das ArbZG selbst Ausnahmen zu: Abweichung von der gesetzlich normierten Sonn- und Feiertagsruhe (§ 13 ArbZG) sowie Notfälle (§§ 14, 15 ArbZG); ebenso gibt es Sonderregelungen für Jugendliche sowie im Mutterschutz (§§  2, 8–13 JArbSchG, 6, 7 MuSchG). Die Arbeitszeit kann – wie erwähnt – durch kollektivvertraglichen Regelungen (Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung) sowie über den Arbeitsvertrag eine Anpassung erfahren. Sieht der Tarifvertrag eine Arbeitszeit von nur sieben Stunden werktäglich vor, dann ist diese Arbeitszeit maßgeblich; Verkürzungen der Arbeitszeit bzw. Verlängerung von Ruhezeiten sind jederzeit möglich, Veränderungen zu Ungunsten der Arbeitnehmer jedoch nicht (Günstigkeitsprinzip). Sofern Absprachen zur Arbeitszeit die gesetzlich zulässigen Höchstgrenzen überschreiten, sind sie nichtig; an deren Stelle treten sodann die gesetzlichen bzw. tarifvertraglichen Regelungen. Arbeitet der Arbeitnehmer vorrübergehend acht Stunden, obschon der Tarifver- 1530 trag/Arbeitsvertrag eine Arbeitszeit von sieben Stunden normiert, er also vorrübergehend die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit überschreitet, so handelt es sich um Überstunden bzw. Überarbeit, für die es häufig in den Tarif- oder Arbeitsverträgen besondere Regelungen gibt. Ist allerdings weder im Tarif- noch im Arbeitsvertrag eine Regelung für die Vergütung der Überarbeit bestimmt, so besteht dennoch ein Vergütungsanspruch hinsichtlich der geleisteten Überstunden nach §  612 Abs.  2 BGB oder § 17 Abs. 7 BBiG. Will der Arbeitnehmer oder Auszubildende die Überstundenvergütung gerichtlich geltend machen, ist allerdings eine genaue Auflistung der Überstunden erforderlich. Ferner muss eindeutig vorgetragen werden, dass die Überstunden vom Arbeitgeber schriftlich angeordnet worden sind oder die Überstunden zur Erledigung der ihm obliegenden Arbeit notwendig waren und vom Arbeitgeber gebilligt und geduldet worden sind. Jugendliche dürfen gem. §  8 JArbSchG grundsätzlich nicht zur Überarbeit verpflichtet werden. Beispiel

Eine Angestellte arbeitet nach ihrem Arbeitsvertrag 30 Stunden pro Woche und zwar von Montag bis Freitag jeweils sechs Stunden. Da eine Messe durchgeführt wird, arbeitet sie ausnahmsweise an einem Samstag nochmals vier Stunden. Sie hat damit ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit um vier Stunden überschritten, d. h. sie hat vier Überstunden gemacht, die ihr auch zu vergüten sind. Sieht ein Tarifvertrag für vollzeitig beschäftigte Arbeitnehmer eine Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden vor und wird diese wegen Sonderaufgaben überschritten, spricht der Tarifvertrag zumeist von „Über- bzw. Mehrarbeit“, für die es in der Regel einen tariflich festgelegten Lohnzuschlag gibt. ◄

610

1531

9 Individualarbeitsrecht

Im Gegensatz zur Überarbeit steht die Kurzarbeit. Kurzarbeit ist die vorübergehende Herabsetzung der vereinbarten Arbeitszeit. Die Anordnung von Kurzarbeit bedarf einer Rechtsgrundlage und sie ist grundsätzlich auf zwölf Monate begrenzt (§§ 96 Abs. 1 Nr. 2, 104 Abs. 1 S. 1 SGB III). Eine Anordnung von Kurzarbeit kraft Weisung (§ 106 GewO) ist unzulässig. Beispiel

Würde ein Arbeitgeber, der einen Auftragsmangel hat, Kurzarbeit einseitig anordnen, so führt dies nicht etwa zu einer berechtigten Lohnkürzung. Der Arbeitgeber gerät vielmehr, wenn er die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers auf volle Arbeitsstunden nicht annimmt, in Annahmeverzug und ist daher auch zur vollen Lohnleistung verpflichtet. Würde also der Arbeitgeber Kurzarbeit ohne rechtliche Grundlage nur kraft Weisung anordnen, hätte er das volle unternehmerische Risiko zu tragen. ◄ Es ist jedoch möglich, sog. Kurzarbeitsklauseln kollektivrechtlich zu vereinbaren. Dies geschieht regelmäßig in den Tarifverträgen. Hier werden dann einzelne Tatbestände statuiert, bei deren Vorliegen Kurzarbeit eingeführt werden darf. In diesem Fall sind dann die Pflichten aus den Arbeitsverträgen für die Dauer der Kurzarbeitsanordnung suspendiert; es besteht auch nur noch der geminderte Lohnanspruch (vgl. §§ 95 ff. SGB III). Kurzarbeit kann auch durch eine Betriebsvereinbarung festgelegt werden (§ 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Kommt – trotz Bedarf – keine Einigung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zustande, entscheidet – wie auch in anderen Fällen – die Einigungsstelle (§ 87 Abs. 2 BetrVG). Eine Betriebsvereinbarung hat unmittelbare und zwingende Wirkung für die Arbeitsverhältnisse aller Betriebsangehörigen (§ 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG).

9.5.2 Nebenpflichten des Arbeitnehmers Jedem Vertragsverhältnis – und auch dem Arbeitsverhältnis – sind die aus §§ 241 Abs. 2, 242 BGB herzuleitenden Nebenpflichten immanent; wie in jedem Schuldverhältnis können daher auch den Arbeitnehmer solche Nebenpflichten treffen, wie etwa die Förderpflicht, die Treuepflicht oder sonstige Unterlassungspflichten. 1533 Der Arbeitnehmer hat nicht nur „schlicht“ nach konkreter Weisung zu handeln und darf alles andere, was den Arbeitgeber schädigen könnte, übersehen, sondern er muss vielmehr die mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängenden berechtigten Interessen des Arbeitgebers nach besten Kräften wahrnehmen (sog. Förderpflicht). In diesem Sinne hat er beispielsweise die in seinem Arbeitsbereich drohenden Schäden dem Arbeitgeber anzuzeigen (z. B. Tropfen einer Maschine; seltsame Gerüche; Untauglichkeit des verwendeten Materials). Diese Förderpflicht darf natürlich auch nicht überstrapaziert werden. Hier ist in erster Linie auf der Grundlage der im Arbeitsvertrag umschriebenen Aufgaben zu 1532

9.5  Pflichten des Arbeitnehmers

611

unterscheiden. Ein Ingenieur ist z. B. eher zur Anzeige von möglicherweise drohenden Schäden an Maschinen verpflichtet, als ein im Akkord arbeitender Bandarbeiter. Der Arbeitnehmer ist ferner dazu verpflichtet, alles zu unterlassen, was den be- 1534 rechtigten Interessen des Arbeitgebers im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis zuwiderlaufen kann (sog. Interessenwahrungspflicht). Der Arbeitnehmer darf insbesondere nicht den Betriebsfrieden stören, Betriebsgeheimnisse offenbaren oder kreditschädigende Äußerungen von sich geben. Zum Teil sind solche Verstöße auch straf- und ordnungsrechtlich sanktioniert. Besondere Loyalitätspflichten gegenüber dem Arbeitgeber können auch vertraglich vereinbart werden. Das gilt z.  B. für Bedienstete von Religionsgemeinschaften, die darauf zu achten haben, dass sie auch außerhalb ihrer Arbeitstätigkeit glaubwürdig diese Gemeinschaft vertreten. Einzelne Unterlassungspflichten, die es ebenfalls als Nebenpflichten besonders 1535 zu erwähnen gilt, sind: • Verschwiegenheitspflicht: Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu wahren. Vertragsrechtliche Grundlage dieser Verpflichtung ist § 242 BGB. Überdies gibt es zahlreiche spezialgesetzliche Geheimhaltungspflichten (GeschGehG; § 24 Abs. 2 ArbnErfG; § 79 BetrVG). • Verbot der Annahme von Schmiergeldern: Dem Arbeitnehmer ist es kraft arbeitsvertraglicher Nebenpflicht untersagt, Geld oder geldwerte Leistungen zu fordern, sich versprechen zu lassen oder anzunehmen, wenn der Geber hierfür eine geschäftliche Bevorzugung erwartet. Ein Arbeitnehmer macht sich sogar strafbar, wenn er sich z. B. als Einkäufer von den Lieferanten dafür Geld geben lässt, dass er überhaupt mit ihnen Verträge für seinen Arbeitgeber abschließt (§ 299 Abs. 1 StGB). • Wettbewerbsverbot: Im Gesetz findet sich eine ausdrückliche Regelung über die Verpflichtung zur Unterlassung von Wettbewerb nur in §§ 60, 61 HGB für die kaufmännischen Angestellten. Dieser kodifizierte Grundgedanke ist nach der Rechtsprechung des BAG auf alle Arten von Arbeitsverhältnissen übertragbar.

9.5.3 Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung Verstößt ein Arbeitnehmer gegen eine der zuvor genannten Pflichten, so muss er die üblichen schuldrechtlichen Sanktionen bei Pflichtverletzung von Haupt- und Nebenleistungspflichten befürchten, wenngleich das Arbeitsrecht einige Besonderheiten vorhält.

1536

9.5.3.1 Schadensersatzansprüche Kommt der Arbeitnehmer seiner Arbeitspflicht nicht nach, d. h. er erscheint nicht 1537 zur Arbeit oder geht frühzeitig (Arbeitsverweigerung), liegt, da die Arbeitsleistung in der Regel auch nicht nachgeholt werden kann, Unmöglichkeit i. S. d. § 275 BGB vor. Damit entfällt die Leistungspflicht und an deren Stelle treten Sekundäransprüche. Hat der Arbeitnehmer die Unmöglichkeit zu vertreten, so kann der

612

9 Individualarbeitsrecht

Arbeitgeber nach §§ 280 Abs. 1 und 3, 283 BGB seinen daraus entstehenden Schaden bzw. Mehraufwand ersetzt verlangen (z. B. Kosten für die Ersatzkraft). 1538 Erbringt der Arbeitnehmer seine Leistung schlecht, d. h. er arbeitet weniger als nach dem Arbeitsvertrag vereinbart (z. B. erreicht die Stückzahlen nicht), beachtet die berechtigten Weisungen des Arbeitgebers nicht oder kommt alkoholisiert zur Arbeit, handelt es sich um eine sog. Schlechtleistung, die den Arbeitnehmer – wie jeden anderen Schuldner auch – nach den allgemeinen Vorschriften schadensersatzpflichtig werden lässt (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB). Voraussetzung ist, dass er schuldhaft gehandelt hat. Als Verschulden kommen Vorsatz und Fahrlässigkeit in Betracht (§ 276 Abs. 1 S. 1 BGB). Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2 BGB). Dabei ist entscheidend, was von einem durchschnittlichen Arbeitnehmer bei entsprechender Tätigkeit an Achtsamkeit verlangt werden kann.

9.5.3.2 Haftungsbeschränkung (privilegierte Haftung) Nach dem zuvor Dargestellten würde der Arbeitnehmer für jeden Fehler, den er auch nur leicht fahrlässig begeht, im vollen Umfang haften. Übersieht er beispielsweise einen Maschinenschaden und kommt es anschließend zum Stillstand der gesamten Produktion, wäre der Arbeitnehmer für den gesamten aus seiner Pflichtverletzung folgenden Schaden verantwortlich. Dieser strenge Haftungsmaßstab, der sich aus § 276 BGB ergibt (Haftung für jede, auch für leichteste Fahrlässigkeit), wird im Arbeitsrecht als unbillig angesehen. 1540 Die überkommene Rechtsprechung hat daher die Haftung für Fälle der sog. gefahr- oder schadensgeneigten Arbeit eingeschränkt, wobei sie für diese Haftungsbeschränkung Tätigkeiten voraussetzte, die als besonders risikoreich bzw. gefahrträchtig galten (z. B. Tätigkeit eines Kraftfahrers), weil dort schon kleine Fehler zu großen Schäden führen konnten. Das Merkmal der Gefahrgeneigtheit überzeugte allerdings nicht, da nicht immer klar war, wann sich aus einer Tätigkeit eine „gesteigerte Gefahr“ ableiten ließ, weshalb man diese Rechtsprechung aufgab. 1541 Heute wird nicht mehr die Gefahrgeneigtheit der Arbeit als entscheidend angesehen. Für eine billige Haftungsbegrenzung soll es nunmehr ausreichend sein, dass der Arbeitnehmer den Schaden durch eine betriebliche Tätigkeit verursacht hat. Dabei wird die „Gefahrgeneigtheit der Tätigkeit“ nicht völlig außer Acht gelassen, sondern findet im Rahmen der Zurechnung von Schadensrisiken auch weiter Berücksichtigung. Im Vordergrund der heutigen Rechtsprechung steht die Erkenntnis, dass nicht jedes Risiko beim Arbeitnehmer liegen kann, auch wenn er durch seine Tätigkeit den Schaden herbeiführt hat, sondern dass auch gewisse Schadensrisiken beim Arbeitgeber verbleiben müssen. Dem Arbeitgeber wird daher zunächst die von ihm zu tragende Sach- und Betriebsgefahr zugerechnet; der Arbeitnehmer ist insoweit von einer Haftung befreit. Je weiter die Verantwortlichkeit des Arbeitnehmers auf diese vorhandene Sach- und Betriebsgefahr einwirkt, desto größer wird der Anteil, den der Arbeitnehmer am Gesamtschaden zu tragen hat (Rechtsgedanke des § 254 BGB). Diesem Gedanken folgend muss daher im Falle einer Schadensverursachung durch den Arbeitnehmer eine Abwägung aller Umstände im Einzelfall vorgenommen 1539

9.5  Pflichten des Arbeitnehmers

613

werden, die zu einer vollen Haftung des Arbeitnehmers bis hin zu seiner vollen Entlastung führen kann, sog. „innerbetrieblicher Schadensausgleich“. Zur Konkretisierung dieses Abwägungsprozesses und unabhängig von der konkret ausgeübten Tätigkeit stellt die Rechtsprechung folgende Grundsätze auf: • Der vorsätzliche Pflichtverstoß seitens des Arbeitnehmers  – wobei sich der Vorsatz auf Handlung und Schaden beziehen muss – führt zur vollen Haftung des Arbeitnehmers; er hat den Schaden alleine zu tragen. • Auch bei grober Fahrlässigkeit kommt regelmäßig eine Haftung des Arbeitnehmers in Betracht, wenngleich die Rechtsprechung hier bereits durch Haftungsobergrenzen von drei oder vier Bruttomonatsgehältern die Schadensersatzpflicht des Arbeitnehmers deckelt. Begründet wird dies insbesondere mit der ungerechten Risikoverteilung, wenn andernfalls die Gefahr bestünde, den Arbeitnehmer wirtschaftlich zu ruinieren. • Bei normaler (mittlerer) Fahrlässigkeit (§  276 BGB) ist der Schaden unter Berücksichtigung aller Umstände zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzuteilen. Ob und in welchem Umfang der Arbeitnehmer an den Schadensfolgen zu beteiligen ist, richtet sich im Rahmen der Abwägung der Gesamtumstände – insbesondere von Schadensanlass und Schadensfolgen  – nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten (siehe nachfolgend). • Bei leichtester Fahrlässigkeit soll alleine der Arbeitgeber den Schaden tragen. Zu den Umständen, die für die Bemessung der Schadensteilung bei normaler (mittlerer) Fahrlässigkeit ausschlaggebend sind, gehören nach der Rechtsprechung des BAG u. a.: • Gefahrgeneigtheit der Arbeit: Sie mildert den Haftungsanteil des Arbeitnehmers, da die Art der zu verrichtenden Tätigkeiten die Wahrscheinlichkeit von gelegentlichen Fehlern mit sich bringt (z. B. Kran- oder Baggerführer, Berufskraftfahrer). Je höher das Gefahrenpotential der Arbeitstätigkeit ist, umso mehr ist der Haftungsanteil des Arbeitnehmers zu mindern. • Organisationsverantwortung des Arbeitgebers bezüglich der Betriebsabläufe: Ist der Schaden auf Fehler des Arbeitgebers zurückzuführen, weil er beispielsweise kein einwandfreies Arbeitsmaterial bereitgestellt hat oder offensichtlich an notwendigen Arbeitskräften gespart wurde, ist die Haftungsquote zugunsten des Arbeitsnehmers zu mindern. • Durch eine Versicherung abdeckbares Risiko: Der Arbeitgeber ist im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet, notwendige Versicherungen abzuschließen (z.  B.  Berufs- oder Betriebshaftpflicht), sogar zum Abschluss einer Kfz-­ Vollkaskoversicherung, wenn die Arbeitnehmer mit ihren PKWs ihre Arbeitstätigkeit verrichten. Wird sorglos keine Versicherung abgeschlossen und fehlt sie daher im Schadensfall, kann dies zu Ungunsten des Arbeitgebers berücksichtigt werden.

614

9 Individualarbeitsrecht

• Höhe des Schadens: Bei hohen Schäden beschränkt die Rechtsprechung häufig die Haftung zu Gunsten des Arbeitnehmers. • Vergütungshöhe: Stehen Schadensrisiko des Arbeitgebers (hoher Schaden an hochwertigen technischen Maschinen) und der Verdienst des Arbeitnehmers in einem Missverhältnis, so ist es für die Haftungsquote entscheidend, ob das besondere Schadensrisiko durch eine zusätzliche Vergütung honoriert wird (z. B. Risikoprämie). Fehlt es an einer solchen zusätzlichen Vergütung und übersteigt der zu ersetzende Schaden eine Größenordnung, die den Arbeitnehmer in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet, führt dies ebenfalls zu einer Einschränkung seiner Haftung. • Persönliche Verhältnisse des Arbeitnehmers: Schadensmindernd zu berücksichtigen sind ferner z. B. die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Familienverhältnisse und das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers.

Beispiel

Der als Bodenpersonal auf dem Flughafen beschäftigte A kommt im Winter stark alkoholisiert zur Arbeit. Bei Enteisungsarbeiten am Flugzeug rammt er dieses mit seinem Dienstfahrzeug. Der verursachte Schaden beläuft sich auf 400.000 EUR. Hier kommt es zum innerbetrieblichen Schadensausgleich, wobei der zugrundeliegende Alkoholspiegel darüber entscheiden wird, ob der A grob fahrlässig oder nur fahrlässig gehandelt hat und in welcher Höhe er am Gesamtschaden zu beteiligen ist. Das Beispiel zeigt, dass es trotz der vorhandenen Kasuistik auch weiterhin bei Rechtsunsicherheiten bleibt, insbesondere bei einer Abgrenzung von mittlerer und grober Fahrlässigkeit, die angesichts einer fehlenden gesetzgeberischen Grundentscheidung wohl auch nicht vermieden werden können. ◄ Die Grundsätze zum innerbetrieblichen Schadensausgleich gelten nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für arbeitnehmerähnliche Personen, sofern sie über die wirtschaftliche Abhängigkeit in den Betrieb des „Arbeitgebers“ eingegliedert sind (Abschn. 9.1.2.3). Leitende Angestellte kommen dagegen nicht in den Genuss der Haftungsbeschränkung – sie stehen im Lager der Arbeitgeber. Im Rahmen der innerbetrieblichen Haftung für Vermögensschäden ist ferner auf 1543 die sog. Mankoabrede oder Fehlgeldentschädigung hinzuweisen. Hierbei verpflichtet sich der Arbeitnehmer von vornherein zur vollumfänglichen Haftung für Fehlbeträge bzw. -bestände, wofür er im Gegenzug einen Zuschlag auf die laufende Vergütung erhält, das sog. Mankogeld. Die Rechtsprechung hält solche Mankoabreden nur unter folgenden Voraussetzungen für zulässig: 1542

• Die Mankoabrede muss hinsichtlich des Umfangs der Haftung klar und eindeutig gefasst werden.

9.5  Pflichten des Arbeitnehmers

615

• Der Arbeitnehmer muss für das zusätzlich übernommene Haftungsrisiko einen angemessenen wirtschaftlichen Ausgleich erhalten, die sog. Fehlgeldentschädigung bzw. Mankogeld. • Der Arbeitnehmer hat die alleinige Verfügungsgewalt und den alleinigen Zugang zu den ihm anvertrauten Geld- oder Warenbeständen.

Beispiel

Der A ist zu einem Bruttogehalt von 1800 EUR im Spielcasino des B beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Gäste mit Münzen für den Betrieb der Spielautomaten zu versorgen, die erspielten Jetons einzuwechseln und sonstige Tätigkeiten im Rahmen der Kassenverwaltung zu verrichten. Im Arbeitsvertrag ist vereinbart, dass A im Monat zusätzlich 150,-- EUR als „Mankovergütung“ erhält, wobei er sich im Gegenzug zum vollen Ersatz der monatlich auftretenden Fehlbeträge verpflichtet. Die Zulässigkeit der Mankoabrede ist davon abhängig, wie hoch die durchschnittlichen Fehlbeträge sind. Sofern sich die Fehlbeträge in einem Rahmen von ca. 100–300 EUR monatlich bewegen, wird man die Zulässigkeit der Absprache annehmen dürfen. Belaufen sich die Fehlbeträge hingegen im Schnitt auf ca. 1000 EUR monatlich, würde der A keinen angemessenen Ausgleich erhalten, weshalb die Mankoabrede unzulässig wäre. ◄ Selbst eine zulässige Mankoabrede führt nun nicht dazu, dass die vorgenannten Grundsätze des innerbetrieblichen Haftungsausgleichs außer Kraft gesetzt werden, sondern die Mankoabrede kann allenfalls als ein Kriterium gelten, das – ebenso wie eine Risikoprämie – in die vorzunehmende Gesamtabwägung bei der Entscheidung über die Schadensteilung mit einzustellen ist.

9.5.3.3 Betriebsbußen bei Verstößen gegen die betriebliche Ordnung In verschiedenen Betrieben, zumeist Großbetrieben, werden Verstöße gegen die be- 1544 triebliche Ordnung durch sog. Betriebsbußen geahndet. Diese Bußen werden von den Betriebsgerichten ausgesprochen, die paritätisch von der Arbeitgeberseite und vom Betriebsrat besetzt sind. Diese Gerichte können Verwarnungen aussprechen, Verweise erteilen, Geldbußen auferlegen u. ä. Eine gesetzliche Regelung für diese Betriebsgerichte bzw. die Betriebsbußen fehlt allerdings. Dennoch bejaht die herrschende Lehre in der Literatur die Zulässigkeit dieser Einrichtungen als Ausfluss der autonomen Gewalt der Betriebspartner. Die Arbeitnehmer sind regelmäßig mit diesen Betriebsgerichten einverstanden, weil dadurch häufig Entlassungen oder sogar Strafverfahren vermieden werden können. Die Arbeitnehmer müssen allerdings den „Beschluss“ eines solchen Betriebsgerichts nur dann gegen sich gelten lassen, wenn auch eine Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer s­ olchen Institution besteht. Eine solche Rechtsgrundlage kann durch den Arbeitsvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder durch den Tarifvertrag geschaffen sein.

616

1545

9 Individualarbeitsrecht

9.5.3.4 Kündigung Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers können auch zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen; es kommt eine fristgemäße oder auch eine fristlose Kündigung des Arbeitgebers aus wichtigem Grund in Betracht (Abschn. 9.7.2).

9.6

Pflichten des Arbeitgebers

9.6.1 Vergütungspflicht 1546

1547

Die Verpflichtung des Arbeitgebers besteht darin, die vereinbarte Vergütung zu zahlen (§ 611a Abs. 2 BGB). Dabei bestimmt sich die Höhe des geschuldeten Lohns in der Regel nach der arbeitsvertraglichen Vereinbarung. Allerdings können auch andere Rechtsquellen auf die Höhe der Vergütung Einfluss nehmen, wie z. B. ein bestehender Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder die betriebliche Übung. Sind keine Absprachen oder Regelungen vorhanden, bestimmt § 612 Abs. 2 BGB, dass die taxmäßige oder übliche Vergütung als vereinbart gilt.

9.6.1.1 Vergütungsformen Regelmäßig wird nach dem Arbeitsvertrag die Vergütung in Geld geschuldet sein (sog. Geldlohn). Geldlohn ist jede in Geld ausgedrückte Leistung (z. B. Barzahlung, Scheck, Banküberweisung). Für gewerbliche Arbeitgeber ergibt sich eine Verpflichtung zur Leistung von Geldlohn aus §  107 Abs.  1 GewO.  Weitere Sonderformen bzw. Bemessungsformen des Geldlohns sind: • Zeitlohn: Das Entgelt richtet sich nach der geschuldeten Arbeitsleistung nach Stunden, Wochen oder Monaten ohne Rücksicht auf die Produktivität (Menge und Qualität der Arbeitsleistung). • Leistungslohn: Beim Leistungslohn wird die Lohnhöhe durch die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers, insbesondere durch die Schnelligkeit und Qualität der Arbeit, beeinflusst. Beispiel hierfür ist der sog. Akkordlohn, der für einzelne Personen oder für Personengruppen (z. B. Produktionsteams) ausgerufen werden kann. Allerdings ist er nicht zulässig bei Schwangeren (§  11 Abs.  6 Nr.  1 MuSchG) und Jugendlichen (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 JArbSchG). • Prämie: Vielfach erhalten die Arbeitnehmer zusätzlich zu einem festen Grundgehalt eine an bestimmten Kennzahlen ausgerichtete Vergütung, z. B. Einspar- oder Nachhaltigkeitsprämien, für materialschonenden oder energieeffizienten Einsatz von Betriebsstoffen oder mengenbezogene Prämien, die dem Akkordlohn ähnlich sind. • Provision: Die Provision stellt eine erfolgsbezogene prozentuale Vergütung gemessen an einem Leistungserfolg oder für die Vermittlung von Geschäftstätigkeit dar. Sie ist daher abhängig vom Wert der abgeschlossenen oder vermittelten Geschäfte.

9.6  Pflichten des Arbeitgebers

617

• Tantieme: Die Tantieme wird vor allem leitenden Angestellten gewährt. Als Beteiligung am Geschäftsgewinn werden sie zusätzlich zum Grundgehalt gewährt und nehmen eine wichtige Anreizfunktion wahr. • Zulagen/Sondervergütungen: Dem Arbeitgeber ist es unbenommen, weitere Sondervergütungen zur Verwirklichung verschiedener Zwecke vorzunehmen. Sie finden ihren Grund entweder in den allgemeinen Lebensverhältnissen (z. B. Teuerungszulagen), in den besonderen Fähigkeiten des Arbeitnehmers (z. B. Leistungszulagen), in der Gestalt des Arbeitsplatzes (z. B. Erschwerniszulagen) oder in sozialen Erwägungen (z. B. Kinderzulagen). Unter den Begriff der Sondervergütung (Sonderzahlung, Sonderzuwendung) fallen alle Leistungen des Arbeitgebers, die nicht regelmäßig mit dem Arbeitsentgelt ausgezahlt werden, sondern aus bestimmten Anlässen oder zu bestimmten Terminen gewährt werden. Die Rechtsprechung unterscheidet Jahressonderzahlungen mit reinem Geldcharakter (z.  B. 13. Monatsgehalt, Weihnachtsgratifikation, Urlaubsgeld) sowie solche zur Belohnung vergangener oder künftiger Betriebstreue (z.  B.  Gratifikation). Gerade bei Sondervergütungen ist die betriebliche Übung zu berücksichtigen, d. h. aus einer wiederholten Auszahlung erwächst dem Arbeitnehmer ein Anspruch darauf. Naturallohn ist im Gegensatz zum Geldlohn die Auszahlung eines Teils der an- 1548 sonsten in Geld geschuldeten Arbeitsvergütung in Sachleistungen. Er kommt nur noch selten vor. Es gibt allerdings Sonderformen des Naturallohnes, die heute noch relevant sind. Dazu zählen etwa die Stellung eines „Dienstwagens“, der auch privat genutzt werden kann oder „Deputate“ aus der Produktion des Arbeitgebers (z. B. im Brauereigewerbe); in anderen Branchen sind Personalrabatte üblich.

9.6.1.2 Gesetzlicher Mindestlohn Der gesetzliche Mindestlohn ist im Mindestlohngesetz (MiLoG) geregelt. Der 1549 Mindestlohn definiert einen gesetzlichen Anspruch aller Arbeitnehmer (§§ 1 Abs. 1, 22 Abs.  1 MiLoG), der eigenständig und nicht tarif-dispositiv eine zwingende Untergrenze für sämtliche Vergütungsabreden bildet und daher neben den (ggf. darunter liegenden) arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt. Er ist auf Arbeitszeitstunden ausgelegt (pro Std. x-EUR Mindestlohn) und variiert in der Höhe entsprechend den Festlegungen des Gesetzgebers. Er muss daher für alle Stunden, während derer der Arbeitnehmer die nach § 611a Abs. 1 BGB geschuldete Arbeit erbringt, geleistet werden. Seine Fälligkeit richtet sich nach den arbeits- bzw. kollektivvertraglichen Bestimmungen, hilfsweise nach §  614 BGB.  Bestehen branchenspezifische Mindestlohnbestimmungen z. B. in Tarifbestimmungen, sind diese – sofern günstiger – vorrangig (z. B. § 3a AÜG, §§ 4, 7a AEntG). Sofern der Arbeitnehmer seinen Mindestlohn einklagt, gilt zu seinen Gunsten eine ­Beweislastumkehr; der Arbeitnehmer muss lediglich die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden schlüssig darlegen und im Bestreitensfalle den Nachweis führen. Die Vorschriften des MiLoG sind unabdingbar (§  3 S.  1 MiLoG). Die Nicht-

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9 Individualarbeitsrecht

gewährung des gesetzlichen Mindestlohns kann mit einem Bußgeld von bis zu 500.000 EUR geahndet werden (§§ 20, 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG).

9.6.1.3 Auszahlung der Vergütung Der Arbeitgeber ist grds. verpflichtet, den Nettolohn zu zahlen. Zur Errechnung werden vom Bruttolohn die Lohnsteuer, die Kirchensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge abgezogen. Der Arbeitgeber führt die Lohn- und die Kirchensteuer, die vom Arbeitnehmer zu tragen sind, an das Finanzamt ab. Die Sozialversicherungsbeiträge (Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung) sind vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer je zur Hälfte aufzubringen. Die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung hat der Arbeitgeber allein zu tragen. 1551 § 614 BGB bestimmt, dass die Vergütung erst nach Leistung der Dienste zu entrichten ist. Der Arbeitnehmer ist also vorleistungspflichtig. Abweichende Vereinbarungen sind jedoch möglich und werden regelmäßig im Arbeitsvertrag, im Tarifvertrag oder in Betriebsvereinbarungen getroffen. Der Zahlungsort ist nach § 269 BGB der Betriebssitz („Geldschulden sind im Arbeitsrecht Holschulden“); in der Praxis hat sich jedoch die bargeldlose Überweisung durchgesetzt. Ist es dem Arbeitnehmer nicht möglich oder nicht zumutbar, den Lohn abzuholen, wandelt sich die Holschuld eines Arbeitnehmers jedenfalls in eine Schickschuld des Arbeitgebers und entspricht dann auch den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen (Abschn. 1.6.5.1). 1552 Begleitend zur Vergütung muss dem Arbeitnehmer nach § 108 GewO eine Abrechnung des Arbeitsentgelts mindestens in Textform erteilt werden. 1553 Der Anspruch auf Zahlung der Vergütung verjährt drei Jahren nach dem Ende des Jahres, in dem er entstanden ist (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB). Für die Geltendmachung des Lohnanspruchs können allerdings einzelvertraglich oder tarifvertraglich Ausschlussfristen vereinbart sein, die häufig erheblich kürzer als die gesetzlichen Verjährungsfristen sind. 1550

9.6.1.4 Vergütungspflicht trotz Nichtleistung der Arbeit („Lohn ohne Arbeit“) 1554 Der Arbeitnehmer kann nach § 611a Abs. 2 BGB eine Vergütung verlangen, wenn er die geschuldete Leistung auch erbracht hat. Erbringt er seine Arbeitsleistung nicht, ist seine Leistungspflicht unmöglich geworden (§§ 613, 275 Abs. 1 BGB). Ob der Arbeitnehmer seinen Vergütungsanspruch behält, wenn er seine Leistung nicht erbringt, hängt davon ab, wer die Nichtleistung zu vertreten hat, d. h. wem das Risiko der Nichterbringen der Arbeitsleistung zugerechnet wird. Hat der Arbeitnehmer die Nichtleistung zu vertreten (z.  B.  Arbeitsverweigerung), wird der Arbeitgeber von seiner Vergütungspflicht frei (§  326 Abs.  1 BGB). Aus dieser allgemeinen schuldrechtlichen Regelung wird gefolgert, dass auch im Arbeitsrecht der allgemeine Grundsatz „ohne Arbeit kein Geld“ gilt. 1555 Allerdings bestehen aufgrund der Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers Ausnahmen bzw. arbeitsrechtliche Besonderheiten, wonach der Arbeitnehmer seine Vergütungsansprüche trotz Nichtleistung behält („Lohn ohne Arbeit“):

9.6  Pflichten des Arbeitgebers

619

• • • •

Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist vom Arbeitgeber zu vertreten im Annahmeverzug des Arbeitgebers (§ 615 Abs. 1 BGB) beiderseitige Unmöglichkeit (§ 615 S. 3 BGB i. V. m. der sog. Betriebsrisikolehre) persönliche Verhinderung des Arbeitnehmers nur für einen kurzen Zeitraum (§ 616 BGB) • Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§§ 3, 3a EntgFG) • Mutterschutz (MuSchG), Erziehungszeiten (BEEG) und Urlaubsentgelt (§ 11 BUrlG) Hat der Arbeitgeber die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung zu vertreten, behält der Arbeitnehmer den Lohnanspruch nach § 326 Abs. 2 S. 1 BGB. Er muss sich jedoch dasjenige anrechnen lassen, was er infolge der Befreiung von der Leistung erspart, durch anderweitige Verwendung erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt (§ 326 Abs. 2 S. 2 BGB). §  615 S.  1 BGB bestimmt, dass der Arbeitnehmer im Annahmeverzugs (§§ 293 ff. BGB) des Arbeitgebers – und zwar unabhängig von der Frage des Verschuldens – seinen Entgeltanspruch behält (sog. „Annahmeverzugslohn“). Praktische Relevanz hat der Annahmeverzug insbesondere in den Fällen, in denen der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis gekündigt hat. Erklärt das Arbeitsgericht die Kündigung für unwirksam, muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Lohn für den Zeitraum zwischen Kündigung und klärendem Urteil nach § 615 BGB nachzahlen. Allerdings muss sich der Arbeitnehmer anrechnen lassen, was er infolge unterbliebener Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Dienste erworben oder zu erwerben böswillig unterlassen hat (§ 615 S. 2 BGB). Eine weitere Ausnahme zum Grundsatz des § 326 Abs. 1 S. 1 BGB ist bei einer beiderseitig unverschuldeten Betriebsstörung anerkannt. Die Arbeit kann beispielsweise nicht geleistet werden, weil die Stromversorgung unterbrochen ist oder eine behördliche Anordnung zur Betriebsstilllegung führt. Nach der von der Rechtsprechung entwickelten Betriebsrisikolehre trägt der Arbeitgeber, da er den Betrieb leitet und organisiert, auch die Risiken aus dem betrieblichen Bereich. Folge dieser Risikoverteilung ist, dass der Arbeitgeber beim Eintritt unverschuldeter Betriebsstörungen den Lohn an seine Arbeitnehmer weiterhin auszahlen muss. Der Arbeitnehmer behält also seinen Vergütungsanspruch, muss sich jedoch in analoger Anwendung zu §  615 S.  2 BGB anderweitige Verdienste anrechnen lassen. Die Betriebsrisikolehre greift allerdings nicht, wenn die Betriebsstörung auf Arbeitskampfmaßnahmen der Arbeitnehmerseite beruhen, da ein rechtmäßiger Arbeitskampf die gegenseitigen Pflichten aus dem Arbeitsvertrag suspendiert, oder die Aufrechterhaltung des Lohnanspruchs den wirtschaftlichen Bestand des gesamten Betriebes gefährden würde. Der Arbeitnehmer behält seinen Lohnanspruch ferner, wenn er durch einen in seiner Person liegenden Grund für eine nicht erhebliche Zeit und ohne Verschulden an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert wird (§  616 S.  1 BGB, sog. vorübergehende Leistungsverhinderung). Voraussetzung des Anspruchs ist:

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9 Individualarbeitsrecht

• Es muss sich um ein subjektives Leistungshindernis handeln, das in der Person des Arbeitnehmers begründet ist. Solche persönliche Gründe sind beispielsweise Arztbesuche, Gerichtstermine oder den Arbeitnehmer individuell anbetreffende Ereignisse wie Eheschließung der Kinder, Übernahme eines öffentlichen Amtes (Schöffe), unvorhergesehene Erkrankungen naher Angehöriger usw. Bei nur objektiven Leistungshindernissen, die jeden anderen auch treffen können (z. B. die Bahn fährt nicht; besondere Witterungsverhältnisse), besteht dieser Anspruch nicht. • Zwischen der persönlichen Verhinderung und dem Arbeitsausfall muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Soweit aus anderen Gründen die vertraglichen Pflichten suspendiert sind, kommt ein Anspruch aus § 616 BGB nicht in Betracht. • Die Verhinderung darf nur für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit andauern. Zur Zeitspanne können keine festen Aussagen getroffen werden; es gilt aber die folgende Faustregel: Bei einer Beschäftigung bis zu sechs Monaten ist eine Zeitspanne von drei Tagen nicht erheblich; ist der Arbeitnehmer bis zu einem Jahr (oder länger) beschäftigt, kann sogar eine Freistellung von einer Woche bis zu zwei Wochen in Betracht kommen, d. h. als nicht erheblich gelten. • Die persönliche Verhinderung darf nicht vom Arbeitnehmer selbst verschuldet sein. Ähnlich wie beim EntgFG (siehe nachfolgend) ist darunter das „Verschulden gegen sich selbst“ zu verstehen, d. h. ein grober Verstoß gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten (dies wäre z. B. der Fall, wenn der Arbeitnehmer stark alkoholisiert einen Unfall verursacht und krankheitsbedingt nicht zur Arbeit erscheinen kann). Kommt es zu einem personenbezogenen Leistungshindernis, hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber umgehend über die Leistungsverhinderung zu informieren (§ 242 BGB), damit dieser die notwendigen Vorkehrungen treffen kann. Ein Verstoß gegen diese Benachrichtigungspflicht lässt zwar den Vergütungsanspruch unangetastet, allerdings können Schadenersatzansprüche gegen den Arbeitnehmer entstehen (§ 280 Abs. 1 BGB). 1560 Eine weitere wichtige Ausnahme vom Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“ bilden die sozialpolitisch besonders bedeutsamen Vorschriften über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wonach der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für die Zeit von 6 Wochen die Vergütung fortzahlen muss, sofern der Arbeitnehmer krankheitsbedingt und ohne, dass ihn ein Verschulden trifft seine Arbeit nicht verrichten kann (§ 3 Abs. 1 EntgFG). Dabei gilt das Entgeltfortzahlungsgesetz für alle Arbeitnehmer (Arbeiter in Voll- und Teilzeit, Angestellte und Auszubildende) und bildet einen eigenständigen Vergütungsanspruch, dessen Höhe sich nach §  4 EntgFG ­bemisst. Zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kommt es unter den folgenden Voraussetzungen: • Es muss ein Arbeitsverhältnis bestehen, wozu auch Berufsausbildungsverhältnisse (§ 1 Abs. 2 EntgFG) und Praktikantenverhältnisse (§ 26 BBiG) gehören.

9.6  Pflichten des Arbeitgebers

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• Der Entgeltfortzahlungsanspruch entsteht erst nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses (§ 3 Abs. 3 EntgFG). Bis zu diesem Zeitpunkt erhält der Arbeitnehmer von seiner Krankenversicherung Krankengeld. • Die Krankheit muss die Arbeitsunfähigkeit verursacht haben. Krankheit ist dabei jeder regelwidrige körperliche oder geistige Zustand, der einer Heilbehandlung bedarf (z. B. körperliche Verletzung, gesundheitliche Beeinträchtigung, auch Trunk- und Drogensucht). Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit liegt erst vor, wenn der Arbeitnehmer objektiv außer Stande ist, die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegende Arbeit zu verrichten, oder wenn er die Arbeit nur unter der Gefahr aufnehmen oder fortsetzen könnte, dass sich sein Gesundheitszustand in absehbar naher Zeit erheblich verschlechtert (die Arbeitsunfähigkeit ist nicht gleichzusetzen mit vorübergehender Leistungsverhinderung nach § 616 BGB). Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit muss die alleinige Ursache der Arbeitsverhinderung sein. • Der erkrankte Arbeitnehmer ist grundsätzlich nicht zur Erbringung von Teilleistungen verpflichtet, selbst wenn er zu einzelnen Tätigkeiten in der Lage wäre oder die geschuldete Tätigkeit noch in zeitlich begrenztem Umfang leisten könnte. • Dem Arbeitgeber ist es auch nicht erlaubt, dem Arbeitnehmer eine andere als die vertraglich vereinbarte Arbeit während seiner Krankheit zuzuweisen, auch wenn der Arbeitnehmer diese andere Arbeit ohne Beeinträchtigung seiner Gesundheit durchführen könnte. Hierzu bedarf es einer Änderungskündigung. • Die Krankheit darf vom Arbeitnehmer nicht verschuldet sein (kein „Verschulden gegen sich selbst“), denn es wäre unbillig, den Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung zu verpflichten, wenn der Arbeitnehmer die Ursache gröblich und entgegen des gesunden Menschenverstandes selbst gesetzt hat. Bei der Ausübung einer gefährlichen Sportart gilt z. B. folgendes: Eine Sportart ist als besonders gefährlich zu qualifizieren, wenn das Verletzungsrisiko bei objektiver Betrachtung so groß ist, dass auch ein gut ausgebildeter Sportler bei sorgfältiger Beachtung aller Regeln dieses Risiko nicht vermeiden kann, sondern unbeherrschbaren Gefahren ausgesetzt ist.

Beispiel

Verletzungen infolge Kickboxen, Bungee-Jumping, Drachenfliegen oder Fingerhakeln wurden als gefährlich und „Verschulden gegen sich selbst“ von der Rechtsprechung eingestuft, was den Verlust der Lohnfortzahlung nach sich zog; nicht dagegen Skisport, Skispringen, Fallschirmspringen, Motorradrennen, Moto-­ Cross-Rennen, Inline-Skating, Fußball, Amateurboxsport. ◄ Liegen die Voraussetzungen vor, hat der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, höchstens für 6 Wochen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EntgFG). Die Höhe richtet sich nach der

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9 Individualarbeitsrecht

Vergütung, die ihm nach regelmäßiger Arbeitszeit zusteht (§ 4 Abs. 1 EntgFG). Formal ist der Arbeitnehmer dazu verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich, d.  h. ohne schuldhaftes Zögern formlos mitzuteilen (§ 5 Abs. 1 S. 1 EntgFG). Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, so muss spätestens am vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit vorgelegt werden (§5 Abs. 1 S. 2 EntgFG). Geschieht dies nicht, hat der Arbeitgeber gemäß §  7 Abs.  1 Nr.  1 EntgFG ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht. Hat ein Dritter die Arbeitsunfähigkeit verursacht, kann der Arbeitgeber seine Zahlungsleistungen von diesem zurückverlangen, denn der Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Dritten (z. B. aus § 823 BGB oder § 7 StVG) geht auf den Arbeitgeber über (§ 6 EntgFG). Sofern die Arbeitsunfähigkeit länger als sechs Wochen andauert, erhält der Arbeitnehmer nach der Entgeltfortzahlung für längstens 78 Wochen von seiner Krankenkasse ein Krankengeld in Höhe von 70  % des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts (§§ 44 ff. SGB V). Beruht die Arbeitsunfähigkeit auf einem Arbeitsunfall, werden ihm auch Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zuteil (§§ 45 ff. SGB VII). Entgeltzahlungsansprüche als „Lohn ohne Arbeit“ können sich ferner für Arbeit1561 nehmerinnen auf der Basis des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) ergeben. Während der Beschäftigungsverbote vor und nach der Entbindung gemäß § 3 und § 6 Abs. 1 MuSchG steht der Frau gemäß §§ 19, 20 MuSchG Mutterschaftsgeld und ggf. ein Zuschuss zum Mutterschaftsgeld zu. Das Mutterschaftsgeld wird vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt und beträgt 13 EUR pro Tag. Die Differenz zwischen diesem Betrag und dem durchschnittlichen Tagesverdienst der letzten drei Monate hat dagegen der Arbeitgeber aufzubringen (§ 20 MuSchG). Während der Elternzeit besteht dagegen kein Anspruch auf Fortzahlung des 1562 Lohns. Die Arbeitnehmer (Mütter oder Väter) haben lediglich nach Maßgabe des Bundeseltern- und Elternzeitgesetz (BEEG) einen Anspruch auf Elterngeld gegen die öffentliche Hand (§§ 1–14 BEEG). Während der Elternzeit besteht allerdings ein besonderer Kündigungsschutz nach Maßgabe des § 18 BEEG. Schließlich gewährt §  11 Abs.  1 BUrlG mit dem Urlaubsentgelt einen Ver1563 gütungsanspruch, obschon der Arbeitnehmer für die Zeit der urlaubsbedingten Freistellung keine Arbeitsleistung erbringt.

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9.6.1.5 Sicherung des Arbeitseinkommens Der Arbeitslohn kann von Gläubigern des Arbeitnehmers (z. B. Banken) aber auch vom Arbeitgeber selbst gepfändet werden, sofern ein Vollstreckungstitel gegen den Arbeitnehmer vorliegt (z.  B.  Vollstreckungsbescheid, Urteil). Dabei sind insbesondere die sog. Pfändungsfreigrenzen zu beachten, d. h. ein bestimmter Teil des Arbeitseinkommens ist unpfändbar (§§ 850, 850a und 850b ZPO). Welche Beträge als unpfändbar gelten, richtet sich insbesondere nach den bestehenden Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers. Die Pfändungsfreigrenze liegt derzeit bei ­Arbeitnehmern ohne Unterhaltspflichten bei 1.252,64 EUR monatlich, mit der ersten Unterhaltspflicht erhöht sich der Betrag um 471,44 EUR, für jede weitere Unter-

9.6  Pflichten des Arbeitgebers

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haltsverpflichtung um 262,65 EUR.  Der Höchstbetrag liegt bei 3.840,08 Euro (§ 850c Abs. 2 ZPO). Soweit die Lohnforderung nicht der Pfändung unterworfen ist, kann sie auch nicht an einen anderen abgetreten werden, es besteht ein gesetzliches Abtretungsverbot (§ 400 BGB). Ferner besteht mit Vergütungsansprüchen unterhalb der Pfändungsfreigrenze ein Aufrechnungsverbot (§ 394 S. 1 BGB). Der Arbeitgeber oder ein Dritter kann daher nur oberhalb der Pfändungsfreigrenzen mit einer Gegenforderung gegen den Arbeitnehmer aufrechnen. Nach der am 1. Januar 1999 in Kraft getretenen Insolvenzordnung gibt es bei 1565 einer Insolvenz des Arbeitgebers zwei Tatbestände, die den Vergütungsanspruch der Arbeitnehmer sichern. Ansprüche, die bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens schon entstanden sind, werden zu Insolvenzforderungen (§§ 38, 87, 174 ff. InsO). Ansprüche, die nach der Verfahrenseröffnung entstehen, werden zu Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 InsO). Für Lohnansprüche aus den letzten drei Monaten vor der Verfahrenseröffnung, die im Insolvenzverfahren ausfallen, erhält der Arbeitnehmer einen Ausfallbetrag in Höhe der Nettobezüge (§§ 165 ff. SGB III).

9.6.2 Nebenpflichten des Arbeitgebers Die meisten Schutzpflichten des Arbeitgebers sind gesetzlich geregelt: Pflicht zur 1566 Schaffung sicherer Arbeitsplätze (§§ 618 Abs. 1, 619 BGB, § 62 Abs. 1 u. 4 HGB, § 3 Abs. 1 ArbSchG, § 5 ArbStättV), Unterrichtung des Arbeitnehmers über seine Stellung im Betrieb (§ 81 BetrVG), Pflicht zur Anhörung des Arbeitnehmers und zur Erörterung der Angelegenheiten, die ihn betreffen (§ 82 BetrVG), Gewährung von Einsicht in die geführten Personalakten (§  83 BetrVG), Beschäftigtendatenschutz (Art. 88  DSGVO i.  V.  m. §  26 BDSG). Der Arbeitgeber hat überdies die Pflicht, Vorsorge zum Schutz von Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz zu treffen (§§ 617 ff. BGB). Gesetzliche Pflichten zur Gleichbehandlung enthalten die §§  75 Abs.  1 1567 BetrVG, §§ 1, 7 AGG, 612a BGB und § 4 TzBfG. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVfG) ist der Arbeitgeber zu einer gerechten und gleichmäßigen Behandlung aller im Betrieb tätigen Personen verpflichtet. Er ist dabei an die Grundsätze von Recht und Billigkeit gebunden. Die Gleichbehandlungspflicht gilt dabei auch bei allen freiwillig erbrachten Sozialleistungen (z.  B.  Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, betriebliche Altersversorgung) des Arbeitgebers, d. h. auch wenn der Arbeitgeber vertraglich zur Gewährung einzelner Leistungen nicht verpflichtet sein sollte, sind die Arbeitnehmer bei der Leistungsgewährung gleich zu behandeln. Die Leistungsbestimmung muss außerdem der Billigkeit entsprechen, sodass eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern bei der Gewährung von Weihnachtsgeld in der Regel nicht gerechtfertigt ist. Der Gleichbehandlungsgrundsatz bezieht sich ferner auf das Weisungsrecht des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer nicht nur zu bezahlen, sondern auch zu 1568 beschäftigen. Die Beschäftigungspflicht folgt aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und aus der persönlichen Würde des Arbeitnehmers (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG). Es kann jedoch im Einzelfall wichtige Gründe dafür geben,

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9 Individualarbeitsrecht

dass der Arbeitgeber von der Pflicht zur Beschäftigung zu befreien ist. Solche Gründe können in der Person des Arbeitnehmers liegen (nicht gleich aufzuklärender Unterschlagungsverdacht) oder sie können mit dem Betrieb zusammenhängen (der LKW eines LKW-Fahrers wird beschädigt und es kann nicht sofort Ersatz beschafft werden). 1569 Der Arbeitgeber ist verpflichtet, dem Arbeitnehmer bezahlten Erholungsurlaub zu gewähren. Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub (§ 1 BUrlG). Aus dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) ergibt sich der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch. Abweichende Regelung zugunsten des Arbeitnehmers können im Arbeitsvertrag vereinbart werden. Zuungunsten des Arbeitnehmers können Einzelregelungen des Gesetzes durch die Tarifverträge abgeändert werden. Allerdings ist der gesetzliche Anspruch auf bezahlten Mindesturlaub auch durch den Tarifvertrag nicht abdingbar (§  13 Abs. 1 BUrlG). Die Dauer des Erholungsurlaubs beträgt für alle Arbeitnehmer mindestens 24 Werktage (§ 3 BUrlG). Schwerbehinderte und Jugendliche haben Anspruch auf zusätzlichen Urlaub (§ 208 SGB IX, § 19 Abs. 2 JArbSchG). Die Festlegung des konkreten Urlaubszeitpunkts/-raums erfolgt nicht einseitig durch den Arbeitnehmer. Vielmehr legt der Arbeitgeber den Urlaubszeitpunkt/-raum fest. Hierzu ist er auch verpflichtet. Allerdings sind bei der Festlegung die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (§ 7 Abs. 1 BUrlG). Betrieblicher Übung entspricht es, Urlaubslisten auszulegen, in welche die Arbeitnehmer sich rechtzeitig eintragen können. Kann der Urlaub im laufenden Kalenderjahr entweder aus dringenden betrieblichen Gründen oder aus Gründen, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, nicht genommen werden, so wird der Urlaub in das erste Kalendervierteljahr des Folgejahres übertragen (§  7 Abs.  2 S.  2, Abs.  3 BUrlG). Einer besonderen rechtsgeschäftlichen Vereinbarung bedarf es hierzu nicht. Es kommt nach Ansicht des BAG allein darauf an, dass die Hinderungsgründe wirklich vorlagen. Wird der Urlaub weder im laufenden Kalenderjahr noch im ersten Quartal des Folgejahres genommen, so erlischt der Urlaubsanspruch. Entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG erlischt der Urlaubsanspruch nicht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub in der maßgeblichen Zeit unverschuldet nicht nehmen konnte (z. B. infolge Krankheit). In gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG ist der Übertragungszeitraum bis auf 15 Monate auszudehnen, nach deren Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Auch wenn der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch rechtzeitig geltend gemacht hat, der Arbeitgeber aber die Gewährung des Urlaubs – trotz möglicher Erfüllung – verweigert hat, erlischt der Urlaubsanspruch mit Ablauf des Kalenderjahrs bzw. des Übertragungszeitraums. Die rechtliche Konstruktion des BAG geht dahin, in diesem Fall wegen des Zeitablaufs von einer Unmöglichkeit der Leistungsgewährung auszugehen. Hätte der Arbeitgeber den Urlaub gewähren können, befindet er sich seit der Geltendmachung des Urlaubsanspruchs durch den Arbeitnehmer in Verzug. Er hat dann gemäß § 287 S. 1 BGB in jedem Fall die Unmöglichkeit der Urlaubsgewährung zu vertreten. Dies bedeutet zugleich, dass der Arbeitnehmer gemäß

9.6  Pflichten des Arbeitgebers

625

§§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB einen Schadensersatzanspruch nach Maßgabe des § 249 S. 1 BGB hat.

9.6.3 Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung 9.6.3.1 Klage auf Erfüllung Kommt der Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur rechtzeitigen Zahlung des Lohns nicht nach, so kann der Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht Klage auf Zahlung der Vergütung erheben. Verletzt der Arbeitgeber seine Pflicht, die erforderlichen Einrichtungen zum Schutz der Arbeitnehmer vorzuhalten oder anzubringen (z. B. Schutzkleidung, Not-­ Stopp-­Vorkehrungen an Maschinen) so besteht ebenfalls die Möglichkeit, vor dem Arbeitsgericht Klage auf Erfüllung dieser Schutzmaßnahmen u.  a. nach dem ArbSchG, ASiG einzureichen. Bei Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes kommen Klagen des Arbeitnehmers auf ein positives Tun oder auf Unterlassen in Betracht. Kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Beschäftigung nicht nach, besteht auch insofern die Möglichkeit, vor dem Arbeitsgericht auf Erfüllung zu klagen. Vollstreckt wird hier allerdings durch sogenannte Beugemittel die in der Zivilprozessordnung festgeschrieben sind (§ 888 Abs. 1 ZPO).

1570

1571

1572 1573

9.6.3.2 Schadensersatzansprüche Schadensersatzansprüche setzen stets eine schuldhafte Pflichtverletzung des 1574 Arbeitgebers voraus (§ 280 Abs. 1 i. V. m. § 276 Abs. 1 S. 1 BGB). Ist der Arbeitgeber eine juristische Person, also z. B. eine Aktiengesellschaft oder eine GmbH, so muss sich diese juristische Person das Verschulden seiner Organe (Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer) nach §  31 BGB ohne Entlastungsmöglichkeit zurechnen lassen. Ferner hat der Arbeitgeber nach §  278 BGB für das Verschulden seiner Er- 1575 füllungsgehilfen (Abteilungsleiter, Werkmeister usw.) einzustehen. Bei Verletzung einer Vertragspflicht aus dem Arbeitsverhältnis kann der Arbeitgeber sich also nicht für seine Gehilfen (Abteilungsleiter usw.) zulasten des betroffenen Arbeitnehmers entlasten. Beispiel

Werden einem Arbeitnehmer seine persönlichen Sachen, die er befugtermaßen in einem Schließfach in der Betriebsstätte eingeschlossen hat, gestohlen, weil der zur Überwachung eingeteilte Werkschutzmann betrunken war, so haftet der Arbeitgeber auf Schadensersatz wegen Pflichtverletzung. ◄

9.6.3.3 Besonderheiten beim Arbeitsunfall Hat ein Arbeitnehmer infolge eines Arbeitsunfalls (§ 8 SGB VII) einen Personen- 1576 schaden erlitten, greift die gesetzliche Unfallversicherung ein (§§ 1 ff. SGB VII).

626

9 Individualarbeitsrecht

Danach bestehen öffentlich-rechtliche Versicherungsansprüche gegen die Berufsgenossenschaft. Der Personenschaden kann deshalb grundsätzlich nicht gegen den Arbeitgeber und auch nicht gegen eine andere im Betrieb beschäftigte Person geltend gemacht werden (§§ 104, 105 SGB VII). Auch der Unfall auf dem Weg nach und von der Arbeit (sog. Wegeunfall) ist ein Arbeitsunfall (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII).

1577

9.6.3.4 Kündigung Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kann auch der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis fristlos kündigen (§  626 BGB). Der Arbeitnehmer ist zur Kündigung berechtigt, wenn durch Pflichtverletzungen des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zuzumuten ist. Ein wichtiger Grund setzt nicht notwendigerweise ein Verschulden des Vertragspartners voraus. Es kommt dabei immer auf die Umstände des Einzelfalls an. Die Interessen des einen Vertragspartners an der Beendigung und die des anderen Teils an der Fortführung des Arbeitsverhältnisses sind dabei gegeneinander abzuwägen. Fragen

7. Was ist unter der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers zu verstehen? Welche Umstände umfasst sie und wo sind ihre Grenzen? 8. „Nach dem Gesetz bedarf ein befristeter Arbeitsvertrag zu seiner Wirksamkeit der Schriftform“ Ist diese Aussage wahr oder falsch? – Begründen Sie! 9. Was bedeutet „Ohne Arbeit kein Lohn“? 10. Arbeitnehmer N bekommt nach 8 Monaten im Angestelltenverhältnis die Grippe und meldet sich arbeitsunfähig krank. Bekommt er weiterhin seinen Lohn? 11. Sind folgende Fragen des Arbeitgebers im Vorstellungsgespräch generell erlaubt (a), verboten (b) oder begrenzt zulässig (c)? I. Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft? II. Frage nach der fachlichen Qualifikation? III. Frage nach Vorstrafen? IV. Frage nach der Familienplanung in den nächsten Jahren? V. Frage nach bestehenden Krankheiten? VI. Frage nach der Anzahl bisheriger Arbeitsverhältnisse?

9.7 1578

Beendigung des Arbeitsverhältnisses

Arbeitsverhältnisse können auf verschiedene Weise beendet werden, entweder durch eine Absprache zwischen den Parteien (z. B. Befristung), der Ausübung eines Gestaltungsrechts (z. B. Anfechtung oder Kündigung) oder aus sonstigen Gründen (z. B. Tod des Arbeitnehmers). Der in der Praxis wichtigste Beendigungstatbestand ist die Kündigung, welche von beiden Seiten entweder als ordentliche (fristgerechte) oder, sofern ein wichtiger

9.7  Beendigung des Arbeitsverhältnisses

627

Grund vorliegt, als außerordentliche (fristlose) Kündigung erklärt werden kann. Zuvor sollen allerdings die anderen Beendigungsgründe kurz skizziert werden.

9.7.1 Beendigung ohne Kündigung Das Arbeitsrecht kennt verschiedene Umstände, die das Arbeitsverhältnis auch 1579 ohne Kündigung beenden: • Nichtigkeit des Arbeitsvertrages: Sofern der Arbeitsvertrag an einem Wirksamkeitsmangel leidet, z. B. gegen ein gesetzliches Verbot verstößt (§ 134 BGB), ist er nichtig. • Anfechtbarkeit des Arbeitsvertrages: Wie jeder schuldrechtliche Vertrag kann auch der Arbeitsvertrag nach den §§ 119 ff. BGB angefochten werden, allerdings bei bereits in Vollzug gesetzten Arbeitsverhältnissen nicht ohne weiteres mit der nach §  142 Abs.  1 BGB zukommenden ex tunc Wirkung, sondern nur von „nun an“ (ex nunc). • Befristete und auflösend bedingte Arbeitsverhältnisse: Die Parteien könnten bereits bei Vertragsschluss vereinbart haben, dass das Arbeitsverhältnis nach Ablauf einer bestimmten Frist (Befristung), dem Erreichen eines bestimmten Zwecks (Zweckerreichung) oder bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses (Bedingung) endet. In allen Fallkonstellationen endet das Arbeitsverhältnis dann ohne weitere Erklärung. • Aufhebungs- bzw. Auflösungsvertrag: Den Parteien eines Arbeitsverhältnisses steht es im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit frei, jederzeit das bestehende Arbeitsverhältnis einvernehmlich aufzuheben (§ 311 Abs. 1 BGB). Der Aufhebungsvertrag bedarf zu seiner Wirksamkeit der Schriftform gemäß §§ 623, 126 BGB; die elektronische Form ist ausgeschlossen. Inhaltlich muss festgelegt sein, wann der Arbeitsvertrag enden soll. Oftmals werden weitere Absprachen, u. a. zu Abfindung, Urlaubsabgeltung, einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot, dem Übergang von Anwartschaftsrechten oder der Rückgabe von Betriebsmitteln getroffen. Ein wirksam abgeschlossener Aufhebungsvertrag kann grundsätzlich nicht mehr widerrufen werden (§ 130 Abs. 1 S. 2 BGB), es sei denn, Tarifverträge sehen zum Schutz der Arbeitnehmer vor unüberlegten Handlungen befristete Widerrufsrechte vor; solche Bedenkzeiten liegen zwischen 1–3 Tagen. Ist dem Arbeitnehmer ein solches Recht nicht eingeräumt, bleibt dem Arbeitnehmer, der unüberlegt gehandelt hat, nur die Möglichkeit, den Aufhebungsvertrag wegen Irrtums oder Täuschung anzufechten (§§ 119, 123 BGB), was allerdings einen Anfechtungsgrund voraussetzt (z. B. wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt, oder ihm falsche Versprechungen gemacht wurden). Aufhebungsverträge dürfen nicht mit sog. Abwicklungsverträgen verwechselt werden, die zum Teil eingesetzt werden, um die Folgen einer wirksamen Kündigung (z.  B.  Abfindung, Rückgewähransprüche) zu regeln. Beenden die Parteien das Arbeitsverhältnis mittels eines Aufhebungsvetrages, muss der Arbeitnehmer eine zwölfwöchige Sperrzeit vor

628

9 Individualarbeitsrecht

dem ersten Bezug von Arbeitslosengeld hinnehmen (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 SGB III); dieser Vermögensverlust wird im Auflösungsvertrag häufig durch Abfindungsabsprachen teilweise kompensiert (insbesondere, wenn der Arbeitgeber ein Interesse an der Auflösung ohne gerichtliche Auseinandersetzung hat). • Tod des Arbeitnehmers: Das Arbeitsverhältnis endet mit dem Tod des Arbeitnehmers (nicht aber des Arbeitgebers), weil die Arbeitspflicht höchstpersönlicher Natur ist (§ 613 BGB) und nicht auf die Erben übertragen werden kann. Der Tod des Arbeitgebers ist dagegen kein Beendigungsgrund. • Nichtfortsetzungserklärung nach § 12 KSchG: Stellt das Arbeitsgericht im Rahmen einer Kündigungsschutzklage fest, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht und hat der Arbeitnehmer aber zwischenzeitlich ein neues Arbeitsverhältnis begründet, kann er binnen einer Woche nach Rechtskraft des Urteils gegenüber dem alten Arbeitgeber erklären, das Arbeitsverhältnis mit ihm nicht mehr fortsetzen zu wollen (§ 12 S. 1 KSchG). Sobald diese Erklärung dem alten Arbeitgeber zugeht, erlischt das alte Arbeitsverhältnis (§  12 S. 2 KSchG).

9.7.2 Beendigung durch Kündigung Die Kündigung ist die einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung, welche zum Ausdruck bringt, dass das Arbeitsverhältnis für die Zukunft, sofort oder erst nach Ablauf einer bestimmten Frist, jedoch mit unmittelbarer Wirkung beendet werden soll. Das Gestaltungsrecht steht grundsätzlich beiden Arbeitsvertragsparteien zu (§§  620 Abs.  2, 626 BGB) und kann auch nicht vollständig abbedungen werden. 1581 Die Kündigung zielt in der Regel auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses (sog. Beendigungskündigung). In der Praxis kann es aber auch vorkommen, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigt und dem Arbeitnehmer zugleich die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen anbietet (sog. Änderungskündigung; z.  B. betriebsbedingte Kündigung verbunden mit dem Angebot auf Weiterbeschäftigung auf einer anderen Stelle) oder nur einzelne Bedingungen aus dem Arbeitsvertrag herauskündigt (sog. Teilkündigung; z. B. Entzug der Stellung als Umweltbeauftragter). Während die Änderungskündigung ein zulässiges Gestaltungsmittel ist, ist die Teilkündigung grundsätzlich unzulässig. 1582 Bei der Beendigungskündigung ist zwischen ordentlicher und außerordentlicher Kündigung zu unterscheiden. Die ordentliche Kündigung ist bezogen auf ihre Wirksamkeit regelmäßig an die Einhaltung einer gesetzlichen, tariflichen oder arbeitsvertraglichen Frist gebunden (sog. „fristgemäße Kündigung“), während die außerordentliche Kündigung sofort wirksam wird (sog. „fristlose Kündigung“). 1580

9.7  Beendigung des Arbeitsverhältnisses

629

9.7.2.1 Ordentliche Kündigung Die ordentliche Kündigung kommt bei Arbeitsverhältnissen in Betracht, die auf un- 1583 bestimmte Zeit eingegangen sind. Bei befristeten Arbeitsverhältnissen ist sie ebenfalls möglich, sofern die Parteien das Recht zur ordentlichen Kündigung ausdrücklich vereinbart haben. Grundvoraussetzungen einer ordentlichen Kündigung sind die Kündigungserklärung und die Einhaltung bestimmter Kündigungsfristen. Das Kündigungsrecht ist in mehrfacher Hinsicht aus sozialen Gründen eingeschränkt. Die Grenzen ergeben sich zum einen aus dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) und darüber hinaus für bestimmte besonders schutzbedürftige Arbeitnehmer aus weiteren Spezialgesetzen (§§ 20, 22 BBiG, § 19 BEEG, §§ 169, 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Ferner ist der Betriebsrat nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG vor jeder Kündigung anzuhören. 9.7.2.1.1  Kündigungserklärung Die Wirksamkeit der Kündigungserklärung richtet sich als empfangsbedürftige 1584 Willenserklärung nach den allgemeinen Vorschriften der §§  104  ff. BGB (Abschn. 1.5). Die Kündigungserklärung muss hinreichend bestimmt sein. Aus ihr muss für den Empfänger eindeutig hervorgehen, dass das Arbeitsverhältnis zu einem bestimmten Zeitpunkt beendet werden soll. Droht ein Vertragspartner lediglich mit der Kündigung, so liegt darin noch keine Kündigungserklärung. Dagegen kann in einer lediglich zum Ausdruck gebrachten Weigerung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer auf Dauer weiter beschäftigen zu wollen, eine Kündigungserklärung angenommen werden (z. B. durch die Äußerung „Bleiben Sie fort“). Kündigungen sind bedingungsfeindlich, da der Gekündigte über den Zeitpunkt 1585 der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht im Unklaren bleiben soll. Keine unerlaubte Bedingung ist die sog. Änderungskündigung, mit welcher der Kündigende eine Änderung der Arbeitsbedingung zu seinen Gunsten erstrebt. Hier kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis form- und fristgemäß mit der zusätzlichen (erneut begründenden) Erklärung, dass er den Arbeitnehmer unter anderen Bedingungen weiter beschäftigen will (Abschn. 9.7.2.3). Da es sich bei der Kündigung um eine einseitig empfangsbedürftige Willens- 1586 erklärung handelt, muss sie dem Empfänger zugehen, um wirksam zu werden (§ 130 Abs. 1 BGB). Die genaue Feststellung des Zugangszeitpunkts hat außerdem für den Lauf der Kündigungsfrist sowie für die rechtzeitige Erhebung einer Kündigungsschutzklage (§§ 4 S. 1, 7 KSchG) Bedeutung. Eine Kündigung, die einem Anwesenden gegenüber abgegeben wird, geht diesem in aller Regel sofort zu und wird wirksam, wenn er sie erhält (z.  B.  Aushändigung des Kündigungsschreibens am Arbeitsplatz). Eine Kündigung gegenüber einem Abwesenden wird wirksam, wenn sie ihm zugeht (§  130 Abs.  1 BGB). Hierzu ist erforderlich, dass der Gekündigte in verkehrsüblicher Weise die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Kündigungsschreiben erlangt (Machtbereich des Empfängers) und er unter gewöhnlichen Umständen die Möglichkeit hat, vom Inhalt des Schreibens Kenntnis zu nehmen.

630

9 Individualarbeitsrecht

Beispiel

Wird die Kündigung in einen Hausbriefkasten geworfen, so geht sie dem Gekündigten in dem Zeitpunkt zu, in dem mit der Leerung des Briefkastens gerechnet werden darf. Erreicht die Kündigung die Empfangseinrichtungen des Adressaten (Briefkasten, Postschließfach) zu einer Tageszeit, zu der nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme oder Abholung durch den Adressaten nicht mehr erwartet werden kann, so ist die Kündigung an diesem Tag nicht mehr zugegangen. Die Rspr. nimmt eine Einzelfallbetrachtung vor, wobei regelmäßig eine Zustellung bis 18 Uhr als Zugang am selben Tag zu werten sei, während eine Zustellung nach 18 Uhr als Zugang am darauffolgenden Tag gilt. Bei Einwurf eines Benachrichtigungszettels in den Hausbriefkasten, geht dem Gekündigten das Kündigungsschreiben erst zu, wenn er den Brief abholt oder wenn er ihn hätte abholen können. ◄ Entgegen einer früheren Ansicht vertritt das BAG heute die Ansicht, dass ein an die Heimatanschrift des Arbeitnehmers gerichtetes Kündigungsschreiben diesem selbst dann zugeht, wenn dem Arbeitgeber bekannt sein sollte, dass der Arbeitnehmer verreist oder erkrankt ist. Da dies für den Fristenlauf z.  B. bei einer Kündigungsschutzklage problematisch werden könnte (§ 4 KSchG „drei Wochen nach Zugang“), soll der Gekündigte bei urlaubs- oder krankheitsbedingter Versäumung die Möglichkeit besitzen, die Zulassung einer verspäteten Klage zu beantragen (§ 5 KSchG). Kann der Erklärungsempfänger die Kündigung aufgrund eines von ihm zu ver1588 tretenden Umstandes nicht zur Kenntnis nehmen (sog. Zugangsvereitelung), so muss er sich nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als ob ihm die Kündigung zum normalen Zeitpunkt zugegangen und zur Kenntnis gebracht worden wäre (fingierter Zugang). Zieht der Arbeitnehmer beispielsweise um, ohne den Arbeitgeber darüber in Kenntnis zu setzen, so geht die damit einhergehende Zustellungsverzögerung zu seinen Lasten. Allerdings muss der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich wiederholen, sobald er von der neuen Adresse erfährt. 1587

Beispiel

Der A zieht um, ohne seinen Arbeitgeber darüber zu informieren. Daher schickt der Arbeitgeber die Kündigung zunächst an die bisherige Adresse des A. Als das Schreiben mit dem Vermerk der neuen Adresse zurückkommt, bringt der Arbeitgeber die Kündigung erneut auf den Weg. Sofern A nun Kündigungsschutzklage erheben möchte, gilt als Berechnungsstartpunkt für den Fristlauf nach § 4 KSchG bereits der erste vergebliche Zustellungsversuch an die alte Adresse des A. ◄ 1589

Die Annahmeverweigerung durch einen Empfangsboten (§  164 Abs.  3 BGB; z. B. minderjähriger Familienangehöriger) kann nicht ohne weiteres als Zugangsvereitelung gewertet werden. Lehnt ein als Empfangsbote anzusehendes Familienmitglied des abwesenden Arbeitnehmers die Annahme der Kündigung des

9.7  Beendigung des Arbeitsverhältnisses

631

Arbeitgebers ab, so muss der Arbeitnehmer die Kündigung nur dann als zugegangen gegen sich gelten lassen, wenn er auf die Annahmeverweigerung in irgendeiner Form Einfluss genommen hat (z. B. vorherige in unredlicher Absicht vorgenommene Absprachen). 9.7.2.1.2  Form Die Kündigung ist gemäß §  623 BGB schriftlich zu erklären, d.  h. sie ist vom Kündigenden eigenhändig zu unterschreiben; die elektronische Form i. S. d.126a BGB genügt nicht (z. B. Scan, Telefax). Auch in anderen Vorschriften findet sich die Schriftform angeordnet (z. B. § 22 Abs. 3 BBiG, § 17 Abs. 2 MuSchG). Ebenso können in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen Schriftformerfordernisse festgeschrieben sein. Die Nichteinhaltung einer gesetzlichen oder vereinbarten Formvorschrift hat nach § 125 BGB die Nichtigkeit der Kündigung zur Folge. Im Falle einer ordentlichen Kündigung muss kein Kündigungsgrund angegeben werden; die Parteien trennen sich alleine auf der Grundlage der im Arbeitsvertrag vereinbarten Kündigungsmöglichkeiten. Eine Ausnahme gilt bei Ausbildungsverträgen (§  22 Abs.  3 BBiG) sowie der Kündigung während der Schwangerschaft (§  17 Abs.  2 S.  2 MuSchG). Ferner kann die Angabe von Kündigungsgründen auch durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag abgefordert sein. Der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf Mitteilung des Kündigungsgrundes, sofern das Kündigungsschutzgesetz anwendbar ist. Denn zur erfolgreichen Rechtsverfolgung ist es für den Arbeitnehmer erforderlich, die Kündigungsgründe (§ 1 Abs. 2 KSchG) zu kennen. Kommt der Arbeitgeber einem entsprechenden Begehren nicht nach, führt das nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung; sie bleibt wirksam. Der Arbeitgeber kann sich allenfalls schadensersatzpflichtig machen, wenn er die Gründe nicht oder erst nachträglich (u. U. zu spät) benennt. Zur Begründung wird angeführt, dass der Arbeitnehmer ohne Mitteilung der konkreten Kündigungsgründe einen eventuell aussichtslosen Kündigungsschutzprozess vor dem Arbeitsgericht führt und ihm dadurch unnötige Prozesskosten entstehen. Wären ihm die Kündigungsgründe dagegen rechtzeitig mitgeteilt worden, hätte er einen aussichtslosen Prozess vermeiden und Aufwendungen ersparen können. Der Arbeitgeber ist also in solchen Fällen jedenfalls zum Ersatz der angefallenen Prozesskosten verpflichtet. Die Kündigungserklärung kann in einzelnen Fällen obendrein eine vorherige Anzeige oder Erlaubnis einer staatlichen Einrichtung erfordern, z. B. bei Kündigung von Schwangeren (§  17 Abs.  2 MuSchG: Gewerbeaufsichtsamt); Arbeitnehmern in Elternzeit (§  18 Abs.  1 BEEG: Gewerbeaufsichtsamt) oder ­schwerbehinderten Menschen (§§ 168 ff. SGB IX: Integrationsamt bzw. Integrationsbeauftragter).

1590

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9.7.2.1.3  Frist Die gesetzlichen Kündigungsfristen sind in § 622 BGB geregelt. Unter Kündigungs- 1594 frist versteht man den Zeitraum zwischen der Kündigungserklärung und deren materiell-rechtlichen Wirkung, also der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Nicht

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9 Individualarbeitsrecht

verwechselt werden darf die Kündigungsfrist mit der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB bei der außerordentlichen Kündigung, welche den Zeitraum zwischen der Kenntniserlangung der für eine außerordentliche Kündigung maßgebenden Tatsachen und der Kündigungserklärung meint. 1595 § 622 Abs. 1 BGB sieht für alle Arbeitnehmer in den ersten beiden Beschäftigungsjahren eine Grundkündigungsfrist von 4 Wochen (= 28 Tage) zum 15. oder zum Ende des Kalendermonats vor. Dabei stellt die gesetzliche Grundkündigungsfrist eine nicht abdingbare Mindestkündigungsfrist dar. Etwas anderes gilt nur für folgende gesetzliche Sonderfälle: • • • • • •

vereinbarte Probezeit (§ 622 Abs. 3 BGB sowie §§ 20, 22 BBiG), einzelvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag (§ 622 Abs. 4 S. 2 BGB), vorübergehende Aushilfstätigkeit (§ 622 Abs. 5 Nr. 1 BGB), Kleinunternehmen (§ 622 Abs. 5 Nr. 2 BGB), Kündigung in Elternzeit (§ 19 BEEG), Kündigung schwerbehinderter Menschen (§§ 169, 174 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX).

§ 622 Abs. 2 BGB enthält eine Regelung für Kündigungen, die der Arbeitgeber gegenüber länger beschäftigten Arbeitnehmern ausspricht. Bei den verlängerten Kündigungsfristen nach §  622 Abs.  2 BGB wurde an den Monatskündigungsterminen festgehalten; die gesetzliche Kündigungsfrist liegt zwischen einem Monat und sieben Monaten und ist von der Dauer des Arbeitsverhältnisses abhängig. Die nach § 622 Abs. 2 BGB vom Arbeitgeber einzuhaltenden verlängerten Kündigungsfristen sind ebenfalls zwingend; Kündigungsfristen, die die gesetzlichen Vorgaben unterschreiten, dürfen einzelvertraglich nicht vereinbart werden. Die in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. noch vorgesehene Staffelung der Kündigungsfristen nach dem Alter hielt der EuGH mit Art.  6 der europäischen „Antidiskriminierungsrichtlinie“ 2000/78/EG für nicht vereinbar, weshalb sie mittlerweile aus dem Gesetz genommen wurde. 1597 Eine einvernehmliche Verlängerung der gesetzlichen Kündigungsfristen ist einzelvertraglich möglich (§ 622 Abs. 5 S. 3 BGB). Allerdings ergibt sich aus § 624 S. 1 und S. 2 BGB, dass für den Arbeitnehmer eine Höchstbindungsfrist von fünfeinhalb Jahren besteht. 1598 Gemäß § 622 Abs. 6 BGB darf für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer keine längere Frist vereinbart werden, als für die Kündigung durch den Arbeitgeber vorgesehen ist (sog. Paritätsgrundsatz). 1596

9.7.2.1.4  A  nhörung des Betriebsrates und/oder der Schwerbehindertenvertretung 1599 Vor jeder ordentlichen Beendigungskündigung ist der Betriebsrat zu hören (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG), sofern die Anhörungsvoraussetzungen – betriebsratsfähiger Betrieb (mindestens fünf Mitarbeiter) mit installiertem Betriebsrat (§ 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG) – vorliegen (§ 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG). Eine Kündigung ohne Anhörung des Betriebsrates ist unwirksam.

9.7  Beendigung des Arbeitsverhältnisses

633

Dem Betriebsrat muss vor der Anhörung eine entsprechende Mitteilung zugehen, aus der für den Betriebsrat erkennbar wird, dass seine Beteiligung im Verfahren nach § 102 BetrVG verlangt wird. Mitzuteilen sind außerdem alle Umstände, die der Betriebsrat kennen muss, um eine Stellungnahme zu der beabsichtigten Kündigung abgeben zu können. Das sind insbesondere der Name des Arbeitnehmers und die grundlegenden Sozialdaten, die Art der Kündigung, der Kündigungstermin sowie der Kündigungsgrund. Wird der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß oder nicht ausreichend unterrichtet, so führt dies ebenfalls zur Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG, weil der Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens nur erfüllt werden kann, wenn der Arbeitgeber seine Gründe für die Kündigung vollumfänglich darlegt. Der Betriebsrat hat sodann die Möglichkeit, binnen einer Woche schriftlich seine Bedenken zu äußern (§ 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG), der Kündigung zu widersprechen (§ 102 Abs. 3 S. 1 BetrVG) oder aber nicht zu reagieren (§ 102 Abs. 2 S. 2 BetrVG), was dann als Zustimmung gilt. Äußert der Betriebsrat dagegen Bedenken oder widerspricht er der Kündigung, ist der Arbeitgeber an diese Einschätzung nicht gebunden, er kann die Kündigung trotzdem wirksam aussprechen. Die Anhörung des Betriebsrates soll lediglich die Position des Arbeitnehmers stärken und den Arbeitgeber zum Nachdenken anhalten, mehr nicht. Allerdings ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer mit der Kündigung die Stellungnahme des Betriebsrats zuzuleiten (§  102 Abs.  4 BetrVG). Diese kann dem Arbeitnehmer in einem sich anschließenden Kündigungsschutzverfahren nach §§  1  ff. KSchG nützlich sein. Ferner sichert sie ihm während eines solchen Verfahrens einen Weiterbeschäftigungsanspruch (§ 102 Abs. 5 BetrVG). Bei der Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer kann – sofern vorhanden – 1600 eine Anhörung der Schwerbehindertenvertretung erforderlich werden. Ein solches Gremium besteht in Unternehmen, die mindestens fünf schwerbehinderte Menschen nicht nur vorübergehend beschäftigen. Das Gremium muss „unverzüglich und umfassend“ informiert werden und es muss Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden. Eine Missachtung dieses Anhörungsrechts führt nach §  178 Abs. 2 SGB IX ebenfalls zur Unwirksamkeit der Kündigung. Führt der Arbeitgeber die Anhörung durch, kann er auch hier am Ende privatautonom entscheiden, ob er der Empfehlung des Gremiums nachkommt oder nicht. Der betroffene Arbeitnehmer kann klageweise gegen die ordentliche Kündigung vorgehen, indem er feststellen lässt, ob die formellen und materiell-­rechtlichen Anforderungen an die Wirksamkeit einer Kündigung vorgelegen haben. In der Regel  – wenn dessen Anwendungsbereich eröffnet ist  – wird er Kündigungsschutzklage nach dem KSchG erheben (Abschn. 9.8).

9.7.2.2 Außerordentliche Kündigung Jede Vertragspartei kann ohne Einhaltung einer Frist außerordentlich kündigen 1601 (§ 626 Abs. 1 BGB), was das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung beendet. Die fristlose Kündigung setzt neben den allgemeinen Wirksamkeitsvoraus- 1602 setzungen einer Kündigungserklärung (Abschn.  9.7.2.1) einen wichtigen Grund voraus. Es müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter

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9 Individualarbeitsrecht

Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr zugemutet werden kann. Es muss zu einer schwerwiegenden Verletzung vertraglicher Pflichten durch eine Vertragspartei gekommen sein, welche die Basis der Zusammenarbeit dauerhaft erschüttert. 1603 Ob ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt und dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann, beurteilt sich nach objektiven Gesichtspunkten gepaart mit der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles. Die Rechtsprechung des BAG vollzieht die Prüfung daher in zwei Schritten: Zunächst ist festzustellen, ob ein Sachverhalt unabhängig vom Einzelfall „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Kündigungsgrund zu bilden (z. B. schwere Pflichtverletzungen, die Verwirklichung von Straftatbeständen). Wird eine solche Pflichtverletzung festgestellt, erfolgt dann in einem zweiten Schritt eine umfassende Interessenabwägung, bei der dann sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. 1604 Der Grund „an sich“ kann sich aus einer (schweren) Pflichtverletzung oder einer Straftat ergeben. Eine relevante Pflichtverletzung liegt beispielsweise vor, wenn der Arbeitnehmer seiner Arbeitspflicht beharrlich nicht nachkommt, die Weisungen des Arbeitgebers wiederholt missachtet, wenn er Kollegen mobbt oder sexuell belästigt, aber auch, wenn das Internet während der Arbeitszeit exzessiv zu privaten Zwecken genutzt wird. Die Pflichtverletzung setzt dabei nicht notwendigerweise ein Verschulden des Arbeitnehmers voraus. Ein außerordentlicher Kündigungsgrund kann auch in der Tatsache begründet liegen, dass der Arbeitnehmer zur Fortsetzung der Arbeit aus gesundheitlichen Gründen auf absehbare Zeit nicht mehr in der Lage ist. Als im Arbeitsrecht einschlägige Straftaten kommen betrügerische Handlungen (§  263 StGB), Tätlichkeiten, grobe Beleidigungen (§§ 185, 240 StGB), Vorteilsannahmen (§ 331 StGB) sowie Diebstahl (§ 242 StGB) in Betracht. Dabei ist es völlig unerheblich, ob sich ein Diebstahl (§ 242 StGB), begangen vom Arbeitnehmer, auf eine wertvolle Sache bezieht oder eine scheinbar wertlose, d.  h. sog. Bagatellverstöße vorliegen (z.  B.  Veruntreuung von Kleinstbeträgen am Arbeitsplatz, Einbehalt eines Pfandbon, Verzehr übrig gebliebener Brötchen oder Maultaschen). Entscheidend ist alleine, dass in die Vermögensposition des Arbeitgebers eingegriffen wurde – ein Straftatbestand vorliegt. 1605 Erst bei der Interessenabwägung ist dann zu berücksichtigen, dass es sich bei einer außerordentlichen Kündigung um das äußerste Mittel handelt, um das Arbeitsverhältnis zu beenden. Es ist daher unter Würdigung der Gesamtumstände im Einzelfall zu fragen, ob es dem Kündigenden tatsächlich unzumutbar ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf einer ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Gerade bei Bagatellverstößen wird die Interessenabwägung zumeist gegen die Unzumutbarkeit und für eine (vorläufige) Weiterbeschäftigung sprechen. Beispiel

Auszug aus den Leitsätzen BAG v. 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 im Fall „Emmely“, einer Kassiererin, die einen Pfandbon von 1,30 EUR im Kassenbereich

9.7  Beendigung des Arbeitsverhältnisses

635

gefunden und eingelöst hat. Schon in den Leitsätzen wird das Vorgehen des BAG auf den beiden Stufen – wichtiger Grund (Leitsatz 4) und Interessenabwägung (Leitsatz 6 und 7) – sehr deutlich: ◄ … 4. Begeht der Arbeitnehmer bei oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit rechtswidrige und vorsätzliche Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen seines Arbeitgebers, verletzt er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen. Ein solches Verhalten kann auch dann ein wichtiger Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB sein, wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von geringem Wert betrifft oder zu einem nur geringfügigen, möglicherweise gar keinem Schaden geführt hat. … …6. Eine außerordentliche Kündigung setzt voraus, dass es keine milderen Mittel gibt, um eine künftige Vertragsstörung zu vermeiden. Als mildere Reaktionen kommen insbesondere Abmahnung und ordentliche Kündigung in Betracht. Es ist stets zu prüfen, ob schon sie geeignet sind, das Risiko künftiger Störungen zu vermeiden. … ..7. Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen [Einzelfallentscheidung]. Zu ihnen gehören jedenfalls die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Hat das Arbeitsverhältnis über viele Jahre hinweg ungestört bestanden, bedarf es einer genauen Prüfung, ob die dadurch verfestigte Vertrauensbeziehung der Vertragspartner durch eine erstmalige Enttäuschung des Vertrauens vollständig und unwiederbringlich zerstört werden konnte. Dabei ist ein objektiver Maßstab entscheidend… Die Interessenabwägung wird dabei von drei Prinzipien bestimmt, dem

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• Ultima-ratio-Prinzip, • Prognoseprinzip, • Übermaßverbot. Das Ultima-ratio- Prinzip folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 1607 Danach ist eine außerordentliche Kündigung erst zulässig, wenn mildere Mittel (z. B. Weiterbeschäftigung zu veränderten Bedingungen, Versetzung, Abmahnung, ordentliche Kündigung) nicht zur Verfügung stehen oder dem Arbeitgeber nicht zumutbar sind. Die außerordentliche Kündigung muss also tatsächlich das letzte Mittel sein, um die eingetretene Vertragsstörung zu beseitigen. Wichtige Folge dieses Prinzips ist, dass bei einem vertragswidrigen Verhalten des Arbeitnehmers regelmäßig zunächst eine Abmahnung durch den Arbeitgeber als milderes Mittel auszusprechen ist. Mit ihr wird der Arbeitnehmer auf sein vertragswidriges Verhalten hingewiesen und er wird vorerst zu einem zukünftigen vertragsgemäßen Verhalten aufgefordert („Warnschuss“). Hierfür ist erforderlich, dass

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9 Individualarbeitsrecht

die Abmahnung klare und eindeutige Verhaltensmaßregeln für die Zukunft enthält. Der Arbeitnehmer muss aus der Abmahnung erkennen können, welches Verhalten der Arbeitgeber erwartet und welches Fehlverhalten er als so schwerwiegend ansieht, dass es einen Kündigungsgrund darstellt. Einer vorherigen Abmahnung bedarf es ausnahmsweise nicht, wenn von vornherein feststeht, dass der mit ihr verfolgte Zweck nicht erreicht werden kann (z.  B. wenn das Vertrauensverhältnis der Vertragsparteien durch eine schwere Pflichtverletzung derart gestört ist, dass es nicht wieder hergestellt werden kann). Eine Abmahnung ist auch dann entbehrlich, wenn das Verhalten des Arbeitnehmers ein unkalkulierbares Risiko für die erforderliche Betriebssicherheit darstellt. Die Abmahnung unterliegt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrates. Für die Abmahnung gibt es auch keine bestimmte Frist. Allerdings unterliegt das Abmahnrecht der Verwirkung. Wenn der Arbeitnehmer sich nach seinen Verfehlungen längere Zeit vertragsgetreu verhalten hat, ist das spätere Nachschieben einer Abmahnung nicht mehr zulässig. Abmahnung und Kündigung schließen einander aus. Wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer abgemahnt hat, muss er ihm die Möglichkeit zur Bewährung lassen und kann nicht unmittelbar nach Ausspruch der Abmahnung kündigen. Dieses „Ultima-Ratio-Prinzip“, welches nicht nur zur Abmahnung, sondern auch zur Versetzung, der einvernehmlichen Änderung des Vertrags oder zur Änderungskündigung führen kann, wird von der Rechtsprechung nicht nur im Rahmen von außerordentlichen Kündigungen angewandt, sondern generell bei allen Formen der Kündigungen berücksichtigt (auch bei ordentlichen betriebs-, personen- und verhaltensbedingte Kündigungen Abschn. 9.8). Das Prognose-Prinzip verfolgt das Ziel, über die grundlegende Interessen1608 abwägung aller Umstände herauszufinden, wie sich der Arbeitnehmer in der Zukunft verhalten wird. Es wird festgestellt, welche schwerwiegenden Störungen des Arbeitsverhältnisses in der Vergangenheit vorlagen. Danach wird geprüft, ob und inwieweit mit einer gleichartigen Störung des Arbeitsverhältnisses in der Zukunft zu rechnen ist („Negativprognose“). Dabei beeinflussen Gewicht und Intensität der Vertragsverletzung, der Grad des Verschuldens, die Ausnutzung einer besonderen Vertrauensstellung oder eine bereits erteilte Abmahnung die Prognoseentscheidung. Nur bei einer negativen Prognose lässt sich die außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Beispiel

Arbeitnehmer A beleidigt seit Monaten seine Kollegen schwer; es ist davon auszugehen, dass er sein Verhalten fortsetzen wird. Sofern bislang keine Abmahnung erfolgt ist, wäre diese nun das mildere Mittel, welches vor einer fristlosen Kündigung vom Arbeitgeber eingesetzt werden müsste. Hatte der A bereits eine Abmahnung erhalten, setzt er aber dennoch sein Verhalten unbeeindruckt fort, kann nun die negative Prognose – er wird wohl sein pflichtwidriges Verhalten auch in der Zukunft fortsetzen, was auch das Ignorieren der Abmahnung belegt – die außerordentliche Kündigung rechtfertigen. ◄

9.7  Beendigung des Arbeitsverhältnisses

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Das Übermaßverbot verbietet überspannte bzw. überschießende Reaktionen 1609 des Arbeitgebers auf die Störung des Arbeitsverhältnisses. Ob eine Reaktion des Arbeitgebers als „überschießend“ angesehen werden kann, kann nur nach einem Gesamtblick auf die Situation beurteilt werden. Hier stehen dann der Pflichtverstoß auf der einen Seite und u. a. die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf, das Verschulden und die Einsichtsfähigkeit des Arbeitnehmers auf der anderen Seite und müssen gegeneinander abgewogen werden. Hat sich beispielsweise ein Arbeitnehmer über mehrere Jahre nichts zuschulden kommen lassen und eignet sich nun einen Pfandbon von geringem Wert an, würde die fristlose Kündigung eine übermäßige Reaktion darstellen  – sie wäre wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot nicht gerechtfertigt. In formaler Hinsicht kann eine fristlose Kündigung im Regelfall nur innerhalb 1610 der Ausschlussfrist von zwei Wochen nach Kenntnis der sie begründenden Umstände schriftlich erfolgen (§ 626 Abs. 2 BGB). Die Frist beginnt ab Kenntnis des wichtigen Grundes beim Kündigungsberechtigten (z.  B. des Geschäftsinhabers). Muss der Arbeitgeber zunächst Ermittlungen durchführen, um das Vorliegen des Kündigungsgrundes hinreichend belegen zu können (z. B. Durchsicht von Inventarlisten), dann beginnt die Frist erst mit Abschluss der Ermittlungen zu laufen, wobei die Ermittlungszeit von der Rechtsprechung grundsätzlich restriktiv bemessen wird (zwischen 1–2 Wochen). Bei schwerbehinderten Arbeitnehmern ist nach §§ 168, 173 SGB IX die Wirksamkeit der fristlosen Kündigung von der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts abhängig. Der betroffene Arbeitnehmer kann gegen die Kündigung klageweise vorgehen; 1611 die Feststellungsklage müsste binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigungserklärung beim zuständigen Arbeitsgericht erhoben werden (analog § 4 KSchG).

9.7.2.3 Verdachtskündigung Eine besondere Kündigungsform ist die Verdachtskündigung. Sie liegt vor, wenn 1612 der Arbeitgeber seine Kündigung auf ein nicht erwiesenes strafbares bzw. vertragswidriges Verhalten stützt. Grundsätzlich reicht natürlich der bloße Verdacht eines Fehlverhaltens nicht aus, 1613 um einen verhaltensbedingte ordentliche oder außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Allerdings erachtet das BAG eine Verdachtskündigung unter strengen Anforderungen für gerechtfertigt: • Der Arbeitgeber muss seine Kündigung auf objektive Tatsachen stützen können, aus denen sich unter verständiger Betrachtung der Umstände starke Verdachtsmomente für eine Pflichtwidrigkeit ergeben. Dazu muss der Arbeitgeber mit allen ihm zumutbaren Mitteln versuchen, den Sachverhalt aufzuklären und den Arbeitnehmer zu den Verdachtsmomenten anzuhören. Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer den konkreten Verdacht nennen und ihm Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern. Nach Abschluss seiner eingehenden Untersuchungen muss eine hohe Wahrscheinlichkeit verbleiben (substantiierte Verdachtsmomente), dass der Arbeitnehmer die ihm vorgeworfene Pflichtverletzung tat-

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9 Individualarbeitsrecht

sächlich begangen hat (die bloße Möglichkeit bzw. Vermutung auf der Grundlage diffuser Verdächtigungen reicht gerade nicht aus). • Die Verdachtsmomente müssen zu einer erheblichen Störung im Vertrauensbereich führen und/oder die betrieblichen Interessen des Arbeitgebers erheblich beeinträchtigen. • Der Verdacht muss zudem dringend sein, d. h. es muss eine große Wahrscheinlichkeit für die Verfehlung des Arbeitnehmers sprechen und sie muss auch noch aktuell andauern. • Für die Zukunft müssen aller Wahrscheinlichkeit nach negative Auswirkungen auf den Betrieb zu befürchten sein (Negativprognose). 1614

Steht unter den vorgenannten Prämissen nach der Überzeugung des Arbeitgebers die Verfehlung fest, so kann er eine Verdachtskündigung aussprechen. Sind die Verdachtsmomente so schwerwiegend, dass für den Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar ist, kann die Verdachtskündigung auch als außerordentliche (fristlose) Kündigung erklärt werden. Im Rahmen der Interessenabwägung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist allerdings – ebenso wie bei der außerordentlichen Kündigung – zu fordern, dass die Kündigung nicht anders abwendbar ist (Ultima-ratio-Prinzip) und sie keine überschießende Reaktion auf die Verfehlung des Arbeitnehmers darstellt (Übermaßverbot).

9.7.2.4 Änderungskündigung Von der Kündigung, die das endgültige Beenden des Arbeitsverhältnisses bezweckt, ist die sog. Änderungskündigung zu unterscheiden. Sie zielt nicht auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern auf die Änderung der bisherigen Arbeitsvertragsbedingungen, die der Arbeitgeber nicht mehr gewährleisten kann (z. B. weil er eine Filiale schließen muss). Zwar kündigt der Arbeitgeber das bestehende Arbeitsverhältnis, bietet aber im 1616 Zusammenhang mit der Kündigung sofort die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen an. Die Änderungskündigung setzt sich daher aus zwei Bestandteilen zusammen aus einer Kündigung und aus dem Angebot auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen, d.  h. auf Abschluss eines Änderungsvertrags (§ 311 Abs. 1 BGB). Die Änderungskündigung sowie das damit verbundene Angebote bedürfen der 1617 Schriftform (§ 623 BGB, § 22 Abs. 3 BBiG, § 17 Abs. 2 S. 2 MuSchG). Im Übrigen unterliegt eine Änderungskündigung denselben Voraussetzungen wie eine „normale“ Kündigung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, weshalb Anzeige- und Erlaubnispflichten zu berücksichtigen sind (z.  B.  Integrationsamt), wie auch die Anhörung des Betriebsrats und ggf. der Schwerbehindertenvertretung (§§  102 BetrVG, 178 Abs.  2 SGB IX). Ferner können auch die Beschränkungen des Kündigungsschutzgesetzes gelten. 1615

9.8  Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

9.8

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Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

Der allgemeine Kündigungsschutz, d. h. der Kündigungsschutz, den grundsätzlich 1618 alle Arbeitnehmer – gleich ob jugendlich, schwerbehindert oder schwanger (hierfür gilt darüber hinaus ein Sonderkündigungsschutz) – bei Kündigungen genießen, ist im Kündigungsschutzgesetz (KSchG) geregelt. Er beschränkt die Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers – insbesondere die Möglichkeit zur ordentlichen Kündigung – indem er sie unter besonderen Bedingungen (Abschn. 9.8.1) und Voraussetzungen (Abschn. 9.8.2) stellt.

9.8.1 Anwendbarkeit des KSchG Der Kündigungsschutz kann nur von einem Arbeitnehmer geltend gemacht werden (§ 4 KSchG). Organmitglieder juristischer Personen (z. B. Vorstand, Geschäftsführer) oder zur Vertretung berufene Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft können dagegen keinen Kündigungsschutz in Anspruch nehmen (§ 14 Abs. 1 KSchG), da diese Personengruppen der Arbeitgeberseite zugerechnet werden. Für leitenden Angestellte (§ 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BetrVG; z. B. Prokuristen, Betriebsleiter), die eine Zwischenstellung einnehmen, ist der Kündigungsschutz eingeschränkt (§ 14 Abs. 2 KSchG). Auszubildende sind zwar Arbeitnehmer, allerdings können sie nach der Probezeit nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden (§ 22 Abs. 2 BBiG), weshalb der Kündigungsschutz für sie ebenso wenig Bedeutung erlangt, wie für arbeitnehmerähnliche Personen oder in Heimarbeit Beschäftigte, bei denen Spezialregelungen gelten (vgl. § 29 HAG). Zur Inanspruchnahme des Kündigungsschutzes muss der Arbeitnehmer bei Zugang der Kündigungserklärung länger als sechs Monate im selben Betrieb oder Unternehmen beschäftigt gewesen sein (§  1 Abs.  1 KSchG). Diese gesetzliche Wartezeit von sechs Monaten kann durch Vereinbarung zwischen den Parteien verkürzt werden; ihre Verlängerung ist jedoch nicht zulässig, da es sich bei den Bestimmungen des KSchG um einseitig zwingendes Recht handelt. Nach § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG gilt das KSchG nur für Betriebe und Verwaltungen, die in der Regel mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigen. Die erforderliche Mindestanzahl an Arbeitnehmern im Betrieb – ausschließlich der Auszubildenden – muss 5 bzw. 10 betragen (§ 23 KSchG; Stichtag ist der 31.12.2003 – davor 5, danach 10 Arbeitnehmer); Teilzeitbeschäftigte zählen bis zu 20 Stunden w ­ öchentlich mit 0,5 bis zu 30 Stunden mit 0,75. Hierdurch sind insbesondere Kleinbetriebe (z.  B. kleine Handwerksbetriebe, kleine landwirtschaftliche Betriebe) aus dem Kündigungsschutz herausgenommen. Die Darlegungs- und Beweislast für die persönliche und betriebliche Anwendbarkeit des KSchG trifft den Arbeitnehmer.

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9 Individualarbeitsrecht

9.8.2 Kündigungsgründe und soziale Rechtfertigung 1623

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Eine ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, das unter das KSchG fällt (Abschn.  9.8.1), ist unwirksam, wenn sie nicht sozial gerechtfertigt ist (§  1 Abs. 1 KSchG). Das KSchG stellt allgemein fest, dass eine Kündigung als sozial ungerechtfertigt gilt, wenn sie sich nicht aus Gründen, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder aus dringenden betrieblichen Gründen rechtfertigen lässt (§ 1 Abs. 2 KSchG). Eine sozial ungerechtfertigte Kündigung ist rechtsunwirksam. Die Unwirksamkeit muss der Arbeitnehmer nach § 4 S. 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch Klage feststellen lassen; er wird daher beim Arbeitsgericht Feststellungsklage mit dem Antrag erheben, „dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist“ (§§ 4, 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG). Versäumt der Arbeitgeber diese Frist gilt die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam; eine bestehende Sozialwidrigkeit der Kündigung (§§  1 Abs. 2 und 2 KSchG) sowie alle anderen Unwirksamkeitsgründe (z. B. Willensmängel) würden also rückwirkend geheilt (§ 7 KSchG) und können nicht mehr angegriffen werden. Maßgebliche Beurteilungsgrundlage für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung sind die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung, die allerdings auf das zukunftsbezogene Moment der möglichen Weiterbeschäftigung hin zu interpretieren sind (Prognoseprinzip). Alle nach diesem Zeitpunkt eintretenden Umstände können die Wirksamkeit der Kündigung dagegen nicht mehr beeinflussen. Die Kündigung greift als Mittel zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses immer nur dann durch, wenn der Arbeitgeber nicht in der Lage ist, andere geeignete mildere Mittel (Abmahnung, Versetzung, Änderungskündigung) zur Befriedigung seiner Interessen einzusetzen (Ultima-ratio-Prinzip). Dabei können dem Arbeitgeber jedoch nur solche Mittel zugemutet werden, die zu ergreifen ihm auch rechtlich und tatsächlich möglich sind. Grenzen können sich insoweit aus den kollektiven Absprachen, dem Gesetz oder den Rechten Dritter ergeben. Zu beachten sind weiter die spezifischen gesetzlichen Konkretisierungen des Ultima-Ratio-Prinzips. Solche Konkretisierungen enthält vor allem §  1 KSchG.  Speziell für die betriebsbedingte Kündigung bestimmt §  1 Abs.  2 S.  1 KSchG, dass die betrieblichen Erfordernisse, welche die Kündigung rechtfertigen sollen, dringend sein müssen. In diesem Zusammenhang wird das ­Ultima-­Ratio-­Prinzip beispielsweise weiter dahingehend konkretisiert, dass der Arbeitgeber nach Abwägung aller kollidierenden Interessen vor einer Beendigungskündigung die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens, ggf. nach Änderung der Arbeitsbedingungen oder nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen, in Erwägung zu ziehen hat:

9.8  Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

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• Weiterbeschäftigung in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG): Nach §  1 Abs.  2 S.  1 KSchG müssen die Kündigungsgründe der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers im Betrieb entgegenstehen. Ferner kann der Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1b KSchG verlangen, auf einem anderen freien Arbeitsplatz in demselben oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt zu werden. Als frei sind dabei solche Arbeitsplätze anzusehen, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unbesetzt sind. Ebenso müssen diese freien Arbeitsplätze mit dem alten vergleichbar sein. • Weiterbeschäftigung nach Änderung der Arbeitsbedingungen (§  1 Abs.  2 S. 3 KSchG): Aus dem in § 1 Abs. 2 S. 3 KSchG normierten Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung folgt, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen freien Arbeitsplatz auch dann anbieten muss, wenn dieser geringere Qualifikationen erfordert und infolgedessen der Arbeitnehmer nicht mehr kraft Direktionsrecht, sondern nur im Wege der Änderungskündigung auf diesen Arbeitsplatz versetzt werden kann. Wird dem Arbeitnehmer eine solche Änderungskündigung angeboten, gilt Folgendes: Der Arbeitgeber hat bei den Verhandlungen mit dem Arbeitnehmer eine Überlegungsfrist von einer Woche einzuräumen und muss klarstellen, dass bei Ablehnung des Änderungsangebots eine Beendigungskündigung beabsichtigt ist. Dieses Angebot kann der Arbeitnehmer auch unter einem dem §  2 KSchG entsprechenden Vorbehalt annehmen; der Arbeitgeber muss sodann die Änderungskündigung aussprechen. Lehnt der Arbeitnehmer dagegen die Änderungskündigung vorbehaltlos und endgültig ab, dann muss der Arbeitgeber eine Beendigungskündigung aussprechen. • Weiterbeschäftigung nach Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen: Im Einzelfall kann der Arbeitgeber dazu verpflichtet sein, zur Vermeidung einer Beendigungskündigung den betroffenen Arbeitnehmer an Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen zu beteiligen (§ 1 Abs. 2 S. 3 KSchG). Das Ausmaß der dem Arbeitgeber zumutbaren betrieblichen und wirtschaftlichen Anstrengungen hängt u. a. von der Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers und der Erfolgsaussicht der Maßnahme ab.

9.8.2.1 Betriebsbedingte Kündigung Grundlage einer betriebsbedingten Kündigung ist eine unternehmerische Ent- 1628 scheidung, die in einer freiheitlich verfassten Rechtsordnung dem Arbeitgeber vorbehalten bleibt (Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG). Es ist seine verfassungsrechtlich garantierte Entscheidung, sein Unternehmen wirtschaftlich zu verändern oder es neu auszurichten, wozu mitunter auch die Entlassung von Mitarbeitern gehören kann; die unternehmenspolitische Entscheidung als solche ist dem Kündigungsschutz entzogen. Die Kündigung als Folge der unternehmerischen Entscheidung dagegen nicht, 1629 weshalb das KSchG sie unter besondere Voraussetzungen stellt (§ 1 Abs. 3 KSchG). Danach ist eine betriebsbedingte Kündigung, die der Weiterbeschäftigung eines

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9 Individualarbeitsrecht

Arbeitnehmers entgegensteht, nicht per se sozialwidrig. Sie wird es aber, wenn keine dringenden betrieblichen Gründe existieren, die Entlassung daher willkürlich geschieht oder sich nur auf Mutmaßungen zu künftigen Entwicklungen stützt, die jeder sachlichen Basis entbehren. Mit dem Regulativ des § 1 Abs. 3 KSchG soll u. a. verhindert werden, dass irgendwelche Gründe vorgeschoben werden, um unliebsame Arbeitnehmer zu entfernen. Ferner, dass im Falle einer nachvollziehbaren unternehmerischen Entscheidung zumindest eine Sozialauswahl stattfindet, d. h. bei mehreren zu entlassenden sowie vergleichbaren Personen nur diejenigen entlassen werden, die am wenigsten sozial schutzbedürftig sind. 1630 Von einer betriebsbedingten Kündigung i. S. d. § 1 Abs. 3 KSchG ist auszugehen, wenn • der Arbeitgeber aufgrund tatsächlich vorliegender innerbetrieblicher Ursachen wie Rationalisierung, Produktionseinschränkungen oder außerbetrieblichen Gründen wie Abbau von Hierarchieebenen („lean management“), Betriebsstillegung, Auftragsrückgang oder Ausbleiben von Krediten eine unternehmerische Entscheidung trifft, • aufgrund dessen Beschäftigungsmöglichkeiten zumindest in ihrer bisherigen Ausgestaltung dauerhaft wegfallen und • der Arbeitnehmer weder auf einem anderen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann (§ 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG) noch sonstige mildere Maßnahmen statt der Kündigung möglich sind. Soll von mehreren Arbeitnehmern, die unter betrieblichen Gesichtspunkten gleichermaßen für eine Kündigung in Betracht kommen, nur einem oder einigen gekündigt werden, so muss die Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen (sog. Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG). Die Sozialauswahl stellt die personelle Konkretisierung der betriebsbedingten Kündigung unter sozialen Gesichtspunkten dar. Die Sozialauswahl erfolgt in drei Schritten (Abb.  9.2). Als erstes wird der Kreis der Arbeitnehmer ermittelt, die an sich in die Sozialauswahl einzubeziehen sind. Sodann sind aus diesem Kreis anhand der vier gesetzlichen Merkmale der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung die Personen zu bestimmen, die der Verlust des Arbeitsplatzes am wenigsten hart trifft; unbillige Härten werden ebenfalls berücksichtigt. Zumeist wird hierfür ein Punktesystem eingesetzt, um eine Gewichtung der Kriterien zu ermöglichen. Die ausgewählten Arbeitnehmer müssen jedoch nicht entlassen werden, wenn schließlich ihre Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen Interesse des Unternehmens liegt; hier können einzelne besonders leistungsfähige Arbeitnehmer oder solche mit Schlüsselfunktionen wieder herausgenommen werden; ebenfalls kann der Erhalt einer ausgewogenen Personalstruktur die Entscheidung am Ende noch beeinflussen (§ 1 Abs. 3 S. 2 KSchG). 1632 Die Sozialauswahl erstreckt sich dabei immer nur auf den Betrieb, also nicht auf das Unternehmen oder gar den Konzern (z. B. in der jeweiligen Filiale eines Unternehmens), und innerhalb des Betriebs nur auf solche Arbeitnehmer, die nach arbeits1631

9.8  Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

643

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Abb. 9.2 Sozialauswahl

platzbezogenen Merkmalen aufgrund ihrer Fähigkeiten, Qualifikationen und Kenntnisse miteinander vergleichbar, d.  h. gegenseitig austauschbar sind (sog. Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer). Sofern Arbeitnehmer einen besonderen Kündigungsschutz genießen (z. B. Betriebsratsmitglieder nach § 15 KSchG), dürfen sie trotz Vergleichbarkeit nicht in die Sozialauswahl einbezogen werden. Beispiel

Im Betrieb sind eine 4 Sekretärinnen, 8 kaufmännische Angestellte, 12 Feinmechaniker und 5 Mechaniker beschäftigt. Sollen nun Mitarbeiter entlassen werden, können für die Sozialauswahl die 17 Mechaniker zusammen betrachtet ­werden, da sie von ihren Fähigkeiten und ihrer Qualifikation vergleichbar und daher austauschbar sind. Wäre beispielsweise ein Feinmechaniker Betriebsratsmitglied, müsste er  – bevor die Auswahl beginnt – aus der Gruppe der Mechaniker herausgenommen werden. ◄ Den Tarif- und Betriebsparteien steht es nach dem Gesetz frei, die Kriterien der 1633 Sozialauswahl in ihren kollektiven Vereinbarungen zu beschränken und zu gewichten (§§  95 Abs.  1 und  2, 77 BetrVG), weshalb sich in der Praxis Betriebsvereinbarungen für Sozialpläne finden (§§ 112, 95 Abs. 1 BetrVG), in welchen Tabellen mit Punktwerten für die maßgeblichen Sozialdaten hinterlegt sind (z. B. kann bestimmt werden, dass die Betriebszugehörigkeit pro Jahr mit 1 Punkt bewertet

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9 Individualarbeitsrecht

wird, während die Unterhaltspflichten jeweils mit drei Punkten veranschlagt werden, usw.). Diese Tabellen bilden dann die verpflichtende Basis für die Sozialauswahl. 1634 Beruft sich ein Arbeitnehmer auf die Rechtswidrigkeit der zugrunde liegenden Sozialauswahl, so trifft ihn die Beweislast (§ 1 Abs. 3 S. 3 KSchG). Nur im Rahmen der betriebsbedingten Kündigung ist ein Abfindungsanspruch 1635 vorgesehen (§ 1a KSchG). Er kommt zum Tragen, wenn der Arbeitnehmer keine Feststellungsklage erhebt. Ein entsprechendes Angebot kann der Arbeitgeber mit der Kündigungserklärung verbinden („Abkauf der Klagemöglichkeit“). Die Höhe der anzubietenden Abfindung ist gesetzlich in § 1a Abs. 2 KSchG festgelegt. Sie beträgt 0,5 Monatsverdienste für jedes Jahr des Bestehens des Arbeitsverhältnisses.

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9.8.2.2 Personenbedingte Kündigung Eine Kündigung kann ihre Ursache in der Person des Arbeitnehmers haben, wenn dieser aus persönlichen Gründen nicht bzw. nicht mehr in der Lage ist, seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß zu erfüllen (z. B. dauerhafte Krankheit; Entzug einer Qualifikation; Straffälligkeit). Als personenbedingte Kündigungsgründe kommen nur Umstände in Betracht, die aus der Sphäre des Arbeitnehmers stammen. Dies sind regelmäßig solche, die auf die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Arbeitnehmers zurückzuführen sind. Durch die Person des Arbeitnehmers wird eine Kündigung nur dann „bedingt“, wenn erhebliche vertragliche oder betriebliche Interessen die Kündigung auch erfordern, d. h. es müssen konkrete negative Auswirkungen für den Betrieb feststellbar sein, wenn an dem Arbeitnehmer weiterhin festgehalten wird (Negativprognose). Denn Zweck der personenbedingten Kündigung ist nicht die Sanktion des Arbeitnehmers, sondern die Bewahrung des Arbeitgebers vor zukünftigen unzumutbaren Belastungen. Die Negativprognose setzt eine konkrete, auf das Arbeitsverhältnis bezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen voraus. Dabei sind arbeitsverhältnisbezogene Umstände stets zu berücksichtigen. Die Einschränkung der Eignung und Fähigkeit zur Erbringung der Arbeitsleistung kann auf betriebliche Umstände zurückzuführen sein (z. B. wegen eines Arbeitsunfalls) oder sich als n­ ormale Folge des Alters oder einer jahrelangen Tätigkeit im Betrieb erweisen, was hinzunehmen wäre und eine Kündigung eben nicht rechtfertigen würde. Was der Arbeitgeber an personenbedingten Beschränkungen hinzunehmen hat, richtet sich u. a. nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers und dem bisherigen Verlauf des Arbeitsverhältnisses. Je länger das Arbeitsverhältnis fehlerfrei verlaufen ist, umso größer muss das Ausmaß der betrieblichen Belastungen sein, damit die Interessenabwägung letztlich zugunsten des Arbeitgebers und zulasten des Arbeitnehmers ausfällt. Umgekehrt genügen bei kürzeren und von Anfang an schon mit Fehlzeiten belasteten Arbeitsverhältnissen weitaus geringere betriebliche Belastungen zur Rechtfertigung einer personenbedingten Kündigung. Auch bei der personenbedingten Kündigung ist zu berücksichtigen, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn dem Arbeitgeber zur Verfolgung seiner vertraglichen oder betrieblichen Interessen keine milderen Mittel zur Verfügung stehen. Auch hier

9.8  Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

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kann also eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien Arbeitsplatz, unter Umständen nach Änderung der Arbeitsbedingungen oder Umschulung, in Betracht kommen, um das Beenden des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Es gibt eine Reihe von personenbedingten Kündigungsgründen  – einige 1641 davon sollen nachfolgend etwas näher betrachtet werden: Die krankheitsbedingte Kündigung ist der Hauptanwendungsfall der personen- 1642 bedingten Kündigung. Von einer krankheitsbedingten Kündigung ist die Rede, wenn die Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen, dauernder Arbeitsunfähigkeit, krankheitsbedingter Leistungsminderung oder langanhaltenden Erkrankungen ausgesprochen wird. Für eine solche krankheitsbedingte Kündigung gelten die oben angeführten Prüfungskriterien, die allerdings von der Rechtsprechung weiter konkretisiert wurden: • Danach ist zunächst eine negative Gesundheitsprognose erforderlich, wonach im Zeitpunkt der Kündigung objektive Tatsachen vorliegen müssen, welche die Besorgnis weiterer Erkrankungen bzw. Ausfälle im bisherigen Umfang vermuten lassen. • Überdies müssen Ausfälle (z. B. Fehlzeiten) vorliegen, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen (Betriebsablaufstörungen, wie Stillstand von Maschinen, Rückgang der Produktion wegen erst einzuarbeitenden Personals, Überlastung des verbleibenden Personals oder Abzug von an sich an anderer Stelle benötigten Arbeitskräften) oder wirtschaftlichen Interessen (außergewöhnliche bzw. extrem hohe Lohnfortzahlungskosten) führen. Eine erhebliche betriebliche Belastung sieht die Rechtsprechung schon darin begründet, dass der Arbeitgeber auf unabsehbare Zeit daran gehindert ist, sein Direktionsrecht auszuüben. Bei einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit muss keine weitere Beeinträchtigung betrieblicher oder wirtschaftlicher Interessen dargetan werden, sie ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass der Arbeitnehmer seiner Tätigkeit nicht mehr nachkommt. • Die erheblichen Störungen dürfen nicht durch mildere Mittel behebbar sein (z.  B. Überbrückungsmaßnahmen; Einstellung von Aushilfskräften; aber auch die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz, an dem nicht mit ­Vertragsstörungen gerechnet werden muss, ggf. nach zumutbaren Fortbildungen oder Umschulungen). • Abschließend ist aufgrund einer Interessenabwägung zu entscheiden, ob die erheblichen Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber noch hingenommen werden müssen oder ob bereits ein solches Ausmaß erreicht ist, dass es dem Arbeitgeber nicht mehr zumutbar ist, am Arbeitnehmer festzuhalten, z. B. auch, weil Überbrückungsmaßnahmen redlicher Weise nicht mehr verlangt werden können.

Beispiel

Das BAG hat die Kündigung wegen krankheitsbedingter Leistungsminderung einer schwerbehinderten, langjährigen Mitarbeiterin bejaht, die nach objektiver Feststellung nur noch zwei Drittel der Normalleistung zu erbringen imstande war.

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9 Individualarbeitsrecht

In einem weiteren Fall hat das BAG bei einem seit eineinhalb Jahren erkrankten Arbeitnehmer, dessen gesundheitliche Wiederherstellung völlig ungewiss war, die Kündigung bejaht, weil nach langer Krankheit diese Ungewissheit wie eine feststehende dauernde Arbeitsunfähigkeit gewertet werden könne, mit der weiteren Konsequenz, dass allein aus diesem Umstand schon eine kündigungsbegründende Beeinträchtigung betrieblicher Interessen folgt (BAG NZA 2007, 1041). ◄ 1643

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Eine Kündigung wegen Alkohol- oder Drogenkonsums ist nur unter den Voraussetzungen der krankheitsbedingten Kündigung zulässig. Eine Suchterkrankung legitimiert jedenfalls die personenbezogene Kündigung, wenn der Betroffene infolge der Sucht eine erhebliche Gefährdung für sich und andere Kollegen im Betrieb darstellt. Eine Kündigung allein wegen des Erreichens einer bestimmten Altersgrenze verstößt gegen §  7 Abs.  1 AGG.  Erst wenn weitere Bedingungen hinzutreten, z. B. die fehlende persönliche Eignung aufgrund körperlicher Gebrechen, kann eine personenbedingte Kündigung gerechtfertigt sein (z. B. ein Pilot verliert seine Sehkraft; Berufskraftfahrer verliert mangels Reaktionsvermögen seine Fahrerlaubnis). Familienverhältnisse (Eheschließung oder -scheidung) gehen den Arbeitgeber nichts an und können daher außerhalb kirchlicher Einrichtungen die Kündigung nicht rechtfertigen. In kirchlichen Einrichtungen kann dies ausnahmsweise als sog. Loyalitätsverstoß zur Kündigung führen. Auch bei einem Ehegattenarbeitsverhältnis gewährt das Scheitern der Ehe weder einen personen- noch verhaltensbedingten Kündigungsgrund. In sicherheitsrelevanten Bereichen kann eine personenbezogene Kündigung gerechtfertigt sein, wenn schwerwiegende Sicherheitsbedenken gegen den Arbeitnehmer bestehen. Dabei muss die vom Arbeitnehmer ausgehende Gefahr für die Sicherheit konkret feststellbar sein (z. B. ein als „Gefährder“ eingestufter Arbeitnehmer arbeitet in einem Atomkraftwerk). Außerdienstliche Straftaten können personenbedingter Kündigungsgrund sein, wenn der Arbeitnehmer seine Eignung für die vertraglich geschuldete ­Tätigkeit verliert (z. B. Straßenverkehrsdelikte bei Kraftfahrern, Verstöße gegen das Betäubungsmittelrecht oder Sittlichkeitsdelikte bei Lehrern und Erziehern). Beispiel

Der Kassierer einer Bank begeht außerdienstlich einen Betrug, eine Urkundenfälschung oder eine Unterschlagung. ◄

9.8.2.3 Verhaltensbedingte Kündigung Nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG kann auch das Verhalten des Arbeitnehmers eine Kündigung rechtfertigen. Hier sind in erster Linie erhebliche Vertragsverletzungen des Arbeitnehmers zu nennen, die im Allgemeinen schuldhaft herbeigeführt sein müssen. Verhaltensbedingte Kündigungsgründe ergeben sich daher in der Regel aus der 1649 Verletzung vertraglicher Haupt- oder Nebenleistungspflichten durch den Arbeitnehmer, u. a. 1648

9.8  Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

647

• Arbeitsverweigerung: Ein häufiger Grund für die verhaltensbedingte Kündigung ist die beharrliche Arbeitsverweigerung. Sie kommt in Betracht, wenn der Arbeitnehmer die ihm übertragene Tätigkeit bewusst und nachhaltig nicht leisten will. Beharrlichkeit setzt nicht notwendigerweise wiederholte Pflichtverletzung des Arbeitnehmers voraus. Auch die einmalige Vertragsverletzung kann bereits das Merkmal der Beharrlichkeit erfüllen, wenn daraus der Wille des Arbeitnehmers erkennbar wird, seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nicht mehr nachkommen zu wollen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Verweigerung der Ableistung von Überstunden oder Sonntagsarbeit. Sie rechtfertigen eine Kündigung jedenfalls dann nicht, wenn ihre Anordnung gegen öffentlich-rechtliche Bestimmungen verstieße (z. B. gegen Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes oder der Gewerbeordnung). Auch ansonsten kann der Arbeitnehmer die Arbeiten verweigern, die ihm unter Überschreitung des Direktionsrechts zugewiesen wurden oder die für ihn unzumutbar sind (z. B. direkte Streikarbeit). • Eigenmächtiger Urlaubsantritt oder -verlängerung: Kündigungsrelevant ist ferner der eigenmächtige Urlaubsantritt; hier ist sogar die Abmahnung (s. u.) zumeist entbehrlich, weil der Arbeitnehmer angesichts der eindeutigen Regelung des § 7 Abs. 1 BUrlG nicht damit rechnen kann, dass der Arbeitgeber sein Verhalten duldet. Dasselbe gilt natürlich für die eigenmächtige Verlängerung eines gewährten Urlaubs, ebenso wie für den nicht rechtzeitigen Wiederantritt der Arbeit nach Ablauf einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. • Arbeitsbummelei: Auch die Schlechtleistung und häufiges „zu spät kommen“ rechtfertigen die verhaltensbedingte Kündigung. • Abkehrwille des Arbeitnehmers: Der Abkehrwille eines Arbeitnehmers ist aufgrund des Grundrechts auf freie Berufswahl (Art. 12 GG) für sich allein nicht kündigungsrelevant. Anderes kann jedoch gelten, wenn der Arbeitnehmer bereits während seiner Tätigkeit konkrete Beziehungen zu einem neuen Arbeitgeber aufbaut, der überdies Inhaber eines Konkurrenzunternehmens ist. • Verstoß gegen ein Alkoholverbot: Der Alkoholgenuss während der Arbeitszeit trotz eines bestehenden Alkoholverbots kann je nach den Umständen des Einzelfalles ein Kündigungsgrund sein. So gibt es Betriebe oder Tätigkeiten, bei denen das Alkoholverbot streng zu handhaben ist (wie etwa bei Kraftfahrern, Gerüstbauern, Chirurgen etc.), bei anderen wiederum ist der „maßvolle“ Alkoholgenuss während der Arbeit sogar branchenüblich (z.  B.  Weinverkäufer, Lebensmittelprüfer). • Anzeigen gegen den Arbeitgeber: Anzeigen gegen den Arbeitgeber rechtfertigen eine Kündigung nicht, wenn ein rechtlicher Grund für diese Anzeige vorliegt und der Arbeitnehmer lediglich Gesundheits- und Sicherheitsrisiken für Dritte vermeiden wollte (z. B. zulässiges Whistleblowing; Anzeige mangelnder Vorkehrungen zur Arbeitssicherheit). Anderes gilt allerdings, wenn die Anzeige grundlos gestellt wurde, um den Arbeitgeber zu verärgern. • Beleidigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten: Beleidigungen, Bedrohungen und Tätlichkeiten gegen den Arbeitgeber, den Vorgesetzten und gegen Kollegen

648

9 Individualarbeitsrecht

rechtfertigen die ordentliche Kündigung, wenn sie geeignet sind, den Betriebsfrieden zu stören. • Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen: Eine zur Kündigung berechtigende Verletzung von Nebenpflichten liegt in der Regel in dem Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen. • Verletzung von Anzeige- und Nebenpflichten: Die Verletzung von betrieblich veranlassten Anzeigepflichten (z. B. Wartungsbedürftigkeit von Anlagen) oder Informationspflichten (z. B. wiederholt unterlassene Anzeige einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit) kann eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen. • Annahme von Schmiergeldern und Straftaten: Die Annahme von Schmiergeldern ist ebenso kündigungsrelevant wie Straftaten, die im Dienst begangen wurden (z.  B.  Diebstahl, Unterschlagungen, Spesenbetrug). Straftaten im außerdienstlichen Bereich sind unter dem Gesichtspunkt der verhaltensbedingten Kündigung irrelevant; sie rechtfertigen allenfalls eine personenbedingte Kündigung (s. o.).

1650

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Bezüglich des Vorliegens eines verhaltensbedingten Kündigungsgrunds ist nicht alleine die subjektive Einschätzung des Arbeitgebers oder dessen Befürchtung ausschlaggebend, dass es womöglich zu Vertragsverletzungen kommen wird, sondern es müssen konkrete objektive Tatsachen vorliegen, die eine Arbeitspflichtverletzung tatsächlich annehmen lassen. Das Prognoseprinzip erfordert auch bei der verhaltensbedingten Kündigung eine negative Prognose, d. h. das Risiko weiterer Vertragsverletzungen muss das Vertragsverhältnis auch in Zukunft derart belasten, dass eine gedeihliche Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen erscheint. Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn bereits eine Abmahnung erfolgt ist, sich das Verhalten allerdings nicht geändert hat. Auch die verhaltensbedingte Kündigung ist das letzte Mittel zur Vermeidung künftiger Vertragsverletzungen, weshalb einer Kündigung aus Verhaltensgründen regelmäßig eine Abmahnung vorausgegangen sein muss (vgl. § 314 Abs. 2 BGB; Ultima-ratio-Prinzip). Eine bestimmte Anzahl von vorausgehenden Abmahnungen wird allerdings nicht gefordert, sodass in der Regel schon eine Abmahnung ausreichend ist. Die Abmahnung setzt voraus, dass der Arbeitgeber hinreichend deutlich macht, dass er ein bestimmtes Fehlverhalten beanstandet und mit seiner Beanstandung den Hinweis verbindet, dass im Wiederholungsfalle der Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdet ist. Nur dann erfüllt die Abmahnung ihre Warn- und Ankündigungsfunktion. Ganz ausnahmsweise kann die Abmahnung entbehrlich sein, wenn eine Verhaltensänderung des Arbeitnehmers objektiv nicht möglich ist oder die Verhaltenskorrektur nicht erwartet werden kann (z. B. krankhafte Störung, triebhaftes Stehlen, entsprechende Äußerung des Arbeitnehmers). Ebenso wie bei den anderen Kündigungsgründen erfordert auch die verhaltensbedingte Kündigung eine Interessenabwägung zwischen den widerstreitenden In-

9.8  Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz

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teressen des Arbeitgebers und Arbeitnehmers sowie die Feststellung, dass eine Weiterbeschäftigung nicht möglich ist, weil dem Arbeitgeber zur Verfolgung seiner betrieblichen und vertraglichen Interessen keine milderen Mittel zur Verfügung stehen. Abwägungsleitend sind u. a. Intensität und Beharrlichkeit der Vertragsverletzung, Verschulden des Arbeitnehmers, Aufrechterhalten des Betriebsfriedens, Ruf des Unternehmens, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten, ggf. Mitverschulden des Arbeitgebers (insbesondere Duldung der Handlungen in der Vergangenheit). 2UGHQWOLFKH.QGLJXQJ 7HLOYRQ  3HUVRQHQEHGLQJWH.QGLJXQJ *UXQG (UKHEOLFKH%HHLQWUlFKWLJXQJGHUEHWULHEOLFKHQ,QWHUHVVHQGXUFKHLQHGHP$UEHLWQHKPHUQLFKW YRUZHUIEDUH9HUWUDJVVW|UXQJ ]%NUDQNKHLWVEHGLQJWH/HLVWXQJVPLQGHUXQJ 3URJQRVH 9HUWUDJVVW|UXQJDXFKLQGHU=XNXQIW]XEHIUFKWHQ 8OWLPD5DWLR 9HUVHW]XQJDXIHLQHQ IUHLHQ $UEHLWVSODW]EHLGHPQLFKWPLW9HUWUDJVVW|UXQJHQ]XUHFKQHQLVW± JJIQDFK]XPXWEDUHU)RUWELOGXQJRGHU8PVFKXOXQJRGHU]XJHlQGHUWHQ9HUWUDJVEHGLQJXQJHQ ,QWHUHVVHQDEZlJXQJ 8UVDFKHXQG$XVPD‰GHU6W|UXQJYVVW|UXQJVIUHLHU9HUODXIGHV$UEHLWVYHUKlOWQLVVHV/HEHQVXQG 'LHQVWDOWHU8QWHUKDOWVSIOLFKWHQ

Ordentliche Kündigung I

2UGHQWOLFKH.QGLJXQJ 7HLOYRQ  9HUKDOWHQVEHGLQJWH.QGLJXQJ *UXQG 'HP$UEHLWQHKPHUYRUZHUIEDUH9HUWUDJVYHUOHW]XQJ ]%SHUPDQHQWHV=XVSlWNRPPHQ 3URJQRVH :LHGHUKROXQJVJHIDKURGHU6W|UXQJGHV9HUWUDXHQVYHUKlOWQLVVHV QHJDWLYH3URJQRVH 8OWLPD5DWLR x $EPDKQXQJ x .U]XQJIUHLZLOOLJHU/HLVWXQJHQ x 9HUVHW]XQJDXIHLQHQDQGHUHQ IUHLHQ $UEHLWVSODW]DXIGHPQLFKWPLW9HUWUDJVYHUOHW]XQJHQ ]XUHFKQHQLVW ,QWHUHVVHQDEZlJXQJ 8UVDFKHXQG6FKZHUHGHU9HUWUDJVYHUOHW]XQJYV)ROJHQGHU9HUWUDJVYHUOHW]XQJVW|UXQJVIUHLHU 9HUODXIGHV$UEHLWVYHUKlOWQLVVHV/HEHQVXQG'LHQVWDOWHU8QWHUKDOWVSIOLFKWHQ

Ordentliche Kündigung II

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9 Individualarbeitsrecht

2UGHQWOLFKH.QGLJXQJ 7HLOYRQ  %HWULHEVEHGLQJWH.QGLJXQJ *UXQG 8QWHUQHKPHULVFKH(QWVFKHLGXQJDXIJUXQGGHUHUGHU$UEHLWQHKPHUQLFKWPHKUYHUWUDJVJHUHFKW HLQJHVHW]WZHUGHQNDQQ ]%$EEDXYRQ$UEHLWVSOlW]HQZHJHQ$XIWUDJVPDQJHO 3URJQRVH (LQVDW]IlKLJNHLWHQWIlOOWDXI'DXHURGHUIUQLFKWDEVHKEDUH=HLW 8OWLPD5DWLR x $EEDXYRQhEHUVWXQGHQXQG/HLKDUEHLW x =XZHLVXQJHLQHVDQGHUHQIUHLHQ$UEHLWVSODW]HVJJIQDFK]XPXWEDUHU)RUWELOGXQJ RGHU 8PVFKXOXQJRGHU]XJHlQGHUWHQ9HUWUDJVELQGXQJHQ ,QWHUHVVHQDEZlJXQJ 6R]LDODXVZDKO HUVHW]WGLH,QWHUHVVHQDEZlJXQJ  x 9HUJOHLFKVJUXSSHELOGHQGHQVR]LDODPZHQLJVWHQ6FKXW]ZUGLJHQDXVZlKOHQ x $UEHLWQHKPHUKHUDXVQHKPHQGHUHQ:HLWHUEHVFKlIWLJXQJLPEHUHFKWLJWHQEHWULHEOLFKHQ ,QWHUHVVHOLHJW

Ordentliche Kündigung III

9.8.3 Massenentlassungen 1653

Will ein Arbeitgeber, der in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmer beschäftigt, innerhalb von 30 Kalendertagen eine größere Anzahl von Arbeitnehmern entlassen (mehr als 5), muss er das dem Arbeitsamt unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates anzeigen (§ 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG). Die Anzeige setzt dann eine Sperrfrist für die vorgesehenen Kündigungen in Lauf, die regelmäßig einen Monat beträgt. Innerhalb der Sperrfrist ausgesprochene Kündigungen – ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit – sind unwirksam, § 18 Abs.  1 KSchG.  Der Zweck des Gesetzes geht dahin, den Arbeitsämtern Zeit zu lassen, sich auf die größere Vermittlungstätigkeit einzustellen.

9.8.4 Betriebsübergang Nach §  613a Abs.  4 BGB gelten besondere Regelungen zum Kündigungsschutz beim Betriebsübergang. Dadurch wird gewährleistet, dass ein Arbeitgeber beim Verkauf des Betriebs nicht die Gelegenheit nutzt, Mitarbeiter loszuwerden, schlechter zu stellen und sich somit auf deren Kosten einen Vorteil zu verschaffen. 1655 Ein Betriebsübergang liegt vor, wenn die für den Betrieb verantwortliche natürliche oder juristische Person, die die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt und die in Rede stehende Einheit nach der Übernahme durch den neuen Inhaber ihre Identität 1654

9.9 Kündigungsschutz für bestimmte Arbeitnehmergruppen

651

bewahrt. Gemeint ist der Übergang eines Betriebes oder Betriebsteiles auf einen neuen Inhaber. Wird ein Betrieb übernommen, gehen die mit dem alten Betriebsinhaber be- 1656 gründeten Arbeitsverhältnisse vollständig auf den neuen Inhaber über (§  613a Abs. 1 Satz 1 BGB), es sei denn, dass der Arbeitnehmer dem Übergang ausdrücklich widerspricht (§ 613a Abs. 6 BGB). Die Überleitung umfasst alle Rechte und Pflichten, d. h. alle bestehenden Ansprüche (z. B. Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz) sowie die Rechte und Pflichten aus Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen (sog. Transformation aller Kollektivbedingungen). Dieser Schutz wird durch die Vorschrift des § 613a Abs. 1 S. 4 BGB ein Stück weit relativiert, da vor Ablauf einer Einjahresfrist Rechte und Pflichten der Parteien abgeändert werden können, wenn die zugrunde liegende kollektive Regelung nicht mehr gilt oder die Anwendung eines anderen Tarifvertrags vereinbart wird. Um das Widerspruchsrecht ausüben zu können, muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer schriftlich (Textform genügt) sowie in verständlicher Form über die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Betriebsübergangs informieren. Danach hat der Arbeitnehmer die Möglichkeit, binnen eines Monats nach Mitteilung der Überleitung seines Arbeitsverhältnisses auf den neuen Inhaber zu widersprechen. Übt er das Widerspruchsrecht aus, besteht das Arbeitsverhältnis zum alten Arbeitgeber bis auf Weiteres fort, wenngleich der Arbeitnehmer sodann mit einer betriebsbedingten Kündigung seines alten Arbeitgebers rechnen muss. Ferner kann der Bezug des Arbeitslosengeldes gesperrt sein, wenn er ohne nachvollziehbare Begründung der Überleitung des Arbeitsverhältnisses widerspricht. Wegen eines Betriebsübergangs darf ein Arbeitsverhältnis nicht gekündigt wer- 1657 den (§ 613a Abs. 4 S. 1 BGB). Zulässig bleibt freilich eine Kündigung aus anderen Gründen, die zufällig mit dem Betriebsübergang zusammenfallen (§ 613a Abs. 4 S. 2 BGB), wobei in der Gesamtschau der Betriebsübergang nicht der tatsächliche Beweggrund, d. h. die überwiegende Ursache für die Kündigung sein darf.

9.9

 ündigungsschutz für bestimmte K Arbeitnehmergruppen

Nach § 17 Abs. 1 S. 1 MutterschutzG ist die Kündigung einer Frau während der 1658 Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung grundsätzlich unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. § 17 Abs. 2 MuSchG macht von dem allgemeinen Kündigungsverbot nur dann eine Ausnahme, wenn die zuständige Behörde vor Ausspruch der Kündigung diese für zulässig erklärt hat. Nach § 18 BEEG darf der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ab dem Zeitpunkt, 1659 von dem an Erziehungsurlaub/Elternzeit verlangt worden ist, höchstens jedoch acht Wochen vor Beginn des Erziehungsurlaubs, und während des Erziehungsurlaubs nicht kündigen. Die zuständige Behörde kann Ausnahmen zulassen. Der

652

9 Individualarbeitsrecht

Kündigungsschutz nach § 18 BEEG ist dem des § 17 MuSchG angeglichen. Dennoch müssen beide Verfahren auseinander gehalten werden; sie können unter Umständen verschiedene Personen betreffen (z.  B. wenn der Vater in Erziehungsurlaub geht). 1660 Gegenüber einem Schwerbehinderten, dessen Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate besteht, kann eine Kündigung grundsätzlich nur mit vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes ausgesprochen werden (§§ 168 ff. SGB IX). Gegen die Entscheidung des Integrationsamtes steht der Verwaltungsrechtsweg offen. 1661 Mitglieder des Betriebsrates, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, des Wahlvorstandes sowie Wahlbewerber genießen einen besonderen Kündigungsschutz. So ist eine Kündigung gegenüber Mitgliedern des Betriebsrates sowie der Jugend- und Auszubildendenvertretung während ihrer Amtszeit und innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Amtszeit unzulässig (§ 15 Abs. 1 KSchG). Eine außerordentliche Kündigung wird durch das KSchG nicht verboten. Sie bedarf aber zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung des Betriebsrates nach § 103 BetrVG. 1662 Durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder durch den Arbeitsvertrag kann bestimmt werden, dass für langfristig beschäftigte Arbeitnehmer die ordentliche Kündigung ausgeschlossen ist. Fragen

12. Beschreiben Sie die zentralen Unterschiede zwischen der außerordentlichen und der ordentlichen Kündigung.

9.10 Pflichten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses 1663

Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist auf das Erlöschen der Hauptleistungspflichten aus § 611a BGB gerichtet. Allerdings entstehen für die Parteien mitunter weitere Pflichten, die insbesondere die Abwicklung des Arbeitsverhältnisses begleiten.

9.10.1 Pflichten des Arbeitgebers 1664

Ist die Beendigung des Arbeitsverhältnisses absehbar, so hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer noch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses hinreichend Freizeit zur Stellensuche einzuräumen, um dem Arbeitnehmer eine möglichst nahtlose Anschlussbeschäftigung zu ermöglichen; darauf hat der Arbeitnehmer einen Anspruch (§ 629 BGB). Voraussetzung des Freistellungsanspruchs ist, dass ein dauerndes Dienstverhältnis gekündigt wurde und der Berechtigte die Gewährung von Freizeit zur Stellensuche verlangt hat. Wird der Vertrag auf andere Weise als durch Kündigung beendet, entsteht der Anspruch zu dem Zeitpunkt, an dem das Dienstverhältnis hätte gekündigt werden müssen, um zum vereinbarten Termin beendet zu werden.

9.10  Pflichten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses

653

Der Arbeitnehmer muss allerdings die Freizeitgewährung ausdrücklich verlangen, er darf nicht von sich aus der Arbeit fernbleiben. Andererseits ist der Arbeitgeber in aller Regel dazu verpflichtet, den Arbeitnehmer zu dem von ihm konkret gewünschten Zeitpunkt  – etwa zum Vorstellungstermin beim potenziellen neuen Arbeitgeber – freizustellen. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses (schon mit Zugang der Kündigungs- 1665 erklärung) kann der Arbeitnehmer gem. § 109 Abs. S. 1 GewO vom Arbeitgeber ein schriftliches Zeugnis über das Dienstverhältnis und dessen Dauer fordern (einfaches Zeugnis, § 109 Abs. 1 S. 2 GewO), das auf Verlangen auf die Leistungen und die Führung im Dienst zu erstrecken ist (qualifiziertes Zeugnis, § 109 Abs. 1 S. 3 GewO). Für Auszubildende ergibt sich ein entsprechender Anspruch aus § 16 BBiG. Das Zeugnis ist schriftlich zu erteilen und muss zwar nicht vom Arbeitgeber persönlich (bzw. einem Mitglied des vertretungsberechtigten Organs), aber von einer Person unterzeichnet werden, die in der Unternehmenshierarchie erkennbar über dem Arbeitnehmer angesiedelt ist. • Einfaches Zeugnis: Das einfache Zeugnis enthält neben den Personaldaten des Arbeitnehmers eine vollständige und genaue Tätigkeitsbeschreibung. Kürzere Unterbrechungen (Krankheit, Urlaub, Streik) werden nicht erwähnt; anders aber längere Unterbrechungen, etwa wegen eines Wehr- oder Ersatzdiensts. Grund und Art des Ausscheidens dürfen gegen den Willen des Arbeitnehmers aus dem Zeugnis nicht ersichtlich sein. Allerdings ist ein „krummes“ Beendigungsdatum ein sicherer Hinweis auf eine fristlose Kündigung. • Qualifiziertes Zeugnis: Auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber ein qualifiziertes Zeugnis zu erstellen, das neben der Tätigkeitsbeschreibung Aussagen zu Führung und Leistung enthält (§  109 Abs.  1 S.  3 GewO). Der Arbeitgeber soll hierbei die wesentlichen Charaktereigenschaften und Persönlichkeitszüge ansprechen und Stellung zu der Art und Weise, wie der Arbeitnehmer die ihm übertragenen Aufgaben erledigt hat, abgeben. Das Zeugnis muss überdies von einem verständigen Wohlwollen gegenüber dem Arbeitnehmer getragen sein, d. h. es darf dessen Fortkommen nicht ungerechtfertigt erschweren. Dem Arbeitgeber obliegt insoweit eine nachwirkende vertragliche Nebenpflicht, die mit dem Grundsatz der Zeugniswahrheit oftmals in ein gewisses Spannungsverhältnis tritt. Der Arbeitgeber ist auf Wunsch des ausgeschiedenen Arbeitnehmers aus dem 1666 Grundsatz der nachwirkenden Vertragspflicht auch dazu angehalten, Auskünfte an solche Personen zu erteilen, mit denen der Arbeitnehmer in Verhandlungen über den Abschluss eines Arbeitsvertrages steht. Verletzt der Arbeitgeber die ihm obliegenden Verpflichtungen in nicht zu ver- 1667 tretender Weise, steht dem Arbeitnehmer ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der nachvertraglichen Nebenpflichten, unter Umständen auch aus §§ 824, 826 BGB zu. Darüber hinaus kann der Arbeitnehmer sowohl aus dem Gesichtspunkt der Naturalrestitution (§ 249 BGB) als auch entsprechend § 1004 BGB verlangen, dass unrichtige Aussagen und Auskünfte berichtigt werden.

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1668

9 Individualarbeitsrecht

Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer unter Verwendung des amtlich vorgesehenen Vordrucks eine Arbeitsbescheinigung auszustellen, in der alle Tatsachen zu bescheinigen sind, die für die Entscheidung des Arbeitsamtes über den Anspruch auf Arbeitslosengeld erheblich sein könnten (§ 312 SGB III). Ferner ist er zur Herausgabe der Arbeitspapiere an den Arbeitnehmer verpflichtet und muss den gegenüber den Sozialversicherungsträgern  bestehenden Melde- und Anzeigepflichten nachkommen. Schließlich ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer eine Urlaubsbescheinigung auszuhändigen, aus der sich der im Kalenderjahr gewährte und abgegoltene Urlaub ergibt (§ 6 Abs. 2 BUrlG).

9.10.2 Pflichten des Arbeitnehmers Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist der Arbeitnehmer dazu verpflichtet, dem Arbeitgeber alle Gegenstände herauszugeben, die dieser ihm zur Erfüllung der Arbeitspflicht überlassen hat (z. B. Werkzeuge, Fahrzeuge, Heimcomputer usw.) oder die sonst in seinen Besitz gelangt sind (z. B. Geschäftspapiere, auch soweit sie der Arbeitnehmer selbst erstellt hat). 1670 Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entfallen zwar eigentlich alle vertraglichen Haupt- und Nebenleistungspflichten, doch die Verschwiegenheitspflicht bleibt über den Beendigungszeitpunkt hinaus bestehen, sodass der Arbeitnehmer über Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse auch später keine Auskunft geben darf. Geheimnisse, deren Kenntnisse er sich auf gesetzes- oder sittenwidrige Weise beschafft hat, darf er wegen § 4 GeschGehG nicht weitergeben; redlich erworbenes Wissen darf er weder zu unlauterem Wettbewerb (§ 1 UWG) noch zur vorsätzlichen Schadenszufügung des Arbeitgebers nutzen (§ 826 BGB). Die Parteien können vereinbaren, dass auch nach der Beendigung des Arbeits1671 verhältnisses ein Wettbewerbsverbot für den Arbeitnehmer bestehen soll. Eine gesetzliche Regelung besteht insoweit nur für kaufmännische und technische Angestellte (§§ 74 ff. HGB; die Vorschriften werden allerdings auf alle Arbeitnehmer übertragen). Zu prüfen ist dabei, ob das nachvertragliche Wettbewerbsverbot rechtswirksam vereinbart und damit verbindlich ist. Unverbindlich ist es insbesondere, wenn es von einer Bedingung abhängig gemacht wird oder wenn der Arbeitgeber sich nicht zur Karenzentschädigung verpflichtet, die für jedes Jahr des Verbots mindestens die Hälfte der bisherigen Bezüge betragen muss (§ 74 Abs. 2 HGB). Unwirksam ist es ferner, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in formularmäßigen Vereinbarungen über die Bedeutung des Wettbewerbsverbots im Unklaren lässt, ihn nicht ausreichend aufklärt. 1669

9.11 Lösungen zu den Fragen: Individualarbeitsrecht 1. Der Arbeitsvertrag ist ein privatrechtliches Dauerschuldverhältnis (§  611a BGB). Durch den Vertrag verpflichtet sich der Arbeitnehmer gegenüber dem

9.11  Lösungen zu den Fragen: Individualarbeitsrecht











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Arbeitgeber, die vertraglich vereinbarten unselbständigen und weisungsgebundenen Dienste zu leisten. Der Arbeitnehmer steht insofern in persönlicher Abhängigkeit zu den Weisungen des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber verpflichtet sich im Gegenzug, das vereinbarte Arbeitsentgelt zu zahlen, § 611a Abs. 2 BGB. 2. Große Bedeutung hat im Arbeitsrecht das sogenannte Richterrecht. Das liegt daran, dass viele Teilgebiete des Arbeitsrechts so gut wie gar nicht (z. B. das Arbeitskampfrecht) oder aber in äußerst weitgefassten Generalklauseln geregelt sind. 3. Arbeitnehmer ist nach der traditionellen Begriffsdefinition derjenige, der zur Arbeitsleistung durch einen Arbeitsvertrag verpflichtet ist. 4. Die höchstrichterliche Rechtsprechung stellt zur Unterscheidung von selbständigen und unselbständigen Dienstleistungen auf die persönliche Abhängigkeit ab. Maßgebende Kriterien sind: Eingliederung in eine fremdbestimmte Arbeitsorganisation und der Umfang der Weisungsgebundenheit. Persönlich abhängig  – unselbständig  – ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit selbst bestimmen kann. Für die Abgrenzung kommt es dagegen nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit an. 5. Zu den arbeitnehmerähnlichen Personen zählen Heimarbeiter, Handelsvertreter und bestimmte freie Mitarbeiter. Die Grundlage ihres Tätigwerdens ist ein Dienst- oder Werkvertrag. Wegen ihrer fehlenden Eingliederung in eine ­betriebliche Organisation sowie der im Wesentlichen freien Zeiteinteilung sind sie zwar nicht in gleichem Maße persönlich abhängig wie Arbeitnehmer. Allerdings sind auch sie typischerweise wirtschaftlich unselbständig und abhängig. § 2 S. 1 BUrlG, § 5 Abs. 1 S. 2 ArbGG umschreiben sie daher als „Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind“. Um eine arbeitnehmerähnliche Person handelt es sich daher immer dann, wenn der wirtschaftlich Abhängige seiner gesamten sozialen Stellung nach einem Arbeitnehmer vergleichbar und sozial schutzbedürftig ist. 6. Arbeitgeber kann jede natürliche Person sein (der Einzelkaufmann, der Freiberufler), aber auch eine juristische Person (z.  B. die Aktiengesellschaft, die GmbH). Maßgebliches Kennzeichen der Arbeitgeberstellung ist, dass der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern gegenüber weisungsberechtigt ist. Ferner bestimmt der Arbeitgeber die Organisation des Arbeitsablaufs und legt die Art und Weise der Durchführung der Arbeit kraft Vertrages oder Direktionsrechts fest. 7. Der Rahmen des Weisungsrechts ist im Wesentlichen §  106  GewO zu entnehmen. So kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen. Ebenso die Ordnung und das Verhalten des Arbeitnehmers im Betrieb. Seine Grenzen findet das Weisungsrecht des Arbeitgebers freilich in den geltenden Gesetzen (z.  B.  BurlG), dem Arbeitsvertrag sowie Bestimmungen von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen.

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9 Individualarbeitsrecht

8. Grundsätzlich sind Arbeitsverträge formfrei, d. h.sie müssten nicht einmal schriftlich abgeschlossen werden. In bestimmten Ausnahmefällen sind allerdings gesetzlich angeordnete Formerfordernisse zu beachten. So bedarf die Verabredung einer Befristung zwingend der Schriftform (§ 14 Abs. 4 TzBfG); ohne Schriftform ist die Befristungsabrede unwirksam (§§ 125, 126 BGB) und der Vertrag gilt auf unbestimmte Zeit geschlossen (§ 16 TzBfG). Die Aussage ist entsprechend falsch. Der Arbeitsvertrag ist wirksam, lediglich die Befristungsabrede nicht. 9. Der Arbeitnehmer kann grundsätzlich nur dann eine Vergütung verlangen, wenn er die geschuldete Leistung auch erbracht hat. Ob der Arbeitnehmer trotz Nichtleistung der Arbeit seinen Lohnanspruch behält, hängt davon ab, von wem die Nichtleistung der Arbeit zu vertreten ist, d. h.wem das Risiko der Nichterbringung der Arbeitsleistung zugerechnet wird. Hat der Arbeitnehmer die Nichtleistung der Arbeitsleistung zu vertreten, wird der Arbeitgeber von der Lohnzahlungspflicht frei. 10. Eine Abweichung vom Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“ stellen auch die sozialpolitisch besonders bedeutsamen Vorschriften über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Der Fortzahlungsanspruch entsteht erst nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses (§ 3 Abs. 3 EntgFG). Bis zu diesem Zeitpunkt erhält der Arbeitnehmer von seiner Krankenversicherung Krankengeld. Zudem muss die Arbeitsunfähigkeit durch die Krankheit verursacht worden sein. N enthält also Lohnfortzahlung (§ 3 Abs. 1 S. 1 EntgFG). 11. I. b II. a III. c IV. b V. c VI. a 12. Die ordentliche Kündigung kommt bei Arbeitsverhältnissen in Betracht, die auf unbestimmte Zeit eingegangen sind. Bei befristeten Arbeitsverhältnissen ist sie möglich, wenn die Parteien das Recht zur ordentlichen Kündigung vereinbart haben. Grundvoraussetzungen sind die Kündigungserklärung und die Einhaltung bestimmter Fristen. Eine ordentliche Kündigung setzt gerade keinen Kündigungsgrund voraus. Die Parteien trennen sich auf der Grundlage der im Arbeitsvertrag vereinbarten Kündigungsmöglichkeiten. Jede Vertragspartei kann ohne Einhaltung einer Frist außerordentlich kündigen (§  626 Abs.  1 BGB). Hierfür bedarf es, neben den allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen der Kündigungserklärung (s. o.), eines wichtigen Grundes. Es müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur bis zum Ende der Kündigungsfrist nicht mehr zugemutet werden kann. Es muss zu einer schwerwiegenden Verletzung vertraglicher Pflichten durch eine Vertragspartei gekommen sein, welche die Basis der Zusammenarbeit erschüttert.

Kollektivarbeitsrecht

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Unter das kollektive Arbeitsrecht fasst man das Recht der arbeitsrechtlichen Koali- 1672 tionen (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), einschließlich des Tarifvertragsrechts und des Arbeitskampfrechts (Streiks und Aussperrungen) sowie das Mitbestimmungsrecht in Unternehmen und Betrieben. Daher wird aus der Perspektive der Arbeitnehmer oftmals auch von der sog. „Zweispurigkeit des kollektiven Arbeitsrechts“ gesprochen, denn die Interessenvertretung der Arbeitnehmer wird zum einen durch die Gewerkschaften und zum anderen durch den Betriebsrat wahrgenommen. Diese unterscheiden sich insofern, als dass die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft (in der Regel eingetragene Vereine) rechtsgeschäftlich begründet wird, weshalb auch eine Austrittsmöglichkeit besteht, während es sich bei der Interessenvertretung durch den Betriebsrat um eine gesetzlich begründete Arbeitnehmervertretung handelt, der sich der Arbeitnehmer nicht entziehen kann. Während die Gewerkschaften das Ziel haben, Tarifverträge abzuschließen, was sie mitunter über das Mittel des Arbeitskampfes zu erreichen suchen, verfolgt der Betriebsrat das Ziel, Betriebsvereinbarungen zu fassen, die nicht mittels Kampf, sondern über ein Einigungsverfahren zustande kommen.

10.1 Koalitionsfreiheit und -recht Die Entwicklung des kollektiven Arbeitsrechts begann in der Zeit des Frühkapitalis- 1673 mus. Wegen der Untätigkeit des damals liberalistischen Staates mussten die Arbeitnehmer zur Selbsthilfe greifen, um eine Verbesserung ihrer schlechten Arbeitsbedingungen zu erreichen. Diese Selbsthilfe vollzog sich organisatorisch durch den Zusammenschluss der Arbeitnehmer zu Vereinigungen; nur durch die Bildung einer kollektiven Gegenmacht konnte die Machtüberlegenheit der Arbeitgeber begrenzt werden.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0_10

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10 Kollektivarbeitsrecht

Mit dieser historischen Begebenheit war die Grundlage zur Bildung von Arbeitnehmervereinigungen (sog. Koalitionen), Tarifvertragssystemen, Betriebsverfassungen und -räten geschaffen. Anfänglich waren die Gewerkschaften frei organisiert, während die Betriebsräte von staatlicher Seite gebildet wurden – die Folgen sehen wir noch heute: Während es einheitliche Regelungen zur institutionellen Mitbestimmung gibt (BetrVG), fehlen – über die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit hinaus – solche einheitlichen Regelungen zur Gewerkschaft und den Arbeitgeberverbänden.

10.1.1 Koalitionsfreiheit Die sog. Koalitionsfreiheit ist als Grundrecht in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gewährleistet. Danach genießen „Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ verfassungsrechtlichen Schutz. 1676 Den Schutz dieser verfassungsrechtlich garantierten Koalitionsfreiheit können nur Vereinigungen in Anspruch nehmen, die bestimmte Merkmale aufweisen, welche erst die Möglichkeit zur Erfüllung der Koalitionsaufgaben – insbesondere die staatsunabhängige Selbstverwaltung des Arbeitslebens z.  B. durch Tarifvertrag – sicherstellen: 1675

• Vereinigung privaten Rechts: Freiwilliger Zusammenschluss, der frei und demokratisch gebildet, privatrechtlich organisiert und auf Dauer angelegt ist (keine Koalitionen sind daher: öffentlich-rechtlichen Kammern mit Zwangsmitgliedschaft, Sprecherausschüsse, spontane Protestaktionen). Ob die Vereinigung überbetrieblich organisiert sein muss, ist umstritten – entscheidend ist jedenfalls, dass sie überbetrieblich wirken.

Beispiel

Werksvereine sind keine Koalitionen oder Gewerkschaften, da sie nicht überbetrieblich wirken, sondern nur betriebsintern. Bei ihnen liegt die Vermutung nahe, dass sie Pressionen durch den Arbeitgeber nicht ausweichen können, weshalb sie überdies auch nicht als gegnerunabhängig gelten können. ◄ • Zweck der Vereinigung: Der satzungsmäßige Zweck muss auf die Wahrung und sozialpolitische Förderung der Bedingungen unselbständiger Arbeit ausgerichtet sein. Keine Koalitionen sind z.  B.  Konsumvereine, die sich nur wirtschaftspolitisch betätigen. • Gegnerunabhängigkeit: Die Koalition muss gegnerunabhängig sein, und zwar in personeller, finanzieller und organisatorischer Hinsicht. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dürfen daher in keinerlei Abhängigkeit zum sozialen Ge-

10.1  Koalitionsfreiheit und -recht

659

genspieler stehen (z. B. dürfen Arbeitnehmer nicht maßgeblich an Arbeitgeberverbänden beteiligt sein).

Beispiel

Eine Streikgelderstattung durch den Arbeitgeber kann die Unabhängigkeit von der Gewerkschaft gefährden; ebenso der Einzug der Mitgliedsbeiträge seitens des Arbeitgebers, verbunden mit einer eigenen finanziellen Zuwendung. Als unproblematisch gilt dagegen, wenn z. B. ein Kämmerer die Durchleitung der Mitgliedsbeiträge an die Gewerkschaft veranlasst, bei der er selbst Mitglied ist. ◄ • Durchsetzungskraft/soziale Mächtigkeit/Tarifwilligkeit: Die Mächtigkeit ist zwar keine generelle Voraussetzung für eine Koalition i. S. d. Art. 9 Abs. 3 GG (z. B. für einen Arbeitnehmerverband), wohl aber für eine arbeitsrechtliche, tariffähige Koalition nach § 2 TVG (z. B. einer Gewerkschaft). Die Tarifwilligkeit muss für eine „arbeitsrechtliche Koalition“ gegeben sein, also der Wille, mit der jeweils anderen Seite in Verhandlungen und Auseinandersetzungen einzutreten, um schließlich einen Tarifvertrag abzuschließen; Letzteres erfordert allerdings eine gewisse soziale Mächtigkeit (hohe Mitgliederzahl, organisatorische Festigkeit, sachliche und personelle Ausstattung) und das Bestreben, den Satzungszweck auch durchzusetzen zu wollen.

10.1.2 Wirkung der Koalitionsfreiheit Die Koalitionsfreiheit beschreibt ein Doppelgrundrecht, namentlich:

1677

• die individuelle (positive und negative) Koalitionsfreiheit des Einzelnen und • die kollektive Koalitionsfreiheit als Grundrecht der Verbände. Die individuelle Koalitionsfreiheit schützt in erster Linie die sog. individuelle 1678 positive Koalitionsfreiheit, d. h. das Recht des Einzelnen, zusammen mit anderen eine Koalition zu bilden, in ihr zu verbleiben und sich für diese zu betätigen. Die positive Koalitionsfreiheit umfasst z.  B. das Recht des Arbeitnehmers, einer Gewerkschaft beizutreten, für sie zu werben oder bei Maßnahmen des Arbeitskampfes aktiv teilzunehmen. Damit verbunden ist ein Schutz vor Diskriminierungen. Insofern folgt aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ebenso das ausdrückliche Verbot einer Benachteiligung wegen der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft; z. B. die Einstellung als Arbeitnehmer vom Austritt aus der Gewerkschaft abhängig zu machen. Wer in seiner individuellen Koalitionsfreiheit beeinträchtigt wird, kann dagegen vorgehen. Der Betroffene hat einen verschuldensunabhängigen Abwehr- und ­Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB analog und im Falle des Verschul-

660

10 Kollektivarbeitsrecht

dens der Gegenpartei einen Schadensersatzanspruch aus §  280 Abs.  1 BGB, aus §  823 Abs.  1 BGB (Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts) oder aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG. Beispiel

Der Arbeitnehmer A verteilt im Zuge einer bevorstehenden Betriebsratswahl in der Mittagspause Flugblätter seiner Gewerkschaft an die Kollegen. Als der Arbeitgeber dies zur Kenntnis nimmt, mahnt er den A ab. Die Abmahnung wird in die Personalakte eingetragen. Hier hätte A einen Anspruch auf das Entfernen der Abmahnung aus der Personalakte nach § 1004 Abs. 1 BGB analog, da sein Handeln nicht rechtswidrig war, sondern er in Ausübung seiner verfassungsrechtlich garantierten, individuellen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) agierte. ◄ 1679

Mit der positiven Koalitionsfreiheit korreliert die individuelle negative Koalitionsfreiheit. Darunter versteht man die Freiheit des Arbeitnehmers bzw. Arbeitgebers, einer Gewerkschaft oder einem Verband fernzubleiben bzw. aus ihr/ihm wieder auszutreten. Die Austrittsfristen dürfen dabei nicht zu weitläufig festgelegt sein, um die Entscheidungsfreitheit nicht zu blockieren; der BGH sieht derzeit Austrittsfristen von 6 Monaten noch als verhältnismäßig an. Beispiel

Problematische Situationen können sich im Arbeitskampf – bei Streik und Aussperrung  – ergeben. Gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer erhalten im Falle einer Aussperrung oftmals eine Vergütung aus der „Streikkasse“ der Gewerkschaft. Die Streikunterstützung beträgt zwischen 60 %–90 % des Nettolohnes. Nichtorganisierte erhalten keine Unterstützung. Wenn nun der Arbeitgeber selbst eine Unterstützung an Nichtorganisierte als Ausgleich zahlen würde, und dabei sogar mehr leisten würde, als es die Streikkasse in Aussicht stellt, wäre dies ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit. Denn die Entscheidung über die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft würde jetzt nicht mehr frei getroffen werden; der Arbeitnehmer könnte vielmehr einen Anreiz (bzw. Druck) verspüren, aus der Gewerkschaft auszutreten, um den Arbeitgeberausgleich zu erhalten. ◄ 1680

Aus der Wahrnehmung der individuellen Koalitionsfreiheiten dürfen insbesondere den Arbeitnehmern keine Nachteile entstehen. So darf es im Betrieb weder eine Bevorzugung noch eine sachfremde Benachteiligung von Gewerkschaftsmitgliedern geben. Das ist in dieser Pauschalität nicht unumstritten. Immerhin bezahlen die Gewerkschaftsmitglieder monatliche Beiträge (meist 1  % vom Bruttoarbeitslohn), sodass sich durchaus die Frage stellen könnte, weshalb sie nicht auch im Betrieb davon profitieren sollten. Allerdings würde das dem allgemeinen betriebli-

10.1  Koalitionsfreiheit und -recht

661

chen Gleichstellungsgebot zuwiderlaufen, die Arbeitnehmer sind vom ­Arbeitgeber gleich zu behandeln (vgl. AGG); in der Praxis ist es daher vielmehr so, dass Errungenschaften der organisierten Arbeitnehmer von den Arbeitgebern auch auf die nichtorganisierten Arbeitnehmer übertragen werden (z. B. werden tarifliche Löhne regelmäßig an alle Arbeitnehmer ausgezahlt), nicht zuletzt, um diesem innerbetrieblichen Gleichstellungsgebot Rechnung zu tragen. Kollektive Koalitionsfreiheit umschreibt die verfassungsrechtliche Garantie, 1681 dass Koalitionen als Verband in ihrem Bestand und in ihrer organisatorischen Ausgestaltung geschützt sind (sog. Bestandsgarantie). Gewerkschaften und Arbeit­ geberverbände können sich frei von staatlichen Genehmigungen bilden. Sie be­ stimmen ihre organisatorischen Strukturen sowie die Form des internen Willensbildungsprozesses autonom (sog. innergewerkschaftliche Autonomie). Alle Maßnahmen Dritter, auch des Staates, die in diesen garantierten Bestand eingreifen, sind rechtswidrig und können Abwehransprüche auslösen. Beispiel

Wenn der Staat als Gesetzgeber „Entgeltregeln“ für bestimmte Branchen einführen würde, dann würde er eine Art „Konkurrenzsituation“ zu den Gewerkschaften und den Verbänden schaffen, weil das Aushandeln und Festlegen von Entgeltregelungen ureigenste Angelegenheit der Tarifvertragsparteien ist. Der Staat würde daher gegen die kollektive Koalitionsfreiheit verstoßen. ◄ Ferner sichert Art. 9 Abs. 3 GG die Betätigung der Koalitionen, wozu das Recht 1682 gehört, zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die jeweiligen Gruppeninteressen gegenüber dem Staat, den politischen Parteien sowie im gesamten betroffenen Bereich darzustellen und zu verfolgen (sog. Betätigungsgarantie). Dazu gehört die Beteiligung in Gesetzgebungsverfahren ebenso wie das Recht zur Werbung in Betrieben und Unternehmen, sofern die Aktivitäten sich im Rahmen der allgemeinen Gesetze bewegen und verfassungsrechtliche Grundsätze einhalten. Beispiel

Gewerkschaften haben grundsätzlich das Recht für sich zu werben, selbst in einzelnen Betrieben. Die Rechtsprechung lässt z. B. das Verteilen von Flugblättern mit koalitionsbezogenen Inhalten im Betrieb zu, sofern dies außerhalb der Arbeitszeit in den Pausen geschieht. Ebenso die Nutzung von „schwarzen Brettern“ oder das Versenden von Werbung an betriebliche Email-Adressen. Unzulässig sind dagegen das Verteilen von Werbe- und Informationsmaterial während der Arbeitszeit, die Nutzung betriebsinterner Verteilsysteme, das Anbringen von Werbe-Aufkleber an Betriebsgegenständen (z. B. Bildschirmen, Tischen etc.). ◄

662

10 Kollektivarbeitsrecht

10.2 Tarifautonomie: Tarifvertragsrecht und Tarifverträge Ein zentraler Bestandteil der kollektiven Koalitionsfreiheit ist die Tarifautonomie. Sie wird durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet und beschreibt das Recht der Tarifvertragsparteien, selbständig und ohne staatliche Einflussnahme, die Gesamtheit der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird, durch den Abschluss von Tarifverträgen zu regeln. Dieses Recht, insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen als dem zentralen 1684 der kollektiven Koalitionsfreiheit, ist heute im Recht der Europäischen Union garantiert (Art. 28 GRC) und findet seine nationale Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG sowie – weiter ausgestaltet – im Tarifvertragsgesetz (TVG). 1685 Über den angelegten Rechtsrahmen ermächtigt der Staat den privaten Regelsetzer, d.  h. die Tarifvertragsparteien (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), dazu, durch vertragliche Vereinbarungen verbindliche Regelungen für die gebundenen Mitglieder sowie Dritte zu schaffen. Zugleich verbietet sich jede Regelung, die das verfassungsrechtlich angelegte Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien stört. 1683

10.2.1 Tarifvertrag und Tarifvertragsparteien Der Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwischen den Tarifvertragsparteien zur Regelung von arbeitsrechtlichen Rechten und Pflichten der Tarifvertragsparteien und zur Festsetzung von Rechtsnormen über Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen. 1687 Tarifvertragsparteien bzw. tariffähige Parteien sind auf Seiten der Arbeitnehmer die Gewerkschaften (§ 2 Abs. 1 TVG; auch Berufsgruppen- und Spartengewerkschaften) sowie Innungen (z.  B.  Handwerksinnung, §  54 Abs.  3 Nr.  1 HandwO); auf Seiten der Arbeitgeber können dies branchenspezifische Arbeitgeberverbände auf Bundesebene oder regionaler Ebene sein (z. B. Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie) bis hin zu einzelnen Arbeitgebern („Hausoder Firmentarifvertrag“). Unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 und 3 TVG sind auch Dachverbände tariffähige Parteien und damit zum Abschluss von Tarifverträgen befugt (z. B. „IG Metall“ aufseiten der Gewerkschaften und „Gesamtmetall“ auf Arbeitgeberseite). 1688 Für den Tarifvertrag gelten die allgemeinen Regelungen zum Vertragsschluss (§§ 145 ff. BGB, Abschn. 1.6.2.1), zudem ist die Schriftform erforderlich (§§ 1 Abs. 2 TVG, 126 BGB), da Tarifverträge verbindliche Normen setzen. Deshalb bedarf es auch der Kundgabe abgeschlossener Tarifverträge; sie sind beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales in das Tarifregister einzutragen (§§ 6, 7 TVG) und an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen (§ 8 TVG). Wird die Schriftform gem. § 1 Abs. 2 TVG i. V. m. § 126 BGB nicht gewahrt, führt dies zur Nichtigkeit gem. § 125 S. 1 BGB; alle anderen formellen Verstöße 1686

10.2  Tarifautonomie: Tarifvertragsrecht und Tarifverträge

663

werden durch Ordnungsvorschriften sanktioniert, die auf die Wirksamkeit des Vertrages keine Auswirkung haben.

10.2.2 Inhalt Der Tarifvertrag (§ 1 Abs. 1 TVG) ist ein hybrides Gebilde – in ihm vereinigen sich 1689 Privatautonomie und Rechtssetzung; er hat einen schuldrechtlichen Teil – in welchem Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien festgelegt werden – und einen normativen, rechtssetzenden Teil. Der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrages begründet die Rechte und Pflich- 1690 ten der beteiligten Tarifvertragsparteien (legt z. B. Beginn und Ende des Tarifvertrages fest). Besonders zu erwähnen sind die daraus resultierende Friedenspflicht und Durchführungspflicht. Die sog. Friedenspflicht verbietet den Parteien u. a. Kampfmaßnahmen wäh- 1691 rend der Laufzeit eines Tarifvertrages. Insgesamt sind keine Maßnahmen zulässig, die den vereinbarten Tarifvertrag für dessen Dauer in Frage stellen. Ein Zuwiderhandeln begründet einen Unterlassungsanspruch der jeweils anderen Tarifvertragspartei (§§ 1004 Abs. 1 BGB, 823 Abs. 1 BGB), u. U. wegen der Pflichtverletzung auch Schadensersatzansprüche (§ 280 Abs. 1 BGB). Zu unterscheiden ist dabei zwischen der relativen und der absoluten Friedenspflicht. Während sich die relative Friedenspflicht formlos aus jedem Tarifvertrag ergibt, wonach Arbeitskampfmaßnahmen inhaltlich, zeitlich und gegenständlich einschränkt sind, wenn sie sich gegen bestehende Tarifverträge im ganzen oder gegen einzelne ihrer Bestimmungen richten, muss die absolute Friedenspflicht ausdrücklich im Tarifvertrag vereinbart werden. Sie untersagt dann uneingeschränkt jede Form des Arbeitskampfes. Beispiel

Ein Tarifvertrag regelt u. a. die Urlaubsdauer, nicht aber das Urlaubsgeld. Ein Streik betreffend das Urlaubsgeld ist dennoch aufgrund der relativen Friedenspflicht unzulässig, da davon ausgegangen werden darf, dass der Tarifvertrag die Urlaubsfragen abschließend regeln wollte (es sei denn, die Verhandlungsprotokolle lassen einen anderen Rückschluss zu). Würde die Gewerkschaft um die Verkürzung von Wochenarbeitszeit streiken, die tarifvertraglich nicht geregelt ist, wäre der Streik unbedenklich, da er mit der relativen Friedenspflicht nicht in Konflikt steht. Hätten die Tarifvertragsparteien allerdings eine absolute Friedenspflicht im Tarifvertrag vereinbart, könnte die Gewerkschaft nun auch keinen Streik zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit in Gang setzen. ◄ Die sog. Durchführungs- und Einwirkungspflicht verpflichtet die Parteien, für 1692 den Vollzug des Tarifvertrages – notfalls mit vereins- bzw. v­ erbandsrechtlichen Mit-

664

10 Kollektivarbeitsrecht

teln  – zu sorgen. Die Erfüllung dieser „Vertragstreuepflicht“ kann im Wege der Leistungsklage durchgesetzt werden. Beispiel

Ein Arbeitgeber zahlt seinen Mitarbeitern Löhne unter Tarif aus. In einem solchen Fall müsste der Arbeitgeberverband auf sein Mitglied (den Arbeitgeber) einwirken, dass dieser die Regelungen aus dem Tarifvertrag erfüllt. ◄ Die Tarifvertragsparteien besitzen über den Tarifvertrag ein Normsetzungsrecht (sog. normativer Teil des Tarifvertrags). Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages können sich dabei auf alle Gegenstände beziehen, die ein Arbeitsverhältnis anbetreffen. Typischerweise enthalten Tarifverträge Inhaltsnomen, Abschlussnormen Beendigungsnormen sowie Betriebsnormen. Inhaltsnormen befassen sich mit den wechselseitigen Pflichten in einem Arbeitsverhältnis (z. B. Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche, Betreuungsangebote). Abschluss- und Beendigungsnormen beziehen sich auf das Zustandekommen und das Beenden von Arbeitsverhältnissen (z. B. Einstellungstests, Wiedereinstellungsklauseln, Kündigungsfristen und -modalitäten). Betriebsnormen sind solche, die sich über das einzelne Arbeitsverhältnis hinaus mit der Organisation oder Gestaltung des Betriebs als solchen befassen und auch für Außenseiter gelten (z.  B.  Zugangskontrolle, Rauchverbote, Arbeitsschutz, Waschräume). Eher untypisch, allerdings dennoch immer wieder auch Gegenstand von Tarifverträgen, sind betriebsverfassungsrechtliche Normen, die die Regelungen des BetrVG konkretisieren (z. B. zur Organisation und Befugnissen von Betriebsvertretungen). Sie werden eher zurückhaltend eingebracht, da das BetrVG nur eingeschränkt einer Änderung durch Tarifvertrag zugänglich ist, was vor allem damit zu tun hat, dass durch solche Normen in die Autonomie einer anderen kollektiven Organisation eingegriffen würde, nämlich dem Betriebsrat (Abschn. 10.4.3). Trotz der hohen Regelungskompetenz steht den Tarifvertragsparteien kein 1694 Normsetzungsmonopol zu (vgl. BVerfG 1 BvL 32/97). Der Staat könnte somit theoretisch auch selbst Gesetze in all den vorgenannten Bereichen erlassen. Er ist lediglich angehalten, sich aus dem Normfindungsprozess der Tarifvertragsparteien – namentlich den Tarifverhandlungen – herauszuhalten. 1693

10.2.3 Bindungswirkung Tarifverträge sind auf Arbeitsverhältnisse anwendbar, deren Vertragsparteien tarifgebunden sind. Tarifgebunden sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei eines Tarifvertrages ist (§ 3 Abs. 1 TVG). Die Tarifgebundenheit („Tariftreue“) bleibt bestehen, bis der Tarifvertrag endet (§ 3 Abs. 3 TVG). Tarifverträge enthalten normative Regelungen. Diese wirken unmittelbar (d. h. 1696 sofort und ohne Umsetzungsakt) und zwingend in das einzelne ­Arbeitsverhältnis hinein, auch wenn dies in den individuellen Arbeitsverträgen nicht ausdrücklich 1695

10.2  Tarifautonomie: Tarifvertragsrecht und Tarifverträge

665

geregelt ist (§ 4 Abs. 1 TVG). Die tarifvertraglichen Regelungen überlagern dabei die arbeitsvertraglichen Vereinbarungen. Von der unmittelbaren und zwingenden Geltung macht das Gesetz zwei Ausnahmen. Zum einen kann der Tarifvertrag selbst sog. Tariföffnungsklauseln enthalten, die den Beteiligten die Möglichkeit belassen, von tarifvertraglichen Vereinbarungen abzuweichen. Zum anderen gilt auch im Kollektivarbeitsrecht das sog. Günstigkeitsprinzip, wonach tarifvertragliche Regelungen zurückstehen (müssen), sofern auf arbeitsvertraglicher Ebene günstigere Regelungen für den Arbeitnehmer bestehen. Ob eine vertragliche Regelung günstiger ist als die Regelung des Tarifvertrages, muss im Rahmen eines Vergleichs festgestellt werden, wobei stets eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, eine „Rosinenpickerei“ darf gerade nicht stattfinden. Entscheidend ist daher, dass zuvor der Vergleichsgegenstand hinreichend klar definiert und der richtige Vergleichsmaßstab festgelegt wird (sog. Sachgruppenvergleich). Beispiel

Der A hat einen Arbeitsvertrag, in welchem ihm bei einer Arbeitszeit von 8 Std. täglich, 26 Tage Urlaub und ein Urlaubsgeld von 14,35 EUR/Tag zugestanden werden. Im aktuellen Tarifvertrag, dem A unterworfen ist, finden sich folgende Regelungen: Die tägliche Arbeitszeit wird von 8 Stunden auf 10 Stunden verlängert (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG), der Urlaubsanspruch wird auf 30 Tage festgesetzt und das Urlaubsgeld auf 10,50 EUR/Tag reduziert. Der Arbeitnehmer kann nun nicht unter Berufung auf das Günstigkeitsprinzip ausschließlich die Ausdehnung seines Urlaubsanspruchs in Anspruch nehmen und bezüglich der anderen Regelungen auf seinen Arbeitsvertrag verweisen. Vielmehr führt der Sachgruppenvergleich dazu, dass der Urlaubsanspruch und das Urlaubsgeld in einem sachlichen Zusammenhang stehen, als verwoben gelten, weshalb der A auch die Reduzierung des Urlaubsgeldes akzeptieren muss. Die Arbeitszeitverlängerung steht dagegen nicht in einem sachlichen Zusammenhang, so dass diese gesondert betrachtet werden kann. Im Ergebnis kann sich der A bezogen auf die Arbeitszeit auf seinen Arbeitsvertrag berufen, während er im Hinblick auf den Urlaub die tarifvertraglichen Regelungen annehmen muss, d. h. Urlaubsanspruch und Urlaubsgeld. ◄ Ein Tarifvertrag wirkt nach dem Gesetzeswortlaut eigentlich nur zwischen den 1697 beiderseits Tarifgebundenen („inter partes“). Er gilt also nicht ohne weiteres für tariflich nicht gebundene Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer, die nicht vom Tarifvertrag erfasst sind. In der Praxis besteht allerdings ein Bedürfnis, die Arbeitsbedingungen in einem Betrieb oder Unternehmen anzugleichen und auch die ungebundenen Arbeitnehmer wie die tarifgebundenen zu behandeln, weshalb über sog. Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen (z. T. auch in Betriebsvereinbarungen) eine Ausrichtung an den tariflich ausgehandelten Bedingungen ­stattfindet. Die Inhalte des in Betracht zu ziehenden Tarifvertrages werden damit über die Individualabreden in die Arbeitsverträge der gesamten Belegschaft einbezogen.

666

10 Kollektivarbeitsrecht

Bei den Bezugnahmeklauseln unterscheidet man statische und dynamische Klauseln. Während sich statische Bezugnahmeklauseln auf einen konkreten Tarifvertrag beziehen und die dort getroffene Regelung „einfrieren“, folgen dynamische Bezugnahmeklauseln der weiteren Entwicklung nach, d. h. sie erneuern sich, sobald ein neuer Tarifvertrag in Kraft tritt. Beispiel

„Dem Arbeitsvertrag liegen die Bedingungen des xx-Tarifvertrages vom … zugrunde“ (= statische Bezugnahmeklausel) oder „Dem Arbeitsvertrag liegen die Bedingungen des xx-Tarifvertrages in der jeweiligen Fassung zugrunde“ (= dynamische Bezugnahmeklausel) oder „Der Urlaubsanspruch richtet sich nach den Vorschriften des xx-Tarifvertrages vom …“ (= statische Bezugnahmeklausel bezogen auf nur einen Regelungsgegenstand). ◄ Nach § 5 Abs. 1 S. 1 TVG besteht für den Bundesminister für Arbeit und Soziales (im Einvernehmen mit Vertretern der Verbände) die Möglichkeit, einzelne Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn es im öffentlichen Interesse (siehe dazu die Regelbeispiele in §  5 Abs.  1 S.  2 TVG) geboten erscheint. Die Rechtsfolge einer solchen Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist, dass die Rechtsnormen des jeweiligen Tarifvertrages in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber erfasst. Das BMAS gibt jährlich kraft seiner Pflicht nach § 5 Abs. 7 TVG ein Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge heraus. Nach § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit bestehen, bis der Tarifvertrag 1699 endet, selbst wenn der Arbeitnehmer während der Geltungsdauer aus der Gewerkschaft austritt (sog. Nachbindung des Tarifvertrages, vgl. BAG, Urteil v. 04.04.2001  – 4 AZR 237/00); entsprechendes gilt natürlich für die Arbeitgeber. Eine „Flucht aus einem Verbandstarif“ ist daher nicht möglich, auch nicht über eine Unternehmensveräußerung (§ 613a BGB) – in diesem Fall bleibt der Erwerber der Tarifbindung unterworfen, er tritt in die Rechte und Pflichten des Veräußerers ein (Abschn. 9.8.4). Von der Nachbindung ist die Nachwirkung des Tarifvertrages nach § 4 Abs. 5 1700 TVG zu unterscheiden. Sie besagt, dass nach Ablauf des Tarifvertrages die Rechtsnormen zunächst weiter gelten, bis ein neuer Tarifvertrag in Kraft gesetzt wird. Hierdurch lässt sich ein Regelungsvakuum vermeiden. Allerdings verlieren in dieser Übergangszeit die tarifvertraglichen Normen ihre zwingende Wirkung, d. h. der Tarifvertrag kann durch einzelvertragliche Vereinbarung auch unterschritten werden. Es kommt durchaus vor, dass in einem Betrieb oder sogar in einem Arbeitsver1701 hältnis zwei oder mehrere Tarifverträge Geltung beanspruchen. Man unterscheidet zwischen Tarifkonkurrenz und Tarifkollision (§ 4a Abs. 2 TVG). Bei der Tarifkonkurrenz sind Arbeitgeber und/oder Arbeitnehmer an Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften gebunden, bei der Tarifkollision ist nur der Arbeitgeber an zwei (nicht inhaltsgleiche) Tarifverträge gebunden, deren Geltungsbereich sich zumindest teilweise überschneiden. Diese Tarifpluralität kann nicht hingenommen wer1698

10.2  Tarifautonomie: Tarifvertragsrecht und Tarifverträge

667

den, da sie nicht nur gegen den Grundsatz der Tarifeinheit verstößt, sondern mitunter zu erheblichen Unsicherheiten führen würde. Deshalb löst §  4a TVG dieses Problem zugunsten des Mehrheitsgedanken (sog. betriebsbezogenes Mehrheitsprinzip). Es sind nur die Rechtsnormen des Tarifvertrages derjenigen Gewerkschaft anwendbar, welche zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrages im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Die herausgeregelte Minderheitsgewerkschaft kann allerdings zur Kompensation ihres Einflussverlustes eine „Nachzeichnung“ nach § 4a Abs. 4 TVG fordern. Beispiel

Im Betrieb des Arbeitgebers A ist sowohl die Gewerkschaft „Metall“ als auch die Gewerkschaft „Chemie“ vertreten. Beide Gewerkschaften verhandeln für ihre Mitglieder einen Tarifvertrag. Aufgrund der Tarifbindung des A würden beide Tarifverträge im Betrieb des A gleichermaßen Geltung beanspruchen, was jedenfalls misslich wäre, wenn z. B. bezogen auf Urlaubsansprüche unterschiedliche Regelungen bestünden und Mitarbeiter in beiden Gewerkschaften engagiert wären. Daher soll nach § 4a Abs. 2 TVG nur derjenige Tarifvertrag anzuwenden sein, der von der Gewerkschaft geschlossen wurde, die bei Abschluss des letzten Tarifvertrages mehr Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb des A hatte; der Minderheitstarifvertrag ist dann nicht mehr anwendbar (er könnte aber wieder anwendbar werden, wenn der Mehrheitstarifvertrag endet und nicht erneuert würde). ◄

10.2.4 Arten von Tarifverträgen Es gibt verschiedene Arten von Tarifverträgen, die sich typischerweise nach ihrem 1702 Anwendungsbereich oder Inhalt unterscheiden. Verbandstarifvertrag, Flächentarifvertrag und Firmentarifverträge unter- 1703 scheiden sich hinsichtlich ihres räumlichen Geltungsbereichs. Während der Verbands- und Flächentarifvertrag überbetrieblich für eine bestimmte Branche oder Region zwischen einer oder mehreren Gewerkschaften und einem Arbeitgeberverband vereinbart wird, gelten Firmentarifverträge (Haus-, Werks- oder Unternehmenstarifverträge) nur auf der rein betrieblichen Ebene. Rahmen- bzw. Manteltarifverträge und Gehalts- bzw. Lohntarifverträge un- 1704 terscheiden sich im Regelungsgegenstand und -umfang. Während Rahmentarifverträge zumeist über eine längeren Zeitraum vereinbart sind (in der Regel drei Jahre) und dabei die allgemeinen Arbeitsbedingungen abbilden und regeln (z. B. Arbeitszeit, Urlaub), sind wiederum einzelne Regelungsgegenstände oftmals in spezifischen Tarifverträgen geregelt. Dazu gehört u. a. der Gehalts- und Lohntarifvertrag, der Regelungen zur Vergütungshöhe, Gehaltsgruppierungen, vermögenswirksame Leistungen und ggf. Auszahlungsmodalitäten vorhalten kann. Tarifverträge dieser Art haben meist nur eine kurze Laufzeit von einem Jahr, um der Dynamik der

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10 Kollektivarbeitsrecht

marktlichen Preisentwicklung gerecht werden zu können. Bestehen Tarifverträge zu einzelnen Materien, werden diese Regelungsgegenstände sodann aus den Rahmentarifverträgen explizit herausgenommen, um Kollisionen zu vermeiden. Fragen

1. Die Koalitionsfreiheit beschreibt ein Doppelgrundrecht. Inwiefern? 2. Was bedeutet „Tarifwilligkeit“ und ist sie die Voraussetzung für die Tariffähigkeit? 3. Ist die Werbung für Mitglieder für eine Gewerkschaft Ausübung der Bestandsoder Betätigungsgarantie? 4. Welche Schutzfunktionen erfüllt der Tarifvertrag? 5. Erläutern Sie die Doppelnatur des Tarifvertrags. 6. Was bedeutet Nachbindung des Tarifvertrags und was Nachwirkung des Tarifvertrags?

10.3 Arbeitskampfrecht Die kollektive Normsetzung geht von der Selbstbestimmtheit der Tarifparteien aus; Arbeitnehmer und Arbeitgeber können die Arbeitsbedingungen selbst festsetzen. Das rechtliche Gestaltungsmittel ist der Tarifvertrag. Was aber geschieht, wenn sich keine Einigung erzielen lässt oder wenn eine Seite die Aufnahme von Tarifverhandlungen ablehnt? Nach den Prinzipien des Vertragsrechts wäre in einem solchen Fall vom Vertragsschluss abzusehen; dies würde allerdings nur eine Seite benachteiligen, in der Regel die Arbeitnehmer. Daher muss den Arbeitnehmern ein Druckmittel zur Verfügung stehen, um den Vertragsabschluss zu erzwingen. Dieses Druckmittel ist der Arbeitskampf. 1706 Bezogen auf die Kampfmaßnahmen besteht kein Typenzwang, sondern es haben sich in der Vergangenheit verschiedene Formen von Kampfmaßnahmen herausgebildet, wenngleich der Streik in seinen unterschiedlichen Facetten (u. a. Wellenstreik, Warnstreik, Generalstreik) die wohl bedeutendste Kampfmaßnahme auf Arbeitnehmerseite ist. Die Wahl der Mittel, mit denen die Gewerkschaften ihre tarifvertraglichen Ziele durchzusetzen versuchen, überlässt Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich ihnen selbst; auch das BAG vermeidet es, bestimmte Arbeitskampfmittel a priori für zulässig oder unzulässig zu erklären. Insofern haben sich neben dem Streik weitere Arbeitskampfmaßnahmen in der Vergangenheit etabliert, u. a.: 1705

• Verringerung der Arbeitsleistung (sog. Bummelstreik); • Betriebsblockade und – besetzung; • Flashmob, bei welchem z. B. Gewerkschaftsangehörige Dritte auffordern, durch den massenhaften Kauf von Cent-Artikeln die Geschäftstätigkeit eines Unternehmens zu blockieren; • Störungen des Internet- und Telefonverkehrs;

10.3 Arbeitskampfrecht

669

• Boykottmaßnahmen, also der Abbruch geschäftlicher Kontakte durch eigenes Handeln oder dem Aufruf Dritter dazu. Der Arbeitskampf findet auch auf Arbeitgeberseite statt. Er wird insbesondere 1707 durch die Aussperrung  – sowohl als Angriffs-, aber auch Verteidigungsmittel  – vollzogen und ist schon aus Gründen der Kampfparität ebenfalls von Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt. Dabei eröffnet eine Angriffsaussperrung den Arbeitskampf, um den Abschluss eines Tarifvertrages zu erzwingen, während die Abwehraussperrung eine Reaktion auf die arbeitnehmerseitigen Maßnahmen ist.

10.3.1 Rechtsgrundlage Das Recht zum Arbeitskampf ist gesetzlich nicht geregelt, wenngleich die Notwendigkeit des Arbeitskampfrechts aus vorgenannten Gründen unumstritten ist. Das Arbeitskampfrecht ist – wie gerade aufgezeigt – die notwendige Fortsetzung und die ultima-ratio der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG), die nicht ohne solche Kampfmaßnahmen auskommen kann. Gäbe es den Arbeitskampf z. B. in Form des Streikrechts nicht, wäre die Tarifautonomie ein „zahnloser Tiger“. Eine Anerkennung des Arbeitskampfrechts – Streik und Aussperrung – enthält dagegen Art.  6 Nr.  4 der Europäischen Sozialcharta (ESCh); außerdem gewährt Art.  28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) „kollektive Maßnahmen zur Verteidigung der Interessen, einschließlich des Streikrechts“. Beides sind zwar in erster Linie völkerrechtliche Absichtserklärungen, ohne anspruchsbegründenen Charakter, allerdings unterstreichen die Regelungen die Bedeutung der Arbeitskampfmaßnahmen zur Durchsetzung der sozialverträglichen Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen. Ferner wird der Arbeitskampf in mehreren Bundes- und Landesgesetzen erwähnt und auch insofern als zulässiges kollektivrechtliches Instrument anerkannt (z.  B. §  2 Abs.  1 Nr.  2 ArbGG; §  74 Abs.  2 BetrVG; § 25 KSchG). Der Staat unterliegt im Arbeitskampf einer weitgehenden Neutralitätspflicht, denn es ist nicht Sache des Staates, die Interessen der Tarifvertragsparteien zu wahren, vielmehr müssen die Parteien aus eigenem Antrieb und privatautonom für ihre Interessen streiten. Das „normative Vakuum“ wird weitgehend durch die Arbeitsgerichte in Form von Richterrecht ausgefüllt. Insoweit kann man behaupten, dass die Richter des BAG die „wahren Gesetzgeber“ sind; sie legen sowohl die Voraussetzungen als auch die Grenzen des Streik- und Aussperrungsrechts fest und passen es fortlaufend auf neue Formen von Kampfmaßnahmen an (z. B. Flashmob-Aufruf; „Go-Sick“ als kollektive Krankmeldungen).

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10 Kollektivarbeitsrecht

10.3.2 Streik, Aussperrung und Betriebsstillegung 1712

Der Arbeitskampf kann mit folgenden Merkmalen umschrieben werden, die gemeinhin auch die Definition von Arbeitskampf umreißen: • • • •

1713

zielgerichtete Ausübung von Druck, durch eine kollektive Maßnahme der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite, zur Störung der Arbeitsbeziehungen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Wichtigste Erscheinungsformen sind dabei: Streik sowie Aussperrung bzw. Betriebsstilllegung.

10.3.2.1 Rechtmäßigkeit des Streiks Die planmäßige und gemeinschaftlich durchgeführte Arbeitsniederlegung oder Schlechterfüllung von Arbeitspflichten durch eine Mehrzahl von ­Arbeitnehmern zur Erreichung bzw. Durchsetzung kollektiver Ziele (z. B. Verbesserung von Lohn- und Arbeitsbedingungen), nennt man Streik. 1715 Die Durchführung eines Streiks (Abb. 10.1) folgt den Arbeitskampfrichtlinien der Gewerkschaften, die mehrere Phasen vorsehen: Beginnend mit dem Beschluss zur Einleitung eines Streiks, über den Beschluss und die Aufforderung an die Mitglieder, an der Urabstimmung teilzunehmen, die Urabstimmung selbst (Streikbe1714

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Abb. 10.1  Ablauf eines Tarifkonflikts

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schluss in der Regel durch 75 % der Gewerkschaftsmitglieder), die Genehmigung des Streikbeschlusses durch den Hauptvorstand der Gewerkschaft sowie der Kundgabe des Streikbefehls an die Gewerkschaftsmitglieder bis hin zur tatsächlichen Arbeitsniederlegung. Dabei wird die Durchführung des Streiks von der Streikleitung begleitet, die sich zuvor konstituiert hat. Sie achtet u.  a. darauf, dass auch während des Streiks die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gewahrt bleibt. Ein Streik muss rechtmäßig sein, wobei insbesondere die Rechtsprechung die 1716 Anforderungen an einen rechtmäßigen Streik herausgearbeitet hat. Hiernach müssen tarifliche und allgemeine Voraussetzungen gleichermaßen erfüllt sein. 10.3.2.1.1  Tarifliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen Zu einem Streik dürfen nur tariffähige Parteien, d. h. Gewerkschaften aufrufen, nicht etwa Betriebsräte oder andere betriebliche Organisationen. Möglich und ausreichend ist es allerdings, dass ein Streik, der zunächst nicht von der Gewerkschaft ausgerufen wurde (sog. „wilden Streiks“ oder „ad hoc-Koalitionen“), nachträglich von ihnen übernommen wird (Genehmigungsfiktion, § 184 Abs. 1 BGB). Ein vom Betriebsrat ausgerufener Streik ist dagegen mangels Tariffähigkeit des Betriebsrates rechtswidrig – er ist sogar ausdrücklich verboten (§ 74 Abs. 2 BetrVG). Denn Betriebsrat und Arbeitgeber sollen gem. § 2 Abs. 1 BetrVG vertrauensvoll zusammenarbeiten. Ein Streik muss immer auf einen tariflich regelbaren Gegenstand ausgerichtet sein (sog. Tarifbezogenheit). Gestreikt werden kann also nur zur Unterstützung einer Forderung, die anschließend auch in einem Tarifvertrag aufgenommen werden könnte. Dabei reicht die abstrakte Möglichkeit, Inhalt eines Tarifvertrages zu werden, aus. Dies ist beispielsweise anzunehmen, wenn der Streik auf bessere Lohnund Arbeitsbedingungen gerichtet ist, da er dann auf die Veränderung von typischen Regelungen des Tarifvertrages zielt (sog. Regelungsstreitigkeiten). Allerdings wäre dies abzulehnen bei politischen Streiks (z. B. Streik zur Absetzung eines Vorstandes) oder Solidarstreiks (z. B. um einem entlassenen Kollegen zu unterstützen), da eine solche Zielsetzung nicht mit den Inhalten eines Tarifvertrages in Zusammenhang steht und auch nicht Inhalt eines Tarifvertrages werden kann. Das gleiche gilt, wenn Ziele verfolgt werden, die gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen (z. B. Diskriminierung von bestimmten Personengruppen, was spätestens in seiner Umsetzung mit dem AGG unvereinbar wäre). Ferner muss es sich um Forderungen handeln, die nicht auf dem privaten Rechtswege durchgesetzt werden können. Denn in einem solchen Fall muss vorrangig dieser Rechtsweg eingeschlagen werden, der Streik verliert seine ­Berechtigungsgrundlage. Eine weitere zentrale Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Streiks ist die Einhaltung der tariflichen Friedenspflicht. Während eines laufenden Tarifvertrages dürfen keine Forderungen erhoben werden, die in diesem Tarifvertrag geregelt sind. Denn die tarifvertraglichen Regelungen haben zwingenden Charakter und stehen bis zum Ende der Laufzeit gerade nicht zur Disposition. In diesem Zusammenhang wird häufig die Zulässigkeit von sog. Warnstreiks diskutiert, die gerade nicht erst nach Auslaufen des Tarifvertrages stattfinden, sondern schon zuvor in der End-

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phase eines laufenden Tarifvertrages. Trotz des Verstoßes gegen die tarifliche Friedenspflicht hielt die Rechtsprechung Warnstreiks bereits zu Ende der Laufzeit für zulässig, sofern der Arbeitgeber mindestens 24 Stunden vor Beginn des Warnstreiks darüber informiert wurde und er nur von kurzer Dauer war. Diese Rechtsprechung hat dann jedoch zu den sog. Wellenstreiks geführt, also dem wiederholten Aufrufen zu Warnstreiks, weshalb die Rechtsprechung zuletzt wieder deutlich restriktiver geurteilt hat, ihn erst in der Verhandlungsphase für zulässig erachtet. 10.3.2.1.2  Allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen In allgemeiner Hinsicht muss das Ergreifen von Streikmaßnahmen verhältnismäßig sein, wobei dies für das „ob“ und das „wie“ der Arbeitskampfmaßnahme gilt. Hinsichtlich des „ob“ muss insbesondere das „ultima-ratio-Prinzip“ beachtet 1722 werden. Der Arbeitskampf ist nur „ultima ratio“, wenn mildere Mittel zur Konfliktlösung (z. B. Verhandlungen, Schlichtung) ausgeschöpft sind und nicht mehr zur Verfügung stehen. Ob eine Verhandlung gescheitert ist oder die Schlichtung aussichtslos, signalisiert entweder die Gegenseite oder die Gewerkschaft selbst; diese Einschätzungsprärogative ist Teil der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Verhandlungsfreiheit. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit müssen bezüglich des „wie“ die „Regeln 1723 eines fairen Kampfes“ eingehalten werden. Es muss eine angemessene Relation von Kampfmaßnahmen und Kampfziel vorliegen. Ein Arbeitskampf muss daher immer so geführt werden, dass mit dessen Beendigung die Betriebsabläufe ungehindert fortgesetzt werden können; alles andere wäre eine rechtsmissbräuchliche Ausübung des Streikrechts. Unverhältnismäßigkeit liegt beispielsweise bei evidenten Schädigungen der Betriebsmittel des Arbeitgebers vor, was insbesondere bei einem Aufruf zum Flashmob denkbar ist (BAG – 1 AZR 972/08). In diesem Sinne müssen auch notwendige Erhaltungs- und Wartungsarbeiten, die irreparable Schäden an Betriebsmitteln vermeiden helfen, weiterhin durchführbar bleiben, ebenso wie erforderlich werdende Notdienst- bzw. Notstandsarbeiten (z. B. müssen in einem Krankenhaus noch Notoperationen durchführbar sein). Wirtschaftliche bzw. ökonomische Nachteile spielen dagegen eine eher untergeordnete Rolle, da sie gerade das Druckpotential des Streiks ausmachen und notwendige Begleiterscheinung desselben sind. Im Übrigen relativiert sich in der Gesamtschau oftmals eine zunächst als unangemessen empfundene Kosten-Nutzen-Relation. 1721

Beispiel

Ein Beispiel ist der Piloten-Streik bei der Lufthansa aus dem Jahr 2016. Der Streik kostete die Lufthansa pro Tag ca. 15 Millionen EUR. Dies klingt zunächst viel und unverhältnismäßig, ist es jedoch unter Beachtung der täglichen Umsätze von ca. 84 Millionen EUR der Lufthansa nicht mehr. ◄ 1724

Im Rahmen der zulässigen Mittel werden oftmals auch die gewerkschaftsseitig eingesetzten Streikposten thematisiert. Das sind Arbeitnehmer, die sich während eines Streiks vor den Eingangstoren der Betriebe aufstellen und versuchen „Streik-

10.3 Arbeitskampfrecht

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brecher“, d.  h. tarifgebundene Arbeitnehmer, die sich am Streik nicht beteiligen wollen sowie Dritte (Kollegen, Lieferanten) am Zugang zum Betrieb zu hindern. Die Rechtsprechung hält dies für unbedenklich, sofern sich die Streikposten auf das „Überreden“ und ähnlich „geistig-ideelle Maßnahmen“ beschränken. Jedenfalls dürfen arbeitswillige Arbeitnehmer und Lieferanten nicht mittels Druck (z. B. Beleidigungen) oder durch den Einsatz körperlicher Gewalt (z. B. Festhalten) am Zugang gehindert werden; letzteres würde die Straftatbestände der Beleidigung (§ 185 StGB) und der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllen und wäre daher ein unzulässiger Exzess, der zudem als Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gewertet werden kann (§ 823 Abs. 1 BGB), der Unterlassungs- und Schadensersatzforderungen begründet (siehe nachfolgend). Beispiel

„Das Streikrecht umfasst die Befugnis einer streikführenden Gewerkschaft, die zur Arbeitsniederlegung aufgerufenen Arbeitnehmer unmittelbar vor dem Betreten des Betriebes anzusprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen. Eine solche Aktion kann – abhängig von den konkreten örtlichen Gegebenheiten  – mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten auch auf einem vom bestreikten Arbeitgeber vorgehaltenen Firmenparkplatz vor dem Betriebsgebäude zulässig sein.“ (BAG, Urteil vom 20.11.2018  – 1 AZR 189/17, NJW 2019, 1097) ◄ 10.3.2.1.3  Rechtsfolgen bei rechtswidrigem Streik Bei einem rechtswidrigen Streik stehen dem Arbeitgeber umfangreiche Gegenmaßnahmen zu. Soweit es sich um einen offensichtlichen Rechtsverstoß handelt, kommen gerichtliche Maßnahmen in Betracht (z.  B. einstweilige Verfügung, um den Streik schnell zu beenden). Ferner sind Schadensersatzansprüche gegen die rechtswidrig streikenden Arbeitnehmer aus §§  280 Abs.  1, 3, 283 BGB oder aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb möglich oder, sofern diese lediglich einem Streikaufruf der Gewerkschaft gefolgt sind, gegen die Gewerkschaft selbst.

10.3.2.2 Rechtsfolgen für das Einzelarbeitsverhältnis Der rechtmäßige Streik führt zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses. Wäh- 1725 rend des Streiks ruhen die gegenseitigen Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Für den tarifgebundenen Arbeitnehmer besteht keine Arbeitspflicht und der ­Arbeitgeber muss dementsprechend keinen Lohn zahlen. Die Suspendierung gilt jedoch nicht für die Befugnisse aus der Betriebsverfassung, weshalb die Arbeitnehmer auch während eines Streiks an Betriebsversammlungen einberufen und daran teilnehmen können. Gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer erhalten aus der Streikkasse ihrer 1726 Gewerkschaft eine finanzielle Unterstützung. Nicht organisierte Arbeitnehmer dürfen zwar ebenfalls streiken, haben aber keinen Anspruch auf diese Leistungen.

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Die Krankenversicherung besteht nach inzwischen feststehender Rechtslage bis zum Ende des Arbeitskampfes fort (vgl. § 192 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Fraglich sind die rechtlichen Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte, z. B. Zulieferbetriebe und deren Arbeitsverhältnisse (sog. Fernwirkung der Arbeitskampfmaßnahme). Solche Drittbetriebe sind häufig mittelbar betroffen (z. B. bei „just-­ in-time“-Absprachen) und müssen wegen einer Streikwelle ihren Betrieb herunterfahren oder einstellen. Hier hat sich nun der Standpunkt durchgesetzt, dass grundsätzlich der Arbeitgeber des Drittbetriebs das Betriebsrisiko trägt. Der Arbeitgeber muss also irgendwie dafür sorgen, dass seine Arbeitnehmer beschäftigt werden; der Lohnanspruch seiner Beschäftigten fällt nicht weg, selbst wenn sich deren Tätigkeiten infolge der Arbeitskampfmaßnahmen gezwungenermaßen reduzieren. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn und soweit sofern die Fernwirkungen des Arbeitskampfs das Kräfteverhältnis der kampfführenden Parteien, d. h. die Kampfparität beeinflusst. Dies kann z.  B. angenommen werden, wenn die Drittbetriebe eigenständige Betriebsteile des bestreikten Unternehmens sind und nun die Fortzahlung der Vergütung an deren Arbeitnehmer die Kampfparität aufhebt (sog. Arbeitskampfrisikolehre); stellt deshalb der Drittbetrieb die Entgeltzahlungen ein, spricht man von „kalter Aussperrung“. Umgekehrt gilt diese Risikolehre natürlich auch bei Kampfmaßnahmen auf Arbeitgeberseite (Aussperrungen), wo die Ausnahme zumeist zur Regel wird, weil ca. 90 % aller Betriebe in denselben Arbeitgeberverbänden organisiert sind. Die Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik oder anderen Arbeitskampfmaßnahmen stellt für den Arbeitgeber keinen Grund zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar (selbst, wenn es zu einem Exzess kommt), denn das würde die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG konterkarieren. Andererseits folgt aus der Tatsache, dass gestreikt wird, kein Kündigungsverbot. Natürlich kann auch in dieser Zeit eine Kündigung ausgesprochen werden, wenn hinreichende Kündigungsgründe vorliegen (Abschn. 9.7.2).

10.3.2.3 Rechtmäßigkeit der Aussperrung und Betriebsstillegung Den Arbeitgebern (Verband oder einzelnen Arbeitgebern) steht quasi als „Antwort“ auf einen rechtmäßigen Streik in erster Linie das Mittel der Aussperrung zur Verfügung; auch hierfür ist stets ein kollektiver Bezug erforderlich, sodass einzelne Arbeitnehmer wegen individueller Versäumnisse nicht ausgesperrt werden dürfen. Unter Aussperrung versteht man die generelle Zurückweisung der Arbeitsleistung unter Verweigerung der Lohnzahlung als Mittel der kollektiven Druckausübung zur Erreichung eines Tarifziels. 1731 Weitere arbeitgeberseitige Reaktionsmöglichkeiten neben der Aussperrung sind: 1730

• Zahlung von Streikbruchprämien, • (Suspendierende) Betriebsstilllegung, • Massen(änderungs-)kündigungen.

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10.3.2.3.1  Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen Hinsichtlich der Rechtmäßigkeitsanforderungen an die arbeitgeberseitige Kampf- 1732 maßnahme gilt im Allgemeinen das zum Streik ausgeführte (Abschn.  10.3.2.1). Auch das Aussperrungsrecht ist im Wesentlichen durch das Richterrecht geprägt, wobei im Rahmen der Erwägungen die Kampfparität und Waffengleichheit als zentrale Beurteilungsmaßstäbe im Vordergrund stehen. Ferner ist auch bei Aussperrungen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu 1733 berücksichtigen, wobei auch zwischen „ob“ und „wie“ differenziert werden kann. Bezüglich des „ob“ ist festzuhalten, dass eine Aussperrung immer nur die Reaktion auf einen rechtmäßigen Streik sein sollte; Angriffsaussperrungen, bei denen die Arbeitgeber die Initiative ergreifen, gelten daher gemeinhin als unzulässig (streitig). Ebenso wird es als unangemessen erachtet, wenn eine Aussperrung das gesamte Tarifgebiet umfassen soll, obschon nur in einigen wenigen Betrieben Streiks stattfinden (z. B. Aussperrung bei einem Streik von nur 10 % der Beschäftigten). Vielmehr soll nur in dem Tarifgebiet ausgesperrt werden dürfen, in dem der Streik geführt wird. Im Hinblick auf das „wie“ gelten sog. Selektivaussperrungen als unzulässig, d. h. Aussperrungen, die sich nur gegen einzelne gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer richten, um diese „mundtot“ zu machen oder weil sich die Arbeitgeber erhoffen, mit ihnen eine empfindliche Stelle der organisierten Arbeitnehmerschaft zu treffen. Zulässig sind dagegen Streikbruchprämien, die die Arbeitgeber ausloben, um tarifgebundene Arbeitnehmer aus dem Streikmodus herauszuholen. Als rechtmäßig wird es auch erachtet, dass der Arbeitgeber durch organisatorische Maßnahmen versucht, die Auswirkungen des Streiks auf seinen Betrieb zu reduzieren, indem er etwa Dritte beschäftigt (bei Leiharbeitern ist § 11 Abs. 5 S. 1 AÜG zu beachten). Scheitern die vorgenannten Maßnahmen, ist auch die komplette Betriebsstilllegungen rechtmäßig, sofern sie rechtzeitig angekündigt und schlüssig erklärt wird (aus dem Verhalten muss deutlich werden, dass sich der Arbeitgeber einem Streik beugt), selbst wenn sie automatisch auch Auswirkungen auf nicht tarifgebundene Mitarbeiter nach sich zieht (daher streitig). Wenn ein Arbeitgeber die Maßnahme der Aussperrung zurecht ergreift, müs- 1734 sen sich auch potentiell Arbeitswillige daran halten; sie können nicht mehr arbeiten und verlieren auch ihren Vergütungsanspruch. Verbleiben sie im Betrieb, kann dies nach der Rechtsprechung sogar einen strafbaren Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) begründen. Eine Aufrechterhaltung des Betriebs ist seitens des Arbeitgebers gerade nicht – auch nicht im Hinblick auf die unbeteiligten Arbeitnehmer – notwendig, der Arbeitgeber kann die Betriebsabläufe durch Aussperrung stilllegen, selbst wenn ihm die Aufrechterhaltung technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist (BAG NJW 1995, 477). 10.3.2.3.2  Rechtsfolgen bei rechtswidriger Aussperrung Eine rechtswidrige Aussperrung befreit den Arbeitgeber nicht von seiner Vergü- 1735 tungsverpflichtung. Der Arbeitgeber befindet sich in einem solchen Fall mit der Annahme der durch die nicht streikenden Arbeitnehmer angebotenen Arbeitsleis-

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10 Kollektivarbeitsrecht

tung in Verzug (§§ 615, 293, 294 BGB), weshalb die geschuldete Vergütung auch (nach-)geleistet werden müsste. Fragen

7. Was sind die drei Elemente des Arbeitskampfes? 8. Welche Ansprüche ergeben sich aus einem rechtswidrigen Arbeitskampf?

10.4 Betriebsverfassung 1736

Die Mitbestimmung im Betrieb blickt in Deutschland auf eine lange Geschichte zurück. Sie war bereits in der ersten Gewerbeordnung aus dem Jahr 1869 vorgesehen („Fabrikausschuss“) und ist heute mit dem Betriebsrat, den Sprecherausschüssen sowie den Personalvertretungen im kollektiven Arbeitsrecht fest verankert. Es geht darum, die Arbeitnehmer in die unternehmerischen Entscheidungen mit einzubeziehen, indem ihnen Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden.

10.4.1 Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen Die im kollektiven Arbeitsrecht relevante „betriebliche Mitbestimmung“ (u. a. geregelt im BetrVG) ist von der sog. „Unternehmensmitbestimmung“ in Kapitalgesellschaften (geregelt im MitbestG, MontanMitbestG, MitbestErgG, DrittelbG) streng zu unterscheiden. Während letztere gesellschaftsrechtlich und rechtsformspezifisch abgefordert wird (z. B. in Aktiengesellschaften, GmbHs oder Genossenschaften mit über 2000 Arbeitnehmern)  – ist die Betriebsverfassung kollektiv-­ arbeitsrechtliches Instrument in jedem Unternehmen der Privatwirtschaft rechtsformunabhängig möglich – selbst in Einzelunternehmen oder Personengesellschaften. 1738 Obschon beide Instrumentarien die interne Willensbildung im Unternehmen anbetreffen, sind die Interessenlagen der Mitbestimmungsmodelle ­unterschiedlich: 1737

• Bei der „arbeitsrechtlichen bzw. betrieblichen Mitbestimmung“ soll der Betriebsrat die Organisations- und Weisungsabhängigkeit der Arbeitnehmer durch seine Mitbestimmungsrechte in sozialen, wirtschaftlichen und personellen Angelegenheiten kompensieren, indem er selbst in die Lage versetzt wird, auch eine konträre Position zur Unternehmensleitung einzunehmen (sog. Konfrontationsmodell). Zur Wahrnehmung dieser betrieblichen Beteiligungsrechte verfügt die Arbeitnehmerschaft daher über eigene (weisungsunabhängige) Belegschaftsorgane. Die betriebliche Mitbestimmung bezieht sich – im Unterschied zur Unternehmensmitbestimmung  – nicht notwendig auf das Gesamtunternehmen, sondern (nur) auf die arbeitsrechtliche Einheit des „Betriebs“. Letzterer ist zwar gesetzlich nicht definiert, allerdings versteht das BAG darunter „eine Organisationseinheit, innerhalb der ein Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern unter Ein-

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satz von sachlichen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke verfolgt.“ Die betriebliche Interessenwahrnehmung findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 12 GG. • Demgegenüber steht die „Unternehmensmitbestimmung“ im Aufsichtsrat, die dem sog. Integrationsmodell folgt, weil – im Unterschied zur betrieblichen Mitbestimmung – die Arbeitnehmervertreter hier zusammen mit den Anteilseignern innerhalb derselben Unternehmensorgane agieren und dabei an einem Strang ziehen, um u.  a. gemeinsame Entscheidungen bezüglich der Investitions- und Personalpolitik des Unternehmens zu fällen. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung folgt hier aus Art. 14 GG.

10.4.2 Rechtsgrundlage: Betriebsverfassungsgesetz Zentrale Rechtsgrundlage der betrieblichen Mitbestimmung ist das Betriebsverfas- 1739 sungsgesetz (BetrVG), ergänzt um die Wahlordnung, die die Einzelheiten der Betriebsratswahlen regelt sowie die Bestimmungen und Wahlordnung zu den Sprecher­ ausschüssen der leitenden Angestellten (SprAuG). Das BetrVG wurde seit seinem Inkrafttreten mehrfach reformiert, grundlegend 1740 in 1972 und 2001, wobei die Schwerpunkte der Reformen die Schwellenwerte, das Wahlverfahren und die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte waren: • Die Schwellenwerte zur Bestimmung der Betriebsratsfähigkeit und die Anzahl der Betriebsräte wurden verändert. • Das Wahlverfahren wurde erleichtert, insbesondere für kleine und mittlere Betriebe. • Die Mitbestimmungsrechte wurden erweitert und auf neue Bereiche, wie Leiharbeitsverhältnisse, Telearbeit und der Auslagerung von Unternehmensteilen erstreckt. Generell regelt das BetrVG das Zusammenspiel von Arbeitgeber und Arbeitneh- 1741 merschaft in Betrieben der Privatwirtschaft. In diesem Rahmen gewährt es den Arbeitnehmern eine Mitwirkung an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen durch die betrieblichen Interessenvertretungen. Zur Umsetzung dieser betrieblichen Mitbestimmung bedarf es zweierlei: In ers- 1742 ter Linie (zwingender) Organisations- und Verfahrensvorschriften, die das Amtsrecht des Betriebsrats sowie dessen Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern – also die „Amtsbeziehung“ – regeln. Zum anderen Vorschriften, die die materiellen Kompetenzen des Betriebsrates festlegen und die Auswirkung seiner Entscheidungen auf das einzelne Arbeitsverhältnis – also den „Vertragsbeziehungen“ – normieren. Beides hält das BetrVG mit seinem Organisationsrecht einerseits und seinen Beteiligungsrechten andererseits vor. Sondervorschriften ergänzen diese beiden Hauptbereiche.

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10.4.2.1 Räumlicher Anwendungsbereich Das BetrVG gilt für alle Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland; entscheidend ist der Ort, an dem der Betrieb angesiedelt ist. Bedeutungslos sind hingegen die Staatsangehörigkeit des Arbeitgebers sowie die der Arbeitnehmer. 10.4.2.2 Sachlicher Anwendungsbereich Sachlich anwendbar ist das BetrVG auf alle privatrechtlichen inländischen Betriebe, wobei § 1 Abs. 2 BetrVG eine Vermutungsregel enthält, wann bei mehreren Unternehmen von einem Betrieb ausgegangen werden darf und § 4 Abs. 1 S. 1 BetrVG auch Betriebsteile für betriebsratsfähig erachtet, sofern – und dies kann als Definition gelten – eine räumlich-organisatorische Einheit mit eigener Leitung vorliegt, z. B. ein Werk, eine Filiale, die Verwaltungszentrale.

10.4.2.3 Persönlicher Anwendungsbereich Das BetrVG regelt den persönlichen Geltungsbereich in § 5 BetrVG. Das BetrVG gilt danach für alle Betriebsangehörigen, die in einem Arbeitsverhältnis zu dem Betriebsinhaber stehen, d. h. die Arbeitnehmer einschließlich der Auszubildenden, Außendienstmitarbeiter und in Telearbeit Beschäftigte (§ 5 BetrVG). Nicht erfasst sind hingegen Heimarbeiter, die nur zum Teil für den Betrieb tätig sind (§ 5 Abs. 2 BetrVG) und leitende Angestellte (§ 5 Abs. 3 BetrVG). Für Betriebe des öffentlichen Rechts (Rechtsträger entscheidend) gelten die Per1746 sonalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder (§ 130 BetrVG); ebenso fallen Religionsgemeinschaften und Tendenzbetriebe nicht oder nur eingeschränkt unter das BetrVG (§ 118 BetrVG). 1745

10.4.3 Betriebsrat als Organ der Betriebsverfassung 1747

Der Betriebsrat als Organ der Arbeitnehmervertretung ist das wohl wichtigste Organ der Betriebsverfassung in einem Unternehmen. Daneben gibt es weitere betriebsverfassungsrechtliche Organe, die auf verschiedenen Ebenen der Unternehmen Bedeutung erlangen oder für bestimmte Personengruppen, auf die aber nachfolgend nicht mehr weiter eingegangen wird. • • • • • • • •

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Gesamtbetriebsrat (§§ 47 ff. BetrVG) Konzernbetriebsrat (§§ 54 ff. BetrVG) Europäischer Betriebsrat (Gesetz über europäische Betriebsräte (EBRG)) Jugend- und Auszubildendenvertretung (§§ 60–73 BetrVG) Schwerbehindertenvertretung (§§ 178 ff. SGB IX) Betriebsversammlung (§§ 42–46 BetrVG) Einigungsstelle (§§ 76, 76a BetrVG) Wirtschaftsausschuss (§§ 106–110 BetrVG)

Betriebsräte können in Betrieben mit mindestens fünf ständig beschäftigten, wahlberechtigten Arbeitnehmern gewählt werden (§§ 1 Abs. 1, 7 BetrVG), von de-

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nen mindestens drei wählbar (§ 8 BetrVG) sein müssen (beachte auch § 23 KSchG, Teilzeitkräfte gelten u. U. nur als 0,5 Arbeitnehmer). Der Betriebsrat ist der gesetzliche Interessenvertreter (Repräsentant) der Be- 1749 legschaft. Er ist selbst Träger von Rechten und Pflichten nach dem BetrVG und übt dieselben im eigenen Namen aus. Er ist kein Gewerkschaftsorgan und gerade kein gesetzlicher Gegenspieler des Arbeitgebers. Vielmehr ist er nach § 2 BetrVG zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber zum Wohl der Arbeitnehmerschaft verpflichtet. Dieses zentrale Gebot ist an mehreren Stellen auch gesetzlich konkretisiert, u.  a. in der Verpflichtung zur monatlichen Besprechung (§ 74 Abs. 1 BetrVG), dem Arbeitskampfverbot (§ 74 Abs. 2 BetrVG), Pflicht zur Wahrung des Betriebsfriedens (§ 75 BetrVG). In diesem Zusammenhang ist der Betriebsrat ferner dazu verpflichtet, alle im Unternehmen tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit zu behandeln und für Gerechtigkeit im Einzelfall zu sorgen. Ferner sind sie dafür verantwortlich, dass keine diskriminierenden Maßnahmen gegenüber der Belegschaft getroffen werden (insbesondere beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen), aber auch von ihm selbst keine solchen Diskriminierungen ausgehen (§  75 Abs. 1 BetrVG).

10.4.3.1 Wahl und Zusammensetzung des Betriebsrates Die Betriebsräte „können“ in Betrieben mit mindestens fünf Arbeitnehmern ge- 1750 wählt werden, was bedeutet, dass sich ein Betrieb auch gegen eine Wahl eines solchen Gremiums entscheiden kann, selbst wenn die Voraussetzungen nach § 1 Abs. 1 BetrVG erfüllt wären; die Wahl ist freiwillig. Ein Betriebsrat soll – sofern er installiert wird – möglichst die Arbeitnehmer- 1751 schaft repräsentativ abbilden, d. h. sich aus Arbeitnehmern einzelner Organisationsbereiche und Beschäftigungsarten des Betriebs zusammensetzen. Daher können nach § 3 BetrVG – vorzugsweise durch Tarifvertrag – Betriebsratsstrukturen vereinbart werden, die speziell auf die Bedürfnisse des jeweiligen Betriebs, Unternehmens oder Konzerns zugeschnitten sind. Insofern ist es statthaft, dass ein Unternehmen mit mehreren Betrieben nur einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat bildet (§  3 Abs.  1 Nr.  1 BetrVG). Dass der Betriebsrat neben den verschiedenen Beschäftigungsarten auch die Diversität in den Geschlechtern berücksichtigt, fordert § 15 Abs. 2 BetrVG. Die Initiative zur Betriebsratswahl geht grundsätzlich von den Arbeitnehmern 1752 aus – der Arbeitgeber muss entsprechende Initiativen dulden. Zur Vorbereitung der Wahl bestimmen die Arbeitnehmer im Rahmen einer Betriebsversammlung den Wahlvorstand (§ 17 Abs. 2 BetrVG), dem die Leitung und Durchführung der Wahl obliegt, beginnend mit dem Aufstellen und Auslegen der Wählerliste, der Prüfung derselben, der Bekanntmachung der Wahlvorschläge, der Durchführung der Wahl sowie die Auszählung der Stimmen und Benachrichtigung der Gewählten (sog. Regelwahlverfahren gemäß § 14 Abs. 1 BetrVG i. V. m. §§ 1–27 WahlO). Soweit ein Gesamtbetriebsrat existiert (§ 47 Abs. 1 BetrVG), kann diesem die Initiative zur Wahl überlassen sein (§ 17 Abs. 1 BetrVG); ausnahmsweise kann auch

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eine Gewerkschaft zur Betriebsversammlung einladen (§ 17 Abs. 3 BetrVG). Für Klein- und Mittelbetriebe gibt es ein vereinfachtes Wahlverfahren (§ 14a BetrVG). Die Wahl darf weder behindert noch beeinflusst werden (§ 20 Abs. 1 BetrVG). Die Kosten (Sach- und Personalkosten) trägt der Arbeitgeber. Auch wenn die Wahl während der Arbeitszeit stattfindet und regelmäßig zu Arbeitsausfallzeiten führt, darf das Arbeitsentgelt deshalb nicht gemindert werden (§ 20 Abs. 3 BetrVG). 1753 Grundsätzlich sind nur die betriebsangehörigen Arbeitnehmer wahlberechtigt, die das 16. Lebensjahr beendet haben (§ 7 S. 1 BetrVG); ausgenommen sind die leitenden Angestellten (§ 5 Abs. 3 BetrVG), die gegebenenfalls ihren eigenen Sprecherausschuss wählen. Die Betriebsangehörigkeit folgt aus dem Arbeitsvertrag oder der tatsächlichen Eingliederung in den Betrieb. In diesem Zusammenhang stellt § 7 S. 2 BetrVG klar, dass Leiharbeiter, die theoretisch zwei Betrieben zugeordnet werden können, nach drei Monaten Einsatz im Betrieb zwar berechtigt sind, den Betriebsrat mit zu wählen, sich allerdings nicht selbst zur Wahl stellen dürfen (siehe auch § 14 Abs. 2 S. 1 AÜG). 1754 Eine Betriebsratswahl findet alle vier Jahre statt (§ 13 Abs. 1 BetrVG), der Betriebsrat wird auf vier Jahre gewählt (in der Regel im Zeitraum zwischen März und Mai). Die Anzahl der zu wählenden Betriebsräte bemisst sich nach dem Schlüssel, 1755 den § 9 BetrVG vorgibt. Bei bis zu 20 wahlberechtigten Arbeitnehmers besteht der Betriebsrat nur aus einer Person; mit zunehmender Arbeitnehmerzahl steigt die Anzahl der Betriebsratsmitglieder (z. B. 1000–1500 Arbeitnehmer = 15 Betriebsratsmitglieder).

10.4.3.2 Rechtsstellung des Betriebsrates Betriebsratsmitglieder sind ehrenamtlich tätig, sie erhalten kein Entgelt für ihre Tätigkeit (§ 37 Abs. 1 BetrVG). Allerdings sind die Betriebsräte zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben von ihrer beruflichen Verpflichtungen – und zwar ohne Minderung ihrer Vergütungsansprüche – freizustellen (§ 37 Abs. 3 S. 1 BetrVG). 1757 Betriebsratsmitglieder, die zwar mit den Arbeitgebern vertrauensvoll zusammenarbeiten sollen, werden kraft ihrer Stellung im Lager der Arbeitnehmer mitunter auch zu „Gegnern“ des Arbeitgebers, weshalb sie das Gesetz gleich in mehrerer Hinsicht vor Repressalien schützt und damit zugleich auch ihre Unabhängigkeit wahrt: Wegen ihrer Tätigkeit dürfen Betriebsratsmitglieder weder bei der Ausübung ihrer Tätigkeit gestört und behindert (Ungestörtheit der Organarbeit, §  78 S.  1 ­BetrVG) noch gegenüber Mitgliedern anderer Interessenvertretungen im Unternehmen benachteiligt oder begünstigt werden (Gleichbehandlungsgebot, §§ 78 S. 2 BetrVG); dies bezieht sich auch auf ihre berufliche Entwicklung, die geradewegs gefördert werden soll (Fördergebot, § 37 Abs. 6 BetrVG). Ferner ist sicherzustellen, dass Betriebsratsmitglieder während ihrer Amtszeit und einem Nachwirkungszeitraum von einem Jahr an den betrieblichen Vergütungsentwicklungen vergleichbarer Arbeitnehmer teilhaben (Entgeltschutz, §  37 Abs.  4 BetrVG). Schließlich unterliegen Betriebsräte während ihrer Amtszeit und der Nachwirkzeit einem besonderen Kündigungsschutz; Kündigungen sind in dieser Zeit nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 15 KSchG möglich. 1756

10.4 Betriebsverfassung

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Im operativen Ablauf sind ebenfalls einige Besonderheiten zu berücksichti- 1758 gen. Der Betriebsrat muss sich zur Wahrnehmung seiner Aufgaben nur beim Vorgesetzten abmelden (§ 37 Abs. 2 BetrVG); ferner muss er sich bei Aufnahme seiner Arbeit wieder zurückmelden. Für das Betriebsratsmitglied besteht grds. kein genereller Anspruch auf dauer- 1759 hafte Freistellung von der Arbeitsverpflichtung. Erst bei einem Betrieb mit 200 oder mehr Arbeitnehmer muss eine bestimmte Zahl von Betriebsräten zur Wahrnehmung ihrer Tätigkeit von der Arbeit dauerhaft oder zum Teil freigestellt werden (§ 38 BetrVG). Allerdings hat jedes Betriebsratsmitglied einen Anspruch auf Schulungs- und Bildungsveranstaltungen (§ 37 Abs. 6 BetrVG), wozu es auch freigestellt werden muss, sofern die Schulung nützlich ist. Als nützlich gilt, wenn die Schulung „dienlich und förderlich“ für die Betriebsratsarbeit ist, wobei die Vermittlung von Spezialkenntnissen einen konkreten Anlass erfordern soll. Insgesamt stehen dem Betriebsrat für Schulungen drei Wochen pro Amtszeit zu (§ 37 Abs. 7 S. 1 BetrVG). Inwieweit die Kosten der Teilnahme vom Arbeitgeber übernommen werden müssen (§ 40 Abs. 1 BetrVG), richtet sich danach, ob Inhalt und Umfang der Veranstaltung im Hinblick auf die Größe und Leistungsfähigkeit des Betriebs als angemessen gelten können. Beispiel

Das Betriebsratsmitglied B begehrt die Kostenübernahme und Freistellung für ein Seminar zur psychischen Begleitung von Mobbing-Opfern in den USA. Da in dem Unternehmen bislang keine Mobbingfälle aufgetreten sind und damit die Kosten in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen, kann eine Kostenübernahme seitens des Arbeitgebers abgelehnt werden. ◄ Überhaupt hat der Arbeitgeber die Pflicht, den Betriebsrat mit sachlichen, finan- 1760 ziellen und personellen Mitteln angemessen auszustatten. Nach § 40 Abs. 2 BetrVG hat er den Betriebsrat so auszustatten, dass er seine Arbeit zweckgemäß erledigen kann, wozu auch der Zugangs zum Intranet des Betriebs gehören kann (sog. Ausstattungsgebot). Beispiel

Der neu installierte Betriebsrat B fordert von seinem Arbeitgeber einen eigenen Raum mit PC und Internetanschluss. Dieser Forderung muss der Arbeitgeber gemäß § 40 Abs. 2 BetrVG nachkommen, da diese Ausstattung in der heutigen Zeit Bürostandard darstellt. Hätte der B dagegen ein digitales Flipboard mit Beamer und Konferenzlösung gefordert, lässt sich diese Forderung nicht ohne weitere Begründung unter die Ausstattungspflicht subsumieren. ◄ Betriebsräte sind in jeder Hinsicht weisungsunabhängig; selbst die Betriebsver- 1761 sammlung kann sich zwar mittels Anträgen an den Betriebsrat wenden und Stellungnahme einfordern, sie kann ihm allerdings keine verbindlichen Weisungen erteilen (§§ 43 Abs. 3, 45 BetrVG).

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Von ihrem Amt können Betriebsratsmitglieder nur bei groben Pflichtverstößen durch Beschluss des Arbeitsgerichts enthoben werden (§  23 Abs.  1 BetrVG), wobei das Arbeitsverhältnis an sich hiervon zunächst einmal nicht betroffen ist, wenngleich der Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG mit der Amtsenthebung endet. Relevante Pflichtverletzungen sind u. a. das Preisgeben von vertraulichen Informationen (§ 79 BetrVG) oder das nachhaltige Stören des Betriebsfriedens (§ 74 Abs. 2 BetrVG).

10.4.3.3 Aufgaben und Befugnisse des Betriebsrates Das BetrVG sieht ein großes Spektrum von Mitwirkungsmöglichkeiten des Betriebsrates im Rahmen seiner Aufgabenwahrnehmung (siehe dazu § 80 Abs. 1 BetrVG) vor. Die Befugnisse reichen von reinen Anhörungs- und Informationsrechten bis hin zu folgeschweren Mitbestimmungsrechten, bei denen der Betriebsrat arbeitgeberseitige Maßnahmen tatsächlich verhindern kann. Bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten muss er die datenschutzrechtlichen Grundsätze nach der DSGVO und die Anforderungen aus dem Bundesdatenschutzgesetz beachten (§ 79a BetrVG). Obgleich das BetrVG eigentlich abschließend und zwingend ausgestaltet ist, hält das BAG die Erweiterung und Verstärkung von betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechten durch Tarifvertrag für zulässig. Die Facette der möglichen Rechte des Betriebsrates  – von Mitwirkungs- zu Mitbestimmungsrechten – lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Informationsrechte: Der Betriebsrat ist rechtzeitig vom Arbeitgeber über Maßnahmen in Kenntnis zu setzen (z. B. vor Einstellung oder Versetzung von Mitarbeitern). • Widerspruchsrechte: Der Betriebsrat hat die Möglichkeit, einer Maßnahme des Arbeitgebers zu widersprechen, wenngleich der Widerspruch die Maßnahme in der Regel nicht verhindert, sondern lediglich ein Überdenken seitens des Arbeitgebers anregen kann (z. B. Widerspruch gegen die Sozialauswahl im Rahmen einer ordentliche Kündigung, § 102 Abs. 3 BetrVG). • Anhörungsrechte: Der Betriebsrat muss vor einer Maßnahme umfassend informiert und anschließend angehört werden; der Arbeitgeber hat sich mit dem Vorbringen wenigstens auseinanderzusetzen, wenngleich dies im „stillen Kämmerlein“ erfolgen kann (z. B. Anhörung vor jeder Kündigung, § 102 Abs. 1 BetrVG). • Beratungsrechte: Der Betriebsrat muss sich nach umfassender Vorabinformation mit dem Arbeitgeber zusammensetzen und die Angelegenheit gemeinsam erörtern. Seitens des Arbeitgebers muss erkennbar werden, dass er sich mit den Argumenten des Betriebsrats auseinandergesetzt hat, selbst wenn seine Entscheidung am Ende anders ausfallen kann (z. B. bei der Neugestaltung von technischen Abläufen und Arbeitsplätzen, § 90 Abs. 2 BetrVG). • Zustimmungsverweigerungsrecht: Der Betriebsrat kann eine gesetzlich vorgesehene Zustimmung aus bestimmten Gründen verweigern (§ 99 Abs. 2 BetrVG), weshalb die Maßnahme zunächst unterbleiben muss, allerdings einer gerichtlichen Prüfung zugänglich ist (z. B. bei Verstoß einer Maßnahme, die gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen würde, § 99 Abs. 2 BetrVG).

10.4 Betriebsverfassung

683

• Zustimmungsrecht: Der Betriebsrat muss zustimmen, damit der Arbeitgeber eine Maßnahme überhaupt treffen kann. Kommt es zu keiner Einigung zwischen dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber, entscheidet die Einigungsstelle (§ 76 BetrVG). Der Arbeitgeber kann sich daher einseitig nicht über die fehlende Zustimmung hinwegsetzen bzw. hinwegklagen (z. B. Anordnung von Mehrarbeit, § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). • Initiativrecht: Der Betriebsrat kann von sich aus Vorschläge unterbreiten und Maßnahmen initiieren (z.  B. interne Ausschreibung einer freien Stelle, §  93 BetrVG). Dem Arbeitgeber obliegt gemäß § 80 Abs. 2 BetrVG die Pflicht, den Betriebsrat über alles zu informieren, was dieser zu seiner Aufgabenerfüllung wissen muss. Dazu zählt – wie in der vorangegangenen Aufzählung deutlich wurde – auch die Bereitstellung von Unterlagen. Der Arbeitgeber kann sich der Herausgabe der notwendigen Informationen auch nicht dadurch verweigern, dass er sich auf Betriebsoder Geschäftsgeheimnisse beruft (§ 80 Abs. 2 BetrVG). Bezogen auf die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte kann auch auf an- 1764 dere Weise differenziert werden, indem zwischen sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten unterschieden wird: Gerade in sozialen Fragen – also der ureigensten Angelegenheit der Betriebs- 1765 räte – besteht eine Entscheidungskompetenz des Arbeitgebers nur im Einvernehmen mit dem Betriebsrat (§§ 87–89 BetrVG). Hierdurch soll eine kollektive Behandlungs- und Verteilungsgerechtigkeit gesichert werden. Durch diese Mitwirkungspflicht wird das einseitige Weisungsrecht des Arbeitgebers betreffend des „wie“ (nicht des „ob“) stark eingeschränkt. Der Katalog des § 87 BetrVG (sog. „obligatorische Mitbestimmung“) lässt sich weiter unterscheiden nach Mitbestimmung im Bereich der vertraglichen Leistungsbeziehung (Nr. 1–5, 10, 11, 13) und der Mitbestimmung im Bereich der außervertraglichen Betriebsbeziehung (Nr. 6–9, 12). Beispiel

Typische Regelungsgegenstände sind u. a. Ordnung des Betriebs (z. B. Rauchund Alkoholverbote, Regelungen betreffend die Telefonanlagen, Taschen- und Türkontrollen); Vorschriften über das Verhalten des Arbeitnehmers im Betrieb; Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit und Urlaubsregelungen; vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung von Arbeitszeiten; Überwa­ chungseinrichtungen (z.  B.  Kameraüberwachung); Fragen der Lohngestaltung einschließlich Einführung neuer Vergütungsmethoden. ◄ Soweit hier keine Entscheidung zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat zustande kommt, entscheidet auf Antrag einer Seite die sog. Einigungsstelle (vgl. § 76 BetrVG = Zwangsschlichtung). Es handelt sich um eine Schlichtungsinstanz, deren Errichtung und Betrieb der Arbeitgeber finanzieren muss. Ihr Spruch ist für die Betriebspartner bindend und hat die Wirkung einer Betriebsvereinbarung (§ 76

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10 Kollektivarbeitsrecht

Abs. 1, 2 BetrVG). Die Ausübung des Regelungsermessens durch die Einigungsstelle unterliegt lediglich einer Rechtskontrolle durch die Arbeitsgerichte (§  76 Abs. 5 S. 4 BetrVG); sie ist binnen 2 Wochen zu veranlassen, wenn eine Partei mit dem Schlichtungsspruch nicht einverstanden ist. 1766 In wirtschaftlichen Angelegenheiten bestehen fast ausschließlich Unterrichtungs- und Beratungsrechte seitens des Betriebsrats (§§ 106–113 BetrVG), da hier die ureigensten Rechte des Unternehmers angesprochen sind; seine Dispositionsfreiheit soll möglichst erhalten bleiben. Beispiel

Typische Regelungsgegenstände sind u. a.: • Errichtung neuer Fabrikationsräume oder technischer Anlagen: Diese Bereiche betreffen Planungsentscheidungen der Arbeitgeber, die weitgehend der unternehmerischen Freiheit überlassen sind (Art. 14 GG). Davon umfasst sind auch die Planung von Arbeitsverfahren oder – abläufen. Allerdings hat hier der Betriebsrat auch das Recht, sich zur Wehr zu setzen. Voraussetzung ist, dass bei Veränderungen der Arbeitsumgebung oder der -abläufe ein Widerspruch gegen die „gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ vorliegt und die Arbeitnehmer dadurch „in besonderer Weise“ belastet werden. In diesem Falle kann die Belegschaft „angemessene Maßnahmen“ verlangen, um die Belastung abzuwenden oder zu mildern. • Bei anstehenden Betriebsänderungen – Stilllegung; Verlegung des Betriebes oder die Einführung grundlegend neuer Fertigungsverfahren – muss in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten der Betriebsrat unterrichtet werden. In diesen Fällen sieht das Gesetz einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sowie einen Sozialplan vor, mit dem die wirtschaftlichen Nachteile gemildert werden sollen, die den Beschäftigten durch die Betriebsänderung entstehen. Hinsichtlich des Sozialplans ist eine Regelung durch Anrufung der Einigungsstelle erzwingbar (§ 112 BetrVG). ◄ 1767

In personeller Hinsicht muss der Betriebsrat rechtzeitig über die Personalplanung informiert werden (§§ 92–105 BetrVG). Dieser Regelungsbereich nimmt eine Zwischenstellung ein, er ist weder den ureigenen Aufgaben des Betriebsrates noch denen des Arbeitgebers zugewiesen, weshalb eine gemeinschaftliche Lösung über Beratungs- und Zustimmungsverweigerungsrechte gesucht wird. Beispiel

Typische Regelungsbereiche sind u. a.: • Mitspracherecht bei Ausschreibungen, Einstellungen, Personalbögen, Versetzungen und der Einstufung in die jeweilige Gehaltsgruppe (Eingruppierung), wobei eine Verweigerung der Zustimmung allerdings nur beim Vorliegen be-

10.4 Betriebsverfassung

685

stimmter gesetzlicher Voraussetzungen gestattet ist, die einer arbeitsgerichtlichen Überprüfung zugeführt werden können. • Nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Er hat also das Recht zur Stellungnahme. Der Arbeitgeber hat ihm zuvor die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam. Dabei steht nach ständiger Rechtsprechung des BAG die nicht ordnungsgemäße Anhörung der unterbliebenen Anhörung gleich. Die Unterrichtung muss nicht denselben Anforderungen genügen wie die Darlegung des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess. Wenn der Betriebsrat Bedenken gegen eine Kündigung hat, muss er diese gem. §  102  Abs.  2  BetrVG dem Arbeitgeber schriftlich mitteilen. Die Mitteilung ist von mindestens einem Betriebsratsmitglied eigenhändig zu u­ nterzeichnen, eine bloße E-Mail genügt nicht den Formerfordernissen (vgl. ArbG Frankfurt a.M., Urteil vom 16.03.2004 – 4 Ga 43/04). ◄ Zur Verdeutlichung Abb. 10.2, welche die Rechte des Betriebsrats in steigender Intensität darstellt.

10.4.4 Betriebsvereinbarungen Betriebsvereinbarungen sind Abreden zwischen dem Betriebsrat und dem Arbeit- 1768 geber, die von beiden Seiten zu beschließen, schriftlich niederzulegen und zu unterzeichnen sind (vgl. § 77 Abs. 2 S. 1 BetrVG). Bei der Betriebsvereinbarung handelt 5HFKWHGHV%HWULHEVUDWVLQVWHLJHQGHU,QWHQVLWlW 0LWZLUNXQJVUHFKWH

0LWEHVWLPPXQJVUHFKWH 'XUFKVHW]EDUH 0LWEHVWLPPXQJ =XVWLPPXQJV HUIRUGHUQLV

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Abb. 10.2  Rechte des Betriebsrats in steigender Intensität

$*NDQQRKQH =XVWLPPXQJGHV %5QLFKW KDQGHOQ LP=ZHLIHO HQWVFKHLGHWGLH (LQLJXQJVVWHOOH

%VS† %HWU9*

686

10 Kollektivarbeitsrecht

es sich – ähnlich des Tarifvertrags (Abschn. 10.2.3) – um einen Vertrag mit normativer Wirkung. Sie gelten unmittelbar und zwingend, § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG, d. h. sie wirken in das Arbeitsverhältnis hinein, es sei denn, das Günstigkeitsprinzip begrenzt diese Wirkung. Ein Verzicht eines Arbeitnehmers auf Rechte aus einer Betriebsvereinbarung ist nur mit Zustimmung des Betriebsrats wirksam. Beispiel

Dem Arbeitnehmer A steht nach seinem Arbeitsvertag ein Urlaubsgeld in Höhe von 300 EUR zu. Die Betriebsvereinbarung legt nunmehr das Urlaubsgeld betriebseinheitlich auf 250 EUR fest. Zwar wirkt die Betriebsvereinbarung in das Arbeitsverhältnis des A hinein, allerdings kann er aufgrund seines günstigeren Arbeitsvertrages auch weiterhin 300 EUR Urlaubsgeld vom Arbeitgeber beanspruchen (Auswirkung des Günstigkeitsprinzips). ◄ 1769

Im Grunde folgt aus der Vertragsautonomie, dass Inhalt einer Betriebsvereinbarung alle materiellen und formellen Arbeitsbedingungen sein können. Allerdings formuliert § 77 Abs. 3 BetrVG eine Regelungssperre. Danach können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen nicht mehr Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn sie von einem Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden. Völlig irrelevant ist dabei, ob der Arbeitgeber tarifgebunden ist oder nicht; es reicht, wenn sein Betrieb in den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fällt (z. B. einem Flächentarifvertrag). Insofern muss die mögliche Kollision zuvor überprüft werden, da andernfalls die Regelung der Betriebsvereinbarung unwirksam wird. Beispiel

Läge im vorangegangenen Beispiel ein Tarifvertrag vor, der Aussagen zum Urlaubsgeld trifft, wäre die entsprechende Regelung in der Betriebsvereinbarung unwirksam und die arbeitsvertragliche Regelung wäre ausschlaggebend. Auf das Günstigkeitsprinzip käme es nicht mehr an. ◄ Eine Ausnahme von dieser Regelungssperre gilt dann, wenn sich im betreffenden Tarifvertrag eine Ermächtigung zum Abschluss einer ergänzenden Betriebsvereinbarung befindet (sog. Öffnungsklausel). In diesem Fall wäre die Vertragsautonomie wieder vollständig gegeben. 1771 Im Übrigen gilt für die Betriebsvereinbarung ähnliches wie für den Tarifvertrag: Sie besteht aus dem schuldrechtlichen und normativen Teil. Schuldrechtlich wird auch die Betriebsvereinbarung auf eine bestimmte Zeit geschlossen und bedarf mit Ende der Laufzeit einer erneuten Vereinbarung. Für die Zwischenzeit normiert § 77 Abs. 6 BetrVG eine Nachwirkung der Betriebsvereinbarung, allerdings mit der besonderen Einschränkung, dass die Nachwirkung nur für Betriebsvereinbarungen gilt, die aufgrund eines zwingenden Mitwirkungsrechts des Betriebsrates geschaffen wurden („Einigungsstelle“). 1770

10.5  Lösungen zu den Fragen: Kollektivarbeitsrecht

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Von der Betriebsvereinbarung zu unterscheiden sind die formlosen Regelungs- 1772 abreden (oder Betriebsabsprachen) zwischen dem Betriebsrat und der Unternehmensleitung. Sie haben keine unmittelbare normative Wirkung. Sie wirken daher nicht auf die Arbeitsverhältnisse ein, sondern entfalten lediglich eine schuldrechtliche Wirkung zwischen den Vertragsparteien. Sie wird daher häufig eingesetzt, wenn es um rein operative Vorgänge geht (z. B. Festlegung von Ort und Zeit regelmäßiger Betriebsversammlungen). Sollten die Parteien eine Regelungsabrede nutzen, um den Arbeitgebern eine Betriebsvereinbarung „vorzugaukeln“, ist dies – unbeschadet ihrer Wirkungslosigkeit gegenüber den Arbeitnehmern – rechtsmissbräuchlich und könnte zumindest Unterlassungsansprüche der Gewerkschaften begründen (§ 1004 Abs. 1 BGB); das BAG hat den Gewerkschaften sogar ein eigenes Klagerecht (Verbandsklagerecht) gegen missbräuchliche Abmachungen eingeräumt (BAG – 3 ABR 21/04). Ferner würde der Betriebsrat grob pflichtwidrig handeln, was ein Abberufen desselben begründen könnte (Abschn. 10.4.3.2). Fragen

9. Was versteht man unter Zweispurigkeit der kollektiven Interessenvertretung?

10.5 Lösungen zu den Fragen: Kollektivarbeitsrecht 1. Die Koalitionsfreiheit schützt sowohl die individuelle (positive und negative) Koalitionsfreiheit der Einzelnen als auch die kollektive Koalitionsfreiheit der Verbände. Die individuelle Koalitionsfreiheit schützt in erster Linie die sog. individuelle positive Koalitionsfreiheit, d. h. das Recht des Einzelnen, zusammen mit anderen eine Koalition zu bilden, in ihr zu verbleiben und sich für diese zu betätigen. Mit dieser korreliert die individuelle negative Koalitionsfreiheit, die Freiheit des Arbeitnehmers, z. B. der Gewerkschaft oder einem Verband fernzubleiben bzw. aus ihr/ihm wieder auszutreten. Mit kollektiver Koalitionsfreiheit ist gemeint, dass Gewerkschaften und Verbände frei von staatlichen Genehmigungen gebildet werden können. Ferner sind sie in ihren internen, organisatorischen Strukturen autonom (sog. innergewerkschaftliche Autonomie), soweit die allgemeinen Gesetze, insbesondere die verfassungsrechtlichen Grundsätze eingehalten werden. 2. Tarifwilligkeit bezeichnet den Willen und die subjektive Kraft, Tarifverträge abzuschließen. Dementsprechend ist ihr Vorliegen auch eine Voraussetzung der Tariffähigkeit. 3. Der Staat hat die Aufgabe, die Koalitionen in ihrem Bestand und ihrer Betätigung zu schützen (Bestands- und Betätigungsgarantie). Die Gewerkschaften müssen kraft ihrer kollektiven Koalitionsfreiheit das Recht haben, für sich zu werben, auch in den Betrieben. So ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass das Verteilen von Flugblättern im Betrieb in den Schutzbereich des Art.  9 Abs.  3 GG fällt.

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10 Kollektivarbeitsrecht

4. Ursprünglicher Zweck war es, die individuell schwachen Arbeitnehmer gegen Vertragsdiktate der übermächtigen Arbeitgeber zu schützen. Die Zulassung einer kollektiven Gegenmacht sollte einen staatsfrei ausgehandelten, angemessenen Interessenausgleich ermöglichen. Dadurch sollte die Privatautonomie auf der kollektiven Ebene wiederhergestellt werden. 5. Der Tarifvertrag ist ein hybrides Gebilde – in ihm vereinigen sich Privatautonomie und Rechtsetzung; er hat einen schuldrechtlichen Teil – dort wo Rechte und Pflichten festgelegt werden – und einen normativen, rechtssetzenden Teil. 6. Nach § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit – bis der Tarifvertrag endet – auch dann bestehen, wenn der Arbeitnehmer während der Geltungsdauer aus der Gewerkschaft austritt; das bezeichnet man als die sog. „Nachbindung“ des Tarifvertrags. Unter „Nachwirkung“ des Tarifvertrags versteht man die fortdauernde Gültigkeit des Tarifvertrags trotz Eintritt seiner Ablauffrist bis ein neuer Tarifvertrag in Kraft ist, um kein Regelungsvakuum entstehen zu lassen, § 4 Abs. 5 TVG. In dieser Übergangszeit verlieren allerdings tarifvertragliche Normen ihre zwingende Wirkung, d. h. der Tarifvertrag kann durch einzelvertragliche Vereinbarung unterschritten werden. 7. Arbeitskampf kann wie folgt umschrieben werden: Zielgerichtete Ausübung von Druck durch die Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite durch Störung der Arbeitsbeziehungen. 8. Bei einem rechtswidrigen Streik stehen dem Arbeitgeber umfangreiche Gegenmaßnahmen zu. Soweit es sich um einen offensichtlichen Rechtsverstoß handelt, kommen gerichtliche Maßnahmen in Betracht. So können einstweilige Verfügungen gegen rechtswidrig streikende Arbeitnehmer oder deren Gewerkschaften erlassen werden. Darüber hinaus kann eine Schadensersatzhaftung der Gewerkschaft und sogar der rechtswidrig streikenden Arbeitnehmer (dann als Gesamtschuldner nach §§ 830, 840 BGB) gegeben sein. Die Teilnahme eines Arbeitnehmers an einem rechtswidrigen Streik ist auch ein Grund für eine fristlose Kündigung. Allgemein gilt bei Kündigungsfällen aber eine Interessenabwägung, so dass es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt. 9. Die „Zweispurigkeit“ der kollektiven Interessenvertretung besagt, dass die Vertretung der Arbeitnehmer zum einen durch die Gewerkschaften und zum anderen durch den Betriebsrat erfolgt.

Weiterführende Literatur

Bürgerliches Recht Baur F., Stürner R.   Sachenrecht, C. H. Beck, 18. Aufl. 2009 Brox H., Walker W.-D.   Allgemeiner Teil des BGB, Vahlen, 44. Aufl. 2020 Brox H., Walker W.-D.   Allgemeines Schuldrecht, C. H. Beck, 44. Aufl. 2020 Brox H., Walker W.-D.   Besonderes Schuldrecht, C. H. Beck, 44. Aufl, 2020 Bülow, P.   Recht der Kreditsicherheiten, C.F. Müller, 10. Aufl. 2021 Klunzinger. E.   Einführung in das Bürgerliche Recht: Grundkurs für Studierende der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Vahlen, 17. Aufl. 2019 Medicus D., Petersen J.   Grundwissen zum Bürgerlichen Recht, Vahlen, 11. Aufl. 2019 Medicus, D., Lorenz, S.   Schuldrecht I, Allgemeiner Teil, C.H. Beck, 21. Aufl. 2015 Medicus, D., Lorenz, S.   Schuldrecht II, Besonderer Teil, C.H. Beck, 18. Aufl. 2018 Säcker, F.-J., Rixecker, R., Oetker, H., Limperg, B.   Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (Bd. 1 – Bd. 7), C.H. Beck, 8. Aufl. 2019 Palandt   Bürgerliches Gesetzbuch (Kommentar), C.H. Beck, 80. Aufl. 2021 Soergel/Siebert   Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen (Bd. 1 – Bd. 16), Kohlhammer, 13. Aufl. 2000 ff.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2022 D. Gesmann-Nuissl, Kompendium Wirtschaftsprivatrecht, Springer-Lehrbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62872-0

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690

Weiterführende Literatur

Handelsrecht Baumbach, A., Hopt K.-J.   Kommentar zum Handelsgesetzbuch, C.H. Beck, 25. Aufl. 2020 Brox, H., Henssler, M.   Handelsrecht: mit Grundzügen des Wertpapierrechts, C.H. Beck, 23. Aufl. 2020 Canaris, C.-W.   Handelsrecht, C.H. Beck, 24. Aufl. 2006 Ensthaler, J.   Gemeinschaftskommentar zum HGB, Luchterhand, 8. Aufl. 2014 Schmidt, K.   Handelsrecht: Unternehmensrecht I, Carl Heymanns, 6. Aufl. 2013 Schmidt, K.   Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch (Bd. 1 – Bd. 4), C.H. Beck, 3.–5. Aufl. 2014 ff. Thume, K.-H., Riemer, J.-B., Schürr, U.   Handbuch des gesamten Vertriebsrecht, R&W, 5. Aufl. 2016 Schlechtriem, P., Schroeter, U.   Internationales UN-Kaufrecht, C.H. Beck, 6. Aufl. 2016

Gesellschaftsrecht (mit Konzern- und Umwandlungsrecht) Eckhardt, D., Hermanns, M.   Kölner Handbuch Gesellschaftsrecht, Wolters Kluwer, 4. Aufl. 2020 Eisenhardt, U., Wackerbart, U.   Gesellschaftsrecht I – Recht der Personengesellschaften, C.F. Müller, 16. Aufl. 2015 Eisenhardt, U., Wackerbart, U.   Gesellschaftsrecht II – Recht der Kapitalgesellschaften, C.F. Müller, 16. Aufl. 2015 Emmerich, V., Habersack, M.   Konzernrecht, C.H. Beck, 11. Aufl. 2019 Gottwald, P., Haas, U.   Insolvenzrechts-Handbuch, C.H. Beck, 6. Aufl. 2020 Gummert, H., Weipert, L.   Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 1 (GbR, oHG, Partnerschaft), C.H. Beck, 5. Aufl. 2018 Gummert, H., Weipert, L.   Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 2 (KG, GmbH & Co. KG), C.H. Beck, 4. Aufl. 2014 Hofmann-Becking, M., Austmann, A.   Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 4 (AG), C.H. Beck, 5. Aufl. 2020 Hasselbach, K., Nawroth, C.   Beck’sches Holding Handbuch, C.H. Beck, 3. Aufl. 2020 Priester, H.-J., Mayer, D.   Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Bd. 3 (GmbH), C.H. Beck, 5. Aufl. 2018 Schmidt, K.   Gesellschaftsrecht: Unternehmensrecht II, Carl Heymanns, 4. Aufl. 2013

Arbeitsrecht Dörner, K., Lukzak, S.   Handbuch Arbeitsrecht, Wolters Kluwer, 15. Aufl. 2019

Weiterführende Literatur Hromadka, W., Maschmann, F.   Arbeitsrecht Bd. 1: Individualarbeitsrecht, Springer, 7. Aufl. 2018 Hromadka, W., Maschmann, F.   Arbeitsrecht Bd. 2: Kollektivarbeitsrecht, Springer, 8. Aufl. 2020 Müller-Glöge, R., Preis, U.   Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, C.H. Beck, 20. Aufl. 2020 Schaub, G.   Arbeistrecht-Handbuch, C.H. Beck, 18. Aufl. 2019

691

Sachverzeichnis

Das Sachverzeichnis verweist auf Randnummern A Ablieferung 161, 318, 930, 932, 941 Abmahnung 238, 1596, 1640 Abschlussfreiheit 11 Abschlussprovision 841 Abstraktionsprinzip 16 Abtretung 253, 667 Abtretungsverbot 257 Abtretungsvertrag 260, 722 Sicherungsabtretung 510 Aktiengesellschaft 1030, 1242 Akzessorietät 534, 703 Allgemeine Geschäftsbedingungen 15, 73 Allgemeines Gleichstellungsgesetz 1440, 1448 Anerkenntnisvertrag 908 Anfechtbarkeit 1568 Anfechtung 144, 1479 Anfechtungserklärung 149 Anfechtungsfrist 150 Anfechtungsgrund 146 Angebot 51, 53 Annahme 51, 60 Annahmeverzug. Siehe Gläubigerverzug Antrag. Siehe Angebot Anweisung 960 Arbeitgeber 1410, 1433 Arbeitnehmer 1410, 1416 Arbeitnehmerüberlassung 1432 Arbeitsverhältnis 1410, 1439 Arbeitsvertrag 1412, 1414 Aufhebungsvertrag 225, 1568 Aufklärungspflicht 532 Auflassung 697 Auflösungsgrund 1057, 1143, 1302

Aufrechnung 228, 535 Aufrechnungsverbot 234, 1553 Aufsichtsrat 1188, 1200, 1272, 1306, 1727 Auftrag 102, 385 Auftraggeber 385 Aufwendung 191, 210 Aufwendungsersatzanspruch 397 Ausschlussfrist 1482, 1599 B Bauvertrag 355 Bedingung 157 Beendigung 23, 251 Befreiung 114, 178 Befristung 157, 698, 1499 Beglaubigung 85 Bereicherung 564 Beschäftigungspflicht 1557 Beseitigungsanspruch 748 Besitz 654 Besitzdiener 656 Besitzkonstitut 666 mittelbarer 656 unmittelbarer 656 Besitzwehr 658 Bestätigungsschreiben kaufmännisches 764 Besteller 336, 343 Bestimmtheitsgrundsatz 499 Betrieb 1436, 1616 Betriebsrat 1588, 1736 Betriebsübergang 1644 Beurkundung 85, 359, 497 Beweisfunktion 84, 892, 958

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693

694 Beweislast 1611, 1623 Beweislastumkehr 1538 BGB-Gesellschaft. Siehe Gesellschaft bürgerlichen Rechts Bringschuld 168 Bruchteilgemeinschaft 1027 Bruchteilseigentum 655 Bürgschaft 528, 901

C culpa in contrahendo 650

B Darlehen 427, 469 Dauerschuldverhältnis 235, 1411 Deliktsrecht 599, 650 Dienstbarkeit 689, 732 Dienstverhältnis 808, 1414 Dienstvertrag 416, 1415 Direktionsrecht 1429, 1439 Dissens 70

E E-Commerce 115 Eigengeschäftsführung 551, 561 Eigenmacht 658 Eigentümer-Besitzer-Verhältnis 753 Eigentum 22, 653, 659 Alleineigentum 655 Gesamthandseigentum 655 Miteigentum 655 Eigentumsübertragung 659 Eigentumsvorbehalt 482, 743 eingetragene Genossenschaft 1030 eingetragenen Tatsachen 778 Einigung 69, 660 Einreden 260 Einwendungen 260, 570 Einwilligung 133, 607 Einzelprokura 812 Enthaftung 713 Erfüllung 218 Erfüllungsgehilfe 190 Erfüllungsort 300 Erklärungswillen 35 Erlass 226 F Factoring 450 Fälligkeit 169

Sachverzeichnis Fahrlässigkeit 190, 1527, 1528 grobe 208, 316 Fernabsatzvertrag 123 Finanzierungs-Leasing 441 Firma 783 Firmenbeständigkeit 1140 Fixhandelskauf 926 Forderungsübergang 259, 715 Form 83 Formerfordernisse 83 Frachtgeschäft 937 Franchise 871 Franchisegebers 872 Franchisenehmer 836, 871, 1415 Franchisevertrag 872 Fremdgeschäftsführung 552 Fristsetzung 198, 313 G Garantie 543 Gattungsschuld 174 GbR. Siehe Gesellschaft bürgerlichen Rechts Gebrauchsüberlassung 439 Gebrauchsüberlassungsvertrag 364 Gebrauchsüberlassungsverträge 285 Gefährdungshaftung 602 Gefälligkeitsverhältnis 26 Gefahrtragung 296, 346, 884 Gefahrübergang 207, 203, 325 Gelddarlehen 461 Geldforderung 195 Genehmigung 112, 135 Generalklausel 80 Generalvollmacht 100 Genossenschaft 1030 Gesamthandsvermögen 1046 Gesamtprokura 812 Gesamtschuld 274, 1051 Geschäftsbesorgungsvertrag 391 Geschäftsfähigkeit 129, 556, 1463 Geschäftsführer 550, 1189 Geschäftsführung ohne Auftrag 548 Geschäftsgrundlage Störung, der 148, 248 Geschäftsherr 89, 548 Geschäftsunfähigkeit 571 Geschäftswille 35 Gesellschaft 1021, 1024 Gesellschaft bürgerlichen Rechts 1033 Gesellschafter 1026 Gesellschafterversammlung 1197 Gesellschafterwechsel 1953, 1093, 1139, 1160, 1214

Sachverzeichnis Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) 1169 Gesellschaftsrecht 1021 Gesellschaftsvermögen 1045 Gesellschaftsvertrag 1027 Gewährleistungsrecht 301 Gewerbe 760, 766 Gewerbebetrieb 622, 766 Gewinn 214, 766 Gläubiger 204 Gläubigermehrheit 269 Globalzession 261 GmbH & Co. KG 1315 Grundbuch 688 Grundschuld 718 H Haftung 190, 301, 790, 1051, 1087, 1111, 1133, 1159, 1184, 1205, 1294 Haftungsausschluss 317, 797 Handelsbrauch 881 Handelsgeschäft 877 Handelsgesellschaft 758 Handelsgewerbe 766 Handelskauf 919 Handelsklausel 881 Handelsmakler 860 Handelsrecht 758 Handelsregister 772 Handelsvertreter 837 Handlungsvollmacht 822 Handlungswillen 35 Hauptversammlung 1281 Herausgabeanspruch 740 Hersteller 676, 868 Hilfsperson 640, 807 Hinterlegung 207, 921 Holschuld 168 Hypothek 704 I Incoterms 758, 1017 Informationspflicht 165, 473, 1638 Innenverhältnis 103, 272, 811 Irrtum 143 Eigenschaftsirrtum 147 Erklärungsirrtum 147 Identitätsirrtum 147 Inhaltsirrtum 147 Irrtum in der Bezeichnung 148 Kalkulationsirrtum 147 Motivirrtum 148

695 Übermittlungsirrtum 147 Ist-Kaufmann 766 J Job-Sharing 1496 K Käufer 294 Kann-Kaufmann 1067 Kaufmann 766 Kaufvertrag 286 Kausalität 603 Körperschaften 1028, 1163 Körperverletzungen 607 Kommanditgesellschaft (KG) 1117 Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) 1312 Kommissionär 851 Kommissionsagent 864 Kondiktion 566 Eingriffskondiktion 580 Leistungskondiktion 567 Nichtleistungskondiktion 578 Kontokorrent 905 Kündigung 235 Kündigungsfrist 238 L Ladenvollmacht 832 Lagergeschäft 952 Leasing 434 Leasingvertrag 434 Leiharbeitnehmer 1432 Leihe 382 Leistungsgefahr 175, 297 Leistungslohn 1536 Leistungsort 167, 1515 Leistungspflicht 217 Leistungsstörung 162 Leistungszeit 218 M Mängelhaftung 301 Mahnung 193 Makler 413 Maklervertrag 413 Mangel 301 Rechtsmangel 309 Sachmangel 302 Mieter 366

696 Mietsache 366 Mietvertrag 364 Minderung 311 Mindestlohn 1538 Mitverschulden 216, 557 N Nacherfüllung 191, 312 Nachfristsetzung 200, 995 Naturalrestitution 211 Nebenkosten 368 Nichtigkeit 1477 Nutzungsersatz 325 O Obhutspflicht 277, 369 öffentliches Recht 3 Offene Handelsgesellschaft (oHG) 1059 Operating-Leasing 436 Orderpapier 957 P Pacht 380 Pächter 380 Partnerschaft 1097 Persönlichkeitsrecht, allgemeines 605, 1667 Personalsicherheit 528 Personengesellschaften 1028, 1033 Pfandrecht 519, 913 Pflichtverletzung 185, 1525, 1559 Prämie 1536 Privatautonomie 11, 1678 Privatrecht 3, 5 Prokura 811 Provision 415, 836, 1536 R Rechtfertigungsgründe 602 Rechtsbehelf 986 Rechtsbindungswille 26, 1463 Rechtsfähigkeit 1032 Rechtsgeschäft 1 Rechtsgrund 128 Rechtskauf 292 Rechtssubjekt 5 Rechtswidrigkeit 602 Regressanspruch 326 Rücktritt 239 Rügepflicht 930

Sachverzeichnis S Sachdarlehen 460, 479 Satzung 1173 Schadensersatz 209 Schenkung 357 Schickschuld 168 Schmerzensgeld 215, 611 Schönheitsreparatur 366 Schriftform 85 Schuldanerkenntnis 226 Schuldbeitritt 264 Schuldnermehrheit 273 Schuldnerverzug 193 Schuldübernahme 264 Schutzgesetz 617 Schweigen 43, 894, 898 Selbstvornahme 350 Sicherungsabrede 490 Sicherungseigentum 495 Sicherungshypothek 354, 712 Sicherungsübereignung 497 Sicherungszweckvereinbarung 719 Sittenwidrigkeit 154 Societas Europaea (SE) 1303 Speditionsgeschäft 944 Spezialvollmacht 100 Speziesschuld. Siehe Stückschuld Spezifikationskauf 924 Stammkapital 1174, 1209 Stellvertretung 89 Stille Gesellschaft 1144 Störung der Geschäftsgrundlage. Siehe Geschäftsgrundlage Stückschuld 173 T Täuschung arglistige 147 Tantieme 1536 Tarifvertrag 1441, 1675 Taschengeldparagraph 134 Tausch 356 Teilzahlungskauf 419 Textform 85 Treu und Glauben 26 Treuepflicht 1029, 1521 U Überweisung 401 Unentgeltlichkeit 358, 399 Unmöglichkeit 178

Sachverzeichnis Untergang 175, 296, 1018 Unterlassung 547, 613 Unterlassungsanspruch 750 Unternehmen 622, 783 Untersuchungspflicht 933 Unwirksamkeit 126 aufgrund des unbewussten Abweichens von Wille und Erklärung 143 aufgrund eines Formmangels 153 aufgrund eines Mangels in der Geschäftsfähigkeit 129 aufgrund von Gesetzesverstoß, Sittenwidrigkeit und Wucher 154 V Verarbeitung 673 Verbindung 673 Verbotsgesetz 154 Verbraucher 14, 122, 323 Verbraucherdarlehen 473 Verein 1164 Verfügung 19, 566 Vergütungsanspruch 941, 1431 Vergütungsformen 1536 Vergütungspflicht 1535 Verjährung 278 Verkäufer 291 Verkehrssicherungspflicht 604 Vermieter 366 Vermieterpfandrecht 370 Vermischung 673 Vermögen 209, 605 Vermögensvorteil 564 Verpflichtungsgeschäft 16 Verrichtungsgehilfe 640 Verschlechterung 346 Verschulden 190, 1527 Verschuldenshaftung 608 Vertrag 45 Vertragsfreiheit 11, 80 Vertragshändler 868 Vertrauensschaden 112 Vertretenmüssen 186 Vertreter 89, 810 Vertretungsmacht 98, 810 Verwahrung 406

697 Verwendung 303 Verwirkung 278 Verzögerungsschaden 199 Verzug 192 Gläubigerverzug 204 Verzugszinsen 198 Vindikationslage 753 Vollamortisation 438 Vollmacht 100, 811 Anscheinsvollmacht 108 Duldungsvollmacht 108 Vorfälligkeitsentschädigung 471, 478 Vorkaufsrecht 737 Vorsatz 190, 1527 Vorstand 1166, 1262 W Warnfunktion 84 Weisungsrecht 1429 Werkunternehmer 336 Werkunternehmerpfandrecht 353 Werkvertrag 335 Wertersatz 213, 243 Widerruf 244 Widerrufsfrist 245 Widerrufsrecht 246 Willenserklärung 29 Wirtschaftsrecht 2 Wohnraummiete 368 Wucher 154, 466 Z Zahlungsverzug 376 Zedent 253 Zeitlohn 1536 Zerstörung 346 Zession 253 Zessionar 253 Zivilrecht 758, 1443 Zubehör 686 Zug um Zug 334 Zulagen 1536 Zurückbehaltungsrecht 546 Zustimmung 43