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German Pages 160 Year 1995
Philosophische Schriften Band 14
Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne
Von
Michael Großheim
Duncker & Humblot · Berlin
MICHAEL GROSSHEIM
Ökologie oder Technokratie?
Philosophische Schriften Band 14
Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne
Von
Michael Großheim
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Grossheim, Michael: Ökologie oder Technokratie? : Der Konservatismus in der Moderne / von Michael Grossheim. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Philosophische Schriften ; Bd. 14) ISBN 3-428-08399-7 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08399-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
7
Erster Teil Erstes Kapitel: Technokratie und Ökologie
12
Zweites Kapitel: Konservatismus
23
Zweiter Teil Drittes Kapitel: Mensch und Technik
34
a) Ludwig Klages
34
b) Ernst Jünger
43
c) Martin Heidegger
72
d) Exkurs: Bloch, Lukâcs, Horkheimer, Adorno, Benjamin, Marcuse
92
Dritter Teil Viertes Kapitel: Heimatliebe oder imperiale Herrschaft
110
Fünftes Kapitel: Volk und Staat
124
Sechstes Kapitel: Ludwig Klages und das Dritte Reich
128
Siebentes Kapitel: Vaterland oder Mutterland?
133
Schluß
140
Literaturverzeichnis
142
Namenregister
157
Einleitung Die ökologische Bewegung unserer Tage ist eigenartig geschichtslos. Das mag daran liegen, daß die Partei, die sich als ihr politischer Repräsentant versteht, eine Neugründung darstellt, die auf keine organisatorische Tradition zurückgreifen konnte. Aber auch die geistige Tradition der Technikkritik spielte und spielt keine Rolle bei der Neuorientierung in diesem Bereich. Geistesgeschichtlich gesehen stammen die frühen ökologischen Entwürfe vor allem aus der Philosophie. Politisch gesehen sind sie dem Konservatismus zuzuordnen, und darin wird der wohl wichtigere Grund liegen, daß sie in der modernen ökologischen Debatte unbeachtet bleiben.1 Das Wort "conservare" wiederum scheint angesichts der Notwendigkeit, die Überlebensmöglichkeiten des Menschen zu bewahren, eine neue Aktualität zu gewinnen, was zu Erhard Epplers Unterscheidung von "Strukturkonservatismus" und "Wertkonservatismus" geführt hat. Es gibt auch Versuche, die Vertreter der gegenwärtigen ökologischen Bewegung als "Konservative" darzustellen, als späte Nachkömmlinge jener spezifisch deutschen Bewegung, die "von der Romantik bis Jünger und Heidegger den von den westlichen Demokratien abweichenden Weg der Deutschen bestimmt hat."2 Doch existiert ein solches Traditionsbewußtsein nicht, und auch von einem konservativen Selbstverständnis ist bei den modernen Ökologen nicht viel zu spüren. Der Konservatismus selbst hat sich in den letzten Jahrzehnten einer zahmen Variante der Technokratie zugewandt - die vor allem die Verteidigung des 1 Vgl. z.B. Manon Maren-Grisebach, Philosophie der Grünen, München/Wien 1982. Die Verfasserin beruft sich gern auf Emst Bloch, doch nicht auf dessen Antipoden Ludwig Klages. Die konservative Tradition des Ökologiegedankens harrt noch immer der Aufarbeitung. Richard Stöss greift mit seinem Beitrag zu kurz. Vgl. ders., Konservative Aspekte der Ökologiebewegung, in: Ästhetik und Kommunikation 36: Linker Konservatismus? Jg. 10, Juni 1979, S. 19-28. Er beschränkt sich auf einen ungeeigneten Vergleich von modernen Flugblättern mit Autoren der Konservativen Revolution wie Moeller van den Bruck oder Arthur Mahraun. In polemischer Absicht konstruiert Thomas Kluge Zusammenhänge, doch auch er verfehlt schon die angemessene Quellenbasis. Ausgerechnet an Oswald Spengler, den er för den "einflußreichsten Repräsentanten der präfaschistischen Lebensphilosophie" hält, will er Kontinuitäten bis in die Gegenwart nachweisen. Vgl. Thomas Kluge, Noch ein Untergang des Abendlandes? Leben und Tod - Die unbewußte Renaissance der Lebensphilosophie in der Ökologiebewegung, in: Politische Vierteljahresschrift (1983), S. 428-445. Dazu kritisch: Otto Ullrich, Vom leichtfertigen Umgang mit wichtigen Themen. Kritische Bemerkungen anläßlich des Beitrages von Tliomas Kluge (S. 445-449). 2
69.
Günter Rohrmoser, Was heißt schon konservativ?, in: Natur, Hefl 11/1983, S. 68-71, hier 71,
8
Einleitung
technischen Fortschritts gegen pauschale Kritik zum Anliegen hat - und die Ökologie preisgegeben. So konnte das verwaiste Thema von der Linken aufgegriffen werden, deren Verhältnis zur Technik zuvor aufgrund der Fixierung auf die soziale Frage im großen und ganzen ein positives war. Dieser Rollentausch der politischen Lager in ihrer Stellung zur Technik ist ein verblüffendes Phänomen der letzten Jahrzehnte.3 Blickt man etwas weiter zurück, in die erste Hälfte dieses Jahrhunderts, läßt sich feststellen, daß der Konservatismus keineswegs eindeutig Position bezogen hat. Die Frage nach der Stellung zum technisch-industriellen Fortschritt gehört zweifellos zu den zentralen Problemen des Konservatismus, doch interessanterweise stößt man hier bei näherer Betrachtung auf eine ganz heterogene Landschaft. Gleich zwei grundverschiedene Richtungen kristallisieren sich heraus, die beide ihren Ansatz konsequent zu einer geschlossenen Haltung ausbauen. Auf diese Weise entsteht eine Polarität, die mit Hilfe der heute geläufigen Begriffe "Ökologie" und "Technokratie" gekennzeichnet werden kann. Die bedeutendsten Vertreter der ökologischen Richtung innerhalb des Konservatismus finden wir in Ludwig Klages, Martin Heidegger und dem reifen Friedrich Georg Jünger. Als Repräsentanten der technokratischen Richtung sollen in unserem Zusammenhang der Ernst Jünger des "Aibeiter" (1932) und der Ernst Niekisch der "Dritten imperialen Figur" (1935) dienen. Diese Personen werden anderen möglichen Kandidaten der Untersuchung vorgezogen, weil sie die Positionen jeweils recht rein verkörpern. Ein Autor wie Hans Frey er wird zwar vielfach für den technokratischen Konservatismus reklamiert, 4 doch ist seine Haltung im Vergleich etwa zu deijenigen Ernst Jüngers sehr viel weniger eindeutig. So wirkt die Herkunft aus der Jugendbewegung in manchen kulturkritischen Vorbehalten immer wieder nach. Im Hinblick auf sein Spätwerk fallt es schwer, ihn vorbehaltlos als einen Technokraten zu bezeichnen. Ähnlich steht es mit Oswald Spengler, der in seiner Schrift "Der Mensch und die Technik" (1931) zwar im Namen des Heroismus den "Verrat an der Technik" anklagt und die Ökologen als Defaitisten diffamiert, doch andererseits gern das Hohelied auf den intakten Bauernstand anstimmt. Hier handelt es sich also um Autoren, durch deren Denken der angedeutete Riß mitten hindurchgeht; demgegenüber haben die obengenannten Gewährsmänner den Vorzug der Eindeutigkeit, der es erlaubt, das Problem klarer herauszuarbeiten. 3 Vgl. Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 157-160. 4 Vgl. Richard Saage, Von der "Revolution von rechts" zum technokratischen Konservatismus. Anmerkungen zu Hans Freyers Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Industriegesellschaft, in: Ders., Rückkehr zum starken Staat? Studien über Konservatismus, Faschismus und Demokratie, Frankfurt a.M. 1983, S. 202-227. -Wichtig ist vor allem die differenzierte Freyer-Rezension ν on Hermann Lübbe: Die resignierte konservative Revolution, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 115 (1959), S. 131-138.
Einleitung
Die Opposition, die sich zwischen Ökologie und Technokratie andeutet, durchzieht seit Jahrzehnten das politische Lager des deutschen Konservatismus und ist bis heute nicht beseitigt. Die Vergewisserung über die Tradition dieses Problems ist geeignet, das bisher diagnostizierte "Dilemma des Konservatismus" (Greiffenhagen) in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Im Verlauf der Ausführungen wird sich zeigen, daß technokratische und ökologische Haltung umfassender sind als zunächst anzunehmen ist; das geht bis in die wichtige Frage nach derrichtigenpolitischen Organisationsform. Beide Seiten entwickeln hier spezifische Vorstellungen: Mit der heimatlichen Bindung konkurriert die imperiale Sendung. Diesen politischen Gestaltungsmöglichkeiten liegen verschiedene Auffassungen von Wesen und Aufgaben des Technischen zugrunde. Im weiteren Gefolge stehen dann Differenzen in der Bewertung von Land und Großstadt, Staat und Volk, Herrschaft und Krieg. Auch der Nationalsozialismus ist von dem hier auszuarbeitenden Dilemma »ökologischvolklich5 oder technisch-imperial« nicht verschont geblieben und hat seine spezifische historische Antwort gefunden. Um diese Lösung ein wenig zu beleuchten, soll das oft mißverstandene Verhältnis von Ludwig Klages zum Dritten Reich untersucht werden. Sein umfangreiches philosophisches Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" war erst 1932 vollendet, so daß die darin angelegten politischen Positionen erst in den darauffolgenden Jahren überhaupt zu einer gewissen Wirkung gelangen konnten. Die politischen Bemühungen der Klages-Schüler trafen daher im Unterschied zum Rest der Konservativen Revolution weniger mit der Realität der Weimarer Republik zusammen, sondern mehr mit der weitaus problematischeren Situation innerhalb der nationalsozialistischen Diktatur. Einige Worte zum Charakter der vorliegenden Arbeit sind unerläßlich. Sie stützt sich in der Regel auf (z.T. abgelegene) Primärquellen, da es kaum Sekundärliteratur gibt, die das Dilemma "Ökologie oder Technokratie" im Konservatismus eingehend untersucht.6 Auf der Explikation dieser Problematik soll der Schweipunkt liegen; es ist also im vorliegenden Rahmen ausdrücklich nicht an eine erschöpfende Behandlung der Themen Technokratie, Ökologie und Konservatismus an sich gedacht. Hier läßt sich die Literatur nur noch schwer über3 Mit dem Begriff "volklich" wird ein Vorschlag von Max Hildebert Boehm aufgegriffen, der die vom Volk ausgehende Anschauung bezeichnen soll. Der geläufige Begriff "völkisch" bietet Anlaß zu vielerlei Mißverständnissen. Vgl. zu "volklich": Boehm, Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932, S. 326f, Anm. 2. 6 In der neuesten Literatur stößt man bei Louis Dupeux auf die Beobachtung, daß innerhalb der konservativen Revolution eine Kluft zwischen den optimistischen und erklärten Anhängern des Modemismus auf der einen und den pessimistischen Anhängern der Dekadenztheorien auf der anderen Seite besteht. Die weitere Explikation dieser These bleibt allerdings farblos bzw. fehlerhaft. Darauf wird zu gegebenem Zeitpunkt zurückzukommen sein. Vgl. Dupeux, "Kulturpessimismus", Konservative Revolution und Modernität, in: Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/New York 1994, S. 287-299.
10
Einleitung
sehen.7 Aus der Fülle der Arbeiten wurde nur dasjenige herangezogen, was sich für das gestellte Thema als relevant erwies und die Untersuchimg fördern konnte. Was die Protagonisten angeht, so fällt auf, daß Ernst Jünger in der Sekundärliteratur weitaus mehr Aufmerksamkeit gefunden hat als Ludwig Klages. Daher kann bei der Darstellung Jüngers eine intensivere Auseinandersetzung mit den Thesen anderer Autoren stattfinden. Die Darstellung des Problems ist nicht bestrebt, dem Konservatismus aus der Klemme zu helfen; ebensowenig will sie aus dem Dilemma Kapital schlagen. Sie verfolgt weder polemische noch apologetische Absichten, sondern ist (in einem weiteren Sinne) phänomenologisch orientiert. Im einzelnen will die Untersuchung auf der einen Seite mehr, auf der anderen Seite weniger Geschichte. Historischer als bisherige Arbeiten ist sie dort angelegt, wo es wichtig erschien, einen geistigen Entwicklungsgang nachzuzeichnen, um das erschreckende Endprodukt besser verstehen zu lernen.8 Gemeint ist die Genese von Ernst Jüngers Buch "Der Arbeiter", das die zeitgenössischen Gemüter keineswegs unvorbereitet treffen mußte, wenn sie die Arbeiten der Jahre zuvor aufmerksam zur Kenntnis genommen hatten. In vielen Untersuchungen zur Position Jüngers kommt der genetische Aspekt zu kurz; Stellungnahmen des Jahres 1926 werden mit solchen des Jahres 1932 auf einer Stufe behandelt. Ein solches unhistorisches Verfahren mag bei Jüngers Antipoden im vorliegenden Kontext, Ludwig Klages, noch einigermaßen vertretbar sein, weil dessen Denken nur eine lebenslange Explikation von sehr früh angelegten, tiefen Eindrücken war.9 Im Falle Jüngers aber muß die Untersuchung geschichtlicher werden, und das ist hier für einen bestimmten Aspekt versucht worden.10 Weniger Geschichte ist bei der Behandlung der übergeordneten Fragestellung vorgesehen. Hier geht es mehr um die Herausstellung zweier gewissermaßen "überzeitlicher" Möglichkeiten, die im modernen Konservatismus angelegt sind. Dabei spielt der Gesichtspunkt des konkreten historischen Einflusses der 7 Zum Thema Technokratie vgl. den recht umfassenden Überblick von Ulrich Teusch, Freiheit und Sachzwang. Untersuchungen zum Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Politik, BadenBaden 1993. Diese Arbeit ist besonders wertvoll, weil sie auf einem nüchternen und gründlichen Quellenstudium aufbaut und manche Legende widerlegen kann. 8 Dabei wird auf eine möglichst breite Quellenbasis Wert gelegt Die vorzügliche Untersuchung Karl Heinz Bohrers (Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt/Berlin/Wien 1983) hat in detaillierten Analysen viele wichtige Ergebnisse präsentiert, versteht sich aber als ein Beitrag zur Literaturwissenschaft. Insofern konnte von ihm die politische Publizistik Jüngers nicht berücksichtigt werden, was in unserem Zusammenhang nachgeholt werden soll. Manche Arbeiten wiederum, die sich auf diesem Feld betätigt haben, wirken nur wie Kataloge anstößiger Stellen. Der Erklärungswert bleibt so in der Regel gering. 9 Lediglich bei der Darstellung des Themas "Klages und das Dritte Reich" muß aus anderen Gründen ein kleiner Gang in die Geschichte unternommen werden. 10 Gleiches gilt für seinen Bruder Friedrich Georg, bei dem die Wandlung aber im großen und ganzen gerade unter den hier relevanten Gesichtspunkten auffalliger ist. Interessant ist der Unterschied im Maß. So wie Friedrich Georg seinen älteren Bruder in den zwanziger Jahren an Radikalität in der einen Richtung übertraf, tat er es später in der anderen.
Einleitung
betreffenden Strömungen, die Frage nach der Größe ihrer Anhängerschaft o.ä., keine Rolle. Es geht allein um prinzipielle Wege im Reich des Geistes. Die Möglichkeiten, die anhand von Werken älterer Autoren vorgestellt werden, bestehen heute so gut wie vor siebzig Jahren, doch sind sie weniger offensichtlich, vielfach ist der trennende Graben auch zugedeckt.
ERSTERTEIL Erstes Kapitel: Technokratie und Ökologie "Technokratie" ist ein vielfaltig schillernder Begriff, der auch in der intensiven Diskussion mehrerer Jahrzehnte keine letzte Fassung gewonnen hat.1 Hans Lenk konnte insgesamt 12 geläufige Bedeutungen unterscheiden.2 Daher muß zunächst geklärt werden, wie der Begriff im vorliegenden Rahmen verstanden werden soll. Dieser Versuch orientiert sich vor allem an denjenigen Autoren, die dem technokratischen Konservatismus zugerechnet werden. In der neueren Diskussion hat Helmut Schelsky mit seiner Abhandlung "Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation" (1961) einen Markstein gesetzt. Vieles darin mag schon von Hans Freyer und Arnold Gehlen vorgetragen worden sein, die Bündelung und Akzentuierung der Gedanken empfindet man doch als neu und herausfordernd. Die Technik hat in Schelskys Darstellung das Feld der sachhaften Natur ihren traditionellen Gegenstand - überschritten und ist universal geworden. Sie ist nicht mehr Herrschaft über eine vorgefundene Natur, sondern Konstruktion, freier Entwurf neuer Wirklichkeit. Der Mensch agiert in der von Gott geschaffenen Welt selbst als Schöpfer. Das Produkt tritt seinem Produzenten mit eigenen Forderungen entgegen, als "Sachzwang", und zwar in einem umfassenden Sinn, denn der Mensch wird durch die Human- und Sozialtechnik verstärkt Objekt seiner eigenen Produktion. Die Auffassung der Technik als bloßes Werkzeug im Dienste des Menschen läßt sich also unter modernen Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten. Auf der anderen Seite kann man ebensowenig sagen, daß die Technik deshalb den Menschen beherrsche, denn sie ist kein in 1
Vgl. Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986, S. 316-346. - Ders., Demokratie und Technokratie, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19 (1968), S. 425-436. - Hermann Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Ders., Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, S. 32-53. Ders., Ideologiekritik der Technokratiekritik, in: Ders., Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart, Freiburg 1975, S. 121-133. - Richard Saage, Staat, Technik und Gesellschaft im Neokonservatismus, in: Ders., Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, Frankfurt a.M. 1987, S. 232-251. - Ders., Zur Aktualität des Begriffs "Technischer Staat", S. 252-266. 2 Hans Lenk, "Technokratie" als gesellschaftliches Klischee, in: Ders. (Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973, S. 9-20.
Erstes Kapitel: Technokratie und Ökologie
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sich ruhendes, dem Menschen gegenüberstehendes absolutes Sein. "Sie ist der Mensch als Wissenschaft und als Arbeit selbst. Sie als Ganzes als »Mittel« zu bezeichnen, verkennt die Tatsache, daß sie ihrem Wesen nach der sich entäußernde Mensch selbst ist, der sich aus seinen Werken niemals zurücknehmen kann. Der Mensch ist den Zwängen unterworfen, die er selbst als seine Welt und sein Wesen produziert." 3 Das zentrale Thema des frühen Technokratietheoretikers Ernst Jünger kommt ins Spiel, wenn es nun um das weitere Schicksal des Phänomens Herrschaft unter modernen Bedingungen geht. Schelsky behauptet, daß durch die Konstruktion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen wird, "in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der Macht von Personen über Personen verliert, an die Stelle der politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation treten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen verstehbar sind."4 Die Entscheidungstätigkeit der Politiker im technischen Staat ist somit nur noch fiktiv. Politik wird auf allen Rängen zur Anwendung komplizierter wissenschaftlicher Techniken, deren Sachgesetzlichkeiten der Lösung politischer Aufgaben den Weg vorschreiben. Der Spielraum politischer Entscheidung nimmt ab, je mehr die "Natur der Sache" zur Autorität heranwächst. Die Entscheidung selbst verwandelt sich in eine Deduktion aus technisch aufbereiteten Daten. Damit ist auch das Schicksal der Ideologien besiegelt: Sie bestimmen nicht mehr über die Ziele, die der Technik gestellt werden, sondern sind nur noch Erklärungen, Rechtfertigungen für das, was aufgrund von sachlich notwendigen Gesichtspunkten sowieso geschieht. Die Mittel selbst bestimmen die Ziele, d.h. die technischen Möglichkeiten erzwingen ihre Anwendung. Schließlich enthebt der Sachzwang der technischen Mittel auch von den Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. "Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr »herrscht« man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert." 5 An dieser Stelle schließen sich die Überlegungen von Ernst Forsthoff an, der in "Der Staat der Industriegesellschaft" eine eigenartige Verknüpfung von Technokratie und Ökologie präsentiert. Sein Ausgangspunkt ist für die Entste3
Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln/Opladen 1961, S. 18. Das zugrundeliegende Schema ist von Georg Simmel über Hans Freyer und Arnold Gehlen an Schelsky vererbt worden; auch Heidegger spricht in seinen frühen Vorlesungen über die Sache unter dem Titel "Reluzenz" (Gehlen: "Resonanz"). Schelskys Verdienst ist die konsequente Anwendung auf den technischen Staat der Gegenwart. Vgl. zum Ursprung des Topos: Michael Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/Berlin 1991, bes. S. 106ff. 4 Schelsky, Mensch, S. 21 f. 5 Schelsky y Mensch, S. 25.
14
ter Teil
hungszeit des Buches (1971) ein durchaus ungewöhnlicher: Die Industriegesellschaft bedroht durch fortgesetzte technische Expansion die Umwelt als Grundlage der menschlichen Existenz. Darüber hinaus ist auch die Integrität des Menschen selbst in Gefahr, nachdem er zum Gegenstand genetischer Forschung geworden ist. Was kann also getan werden, um der Umweltzerstörung und den übrigen Gefahren der technisch-industriellen Zivilisation Einhalt zu gebieten? Notwendig ist eine politische Entscheidung; diese kann nicht das Ergebnis eines internen Kräftespiels der Industriegesellschaft sein, da sie über keine Möglichkeit der Selbstkorrektur verfügt. Forsthoffs Antwort lautet: "Dieses Verhängnis kann nur durch eine organisierte Instanz abgewendet werden, die stark genug ist, der industriellen Expansion notwendige Schranken zu setzen." "Diese Instanz kann unter den gegenwärtigen Gegebenheiten nur der Staat sein."6 Da die Technik ein Machtphänomen ist, kann nur deijenige ihr schrankensetzend gegenübertreten, der selbst über eine mindestens gleichrangige Macht verfügt. Die Frage ist, ob der Staat diesen Anforderungen genügt. Von der Bewährung an dieser Aufgabe wird nach Forsthoff jedenfalls seine Überlebenschance abhängen. Die nähere Betrachtung fördert ein Dilemma zutage: Der Staat, der der Industriegesellschaft Grenzen setzen soll, muß sich auf unabhängige Machtressourcen stützen können; seine eigene Stabilität entlehnt der moderne Staat aber der Industriegesellschaft. 7 Das Schwergewicht der politischen Gesamtordnung hat sich in die Industriegesellschaft verlagert. Forsthoffs Fazit klingt aus der Perspektive der Ökologie pessimistisch: "Nach all dem ist gewiß, daß der Staat außerstande wäre, den technischen Prozeß in die Schranken zu verweisen, welche die Humanität (...) gebietet. Denn solche Schranken setzen würde bedeuten, Herrschaftsfunktionen gegenüber der Industriegesellschaft auszuüben. Dazu bedarf es einer eigenständigen Macht, die dem Staate fehlen muß, der seine Stabilität und Funktionsfahigkeit der Industriegesellschaft verdankt."8 Zehn Jahre nach Schelsky hat Forsthoff hier versucht, an einem konkreten Fall das Bewußtsein für die Gefahren zu schärfen, die der oben beschriebene Wandel der Politik und die Auflösung der Herrschaft mit sich bringen. Wenn der Politiker in die Situation eines bloß ausführenden Organs gerät, dann kann von ihm keine grundlegende Wende mehr erwartet werden.9 6
Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971 (2. Aufl.), S. 27, 46. 7 Vgl. Forsthoff, Staat, S. 57. 8 Forsthoff, Staat, S. 168. 9 Schelsky schlägt erst in der an seinen Vortrag anschließenden Diskussion skeptischere Töne an. Im Unterschied zu Forsthoff hat er die Suche nach einer Begrenzungsmöglichkeit des Prozesses aufgegeben: "Meines Erachtens ist das die falsche moralische Fragestellung gegenüber der Technik und der wissenschaftlichen Erkenntnis: Sollten wir sie überhaupt anwenden? (...) Offensichtlich liegt die entscheidende Fragestellung anders herum: Wenn wir schon die wissenschaftlich-technische Welt aus Sachgesetzlichkeiten verwirklichen müssen und die »Anwendung« unseres Wissens nicht verhindern können, wie ist dann »der Mensch« zu retten und zu bewahren? So würde ich in diesem Fai-
Erstes Kapitel: Technokratie und Ökologie
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Entgegen diesen Deutungen, die Technokratie als Ersatz von Herrschaft durch Verwaltung, als "Entpolitisierung" mittels Sachzwangentscheidungen verstehen, wird in der frühen Technokratiedebatte (während der zwanziger und dreißiger Jahre) das politische Element stärker betont. Das bedeutet, daß der zweite Teil des Begriffs stärker in den Vordergrund tritt. In Ernst Jüngers "Arbeiter" (1932) gilt das Interesse an Lebenserleichterung durch Technik, ihre Komfortseite gewissermaßen, als "bürgerlich" in einem abschätzigen Sinne. Das eigentliche Verhalten zur Technik besteht demgegenüber in Herrschaft; die Dominanz dieses Elements tritt schon im Untertitel von Jüngers Buch hervor: "Herrschaft und Gestalt". Der ausgeprägte Optimismus im Hinblick auf die Möglichkeit, die Technik beherrschen zu können und mit ihr besser herrschen zu können, ist charakteristisch für den Zeitgeist der dreißiger Jahre. Nicht dem Staat (wie bei Forsthoff) sondern der schwer zu fassenden Größe "Volk" kommt es nach Hans Freyer zu, die Rolle des "Gegenspielers" der industriellen Gesellschaft einzunehmen, da der Staat zum "Büttel der Wirtschaft" geworden ist. Dieses Volk will nicht mehr länger geduldiger Vorrat für Arbeitskraft sein, es reift vielmehr zum revolutionären Subjekt heran. Über seine Struktur läßt sich nicht viel sagen: Vor allem ist es "werdend". Fragen nach der neuen Form des Volkes wehrt Freyer heftig ab, es ist nichts als reine Kraft und reiner Prozeß, "Stoßkraft" gegen das System der industriellen Gesellschaft, das "aktive Nichts in der Dialektik der Gegenwart". Die von Freyer erwartete Revolution des Volkes soll quer durch alle Interessengegensätze "von unten her" in die Ebene der Industriegesellschaft einbrechen und die Dinge wieder in die richtige Ordnung versetzen: "Das Volk nimmt die Arbeits- und Güterwelt der industriellen Gesellschaft in seinen Besitz. Aber es übernimmt keineswegs das Prinzip, nach dem sie gebaut ist. Es negiert dieses Prinzip, macht die Bausteine der industriellen Welt zu einem Haufen neutraler Mittel (...)." Diese revolutionäre Besitzergreifung der Industriegesellschaft durch das Volk ist zugleich die Befreiung des Staates: "Hier wird der Staat aus seiner jahrhundertelangen Verstrickung in gesellschaftliche Interessen emanzipiert."10 Alles was Forsthoff Jahrzehnte später nicht mehr für möglich hält, erhofft sich Freyer also von einer diffus angelegten "Revolution", über die er kaum mehr sagen kann als daß sie zur Herrschaft des Volkes über die Industriegesellschaft mit Hilfe des Staates führen wird. Der Optimismus und das Gefühl der Selbstermächtigung sind hier enorm: "Nur in dem starken Gefiige einer geschichtlichen Zwecksetzung kann Technik wachsen."11 Die konkrete le die sittliche, die soziale, die politische und die erzieherische Grundfrage unserer Zivilisation stellen" {Schelsky, Mensch, S. 65). Alle selbständigen Positionsbestimmungen überantwortet Schelsky aber der "metaphysischen" Entwicklung (S. 42f., 68). Hier möchte Forsthoff den Staat wirksam sehen. 10 Hans Freyer, Revolution von rechts, Jena 1931, S. 53, 54, 55. 11 Hans Freyer, Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik, Hamburg 1933, S. 6. Auch in: Ders., Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, hg.
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ter Teil
Ausführung des Projekts wird in sträflicher Naivität "der Geschichte" anvertraut. Frey er denkt im Stil der Zeit an "Revolutionen". Eine harmonische Lösung der Herrschaftsfrage schwebt dagegen Manfred Schröter vor. In seiner "Philosophie der Technik" (1934) bemerkt er, daß nur ein Gebiet den Anspruch zu erheben scheint, die Technik sich bedingungslos unter- und einordnen zu können: der Staat. Genauer betrachtet gesteht er dem Staat jedoch nur eine wirtschaftliche Leitung zu. Der technische Sinn technischen Werks bleibe weiterhin autonom, "doch seine wirtschaftliche Anwendung, Planung und Ausnützung wird der überlegen geführte Staat beherrschend leiten; aber der sittlich übergeordnete Geist, der der Gemeinschaft dient und aus dem diese staatlich-sittliche Leitung erfolgt, stimmt voll und ganz schon mit dem eigenen Geist und dem sachlichen Bedürfnis überein, das als wesentlich technisch hier aus Eigenart und innerer Notwendigkeit technischen Schaffens selbst entwickelt worden ist und das sich von sich aus den ethischen Zielen des wahren Staates einordnen wird." 12 Harmonisch ist diese Auffassung insofern, als einerseits die wirtschaftliche Leitung für den starken Staat unproblematisch ist und sich andererseits staatlicher und technischer Geist im sittlich übergeordneten Geist treffen. So findet nach Schröter eine Art Selbsteinordnung des Machtfaktors Technik statt, die Bändigung gelingt also unproblematisch, und das Problem Forsthoffs tritt noch nicht ans Tageslicht. Andere Entwürfe gehen weiter und zweifeln daran, daß der Wille zum Einsatz der Technik bisher schon intensiv genug gewesen ist. Könnte diese Bereitschaft noch gesteigert werden, wäre ein entsprechender Machtgewinn die Folge. Mittelpunkt dieser Auffassung ist Ernst Jüngers Essay "Die totale Mobilmachung", jene "erste Theorie der Technokratie" (Greiffenhagen). Für die Einordnung dieser Schrift in den Gesamtrahmen der Technokratiediskussion ist die Berücksichtigung des historischen Hintergrunds wichtig und hier vor allem die enge Beziehung zwischen Krieg und Technik. Nirgendwo ist die Schattenseite der Technisierung so konzentriert erfahrbar wie im Krieg. Der optimistische Technikglaube der Gründerzeit hat in den zermürbenden Materialschlachten des Ersten Weltkrieges zwar gelitten, ebenso wie die Kriegsbegeisterung des Anfangs rasch verlorengegegangen ist. Eine gewisse Verunsicherung im Verhältnis zum Krieg läßt sich also nicht bestreiten, auch hat die Idee des Pazifismus durch die besondere Grausamkeit des Geschehens an Einfluß gewonnen, doch gehört zur Nachkriegszeit ebenso die Tatsache, daß große Verbände wie der "Stahlhelm" sich die Pflege des "positiven Kriegserlebnisses" zur Aufgabe gemacht haben. Weitere Anzeichen für eine beständige InV. Elfriede Üner, Weinheim 1987, S. 19. Der Satz findet sich auch in Freyers Abhandlung "Zur Philosophie der Technik" (1929), S. 7-16, hier 12. 12 Manfred Schröter, Philosophie der Technik, Berlin 1934, S. 57.
Erstes Kapitel: Technokratie und Ökologie
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tegration auch des technisch perfektionierten Krieges in den Rahmen der Politik ließen sich ohne Mühe nennen, doch kommt es hier nur auf das Ergebnis an: Ein allgemeiner, radikaler Wandel in der Einstellung zum Krieg ist noch nicht 1918, sondern erst 1945 festzustellen. Das läßt sich gut an der Entwicklung Ernst Jüngers ablesen: Die Kriegserfahrung hält ihn nach 1918 lange Zeit in Bann. Der gedankliche Abschluß mit dem Thema Erster Weltkrieg ist erst zwölf Jahre danach mit dem Essay "Die totale Mobilmachung" zu datieren; schon vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden dagegen die ersten Exemplare der Schrift "Der Friede" gedruckt, die in den letzten Kriegsjahren entstanden ist. Eine längere Phase der Reflexion, wie sie sich an das Jahr 1918 anschloß, ist nicht mehr erforderlich. Zu einer eindeutigen Stellung gegenüber der neuen Lage zu kommen, ist nicht mehr schwierig·13 Die Jahre nach 1945 sind dann vor allem durch die Atombombe geprägt, deren Beispiel für lange Zeit der wichtigste Ausgangspunkt einer neuaufflammenden intellektuellen Technikkritik wird. 14 Das Bewußtsein, in einem bisher unbekannten Maße auch Opfer der technischen Entwicklung werden zu können, verbreitet sich. Auf der anderen Seite, im Bereich der privaten Existenz, sorgt das "Wirtschaftswunder" dafür, daß die Komfortseite der Technik stärker ins Bewußtsein tritt. Im Endergebnis haben die Katastrophen der Weltkriege das positive Verhältnis zur Technik zwar stark verunsichert, doch noch nicht grundlegend erschüttert. Die verschiedenen Akzente, die in der Technokratiediskussion gesetzt werden, gehören in den Kontext der jeweiligen Zeit. So hat der Soziologe Schelsky nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem deutschen "Wirtschaftswunder" vor allem die Auswirkungen der Technisierung im Inneren eines Staates im Auge, während es Jünger vor dem Hintergrund seiner Zeit und im Bewußtsein des alten "Primats der Außenpolitik" um die Indienstnahme der Technik für die Selbstbehauptung des Staates nach außen geht. Dazu muß das in ihr angelegte Potential nur mit entsprechender Gründlichkeit ausgeschöpft werden. Technokratie heißt hier: mit der Technik herrschen, nicht: von ihr beherrscht werden. Eine mögliche Rückwirkung der menschlichen Indienstnahme der Technik in Form einer Indienstnahme des Menschen durch die Technik haben die frühen 13 Das läßt sich an der Schrift "Über die Linie" zeigen, die alte Gedanken in neuer Beleuchtung aufgreift: "Die Zeit der Ideologien, wie sie noch nach 1918 möglich war, ist vorbei; sie liegen den großen Mächten nur noch als ganz leichte Schminke auf. Die Totale Mobilmachung ist in ein Stadium eingetreten, das an Bedrohlichkeit noch das vergangene übertrifft. Der Deutsche freilich ist nicht mehr ihr Subjekt, und damit wächst die Gefahr, daß er als ihr Objekt begriffen wird" (Ernst Jünger, Über die Linie, in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1950, S. 245-284, hier 276). 14 Vgl. das Kapitel "Die Veränderung der Gesprächssituation durch die Atomphysik und die Atombombe", in: Günter Altner, Die Überlebenskrise der Gegenwart Ansätze zum Dialog mit der Natur in Naturwissenschaft und Theologie, Darmstadt 1987, S. 9ff.
2 Großheim
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ter Teil
Theoretiker nicht im Blick. Für Carl Schmitt ist beispielsweise noch ganz unzweifelhaft, daß jede starke Politik sich der Technik bedienen wird, die immer nur Instrument und Waffe ist. Von der Technik selbst gehen keine Nötigungen aus: "Die Entscheidung über Freiheit und Knechtschaft liegt nicht in der Technik als Technik. Sie kann revolutionär und reaktionär sein, der Freiheit und Unterdrückung dienen, der Zentralisation und Dezentralisation. Aus ihren spezifischen Prinzipien und Gesichtspunkten ergibt sich weder eine politische Fragestellung noch eine politische Antwort." 15 Diese Auffassung ist gewissermaßen noch naiv, weil sie glaubt, fur die forcierte Technisierung keinen Preis zahlen zu müssen. Zweifellos ist sie auch dem aktivistischen Zeitgeist verpflichtet. Fixiert auf die Frage, wie man einer Revision der Ergebnisse des Versailler Vertrages näherkommen kann, nimmt man nur die Möglichkeiten der Technik wahr, während die sie begleitenden Notwendigkeiten in den Hintergrund rükken. Für Carl Schmitt ergibt sich der endgültige Sinn des gegenwärtigen Jahrhunderts erst, wenn sich zeigt, welche Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen. Schelsky notiert zwar auch, daß die große Technik stets an den Staat gebunden sein wird, doch kommt bei ihm zu kurz, daß die Staaten in verschiedener Weise dazu in der Lage sind, so daß er die außenpolitische Herrschaft durch Technisierungsvorsprung nur am Rande behandelt. Das war aber gerade das brisante Thema, das die radikalsten TechnokratieTheoretiker der zwanziger und dreißiger Jahre umgetrieben hat. Selbst diejenigen, die den Einsatz der Technik eher unter innenpolitischen Gesichtspunkten durchdenken, zweifeln nicht an der Möglichkeit, diesen Faktor in den Griff zu bekommen: "Technokratie heißt also Beherrschung der Technik durch technische Menschen zum Wohle der Allgemeinheit."16 Daran anknüpfend könnte man die außenpolitisch orientierte Vorstellung von Technokratie folgendermaßen beschreiben: Technokratie heißt Beherrschimg der Technik durch technische Menschen zum Wohle der Nation. Das Ziel ist die außenpolitische Selbstbehauptung der Nation und die durch Technisierungsvorsprung ermöglichte Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs.
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Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929), in: Ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles, Berlin 1988 (2. Aufl.), S. 120-132, hier 130. - Vgl. in verwandtem Geist: Friedrich Sieburg, Es werde Deutschland, Frankfurt a.M. 1933, S. 214: "Die Technik hat sich nicht als geeignet erwiesen, eine unparteiische Sphäre zu werden, in welcher sich die von ihren Gegensätzen und ihrem Unglauben ermüdeten Menschen der Jetztzeit friedlich hätten zusammenfinden und versöhnen können. (...) Die Technik ist ebenso sehr dazu geeignet, die Völker zu trennen, wie sie zu verbinden, sie dient der Zerstörung nicht weniger hingebend als dem Aufbau. Sie dient eben, das ist ihr Wesen. Dies verkennen und sie zu einem selbständigen Reiche aufblähen heißt an der menschlichen Kraft zur Herrschaft über diese Dienerin verzweifeln. Ein Zeitalter der Technik gibt es nicht, höchstens ein Zeitalter der Schwäche, die sich mit der Lüge von dem Eigenleben der Maschinenwelt betäubt" 16 Heinrich Hardensett, Technokratie, Kritik und Gegenkritik, in: Technokratie. Zeitschrift der Deutschen Technokratischen Gesellschaft, Jahrgang 1934, Heft 3 (April/Mai), S. 41-50, hier 48.
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Ganz im Bann der außenpolitischen Problematik stehend hat Carl Schmitt für Technikkritik keine Sympathien; er versteht nicht einmal deren Fragestellung. "Eine Gruppierung, die auf der einen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kampf und hat nur den Wert einer romantischen Klage. Denn das Leben kämpft nicht mit dem Tod und der Geist nicht mit der Geistlosigkeit. Geist kämpft gegen Geist, Leben gegen Leben, (...)."17 Die Bewertung der Technikkritik als bloße romantische Klage sieht nur auf ihre möglichen Wirkungen (ein gefahrliches Zurückbleiben hinter der allgemeinen Entwicklung etwa) und verkennt ihr berechtigtes Anliegen. In dieser Ignoranz stimmen Schmitt und Schelsky sogar weitgehend überein. Der moderne Technokratie-Theoretiker warnt vor den "falschen Dramatisierungen kulturkritischer Art" und versichert, daß ihm nichts ferner liege als eine "kulturkritische Fragestellung". Als eine originäre Fragestellung kommt die technikkritische Position überhaupt nicht ins Gespräch.18 Dabei lassen sich bestimmte Probleme, die die Menschen eindringlich beschäftigen, gar nicht verleugnen: "Der Mensch schaudert davor zurück, sich restlos in die selbstproduzierte Objektivität, in ein konstruiertes Sein, zu transferieren und arbeitet doch unaufhörlich am Fortgang dieses Prozesses der wissenschaftlich-technischen Selbstobjektivierung."19 Schelsky urteilt hier schlicht, daß unserem westlichen Geiste nichts anderes übrig bleibt, als dies Dilemma als sein eigentümliches Zeitschicksal auszutragen. Für ihn ist die fortgesetzte Technisierung eine Art Fatum, wie für Jünger und Klages auch, wenngleich im weiteren Resignation, Faszination und Dämonisierung den Interpretationen ihren jeweils eigenen Ton verleihen. Das Problem ist in Schelskys Augen ausschließlich durch einen Kopfsprung des Menschen, einen "metaphysischen Identitätswechsel", zu lösen. Mit Gotthard Günther sieht er eine mögliche Hilfe nur in der "totalen Ablösung von der bisherigen Geschichte". Diese Perspektive erinnert an diejenige, die Ernst Jünger in seinem "Arbeiter" entwikkelt - es ist aber nicht die einzig mögliche. Ihr gegenüber steht die ökologische. Die Begriff Ökologie scheint auf den ersten Blick kein geeigneter Partner für die Technokratie zu sein, da er nicht von Herrschaft spricht. Dieser Verzicht auf das Herrschaftsmoment ist aber sozusagen programmatisch, wie im vierten Kapitel ausführlicher gezeigt wird. Vom Standpunkt der Ökologie aus muß 17
Schmitt, Zeitalter, S. 132. Für Schelsky stammt z.B. die Eindringlichkeit, mit der "der Mensch schlechthin" zum zentralen Hiema der Besinnung geworden ist, aus dem Prozeß der Erzeugung der wissenschaftlichen Zivilisation selbst (S. 40ff.). Daher wird sein Zugeständnis, daß der Impuls der Ablehnung gegenüber der von ihm skizzierten wissenschaftlichen Zivilisation "berechtigt" sei, sogleich geschmälert durch die Erklärung, daß diese Reaktion auch "notwendig" sei, nämlich als unvermeidliche Auswirkung des Protestgegenstandes selbst. Die wissenschaftliche Zivilisation hält also in jedem Fall die Fäden in der Hand. 19 Schelsky, Mensch, S. 41. 18
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Herrschaft sogar problematisch sein, weil in der technisch-industriellen Herrschaft des Menschen über die Natur die Wurzel des Problems gesucht wird. 20 Insofern liegt im begrifflichen Fehlen dieses Moments kein Hinderungsgrund für eine Gegenüberstellung. Erst 1866 von Ernst Haeckel als "Lehre von der Ökonomie, vom Haushalt der Organismen" eingeführt, hat die ."Ökologie" inzwischen eine bemerkenswerte Karriere hinter sich. Das hat sich auch im Bedeutungswandel des Wortes niedergeschlagen. Bevor man von einer "ökologischen Krise" zu reden beginnt und damit den Sinn des Begriffs erheblich erweitert, finden sich Definitionen wie diese: "Ökologie im engeren Sinne ist die Lehre von den Wechselwirkungen der Organismen und ihrer Wohnwelt. (...) Ökologie im weiteren Sinne oder Raumforschung ist die Lehre von der Wechselwirkung der Naturerscheinungen."21 In diesen Rahmen ist dann auch schon der Mensch miteinbezogen. Dennoch sind diese und ähnliche Begriffsbestimmungen im vorliegenden Zusammenhang unbrauchbar. Berücksichtigt werden soll im folgenden nur die im weitesten Sinne philosophische, gesellschaftlich orientierte Ökologieauffassung, die an Grundsätzlichkeit und Eindringlichkeit den Beiträgen zur Technokratiedebatte vergleichbar ist. Im Angebot ist zwar auch eine Fülle an wichtiger Literatur zu Einzelfragen, insbesondere aus dem politischen und naturwissenschaftlichen Bereich; die Diskussion um die Nutzung der Kernenergie läßt sich dazu zählen, ebenso wie Schriften über die Einrichtung von Naturschutzgebieten, die verhängnisvolle Rolle von Kunstdüngern und Pflanzenschutzmitteln, die Notwendigkeit des Schutzes einzelner Tierarten oder die umweltfreundliche Produktion von Nahrungsmitteln. Alle diese Beiträge sind aber gewissermaßen pragmatisch orientiert, während die Besinnung sich hier dem Begriff der Ökologie zuwenden soll, und zwar nicht in seiner Rolle als wohldefinierter naturwissenschaftlicher Terminus, sondern als eine weiterreichende Bezeichnung für eine geistige Haltung, die im folgenden verschiedenen Autoren zugeschrieben werden kann. Vielleicht kommt man dem Wesen der Ökologie in diesem Sinne auf die Spur, wenn man dem Wort selbst nachgeht. Sein erster Bestandteil stammt aus dem Griechischen: oikos, das Haus (in diesem Umfeld auch im Sinne von Haushaltung zu verstehen). Dieser Ausdruck ist bildlich gebraucht und sagt doch schon viel, wenn man ihn mit den entsprechenden Bildern der Technokratie vergleicht: Entwicklung, Fortschritt, Wachstum. Das Bild des Hauses steht demgegenüber für eine gewisse Geschlossenheit, für Grenzen. Es dürfte kein 20 Vielfach setzt die Kritik dabei an den berühmten Worten der Schöpfungsgeschichte (1. Buch Mose 1, 28) an: "Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch Untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht." 21 Karl Friederichs, Ökologie als Wissenschaft von der Natur oder biologische Raumforschung, Leipzig 1937, S. 72f., 73.
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Zufall sein, daß viele der ökologisch orientierten Publikationen ähnlich ausgerichtete Titel haben: "Selbstbegrenzung" (Ivan Mich), "Die Rückkehr zum menschlichen Maß" (E.F. Schumacher), "Die Grenzen des Wachstums" (Club of Rome). Entsprechend sind die Tugenden, die gefordert werden, solche der Begrenzung: Rücksicht, Verzicht, Ehrfurcht, Bescheidenheit. Vittorio Hösle sieht eine der wichtigsten Aufgaben der gegenwärtigen Ethik darin, "dem Infinitismus der Moderne abzusagen und zum Maß zurückzufinden." In der Pleonexie, dem Immer-mehr-haben-Wollen, darf nicht mehr ein Vorzug gesehen werden. "Wir müssen wieder lernen zu sagen: »Das ist genug«; wir müssen die Grenze wieder lieben lernen. Wir brauchen asketische Ideale."22 Der Ruf nach Begrenzung zeigt, daß die ökologische Haltung ihrem Wesen nach eine kritische ist; sie will nicht einen bestehenden Zustand konservieren und nicht eine sich bereits vollziehende Bewegung forcieren, sondern verlangt nach Umkehr oder Einkehr, nach Besinnung und Revision. Ökologie setzt gewöhnlich an mit einer Verlustbilanz, die sowohl die vielfaltigen negativen Folgen der Industrialisierung für Tiere und Pflanzen als auch für den Menschen berücksichtigt, bis hin zur Frage nach der Sicherung der Fortexistenz von Leben überhaupt. Im gegenwärtigen fortgeschrittenen Stadium der Krise konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf das zuletztgenannte Problem, die Überlebensfrage. Sie wird in der ökologischen Literatur gelegentlich in geradezu dramatischer Form beschworen. Demgegenüber stehen in den Jahrzehnten zuvor andere Dinge im Zentrum. Hans Freyer beispielsweise eröffnet die Verlustbilanz mit ganz anderen Posten: "Was der abendländische Mensch an Naivität, an ursprünglichen Weisen des Verhaltens und der Reaktion, an Improvisationsfahigkeit, und tiefer: an Instinktsicherheit, an Glücksmöglichkeiten, an Vitalität darangegeben hat, um mit dem industriellen System ganze Sache zu machen, ist kaum zu ermessen."23 Es ist wichtig, sich vor der Fixierung auf die Überlebensfrage zu hüten und den Aufmerksamkeitshorizont so weit zu spannen, wie Freyer es hier tut, damit auch der Rahmen für die Definition der ökologischen Haltung weit genug ausfallt. So kann man zu dem Begriff von Ökologie gelangen, der - ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben - für den Fortgang der Untersuchung leitend sein soll. Ökologie soll hier verstanden werden als umfassende Kritik an der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die sich ihren geistigen Grundlagen zuwendet.24 Das geht vor allem mit einem ganz neuen problematisch-Werden des menschlichen Selbstverständnisses einher, seiner Ziele und Mittel, seiner 22 Vittorio Hösle, Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München 1991, S. 78, 79. - In diesen Forderungen ist er sich einig mit: Reinhart Maurer, Der metatechnische Sinn Europas, in: X V I . Deutscher Kongreß för Philosophie: Neue Realitäten. Herausforderung der Philosophie, Berlin 1993, Sektionsbeiträge I, S. 366-373, bes. 370. 23 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 258. 24 Vgl. Reinhart Maurer, Revolution und »Kehre«. Studien zum Problem gesellschaftlicher Naturbeherrschung, Frankfurt a.M. 1975, S. 10 (zur Möglichkeit "grundsätzlicher Kritik").
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Haltung zur Welt. Das Verhältnis zwischen Disziplinierung und Emotionalität, zwischen Vernunft und Gefühl, Aktivität und Passivität, ist hier berührt; die Sorge um das Schicksal der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit gewinnt an Bedeutung. Das ökologische Bewußtsein belebt das generationenübergreifende Denken wieder. Die Ethik wird auf eine ungekannte Weise relevant, nicht nur dadurch, daß sie sich neuartigen technischen Möglichkeiten gegenübergestellt sieht, sondern auch, weil sie ganz grundsätzliche Fragen etwa nach den "Rechten" nichtmenschlichen Lebens zu klären hat. Daß der Machbarkeitshorizont des Menschen zugunsten der Unversehrtheit anderer Lebewesen eingegrenzt werden muß, ist eine zentrale ökologische Position. Schließlich gehört zur ökologischen Haltung auch eine Kritik jener Geschichtsphilosophie, die sich am Begriff des "Fortschritts" orientiert.
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Zweites Kapitel: Konservatismus Ernst Jünger, Ernst Niekisch, Ludwig Klages, Martin Heidegger und Friedrich Georg Jünger werden, der geläufigen Einteilung gemäß, zur "Konservativen Revolution" der Jahre 1919 bis 1932 gerechnet. Auf diesem Feld steht mittlerweile eine ganze Reihe von Monographien zur Verfugung, die sich mit einzelnen Vertretern beschäftigen und so auch manches Licht auf das Gesamtgefüge werfen. 1 Diesem Komplex wiederum, der Theorie des Phänomens mit Namen "Konservative Revolution", hat sich die Forschung weitaus weniger gewidmet. Die wichtigste Arbeit der letzten Jahre zur Frage, was man unter diesem Titel verstehen soll (und ob er überhaupt gerechtfertigt werden kann), ist zweifellos Stefan Breuers "Anatomie der Konservativen Revolution".2 Der Autor hat, methodisch inspiriert durch Max Weber, "in immanenter, nicht vorab wertender Analyse" das weite, unübersichtliche Feld geordnet und die Einstellung von herausragenden Vertretern der "Konservativen Revolution" zu den wichtigsten Themen detailliert dargestellt. Dieser Anatomie verdanken wir eine Fülle interessanter Differenzierungen und eine ganze Reihe neuer Einsichten, die gängige Klischees widerlegen. Das übergeordnete Ziel des Buches ist jedoch eine Prüfung der Frage, ob die Vorstellungswelt der solchermaßen eingestuften Autoren bei allen Differenzen einen Kern gemeinsamer Überzeugungen enthält, der ihr eine spezifische Identität verleiht. Läßt sich die "Konservative Revolution" überhaupt von anderen Strömungen abgrenzen? Und wenn es eine solche Bewegung gibt, ist sie richtig bezeichnet? Breuers Ergebnis erhebt den Anspruch, den bisherigen Stand der Forschung zu revidieren: "Eine wie immer geartete Doktrin, die für alle als konservativrevolutionär apostrophierten Autoren verbindlich wäre, hat sich (...) nicht ergeben." "»Konservative Revolution« ist ein unhaltbarer Begriff, der mehr Verwirrung als Klarheit stiftet. Er sollte deshalb aus der Liste der politischen Strömungen des 20. Jh. gestrichen werden."3 Breuer diagnostiziert dennoch das Vorhandensein eines relativ geschlossenen Horizontes von gemeinsamen Vorstellungen; für diesen Bereich schlägt er die Bezeichnung "Neuer Nationalismus" vor. Insofern erfahrt die in kategorischem Ton vorgetragene erste These eine eigenartige Einschränkung, insbesondere da das Verhältnis des neuen Deutungsmusters zum alten nicht recht klar wird. Die 1
Den Überblick über die Literatur verschafft das mittlerweile in dritter Auflage und in zwei Bänden erschienene Standardwerk: Armin Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1989 (3. erw. Aufl.). 2 Darmstadt 1993. - Vgl. dazu die kritische Rezension von Karlheinz Weißmann: Gab es eine konservative Revolution?, in: Jahrbuch zur Konservativen Revolution 1994, Köln 1994, S. 313-326. 3 Breuer, Anatomie, S. 6, 180, 181.
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neue Typenflndung wirkt, gemessen an den strengen Kriterien, mit denen Breuer das Modell "Konservative Revolution" traktiert, großzügiger im Umgang mit Differenzen. Anders als im Falle seines Vorgängers läßt sich für den neuen Nationalismus ein "begrifflicher Kern" ausmachen: "Dieses Grundprofil ist so ausgeprägt, daß dagegen die auch hier vorhandenen Differenzen zwischen den verschiedenen Protagonisten zurücktreten." Die Gelegenheiten, an denen sich Differenzen offenbaren, "das alles sind wichtige, aber für den Typus als solchen irrelevante Fragen". Nur im Hinblick auf die Wirtschafts- und Sozialverfassung erweist sich doch die "Bildung von Subtypen" als nötig.4 Bestimmte Unterschiede werden also nicht als relevant erachtet, andere dagegen schon. Welchen allgemeinen Kriterien liegt nun die Typenbildung zugrunde? Wann hat man es mit einem eigenständigen, wann mit einem bloßen Sub-Typus zu tun? Diese Fragen bleiben offen. Breuer konstatiert, daß zwar das kompromißlose Verdikt über den politischen Liberalismus eine gemeinsame Position aller behandelten Autoren darstellt. Aber dieser rein negative Konsens reicht nach seiner Auffassung nicht aus, um der Konservativen Revolution eine eigenes Profil zu verleihen. Er spricht den konservativen Revolutionären eine gemeinsame Identität ab, weil sie zwar wußten, wogegen sie waren, sich aber uneins waren, wofür sie sein sollten.5 Nun handelt es sich bei den betroffenen Personen fast ausschließlich um Intellektuelle, um Menschen also, die üblicherweise um ihr eigenes Denken kreisen und zur Gemeinschaftsbildung wenig Fähigkeiten und wenig Neigungen haben. Das Bewußtsein der "Jemeinigkeit" (Heidegger) in starker Form ausgeprägt zu haben, ist ein typisches Vorrecht denkender Menschen aus Profession. Das Produkt kann aber nicht anders als seine Entstehungsbedingungen spiegeln. Weiterhin ist es wichtig, darauf zu achten, daß man sich nicht vom Marxismus als Modellfall einer Ideologie beeinflussen läßt, die wie aus einem Guß wirkt, und auch das nur auf den ersten Blick; in diesem Ausnahmefall haben lediglich zwei Autoren, noch dazu in engster Zusammenarbeit, eine Ideologie entwickelt. Eine Bewegung dagegen, die von vielen Personen getragen wird, von denen jede auf ihre geistige Eigenständigkeit äußersten Wert legt - man denke nur an eine Gestalt wie Spengler -, eine solche Bewegung muß von vornherein eine breitere Spanne von Anschauungen produzieren. Das ist auch nicht anders denkbar angesichts einer weiteren Bedingung, nämlich der Kürze der Zeit, in der die Vertreter der Konservativen Revolution aktiv waren: ganze 14 Jahre. Am Beginn dieser Phase steht der tiefe schockartige Eindruck, den der erste technische Massenkrieg hinterlassen hat, ein Eindruck, der das Wesen der Moderne in ungeheuer konzentrierter Form zu enthalten scheint und dessen explikative Bewältigung als Herausforderung nicht unterschätzt werden sollte. 4 3
Vgl. Breuer, Anatomie, S. 195. Vgl. Breuer; Anatomie, S. 78, 181.
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Darüber hinaus liegt im Selbstverständnis und in der Agitationsweise der von Breuer behandelten Autoren eine wesentliche Abgrenzungsmöglichkeit zur übrigen Weimarer Rechten, etwa zu den Berufspolitikern der DNVP. Ernst Jünger bietet sich als Musterfall an, weil er Ende der zwanziger Jahre einsehen mußte, daß seine Form der »Geistespolitik« im Gesamtkontext nahezu wirkungslos war und die eigentlich entscheidenden Prozesse sich auf ganz anderen Ebenen abspielten. Das Manko von Intellektuellenbewegungen hat Jünger daher in seinen Tagebüchern später immer wieder reflektiert. Doch abgesehen von diesen eher soziologischen Anmerkungen läßt sich die Problematik auch philosophisch fruchtbar machen. Ist nicht das klarere Bewußtsein dessen, wogegen man sich richtet und das unklarere Bewußtsein dessen, wofür man eintritt, ein ganz normales Kennzeichen von Ideologiesystemen, insbesondere von Protesthaltungen? Breuer kommt dieser Ansicht selbst recht nahe, wenn er den Begriff der "Mentalität" in die Debatte wirft, als eine unterhalb der Ebene der Doktrinen gelegene Stufe, auf der einheitsstiftende Prozesse wirksam werden können. "Mentalitäten sind auf einem niedrigeren Bewußtseinsniveau angesiedelt als Ideologien. Sie sind formlos und fließend, entbehren der begrifflichen Systematik und logischen Durchgliederung, sind aber deshalb keineswegs willkürlich oder zufallig." 6 Peter Richard Rohden hat dieses Verfahren, das zu einem weitergehenden Verständnis von Ideologien fuhren kann, recht früh vorgeschlagen.7 Wichtig ist das von Breuer angesprochene "Bewußtseinsniveau", denn es stellt sich die Frage, ob die Bedeutung dieses Moments bei den sogenannten Ideologien tatsächlich so viel höher einzuschätzen ist. Auch Ideologien sind durchaus formlos und fließend, auch ihre begriffliche Systematik ist mehr oder weniger ausgebildet, und auch sie können eine strenge logische Gliederung entbehren. Das gilt gerade für Ideologien der Rechten, und daher ergibt sich der Verdacht, daß Breuer hier von Vorbildern geleitet wird, die nicht im Untersuchungsfeld liegen. Wie ist es überhaupt möglich, daß Ideologien zugleich widersprüchlich und geschlossen erscheinen können (insbesondere ihren Anhängern)? Der Grund liegt in der ontologischen Eigenart des Gegenstandes. Ideologien, Standpunkte, Mentalitäten werden verkannt, wenn man davon ausgeht, daß ihre Inhalte etwa 6
Breuer, S. 33. Vgl. S. 47, wo der Autor Möhler zubilligt, die einheitsstiftenden Momente zu Recht in der Ebene der Mentalitäten gesucht zu haben, wenn sie im einzelnen auch nicht dort liegen, wo dieser sie lokalisiert hat, also nicht im Weltbild von der "ewigen Wiederkehr", sondern, so Breuer, "in jener Kombination von Apokalyptik, Gewaltbereitschaft und Männerbündlertum, die sich uns als wesentlich erwiesen hat" (S. 47). 7 Peter Richard Rohden, Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Parteien, in: Paul Wentzcke (Hg.), Deutscher Staat und deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengeschichte. Friedrich Meinecke zum 60. Geburtstag dargebracht, Aalen 1973 (Neudruck der Ausgabe München 1922), S. 1-35.
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in Form einzelner Thesen und Zielsetzungen ihrem jeweiligen Vertreter komplett vor Augen stehen würden. Es gibt zwar stets eine Anzahl ausformulierter Grundüberzeugungen, doch ringsumher wird es gewissermaßen unübersichtlich, nimmt die Ausdrücklichkeit des Geglaubten ab. Ideologien sind keine vollständigen Kataloge von explizierten Behauptungen, Forderungen und Problemstellungen. Man kann über eine Ideologie kein Inventar fuhren, jedenfalls nicht mit dem Anspruch der Vollständigkeit.8 Immer bleibt ein Hof von nicht ausdrücklich gemachten, aber dennoch vorhandenen Vorstellungen zurück, in dem sich Inkonsistenz ausbreiten kann. Auf diese Eigenart greift Hegels Dialektik der Standpunkte zurück, die in der "Phänomenologie des Geistes" entfaltet wird. 9 Hegel übt sich dort im Aufbau solcher Standpunkte (Skeptizismus, unglückliches Bewußtsein, beobachtende Naturwissenschaft, Aufklärung etc.) und in der anschließenden Destruktion durch die Explikation der zunächst nur immanent schlummernden Widersprüche. Diese Widersprüche sind keineswegs aus dem Nichts hervorgezaubert, sondern steckten von Anfang an im Hof des Verschwommenen, den jede Ideologie als Konglomerat von Standpunkten besitzt; in Hegels Präparation erfuhren sie das Schicksal einer Vereindeutigung. Sie stehen sich nun explizit gegenüber, die schlummernde Inkonsistenz ist ans Licht geholt und läßt den Standpunkt zerbrechen. Verzichtet man auf dieses Verfahren, dann gehört es zur Eigenart von Standpunkten und aus ihnen aufgebauten größeren Gebilden, Widersprüche integrieren zu können. Standpunkte sind "Situationen" in einem philosophisch definierten Sinn, d.h. chaotisch-mannigfaltige Ganzheiten, zu denen Sachverhalte, Programme und Probleme gehören.10 Hermann Schmitz erläutert diese abstrakte Definition so, daß sich auch für den hier zu behandelnden Zusammenhang (die Konservative Revolution als typische Form einer Protestideologie) einiges an Klärung ergibt: Bei Standpunkten handelt es sich um "zähflüssige Massen von Überzeugungen (Sachverhalten), Einstellungen (Programmen) und »wunden Punkten« (Problemen), die dem Inhaber nicht restlos durchsichtig sind und jeweils erst an den Herausforderungen des Augenblicks fertige Form annehmen. Von dieser Art pflegen z.B. die Proteststandpunkte junger Leute, die der etablierten Lebensform und Gesinnung überdrüssig sind, zu sein: in der Ablehnung schon sehr bestimmt, aber hinsichtlich dessen, was die Jungen selber wollen und wünschen, voll von nebelhaften, im günstigen Fall aber auch keimhaften, Andeutungen und Ahnungen, die sich als chaotisch-mannigfaltiger Hof von Sachverhalten, Programmen und Problemen um die Negationen le8 Man kann natürlich so tun, als ob man es könnte, aber der Preis dafür ist eine Entfernung von der Realität. 9 Zum Gedanken der Explikation bei Hegel vgl. Hermann Schmitz, Hegels Logik, Bonn/Berlin 1992. 10 Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 65f. - Vgl. ders., Die Aufhebung der Gegenwart (System der Philosophie V), Bonn 1980, S. 43-74, bes. 60-62, 66-68.
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gen."11 Ursprüngliche weitgehende Unexpliziertheit und durch nachträgliche Explikation offensichtlich gemachte Widersprüchlichkeit können also nicht, wie Breuer meint, gegen die Geschlossenheit einer Ideologie ins Feld geführt werden. Beide Kriterien können nur der detaillierten Binnenuntersuchung dienen, wo sich dann ein Mehr oder Weniger diagnostizieren läßt; die Ganzheit hat damit nichts zu tun, sie wird bewahrt durch die integrierende Wirkung der chaotischen Mannigfaltigkeit. Diese ontologische Bestimmung läßt sich auf vielerlei Phänomene anwenden, so z.B. - um nur noch einen Fall zu nennen - auch auf das, was man "Traditionen" nennt. Die Traditionen eines Gemeinwesens gehören wesentlich zu dem, was der britische Philosoph Michael Oakeshott "praktisches Wissen" nennt; dieses zeichnet sich nach Aussage des Autors dadurch aus, daß es nicht abstrahierbar ist, daß es sich nicht vollständig in Regeln, Prinzipien, Anweisungen, Maximen fassen läßt,12 daß es somit Situationscharakter hat. Ideologien, Standpunkte, Mentalitäten sind philosophisch gesehen "Situationen" im eben erläuterten Sinne, denen vollständige Explikation fehlt. Der Ansatz bei Mentalitäten muß im folgenden im Blick behalten werden. Breuer hat die erste Frage nach der Einheit der Konservativen Revolution negativ beantwortet. Die Replik stützte sich vor allem auf eine grundsätzliche Betrachtung über den Charakter von Ideologien. Breuers zweite Frage nach dem Recht des Titels Konservative Revolution führt nun ebenfalls zu einem kritischen Befund: "Was immer die Konservative Revolution gewesen sein mag: eine konservative Revolution war sie nicht."13 In diesem Fall beruft sich Breuer auf die großangelegte Konservatismus-Studie von Panajotis Kondylis, die durch eine eindrucksvolle Materialfülle zu belegen sucht, daß der Konservatismus wesenhaft an die societas civilis gebunden war und daß seine Geschichte mit ihrer Auflösung im 19. Jahrhundert ein Ende gefunden hat.14 Breuer folgert daraus für sein Thema, daß die Annahme einer Modernisierung des Konservatismus unter Zuhilfenahme revolutionärer Mittel realitätsfremd ist. Nach Kondylis handelt es sich bei den Konservativen des 20. Jahrhunderts vielmehr um Altliberale. Wie bereits angekündigt, soll der (im vorliegenden Rahmen notwendigerweise knappe) Versuch, die Position des Konservativen unabhängig von der Orientierung an der historischen societas civilis durch die Zeit hindurch zu bestimmen, auf eine Mentalitätsbeschreibung gegründet werden. Die Untersuchung wird sozusagen tiefergelegt, in einen Bereich von Haltungen, der selbst kaum mehr politisch wirkt, aber erhebliche politische Konsequenzen 11
Schmilz, Gegenstand, S. 77. Vgl. Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik, Neuwied/Berlin 1966, S. 16ff. 13 Breuer, Anatomie, S. 5. Vgl. S. 180. Zu Kondylis' Werk und seinen Thesen vgl. S. 4f., 11, 12, 78, 180. 14 Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. 12
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hat.15 Zur konservativen Mentalität gehören bestimmte Zu- und Abneigungen, bestimmte Problemfelder, Sensibilitäten, eine Offenheit für bestimmte Gefühle, generell ein eigentümliches "Lebensgefahr und vieles andere mehr. Diese Formeln sollen durch konkrete Angaben aufgefüllt werden, doch ist nicht mehr als eine stichwortartige Aufzählung beabsichtigt,16 die auf detaillierte Nachweise weitgehend verzichtet. Wollte man die Haltung des Konservativen erschöpfend kennzeichen, hätte man Anlaß zu einer gesonderten, umfangreichen Studie, während es im vorliegenden nur um die Bereicherung der Diskussion durch einen bestimmten Aspekt geht. Eine erste brauchbare Übersicht, von der ausgegangen werden kann, liefert der Jurist Erich Kaufmann in einer Abhandlung über die konservative Partei. Kaufmann schreibt über ihre Staatstheorie: "Ihren Kern bildet die »konservative« Einstellung zum politischen Leben und Geschehen. Und den haben wir in einer Ehrfurcht vor dem Gewordenen und Gewachsenen zu sehen, in einer Ablehnung des bewußten rationalen und doktrinären Machens und Gestaltens nach abstrakten, d.h. nicht aus den konkreten Verhältnissen und Bedürfnissen erwachsenen, sondern von ihm losgelösten und darum »bloß« theoretischen Idealen."17 In Anknüpfung an Kaufmanns Ausführungen kann man mit einer Aufzählung der Elemente beginnen. Zur konservativen Mentalität gehören also: der Sinn für das Konkrete, der Affekt gegen das Abstrakte; die Orientierung am Partikularen und das Interesse an seiner Bewahrung bzw. Erweiterung; das Interesse an Ordnung, Kontinuität, Tradition; das Bedürfnis nach Sicherheit, der Vorrang des Wirklichen vor dem Möglichen, der "Geworfenheit" vor dem "Entwurf"; die Skepsis gegenüber dem Machbarkeitsoptimismus; ein Empfinden der Fatalität des Geschehens; die Ablehnung der Fortschrittsidee; das skeptische oder 15 Theoretisch wird hier der Bestimmungsversuch von Ulrich Raulff zugrundegelegt, der Mentalitäten vom Bereich der Ideen und des Ideologischen abzugrenzen bemüht ist. Die Mentalität ist dem Menschen näher, weniger auswechselbar als seine Ideen. Vgl. Ulrich Raulff (Hg.), MentalitätenGeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. lOf: "Mit dem »Mentalen« wird der Bereich des Möglichen angezielt: der möglichen Empfänglichkeiten für Reize, des möglichen Angesprochenseins, der möglichen Bereitschaft, in bestimmter Weise zu antworten und zu handeln. Das Mentale liegt zwischen oder richtiger vor der Unterscheidung in (passive) Rezeptivität und (aktive) Produktivität. Es bezeichnet gewissermaßen eine primäre Öffnung zur und für Welt, die allerdings bereits eine Kontur, eine Figuration, ein pattern aufweist: eine bestimmte Stellung zur Welt, eine »Lebensrichtung« (Geiger)." Es geht dabei jedoch nicht nur um latente Dispositionen, wie Raulff meint, sondern auch um jenen Bereich des oben bereits kurz vorgestellten "chaotischMannigfaltigen", dessen Möglichkeitsstatus in seiner Unexplizierheit liegt, nicht in seiner Nochnicht-Wirklichkeit. 16 Keineswegs soll dabei behauptet werden, daß jedes der Momente für sich genommen bereits spezifisch konservativ sei (und somit ein zureichendes Kriterium darstellen würde); es geht vielmehr um eine Kombination der Elemente, die auch Spielraum für die Bildung unterschiedlicher Schwerpunkte läßt. Die Aufzählung erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 17 Erich Kaufmann, Über die konservative Partei und ihre Geschichte (1922), in: Ders., Gesammelte Schriften Band III: Rechtsidee und Recht, Göttingen 1960, S. 133-175, hier 150.
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pessimistische Menschenbild; das Bewußtsein der Notwendigkeit von Institutionen; das Bedürfnis nach Einbettung, nach Kontextualisierung der persönlichen Existenz, das weitgehende Desinteresse an Autonomie-Idealen; die Überzeugung von der primären Sozialisiertheit der Menschen, die Ablehnung des radikalen Individualismus; die Abwehr der Verregelung der gemeinsamen Situationen; die Achtung des Vergangenen; der Affekt gegen Nivellierung von Unterschieden, das Interesse an einer gegliederten Gesellschaft; der generelle Sinn für Mannigfaltigkeit. Das Verhältnis zur Zeit verdient etwas mehr Aufmerksamkeit, weil das konservative Denken ihr eine beherrschende Rolle einräumt. Es sieht so aus, als ob schon das primitive Zeitlichkeitserieben hier ein eigenartige Färbung annimmt, die dann zu Phänomenen wie Sentimentalität, Nostalgie, dem Hängen an der Vergangenheit bis hin zur Ahnenverehrung führt. Ganz auf dem Grund des menschlichen Daseins gewissermaßen, abgelöst aus jedem politischen Kontext, leidet der Konservative in besonderer Weise an der elementaren Grausamkeit des unaufhörlichen Abschieds der Zeit, an der Erfahrung, daß etwas nicht mehr ist, vorüber ist. Das ist keineswegs banal. Arnold Gehlen nennt die Haltung, die für dieses Erlebnis empfindlich ist, "die Treue, nämlich der elementare innere Widerstand des Seins gegen das Gewesensein und ihre Absicht der Wiederholung. Die Tatsache aber, daß etwas zu sein aufhören kann, ist ein unergründliches Rätsel, (...)."18 Wenn diese Empfindlichkeit sozusagen zum Grundstock der konservativen Mentalität gehört, dann muß sie unter den Bedingungen der Moderne besonders in Anspruch genommen werden. Hermann Lübbe hat diesen Punkt in anderer Hinsicht, aber zum eben Ausgeführten durchaus passend, angesprochen: "Konservatismus als politische Kraft, als Ideologie und schließlich als organisierte Partei setzt die Erfahrung dynamisierter Geschichte voraus."19 Damit ist die Reaktion noch nicht unbedingt vorprogrammiert, wie sich am Beispiel Ernst Jüngers studieren läßt. Man kann sich auch in heroischer Verzweiflung in die als grausam empfundene Dynamisierung einschalten; wichtig ist nur, daß sie als einfremdes Geschehen erlebt wird, daß der Genuß des Prozesses stets gebrochen bleibt und auch die Illusion der Steuerbarkeit keine Rolle spielt. Die Zukunft steht also nicht im Mittelpunkt der konservativen Zeiterfahrung. Das hat Folgen für die generelle Beurteilung von Projekten, wie Hans Barth meint: "Die Zeit ist die Bedingung für die Verwirklichung des Guten." Auch die Vernunft ist in diesem Kontext auf die Zeit angewiesen, weil das Wahre, das sie erkennt, sich erst bewähren muß, um Überzeugungskraft zu erwerben. 18 Arnold Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 1 : Philosophische Schriften I (1925-1933), hg. v. Lothar Samson, Frankfurt a.M. 1978, S. 202. 19 Hermann Lübbe, Konservatismus in Deutschland - gestern und heute, in: Ders., Fortschrittsreaktionen. Über konservative und destruktive Modernität, GrazAVien/Köln 1987, S. 11-26, hier 13.
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"Der Vernunft des je gegenwärtigen Augenblicks wird empfohlen, sich mit der Vernunft der Vergangenheit zu messen und sich für die vernünftige Entscheidung der Zukunft offen zu halten. Auf diese Weise mindert der Mensch die Hybris der Gegenwart und berücksichtigt er den Grundtatbestand seines Lebens: das Eingeordnetsein in den Ablauf der Zeit."20 Das Interesse an Kontinuität schließt hier an. Gustav Steinbömer, ein jungkonservativer Schriftsteller unter dem Einfluß Moeller van den Brucks, erläutert die konservative Haltung durch ein Motiv, das er das "Prinzip Dauer" nennt: "Ich möchte das Kennzeichen konservativen Verhältnisses zu Geschehen und Geschichte so formulieren, daß es die menschliche Erfahrung im Erleben von Geschehen und Geschichte als Grundlage der Wahrheit anerkennt. Es ist die Überzeugung des nicht Neu-Anfangen-Könnens, das Gegenteil der Baccalaureus-Stimmung: »Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf.« Diesem primitiven Beginnen-Wollen einer Urwelt-Epoche von sich, vom Zeitgenossentum aus setzt der Konservatismus das Wissen um das Bedingtsein durch Ursprung, Vergangenheit und Gesetz entgegen."21 Wesentlich ist auch der Verzicht auf jede Form von (irdischer) Erlösung und damit die Wendung gegen Utopien. Eine solche "paradise-now"-Vision, wie man sie in schöner Form in Georg Büchners "Leonce und Lena" findet, ist konservativem Denken fremd ("Und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!"). Die radikale Erlösungssehnsucht vieler Menschen zielt, um es im Anschluß an Büchner einmal bildlich auszudrücken, auf die Abschaffung des Schmerzes und des schlechten Wetters. Gerade die Haltung zum Schmerz könnte sich als Kriterium erweisen; nicht umsonst hat sich Ernst Jünger so eingehend mit dem Thema beschäftigt. In seiner Studie "Über den Schmerz" verweist er auf Bismarck, der geäußert hat, daß wir nicht auf den Gedanken kommen, den Bergbau einzustellen, obwohl wir die Zahl der Opfer, die er fordert, im voraus statistisch berechnen können: "Er vertrat damit die Anschauung, daß der Schmerz zu den unvermeidlichen Erscheinungen der Weltordnung gehört, - eine Anschauung, die jedem konservativen Denken innewohnt."22 Schließlich ist es auch die Haltung zum Programm der Aufklärung, insbesondere zum Ideal der Optimierung des Menschen, die bezeichnend ausfällt und 20 Der konservative Gedanke. In ausgewählten Texten dargestellt von Hans Barth, Stuttgart 1958, S. 2 (Einleitung). 21 Gustav Steinbömer, Über das Prinzip der Dauer. Rede gehalten im Jungkonservativen Club am Gründungstage des Juni-Clubs, Juni 1931, Sonderdruck o.O. o.J. -Vgl. dazu einen unter Pseudonym erschienenen Text aus späterer Zeit: Von dem Werte der Dauer, in: Gustav Hillard, Wert der Dauer. Essays. Reden. Gedenkworte, Hamburg 1961, S. 112-123. 22 Ernst Junger, Über den Schmerz, in: Ders., Blätter und Steine (1934), Hamburg 1941 (2. Aufl.), S. 202.
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die in konsequenter Ausgestaltung wiederum neue Probleme schafft. Hier hat sich bei den modernen Konservativen, wesentlich befördert durch die Rezeption Nietzsches, eine grundsätzliche Skepsis ausgebreitet gegenüber der Möglichkeit, das Wesen des Menschen durch fortschreitende Disziplinierung tatsächlich radikal verändern zu können. Verhaltensweisen, die diesem Idealbild des Menschen von sich widersprechen, werden nicht als "Rückfalle" oder "Regressionen" vor dem Hintergrund einer Fortschrittsauffassung gedeutet, sondern (in Ernst Jüngers Worten) als "unvermeidliche Erscheinungen", als nicht zu überwindende Bestandteile des menschlichen Lebens überhaupt. Diese fatalistische Auffassung ist es, die vom Standpunkt der Aufklärung aus als inhuman bezeichnet werden muß. Zu dem von Nietzsche inspirierten modernen Konservatismus gehört auch die Überzeugung, daß durch die einseitige Ausrichtung auf Selbstkontrolle essentielle Elemente des Lebens mißachtet werden. Vor allem die Dominanz der personalen Emanzipation, der Fähigkeit des Menschen zur reflektierenden Abstandnahme von seinem Erleben, wird kritisch gesehen. Ludwig Klages kommentiert seine Bemühungen in diesem Sinne: "Dies ist nun ein Teil unseres Sagens und Wirkens, daß wir die Menschen vor ihr Rausch-Ich zwingen, daß wir ihnen aufnötigen zu glauben: auch das bist du, auch dieses Ich ist dein Ich."23 Insofern gibt es eine Affinität der "Lebensphilosophie" zum Konservatismus. Die Reintegration der personalen Regression in das Bild des Menschen und damit die Entwicklung einer vollständigen, nicht idealisierten Anthropologie kristallisiert sich für die von Nietzsche beeinflußten Konservativen als eine zentrale Aufgabe heraus.24 An dieser Stelle kann ein weiteres Dilemma des modernen Konservatismus nur angedeutet werden, ein Problem, das sich aus der kaum zu überschätzenden Wirkung Nietzsches ergibt. Gottfried Benn hat fünfzig Jahre nach Nietzsches Tod folgendes Fazit gezogen: "Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat - alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese."25 Die Stellung zu Nietzsche wird für den modernen Konservatismus zur Probe. Armin Möhler hat in seiner Arbeit über die Konservative Revolution zwar den Einfluß Nietzsches als ein entscheidendes Moment herausgestellt, doch in anderer Hinsicht als eben ausgeführt. Für Möhler steht der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen im Mittelpunkt. Demgegenüber soll hier ein anderes 23
Klages, Rhythmen und Runen. Nachlaß herausgegeben von ihm selbst, Leipzig 1944, S. 310. Der Ausdruck "Regression" wird hier nicht im üblichen, pejorativen Sinne verwendet, sondern als phänomenologischer Terminus. Vgl. genauer Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 156ff. 23 Gottfried Benn, Nietzsche - nach fünfzig Jahren, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 4: Reden und Vorträge, München 1975, S. 1046. 24
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Motiv als das ausschlaggebende vorgestellt werden, in Anknüpfung an das bereits Gesagte. Max Scheler hat in seiner Rede "Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" (1927) den Geist der Zeit zu fassen gesucht: Er diagnostizierte eine "systematische Triebrevolte im Menschen des neuen Weltalters gegen die einseitige Sublimierung", eine Revolte, die Nietzsche philosophisch vorbereitet hat. Scheler kommt im weiteren zu Einsichten, die auch für das in den folgenden Kapiteln Auszuführende brauchbar sind: "Die Revolte der Natur im Menschen und alles dessen, was dunkel, dranghaft, triebhaft ist - des Kindes gegen den Erwachsenen, des Weibes gegen den Mann, der Massen gegen die alten Eliten, der Farbigen gegen die Weißen, alles Unbewußten gegen das Bewußte, ja der Dinge selbst gegen den Menschen und seinen Verstand - sie mußte einmal kommen! Der Weltkrieg selbst war - was die psychischen Massendispositionen zu ihm betrifft, nicht natürlich seine politischen Ursachen - eher eine Wirkung, als eine Ursache dieser Jahrhunderte währenden Triebstauung und beginnenden Triebrevolte gegen den höchst gesteigerten, übersteigerten »Apollinismus« und »asketischen Rationalismus« dieser Epochen."26 Ludwig Klages und Ernst Jünger gehören zweifellos zu dieser Bewegung, die von Scheler in groben Zügen umrissen wird. Im Falle Jüngers trifft auch Schelers Bemerkung über die Bedeutung des Ersten Weltkrieges zu. Es gibt aber auch eine Strömimg innerhalb des modernen Konservatismus, die gerade die beschriebenen Erscheinungen als regellosen "Subjektivismus", als "Auslebeindividualismus" (Scheler) auf das schärfste zu bekämpfen sucht. Als Antipode der von Nietzsche inspirierten Richtung tritt Arnold Gehlen auf den Plan, der für die Objektivität von Institutionen wirbt und der Lebensfülle die Ordnung vorzieht. Die "Erlebnisgier" des modernen Menschen, seine "Orgien der Subjektivität", bedrohen die Existenz von Institutionen, ja Subjektivität ist geradezu als das "Stigma des Menschen in einer Zeit des Institutionenabbaus" zu verstehen. Gehlens Sorge ist dem lebensphilosophischen Protest genau entgegengesetzt: "Wenn die äußeren Sicherungen und Stabilisierungen, die in den festen Traditionen liegen, entfallen und mit abgebaut werden, dann wird unser Verhalten entnormt, affektbestimmt, triebhaft, unberechenbar, unzuverlässig."27 Askese statt Ekstase, das ist wohl die schlagkräftigste Formel für den sich entwickelnden Gegensatz. Weitere Alternativen lassen sich anschließen: Erlebnis oder Verzicht, Rausch oder Zucht, Fülle oder Form, Lebenssteigerung oder Moral, Ergriffenheit oder Selbstbeherrschung, Abenteuer oder Regel, Orgiast oder Geistkämpfer, Vitalität oder Rationalität, schließlich auch Natur oder Technik. Die auffallige Anti-Bürgerlichkeit vieler konservativer Revolutionäre 26
Max Scheler, Späte Schriften, hg. v. Manfred S. Frings, Bern/München 1976, S. 157. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, S. 27, 131, 10. Ders., Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdekkung des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 59. 27
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(darunter Ernst Jünger) gehört in diesen Rahmen; Gehlen würde sie zu den zerstörerischen Erscheinungen des rebellischen Subjektivismus zählen. Vor diesem Hintergrund rücken Ernst Jünger und Ludwig Klages zusammen, um sich bei näherer Betrachtung allerdings wieder voneinander zu entfernen. Beide sind Exponenten einer Gegenaufklärung, aber in ganz unterschiedlicher Weise. Sie sind sich einig im allgemeinen Verweis auf die Bedeutung des "Anderen der Vernunft", 28 doch sie trennen sich in der inhaltlichen Bestimmung dieses Bereichs. Wenn Jünger von "Rausch" spricht, ist der harte, martialische Rausch des Kriegers in der Schlacht gemeint, die Begegnung mit dem unheimlichen Tier im Menschen, das Sich-Entledigen von allen hemmenden Formen des bürgerlichen Alltags, das Hervorbrechen des Urmenschen unter der Maske des aufgeklärten Subjekts;29 für Klages geht es hingegen um das Erlebnis der Faszination beim Anblick eines fesselnden Gegenstandes, das Versinken in der Anschauung, das zarte Dahinschmelzen, das träumerische Entrücktsein in einen eher pflanzenhaften als tierischen Zustand, dies verbunden mit der Aufhebung des Bewußtseins, eine gesonderte Person zu sein (ein "Subjekt" konfrontiert mit einem "Objekt").30 Beide Ansätze sind dem modernen, "zivilisierten" Menschen, der stolz auf die erreichte Stufe im Prozeß der Selbstdisziplinierung und Selbstveredelung blickt, gleichermaßen fremd.
29 Vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1985, S. 20ff. 29 Der Unterschied läßt sich gut demonstrieren an einem Erlebnis, das für beide Autoren einen wichtigen, wenn nicht zentralen Stellenwert hat: der Ekstase. Für Jüngers Verständnis ist charakteristisch: "Ein letztes noch: die Ekstase. (...) Da reißt Begeisterung die Männlichkeit so über sich hinaus, daß das Blut kochend gegen die Adern springt und glühend das Herz durchschäumt Das ist ein Rausch über allen Räuschen, eine Entfesselung, die alle Bande sprengt. Es ist eine Raserei ohne Rücksicht und Grenzen, nur den Gewalten der Natur vergleichbar. Da ist der Mensch wie der brausende Sturm, das tosende Meer und der brüllende Donner. Dann ist er verschmolzen ins All, er rast den dunklen Toren des Todes zu wie ein Geschoß dem Ziel. Und schlagen die schwarzen Wellen über ihm zusammen, so fehlt ihm längst das Bewußtsein des Überganges. Es ist, als gleite eine Woge ins flutende Meer zurück" (Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1926, 2. neub. Aufl., S. 53f.). 30 Für Klages' Verständnis von Ekstase ist folgendes Beispiel typisch: "Wir setzen den Fall, es betrachte jemand einen schimmernden Stein (...) und werde von dessen Anblick »gefesselt«. Ihm sei zunächst gegenwärtig ein Gefühl seiner selbst und das Bild des Steines. Und nun geschehe, was in voller Stärke nur wenigen zuteil wird, obschon den Ansatz dazu bei Wahl des geeigneten Gegenstandes (etwa des Anblicks der untergehenden Sonne, der Gestalt der Geliebten usw.) schließlich jeder kennt: daß nämlich der Betrachter im Betrachteten »versinkt«. Dann ist das Bewußtsein zu einem Spiegel geworden, in welchem allein noch das Funkeln dieses Steines brennt, und es erlischt vor der Allgewalt des Bildes das Ichgefühl" (Klages, Prinzipien der Charakterologie, Sämtliche Werke Bd. 4, Bonn 1976, S. 169). Näheres dazu in: Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, S. 341-347.
3 Großheim
ZWEITERTEIL Drittes Kapitel: Mensch und Technik a) Ludwig Klages Unter den konservativen Technikkritikern sticht Ludwig Klages durch Originalität, Konsequenz und Radikalität heraus. Charakteristisch ist die außerordentlichrigorose Haltung, die er in seinen Werken bei der Beurteilung der gesamten Menschheitsentwicklung an den Tag legt und die es so schwer macht, daraus noch vollziehbare Handlungsanweisungen zu gewinnen. Diesen Zug muß man im Kontext der Zeit betrachten: In der Gegenwart kann man davon ausgehen, daß sich das Bewußtsein der Notwendigkeit ökologischen Handelns in der ganzen Gesellschaft verbreitet hat und immer mehr in praktische Politik umzusetzen beginnt. Das war zu Klages' Zeiten ganz anders. Abgesehen von der gesellschaftlich einflußlosen Naturschutzbewegung und zahlenmäßig unbedeutenden Teilen der Jugendbewegung konnte Klages auf keine Verbündeten hoffen. Schon das bloße Verständnis für die von ihm in die Aufmerksamkeit gehobenen Gefahren dürfte sich in ganz engen Grenzen gehalten haben. Der Zeitgeist setzte weiter auf ungebremste Technisierung, und hier in schärfsten Kontrast eine Gegenposition einzunehmen, hat sich Klages zur Aufgabe gemacht. Insofern läßt sich sein Rigorismus als verzweifelter Versuch deuten, die fortschrittsbegeisterten Zeitgenossen zu verstören oder, symbolisch gesagt, die Passagiere des unaufhaltsam und mit steigender Geschwindigkeit fortrasenden Zuges wachzurütteln. Klages' Gedankenwelt soll im folgenden zur Markierung des ökologischen Pols innerhalb der Konservativen Revolution dienen. Neben ihm haben auch andere Denker warnend auf die Probleme hingewiesen, die die Technisierung bereits hervorgerufen hat und noch hervorrufen wird. 1 So ist es beispielsweise erstaunlich zu sehen, wie früh technikkritische Vertreter der Konservativen Revolution die ungeheuren Gefahren erkannt haben, die aus der Bearbeitung des Atomkerns erwachsen können, obwohl eine Atombombe noch gar nicht in 1 Unter den Vorläufern ist an erster Stelle Ernst Rudorff zu nennen, auf den Klages selbst auch ausdrücklich hinweist Vgl. Sieferle, Fortschrittsfeinde, bes. S. 16 Iff. und Ulrich Linse, Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1986.
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Sicht war. Leopold Ziegler schreibt 1931: "Für diesen kaum zu bejubelnden Fall gäbe sie (die Technik, d. V.) den Völkern die Urkräfte der Welt zur beliebigen Verwendung; ein Ereignis, auf welches der geschichtliche Mensch sittlich schlechterdings nicht vorbereitet ist und mit welchem er nicht rechnen konnte. Es wird ihn innerlich vollends aus dem Gleichgewichte bringen. Vernichtungswut und Größenwahnsinn werden sich schauerlich in ihm vermählen, und das Zepter der Allmacht wird in seinen unreinen Händen zur Geißel der Schöpfung werden. Die grauenhaftesten Verwüstungen im letzten Krieg sind nur Kinderspiel vor den Möglichkeiten, die mit dem endgültigen Triumph der Technik anbrechen; die Vernichtbarkeit des ganzen Planeten dürfte dann kaum mehr zu den baren Unmöglichkeiten zählen."2 Der Autor warnt anschließend noch vor der ganz unberechenbaren Situation, die entsteht, wenn die neuen Waffen in die Hände von Kriminellen fallen. Zieglers Einstellung resultiert weniger aus einem grundsätzlichen Pessimismus als aus der für Konservative typischen anthropologischen Skepsis, die aber in diesem Fall für eine besondere Sensibilität sorgt bei der Prüfung der entscheidenden Frage: Wird der Mensch in der Lage sein, mit seinen Errungenschaften verantwortungsvoll umzugehen oder muß sein Verhalten als ganz unkalkulierbar betrachtet werden? Eine tiefe Skepsis gegenüber dem Vermögen des Menschen in dieser Hinsicht ist auch kennzeichnend für die Haltung von Ludwig Klages. Dessen scharfe Kritik am Technizismus seiner Zeit und der dazugehörigen Wissenschaftsgesinnung soll hier im Mittelpunkt stehen. Dieses Anliegen bestimmt Klages' ganzes Werk, tritt aber besonders rein in dem Aufsatz "Mensch und Erde" hervor, der zuerst in der Festschrift zur Meißnerfeier der Jugendbewegung 1913 erschien. In diesem frühen ökologischen Manifest wird in erstaunlicher Aktualität mit Zeiterscheinungen abgerechnet: "Wir täuschten uns nicht, als wir den »Fortschritt« leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von »Nutzen«, »wirtschaftlicher Entwicklung«, »Kultur« geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Gewerblichkeit die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übrigläßt, gleich dem »Schlachtvieh« zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande eines schrankenlosen Beutehungers. In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft." 3 Ähnlich geht Klages im zweiten Band des Hauptwerks "Der Geist als Widersacher der Seele" (zuerst 1929) mit der Technik ins Gericht: "Bedenken wir, 2 3
*
Leopold Ziegler, Fünfundzwanzig Sätze vom Deutschen Staat, Dannstadt 1931, S. 61 f. Ludwig Klages, Mensch und Erde, Sämtliche Werke Bd. 3, Bonn 1974, S. 621f.
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Zweiter Teil
daß die Technik die frei lebenden Tiergeschlechter größtenteils schon hingeschlachtet hat und in der Folge gänzlich hinschlachten wird (...), die Urwälder in Zeitungspapier verwandelt und mit Giftgasen, Elektrizität und Sprengstoffen die Mittel bereit stellt, um auch Menschen in kürzester Zeit millionenweis umzubringen, während es ihr niemals gelang, Leben zu erzeugen, so werden wir die scheinbare Angemessenheit ihrer Voraussetzungen an die Wirklichkeit für das erkennen, was sie ist: für ein ungemein geistvolles Werkzeug der Zerstörung."4 Diese enge Verbindung von Technik und Zerstörung findet man auch bei Ernst Jünger (siehe b), aber in einem anderen Kontext von Wertungen. Die Differenz von Jünger und Klages soll noch an verschiedenen Stellen herausgearbeitet werden. Hier mag der Hinweis angebracht sein, daß Klages seine Warnungen schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges formuliert hat, der für Jünger dann zum Anstoß für die Ausbildung eines neuen, radikal affirmativen Verhältnisses zur Technik gewesen ist. Vor diesem Hintergrund wird der Zusammenhang interessant, den der Klages-Schüler Werner Deubel zwischen den Ausführungen in "Mensch und Erde" und der kurz darauf stattfindenden grausigen Premiere des technischen Krieges sieht: "Keiner von den Älteren, den Fortschrittsstolzen und Kulturgläubigen hat das damals glauben wollen. Aber einem Teil der Jugend fiel es wie Schuppen von den Augen. Anderthalb Jahre später brach der Maschinenkrieg aus und beide Generationen, Väter und Söhne, staunten aus krachenden Gräben grübelnd in das europäische Rätsel. Damals begann die erste heimliche Wirkung von Klages."5 Mit einiger Verzögerung setzt aber ab 1920 auch die Wirkung von Jüngers erheblich abweichender Deutung des Maschinenkriegs ein. So gesehen könnte man das Verhältnis von Jünger und Klages auch als eine Konkurrenz um das konservative Interpretationsmonopol der Moderne auffassen, eine Konkurrenz, in die in ambivalenter Weise auch Oswald Spengler eingreift. Das soll später eingehender dargestellt werden. Um die relativ unbekannten Schriften von Klages etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen und gleichzeitig den Ernst seiner Sorge zu dokumentieren, empfiehlt sich der Anschluß einer weiteren Äußerung zum Thema: "Die Technik, die man heute im Sinne hat, wenn man von den »Wundern der Technik« redet, ist nicht wesentlich älter als vier Generationen und hat dessenungeachtet hingereicht, um Dutzende von Stämmen der Primitiven, Hunderte von Pflanzengeschlechtern, doppelt und dreimal soviel Tierarten auf dem Lande, in der Luft, im Wasser vom Antlitz des Planeten zu tilgen. Der Tag ist nicht fern, wo sie alle vertilgt sein werden, soweit man sie nicht zu züchten beliebte zu Schlachtzwecken oder zu Modezwecken, ausgenommen nur die Infusorien und Bakterien. Das Weltall ist für diesen Vertilgungswahnsinn etwas allzu geräu4
Klages, Der Geist als Widersacher der Seele I, Sämtliche Werke Bd. 1, Bonn 1969, S. 709. Werner Deubel, Ludwig Klages oder die Revolution in der Philosophie, in: Der Kreis. Zeitschrift fìir künstlerische Kultur I X (1932), S. 714-719, hier 715. 5
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mig, die Erde aber, sollte nicht zeitig ein »Wunder« geschehen, wird daran sterben; und die Macht, die einen ganzen Planeten umzubringen imstande wäre, hätte dann tatsächlich ein Stück »Weltgeschichte« geliefert." 6 Man darf die Kompromißlosigkeit dieser Gedanken nicht übersehen, wenn man Klages recht verstehen will. Es geht ihm nicht um ein Rückzugsgefecht oder eine Schadensbegrenzung, um Beherrschung oder Eindämmung der Technik im Sinne mancher moderner Ökologen. Wir befinden uns nach seiner Einschätzung mitten in einer "scheußlichen Vernichtungsorgie", in einer "Verwüstung des Erdantlitzes", bei der das "Mordwerkzeug Technik" ein Verhängnis größten Grades herbeiführt: "Das Ende ist unabweisbar Untergang."7 "Die Menschheit zerstört mechanistisch das Leben: aber sie wird an ihren Siegen zugrunde gehen."8 Es geht nicht um den Untergang einer Kultur, sondern um das Ende der Menschheit. Klages' pessimistische Geschichtsphilosophie übertrifft die Theorien Oswald Spenglers in dessen aufsehenerregendem Werk "Der Untergang des Abendlandes" noch weit an Radikalität. Nur gelegentlich, nicht konsequent, werden Auswege angedeutet, die jedoch - ähnlich wie bei Heidegger - der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen sind: "Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen des Menschen steht."9 Klages' Geschichtsphilosophie ist eingebettet in einen umfassenden metaphysischen Entwurf, in dem man nach den Ursachen der unseligen Entwicklung zu suchen hat. Menschliche Weltbemächtigung und -Zerstörung sind für Klages nicht in historischen oder soziologischen Analysen zu klären. Der Prozeß erscheint ihm so ungeheuerlich, daß er nur auf den Einbruch einer lebensfeindlichen Macht zurückzuführen sein kann. Diese Macht wird von Klages "Geist" genannt; die üblichen Konnotationen dieses Begriffs spielen hier eine deutlich untergeordnete Rolle. Wichtigste Erscheinungsform des Geistes ist der "Wille", konkreter die umsichgreifende Heiligung des Willens zur Macht, der in Klages' Augen nur Wille zur Zerstörung ist. Der Mensch als "Träger des rechenverständigen Aneignungswillens"10 ist ausführendes Moment der Zerstörung. Die Menschen haben keinen Grund, sich als souveräne Gestalter zu fühlen: "Auf die »Freiheit des Willens« pochend, sind wir zu Sklaven des Machinalismus geworden."11 6 Klages, Sämtliche Werke Bd. 1, S. 767f. - Vgl. S. 775f.: "Und zeigt uns nicht der flüchtigste Blick auf den wirklichen Sachverhalt, daß Werkzeug und Maschine das Reich der Lebendigkeit befehden, die Organismen in riesiger Zahl vertilgen, das Antlitz des Planeten in immer rasenderem Tempo verwüsten!" Ähnlich S. 138, 624 sowie in: Klages, Der Geist als Widersacher der Seele II, Sämtliche Werke Bd. 2, Bonn 1966, S. 1141f. 7 Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Sämtliche Werke Bd. 5, Bonn 1979, S. 143. 8 Klages, Vom Wesen des Bewußtseins, Sämtliche Werke Bd. 3, S. 297. 9 Klages, Sämtliche Werke Bd. 3, S. 628. 10 Klages, Sämtliche Werke Bd. 3, S. 627.
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Besonders in der Wissenschaft als Grundlage der Technik ist der Wille am Werk, denn der Erkenntnistrieb ist für Klages "Aneignungstrieb", der durch alles beunruhigt wird, was er noch nicht besitzt. "Wer das Weltgeheimnis erforschen will, der will sich seiner bemächtigen (entgegengesetzt dem Mysten, der sich hingibt und bemächtigt wird); und wessen der Geist sich bemächtigt, das ist unfehlbar entzaubert, und es ist mithin zerstört, wenn es dem Wesen nach ein Geheimnis war. Der geistige Bemächtigungswille ist Frevel am Leben, und darum trifft den Frevler der rächerische Rückschlag des Lebens. Dieser Satz wird wahr bleiben, solange es eine Menschheit gibt, und er wird sich furchtbar bewährt haben, wann die entartete Menschheit an der rationalistischen Entzauberung des Lebens schließlich verendet ist."12 Sieht man von der heute fremd wirkenden Ausdrucksweise ab, fallen die Parallelen zu Max Weber sofort ins Auge. In seinem Vortrag "Wissenschaft als Beruf' von 1919 hat Weber das Wesen des modernen Rationalisierungsprozesses dadurch gekennzeichnet, "daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne."13 Diesen Vorgang nannte er mit einer inzwischen berühmt gewordenen Formel "Entzauberung der Welt".14 Während Weber aber - neben seinem heftigen Plädoyer gegen den "Erlebnis"-Begriff - bemüht ist, für eine nüchtern konstatierende, sich irgendwelcher Wertentscheidungen enthaltende, für eine sog. "wertfreie" Haltung in der Wissenschaft zu werben, bezieht Klages vehement Stellung: gegen die Entweihung der Geheimnisse der Welt durch Wissenschaft und technisch-industriellen Fortschritt. Sein Grundimpuls ist die Sorge. Dabei mag der Ausdruck "Geheimnis" heute in einer wesentlich ernüchterten Welt eigenartig klingen; denkt man aber an das Geheimnis des Atomkerns oder an das des Zellkerns, läßt sich die zunächst etwas poetisch wirkende Warnung vor der verhängnisvollen "Entschleierung" ohne Mühe nachvollziehen.15 Bereits die Haltung des modernen Menschen ist also verwerflich. Ökologisch orientierte Autoren pflegen die problematische Eigenart des abendländischen Menschen gern im Kontrast zu den Menschen anderer Zeiten und Länder darzustellen. So auch Klages: "Der antike Forscher begegnet der Natur entweder fürchtend oder liebend oder verehrend; der neuzeitliche begegnet ihr mit dem Auge des Eroberers, der sich grundsätzlich im Besitz überlegener Mittel glaubt, 11
Klages,, Sämtliche Werke Bd. 3, S. 299. Klages, Vom kosmogonischen Eros, Sämtliche Werke Bd. 3, S. 479. 13 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München/Leipzig 1919 (2. Aufl.), S. 16. 14 Die Parallele ist Norbert Bolz (Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989) entgangen, obwohl er Klages miteinbezieht. So behauptet er, Klages habe jede eigentliche Handlung zur Ausdruckshandlung "fetischisiert" (S. 127). Das ist eine sonderbare Formulierung, die zur Quellenlage nicht recht passen will. Der Vergleich mit Benjamin ist hingegen interessant Vgl. dazu die näheren Ausführungen unten (Kapitel 3 d: Exkurs). 19 Vgl. die detaillierte Darstellung des philosophischen Gmndimpulses bei Klages in: Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, S. 7-22. 12
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um ihre verschlossenen Pforten zu öffnen und sie zur Herausgabe ihrer Schätze an den Menschen zu bewegen."16 Es ist die Pose des Untersuchungsrichters, mit der der moderne Mensch sich der Natur nähert. Was ihm gegenübersteht, nimmt er lediglich als eine Schranke des Verstandes wahr, "den er seinerseits für das Höhere hält, das die Bestimmung habe, den Widerstand einer vernunftlosen Welt zu brechen." Darin drückt sich eine zutiefst anthropozentrische Weltsicht aus, die Klages als "anthropozentrische Krankheit" betrachtet und mit seinen Werken theoretisch zu überwinden sucht. Eine wirkliche Wende müßte schon beim Verhältnis zu den Erscheinungen der Welt ansetzen: statt sie als reduzierte, manipulierbare Dinge anzusehen, gilt es, die "vollere Realität" der "Wirklichkeit der Bilder" zurückzugewinnen. Dazu muß die Naturwissenschaft das Interpretationsmonopol der Wirklichkeit verlieren und den Raum für Sensibilität und Eindrucksfahigkeit freigeben. 17 Zugleich wird damit eine anthropologische Umorientierung nötig, in Richtung auf ein "biozentrisches Menschenbild". Das von Klages in die Debatte geworfene Wort klingt eigenartig; sein Widersacher, das "Logozentrische" hat in der Literatur, die unter dem Titel "Postmoderne" auftritt, eine überraschende Renaissance erlebt, die dem "Biozentrischen" vorenthalten blieb. Die Spitze gegen das anthropozentrische Weltbild ist deutlich: Hier wird alles Leben gleichberechtigt miteinbezogen und ebenso das, was er-lebt werden kann. Auch das Erlebbare hat für Klages nämlich seine Würde: "Als was wir sie schauen, das tun wir den Dingen an." 1* Das impliziert z.B., daß in derbiozentrischen Auffassung auch im gewöhnlichen Sinne unbelebte Dinge wie ein Bachlauf oder eine Landschaft prinzipiellen Anspruch auf einen schonenden Umgang besitzen. Zum anthropozentrischen Weltbild gehört eine "Überschätzung des Tätertums", die nach Ansicht von Klages fast zum "Religionsersatz" geworden ist und notwendig zu einer Verarmung und Verflachung des Lebens führt. Der "Täter", dessen Leben sich auf Arbeit, Erfolg, Karriere, Pläne und Projekte konzentriert, bildet die Kontrastfolie für den biozentrisch orientierten Menschen, der den Erscheinungen des Lebens gegenüber offen ist und ihren Reichtum zu würdigen weiß. In populärer Form läßt sich diese Wertung in Erich Fromms Gegenüberstellung von "Haben" und "Sein" wiederentdecken. Man kann dem Wesen des neuen Menschenbildes noch weiter auf die Spur kommen, wenn man seinen Gebrauch bei den Klages-Schülern untersucht, die manches eingängiger formuliert haben als es ihr Lehrer tat. So findet man bei Werner Deubel eine Unterscheidung und Wertung von Menschentypen, die auf dem 16 Klages, Sämtliche Werke Bd. 1, S. 777. - Eine andere, versöhnlichere Haltung der Welt gegenüber hat der stark von Klages beeinflußte Ethnologe Werner Müller bei den Indianern Nordamerikas festgestellt, vgl. ders., Indianische Welterfahrung, Stuttgart 1976 und: Geliebte Erde. Naturfrömmigkeit und Naturhaß im indianischen und europäischen Nordamerika, Bonn 1976 (2. Aufl.). 17 Vgl. auch hier ausführlicher: Großheim, Klages und die Phänomenologie. 18 Klages, Sämtliche Werke Bd. 1, S. 664.
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von Klages herausgestellten Gegensatz von menschlicher Selbsthingabe und Selbstbehauptung beruht. Positiv wird bei Deubel der "pathische Mensch" gesehen, während der nach Geltung und Selbstbehauptung drängende "Täter" in seinem "leeren Willenskult" die negative Rolle übernimmt. Dieser Typus drückt sich aus als "Willensmensch", der Ichgenuß im Brechen von Widerständen findet. So erfahrt interessanterweise der Herausforderungen suchende "Abenteurer" hier eine ähnliche Behandlung wie später auch bei Heidegger (siehe dritter Abschnitt). Deübel fragt sich nämlich, ob das idealistische Tätertum (Rennfahrer, Bergsteiger, Ozeanflieger usw.) nicht vielleicht eine Form uneigennütziger Selbstpreisgäbe darstellt. Die Entlarvung dieser Selbstbehauptungsweisen folgt auf dem Fuße: "Hinter der Maske scheinbar kühnen Opferwillens steckt die dürrste Profitgier, die es gibt: die Gier nach Selbstgenuß der eigenen Aktivität, nach dem Machtrausch, Entfernungen, Meere und Berge, und womöglich noch den Äther mit der Maschine zu »besiegen«."19 Man könnte meinen, daß der Verfasser hier auch Menschen vom Schlage Ernst Jüngers im Auge hat. Deubels Beurteilung des modernen Krieges weicht jedenfalls, wie auch schon oben zu erkennen war, erheblich von deijenigen Jüngers ab: "Welche Gefahren aber von der Technik drohen, das haben uns die Totenheere des großen Maschinen- und Giftgaskrieges und die mörderischen Verstümmelungen der Landschaft gezeigt, die uns Europäern seit einem Menschenalter zum Bewußtsein gekommen sind."20 Deubel ist, weil er praktische Folgen der biozentrischen Weltanschauung für unerläßlich hält, im großen und ganzen weniger kompromißlos als Klages. Daher entwirft er auch Grundzüge einer biozentrischen Technik, die die Aufgabe hat, Leben zu schützen. So hat selbst der Techniker die Möglichkeit, sich einer anders orientierten Weltordnung einzugliedern: "Auch auf den Techniker und Ingenieur trifft zu, was für die biozentrische Haltung überhaupt gilt: möge ein jeder alles Lebendige in seinem Wirkungsbereich (Landschaft, Pflanze, Tier Kinder, Schüler, Untergebene - Denkmäler der Vergangenheit, Brauchtümer, Volkslieder, Trachten u.v.a.) in pflegende Obhut nehmen und, soweit er kann, aller Zerstörung wehren, zum mindesten aber ihre Folgen schwächen und mildern. Ein biozentrisch orientiertes Geschlecht könnte es als eine seiner vornehmsten Aufgaben betrachten, gerade mit Hilfe der Technik die Natur zu schützen und wo sie sich ihrer bedient, das Menschenmögliche zu tun, die Natur zu schonen."21 Für die Klages-Schüler gilt generell, daß ihnen der Mangel an konkreten Anweisungen zu praktischem Handeln in den Werken ihres Lehrers ein Problem 19 Werner Deubel, Auswirkungen des biozentrischen Menschenbildes, in: Süddeutsche Monatshefte 31 (1934), Heft 4: Charakterkunde. Mit einer Einführung von Ludwig Klages, S. 220-231, hier 228. 20 Deubel, Auswirkungen des biozentrischen Menschenbildes, S. 224f. 21 Deubel, Auswirkungen des biozentrischen Menschenbildes, S. 230.
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darstellt. Die Übersetzung seiner Gedanken und ihre Ausdeutung im Hinblick auf Realisierbarkeiten wird daher zu einer wichtigen Aufgabe. Ihr widmet sich auch der Psychiater Hans Prinzhorn - bekannt geworden durch die von ihm herausgegebene Sammlung "Bildnerei der Geisteskranken" (1923 in zweiter Auflage) -, und diese Tätigkeit trägt ihm von Adorno den Titel "Klages-Popularisator" ein. Auch Prinzhorn beschäftigt sich mit dem individualistischen TäterIdeal, das er anhand seiner Wunschziele charakterisiert: "So viel zu haben, zu behaupten, zu beherrschen, wie es in der Macht der Persönlichkeit liegt, die an der Erprobung ihrer Kraft mehr und mehr erstarkt." 22 In dieser Ausrichtung erkennt er die Gefahr einer Mechanisierung der Person und den Sieg des Maschinen-Ideals vom Menschen. Wiederum kann man die Kritik auf Jünger beziehen; das wird im folgenden Abschnitt deutlich werden. Sehr eindringlich warnt Prinzhorn vor Vorstellungen, die die Probleme nicht aus einem Zuviel, sondern aus einem Zuwenig an Modernisierung resultieren lassen: "Trotz aller Katastrophen, die doch unverkennbare Folgen jener »Fortschritts«-Entwicklung sind, verharrt man vielfach noch in dem Wahn, es handle sich für uns darum, in gleicher Richtung, nur mit besseren Methoden, weiter vorzudringen. In Wahrheit kann uns nur das noch fördern, was uns zu strengster Selbstbesinnung zwingt und uns dadurch auf den Weg neuer Wertfindung stößt."23 Diese Äußerung ist beispielhaft für eine radikal-kritische ökologische Haltung im oben umschriebenen Sinne. Wenn man mit Hans Sachsse annimmt, daß die ökologische Betrachtungsweise den individualistischen Ansatz überwindet und alles Lebendige als Glied eines umfassenden Ganzen versteht,24 dann ist Klages ein Musterbeispiel. Schon in seiner ersten Veröffentlichung, dem Buch über Stefan George (1902), bekämpft er die "Irrlehre", die sich an das "Lästerwort vom Individualismus" knüpft und die ein gefährliches Ergebnis liefert: den "maßlos emporgebäumten Einzelmenschen". Diesem Produkt der Moderne ist das Gefühl abhanden gekommen, in einen größeren Zusammenhang eingebettet zu sein, den man nicht einfach als Selbstverwirklichungslandschaft betrachten kann. "Wir empfinden nicht mehr, wieviel unfeine Selbstsucht dazu gehört, um das Leben zum bloßen Objekt zu erniedrigen." 25 Der von Klages idealisierte Urmensch dagegen hat sich dem Alleben noch nicht "entfremdet"; erst mit dem Einbruch des Geistes in den Menschen setzt die "Lockerung der Zusammenhänge des Eigenwesens mit dem Kosmos" ein, die Bedrohung der "Wechselseitigkeit des Wirkens von Kosmos und Mikrokosmos".26 Figuren wie Herakles, Theseus, Prometheus sind 22 Hans Prinzhorn, Persönlichkeitspsychologie. Entwurf einer biozentrischen Wirklichkeitslehre vom Menschen, Leipzig 1932, S. 63. 23 Hans Prinzhorn, Persönlichkeitspsychologie, S. 115. 24 Vgl. Hans Sachsse, Ökologische Philosophie. Natur-Technik-Gesellschaft, Darmstadt 1984, S. VII. 25 Klages, Stefan George, Berlin 1902, S. 13. - Ders., Rhythmen und Runen, S. 387. 26 Klages, Rhythmen und Runen, S. 374. - Ders., Sämtliche Werke Bd. 2, S. 1404, 831. - In der
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für Klages die ersten Individualisten, doch treten die verhängnisvollen Auswirkungen des Prinzips vollständig erst in der Moderne hervor: "Wir sehen heute im Gesamtbereich der »Zivilisation« sich begeben, was sich ähnlich bereits in Hellas zutrug: die Personwerdung des Selbstsinnes. Der Egoismus hat die Phase verbrecherischen Ausschweifens hinter sich und gewinnt »Stil«. Herzenskälte ist selbstverständliches Element der »Bildung« geworden. (...) Der Mensch hat Allwissenheit (Telephon), Allgegenwart (Automobil), Allmacht (Dynamit) erlangt."27 Klages stellt die Fähigkeit zur Distanzierung (Geist) der Fähigkeit zur Teilhabe (Leben) gegenüber. Durch das wachsende Ungleichgewicht zwischen beiden Instanzen ist der Mensch zwar zum Herr der Welt, aber auch zu einem Fremden in ihr geworden. Zu der Vielzahl von negativ bewerteten Wirkungen, die Klages dem "Geist" zuschreibt, gehört auch die Fixierung auf die Zukunft, die sich in Formeln wie "Fortschritt" oder "Prinzip Hoffnung" ausdrückt. "So spricht aus der unersättlichen Programmsucht eine maßlose Überbewertung des Gedankendinges Zukunft, aus ihr wieder eine kaum noch zu steigernde Flucht vor der Gegenwart und dergestalt völlige Glücklosigkeit. Verrät sich schon darin die tiefste innere Gleichgewichtsstörung, so kommt die furchtbare Überbetonung des Wollens und Willens erst recht an den Tag, wenn wir bedenken, daß nur der von Zukunftsphantasien erhoffen kann, was ihm die stets augenblickliche Wirklichkeit vorenthält, der die Zukunft verfertigen zu können sich einbildet."28 Es ist möglich, die Sache auch anders aufzuzäumen: Wer meint, die Gegenwart enthalte ihm etwas vor, kann jemand sein, der nicht beachtet, was die Gegenwart für ihn bereithält. Die Gegenwart bleibt sozusagen auf der Strecke. Hier an der Wurzel zu behandeln, hat sich Klages vorgenommen, und daher rühren seine immer wiederholten Warnungen vor der "Entwertung des Augenblicks" oder "Entrechtung des Augenblicks", vor der "Knechtung des Lebens durch Zwecke und Zukunft" und der "Überbetonung des Bezweckens und Planens". Wenn Ernst Jünger auf dem Papier die "Planlandschaften" der Zukunft entwirft, in denen die Arbeit der Menschen zu höherer Effektivität und intensiverem Einsatz geführt wird, könnte Klages entgegnen, daß schon der vorliegende Zustand unerträglich geworden ist: "Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven des »Berufs«, die sich maschinenhaft im Dienste großer Betriebe verbrauchen, sei es als Sklaven des Geldes, besinnungslos anheimgegeben dem Zahlendelirium der Aktien und Gründungen, sei es endlich als Sklaven großstädtischen Zerstreuungstaumels."29 Vorzeit war der Mensch weit entfernt von einem individuellen Bewußtsein: "Da war der Mensch nur eine Masche im Netz des planetarischen Schicksals" (Rhythmen und Runen, S. 416). 27 Klages, Rhythmen und Runen, S. 341. 28 Klages, Sämtliche Werke Bd. 2, S. 1422, siehe auch Bd. 3, S. 468. Vgl. zu diesem Thema: Michael Großheim, Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Gegenwart, in: Ders./Hans-Joachim Waschkies (Hg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993, S. 143-178.
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b) Ernst Jünger
Wie Klages unter Nietzsches Einfluß stehend, hat Ernst Jünger dem Willen zur Macht in seinen frühen Werken provozierende Denkmale gesetzt. Jünger begegnet den radikalen Erscheinungen nicht in der Gedankenwelt des Schreibtisches, sondern zunächst in den "Stahlgewittern" des Ersten Weltkrieges. Prägender Eindruck der ersten Hälfte seines Lebens ist die neuartige "Materialschlacht" mit ihrem ungeheuren Einsatz an Technik; statt in eine (verständliche) Verdammung dieser umwälzenden Erscheinung des modernen Krieges zu verfallen, zeigt sich Jünger - bei aller Neigung zu ursprünglichen Formen des Kriegertums - durchaus angezogen. Man könnte sagen: Er hat das dämonische Potential der Technik kennengelernt, will aber nicht davonlaufen, er stellt sich der Realität. Mit klaren Augen sieht er die fesselnden Möglichkeiten einer Steigerung des Willens zur Macht, die das neuartige Phänomen bietet. Das Trommelfeuer erscheint in dieser Perspektive lediglich als erster Ausdruck einer neuen Qualität zerstörerischer Energie, deren Spielraum noch nicht ausgeschöpft ist. Durch Jüngers Kriegsbücher zieht sich diese Spur, bis sie 1932 im "Arbeiter" ihre reinste Behandlung, ihren Höhe- und Wendepunkt erlebt.30 Eine Position wie die von Klages muß in dieser kühlen Zone gnadenlos unter das Verdikt "Romantik" fallen; der Betroffene selbst indessen würde diesen Titel als höchste Auszeichnung werten. Auch einige Jahre später, als Jüngers Einstellung zur Technisierung bereits von wachsender Skepsis geprägt ist, bleibt die Warnung vor den "romantischen Ausflüchten" bestehen. "Dies gilt im besonderen für jedes Bestreben, das sich der Kälte der heraufziehenden technischen Ordnungen zu entwinden gedenkt. Das Feld, auf dem wir uns zu schlagen haben, ist mit geometrischer Schärfe abgesteckt; es gibt hier kein Ausweichen."31 Die Einsicht, daß die Technik als Geschichtsmacht von menschlicher Hand nicht mehr aufzuhalten ist, teilen allerdings beide Autoren. Aber der Umgang mit dieser Lage weist interessante Unterschiede auf: Während Klages hier die Rolle der Kassandra einnimmt und das Schicksal des "letzten Mohikaners" beschwört, will Jünger den Prozeß nüchtern beschreiben, zugleich durch kühne und energische Vorgriffe Entwicklungshindernisse beseitigen und die Bewe29
Klages, Sämtliche Werke Bd. 3, S. 623. Es kann keine Rede davon sein, daß der "Höhepunkt" der Debatte über die Technik innerhalb der konservativen Revolution mit dem Erscheinen von Spenglers "Der Mensch und die Technik" anzusetzen ist Diese Auszeichnung kommt zweifellos Ernst Jüngers "Arbeiter" zu. Außerdem ist das Buch von Spengler 1931 veröffentlicht worden und nicht 1932. Das als Kommentar und Korrektur zu: Dupeux, "Kulturpessimismus", Konservative Revolution und Modernität, S. 292f. 31 Ernst Jünger, Afrikanische Spiele, Hamburg 1936, S. 222 ("Nachwort"). - Werner Sombart hat Jüngers "Arbeiter" als Musterbeispiel einer "fatalistischen Theorie" der Technik angeführt. Vgl. Sombart, Deutscher Sozialismus, Berlin 1934 (4.-8. Tsd.), S. 259. 30
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gung fördern. Dieses Motiv, einschneidenden Vorgängen mit drohenden schmerzhaften Verlusten nicht entgegenzutreten, sondern sie auf dem geistigen Feld kühlen Kopfes bis in die letzte Entwicklungsmöglichkeit zu treiben, um so erst den wahren Umschlag herbeizuführen, findet sich bei Jünger bereits früher. 32 Aber während die erste Fassung des "Abenteuerlichen Herzens" von 1929 noch als Plädoyer für Freiräume des Einzelnen in einer durchorganisierten Gesellschaft zu begreifen ist,33 hat das Individuum drei Jahre später im "Arbeiter" ausgespielt. Das markiert auch den Unterschied zur Technikbegeisterung des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Bei Jünger tritt deutlich das Element der "-kratie" in den Vordergrund: Der Staat kann im 20. Jahrhundert seine Macht mit Hilfe der Technik in großartiger Weise ausbauen - die Kategorie des Individuums dagegen wird durch den "Typus" ersetzt. Dessen Aufgabe erschöpft sich unter Verzicht auf bürgerliche Ideale darin, wie ein Rädchen in der großen Arbeitsmaschine zu funktionieren. Der wachsende Sinn für das »Moderne« hat Jünger von Anfang an aus dem politischen Lager herausgehoben, dem er sich selbst lange Zeit zugehörig fühlte. Man muß sich dies ausdrücklich vergegenwärtigen, um davor geschützt zu sein, die Differenzen zu anderen Vertretern der Konservativen Revolution zu übersehen. So beklagt der Wirtschaftstheoretiker des "Tat"-Kreises, Ferdinand Fried, daß der Kapitalismus Mensch und Maschine nivelliert: "Die Maschine wird vermenschlicht, der Mensch maschinisiert. In die Maschine wird Seele hineinspintisiert, aus dem Menschen wird Seele herausgerissen. Der Gipfelpunkt ist die Synthese im modernen Maschinenmenschen."34 Diese Darstellung gehört in den bekannten Rahmen romantischer Kapitalismuskritik; ihr fehlt jede Einbettung in größere, philosophische Zusammenhänge, wie sie etwa bei Klages zu finden sind. Frieds Verachtung des modernen Maschinenmenschen ist eine relativ bequeme Geste. Gerade von solchen Ansätzen seines Umfeldes distanziert sich Jünger, indem er beispielsweise die Existenz des von Fried genannten "Maschinenmenschen" bestreitet.35 Er differenziert stattdessen und betont die Variabilität des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine. Der unter der Technik leidende Maschinenmensch ist gewissermaßen eine Figur von gestern. Dem "Arbeiter" dagegen ist die Technik gemäß, so wie dem Bauern der Boden.36 Wer sie als Angriff auf seine Substanz erlebt, steht außerhalb der Gestalt des Arbeiters (der "Bürger" etwa). 32 Zum Motiv des "Umschlags" vgl. Armin Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland, S. 96f. Eine interessante Kritik des Gedankens liefert Heinrich Meier in seiner Einleitung zu: Zur Diagnose der Moderne, München/Zürich 1990, S. 1 lf. 33 Allerdings finden sich auch im "Abenteuerlichen Herzen" Vorboten der späteren Anschauung, insbesondere was die Haltung zum Prozeß der Modernisierung angeht So erklärt Jünger, "daß man der Zivilisation nicht in den Zügel fallen darf, daß man im Gegenteil Dampf hinter ihre Erscheinungen setzen muß" (Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, Berlin 1929, S. 91). 34 Ferdinand Fried, Das Ende des Kapitalismus, Jena 1931, S. 42. 35 Vgl. dazu Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932 (2. Aufl.), S. 124.
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Dieser Gedanke weist gewisse Ähnlichkeiten mit der Theorie vom "Maschinenschicksal" auf, die Friedrich Sieburg 1933 entworfen hat. Hier heißt es: "Die große Wandlung der Welt, das Maschinenschicksal, stößt überall gegen feste Gebilde, gegen die soliden und glatten Wände wohlausgeglichener Kultureinheiten. (...) Nur Deutschland wird von dieser Wandlung im Zustande des Werdens betroffen. Es liefert sich fast willenlos der Maschine aus, es leistet ihr nicht den Widerstand eines verhärteten Erbes. (...) Angesichts der großen Flut sind wir selbst mehr Flut als Damm, und wenn der Tag kommt, wo unsere Form fest geworden ist, dann wird sich die Flut verlaufen haben. Gerade weil wir uns dem Maschinenschicksal am bereitwilligsten unterworfen haben, werden wir am ehesten seiner Herr werden. Die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Maschine hat bei uns kaum das Gepräge eines Kampfes. Sie ist fast wie eine gegenseitige, wenn auch rauhe Belehrung."37 Jüngers "Arbeiter" ist in dem von Sieburg beschriebenen Sinn Flut und nicht Damm. Nur würde in diesem Fall nicht ganz Deutschland als Subjekt des Prozesses gelten können, sondern nur diejenigen Teile, die bereits die neue Gestalt verkörpern. Dem Buch über den Arbeiter, das Jüngers Distanz zur romantischen Modernitätskritik durch äußerste Vereinseitigung nur unübersehbar machte, standen viele Weggenossen des Autors ratlos oder entsetzt gegenüber. Stellvertretend fur diese Reaktionen kann man die Stimme Albrecht Erich Günthers heranziehen, der erklärt: "Für die konservativen Menschen bedeutet es eine außerordentliche Erschütterung, den Weg Jüngers mitzugehen." Der Leser des Buches unterwerfe sich einem "schmerzhaften Prozeß".38 Günther, neben Wilhelm Stapel Herausgeber der Zeitschrift "Deutsches Volkstum", für die Jünger als Autor arbeitete, kann zu seinen Freunden gezählt werden.39 Für eine andere 36 Vgl. dazu die fundierte und erhellende Analyse von Rolf Peter Sieferk, Ernst Jüngers Versuch einer heroischen Überwindung der Technikkritik, in: Günter Figal/Rolf Peter Sieferle (Hg.), Selbstverständnisse der Moderne. Formationen der Philosophie, Theologie und Ökonomie, Stuttgart 1991, S. 133-173, bes. 165f. Dieser Aufsatz überholt insbesondere in der Darstellung der Positionen von Jünger und Spengler die Studie von Thomas Koebner, Die Erwartung der Katastrophe. Zur Geschichtsprophetie des "neuen Konservatismus" (Oswald Spengler, Ernst Jünger), in: Ders. (Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930-33, Frankfurt a.M. 1982, S. 348-359. Eine gründliche Interpretation beider Autoren als "politische Existenzialisten" bietet: Hermann Lübbe, Oswald Spenglers "Preußentum und Sozialismus" und Emst Jüngers "Arbeiter", in: Alexander Demandt/John Farrenkopf (Hg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 129-151. 37 Sieburg, Es werde Deutschland, S. 47f. 38 Albrecht Erich Günther, Die Gestalt des Arbeiters. Zu dem neuen Buche von Ernst Jünger, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), S. 777-781, hier 781. Vgl. die Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Thema: Günther, Der Mann als Zerstörer. Zu dem Buche von Emst Jünger: "Der Arbeiter", in: Deutsches Volkstum 15 (1933), S. 14-20. 39 Vgl. vor allem den Brief an Kubin vom 27.11.29 in: Ernst Jünger. Alfred Kubin. Eine Begegnung, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1975, S. 22. Vgl. daneben die Äußerungen Jüngers zu Α. E. Günther in: Strahlungen, Tübingen 1949 (2. Aufl.), S. 265, 308, 315, 354 (Eintragungen vom 24. Januar 1943, 20. April 1943, 28. April 1943, 9. Juli 1943). Vgl. auch: Jünger, Siebzig verweht I, Stuttgart 1980, S. 14 (Eintragung vom 27. April 1965) sowie das Lob auf Günthers Buch "Totem" in: Das
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Richtung der Kritik steht Max Hildebert Boehm, der Theoretiker des "eigenständigen Volkes", der sich an Jüngers Anti-Bürgerlichkeit stößt.40 Im Empfinden Edgar Julius Jungs nimmt sich sogar die Realität des Jahres 1933 weniger radikal aus als die Theorie des Buches.41 Und Oswald Spengler schließlich, der von Jünger verehrte Philosoph, dem er den "Arbeiter" mit persönlicher Widmung zusendet, reagiert nicht nur ohne Verständnis, sondern polemisiert kurz darauf gegen diejenigen, die "den Arbeiter" als den "eigentlichen Menschen" präsentieren und ihn zum "Heiligen", zum "Götzen der Zeit" erheben, um den sich die Welt dreht.42 Hat man die Irritation und die Empörung zur Kenntnis genommen, dann kann man sich mit Recht die Frage stellen, ob Jüngers Buch unter diesen Umständen überhaupt noch zur konservativen Revolution gerechnet werden darf. Klaus Vondung bezieht hier klare Position: Jünger ist kein Konservativer mehr.43 Vondung hält sogar die Prädikate "sozialistisch" und "revolutionär" für möglich. Dagegen muß man fragen, wo die humanistische Orientierung, das Element des Egalitären, das Motiv der Befreiung, das Recht auf Selbstbestimmung, die Aussicht auf ein Absterben des Staates oder die utopische Erlösung von den Übeln der Welt geblieben sind. Das Glück ist keine relevante Größe im "Arbeiter"; hier herrscht die Askese. In einer Neu-Rezension des Buches setzt Gerd-Klaus Kaltenbrunner diese Ortsbestimmung fort: "Der Arbeitsstaat ist ein Überstaat von technokratisch-kollektivistischem Gepräge, weist einen militärisch-elitären Zuschnitt auf. Wenn aber, was kaum zu bezweifeln ist, die Bejahung von Herrschaft und Hierarchie, von Autorität, Bindung, Disziplin und Zucht, der Primat der elitären, heroischen und imperialen Tugenden zu den essentiellen Konstanten »rechter« Denkweise und Lebenshaltung gehören, dann ist Ernst Jüngers Arbeiter ein extrem rechtes Buch."44 Das Fehlen aller nostalgischen Züge, die in Jüngers Umgebung sicherlich eine mehr oder weniger große Rolle gespielt haben, versetzt den "Arbeiter" noch nicht in ein anderes Lager. Während die Weggenossen weiter ihre alten, zuweilen auch versponnenen Ideen pflegen, versucht Jünger konsequent, den Blick von allen liebgewonnenen Illusionen zu befreien. Ernst Niekisch hat auf diese seltsame Konstellation hingewiesen.45 Die besondere Stellung Jüngers in seiner weiteren Umgebung abenteuerliche Herz, S. 179. 40 Max Hildebert Boehm, Der Bürger im Kreuzfeuer, Göttingen 1933. 41 "Auch der Arbeiter in Jüngerscher Gestalt wurde nicht typisch für das neue Deutschland. Der Begriff des Hitlerschen Arbeiters ist mehr konservativ als der des Jüngerschen und der sozialistischen Theoretiker des Nationalsozialismus" {Edgar Julius Jung, Sinndeutung der deutschen Revolution, Oldenburg 1933, S. 49f.). 42 Vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 87. 43 Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 382. 44 Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Die konservative Apokalypse, in: Günther Rühle (Hg.), Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Zeitanalysen - wiedergelesen, Frankfurt a.M. 1980, S. 119-126, hier 124f. 45 Ernst Niekisch, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt Zu Ernst Jüngers neuem Buche, in: Wider-
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hätte jedem aufmerksamen Beobachter schon sehr früh auffallen können, denn die geistige Entwicklung, die schließlich zum schockierenden Ergebnis des "Arbeiter" führte, ist gut dokumentiert. Bevor die inhaltliche Differenz im einzelnen dargestellt wird, muß noch ein Motiv beleuchtet werden, das die "Haltung" betrifft, eine Frage, die für Jünger stets von größter Bedeutung war. Seine Entscheidung für die Moderne hat nämlich auch hier eine Wurzel, wenn diese auch nicht von ausschließlich politischer Art ist. In einer Rundfunksendung zur Zeit der Veröffentlichung des "Arbeiter" warnt der Autor vor "Sackgassen". Dazu gehören für ihn "der extreme Individualismus, der demokratische Nationalismus, der romantische Katholizismus, der Konservatismus als Opposition".46 Daß Jünger auch den romantischen Katholizismus miteinbezieht, ist für das Verhältnis zu dem dezidiert katholischen Staatsrechtler Carl Schmitt von Bedeutung. Vermutlich meint Jünger nicht jene Geister der "Politischen Romantik" (Adam Müller, Friedrich Schlegel), von denen sich Schmitt selbst in seinem gleichnamigen Buch distanziert hat, und zwar im Namen des katholischen Traditionalismus. Wahrscheinlicher ist, daß vor dem Hintergrund der Konzeption des "Arbeiter" gerade an die traditionalistischen Kräfte gedacht ist, also an die Favoriten Schmitts aus dem Bereich der Konterrevolution. Joseph de Maistre und Louis de Bonald haben nun ihren Kampf ohne Zweifel vergeblich gekämpft; 47 muß dann nicht eine Anknüpfung an diese Autoren im 20. Jahrhundert als romantisch bezeichnet werden? Schmitt hat seine Position in verschiedenen Schriften der Zeit, vor allem aber in der Abhandlung "Römischer Katholizismus und politische Form" (1923) bestimmt. Romantisch wird diese Haltung, wenn man sie als fundamentale Opposition gegen die Moderne betrachtet, was sie zweifellos ist.48 Für Schmitt selbst war gerade der Glaube an den katechon, den Aufhalter dieses Prozesses, zentral, und er hat seine Hoffnungen in diesem Sinne lange Zeit auf den Katholizismus gesetzt. Insofern läßt sich - entgegen einigen Darstellungen, die vor allem von dem persönlichen Verhältnis beider Denker ausgehen - sein Standpunkt als eine extreme Gegenposition zur Konzeption des "Arbeiter" kennzeichnen. Später mag das Verhältnis Jüngers zu Carl Schmitt (und auch zu Martin Heidegger) noch so von wechselseitiger Befruchtung geprägt gewesen stand 7 (1932), S. 307-311, wiederabgedruckt in: Ernst Niekisch, Widerstand. Ausgewählte Aufsätze aus seinen "Blättern für sozialistische und nationalrevolutionäre Politik", hg. v. Uwe Sauermann, Krefeld 1982, S. 157-171, hier 160. 46 Zit. nach: Karl Otto Paetel, Emst Jünger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 51. 47 Jünger spricht von den "Anwälten des gewachsenen Bestandes". Darunter versteht er "jene Abart des Individuums (...), die sich damit beschäftigt, die Erinnerungen an den absoluten Staat auszuspielen gegen die Formen der liberalen Demokratie" (Der Arbeiter, S. 229). Die genannten Autoren könnten damit gemeint sein. 48 Vgl. Breuer, Anatomie, S. 52.
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sein - im Jahre 1932 gibt es im Grundsätzlichen keine Affinitäten. 49 Schmitt wäre zwar noch in der Lage, eine "totale Mobilmachung" auf nationaler Basis in seinen "Kampf gegen Weimar-Genf-Versailles" zu integrieren, doch nicht die planetarische Herrschaft des Arbeiters. Das Beispiel Schmitt für den Katholizismus als politische "Sackgasse" ist hier aber nur nebenbei von Interesse. Wichtiger für die Klärung von Jüngers Stellung innerhalb der Konservativen Revolution ist die Distanzierung vom "Konservatismus als Opposition". Diese Bemerkung kann man für den vorliegenden Zusammenhang fruchtbar machen. Der Konservatismus als Opposition hat immer etwas Hilfloses, Vergebliches, Fruchtloses. Jünger sieht diese Momente an seinen Zeitgenossen sehr genau; ihm erscheint die Haltung eines Konservatismus als Revolution attraktiver und ehrenwerter. Das Hängen an dem, was einmal war, kann er nicht zu seiner Sache machen. Peter Richard Rohden hat darauf aufmerksam gemacht, daß der gewöhnliche Konservatismus es stets mit einem gefahrlichen Täuschungsmoment zu tun hat. Der zeitliche Abstand zwischen dem Einst und dem Jetzt erweckt die Illusion, als habe man es in der Vergangenheit mit einem "in sich geschlossenen, und, an der Gegenwart gemessen, relativ ruhigen, problemlosen Zustand zu tun." Die Kämpfe und Nöte der Vergangenheit berühren uns nicht mehr, und dadurch entsteht die Neigung, sie zu episieren, "d.h. in ihnen ein Kräftegleichgewicht zu konstatieren, das sie für den Mitlebenden nicht besaßen." So muß bei der Abwägung der Gegenwart gegen die Vergangenheit die erstere den kürzeren ziehen. Die abgeschlossene Vergangenheit täuscht eine Ruhe und Zielsicherheit vor, die der Gegenwart fehlt. Auf diese Weise begibt sich der Theoretiker in eine, wie Jünger es nennt, "Sackgasse": "Seine eigene Epoche, deren Konflikte ihm unmittelbar auf den Nägeln brennen, wird ihm als formlos, innerlich zerrissen, ziellos, ja womöglich als dekadent und hypermodern erscheinen."50 Die von Rohden treffend geschilderte Problematik trifft vor allem den Konservatismus als Opposition. Jünger bemüht sich mit äußerster Kraft, diesem Schicksal zu entgehen, und daraus resultiert seine Vorliebe für die Haltung des Angriffs, d.h. konkret: die Moderne befördern, bis sie sich vollendet hat und im "magischen Nullpunkt" umschlägt. 49 Das schließt nicht aus, daß Jünger in den "Arbeiter" manchen Gedanken von Schmitt aufgenommen hat (z.B. zur Frage nach der Neutralität der Technik, zur Problematik des gerechten Krieges, zur Rolle der Dezision und der Autorität) und Schmitt selbst sich zu dieser Zeit und später positiv auf Jünger bezieht (vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Berlin 1969, 2. Aufl., zuerst 1931, S. 79; Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, in: Positionen und Begriffe, S. 235-239, hier 235; Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, S. 77f., 124). Zum Gegensatz Jünger-Schmitt vgl. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, S. 74f. Zum Verhältnis insgesamt vgl. Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1993, vor allem S. 107-110. 50 Peter Richard Rohden, Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Parteien, S. 34, 35.
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»Angriff statt Erhaltung« lautet deshalb die Devise, der er im "Arbeiter" folgt. Es handelt sich um ein "Gefecht" (ein Schlüsselbegriff für Jünger) mit Fronten, Siegern und Verlierern: Der Siegeszug der Technik schmilzt die Zahl der romantischen Landschaften ein. "Wie der romantische Raum in der Entfernung, mit allen Kennzeichen der Wüstenspiegelung, erscheint, so erscheint die romantische Haltung als Protest." "Man darf nicht an den Teilen der Front angetroffen werden, die zu verteidigen sind, sondern an denen, wo angegriffen wird." Die wahren Bundesgenossen sind nicht in der "Front der Restauration" zu suchen: "Sie stehen nicht dort, wo man die Erhaltung, sondern dort, wo man den Angriff will." 51 Wie eine Selbstbeschreibung im Rückblick klingen die Aussagen, die der Autor 1950 zum Problem eines modernen Konservatismus zu Papier bringt: "Der Konservative muß sich ja immer auf Teilgebiete stützen, die noch nicht in Bewegung gekommen sind, wie auf die Monarchie, den Adel, die Armee, das Land. Wo aber alles ins Gleiten kommt, verliert sich der Ansatzpunkt. Entsprechend sieht man die jungen Konservativen von statischen zu dynamischen Theorien übergehen; sie suchen den Nihilismus auf seinem Felde auf." 52 Das hat Jünger selbst getan. Und schon im "Arbeiter" folgt er der Einsicht, daß es sinnlos ist, sich auf jene Teilgebiete im Windschatten der Entwicklung zu stützen und so Konservatismus als Opposition zu betreiben. Der Unwille zur Restauration gehört zu den Folgen der Kriegserfahrung, denn dort hat die Jugend "in den furchtbarsten Landschaften der Welt die Erkenntnis erkämpft, daß alte Wege zu Ende gegangen und neue zu beschreiten sind."53 Was Jüngers Konzeption des "neuen Nationalismus" von den Anschauungen der konventionellen Weimarer Rechten unterscheidet, ist die Klarheit in der Relation von Zweck und Mitteln. "Neu" ist dieser Nationalismus in der Tat dadurch, daß er zur Beförderung seines Zweckes bereit ist, alle erdenklichen Mittel einzusetzen, insbesondere diejenigen, die sich als zukünftige abzeichnen.54 Tröstende Rückblicke in die Geschichte, theoretische Anleihen bei früheren Systemen, sentimental getönte Hoffnungen sind hier fehl am Platz, denn es geht um einen zeitgemäßen, einen "modernen" Nationalismus, nicht um einen "bürgerlichen Patriotismus". Jünger schreibt schon 1926: "Denn da der moderne Nationalismus den höchsten Lebenswillen innerhalb der höchsten Gemein31
Ernst Jünger, Arbeiter, S. 52, 91, 157. Ernst Jünger, Über die Linie, S. 270. 33 Ernst Jünger, Vorwort zu: Friedrich Georg Jünger, Aufmarsch des Nationalismus, hg.v. Ernst Jünger, Leipzig 1926, S. XIII. - Dieser Text entspricht bis auf den hier herangezogenen Schlußteil einem anderen veröffentlichten Aufsatz; die Methode der Wiederverwertung hat der Autor zu dieser Zeit vielfach angewendet. 34 Daraus resultiert seine Offenheit fìir Formen, die von der konventionellen Kulturkritik abgelehnt werden, wie etwa die Photographie. Vgl. seine Einleitung zu: Edmund Schultz (Hg.), Die veränderte Welt Eine Bilderfibel unserer Zeit, Breslau 1933, S. 5-9 (zur politischen Propaganda S. 6) sowie den Aufsatz "Krieg und Lichtbild" in: Ernst Jünger, (Hg.), Das Antlitz des Weltkrieges, Berlin 1930, S. 9-11. Über die Photographie als Waffe äußert sich der Autor auch im "Arbeiter" und in der Studie "Über den Schmerz". 52
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Zweiter Teil
Schäften der Welt verkörpert, kann er keine reaktionäre Erscheinung sein. Sein Wille ist vielmehr, alles zu lähmen, was nicht nationalistisch ist und den Staat als die umfassendste Form der Nation zum absoluten Sinnbild der vitalen Energie zu gestalten. Das fuhrt zur Prüfung jedes Menschen und jeder Einrichtung hinsichtlich des Wertes für die Nation und somit zu einer Aufgabe, die nur durch revolutionäre Mittel gelöst werden kann."55 Unter "revolutionären Mitteln" hat man vornehmlich die Mittel zu verstehen, die die Technik in der Gegenwart bereits zur Verfügung stellt oder deren Einsetzbarkeit sich für die Zukunft abzeichnet.56 Man kann hier an Spenglers Wunsch denken, daß Menschen der neuen Generation sich der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei zuwenden mögen.57 Jünger interpretiert diese Anregung auf seine Weise: "Wir schreiben heute Gedichte aus Stahl und Kompositionen aus Eisenbeton."58 Bezeichnend ist hier die provozierende Verschmelzung zweier Lebensbereiche anstelle der von Spengler vorgeschlagenen Ablösung. Das dahinterstehende allgemeine Prinzip entdeckt der Autor später, als er sich von der Thematik des Krieges literarisch abzuwenden beginnt. 33 Ernst Jünger, Der Nationalismus, in: Standarte. Wochenschrift des neuen Nationalismus 1 (1926), S. 3-6, hier 5. Vgl. ders., Schließt Euch zusammen! Schlußwort, in: Standarte 1 (1926), S. 391-395, hier 392: "Der Nationalismus hat die ersten Gefechte verloren, weil er sich geistig und tatsächlich noch nicht freigemacht hatte von der Reaktion, (...)." 56 Dazu gehört z.B. die Luftfahrt, für die sich Jünger besonders einsetzt, vgl. sein Vorwort zu: Luftfahrt ist not, hg. von Ernst Jünger, Leipzig o.J., S. 9-13, teilweise wiederabgedruckt als "Nation und Luftfahrt" in: Der Vormarsch. Blätter der nationalistischen Jugend 1 (1926/27), S. 314-317. Beispielhaft für den vorliegenden Zusammenhang ist folgende Äußerung: "Freilich sind wir inzwischen schon ein gutes Stück in das 20. Jahrhundert eingedrungen, und andere Mittel sind es, die aus dem inneren Bestände heraus mit Leben zu erfüllen sind. (...) So gilt es, neue Mittel zu beherrschen für den, der im Wettbewerb bestehen will" (S. 317). 37 Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit, München 1920 (5. Aufl.), S. 57. Ähnlich in: Ders., Pessimismus?, Berlin 1921, S. 19. Hier heißt es: "Kunst ja, aber in Beton und Stahl, Dichtung ja, aber von Männern mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick (...)." - Vgl. dazu die Kritik an der uneinheitlichen Haltung Spenglers in dieser Frage: Philipp Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart, Berlin 1932, S. 46f. - Neuerdings ähnlich: Gilbert Merito, Der sogenannte "heroische Realismus" als Grundhaltung des Weimarer Neokonservatismus, in: Gangl/Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, S. 271-285. Vgl. auch ders., Spengler und die Technik, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Spengler heute. Sechs Essays mit einem Vorwort von Hermann Lübbe, München 1980, S. 100-122. 3e Emst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (2. Aufl.), S. 113. Das Motiv tritt in den Kriegsbüchem häufiger auf, auch in ähnlicher Form im "Arbeiter": "Es ist sehr wohl eine Art der Sprache denkbar, in der von Kampfflugzeugen wie von angeschirrten homerischen Streitwagen gesprochen wird; und der Segelflug kann der Gegenstand einer nicht geringeren Ode sein als jener, in der der Eislauf besungen worden ist" (S. 179). - Als Indiz der Wandlung Jüngers kann eine Stellungnahme aus dem Jahr 1959 zu Spenglers Appell gelten. Dort heißt es, daß man ihm nicht zustimmen könne, "obwohl man gewiß vorm Sprung das Überflüssige ablegen muß. Wir alle haben es, mehr oder weniger widerstrebend gemußt Aber das Gedicht gehört zum Wesen des Menschen, nicht zu seinem Gepäck. Es bleibt sein Ausweis, sein Kennzeichen, sein Losungswort" (Ernst Jünger, An der Zeitmauer, Stuttgart 1959, S. 17). Die Ausdrucksweise spielt auf Jüngers eigene Beobachtung an, daß er sich im "Arbeiter" allen Gepäcks entledigt habe (siehe viertes Kapitel).
Drittes Kapitel: Mensch und Technik
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Jünger erweitert im "Arbeiter" lediglich seine Ansichten über das Wesen des modernen, technischen Krieges auf das Bild der gesamten Gesellschaft. Die Wandlung des Krieges ist ihm Symptom der Wandlung überhaupt. Auch diese Entwicklung zeichnet sich bereits vorher unverkennbar ab. Aus der Hölle des Krieges sieht Jünger ein "neues Geschlecht" auftauchen, "ein Geschlecht, das Maschinen baut und Maschinen trotzt, dem Maschinen nicht totes Eisen sind, sondern Organe der Macht, die es mit kaltem Verstand und heißem Blute beherrscht. Das gibt der Welt ein neues Gesicht."59 Mit derartigen Reflexionen beginnt schon 1925 die Transformation der Kriegsdeutung zur Gesellschaftsvision. Modellfall der Übertragung ist der soldatische Techniker, namentlich der Flugzeugführer, den Jünger als eine Art Pionier der kommenden Gesellschaft betrachtet. Der Flieger als eine Figur, nicht als konkreter Mensch, fasziniert Jünger sehr früh, weil er ahnt, daß hier etwas Neues vor sich geht, zu dessen eingehender Explikation er sich dann erst 1932 in der Lage fühlt. Bereits im Krieg spürt er einen "starken Geist" unter diesen Männern: "Ein solcher Geist trägt Zukunft in sich - und ich halte den Typ dieser Männer für fähig, von nun an und durch diesen Krieg in Bewegung gesetzt, im Europa von morgen in Krieg und Frieden eine führende Rolle zu spielen." Schon hier macht sich also das Desinteresse am konkreten Individuum und die Konzentration auf einen "Typ" bemerkbar. Jünger erlebt eine "neue Erscheinung des Menschen" und bekennt, daß er bei dieser Erfahrung wie von einer "fixen Idee" ergriffen ist. Ihm ist klar, "daß dieses Neue zu Methoden greifen wird, die den politischen, sozialen und moralischen Anschauungen, die wir aus der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit herübergebracht haben, fremdartig und vielleicht barbarisch erscheinen werden."60 Das ist die Morgendämmerung des Arbeiters. Unter den Fliegern sind Männer, "die, aufgewachsen in den Zentren der modernen Industrie, schon ganz das neue Jahrhundert repräsentieren. Zwanzigjährige, mit hartem, von Tatsächlichkeiten gehämmertem Gesicht, denen der Schwung der Schnellbahnen, das Tempo der Fabrik, Gedichte aus Stahl und Eisenbeton das selbstverständliche Erlebnis ihrer Kindheit gewesen."61 Die Gestalt des Fliegers ist eine Gelegenheit für den neuen Menschen des 20. Jahrhunderts, in seiner Eigenart hervorzutreten. 62 Dieses Motiv überlebt den Abschied von der reinen Kriegsliteratur. Im Jahrgang 1927/28 der Zeitschrift "Vormarsch" veröffentlicht Jünger einen Artikel unter der Überschrift "Arbeiter und Soldaten des 20. Jahrhunderts". Der Titel dieses Aufsatzes markiert die Annäherung der bisher auf das Militärische eingeschränkten Konzeption der Mo39
Ernst Jünger, Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, Berlin 1925, S.
19. 60
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Ernst Jünger, Das Wäldchen 125, S. 77. Ernst Jünger, Das Wäldchen 125, S. 78. Vgl. Ernst Jünger, Nation und Luftfahrt, S. 314.
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Zweiter Teil
derne an den Bereich des Gesellschaftlichen. Der "neue Menschenschlag" ist im Krieg sichtbar geworden, er wartet auf seine Durchsetzung durch allgemeine Bewußtwerdung, denn noch gibt das im Geist des 19. Jahrhunderts stehengebliebene Bürgertum den Ton an. Aber die Ausnahmeerscheinungen künden vom Neuen: "Die Führer der Flugzeuge, der Luft-, Schlacht- und Unterseekreuzer, sowie der technisch disziplinierten Sturmformationen stellen diese Ausnahmeerscheinungen dar. Sie freilich gehören nicht mehr der bewaffneten Bourgeoisie, sondern einem kühneren, intelligenterem und rücksichtsloserem Kriegertum, nämlich dem des 20. Jahrhunderts an."63 Das Arbeitertum - hier schon für Jünger der Kandidat, der bestimmt ist, dem 20. Jahrhundert seine Form zu geben - denkt noch in den Gedankengängen einer abgestorbenen Epoche, weil es sich noch nicht von seiner marxistischen Führung getrennt hat. Jünger selbst geht es zu diesem Zeitpunkt zunächst um eine faktische Aussöhnung der beiden gesellschaftlichen Gruppen, soweit sie sich feindlich gegenüberstehen. 1926 hat er schon die Taktik des getrennt-Marschieren, vereintSchlagens empfohlen: "Soldaten als Führer im Machtkampf, Arbeiter als Führer im Wirtschaftskampf!" 64 1929 behauptet er dann, daß alle revolutionären Kräfte innerhalb eines Staates trotz der größten Gegensätze unsichtbare Verbündete seien. "Für uns besteht zwischen Sozialismus und Nationalismus kein Gegensatz, es sind dies zwei Erscheinungen ein und derselben Kraft, ein Innen und ein Außen, die ohne einander undenkbar sind."65 Seine Hoffnungen richten sich auf eine Art Metamorphose des Arbeitertums wie sie in anderer Form, aber durchaus verwandt auch von Publizisten wie Winnig ("Vom Proletariat zum Arbeitertum") oder Niekisch ("Der Weg der deutschen Arbeiterschaft zum Staat") gefordert wurde. Jüngers Kriterium ist allerdings nicht das Staatliche sondern das Heroische: "Die einzige Fragestellung, die heute am Kommunismus wirklich von Interesse ist, ist die, ob es auch in Deutschland gelingen wird, den Begriff des Proletariers aus einem rein wirtschaftlichen in einen heroischen zu verwandeln."66 Doch das ist alles nur Vorbereitung. Jüngers Denken läuft zu Anfang der dreißiger Jahre auf mehr hinaus als eine antibürgerliche Koalition der Revolutionäre. Der Autor zieht die Konsequenzen aus dem Untergang der alten Kriegerkaste im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht. Soldat und Arbeiter vereinigen sich in der Gestalt des "Arbeiters", die eine Art Synthese von technischem 63 Ernst Jünger, Arbeiter und Soldaten des 20. Jahrhunderts, in: Der Vormarsch 1 (1926/27), S. 244-248, hier 246. Vgl. die Schilderung der Flieger als "gesteigertes Arbeiter- und Soldatentum" in: Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz, S. 224ff. 64 Ernst Jünger, Schließt Euch zusammen!, in: Standarte 1 (1926), S. 222-226, hier 224. 63 Ernst Jünger, Revolution um Karl Marx, in: Widerstand 4 (1929), S. 144-146, hier 145. Vgl. auch vom Autor: Die Geburt des Nationalismus aus dem Kriege, in: Deutsches Volkstum 11 (1929), S. 576-582, hier 579. 6