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German Pages 359 [360] Year 2018
Der Affekt der Ökonomie
Mimesis
Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette
Band 74
Ralf Simon (Hrsg.)
Der Affekt der Ökonomie Spekulatives Erzählen in der Moderne Herausgegeben von Gesine Hindemith und Dagmar Stöferle
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des LMU Mentoring-Programms an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Abteilung Romanische Literaturen I der Universität Stuttgart und der FONTE-Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses.
ISBN 978-3-11-047744-3 e-ISBN [PDF] 978-3-11-047963-8 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-047761-0 ISSN 0178-7489 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Hindemith, Gesine, editor. | Stöferle, Dagmar, editor. Title: Der Affekt der Ökonomie : Spekulatives Erzählen in der Moderne / herausgegeben von Gesine Hindemith, Dagmar Stöferle. Description: 1 | Boston : De Gruyter, 2018. | Series: Mimesis ; 74 | Includes bibliographical references and index. Identifiers: LCCN 2018027887 (print) | LCCN 2018029845 (ebook) | ISBN 9783110479638 (electronic Portable Document Format (pdf)) | ISBN 9783110477443 (hardback) | ISBN 9783110479638 (e-book pdf) | ISBN 9783110477610 (e-book epub) Subjects: LCSH: Romanticism. | Emotions in literature. | Economics in literature. | BISAC: LITERARY CRITICISM / European / General. Classification: LCC PN754 (ebook) | LCC PN754 .A44 2018 (print) | DDC 809/.93353--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018027887 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dank Das Konzept für diesen Band entstand aus der Sektion »Affekt/Ökonomie. Bruchstellen im ästhetischen Regime der Moderne«, die von den Herausgeberinnen beim XXXIV. Romanistentag an der Universität Mannheim im Sommer 2015 geleitet wurde. Die anregenden Diskussionen mit den Teilnehmer*innen des Panels führten zur forcierteren Perspektive des spekulativen Erzählens in der Moderne, das im Zeichen eines Affektes der Ökonomie steht. Unser Dank gilt zunächst den Beiträger*innen, die sich der Fragestellung angenommen, sie mit- und weitergedacht haben, so dass ein kohärentes Ensemble von Texten entstehen konnte. Dem Herausgeber der Reihe Mimesis, Prof. Dr. Ottmar Ette, danken wir für die Aufnahme des Bandes. Finanziell ermöglicht wurde die Publikation durch das LMU Mentoring-Programm an der Ludwig-Maximilians-Universität und die FONTE-Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses. Prof. Dr. Kirsten Dickhaut und Prof. Dr. Jörg Dünne danken wir für zusätzliche finanzielle und personelle Unterstützung und Carolin Grasi für die umsichtige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge.
Inhaltsverzeichnis Dank V Einleitung 1
I Kollisionen Franziska Sick Ökonomie der Intimität: Racine, Rousseau 17 Jan-Henrik Witthaus Ökonomien des Geizes bei Molière und Balzac 38 Dagmar Stöferle Balzacs Ehe-Spekulationen. Ökonomie des Nicht-Wissens und Selbstaffektion in der Physiologie du mariage 61 Hanna Sohns »dans les fissures de la pensée«: Denken und Affektivität in Valérys Cahiers 84
II Dissimulationen Kirsten von Hagen Les affaires d’argent – Zum Verhältnis von Ökonomie und Affekt in Flauberts Madame Bovary 105 Sven Thorsten Kilian (Sprach-) Verismus zwischen tragischer Weltanschauung, Wirtschafts geschichte und Epiphanie: Giovanni Vergas I Malavoglia (1881) 121 Jobst Welge Die Affekte der Angestellten. Büroarbeit und ›Emotion‹ im italienischen Roman des späten 19. Jahrhunderts 136 Niklas Bender Kursschwankungen der Liebe: Ökonomie und Affekt in Italo Svevos La coscienza di Zeno 154
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Inhaltsverzeichnis
David Klein Affektökonomie und (moderne) Wirklichkeit in Michelangelo Antonionis L’eclisse (1962) 170
III Rebellionen Karin Peters Im Teufelskreis des Affekts: (An-)ökonomische Zirkulationsstrukturen in Paul et Virginie und seinen Bearbeitungen für die Oper 191 Gesine Hindemith Kapitalistischer Affektbefall und spalterische Energien in Vittorio Alfieris tramelogedia Abèle 225 Rebekka Schnell Der Tod Luciens: Exzess und Entleerung der melodramatischen Affektregie in Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes 248 Johannes Ungelenk Ruinöses Erzählen, oder: Vom Affekt des Haus-Spaltens bei Zola 260
IV Appelle Barbara Ventarola Das (weibliche) Subjekt zwischen Affektivität und Ökonomisierung – Françoise de Graffigny: Lettres d’une Péruvienne (1747) 283 Vittoria Borsò Affekt und Gabe zwischen ›dépense‹ und ›dispense‹. Zum ökonomischen Kalkül theoretischer Konstellationen (Georges Bataille, Giorgio Agamben, Jacques Derrida, Roberto Esposito) 304 Christine Baron Les affects sont-ils solubles dans l’économie ? 330 Personen- und Werkregister 344
Einleitung Affekte stören in einer Darstellung der Moderne, die noch im modernen Denken selbst verhaftet ist. So hat sich gewissermaßen der Begriff der Affektökonomie als problematisches Kompositum in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Theoriebildung eingenistet. Als Erbe der klassischen Affektbeherrschung (Norbert Elias) führt die Affektökonomie deren Bedeutungsinhalte fort, erweitert durch das Wissen um die neue historische Rahmung, die der kapitalistische Take off um 1800 dem Gefühlshaushalt der Individuen aufbürdet. Dabei wird stets stillschweigend vorausgesetzt, dass es mittels der Ökonomie gilt, die störenden und unbändigen Affekte in einen ungefährlichen Status zu überführen, was eben doch nichts anderes heißt, als sie im richtigen Maße zu beherrschen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass potentiell nicht nur die Ökonomie auf den Affekt wirkt, sondern dass Affekte sehr wohl auch ein Denken der Ökonomie affektisch besetzen können. Die Literatur steht seit jeher im Spannungsfeld dieser Konstellation von Affekt und Ökonomie, sucht sie doch den Affekt erzählökonomisch einzufangen, freizusetzen oder gar zu steigern. Man hat es mit einer metaphorisch-beweglichen Konstellation zu tun, die zwischen den Diskursen und Disziplinen steht, die aber zugleich – als eine wie auch immer geartete ›Affektenlehre‹ – nach wie vor eine besondere Beziehung zum klassischen Feld der Poetik und Rhetorik unterhält.1 Die vorliegenden Beiträge aus dem Bereich der romanistischen Literaturund Kulturwissenschaft untersuchen dieses metaphorische Zusammenspiel von Affekt und Ökonomie im Medium des Ästhetischen. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei der Affektökonomie um eine Metapher handelt, die ihre eigene Geschichte hat, steht dabei die gesellschaftspolitische Funktion einer Kunst auf dem Spiel, die ebenso Produkt wie Kritik gesellschaftlicher Modernisierungs- und Ökonomisierungsprozesse ist. Zwei Ausgangsbeobachtungen sind dabei zentral. Erstens die rezente Etablierung des Diskursfeldes ›Literatur und Ökonomie‹: Literatur, so wurde gezeigt, kann Ökonomisierungsprozesse erhellen, ebenso wie Ökonomik und kommerzielles Diktat verändernd auf die Literatur einwirken.2 Auf eine andere Ebene gelangt man, wenn man beobachtet, wie das Wissen der
1 Vgl. Jörg Krämer u. a.: Art. »Affektenlehre«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online. Herausgegeben von Gert Ueding. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1992, S. 218–253. 2 Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M. 1998; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: diaphanes 2004; Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Fink 2004. https://doi.org/10.1515/9783110479638-001
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Literatur – sowohl von Literaturwissenschaftlern als auch Ökonomen – gegen das vermeintliche Wissen der Ökonomik, Wirtschafts- und Sozialwissenschaft ausgespielt wird. Vor dem Hintergrund der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen erscheint einem dann nicht nur das Kapital als ›gespenstisch‹, sondern auch die literarischen Figuren, die dessen Exzesse schon längst prophetisch in sich getragen haben sollen.3 Hätten wir mit Thomas Piketty, der uns die Einnahmen und Ausgaben des Père Goriot und John Dashwoods vorrechnet, nur die Romane Honoré de Balzacs und Jane Austens genauer gelesen, dann hätte uns längst klar sein müssen, dass Wohlstand und Reichtum nie aus Berufsarbeit, sondern immer nur aus Eigentum und Schuldtiteln resultieren können.4 Hier scheint der Realismus des 19. Jahrhunderts, den man lange Jahre als imaginär, phantastisch oder allegorisch zu erklären versucht hat, exakt bis in die Zahlen und realistischer als nie zuvor zurückzukommen.5 Das gegenwartsdiagnostische Potential der literarischen Texte wirkt in dieser ökonomischen Perspektivierung wie nebenbei, zufällig, unerwartet und überraschend. Dieser Umstand führt zur zweiten Ausgangsbeobachtung, die den Begriff des Affekts betrifft. Hier geht es um einen Vorgang, den man als unwillkürliche Politisierung des Ästhetischen bzw. Ästhetisierung des Politischen bezeichnen kann. Zwar setzt sich innerhalb der angloamerikanischen und deutschen Literaturwissenschaft zunehmend der Emotionsbegriff durch,6 doch bleibt der Affekt insofern der brisantere Terminus, als er (im Deutschen) untrennbar mit einer Handlung verbunden ist, die riskant, potentiell transgressiv und an der Schwelle zur Straftat angesiedelt ist. Während sich begriffsgeschichtlich eine Auslagerung der klassischen Affektenlehre aus der Philosophie in den Bereich der Psychologie und Literatur und eine ›Verdrängung‹ des Affekt-Begriffs im 19. Jahrhunderts beobachten lässt,7 fallen in der jüngeren politischen Philosophie die Forderungen nach einer Wiederaneignung des Ästhetischen und des Affektiven auf. Man kann hier an Roberto Espositos Versuche denken, immunitas und communitas zusammenzudenken. Aber auch an Jacques Rancières Konzept des Politisch-Ästheti-
3 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphanes 1010/2011. 4 Vgl. Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck 62015, S. 546–553. 5 Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München: Fink 19999; Barbara Vinken, PierreMarc de Biasi (Hg.): Gustave Flaubert. A l’Orient du réalisme. / Effet réel, effet oriental. Flauberts orientalischer Realismus. Trivium11 (2012), http://trivium.revues.org (11. 11. 2017) 6 Martin von Koppenfels/Cornelia Zumbusch: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin: De Gruyter 2016, S. 1–35. 7 Vgl. hierzu von Koppenfels/Zumbusch: Einleitung, S. 16; ferner: Catherine Newmark: Passion, Affekt, Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg: Meiner 2008.
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schen, das in einer demokratischen ›Verteilung des Sinnlichen‹ besteht, wobei der Literatur ein entscheidender, spekulativer Wert beigemessen wird, der gegen eine polizeilich-disziplinarische Ordnung agiert. Der Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon schließlich greift in seinem Buch La société des affects Spinozas Begriff des conatus auf, um gegen den scheinbar unhintergehbaren Finanzkapitalismus einen zentralen Handlungsantrieb (désir), eine »action sans acteur« in Stellung zu bringen.8 Der Affekt wird, so kann man sagen, spekulativer Bestandteil eines theoretischen Kalküls, das auf die glückliche Teilhabe aller setzt. Aus diesem doppelten Befund – einem überraschenden Wissen der Literatur und dem theoretischen Re-Entry des Affekts – folgt für eine literarische Analyse im Diskursfeld von Literatur, Ökonomie und Affekt, dass auch sie immer – gewollt oder ungewollt – von einem affektökonomischen Kalkül vorangetrieben wird. Ebensowenig wie man über Gefühle sprechen kann, ohne selbst eine affektive Wahrnehmung von ihnen zu haben,9 lässt sich unter den Bedingungen des ökonomischen Dispositivs der Moderne nicht über die Ökonomie räsonnieren, ohne selbst verändernd – und dies immer auch affektisch – in dieses Dispositiv einzugreifen. Der Affekt rückt dann als eine Kategorie in den Vordergrund, die sich konstellativ öffnet und so an der Schnittstelle von Produktion und Rezeption bedeutungskonstitutiv werden kann. Ihre Dynamik erhält eine in diesem Sinne affektökonomische Poetik daher weder als chronologische Literaturgeschichte noch als Eskalationsgeschichte des Affekts. Vielmehr gilt es, eine Affekt-Poetik zu beschreiben, die im Zuge der Moderne zunehmend in andere Diskurse diffundiert und sich in eine affektive Praxis verwandelt. Dabei geht es vor allem um Bruchstellen in der Darstellung, die das Übertragungsgeschehen zwischen Text und Leser irritieren. Affektive Effekte finden sich sowohl auf der Ebene der histoire – in Figuren, die Konflikte austragen, verhindern, ausstellen oder kompensieren – als auch auf der Ebene des discours – dann etwa, wenn Darstellungskonventionen gebrochen werden, wenn Leser-Adressierungen, Selbst- oder Fremdaffizierungen, Kompositionsstruktur und Paratexte die eigene Form in Frage stellen und Gattungsgrenzen sprengen. Bei aller Unterschiedlichkeit eint die folgenden Beiträge eine Herangehensweise, die das Verhältnis von Affekt und Ökonomie im Medium des Literarischen und Künstlerischen reflektiert. In der Darstellung dieser Konstellation soll
8 Vgl. Frédéric Lordon: La société des affects. Pour un structuralisme des passions. Paris: Seuil 2013, S. 129–137. 9 Vgl. hierzu Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007, S. 27: »Zu den grundsätzlichen Aporien der Affektivität zählt auch die Tatsache, daß man die Qualität eines Affekts nur affektiv wahrnehmen kann.«
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vor allem dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nicht nur die Kunst, sondern auch die Theorie(n) über die Kunst affektiv besetzt sind.10 Es geht im Folgenden also nicht darum, eine affektökonomische Poetik mittels eines bestimmten literarischen Korpus’ definitorisch zu umreißen. Die Anordnung der Beiträge legt stattdessen unterschiedliche Sprechweisen des Affekts offen, die sich in einer unhintergehbar affektiven Praxis des Lesens und Schreibens abzeichnen. Ausgehend von Kollisionen, in denen das erschriebene Subjekt in einen (Wider-) Streit mit sich selbst bzw. dem Anderen gerät (I), widmen sich die mittleren Abteilungen Dissimulationen (II) und Rebellionen (III) dem bürgerlichen Roman der Moderne sowohl im wörtlichen als auch übertragenen Sinn. Ökonomisch herausgefordert, oszilliert das bürgerliche Romansubjekt zwischen affektiver Selbstverschleierung und expressiver Selbstverausgabung. Die Beiträge zu Françoise de Graffignys Lettres d’une Péruvienne sowie zur politischen Philosophie und Literatur der Gegenwart umreißen in der letzten Abteilung Appelle (IV) eine theoretische Praxis, in der nicht fiktive Einzelschicksale, sondern Subjekte im Plural mit einem spekulativen Affekt der Ökonomie um gesellschaftliche Teilhabe werben.
I Kollisionen Die erste Abteilung präsentiert Lektüren, die von einer Unvereinbarkeit der Begriffe Affekt und Ökonomie ausgehen. Es kommt zu Kollisionen, die in unterschiedlicher Weise thematisch werden. Wenn man davon ausgeht, dass mit dem modernen Konzept der leidenschaftlichen Liebe ökonomische Tauschverhältnisse per se abgelehnt werden und dass sich die Schuld in monetäre Schulden und persönliche Schuld ausdifferenziert, dann durchkreuzt eine »Ökonomie der Intimität« jede Annahme eines homo oeconomicus. Ob man an Erich Auerbach denken mag, der mit Pascal die Spur der »Passio als Leidenschaft« verfolgt hat, oder auch an Niklas Luhmanns Liebe als Passion; es stellt sich die Frage, ob schon die französische Klassik eine solche Ökonomie der Intimität modelliert, die dann mit Rousseaus autobiographischem Ich und seinem Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse in aller Aporetik zutage tritt. Geht es schon hier um interpersonelle Beziehungen, die jenseits von ökonomischen Austauschprozessen anzusiedeln wären und auf Gaben beruhen, die tauschbar sein sollen, es aber nicht sind? Anhand von Corneilles Cinna, Racines Andromaque, Rousseaus Confessions und der Nouvelle Héloïse lässt sich eine solch inflationäre Dynamik der Affekte verfol-
10 Vgl. Joachim Küpper/Markus Rautzenberg u. a. (Hg.): The Beauty of Theory. Zur Ästhetik und Affektökonomie von Theorien. München: Fink 2013.
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gen, die sowohl eine Verschiebung auf der Gattungsebene als auch auf der Ebene der Affektcodierung impliziert. Kollidieren in einer solchen Ökonomie der Intimität Liebe und Ehre, kommt sozialhistorisch ein dritter Begriff hinzu, der die vormoderne Ordnung des patriarchal eingehegten Oikos zunehmend unterwandert: das Geld, das aus Molières Avare noch eine Witzfigur machen konnte, bei Balzac aber zu einer Größe wird, welche die ganze soziale Welt von Liebe und Ehre durchzieht. Ist es bei Racine die Leidenschaft, die beunruhigt und mit ökonomischen Tauschbeziehungen unvereinbar scheint, so verweisen die von Molière parodierten Laster auf ein noch funktionierendes, ökonomisches Konzept, in dem Ehre, Liebe und Geld eine Einheit und ein Happyend bilden. Bei Balzac, so zeigt ein Vergleich von Molières L’Avare mit Balzacs Eugénie Grandet, wird indessen der Geiz zur Gier, einer Gier, die selbst die romantische Liebe in den Schatten stellt und die den aristotelischen oikos von der Bühne des Ökonomischen verschwinden lässt. Bevor Balzac seine großen Romane von Geld, Gier und Luxus schreibt, entsteht sein Ehe-Ratgeber, der – so könnte man meinen – Affekt und Ökonomie, Liebe und Haushalt in ein ordentliches Verhältnis bringt. Liest man aber seine Physiologie du mariage (1829), tut sich statt einer institutionellen Affektökonomie der Ehe eine Ökonomie des Nicht-Wissens auf, in der die illegitime Passion zu einem Rätsel des Geschlechtlichen (des Weiblichen) wird. Die Frau bleibt ein Geheimnis der Leidenschaft, und die Ehebrecherin, auf die Balzac zielt, kündigt als mythische Verräterin des Gesellschaftsvertrages bereits Flauberts Madame Bovary an. Die Physiologie du mariage betreibt eine ironisch-satirische (Ehe-) Affektpolitik, die ebenso Wissen aus Nicht-Wissen schöpft, wie sie den Gattungsgrenzen sprengenden Roman der Comédie humaine – als eine endlose Dekonstruktion der Ehe – in sich trägt. Das romantische Substrat von Balzacs Romanen kollidiert mit einem Finanzkapitalismus, der in der Physiologie du mariage zwar keinerlei analytische Rolle spielt, dessen Logik sich aber durch den Text hindurch genauso gesellschaftsgefährdend, undurchschaubar, maßlos und zerstörerisch zeigt wie die illegitime Passion der Frau. Die Kollision des Affektiven mit einer metaphorischen Ökonomie muss nicht unbedingt einer Logik der Affektinflation folgen oder in eine bestimmte Poetik münden. Sie kann sich auch als Symptom einer modernen Selbsttechnik zeigen, mit der sich das Subjekt als ein schreibendes gegen das politisch-ökonomische Diktat der Gesellschaft zu behaupten versucht. So proklamiert Paul Valéry in seinen Cahiers eine »économie limite«, die das Selbst souverän und immun gegen jegliche Macht von außen machen soll. Valérys ›Grenzökonomie‹ soll ein mächtiges, aktives, affektfreies, einer der ›Wissenschaft des Geistes‹ verpflichtetes Selbst hervorbringen. Aber seine Waffe, das Schreiben, erweist sich als hochgradig paradox, weil es ihn mit jedem Wort, das er niederschreibt, zu affizieren,
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berühren und zu entmächtigen droht. Valérys écriture de soi ist solipsistisch; die »économie limite«, der dieses Selbst sich verschreibt, kann insofern auch als Grenzfall einer politischen Ästhetik betrachtet werden, die ihren Antipoden nicht im Anderen oder in der Gesellschaft, sondern in der Affektivität des Selbst sieht.
II Dissimulationen In dieser Sektion geht es um affektisch unterlaufene Selbstverständnisse von insbesondere bürgerlichen Lebensumständen, die alles andere als selbstverständlich geworden sind. Affekt und Ökonomie treten in das Verhältnis verschiedener Konstellationen, anhand derer sich kulturelle Hypothesen formulieren lassen. Dabei stehen Kapitalismus und Bourgeoisie zwar in einem engen Verhältnis, sind aber, wie schon Max Weber konstatiert, nicht ein und dasselbe: Die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart stehe zwar mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation im nahen Zusammenhang, sei aber nicht mit ihr identisch.11 Zudem ist die bürgerliche Klasse nicht ganz leicht zu fassen, zeichnet sie sich doch durch eine grundsätzliche Offenheit für Neuankömmlinge aus.12 Schwache Abgrenzung zu Adel und Arbeiterklasse, Durchlässigkeit und geringe Homogenität sind das Kennzeichen der historischen Formation des Bürgertums. Dass dieses Bürgertum mit dem Roman auch eine eigene literarische Gattung ausprägt, die sich ebenfalls durch eine schwache Abgrenzung auszeichnet, indem sie verschiedene literarische Formen aufnimmt und poetologisch transformiert, steht im Mittelpunkt der Lektüren. So figurieren beispielsweise Melodram und Feuilleton in Demetrio Pianelli von Emilio de Marchi, die Oper in Flauberts Madame Bovary, die Tragödie in Vergas I Malavoglia. Die stark ausgeprägte poetologische Rahmung der Romane geht einher mit einer Suche und Intensivierung von affektiven Übertragungsmöglichkeiten auf den Rezipienten. Die Erzählexperimente des Romans zielen auf einen affizierbaren und affektisch zu bewegenden Leser/Rezipienten, der mittels neuer ästhetischer Erzählregime erreicht werden soll. Giovanni Verga sucht mit seinem chorischen Erzählexperiment, das Anleihen bei der griechischen Tragödie nimmt, um ein modernes Verfahren zu inszenieren, explizit mehr einen Zuschauer- als einen Leseraffekt. Es geht ihm um eine emphatische und auf Katharsis angelegte Epiphanie der Wahrheit. Flaubert
11 Max Weber: Vorbemerkung. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 1–16, hier: S. 10. 12 Franco Moretti: The Bourgeois. Between History and Literature. London: Verso 2013, S. 2.
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setzt den subliminalen Erzähler ins Werk, der – nicht so indifferent wie allgemein angenommen – den Leser auch affektiv durch das Werk lenkt. Einen anderen Weg der Leseraffizierung wählt De Marchi, dessen Erzähler sich mit wertenden Kommentaren und moralischen Urteilen in die Handlung einmischt, und damit den dokumentarischen Ansatz des verismo zurückweist. In der Folge lässt sich eine spirituell-affektische Dimension in die Wirklichkeit ein. Affekt und Ökonomie treten in verschiedenen Verhältnissen auf, die sich in bestimmten historischen Figuren wie der bürgerlichen Ehefrau Madame Bovary, den kleinbürgerlichen impiegati De Marchis, dem kaufmännischen Universum der Zinsgeschäfte bei Svevo und dem Börsengeschehen in Antonionis L ’eclisse ausagieren. Dabei sind ökonomische Muster wie Schulden, übertriebener Konsum, Zinsgeschäfte, effektive Arbeitsorganisation eng gekoppelt an den emotionalen Affekt-Haushalt der Figuren, ohne aber in diesen Kategorien erklärbar zu sein, auch wenn sie, wie beispielsweise in Svevos La coscienza di Zeno, sehr eng aneinander gekoppelt und fast nicht voneinander zu trennen sind. In den Texten werden melodramatisch sentimentale, romantische hypersensitive und exzessiv romantische Protagonisten in Stellung gebracht, die auf die Krise des zeitgenössischen Positivismus, des nationalen Fortschrittsdenkens, und auf die Problematiken der realistischen beziehungsweise naturalistischen Romanpoetik verweisen. Die Lektüren der Texte des 19. Jahrhunderts setzen sich explizit mit der Frage auseinander wie sich affektiv-emotionale Äußerungen zu literarischen Konzepten des Realismus, Naturalismus und Verismus verhalten. So wird die Opernszene in Madame Bovary zur poetologischen Schlüsselstelle emotionaler Verausgabung in einem erzählökonomisch zugleich extrem verdichteten Text. Diese Tendenz der Verdichtung und stilistischen Konzentration vollendet sich gewissermaßen in Antonionis L’eclisse, wenn selbst die Figuren aus dem Bild verschwinden. Privatheit und Öffentlichkeit bilden in der bürgerlichen Kultur neue spezifische Strukturen aus und gewinnen als Gegensatzpaar an Bedeutung. Die Affekte befinden sich an der Reglerstelle von Privatheit und Öffentlichkeit. Der Roman erlaubt Einblicke in die Sphäre des Privaten, in die Affekt-Konstellationen, die als Vorstufe oder auch Nebenschauplatz des Sozialen gelesen werden können. Die Veräußerung der Affekte in ökonomische Muster und umgekehrt wird zur Verhandlung von Privatem und Öffentlichem. Dabei können insbesondere dissimulative Bewegungen der Figuren beobachtet werden. Wenn Madame Bovary sich mittels eines exorbitanten rauschhaften Konsums den gesellschaftlichen Aufstieg erkaufen möchte, will sie der grundsätzlichen Langeweile ihres kleinbürgerlichen Lebens entfliehen. Ihre Devise heißt nicht bescheidenes Haushalten, sondern unternehmerische Investition zum Prestigegewinn, ein durchaus bürgerliches Vorgehen, das allerdings an der kleinstädtischen und finanziellen Realität zerschellen muss. Die kleinbürgerlichen impiegati bei De Marchi und Svevo suchen
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den Zumutungen der Arbeitswelt mit privater emotionaler Kompensation, einer Form von emotional work, zu begegnen und zeigen sich dissimulativ eingespurt: Manifestationen von Gefühl sollen sich in sozial vorgegebenen Rahmungen halten. Innerhalb der weitgehenden Durchdringung und Angleichung affektiver und ökonomischer Denkmuster in Svevos La coscienza di Zeno kann man dagegen beobachten, wie der Affekt zurückschlägt, wenn der ökonomisch denkende Protagonist – ein dezidierter homo oeconomicus, der auch menschliche Beziehungen wirtschaftlich deutet – meint, seinen Psychoanalytiker mittels fortwährender Simulationen hinters Licht führen zu können und daran gründlich scheitert, weil der von ihm diskursiv herbeigeführte ›Krankheitsgewinn‹ ihn am Ende affektiv angreift wie auch manche seiner Geschäfte aus affektiven Gründen scheitern. Scheinbar unverbunden mit der ökonomischen Realität des 19. Jahrhunderts ringen die Malavoglia in Giovanni Vergas gleichnamigem Roman um die archaisch zu nennende Existenz einer Fischerfamilie. Sein chorisches Erzählexperiment, das ein sizilianisches Dorf als multiperspektivischen Bühnenraum konstruiert, lässt die Figuren wie in der antiken Tragödie vor dem Haus auftreten. Die Erzählung verläuft in Wiederholungsschlaufen und zeigt sich damit konträr zum Erzählparadigma moderner Ökonomie, in dem einzelne Akteure den linear orientierten Handlungsverlauf bestimmen. Der Einbruch des Lupinengeschäftes in die archaische Wirtschaftseinheit bringt die Fischerfamilie zu Fall. Sprache und archaischer oikos werden hier gemeinsam preisgegeben. Alle Versuche der Protagonisten, die dissimulativen Energien auf die Erhaltung der alten Struktur zu richten, scheitern. Die ökonomischen Bedingungen der Moderne erzwingen ein ökonomisches Narrativ, das sich scheidet von den zyklischen Narrativen unvordenklicher Zeiten und zugleich die Kritik an der eigenen Brutalität formuliert. Die Einlassung der Tragödie evoziert sie, die ontologische Wahrheit, die aber längst nicht mehr zu haben ist. Die neuen ästhetischen Regime, wie sie in den vorliegenden Lektüren beschrieben werden, zielen darauf, affektive Wahrheiten darzustellen, zu übertragen und zugleich im Medium der literarischen Form reflexiv zu fassen. Am Ende der Sektion steht nicht zufällig Michelangelo Antonionis L’eclisse als ein Lehrstück eines für die Ästhetik der Moderne charakteristischen Haushaltens mit Affekten. Diese moderne Ökonomie dringt bis zur Ausmerzung der Affekte vor und präsentiert ein gerissenes Band zwischen Person und affektivem Verhalten. Nicht die Schicksale der Figuren sollen erregen, sondern stilistische Perfektion und hohe Kunstfertigkeit. In diesem Sinne erscheint Antonioni in der Sektion als Vollender der Flaubertschen Poetologie. Der Mangel an Affekten, den die Filmbilder ausstrahlen, ist jedoch eher eine Konzentration, eine Entkleidung der Wirklichkeit, die um so strahlender und erstaunlicher in ihrer Materialität und Gemachtheit zum Vorschein kommt. Geht man davon aus, und dies zeigen
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die Lektüren dissimulativer Energien im bürgerlichen Kontext, dass Affekte ein Abwehrpotential bereithalten, also Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen vor drohenden Kontingenzeinbrüchen sichern, steigt Antonionis L’eclisse aus dieser Logik aus. In der Sonnenfinsternis kommen Welt und Weltvorstellung zur Deckung. Die Überwältigungspoetik, die auch schon in anderer Form bei Verga angelegt ist, der mehr auf einen Zuschauer als auf einen Leser zielt, ist aber nicht mehr an die Idee einer Katharsis angelehnt, sondern auf sprachloses Erstaunen und Überwältigtsein. Die Kontingenz wird nicht mehr abgewehrt, sondern im Bild ontologisiert. Qua Ausmerzung des Affektes entfallen die Energien von Abwehr und Dissimulation. Die Geschichte von Piero und Vittoria bedeutet nichts. Jedes Mitfühlen wird durch die fehlenden Affekte im Keim erstickt. Das offensichtlich unerfüllte und unschöne Schicksal der Figuren wird in offensiv schönen Bildern erzählt, die sich ihren Inhalten gegenüber indifferent verhalten.
III Rebellionen Überschreitungen, Exzesse, zerstörerisches und an-ökonomisches Verhalten geben den Lektüren dieser Abteilung eine gemeinsame Perspektive. Dabei ist es ein der Erzählökonomie überstehender Rest, welcher die poetologische Substanz der hier zusammengeführten Werke ausmacht. Der Überschuss in Form melodramatischer Elemente sucht nach intensivierten Leseraffektionen. Dabei stehen unterschiedliche politische Größen auf dem Spiel, die Gemeinschaft, das Haus als kleinste Einheit ökonomischen Wirtschaftens, die Familie und die souveräne Machtausübung, wie sie von Figuren wie Balzacs Vautrin praktiziert wird. Politische Ordnung und emotionaler Gemeinsinn stehen in einem konstellativen Zusammenhang und sind historischen Konjunkturen unterworfen. Anhand von Texten wie Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie stellt sich die Frage, in welcher Weise politische Regime mit affektiven Investitionen agieren. Die textuellen Rebellionen werden lesbar im semantischen Überschuss, der erst eintritt, wenn die geregelte Gefühlsnorm auf einen entregelten Affekt hin geöffnet wird. Die Norm steht in Paul et Virginie im Zeichen der zweiten, sentimentalen Eroberung der Welt, des second conquest. Weniger erkennbar als die erste Phase der Kolonialisierung operiert die zweite Phase mit einer ideologisch-empfindsamen Verschleierung der globalen Ausweitung der Handelswirtschaft. Diese Hegemonie der sentimentalen Gemeinschaft und ihr Zusammengehen mit dem Warenkapitalismus werden in Paul et Virginie zum großen Teil durch den Text getragen und als konstitutiv gesetzt. Dennoch generiert sich beim Leser ein Unbehagen an der kapitalistischen Struktur, indem eine Form der pathetischen Melodramatik, die sich einer z. T. nationalen aber auch kapitalistischen Pädagogik verdankt, mit
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einem anökonomischen Affekt und dessen Körperbildern enggeführt wird. Es sind vor allem die melodramatischen Steigerungen, Verschiebungen und Variationen dieser Konstellation, die in den musikalischen Bühnenadaptationen des Romans neue politisch-sentimentale Ausrichtungen der Gemeinschaft lesbar werden lassen. Die teuflische und hermetische Zirkulation in Paul et Virginie kann nur in einem Moment wirklich durchbrochen werden. Dies gelingt durch die Ausstellung eines nicht integrierbaren Affektes, welcher an die Darstellung der geschundenen Frauenkörper gebunden ist. Hier wird der sentimentale Ermöglichungszusammenhang des second conquest in Frage gestellt. Anders verlaufen die SelbstmordOpfer in Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes. Esthers Freitod gehorcht der kapitalistischen Logik, sie investiert damit in Luciens Zukunft. Die Rebellion ereignet sich dennoch in einer Kontamination des männlich souveränen Prinzips, verkörpert durch den geflohenen Galeerensträfling Jacques Collin alias Vautrin. Die weiblichen Affekte Esthers und des effeminierten Lucien treten aus der Logik verwertbarer Ware und Prostitution heraus und kontaminieren den gottgleichen Strippenzieher Vautrin mit hysterischen Ausfällen. Der Bruch in der Zirkulation erfolgt wie bei Bernardin de Saint-Pierre über einen dezidiert weiblich konnotierten Affekt-Überschuss, der als nicht integrierbarer Rest die Handlung sprengt oder zum Stillstand bringt. Eine andere Form der Rebellion ereignet sich in der Dynamik von Spaltung, die sich über alte Ordnungen hinwegsetzt. Auf dem Spiel steht der oikos, Einheit und Ort des Hauses und die in ihm beheimatete familiäre Struktur. Die Spaltung wird sowohl in Alfieris tramelogedia Abele als auch in Zolas La Curée zum poetologischen Kalkül, das in einer Konstellation von Affekt und Ökonomie die Erzählung vorantreibt und zugleich ihren Mechanismus offenlegt. Das an den Maßstäben des familiären oikos gemessen verbrecherische Treiben des Immobilienhais Saccard setzt eine sich selbst verausgabende Logik der passionellen Verschwendung und Hingabe in Gang, die, genau gelesen, die Logik der Literatur ist. Saccard agiert im Sinne Rancières mit dem Aufbau eines ästhetischen Regimes, das eine Neuverteilung des Sinnlichen vornimmt und sich über die polizeiliche Gewalt hinwegsetzt. Saccard hält nicht das Haus, er gibt es preis, er lässt Außen und Innenraum ineinander kippen, Öffentlichkeit und Privatheit verschmelzen, er deterritorialisiert, ent-eignet, erschafft neu. Statt die Zirkulation produktiv anzuhalten, um Kapital aus ihr zu ziehen, wird er zum Vertreter einer radikalen, allumfassenden, alles mitreißenden Zirkulation. Der Affekt steht zwangsläufig über in einer Erzählung des débordement, das von seinen Protagonisten Renée und Saccard in exzessiver Weise gelebt wird und vor der Kontrastfolie des ökonomischen Wirtschaftens steht: der ausbalancierten Einheit von Haus und Familie des Bankier Gunderman. Das oiko-nomische Optimierungskalkül wird in der Saccard-Handlung ausgesetzt.
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Durch die extreme Intensivierung reicht das Haus als Rahmen für den Verteilungsprozess affektiver und ökonomischer Energien nicht mehr aus. Es bleiben Ruinen und der beständige – künstlerische – Neuanfang daraus. Das Verbrechen an der alten Ordnung steht am Ausgangspunkt dieser rebellischen Texte. In Alfieris Abele ist es die Urszene des Brudermordes von Kain an Abel, die den oikos und die hier als dezidiert bürgerlich ausgewiesene Familie zerschlägt. Der Mord im Affekt erscheint allerdings in dieser einzigartigen Genre-Mischung aus Tragödie, Oper und Melodram nicht als biblischer Gegenstand der reinen Verdammnis. Er ist der Ausgangspunkt einer Bewegung, die spalterisch voranschreitet und zur Grundlage des ganzen dramatischen Unternehmens wird. Die Tramelogedia ist nicht, wie der Name nahelegen würde, ein hybrides Genre. Tragödie und Oper, bzw. Melodram existieren in Akten getrennt voneinander und sind jeweils der biblischen und höllischen Familie zugeordnet. Kain und Abel können als eine im Sinne der Schizophrenie gespaltene Persönlichkeit gelesen werden. Caino ist von Affekten bewegt, auf die er keinen reflexiven Zugriff hat. Das unendliche Umherirren als göttliche Strafe ist in Abele Chiffre für die Disposition des modernen Menschen. Ähnlich wie bei Zola fällt hier die Instanz der moralischen Wertung aus, gezeigt wird die spalterische Bewegung als Grundprinzip einer Moderne, die sich unaufhörlich gegen sich selbst wendet.
IV Appelle Die Politik der modernen Literatur liegt, mit Rancière gesprochen, nicht darin begründet, dass sie ökonomische Ungerechtigkeiten anprangert, sondern darin, dass sie von einer gleichen Macht wie das Leben ausgeht und keinen Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst kennt. Diese ›neue Literatur‹ wird von Figuren begründet, die sich von allem, gleich ob von Realem oder Idealem, erregen und affizieren lassen und damit aus jedem beliebigen Gegenstand Kunst machen. Die berühmteste dieser modernen Figuren ist vermutlich Flauberts Madame Bovary, die sich exzessiv bis zur Selbsttötung im Affekt verausgabt. Nach Rancière hat Flaubert Emma Bovary nicht einfach sterben lassen, sondern ›hingerichtet‹, mit dem Ziel, selbst diese neue, ›gleiche‹ Kunst als eine Lebenskunst des Schriftstellers ausschließlich in sein Buch legen zu können.13 Während Emma, jedes Kalkül übersteigend, den affektiven Zustand mit dem Leben verwechselt, setze Flaubert ihn mit der Kunst gleich. Madame Bovary, ein Roman, der sowohl als Ausweis für
13 Jacques Rancière: La mise à mort d’Emma Bovary. Littérature, démocratie et médecine. In: Ders.: Politique de la littérature. Paris: Galilée 2007, S. 59–84.
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eine realistische Darstellung als auch für einen art pour l’art betrachtet werden kann, macht in dieser Perspektive den Unterschied zwischen Ästhetik und Politik tatsächlich obsolet.14 Und nach wie vor lässt sich an ihm in herausragender Weise nicht nur das Verhältnis von Affektivität und Ökonomie, sondern das Potential der modernen Literatur schlechthin reflektieren. Ob und wie das Ästhetische diskursiv spekulativ als Gegen-Regime produktiv gemacht werden kann, erkunden die letzten Beiträge des Bandes. Die Appelle fallen unterschiedlich aus und reichen vom geschlechtlichen Gleichheitspostulat über ein euphorisches, theoretisches Affekt-Kalkül bis hin zu einer verhaltenen Skepsis angesichts aktuellster Buch- und Filmproduktionen. In jedem Fall geht es darum, eine affektive Praxis nicht nur in den literarischen Texten nachzuzeichnen, sondern auch auf der Ebene des theoretischen Diskurses zu diskutieren. Dabei erstaunt nicht, dass erneut gerade die weiblichen Figuren, die jahrhundertelang aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen waren, den Diskurs des männlichen Bourgeois und homo oeconomicus in Frage stellen. Als »[t]he Working Master« bezeichnet Franco Moretti die erste, in Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) entdeckte bourgeoise Figur, deren zunehmende Selbstverschleierung im Verlauf der Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts er sodann konstatiert.15 Als Fremde, als ›Peruanerin‹ schrieb, in der Nachfolge von Montesquieus Lettres persanes (1721), auch die Adlige Françoise de Graffigny 1747 ihren Briefroman. In ihren Lettres péruviennes geht die Kritik am Ausschluss der Frauen aus der Gesellschaft mit einer bemerkenswert frühen Ökonomiekritik einher. Mit der Briefeschreiberin Zilia, einer Inka-Indianerin, die nach Frankreich verschleppt wird und nach und nach Fuß fasst, findet zudem das Robinson-Narrativ des ›arbeitenden Meisters‹ auf der fremden Insel ein exaktes Pendant. Im Medium des Briefromans, in dem die Nicht-Bürgerin Zilia ihren peruanischen Verlobten adressiert und sich im gleichen Zuge allmählich von ihm distanziert, entwirft de Graffigny eine Sprecherposition, die sich von geschlechterspezifischen Zwängen emanzipieren kann, indem sie Eigentum erwirbt. Eine gleichsam subalterne Ökonomie lässt sich in der politischen Philosophie nachzeichnen, dann nämlich, wenn man die Begriffsgeschichte der ›Ausgabe‹
14 Vgl. hierzu die Einleitung von Friedrich Balke: Die große Hymne an die kleinen Dinge. Jacques Rancière und die Aporien des ästhetischen Regimes. In: Ders./Harun Maye u. a. (Hg.): Ästhetische Regime um 1800. München: Fink 2009, S. 9–36, der den Affekt Rancières gegen die Polizei, der zur oppositionellen Gegenüberstellung von polizeilichem Regime und ästhetischem Regime führt, offenlegt: »Die Rede vom ›ästhetischen Regime‹ markiert […] das Paradox einer Unterscheidung des Politischen vom Polizeilichen, die zugleich auf die Unmöglichkeit ihrer Trennung verweist.« (S. 20) Die Politik ist bei Rancière immer eine ästhetische Angelegenheit. 15 Vgl. Franco Moretti: The Bourgeois, S. 24.
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(dépense) verfolgt, die etymologisch nicht nur auf eine ökonomische Selbsterhaltung, sondern immer auch auf den sozialen Aspekt eines Pflichtdispenses (dispense) zielte. Vor dem Hintergrund dieser Doppelbedeutung von Ausgabe und Gabe lässt sich ein philosophischer Gegendiskurs modellieren, in dem das Verhältnis von Subjekt, Gabe und Affekt (und nicht: Emotion) ins Zentrum rückt. Über Batailles Begriff der Verausgabung und Verschwendung führt ein solch philosophisches Kalkül der Gabe zur Kunstkonzeption Agambens, der die Verausgabung im Anschluss an Blanchot als ›Entwerkung‹ (désœuvrement) und Nicht-Handlung auf das Kunstwerk überträgt. Als dem Subjekt vorgängig wird der Affekt sowohl bei Derrida als auch bei Roberto Esposito betrachtet, wobei insbesondere bei Esposito jene merkantile politisch-rechtliche Verfassung kritisiert wird, die auf dem Schutz des Eigentums beruht. An die Stelle des Besitzes tritt bei Esposito der munus, die Pflicht zur Gabe eines vorsubjektiven, rein affektiven Nicht-Habens als rechtlicher Grund der communitas. Welchen Aufschlusswert aber haben diese philosophischen (Affekt-) Politiken – désœuvrement, dépense, inoperosità, partage du sensible – für die gegenwärtige Situation der literarischen und filmischen Produktion und Rezeption? »Les affects sont-ils solubles dans l’économie?«, so fragt nüchtern der letzte Beitrag unseres Bandes. Die neoliberale Kapitalisierung der Affekte scheint sich in den literarischen Repräsentationen als Neutralisierung der Affekte zu zeitigen: In den fiktionalen Erzählungen der jüngsten Vergangenheit stehen apathische, sich zurückziehende und der Arbeitswelt sich verweigernde Figuren an der Tagesordnung. Gleichzeitig kontrastiert die Apathie der (Anti-) Helden mit dem spontanen massenwirksamen Erfolg, den diese Erzählungen beim Publikum auslösen. Für die zunehmende Tendenz zur Engführung von Affekt und Ökonomie steht prominent die Gleichsetzung von sexuellem und ökonomischem Liberalismus bei Michel Houellebecq. Schon in seinem ersten Roman Extension du domaine de la lutte (1994) wurde polemisch dekretiert: »Le libéralisme économique, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges de la vie et à toutes les classes de la société.«16 Und es folgten, mit Les particules élémentaires (1998), Plateforme (2001), La possibilité d’une île (2005), La Carte et le Territoire (2010), Soumission (2015), Romane, die allesamt einschlugen in einen literarischen Markt allgemeiner Erregung. Aber auch die Riesenerfolge von Romanen und Filmen wie Yannick Haenels Cercle (2007), Elizabeth Gilberts Mange, prie, aime (2009), Lauret Cantets Ressources humaines (1999) und Stéphane Brizés La loi du marché (2015) zeugen davon, wie die scheinbare Affektneutralisierung in einen
16 Michel Houellebecq: Extension du domaine de la lutte. Paris: Maurice Nadeau 1994; hier: S. 100.
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unerwarteten »affect commun« umschlagen kann. Diese Formen der Selbstverweigerung, Helden und Heldinnen, die ihr bürgerliches Leben aufgeben und sich zu ›Helden‹ ihrer eigenen Geschichte machen, provozieren mithin die Frage nach der Wirkmacht des Affekts. Die gegenwärtige Affektkonstellation zeigt sich im Gegensatz zu den bereits historisch gewordenen und aus der Distanz analysierbaren Affektkonstellationen der Abteilungen II und III, noch diffus. Am Ende bleibt jedoch der Appell, diese Krisenfiguren so zu lesen, dass sie mehr darstellen als ein ökonomisches Produkt – einen Affekt der Ökonomie, der erst durch die und mit den ökonomischen Bedingungen der Moderne in das Blickfeld geraten kann und der diese Bedingungen zugleich überschreitet.
Balke, Friedrich: Die große Hymne an die kleinen Dinge. Jacques Rancière und die Aporien des ästhetischen Regimes. In: Ders./Harun Maye u. a. (Hg.): Ästhetische Regime um 1800. München: Fink 2009, S. 9–36. Biasi, Pierre-Marc de/Vinken, Barbara (Hg.): Gustave Flaubert. A l’Orient du réalisme. / Effet réel, effet oriental. Flauberts orientalischer Realismus. Trivium11 (2012), http://trivium. revues.org (11. 11. 2017). Blaschke, Bernd: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Fink 2004. Houellebecq, Michel: Extension du domaine de la lutte. Paris: Maurice Nadeau 1994. Koppenfels, Martin von: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007. Koppenfels, Martin von/Zumbusch, Cornelia: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin: De Gruyter 2016, S. 1–35. Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M. 1998. Krämer, Jörg u. a.: Art. Affektenlehre. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online. Herausgegeben von Gert Ueding. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1992, S. 218–253. Küpper, Joachim/Rautzenberg, Markus u. a. (Hg.): The Beauty of Theory. Zur Ästhetik und Affektökonomie von Theorien. München: Fink 2013. Lordon, Frédéric: La société des affects. Pour un structuralisme des passions. Paris: Seuil 2013. Moretti, Franco: The Bourgeois. Between History and Literature. London: Verso 2013. Newmark, Catherine: Passion, Affekt, Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg: Meiner 2008. Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck 62015. Rancière, Jacques: La mise à mort d’Emma Bovary. Littérature, démocratie et médecine. In: Ders.: Politique de la littérature. Paris: Galilée 2007, S. 59–84. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: diaphanes 2004. —: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphanes 1010/2011. Warning, Rainer: Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999. Weber, Max: Vorbemerkung. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 1–16.
I Kollisionen
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Ökonomie der Intimität: Racine, Rousseau Ô mon Fils, que tes jours coûtent cher à ta Mère!1
Vorüberlegung: Zum Begriff der Ökonomie der Intimität Wenn man Joseph Vogls fraglos maßgebliche Arbeit Kalkül und Leidenschaft2 befragt, ist die bürgerliche, die moderne Affektökonomie über folgende Eckwerte zu bestimmen: (1) Affekte werden in zunehmendem Maße berechenbar, indem man sie einem Kalkül (ökonomischer Steuerung) unterwirft. (2) Von Affektökonomie ist erst dann zu reden, wenn ein hinlänglich epistemologischer Begriff von Ökonomie ausgeprägt ist. Vogl zufolge ist der historische Bruch, der im 17./18. Jahrhundert statthat, deshalb nicht länger mit anthropologischen Konzepten zu fassen. Zur Verdeutlichung verweist Vogl auf die diffuse Ökonomie von ›Naturvölkern‹, in denen der Zugriff auf Güter durch ein Amalgam aus Verwandtschaftsbeziehungen und Nutzungs-/Genussrechten an Häusern und Grundstücken geregelt ist. Angesichts solcher Verhältnisse dekretiert er: Was aber fehlt, oder besser: was ganz einfach nicht existiert, ist ein ökonomischer Akt im strengen Sinn, was fehlt, sind Dinge, Handlungen und Verhaltensweisen, die sich gerade deshalb zusammenfügen und aufeinander beziehen, weil sie ökonomische sind.3
So besehen wäre der Begriff der Ökonomie nur unter den Bedingungen einer im Grundansatz ökonomistischen Episteme angemessen – denn wie anders ist ein ökonomischer Akt zu interpretieren, in dem sich Dinge, Handlungen, Verhaltensweisen aufeinander beziehen, weil sie ›ökonomische‹ sind. So schlüssig der Ansatz von Kalkül und Leidenschaft in sich ist, er ist meines Erachtens in folgenden Punkten zu hinterfragen:
1 Jean Racine: Andromaque, III, 8, v. 1050. In: Ders.: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 1. Herausgegeben von Georges Forestier. Paris: Gallimard 1999, S. 193–256. 2 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: Diaphanes (12002) 42011. 3 Ebda., S. 11. https://doi.org/10.1515/9783110479638-002
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Methodisch: Offensichtlich versucht Vogl den Begriff der Ökonomie für den eigenen Ansatz nachgerade zu monopolisieren. Dem ist entgegenzuhalten: So divers die Tauschstrukturen etwa von ›Naturvölkern‹ auch sind, sie ermöglichen ihnen immerhin einen geregelten Tausch von Gütern. Insofern ist diesen Ethnien nicht abzusprechen, dass auch sie eine Ökonomie besitzen. Denn ökonomisch sind gesellschaftliche Beziehungen bereits dann, wenn sie aufgrund welchen Regelwerks auch immer den Besitz und Tausch von Gütern gewährleisten können. Mit anderen Worten: Als ökonomisch sind alle gesellschaftlichen Beziehungen anzusehen, die Tauschakte betreffen. Diese sind zu unterscheiden von dem, was Vogl als »ökonomischen Akt« bezeichnet.4 Sachhaltig/historisch: Unter dem Stichwort von Leidenschaft/Liebe und Freundschaft entstehen im 18. Jahrhundert soziale Konzepte, die sich nicht nur gegen die Feudalordnung wenden, sondern ebenso sehr gegen den Ökonomismus des aufstrebenden Bürgertums. Im Gefolge dieser polaren Festlegung ist die bürgerliche Gesellschaft zutiefst gespalten. Während sie auf der Ebene von Güterproduktion und -tausch strikt ökonomisch operiert, lehnt sie auf interpersoneller Ebene Tauschbeziehungen kaum weniger strikt ab. Dieser Widerspruch von Ökonomismus und Antiökonomismus reicht herauf bis in die Jetztzeit. Man denke im wirtschaftswissenschaftlichen Umfeld an die Kontroverse von (neo-) liberalen und sozial orientierten Wirtschaftsmodellen (die im Grundansatz auf das intime Konzept der fraternité zurückverweisen). Er trägt sich in anderer Weise
4 Da Vogls Ansatz auf einem historisch-epistemologischen Konzept aufruht, wäre es m. E. angemessener, statt von einem ökonomischen Akt von einer ökonomischen Praktik – Praktik im Sinne Foucaults – zu reden. Das Konzept des Aktes erfährt bekanntlich im Gefolge der Phänomenologie, aber auch im Gefolge der Sprechakttheorie eine beträchtliche Konjunktur. Foucault schließt hieran an, nicht ohne diese Konzepte zu verschieben. Unter Praktiken versteht Foucault keine einzelnen, isolierten Akte (die nichtsdestoweniger eine komplexe Wahrnehmungs- oder Interaktionskonstellation betreffen können), sondern ein historisches Ensemble von – eben – Praktiken. Gemessen an diesem komplexen historischen Ansatz ist der Begriff des Tauschakts – oder auch nur der des Tauschs – historisch weniger filigran, sondern vorneweg heuristisch ausgerichtet. Er eröffnet gerade deshalb eine breitere Vergleichsbasis. Vgl. hierzu, im Unterschied zu Vogl, die Klassiker der anthropologisch/ethnologisch fundierten Tauschtheorie: Marcel Mauss: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. Paris: PUF (11950) 22012, Claude Lévi-Strauss: Les structures élémentaires de la parenté. Berlin/New York: Mouton de Gruyter (11949) 21967 sowie neuerdings David Graeber: Schulden. Die ersten 5.000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer/Hans Freundl u. a. Stuttgart: Klett-Cotta (12011) 72012. Zum Nexus von Schuld und Schulden, vgl. bereits früher Franziska Sick: Tragisches Potential und untragisches Ende. Absolutistische Konzepte in den frühen Dramen Corneilles. In: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 91–107, und hierbei insbesondere die Unterscheidung von ›Schuldigsein an‹ und ›Schulden haben bei‹, S. 106–107.
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im ästhetischen Bereich ab. Während Vogl Affektökonomie als epistemologische Konstellation versteht, zu der es kein Außen gibt, unterstellt man anderweitig, dass Affekte/Kunst eine Gegenmacht gegen den schieren Ökonomismus des Kapitalismus bilden können.5 Typischerweise betrachtet solche regelmäßig humanitäre Politästhetik nur gezähmte, empathische Affekte, nicht jedoch die Gier der Finanzindustrie. So diametral diese Lesart der Vogl’schen zuwiderläuft – beide besitzen eine im Kern unhinterfragte Gemeinsamkeit: Sie tragen die Beziehung von Affekt und Ökonomie auf der Achse von Individuum und Gesellschaft ab. Ausgeblendet bleibt hierbei, dass das moderne Konzept der Intimität einen Beziehungstyp und mit ihm ein Affektmodell inauguriert, das sich als dezidiert außergesellschaftlich versteht. Es propagiert eine affektive Nahbeziehung zwischen Zweien, und das heißt: eine Beziehung unter Ausschluss der Gesellschaft. Wenn dergestalt Affekte erklärtermaßen zwischen Zweien zu ›tauschen‹ wären, muss es vorneweg irritieren, dass die Affektökonomie[M]6 sie in dem Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft zu verorten versucht. Hiervon ausgehend ist der unterschiedliche Grundansatz einer Affektökonomie[M] und einer Ökonomie der Intimität[M] genauer zu bestimmen. Während zumal die Vogl’sche Affektökonomie[M] die Affekte in Funktion zu gesellschaftlichen Normen und Wissenssystemen setzt, akzentuiert eine Ökonomie der Intimität[M] den zwischenmenschlichen Beziehungsaspekt. Intimität ist hierbei nicht mit Affektivität oder gar sexuellen Intimitäten zu verwechseln. Sie meint den vergleichsweise formalen Tatbestand, dass zwei Interaktionspartner ohne Bezugnahme auf gesellschaftliche Werte zu interagieren – und das heißt immer auch: zu tauschen – versuchen. Dieser Interaktionstyp trifft auf die moderne Liebe zu, aber auch auf das Konzept der Freundschaft, das in ihrem Gefolge entsteht. Im Ergebnis könnte der Befund beider Ansätze kaum konträrer sein. Während die Affektökonomie[M] postuliert, dass der ›ökonomische Akt‹ das ältere Modell eines Amalgams von interpersonellen Verpflichtungen und Gütertausch ablöst, vertritt die Ökonomie der Intimität[M] die Auffassung, dass interpersonelle Verbindlichkeiten nach wie vor fortbestehen. Zugrunde liegen hierbei konträre Geschichtsmodelle. So kapitalismuskritisch sich Vogl zur historischen Entwick-
5 Man denke hierbei etwa an neomarxistische Positionen oder aber auch aktueller Weise an die Documenta 14, die in breitem Umfang auf diese zurückgreift. 6 Die Termini Affektökonomie und Ökonomie der Intimität sind insofern ambig, als sie sowohl einen methodischen, modellhaften Ansatz als auch einen historischen Sachverhalt benennen. Um diese Zweideutigkeit zu vermeiden und das heißt, um das explanans vom explanandum zu trennen, indiziere ich den methodischen Aspekt mit Affektökonomie[M] bzw. Ökonomie der Intimität[M]. Wenn die beiden Begriffe nicht indiziert sind, bezeichnen sie den historischen Sachverhalt.
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lung auch stellt, er trägt sie auf der Achse eines Fortschrittsmodells ab, demzufolge ein älteres System durch ein neueres, leistungsfähigeres funktionell beerbt wird. Eine Ökonomie der Intimität[M] wird an dieser Stelle anders argumentieren wollen: Neue Systeme beerben nicht alte, sondern sie differenzieren sie, indem sie sie in Subsysteme aufspalten7 oder aber auch nur bestehende Systemstellen neu besetzen. Die Entwicklung im 18. Jahrhundert ist als solcher Differenzierungsprozess zu verstehen. Während man dazu übergeht, gesellschaftliche Beziehungen rein wirtschaftlich zu kodieren, entwickelt man im Gegenzug ein Modell der Intimität, der Gegengesellschaftlichkeit, das dezidiert antiökonomisch ist und nichtsdestoweniger auf Tauschstrukturen basiert. Formelhaft fassbar wird diese Differen-
7 Das ist bekanntlich ein Kernargument der Systemtheorie: dass in dem Maße, in dem ein Unterschied einen Unterschied macht, Systeme sich differenzieren, sich in Teilsysteme aufspalten; vgl. hierzu ursprünglich Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Übersetzt von Hans Günter Holl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (11981) 51983 und später Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984. Zu einer systemtheoretischen Interpretation von Intimität, vgl. insbesondere Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (11982) 132015 und ders.: Liebe. Eine Übung. Herausgegeben von André Kieserling. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (12008) 42014. – Ohne dass ich diesen Punkt allzu sehr vertiefen will, ist darauf hinzuweisen, dass meine Ergebnisse in nicht unbeträchtlichem Maße von Luhmanns Studie abweichen. Das betrifft zum einen die Datierung: Liebe, Intimität gibt es m. E. bereits vor dem 18. Jahrhundert, genauer: ab Racine, und dies in durchaus verschärfter, zugespitzter Form. Das betrifft zum anderen die methodischen Bordmittel: Auch wenn es da und dort hilfreich ist, auf den Werkzeugkasten der Systemtheorie zurückzugreifen – die methodische Leitkategorie der vorliegenden Studie ist ein von ethnologischen/ anthropologischen Ansätzen inspirierter Begriff des Tauschs. Deshalb vertritt sie, wenn man so will, einen vergleichsweise zurückhaltenden ›systemtheoretischen‹ Ansatz. Während Luhmanns Systemtheorie die Emergenz von Systemen in den Vordergrund stellt, unterstelle ich, dass es methodisch durchaus fruchtbar sein kann, ein wie auch immer vage zu bestimmendes statisches Set von (anthropologischen) Systemstellen vorauszusetzen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Tauschkategorie. Und dort das Argument, dass man nicht ›nicht tauschen‹ kann. So besehen vertrete ich sowohl gegenüber Vogl als auch gegenüber Luhmann eine vergleichsweise gemäßigte, mittlere Position. Während Vogl auf eine Emergenz der Ökonomie setzt, setzt Luhmann auf eine Emergenz der unwahrscheinlichen Kommunikation. Während Vogl zufolge in und mit der Affektökonomie ökonomisches Denken erst zu sich kommt, weil das ökonomische Denken universal wird und selbst den Affekt überbordet, entsteht Luhmann zufolge mit der Liebe als Passion eine völlig neue Beziehungsstruktur oder aber auch ein völlig neues gesellschaftliches Subsystem jenseits aller gesellschaftlichen Normen und Ökonomien. Ich neige eher der Luhmann’schen Auffassung zu, wobei ich dafürhalte, dass das neue System, so sehr es sich auch gegen die Ökonomie und gesellschaftliche Normen wendet, eben nicht ›nicht tauschen‹ und ebenso wenig sich des Begriffs der Schuld entledigen kann.
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zierung, wenn man die negative Seite beider Tauschstrukturen betrachtet. Wenn Schulden typischer Weise eine monetäre, materielle Verpflichtung bezeichnen, und Schuld eine persönliche, so lässt sich der im 17./18. Jahrhundert erfolgende Wandel als eine Neuverteilung von Schuld und Schulden interpretieren.8 Der neuen Ordnung zufolge sind Schulden eine ausschließlich gesellschaftliche Angelegenheit und ist Schuld – wenn man von veritablen Straftaten einmal absieht – eine vorrangig intime. Insofern moderne Intimität die interpersonelle Beziehung von Dank und Schuld beerbt, ist auch sie von Tauschakten geprägt, so sehr sie auch in der Eigenwahrnehmung und -darstellung darauf insistiert, dass Liebe ein unverfügbarer Affekt und deshalb nicht tauschbar sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass man nicht ›nicht tauschen‹ kann, genauso wenig wie man nicht ›nicht kommunizieren‹ kann. Es ist deshalb kein Zufall, dass zumal die frühen literarisch modellierten Intimbeziehungen einen schuldhaften Verlauf nehmen, so namentlich in den Tragödien Racines und, etwas sozial vermittelter, bei Rousseau (Julie, ou La Nouvelle Héloïse) im Tod von Julie und deren Mutter. In solchen Handlungsverläufen tritt die paradoxe Grundkonstruktion der Ökonomie der Intimität zutage. In dem Maße, wie diese postuliert, dass Liebe nicht tauschbar ist, tendiert deren Wert gegen unendlich. Der Preis der Liebe ist deshalb das Äußerste, und das ist der Tod. Benannt ist damit nicht zuletzt eine weitere Differenz zwischen Vogls Affektökonomie[M] und der im Folgenden zu entwickelnden Ökonomie der Intimität[M]. Während die Affektökonomie[M] unterstellt, dass Affekte nach Maßgabe eines verbesserten gesellschaftlich-ökonomischen Modells regulierbar sind, vertritt die Ökonomie der Intimität[M] die Auffassung, dass sie hochgradig dereguliert sind. Weil man mit Liebe etwas zu tauschen versucht, das erklärtermaßen nicht tauschbar ist, verhält sich die Ökonomie der Intimität so hyperinflationär wie jedes andere ökonomische System, in dem die Gültigkeit von Tauschwerten problematisch wird. Nicht auszublenden ist hierbei, welche Spannbreite inflationäre Ökonomien historisch einnehmen. Unter dem Titel L’échange symbolique et la mort entwickelt Jean Baudrillard eine postmoderne Ökonomie, in der sich Signifikant und Signifikat, Tauschwert und Gebrauchswert entkoppeln.9 Man tauscht hierbei nicht länger etwas, sondern nur noch Signifikanten. Vogl verzeichnet eine vergleichbare Entkopplung ab Goethe, Novalis. Die in unserem Zusammenhang zu entwickelnde Ökonomie der Intimität liegt vor dieser Zäsur. Man versucht in ihr gleichsam das Signifikat gegen das Signifikat zu tauschen.
8 Zur Unterscheidung von Schuld und Schulden, vgl. David Graeber: Schulden, S. 62–66. 9 Jean Baudrillard: L’échange symbolique et la mort. Paris: Gallimard 1976.
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Diese Beziehung wird nachstehend anhand folgender Eckpunkte zu entwickeln sein: Mit am radikalsten hat Racine die Auffassung ›vorgetragen‹, dass Liebe/Leidenschaft nicht tauschbar ist. Hieraus resultiert ein zutiefst instabiles System, in dem der Vorwurf des ingrat und monströse Gaben der Liebe so unverhofft wie unvermittelbar aufeinandertreffen. Rousseau setzt auf dieses Konzept intimer Interaktion in unterschiedlicher Weise auf. Während er in den Confessions in ihm befangen ist und es reproduziert, versucht er es in La Nouvelle Héloïse sozial zu vermitteln, nicht jedoch, indem er sich primär affektökonomischer Konzepte bedient, sondern indem er in abgewandelter Form auf tradierte interpersonelle Tauschkategorien wie die der Ehre und der Familie zurückgreift.
Corneille: Cinna Obwohl mit Racine und Rousseau ein vergleichsweise großer historischer Bogen im Blick steht, lohnt es, einen Schritt zurückzutreten. Denn nur im Kontrast zum alten System kann das neue Kontur gewinnen. Man muss hierbei nicht bis zu den ›Naturvölkern‹ zurückgehen: In Corneilles Cinna ou la clémence d’Auguste10 ist Emilie bereit, Cinna zu heiraten, wenn er ihren Vater rächt, der von Augustus während seines Staatsstreichs ermordet wurde. Augustus seinerseits versucht Emilie und Cinna für sich zu gewinnen und zu versöhnen, indem er sie mit Gunstbeweisen und Gaben der Milde überhäuft. So will er unter anderem Cinna Emilie zur Frau geben. So konträr beide Hochzeitsangebote sind, in beiden Fällen ist die Gabe, die Emilie ist oder zu geben hat, auf ein Tauschsystem bezogen. Das ist im einen Fall ein System der Clans und der Blutrache und im anderen Fall ein System des Staates und der Milde. Corneilles Cinna verhakt beide Systeme miteinander. Das Stück durchläuft hierbei eine mehrstufige Transaktion, in der Schuld und Schulden auf unterschiedlichen Niveaus beglichen und transformiert werden. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Schritte: Augustus ist schuldig, da er Emilies Vater ermordete. Er versucht seine Schuld durch Milde, und das heißt durch gesellschaftliche Gaben, abzutragen. Man könnte auch sagen, er versucht sich von seiner Schuld freizukaufen. Emilie akzeptiert dieses Wiedergutmachungsangebot nicht und fordert nach wie vor Rache. Als sie und Cinna einen Staatsstreich gegen Augustus planen, werden sie ihrerseits schuldig. Am Ende
10 Pierre Corneille: Cinna ou la clémence d’Auguste. In: Ders.: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 1. Herausgegeben von Georges Couton. Paris: Gallimard 1980, S. 903–969.
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dieser (ökonomischen) Transaktionskette ist Augustus nicht nur entschuldet, sondern hat sich überdies das gesamte Schuldkapital angeeignet: Da er den beiden Verschwörern selbst noch den Staatsstreich und persönlichen Verrat verzeiht, stehen sie doppelt in seiner Schuld: aufgrund seiner anfänglichen Milde und aufgrund der erneuten Begnadigung. Bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang, in wie hohem Maße Corneille auf traditionelle Tauschstrukturen zurückgreift, um sie im Sinne des Absolutismus zu verschieben. In einem System der Clans sind es Familien, Sippen, die Frauen tauschen. Sie schaffen damit so etwas wie ein ›Feudalsystem‹ familialer Allianzen. Wie anhand von Cinna und Emilie zu besichtigen ist, können sie auf dieser Basis ein Widerstandsnest gegen übergeordnete zentralstaatliche Instanzen bilden. Der Corneilleʼsche Augustus unterläuft diese Struktur. Er vollzieht nicht nur eine Tauschoperation auf der Ebene des Frauentauschs, sondern transformiert diese im Sinne des Absolutismus. Cinna, so endet das Stück, erhält Emilie nicht aus ihrer eigenen Hand – und das wäre die Hand ihres Clans –, sondern aus der Hand des Augustus. Damit ist ein grundsätzlicher Systemwechsel im Sinne des Absolutismus eingeleitet. Vollends absolut sind Herrscher erst dann, wenn sie anstelle der Clans über die Gabe der Frau verfügen. Hierin besteht, wenn man so will, der zweite ›Staatsstreich‹ des Augustus. Er unterwirft sich nicht nur das freiheitsliebende Rom, sondern in einem zweiten Schritt auch die Clans und die Gesetze der Verwandtschaft, aus denen diese ihre Macht beziehen. So wandelfähig können alte Systeme sein. Wenn auch nicht der moderne Territorialstaat in toto, so doch dessen Ideologie beruht darauf, dass Frauen nicht länger Gabe der Clans, sondern die Gabe des Königs sind. Die Ebene der Affektivität – Emilie liebt Cinna – nimmt in diesem Tauschgeschäft trotz des vielbesprochenen Konflikts von amour et devoir eine vergleichsweise untergeordnete Rolle ein. Man sieht dies bereits daran, dass die Liebe Emilies als amour-estime einen wohldefinierten Preis hat. Vollends wenn man die Gesamtanlage des Stückes betrachtet, zeigt sich, dass die Liebe, dass der Affekt in Cinna kaum mehr als eine Deckschicht ist. In dem Maße, wie Corneille die Liebe zwischen Cinna und Emilie in den Vordergrund spielt, überblendet er den politischen Konflikt durch einen privaten. In etwas fragwürdiger Weise wird Cinna hierbei zu einem politischen Widerstandskämpfer aus Liebe. Ansatzweise tragfähig ist seine Position, weil sie sich (noch) auf einen Wertekanon berufen kann, in dem im amour-estime Ehre und Liebe genauso ungeschieden sind wie Schuld und Schulden: Cinna könnte Emilie heiraten, wenn er sie rächt, das ist eine Frage von persönlicher Schuld und Verpflichtung. Cinna ist Augustus aufgrund seiner Milde verpflichtet, das sind Schulden in einem mehr oder minder materiellen Sinne. Auch wenn man beide Seiten noch zu verrechnen versucht, sie treten ansatzweise bereits auseinander. Geschuldet ist diese Dissoziierung
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dem Umstand, dass Corneille mit dem Absolutismus eine gesellschaftliche Abstraktion einführt, die über den Gesetzen der Clans steht. Im Gegenzug werden deren Gesetze und Racheansprüche tendenziell zu einer Privatangelegenheit. So besehen ist die moderne Liebe die Kehrseite des Absolutismus, so besehen propagiert der Konflikt von amour et devoir in ersten Ansätzen die moderne Trennung von intimer Schuld und öffentlichen Schulden. Racine greift diese erste Differenzierung auf, indem er sie auf den Kopf stellt und damit zugleich radikalisiert. Während Corneille die Schulden des Helden gegenüber dem Staat ins Zentrum rückt, verabsolutiert Racine den Affekt – und mit ihm die intime Tauschbeziehung und Schuld. Im Zuge dieser Umbesetzung werden gegenbildlich zu Corneille gesellschaftliche Verpflichtungen peripher und die Racineʼschen Herrscher und Heroen auf die Rolle des staatsvergessenen, leidenschaftlich Liebenden ›reduziert‹. Von einer Ökonomie der Intimität ist erst nach Maßgabe dieser Umbesetzung und Reduktion zu reden.
Racine: Andromaque Anders als in Cinna stiftet die Hochzeit in Racines Andromaque keine Allianz, sondern führt zu einem Blutbad. Wobei sich die Frage stellt, ob diese Bluthochzeit etwas jenseits aller Ökonomie, ein schieres Wüten der Leidenschaft oder eine andere Form von in diesem Fall intimer und deshalb deregulierter ›Affekt‹-Ökonomie ist. Eine weitgehend nicht ökonomische Haltung nimmt Andromaque zu Beginn des Stückes ein. Nachdem Achill vor Troja ihren Gatten Hector ermordet hat, fallen sie und ihr Sohn Astyanax Pyrrhus als Kriegsbeute zu. Trotz der Gräuel vor Troja will Andromaque sich nicht rächen. Sie begnügt sich mit dem, was ihr verblieben ist: Astyanax. Sie will ihn sich bewahren, zumal Astyanax für sie nicht nur ihr Sohn, sondern auch das Abbild Hectors ist. Andromaque nimmt damit eine sehr bescheidene Position ein. Sie erscheint wie aus der Gesellschaft und ihren Tausch-, Blutrache- und Heiratsbeziehungen herausgefallen. Als ihr Pyrrhus anbietet, er würde, so sie ihn heiratet, Troja wieder aufbauen und ihren Sohn als König einsetzen, antwortet sie ihm: Seigneur, tant de grandeurs ne nous touchent plus guère, Je les lui promettais tant qu’a vécu son Père.11
11 Jean Racine: Andromaque, I, 4, v. 333–34.
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Im selben Geiste bittet sie später Pyrrhus darum, ihr und ihrem Sohn Asyl zu gewähren. Obwohl – oder aber auch weil – Andromaque die wohl defensivste Figur im Werk Racines ist, ist bereits an ihr ablesbar, dass wir mit ihr in eine Tauschordnung eintreten, die grundsätzlich anders strukturiert ist als noch die Corneille’sche. Anders als Emilie will Andromaque weder Rache für den ermordeten Anverwandten noch die Restitution eines Reiches. Sie will einen Schutzraum für ihren Sohn und für ihre Trauer. Gemessen hieran erweist sich alles, was Pyrrhus Andromaque an gesellschaftlichen Gaben anzubieten hat, als uneigentliche Gabe. Deshalb versucht er zugleich auf einer weiteren Ebene zu tauschen. Noch bevor die Griechen den Kopf von Astyanax fordern, noch bevor er Andromaque anbietet, Troja wiederaufzubauen,12 klingt diese zweite Tauschebene an: Pyrrhus hat Astyanax weggesperrt. Er verweigert Andromaque weitgehend den Zutritt zu ihrem Sohn und droht ihr, sofern sie ihn, Pyrrhus, nicht heiratet, Astyanax zu ermorden. Abgesehen davon, dass dies eine platte Erpressung ist, versucht Pyrrhus sich die Liebe Andromaques zu ›erkaufen‹, indem er ihr den Geliebten gibt oder aber auch verweigert, das heißt mit anderen Worten: Er versucht in wie vager Weise auch immer Liebe gegen Liebe zu tauschen. Auch wenn dieser Term angesichts der offenen Drohungen des Pyrrhus etwas irritieren mag – was Pyrrhus Andromaque anbietet, ist nicht länger ein gesellschaftlich kodierter, sondern ein intimer Tausch. Intim ist dieser Tausch, weil er die Gabe der Frau nicht länger gegen einen gesellschaftlichen Wert wie das Reich oder den Thron zu tauschen versucht, sondern gegen Liebe oder, dinglicher gefasst, gegen den Geliebten. Selbstredend ist das Tauschmodell, mit dem Racine an dieser Stelle aufwartet, äußerst konstruiert. Pyrrhus kann Andromaque den ›Geliebten‹ nur geben, weil dieser nur dessen Platzhalter ist. Astyanax ist zwar Hectors Sohn, aber er ist nicht Hector. So sachlich vorweisend dieses Szenario ist, so sehr es die schiere Gabe der Liebe unter Ausschluss gesellschaftlicher Tauschwerte inauguriert, in struktureller Hinsicht ist es nichtsdestoweniger vergleichsweise traditionell gefasst. Einfach deshalb, weil in ihm mit Astyanax noch ein Vermittlungsglied, eine konkrete Gabe oder aber auch so etwas wie eine Münze zirkuliert. Diese Münze, Astyanax, ist allerdings ein äußerst ambivalentes Zahlungsmittel. Sie ist zugleich die Sache selbst und sie ist sie nicht. Astyanax ist das Wertvollste, das Andromaque besitzt, deshalb kommt er für Pyrrhus als Zahlungsmittel in Betracht, er ist aber auch die Postfiguration Hectors und das heißt so etwas wie Andromaques Ersatzmann. Nur aufgrund dieser fundamentalen Janusköpfigkeit kann Astyanax überhaupt als Zahlungsmittel fungieren. Bezeichnenderweise
12 Vgl. Ebda., I, 4.
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droht die Transaktion genau dann zu scheitern, als Pyrrhus in vollem Umfang die andere Seite der Münze zu sehen bekommt. C’est Hector, (disait-elle en l’embrassant toujours;) Voilà ses yeux, sa bouche, et déjà son audace, C’est lui-même, c’est toi, cher Epoux, que j’embrasse.13
Intim zu tauschen versucht nicht nur Pyrrhus, sondern im Gegenzug auch Andromaque. In dem Maße, wie sie sich zur Heirat gezwungen sieht, verfällt sie auf den Plan, Pyrrhus zwar zu heiraten, unmittelbar im Anschluss daran jedoch Selbstmord zu begehen. Da Pyrrhus sie liebt, so ihre Erwägung, wird er ihren Sohn lieben und am Leben erhalten. Indem sie sich ihm gibt, gibt sie ihm den Sohn und entzieht sich selbst. Wir haben es in beiden Tauschrelationen mit einem komplementären Spiel von Geben und Verweigern intimer Tauschwerte zu tun. Pyrrhus nimmt Andromaque ihren Sohn und gibt ihn ihr zurück, sofern sie ihn heiratet. Andromaque willigt ein, Pyrrhus zu heiraten, überantwortet ihm damit ihren Sohn und verweigert sich anschließend im Selbstmord. Diese Transaktion ist kaum weniger komplex und mehrstufig vermittelt als die in Corneilles Cinna. Da jedoch leidenschaftliche Liebe nicht tauschbar ist, gibt sie nur, um das, was sie nicht geben kann, sofort zurückzunehmen. Und dennoch ist nicht zu übersehen, dass – wenn denn Andromaques Plan zum Zuge käme – ein Transfer der Gabe Astyanax stattfände. Astyanax wäre nach Abschluss der Transaktion Pyrrhus’ (Adoptiv)Sohn. So verworren die Transaktionsbeziehung auch ist, man hätte im Sinne der Gesetze der Verwandtschaft wenn nicht einen Frauentausch, so doch einen Kindertausch vollzogen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, weist diese Transaktion nicht unbeträchtliche Gemeinsamkeiten mit Rousseaus Julie, ou La Nouvelle Héloïse auf. Hier wie dort dient der tatsächliche bzw. geplante Tod der Mutter funktionell dazu, deren Kinder an einen anderen Mann weiterzureichen. Dass hierbei gleichsam die Vorzeichen und Positionen vertauscht sind, ist einzuräumen. Während Andromaque Selbstmord begehen will, weil sie einen Mann heiraten soll, den sie hasst – sie kann die Gräuel vor Troja nicht vergessen –, stirbt die wider ihren Willen mit Wolmar verheiratete Julie, als sie sich in eine Lebensgemeinschaft mit Saint-Preux hineingezwungen sieht, bei der sie nicht ausschließen kann, dass sie sich dem früheren Geliebten noch ein weiteres Mal hingibt. So prägend die Münze Astyanax für die Andromaque-Handlung ist, so sehr sie selbst noch in die Beziehung zwischen Hermione und Oreste hineinspielt, sie
13 Ebda., II, 5, v. 656–658.
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ist alles andere als repräsentativ für Racines Gesamtwerk. Durchweg bestimmend ist stattdessen der Motivkreis von Undank und Verbrechen, wie er in der Beziehung zwischen Hermione und Oreste zum Austrag kommt. Auch dieser Handlungsstrang ist auf eine Ökonomie der Intimität zu beziehen. Um mit den Zahlungsmitteln und deren Werthaltigkeit/-haftigkeit zu beginnen: Wie man vielfach angemerkt hat, erhebt Racine in der Andromaque die pastorale Liebeskette zum großen tragischen Thema.14 Es handelt sich hierbei nicht bloß um eine Verschiebung auf der Gattungsebene, sie betrifft mindestens ebenso sehr die Kodierung der Affekte und prägt zutiefst deren Ökonomie. Auch wenn Oreste und Pyrrhus nicht müde werden zu beklagen, dass sie der Sklaverei ihrer Leidenschaft unterliegen, Andromaque wäre keine Tragödie, wenn solche Leidenschaften nicht mindestens ebenso werthaltig und heroisch wären wie Corneilles Konflikt von amour et devoir. Auch deshalb kann der Liebende Racines wenn nicht Gegenliebe, so doch Dank für seine Taten einfordern. Er verhält sich hierbei analog und zugleich komplementär zum Corneille’schen Helden. So wie Cinna sich Emilie durch eine heroische Tat zu verdienen gedenkt, so Oreste Hermione durch eine Unzahl von Verbrechen. Geändert hat sich hierbei ›lediglich‹ das Vorzeichen. Quoi? j’étouffe en mon cœur la raison qui m’éclaire. J’assassine à regret un Roi que je révère. Je viole en un jour les droits des Souverains, Ceux des Ambassadeurs, et tous ceux des Humains; Ceux même des Autels, où ma fureur l’assiège. Je deviens Parricide, Assassin, Sacrilège.15
Nicht gesellschaftlich, sondern intim ist dieser Tausch einmal mehr, weil Oreste als Verbrecher Hermione keine gesellschaftliche Gabe zu geben hat. Als Andromaque zum Schein in die Ehe mit Pyrrhus einwilligt, fordert Hermione, die ihrerseits Pyrrhus liebt, aus gekränkter Leidenschaft Oreste auf, sie zu rächen und Pyrrhus bei der Hochzeit zu ermorden. Unter dieser Bedingung, unter der Oreste die oben zitierten multiplen Verbrechen begeht, wäre sie bereit, ihn zu heiraten. Nach begangener Tat jedoch verflucht sie ihn. Er hätte ihren aufflackernden Rachegelüsten nicht nachgeben sollen: »Ah! Fallait-il en croire une Amante insensée?«16 Auch wenn dieser Vorwurf das Moment eines schieren Furors der Leidenschaft in
14 Vgl. grundlegend hierzu Harald Weinrich: Variationen der Liebeskette. In: Ders.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. München: dtv 1986, S. 50–65. 15 Jean Racine: Andromaque, V, 4, v. 1613–1618. 16 Ebda., V, 3, v. 1585.
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den Vordergrund rückt, ist unter dem Blickwinkel einer Ökonomie der Intimität festzuhalten, dass Hermione nichtsdestoweniger ein Tauschangebot abgegeben und anschließend gebrochen hat. Diese Tauschstruktur macht so etwas wie den Markenkern der (Racine’schen) Ökonomie der Intimität aus. Sie ist von der der Andromaque-Handlung strikt zu unterscheiden. Während diese mit der Münze Astyanax noch über einen konkreten, qualitativen, vermittelten und deshalb begrenzten Tauschwert verläuft, ist der Gegenwert der Liebe in der Oreste-Handlung rein quantitativ. Es ist eine schiere Häufung aller erdenklichen Verbrechen. Gemessen an der Andromaque-Handlung verhält sich diese Tauschstruktur wie eine hyperinflationäre Währung. Und sie ist dennoch von ihr abzugrenzen. Während man in Währungskrisen den Glauben an die Kaufkraft des Geldes verliert, während dort lediglich die Äquivalenzbeziehungen instabil werden, stellt sich bei Racine die Frage, ob Liebe überhaupt tauschbar ist. Während wir es im einen Fall mit einer Binnenkrise des Systems zu tun haben, haben wir es im anderen Fall mit einer Ausgründung in ein anderes, neues System zu tun – und dennoch kann Racine dieses nicht definieren, ohne sich auf das alte zu beziehen. So markant Racine die Ökonomie der Intimität im Verbrechen zuspitzt, es gibt einen zweiten Term, der zugleich weicher und radikaler ist: Das Geständnis. Weicher als das Verbrechen ist das Geständnis, weil der Gestehende, anders als der Verbrecher, noch keine Schuld auf sich geladen hat. Er kann deshalb keine Gegenleistung fordern. Gerade deshalb kommt im Geständnis die eigentliche Zumutung einer Ökonomie der Intimität zum Ausdruck. Sie fordert Liebe für Liebe ein. Mit anderen Worten: Der (Tausch)Wert der Liebe – und nichts anderes ist im Geständnis gesetzt – ist ihre Wahrheit. Sie hat am Extrempunkt keinen sachlichen Wert zu geben, kein wiedererstelltes Troja, keine verbrecherischen Taten wie etwa den Königsmord. Konsequent ist diese Zuspitzung auf das Geständnis insofern, als selbst die Verbrechen im Grunde nichts anderes als das Ausmaß und die Wahrheit der Liebe bezeichnen. Zu betrachten sind nicht zuletzt vergleichsweise geistesgeschichtliche Rahmenbedingungen. Wie mehrfach geltend gemacht wurde, setzt Affektökonomie voraus, dass in der Moderne niedere Affekte wie Habsucht und Eigennutz nicht länger streng sanktioniert werden. Man kann dasselbe für die Ökonomie der Intimität unterstellen, wenn auch mit gegenläufigem Ergebnis. Während – Adam Smith zufolge – in einem System des Warentauschs, weil es dinglich vermittelt ist, trotz der Habsucht des Einzelnen allgemeine Wohlfahrt entstehen kann, weist die Ökonomie der Intimität bei Racine eine grundsätzlich andere Dynamik auf. Sie endet in einer verhängnisvollen Kettenstruktur. In diesem Sinne ist der Zirkulation der Waren die Liebeskette der Andromaque entgegenzusetzen. In ihr schließt sich kein Kreis, sie bildet stattdessen eine offene Verweisstruktur, deren
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Ausgangspunkt der Tod ist und die nur im Tod zur Ruhe kommen kann. Damit ist neben den monströsen Gaben der Liebe und neben der Gabe der Wahrheit/ des Geständnisses ein weiteres Merkmal der Ökonomie der Intimität benannt. Sie ist hochgradig volatil, sie oszilliert im steten Wechsel um die Pole von Liebe und Hass. Wie präzise diese Volatilität an Tauschmodelle gekoppelt ist und sich nicht bloß Stimmungsschwankungen verdankt, zeigt sich, wenn man die Andromaque-Handlung mit der Oreste-Handlung vergleicht. Wenn der Plan Andromaques zur Ausführung käme, würde die tragische Entwicklung nach vollzogenem Tausch – Pyrrhus erhielte zwar nicht Andromaque selbst, aber doch ihren Sohn – in einen Ruhepunkt einmünden. Anders gelagert ist die Beziehung zwischen Oreste und Hermione. Da sie kein Drittes haben, mittels dessen sie tauschen könnten, trennen sie sich ›unverrichteter Dinge‹. Hermione begeht an der Leiche des Pyrrhus Selbstmord, den ohnmächtigen Oreste entfernen seine Gefährten. Während sich im Fall von Andromaques Selbstmord die Handlung schlösse, weil es mit Astyanax noch einen Tauschwert gibt, mit dessen Transfer die Handlung zu einem mehr oder minder guten Abschluss kommen könnte, bricht im tragischen Finale der Oreste-Handlung die ganze Polarität der Beziehung, ihre ganze volatile Schwankungsbreite noch einmal auf.
Rousseau: Les confessions So wie die Affektökonomie erst im 18. Jahrhundert voll ausgeprägt ist, so auch die Ökonomie der Intimität. Man versucht sie sozial zu vermitteln, teilweise zu entschärfen – man denke an Philines Satz aus dem Wilhelm Meister: »und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«17 –, aber auch auszuweiten. Sie betrifft nicht mehr bloß die Beziehung zwischen Sexualpartnern, sondern auch die zwischen Freunden – und selbst noch die zum Publikum. Das autobiographische Werk Rousseaus legt von Letzterem ein breites Zeugnis ab. Nachdem Rousseau öffentlich in die Kritik geraten ist, verteidigt er sich nicht mit spitzer Feder, sondern verfällt auf die etwas überraschende Idee, so etwas wie eine Lebensbeichte abzulegen. Statt sich ins Recht zu setzen, setzt er sich ins Unrecht, statt sich zu verteidigen, gesteht er wie sonst nur der leidenschaftlich Liebende bei Racine. Es ist durchaus einzuräumen, dass die Rousseau’schen und die Racine’schen Geständnisse nicht in jeder Hinsicht deckungsgleich
17 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hamburger Ausgabe. Bd. 7. Herausgegeben von Erich Trunz. München: dtv 1982, S. 7–610; hier: S. 235.
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sind. Während der Racine’sche Held seine Liebe gesteht und Gegenliebe fordert, gesteht der Autor Rousseau in den Confessions sein Leben, um dem zu entgehen, was er seine Verfolgungen nennt. Im einen Fall reden wir über eine leidenschaftliche Liebe, die alle Normen sprengt, im anderen Fall über eine Autorschaft, die unter Umgehung literarischer Kritik, unter Zurückweisung der Anfeindungen, die eine öffentliche Person wie Rousseau zu gewärtigen hat, eine intime, da freundschaftliche Beziehung zum Publikum aufzubauen versucht. So groß die Unterschiede im Einzelnen auch sind – hier wie dort versucht man Wahrheit gegen Liebe/Freundschaft unter Ausschluss gesellschaftlicher Normen und Instanzen zu tauschen. Hier wie dort ist deshalb die ›Gabe‹ der Wahrheit unlimitiert. So wie der Racine’sche Held alle erdenklichen Verbrechen begeht, um die Wahrheit seiner Liebe zu beweisen, so häufen sich in den Confessions in zunehmendem Maß die Akten, um so ein Projekt ohne Ende zu eröffnen. Das Konzept einer intimen, da außergesellschaftlichen Beziehung zum Publikum datiert nicht erst auf die Verfolgungen zurück. Wenn Rousseau in den Confessions anmerkt, es sei ihm nicht möglich, für Geld zu schreiben, da dies seine Freiheit einschränke,18 so ging er bereits im Vorwort zur Nouvelle Héloïse noch einen Schritt weiter: Tout honnête homme doit avouer les livres qu’il publie. Je me nomme donc à la tête de ce recueil, non pour me l’approprier, mais pour en répondre. S’il y a du mal, qu’on me l’impute; s’il y a du bien, je n’entends point m’en faire honneur. Si le livre est mauvais, j’en suis plus obligé de le reconnaître: je ne veux pas passer pour meilleur que je ne suis.19
Bekenntnishaft ist also Autorschaft als solche. Rousseau arbeitet diesen Umstand heraus, indem er selbst noch das symbolische Kapital oder die Ehre, die ihm aus seinem Buch zuteilwerden könnte, dem Leser vor die Füße wirft.
18 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Les confessions. In: Ders.: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 1. Herausgegeben von Bernard Gagnebin/Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1959, S. 1–656; hier: S. 402. 19 Jean-Jacques Rousseau: Préface [zu Julie, ou La Nouvelle Héloïse]. In: Ders.: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 2. Herausgegeben von Bernard Gagnebin/Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1964, S. 5–6; hier: S. 5.
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Rousseau: Julie ou La Nouvelle Héloïse Solche bekenntnishaften, intimen Arbeitsmodelle betreffen nicht nur den ›Berufsstand‹ des Schriftstellers,20 sondern gleichermaßen den des Pädagogen. Auch wenn dort die Risiken beträchtlich größer sind und weitere Zweideutigkeiten auftreten. So weigert sich Saint-Preux, für das Unterrichten Julies Geld zu nehmen. Man vermutet zu Recht: um ihr ›ebenbürtig‹ zu sein. Saint-Preux denkt diesen Gedanken in nachgerade zynischer Weise zu Ende: Wenn er sich seine Lehrtätigkeit bezahlen lässt, ist er dem Hausherrn verpflichtet und kann die Tochter nicht verführen. Wenn er kein Geld nimmt, stehen ihm alle Optionen offen. Im Gefolge dieser Erwägungen hat Saint-Preux ein Verhältnis mit Julie. Man verweist ihn des Hauses. Er kehrt nach langer Trennung zurück – man trägt ihm an, zum Erzieher der Kinder seiner ehemaligen Geliebten zu werden. Der Roman lässt sich vor diesem Hintergrund wie eine gewaltige Transaktion – durchaus im Sinne von geschäftlicher Transaktion – lesen, die es auf vielen Umwegen ermöglicht, dass ein (bürgerlicher) ›Hausfreund‹ zu einem ›Erzieher ohne Bezahlung‹ wird. Der gesamte Handlungsbogen der Nouvelle Héloïse ist wie maßgeschneidert auf diese Transaktion zugeschnitten. Nachdem Saint-Preux im ersten Erziehungsprojekt sich in seine Schülerin verliebt hat, soll er im zweiten in einer Form von Affektübertragung deren Söhne lieben. Er soll sie lieben, da sie sie liebt, und die Söhne statt der Mutter lieben. Da nach den Kodes einer wahren, und das heißt immer auch: einer unabdingbaren Liebe Affekte nicht vermittelbar sind, ist das Modell dieser Gefühlsübertragung, dieses Tauschhandels mit Gefühlen im Sinne einer Ökonomie der Intimität zwar systemkonform, aber dennoch nicht lebbar. Es ist deshalb kein Zufall, dass Julie wie aufgrund eines unglücklichen Zufalls stirbt. Mit Blick auf eine Ökonomie der Intimität/des Affekts kommt dem Tod Julies eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Im Vorfeld ist festzuhalten, dass diese Ökonomie weder an Modellen einer aufkeimenden Nationalökonomie, an Modellen von Geld- und Hauswirtschaft abgelesen ist noch an deren Kalkulierbarkeit, wie Vogl dies in Kalkül und Leidenschaft unterstellt. Stattdessen bewegen wir uns im Umfeld eines neuen pädagogisch-medizinischen Wissens. Es ist einzuräumen, dass es zwischen beiden Wissensbereichen in epistemologischer Hinsicht Überschneidungen gibt. So verweist Vogl darauf, dass das Bewässerungssystem im Garten von Clarens an Harveys System des Blutkreislaufs abgelesen
20 Vgl. hierzu Franziska Sick: Berufung ohne Ruf. Berufslegenden bei Jean-Jacques Rousseau und Michel Leiris. In: Patricia Oster/Karlheinz Stierle (Hg.): Legenden der Berufung. Heidelberg: Winter 2012, S. 127–149; hier: S. 134–143.
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ist.21 Natur wird regulierbar, indem man auf sanfte Weise ihre Energien umlenkt. In diesem Sinne – so ließe sich im Anschluss an Vogl argumentieren – stellt das elysische Projekt die Blaupause noch für das erotisch-pädagogische dar. So wie man dort die Wasserkräfte umzulenken versucht, so hier die Triebkräfte einer leidenschaftlichen Liebe. Wie Julie weiß, lassen sich so jedoch nicht alle Triebkräfte bändigen. Auch wenn Saint-Preux ihre Kinder liebt, so liebt er doch nach wie vor sie selbst. Um diese affektive Bindung in den Griff zu bekommen, schlägt Julie Saint-Preux eine Heirat mit ihrer Cousine Claire vor. Beide lehnen ab. Julie muss zuvörderst auch deshalb sterben, da sich die Leidenschaft Saint-Preux‘ als unregulierbar erweist. Womit sich unter der Hand zeigt, dass das Konzept der Affektökonomie, dass das »Kalkül der Leidenschaft« (Vogl) scheitert und nur noch durch eine Ökonomie der Intimität stabilisiert werden kann. Zum Zuge kommt hierbei eine Tauschökonomie, auf die wir in ähnlicher Form bereits beim frühen Racine, in der Andromaque-Handlung, gestoßen sind. In beiden Fällen wird mit dem Tod der Mutter die Gabe der Frau durch die Gabe der Kinder ersetzt. Es ist hierbei nicht auszublenden, dass beide Tauschtransaktionen, obwohl sie auf der Ebene der verwandtschaftlich-geschlechtlichen Tauschbeziehung strukturgleich sind, auf einer zweiten, sachlichen Tauschebene äußerst divergent kodiert sind. Während Andromaque versucht, durch ihren Selbstmord ihrem Sohn Asyl zu erwirken, dient der Tod Julies dazu, einen Erzieher als Kinderfreund zu installieren. In Blick zu nehmen ist ferner eine nicht unbeträchtliche gegenläufige historische Verschränkung. Wie bereits dargelegt: Die Andromaque-Handlung ist noch vergleichsweise traditionell gefasst. Sie besitzt mit Astyanax noch einen dinglichen, familiär kodierten Tauschwert. Der Umstand, dass Rousseau auf eben dieses frühe Transaktionsmodell zurückgreift, zeigt, wie sehr es ihm darum zu tun ist, das schiere ›Wüten‹ Racince’scher Leidenschaft sozial rückzuvermitteln. Es zeigt sich auch daran, dass Rousseau das Kernnarrativ Racines umerzählt. Typischer Weise bricht bei Racine ein ungeliebter Dritter in eine bestehende Liebesbeziehung ein. Nachdem er alle erdenklichen Gesetze gebrochen hat, ermordet er seinen Konkurrenten oder aber betreibt den Tod der Geliebten. Gänzlich anders ist das Personal in der Nouvelle Héloïse aufgestellt. Hier sind die Liebenden nicht länger von einem rasenden Liebhaber bedroht, sondern von Normen.22 In Gang gesetzt wird die Entwicklung damit durch einen verhinderten Tausch und nicht durch
21 Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 230–238. 22 In Blick zu nehmen ist hierbei nicht nur das Verdikt von Julies adelsstolzem Vater, sondern auch die Rücksichtnahme Claires gegenüber ihrer Freundin und nicht zuletzt die gesellschaftliche Rücksicht, derer sich Edouard im Falle Julies befleißigt.
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die Unfähigkeit zu tauschen. Gänzlich anders ist nicht zuletzt die Affektlage der Liebenden kodiert. Während bei Racine der Liebende in selbstbezüglicher Weise dem Furor seiner Leidenschaft verfällt, veredeln Julie und Saint-Preux ihre Liebe zu einer freundschaftlichen Beziehung. Unter der Hand verändert sich hierbei die Grundgeometrie von Liebe und Leidenschaft. Während sie bei Racine direkt und rücksichtslos besitzergreifend ist, wird sie bei Rousseau zu einem zutiefst vermittelten Gefühl. Der Liebende will den Geliebten nicht besitzen, sondern – so zumindest lautet die Ideologie dieses Liebeskonzepts – er will, dass der Andere glücklich ist. Auch wenn die empathische Liebe Rousseaus zutiefst vergesellschaftet ist, ist sie kaum weniger dereguliert als die Racine’sche. Sie wird zum einen den Racine’schen Bodensatz leidenschaftlicher Liebe nicht los. Wahr ist Liebe – auch bei Rousseau – nur als leidenschaftliche. Und sie verfängt sich zum anderen dort, wo sie die Leidenschaft mit empathischen Mitteln bricht, in einem Spiegelkabinett wechselseitiger Rücksichtnahmen. Dem obstinaten Vorwurf des ingrat bei Racine23 steht bei Rousseau eine elaborierte Buchhaltung von Liebesschulden gegenüber, die nichtsdestoweniger zu keiner stabilen Tausch- und Beziehungsstruktur führt. Zumal zu Beginn des Romans kodiert sich die Ökonomie der Liebe nach Maßgabe einer Bilanzierung von Liebesleid und -schuld. So hält Saint-Preux Julie vor, nachdem sie ihre Beziehung aus gesellschaftlichen Gründen einschränken mussten, dass sie doch sehr heiter sei. Seiner Auffassung nach müsse sie hierunter genauso viel leiden wie er. Wenn nicht – das ist sein Vorhalt –, liebe sie ihn weniger als er sie. Im Sinne der empathischen Liebe wendet Julie ein: »La singulière marque d’attachement, que de vous plaindre de ma santé!«24 Man sieht, wie vertrackt diese Tauschordnung ist. Der eigentliche Tauschwert wäre leidenschaftlicher Ausdruck von Liebesleid bis hin zur Krankheit, aber diesen darf man aus Gründen der empathischen Liebe nicht einfordern. Überlagert wird diese Beziehung durch das Konzept einer ehrenhaften Liebe, die zumindest im Grundansatz an Corneille erinnert. Zu lieben ist der Geliebte, heiratbar ist er nur, insofern er ehrenhaft, und das heißt im Falle von Julie und Saint-Preux zuvörderst, insofern er tugendhaft ist.25 Anders als das Corneille’sche
23 Vgl. Erich Köhler: ›Ingrat‹ im Theater Racines. Über den Nutzen des Schlüsselworts für eine historisch‑soziologische Literaturwissenschaft. In: Ders.: Vermittlungen. München: Fink 1976, S. 203–218. 24 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou La Nouvelle Héloïse. In: Ders.: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 2. Herausgegeben von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1964, S. 1–745; hier: S. 49. 25 Es wäre näher darzulegen, in wie umfangreicher Weise Rousseau in La Nouvelle Héloïse den Gegensatz von innerer und äußerer Ehre ausarbeitet.
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Ehrkonzept ist das Rousseau’sche jedoch nicht gesellschaftlich kodiert. Es ist so innerlich wie zugleich privat-intim. Ehrkonzepte, Werte- und Tauschordnungen bedürfen jedoch regelmäßig einer dritten Instanz, die die Einhaltung der Wertordnung überwacht, objektiviert und sanktioniert. Ohne sie bleiben sie kraftlos. Das zeigt sich exemplarisch am Verhältnis von Julie und Saint-Preux. Saint-Preux hat Julie in Vevey zweimal verführt. Nach Maßgabe ihres Ehrbegriffs hätte sie ihn bereits nach der ersten Verführung endgültig verstoßen müssen. Als sie in Clarens ein drittes Mal in die Situation der Verführung gerät, stirbt sie. An dieser Stelle wird kenntlich, wie fragil die moderne Ökonomie der Intimität ist. Wenn die Liebenden selbst über den inneren Wert des Partners entscheiden, sind sie in den Fall gesetzt, dass sie wie eine Notenbank den Kurs der Währung festsetzen, um zugleich als Liebende mit ihr zu bezahlen. Relative Stabilität gewinnt diese Tauschstruktur, insofern sie in den Lebensund Todesschulden einen Absolutwert oder aber auch so etwas wie eine harte Währung besitzt. Das ist zu Teilen ein durchaus traditionelles Register. Kulturell verbreitet ist die Vorstellung, dass man den Eltern zu unendlichem Dank verpflichtet ist, weil man ihnen das eigene Leben schuldet.26 Rousseau doppelt diese Beziehung auf, indem er die Lebensschuld mit der Todesschuld verbindet. Es ist neben dem Kniefall des Vaters der Tod der Mutter, den vorgeblich Julie durch ihren Fehltritt verursachte, der sie in die Ehe mit Wolmar zwingt. Es ist mit ihrem Tod ihr letzter, postumer Brief vom Sterbebett, der Saint-Preux zur Erziehung ihrer Kinder verpflichtet. Die Hochzeit mit Wolmar, die Erziehung der Kinder, alle relevanten Transaktionen des Romans werden durch den Tod vermittelt. Darüber hinaus durchzieht der Tod den Roman wie ein roter Faden. Man denke an die Krankheit(en) Julies, an Saint-Preux’ Traum von der toten Julie oder daran, dass der Tod immer dann, wenn eine Trennung ansteht, als Verhandlungsmasse und Münze ins Spiel gebracht wird. Das Spektrum reicht von Selbstmorddrohungen bis zu der schwächeren Behauptung, dass man die Trennung nicht überleben werde. Blockiert wird diese Tauschbeziehung regelmäßig durch das Register der empathischen Liebe. So sehr man die Trennung mit der Münze des eigenen Todes quittieren will – man kann diese Münze nur vorzeigen, aber nicht in Umlauf bringen, weil der eigene Tod für den Geliebten zu schmerzvoll wäre. Auch deshalb muss der Tod von Julie und Julies Mutter zufällig sein. Er ist die letzte und härteste Währung einer Ökonomie der Intimität, die zugleich nicht handelbar ist. In anderer Form kehrt hierbei das Aporetische dieser Ökonomie wieder: So funktio-
26 Vgl. David Graeber: Schulden, S. 98.
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nal notwendig der Tod als Tauschwert in ihr ist, so wenig ist er systemimmanent zu begründen.27 Auch deshalb tritt er als externer Zufall auf. Wie wir bisher gesehen haben: La Nouvelle Héloïse vollzieht in der Gesamtanlage eine Transaktion, in der die Geliebte gegen die Kinder getauscht wird. Grundiert und begleitet ist diese Transaktion von Motiven empathischer und ehrenhafter Liebe sowie von Todes- und Lebensschulden. Neben diesen unmittelbar tauschrelevanten, da interaktiven Strukturen sind abschließend die interpersonellen Strukturen, Verwandtschaftsbeziehungen zu betrachten. Sie sind, anders als in traditionellen Systemen, nicht länger unmittelbar tauschrelevant, bilden aber dennoch so etwas wie eine Plattform, auf der die jeweiligen Tauschtransaktionen prozessiert werden können. So sehr auch Rousseau die Beziehung zwischen Liebenden und Freunden als eine außergesellschaftliche Beziehung zwischen zweien propagiert, so unübersehbar ist, dass sie stets von einem Dritten, von einem Vermittler begleitet, befördert und ansatzweise reguliert wird. Das beginnt bereits mit dem Kuss, den SaintPreux Julie gibt – er küsst zum Scherz zunächst Claire, dann erst Julie –, und das setzt sich in vergleichbarer Weise in der gesamten Beziehungsgeometrie des Romans fort. Zumal Saint-Preux ist nachgerade von Vermittlerfiguren umstellt. Claire, Edouard und selbst Wolmar – sie alle versuchen, ihm den rechten Weg zu weisen. Wobei diese Vermittler, obwohl sie formal die Position des Dritten einnehmen, sachhaltig keine starke, normsetzende Position beziehen. Deutlich wird dies bereits bei Claire, die sich mit dem Satz »Tu verras, tu verras ce que c’est qu’une Duégne de dix-huit ans!«28 in die Beziehung zwischen Julie und SaintPreux einführt. Kaum weniger ambig ist der Vermittler Edouard. Er ist zum einen selbst in Julie verliebt und hat andererseits Affären in Rom, die kaum weniger problematisch sind als die Saint-Preux’sche. In aller Deutlichkeit zeigt sich hierbei, dass und wie sehr einer Ökonomie der Intimität die regulierende Position des Dritten fehlt. Sie versucht sie nachzubilden, indem sie den sich Liebenden einen Freund beigesellt, aber damit ist kaum mehr gesetzt als eine zweite dyadische, da intime Beziehung. Zwei verschränkte dyadische Beziehungen ergeben jedoch keine triadische Struktur, sie bilden allenfalls einen ménage à trois mit volatiler Affektökonomie.
27 Auch diese Systemnotwendigkeit exponiert bereits Racine. In Andromaque kündigt Andromaque gleich eingangs gegenüber Pyrrhus ihren Selbstmord an, als dieser ihr mit der Ermordung des Astyanax droht. In Bérénice setzen Bérénice, Titus und Antiochus reihum die Münze des Selbstmords ein, bevor Bérénice am Ende zugunsten des Lebens, wenn auch zum allgemeinen Leid alle zur Entsagung anhält. 28 Jean-Jacques Rousseau: Julie, ou La Nouvelle Héloïse, S. 46.
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Nicht zuletzt trägt dieses Beziehungsgeflecht sich in Familienstrukturen ab. Einerseits rekodiert Rousseau die Liebesbeziehung mit familialen Registern – so sagt Julie zu Saint-Preux, sie fühle sich wie seine Schwester, und er seinerseits behauptet, mit ihr vor der Ehe zu schlafen sei für ihn wie eine Blutschande.29 Zum Anderen prägt der Roman durchaus neuartige Familienstrukturen aus. So bildet die Gesellschaft von Clarens zum Ende des Romans eine großfamiliale Hausgemeinschaft – mit wie loser familialer Bindung auch immer. Vollends wenn SaintPreux Claire heiraten würde, würde er als der Geliebte Julies ihre beste Freundin heiraten. Das wäre eine Hochzeit unter Freunden, vermittelt durch Freunde. In ihr wäre es die Geliebte und nicht länger der Vater, der über die Gabe der Geliebten verfügt. So besehen, begründet die Ökonomie der Intimität im Grundansatz neue Familienstrukturen. Nicht anzutreffen sind solche fundamentalen Verschiebungen bei Racine. Da es ihm darum zu tun ist, Leidenschaft, Intimität allererst als Wert zu setzen, entwickelt er den Wert innerhalb der traditionellen Verwandtschaftskodes. Die Liebenden brechen deren Gesetze bis hin zum Inzest (Phèdre). Gesetzt ist damit noch keine neue Struktur, sondern ein schierer Gegenwert. Von einer vollwertig entwickelten Ökonomie der Intimität ist erst bei Rousseau zu reden, weil erst bei ihm ein hinlänglich differenziertes Arsenal von Vermittlungsstrukturen zu verzeichnen ist. Da die Racine’sche Position rein negativ ist, erscheint es lohnender, die Rousseau’sche Heiratspolitik mit der Corneille’schen zu vergleichen. Die Differenzen sind durchaus markant. Während Augustus die Clans eliminiert, um ein vertikales System des Frauentauschs zu errichten, eliminiert Rousseau das System der Clans zugunsten einer horizontalen, man könnte auch sagen: ansatzweise demokratischen Struktur. Hier wie dort lässt sich eine geänderte Ökonomie der Sexualität darüber beschreiben, dass die Gabe der Frau/des Geliebten in andere Hände gelangt. Sie gelangt bei Corneille in die Hände des Souveräns. Sie gelangt bei Rousseau tendenziell, sofern Liebe tauschbar wäre, in die Hände der Freunde, der Gleichaltrigen. In wie loser Weise auch immer ist diese Verschiebung bis heute wirksam.
29 Vgl. Ebda., S. 42: »Je frémirois de porter la main sur tes chastes attraits, plus que du plus vil inceste, et tu n’es pas dans une sûreté plus inviolable avec ton père qu’avec ton amant.«
Ökonomie der Intimität: Racine, Rousseau
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Jan-Henrik Witthaus
Ökonomien des Geizes bei Molière und Balzac I Einleitung Ist der Geiz ein ökonomisches Laster der Vergangenheit? Die schon mehrere Jahre zurückliegende Werbekampagne einer Elektronikhandelskette offenbarte, dass es auch heute noch als äußerst skandalös aufgenommen werden kann, wenn man den Geiz fröhlich zur Handlungsmaxime ausruft.1 Nicht nur wurden ökonomischsoziale Gegenargumente laut, nach denen eine rückhaltlose Discountstrategie großer Handelsakteure in ihren volkswirtschaftlichen Auswirkungen zu überdenken sei, zudem artikulierte sich eine moralisch fundierte Kritik, waren es doch vor allem kirchliche Verbände, die darauf verwiesen, dass der Geiz immerhin nach katholischer Lehre zu den Lastern bzw. zu den Todsünden gehöre, nämlich dann wenn man ihn mit der Habsucht (avaritia) assoziiert.2 Aber was überrascht hier mehr? Die heraufbeschworene öffentliche Debatte oder die Bedenkenlosigkeit, mit der der bewusste Slogan lanciert worden war? Es nimmt den Anschein, dass insbesondere mit der katholischen Kritik jenes Werbespruches die Akkumulation von eingesparten Tauschmitteln und die Habsucht als Affekt aufs Neue in Verbindung gebracht wurden,3 wo doch der Protestantismus der bekannten These Max Webers zufolge der Vermögensmehrung einen Weg gewiesen hatte. Folgt indes der Geiz dem Anlaut Gier, steht ein Verhalten insbesondere dann in der Kritik, wenn es um die Ansammlung und Verausgabung von Reichtümern geht. In der Moderne hat sich einerseits die Psychoanalyse um die Pathologien des Geldes
1 Vgl. den Artikel: Geiz ist geil. In: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Geiz_ist_geil [20. 06. 2016]. Einen Prätext dieser Kampagne findet man im Film Wall Street (1987) von Oliver Stone, in dem Gordon Gekko, gespielt von Michael Douglas, verkündet: »Greed – for lack of a better word – is good. Greed is right. Greed works […]« (zitiert nach Ryan K. Balot: Greed and Injustice in Classical Athens. Princeton: University Press 2001, S. 20). 2 Die Einschreibung des Geizes in den moralischen Verhaltenskatalog des frühen Christentums lässt sich nachverfolgen bei: Richard Newhauser: The Early History of Greed. The Sin of Avarice in Early Mediaval Thought and Literature. Cambridge: University Press 2000, S. 1–21. Zur avaritia als Todsünde vgl. ebda., S. 2. 3 Vgl. zum christlichen Hintergrund dieser Verbindung bzw. Differenzierung von philargyria (Liebe zum Geld) und pleonexia (Habsucht, ›Gier nach mehr‹), ebda., S. 7–9. https://doi.org/10.1515/9783110479638-003
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gekümmert,4 andererseits stellen die marxistische Tradition und ihre Varianten die argumentative Reserve, mit Hilfe derer am vehementesten die Verteilung von Vermögen thematisiert wird. Demgegenüber haben der klassische Liberalismus und seine Aktualisierungen im 20. Jahrhundert das individuelle ökonomische Verhalten zunehmend im Hinblick auf seine sozialen Effekte beurteilt und moralische Wertmaßstäbe abgedunkelt.5 Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Überlegung, dass der Geiz nicht nur als individuelles Laster an beschreibbaren Typen haftet, sondern dass er auf überkommenen Narrativen beruht, die sich in ihren konstitutiven Elementen, dem Raum und den Figuren, beschreiben lassen. Geiz ist zwar die Bewertung von individuellem Verhalten, wird aber als solcher nur in der narrativen Anordnung von Sujets sinnfällig, lächerlich, skandalös. Auch heute noch ist er immer dann anstößig, wenn er sich in Vorstellungen konkretisiert, die von ihm erzählen. Die entsprechenden Wahrnehmungsmuster wurden von literarischen Texten der Vormoderne geprägt. Zu den wirkungsreichsten Charakterentwürfen des Geizigen in der europäischen Literatur gehört Molières Avare, auf den Balzacs Protagonist des Romans Eugénie Grandet zurückverweist. Ein unmittelbarer Impuls historischen Bewusstseins dürfte dazu veranlassen, die Unterschiede zu betonen, die zwischen beiden Texten bestehen, dabei spielen nicht nur Gattung und Stil eine Rolle.6 Auch die sozialhistorischen Bedingungen, im Rahmen derer das Phänomen des Geizes beschreibbar ist, verändern sich zwischen dem Ancien Régime und seinem Nie dergang nach der Revolution einschneidend. In der folgenden Versuchsanord nung sollen allerdings zunächst die Gemeinsamkeiten Beachtung finden, die sich aus dem Sujet – der Konfiguration von Raum und Figuren – bei Molière und Balzac ergeben.7 Erst das Aufzeigen vorhandener Parallelen erlaubt es, die
4 Vgl. Jochen Hörisch: Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 113–117. 5 Vgl. Balot: Greed and Injustice, S. 18 f. 6 Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen: Franke 91994, S. 437–448. 7 Damit wird die Perspektive der Studie von Daniel Fulda (Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen: Niemeyer 2005) verschoben. Hatte Fulda den Fokus in bestechender Weise auf die die dramatische Gattung der Komödie gelegt (vgl. ebd., S. 17–32), so scheint uns dies der chronologischen Festlegung auf die Vormoderne geschuldet (vgl. S. 51–57). Nach dem Aufstieg des Romans und seiner ausgiebigen Behandlung ökonomischer Themen wird man wohl von der Gattung zu den konstitutiven Elementen von Sujets zurückkommen müssen, was im Übrigen auch für die Romanliteratur der Vormoderne empfehlenswert ist. Vgl. hierzu Urs Urban: Tausch und Täuschung. Performative Kompetenz als Grundlage ökonomisch erfolgreichen Handelns im spanischen Pikaro-Roman. In:
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fundamentalen Unterschiede und den Zuwachs an Komplexität zu beschreiben. Grundlegend für den Sujetaufbau sind die untereinander interdependenten Ele mente: Geld, Liebe und Ehre. Gebunden sind diese symbolischen und affektiven Ressourcen an den Schauplatz des Hauses und seine Beaufsichtigung, sodass man im Rückgriff auf das griechische oikos von einer Ökonomie des Geizes sprechen kann. Wenn man zudem die Sujethaltigkeit von Texten mit Juri M. Lotman als die Überschreitung von Grenzen durch Figuren begreift,8 so wird man auf einer archetypischen Ebene die räumliche Anordnung, die auf den Außenrändern eines Haushaltes beruht, als eine Ordnung beschreiben, die das Eigene, auf dem Besitzanspruch lastet, vom Fremden scheidet. Dieser Grundriss ist für Narrativ formen des Geizes die überwiegende Ausprägung – noch bis zum Geldspeicher von Dagobert Duck. Grenze und Einzäunung legen den Raum fest,9 in welchem Figuren die Herrschaft über Ansehen, Affekt und Mittel ausagieren, wobei es zu häufigen Grenzüberschreitungen kommt. So bildet das Haus den Rahmen für die Guthaben von Geld, Liebe und Ehre, die ihrerseits ein System kommunizierender Röhren ausprägen. So kann eine bizarre Adhäsion ans Geld zu Ehrverlust führen, dieses kann um der Liebe willen geopfert werden etc. Das führt zur Hypothese, dass, wo Geld kulturelle Wertesysteme touchiert, unmittelbar massive Irritation – oder Komik – heraufbeschwört werden.10 Bereits in der Komödie der Frühen Neuzeit knüpfte man mit diesen Elementen die dramatischen Knoten. Esther Schomacher kommentiert entsprechend einige Theaterstücke Ariosts und konstatiert die Aktualisierung antiker Vorgaben durch die sogenannte Hausväterliteratur der Renaissance.11 Den kultur historischen Hintergrund bildet die Politik des Aristoteles, in der nicht nur zwischen der Unterhaltswirtschafts des oikos und der Vermögensmehrung des
Beatrice Schuchardt/Urs Urban (Hg.): Handel, Handlung, Verhandlung. Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien. Bielefeld: transcript 2014, S. 161–177. 8 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 41993, S. 338 f. Archetypische Grenzgänger, wären Trojanische Pferde, Einbrecher, Spione etc. 9 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Amsterdam: Michel Rey 1755, S. 95: »Le premier qui ayant enclos un terrain, s’avisa de dire, ceci est à moi, & trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.« 10 Vgl. Jan-Henrik Witthaus: Die andere Globalisierung. Weltmarkt und allegorische Ökonomien bei Calderón de la Barca und Gracián. In: Beatrice Schuchardt/Urs Urban (Hg.): Handel, Handlung, Verhandlung. Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien. Bielefeld: transcript 2014, S. 175–194, hier: S. 175–177. 11 Esther Schomacher: Haus-Ordnung. Der häusliche Raum in der Ökonomik und in der Komödie des 16. Jahrhunderts. In: Horizonte 10 (2007), S. 165–191. Vgl. Fulda: Schau-Spiele, S. 235 f.
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Hausherrn unterschieden wird.12 Darüber hinaus sieht der aristotelische Haushalt, später auch die häusliche Verwaltungslehre bei Xenophon eine Rollen- und Raumverteilung vor,13 die Entscheidungsgewalt auf Gender oder soziale Zuordnung verteilt. Der Patriarch markiert hierbei das Zentrum aller Autorität und wird als solcher in der Hausväterliteratur der Renaissance bestätigt, ja in der Komödie vorausgesetzt und karnevalesk verlacht. Dass Molière nicht nur mit der Commedia dell’arte, sondern auch mit der gelehrten Komödie des 16. Jahrhunderts vertraut war, ist bekannt.14 Aber auch die Novellistik der Frühen Neuzeit ist für die Verwendung des Hausmotivs einschlägig. So hat bspw. Miguel de Cervantes in seiner Novelle El celoso extremeño (1613) das Haus eindrucksvoll als Dispositiv zur Regulierung des erotischen Affektes in den Blick gerückt, wobei dort die Markierung und Überschreitung von Grenzen in ihren fatalen Auswirkungen kaum zu überbieten sind. María de Zayas y Sotomayor verbindet in El castigo de la miseria (1637) – ins Französische übertragen von Paul Scarron als Le châtiment de l’avarice (1656) –15 die Handlungskomponente des Liebesaffektes mit derjenigen des Geizes im Motiv des Heiratsschwindels.16 Auch hier bilden Haus und Hausstand das Grundsetting für die Ordnung von Besitzverhältnissen und ihre Überschreitung.
12 Vgl. Balot: Greed and Political Justice, S. 38–44; vgl. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 62012, S. 115–122. 13 Vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 41995, S. 194–210. 14 Vgl. Philip A. Wadsworth: Molière and the Italian Theatrical Tradition, Birmingham/Alabama: Summa Publications 1987, S. 4–9. Molières L’Avare wird hier insbesondere mit L’Aridosia (1548) von Lorenzino de Medici in Verbindung gebracht. Vgl. auch Fulda: Schau-Spiele, S. 248 f. Vgl. hinsichtlich der antiken Quellen Molières außerdem zur Komödie von Plautus: Hans-Robert Jauss: Molière, L’Avare, In: Jürgen von Stackelberg (Hg.): Das Französische Theater. Vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf: Bagel 1968, S. 290–310, und Moritz Levi: The Sources of L’Avare. In: Modern Language Notes 15/1 (1900), S. 10–14. 15 Vgl. Serrano Poncela Segundo: Casamientos engañosos (Doña María de Zayas, Scarron y un proceso de creación literaria). In: Bulletin Hispanique 64 (1962), S. 248–259. 16 Vgl. »El casamiento engañoso« in den Novelas ejemplares (1613) von Miguel de Cervantes Saavedra.
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II Molière II.1 Sittenkomödie oder wirtschaftspolitische Stellungnahme? Daniel Fulda hat unlängst in einer sehr beeindruckenden Studie die wirtschafts historischen Implikationen von Molières Avare herausgearbeitet und damit die bis dato geläufigen Lektüren – als Typensatire und Gesellschaftskritik – des Stückes überboten. Für Fulda bildet sich in dieser Komödie eine merkantilistische Kritik der monetären Akkumulation ab, durch welche das Geld dem wirtschaftlichen Umlauf und möglichen Investitionen entzogen wird. Die Gegenfigur zum Geizigen, in dem eine solche Haltung mangelnder Investitionsbereitschaft karikiert werde, bilde Anselme, der am Ende des Avare aus der Versenkung empor kommt, um durch seinen finanziellen Einsatz die dramatischen Knoten zugunsten eines glücklichen Endes aufzulösen. Dieser repräsentiere allerdings weniger einen Investor als vielmehr den absoluten Fürsten, womit die Aporien des Merkantilismus selbst aufgezeigt würden: Obwohl die Komödie »ihre Polemik gegen volkswirtschaftlich unproduktive Geldgeschäfte durch eine Thesaurierungssatire plausibilisiert, findet sie ihr Ziel im Schatz einer Königsfigur.«17 Der Monarch werde hiermit gleichsam selbst zu einer Übergangsfigur, die im Sinne Jochen Hörischs die Schwelle in der Geschichte der universalen Sinnstiftungsmedien gestaltet, nämlich diejenige von Hostie und Christentum zur Münze und modernen Marktgesellschaft.18 Für eine solche Lektüre des Dramentextes spricht zweifellos der Modellcharakter, den das Haus für die politische Ökonomie im großen Maßstab lange Zeit innehatte. Dann aber tritt hervor, dass die Analogie auf makroökonomische Zusammenhänge nur sehr entfernt hergestellt und auch nicht durchgehalten wird. Molières Stück mag nach Fulda auf eine Textintention zurückzuführen sein, die einen Kommentar zu wirtschaftspolitischen Argumenten des Abso lutismus enthält. Für uns allerdings kommt es mehr darauf an, dass im Avare die symbolische Codierung von Geiz nicht ausschließlich auf die Akkumulation von Geldmitteln abhebt, sondern in einem weiteren Verweisungszusammenhang realisiert wird, in dem symbolisches Kapital und Liebe mitinbegriffen sind. Die Komik des Avare verweist auf ein vormodernes integrales Konzept von Ökonomie,
17 Fulda: Schau-Spiele des Geldes, S. 2 87. 18 Vgl. Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 26–33
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in dem die finanziellen Aspekte nicht den einzigen Haushaltsposten ausmachen, sondern mit Ehre und Liebesaffekt in ein Verhältnis gesetzt werden müssen.
II.2 Ehre, Liebe, Geld Im Avare kann man die Komik ökonomisch zunächst als ein gestörtes Verhältnis von materiellem und symbolischem Kapital beschreiben. Hapargon ist lächerlich, weil er durch den ihn beherrschenden Affekt die Ehre seines Namens und seines Hauses aufs Spiel setzt, und dies durchaus im Horizont der Diskussion, die Ehrenbegriffen im Zeichen der überständisch konzipierten honnêteté während des 17. Jahrhunderts zu Teil wird.19 In der Textintention ist Geiz komisch, weil Hapar gon sich eignet, die ›honnêtes gens‹ zum Lachen zu bringen,20 dies wiederum setzt voraus, dass ihn sein Verhalten von den Maximen, denen seine Zeitgenossen folgen, abweichen lässt. Hierdurch entsteht eine unmittelbare Abhängigkeit zwischen Ehrhaftigkeit und Geldakkumulation. Die gegenseitige Interdependenz von Ehre und ehrloser Geldakkumulation ist gewiss keine exklusiv neuzeitliche Erscheinung, vielmehr reicht sie bis in die Antike zurück, und einflussreich sind hier Theophrasts Charaktere, die La Bruyère durch seine Übersetzung in den Rezeptionsraum der französischen Klassik befördert. Für den Zusammenhang zwischen Ehre und Geiz gibt es im Stück zahlreiche Belege, die man ernst nehmen sollte. So charakterisiert der Diener La Flèche seinen Herrn Hapargon gegenüber der Kupplerin Frosine wie folgt: »En un mot, il aime l’argent, plus que réputation, qu’honneur, et que vertu; et la vue d’un
19 Erich Auerbach: La cour et la ville. In: Ders.: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung. Bern: Franke 1951, S. 12–50; Rolf Reichardt: Der Honnête Homme zwischen höfischer und bürgerlicher Gesell schaft. Seriell-begriffsgeschichtliche Untersuchungen von Honnêteté-Traktaten des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte Bd. 69 (1987), S. 341–370. Vgl. Franziska Sick: Die inszenierte Wahrheit der Leidenschaft: Jean Racine. In: Franziska Sick/Helmut Pfeiffer (Hg.): Lüge und (Selbst-)Betrug: kulturgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit in Frankreich. Würzburg: Könighausen und Neumann 2001, S. 143–174. 20 Anspielung auf den berühmten Satz Molières aus La Critique de L’Ecole des femmes, 6. Szene: »[…] c’est une étrange entreprise que celle de faire rire les honnêtes gens.« (Molière: Œuvres complètes. Nouvelle édition. Paris: Garnier o. J. [ca. 1860], Bd. 1, S. 421) Hans-Robert Jauss (Molière) hatte in seiner Lesart des Avare die abgründige, groteske Dimension der Komik herausgearbeitet, weil sie die Distanz des Zuschauers in einem fundamental christlichen Sinne gerade unterlaufe. Angesichts der Motivtradition des Geizes allein in der Frühen Neuzeit (Jauss bezieht sich vor allem auf Plautus) halten wir es demgegenüber mit Fulda, wonach »die Störung des Sozialen verlacht« (Schau-Spiele des Geldes, S. 269) werde.
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demandeur lui donne des convulsions […].«21 Der Bezug zum Geld wird nicht nur über den Liebesaffekt hergestellt (»Il aime l’argent«), er wird mit der Tugend und der Reputation in ein komparatives Verhältnis gesetzt. Deutlicher und komischer wird das Austauschverhältnis von Ehre und Geld in einem Dialog zwischen Valère und Hapargon zu Beginn des fünften Aktes. Valère, der zum Schein eine Dienstbotenstelle angenommen hat, um sich der Tochter des Hauses anzunähern, gesteht seinem Herrn diese Machenschaft. In einem berühmt gewordenen quid pro quo bezieht Hapargon das Schuldeingeständnis jedoch auf die verschwundene Geldkassette, deren Diebstahl man Valère angelastet hat. Die Folge: Wo Valère ununterbrochen über die Tochter des Hausherrn und seine Ehre redet, versteht dieser nur Geld. Valère: Votre sang, Monsieur, n’est pas tombé dans de mauvaises mains. Je suis d’une condition à ne lui point faire de tort, et il y’a rien en tout ceci que je ne puisse bien réparer. Hapargon: C’est bien mon intention, et que tu me restitues ce que tu m’as ravi. Valère: Votre honneur, Monsieur, sera pleinement satisfait. Hapargon: Il n’est pas question d’honneur là-dedans […].22
Die Verwechselung funktioniert als Wechsel von Ehre und Geld.23 Der drama turgische Terminus technicus des quid pro quo ist also Ausdruck einer Tauschbeziehung. In seiner Fixierung auf das Geld vernachlässigt der Geizige die Ehre, die in der Annäherung des vermeintlichen Dieners an die Tochter unter dem Dach seines Hauses gefährdet ist: Das Einzige, was es aus Sicht Hapargons bei ihm zu rauben gibt, ist sein Schatz, ihm gilt alle Fürsorge, die von den übrigen Relationen: Liebe zur Tochter, Bewahrer der Hausehre etc. abgezogen wird.24 Hiermit verkehrt sich das Prinzip, dass die Wahrhaftigkeit, Ehre oder Gesinnung durch eine aufopferungsvolle Tat bekräftig werde. Die Entsagung kann somit zur Probe auf die genannten Prinzipien werden, wie das auf der Theaterbühne der Klassik ebenfalls zur Aufführung kommt – z. B. auch in Molières Le Misan thrope.25 Hapargon macht es in der Regel umgekehrt. Er bezahlt seinen Geiz mit Ehre und Ansehen.
21 Molière: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 174 [II, 4, 59]. 22 Ebda., S. 218 f. [V, 3, 123]. 23 Diese Szene wird von Plautus übernommen. Die These von Jauss (Molière: L’Avare, S. 306) besagt, dass sich das Missverständnis bei Molière zur allgemeinen Disposition sprachlichen Nichtverstehens auswächst. 24 Vgl. Hartmut Stenzel: Molières ›Avare‹ oder: Geld und Liebe im 17. Jahrhundert. In: Molière: L’Avare. Stuttgart: Reclam 1984, S. 205–269, hier: S. 260. 25 Vgl. Sick: Die inszenierte Wahrheit der Leidenschaft.
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Es liegt nicht fern, in der Lächerlichkeit Hapargons die adelige »Verachtung für die bürgerliche Übung, Heiraten stets auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite zu kalkulieren«,26 zu sehen, dies allerdings immer im Kontext eines überständischen Verhaltensideals der honnêteté, über das sehr verschiedenartig befunden wird und das im Sinne einer »Übergangssemantik« einen dynamischen Ausgangspunkt für die Kommentare von Verhaltensformen, von Varianten und Devianzen bildet,27 aber damit natürlich auch in seinen Extremformen selbst zum Gegenstand der Kritik werden kann.28 Das Geld verleiht der Ständegesellschaft nicht allein durch Ämterkauf eine beträchtliche Dynamik. Die Verbindung von reichen Bürgertöchtern mit verarmten Adelsnachkommen wird innerhalb des Allianzdispositivs des Ancien Régime zu einem zusätzlichen Mobilitätspotenzial, wenn man unter Allianzpositiv mit Foucault »ein System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und Güter« versteht.29 Wurden in einem solchen System symbolische und materielle Güter (selten Zuneigung oder Liebesaffekt) miteinander vermittelt, so favorisiert Hapargon als Antagonist der gefühlsmäßigen Neigungen seiner Kinder das vorteilhafte Heiraten.30 Für seinen Sohn Cléante, der in das scheinbar arme Mädchen Mariane verliebt ist, sieht er eine alte Witwe vor, die ein einträgliches Erbe mit in die Ehe bringen soll. Hapargons Tochter Élise soll dem wohlhabenden Anselme zugeführt werden. Die Undurchlässigkeit der häuslichen Grenzen wurde unterdessen schon längst dadurch gefährdet, dass sich Valère wie ein trojanisches Pferd bei Hapargon eingeschlichen hat, um Élise näherzukommen. Die Verbindungen, die der Liebesaffekt herstellt, gestalten erst die dramatische Intrige des Geizigen dadurch, dass sie dem Geldinteresse, also Hapargons Haushaltung zuwider laufen. Im historischen Kontext müssen Geld und Liebe einander keineswegs wider sprechen. Allerdings unterscheidet die Epoche zwischen Heirat und Liebe und mit ein reichhal tiges Span nungsfeld, das wiederum genügend eröffnet hier Potential für die Knüpfung dramatischer Knoten hervorbringt. »Und die Option
26 Fulda: Schau-Spiele des Geldes, S. 274. 27 Vgl. Roland Galle: Honneteté und sincerité. In: Fritz Nies/Karlheinz Stierle (Hg.): Französische Klassik. Theater – Literatur – Malerei, München: München 1985, S. 33–60. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 83 f. 28 Vgl. C. A. Mayer: L’Honnête homme. Molière and Philipbert de Vienne’s Philosophe de Court. In: The Modern Language Review 46 (1951), S. 196–217. 29 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 128. 30 Vgl. Stenzel: »Molières ›Avare‹, S. 260.
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für ›Liebe‹ paßt glänzend zu den gesellschaftlichen Kontextbedingungen, ist das Liebesideal, das Cléante und Mariane, Élise und Valére propagieren, doch Teil des Selbtsverständnisses der honnêtes gens.«31 So gefährdet Affektabfuhr sowohl die Ehre als auch die Geldreserven. Aber anders als bspw. in Cervantes› Celoso extremeño wird durch die affektiven Verbin dungen über die Hausgrenzen hinweg der Ehrverlust sekundär. Nehmen wir Cléantes: Er ist jung und braucht das Geld. Er will Schulden aufnehmen, zunächst um der geliebten Mariane und ihrer Mutter unter die Arme zu greifen, sodann aber um für sich und Mariane eine Existenzgrundlage zu schaffen. Er sagt: »[…] le bien n’est pas considérable, lorsqu’il est question d’épouser une honnête personne.«32 Es stellt sich heraus, dass der über einen Mittelsmann anonym hergestellte Kredit von seinem Vater gegeben werden soll, was letztlich auffliegt und die beiden Blutsverwandten das erste Mal komisch aneinander geraten lässt. Genauer ließe sich darüber hinaus auch zeigen, dass der Konflikt zwischen Liebesaffekt und Geiz in der Figur Hapargon selbst mitthematisiert wird, dass mithin Molière diese Figur gar nicht so eindimensional angelegt hat. Aber bei aller Faszination an der jungen Mariane, um die er mit seinem Sohn konkurriert, wird doch bei der Charakterzeichnung des Alten nie aus den Augen verlorenen, dass er am Ende das Geld mehr liebt als alles andere. Sonst hätte Molière wohl ein anderes Stück geschrieben. Die ökonomische Triade mit den Elementen Ehre und Liebe wird allerdings erst durch das Geld komplettiert. Die Eckpunkte dieses Dreiecks schließen einander nicht aus, sie spannen jedoch den dramatischen Raum der Intrige auf. Und weil die Komödie eine gemeinverträgliche Auflösung des Knotens erfordert, wird im Avare die Spannung dieser unterschiedlichen Haushaltsposten durch eine finale Transaktion harmonisiert. Die Verbindung der Kinder mit denen des neapolitanischen Adeligen, als welcher sich Anselme entpuppt, versöhnt alle Beteiligten nicht zuletzt durch die vermögenswirksamen Vorteile der Allianzen, sondern vor allem auch durch einen Zugewinn an symbolischem Kapital: an Ehre. Bevor der Vorhang fällt, sind damit die wesentlichen Schulden beglichen. Damit können die heimischen Gemäuer als symbolisches Zentrum des Abflusses und Zuflusses von Geld, Ehre und Affekt aufgefasst werden.
31 Fulda: Schau-Spiele des Geldes, S. 274. 32 Molière: Œuvres complètes, S. 158 [I, 5].
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III Übergang Für die Modernisierung der traditionellen europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen gibt es komfortables Angebot an Narrativen, die an dieser Stelle nicht adäquat wiederholt werden können: Protestantismus und okzidentaler Rationalismus (Max Weber), Transformation des Interesses zu einem Begriff des Wirtschaftens (Albert Hirschman), die funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaften (Niklas Luhmann) etc. Anstelle einer Reproduktion dieser großen Erzählungen könnte es sehr viel konkreter und vielleicht auch vielversprechender sein, ideen- und sozialgeschichtliche Umgruppierungen am Leitfaden kleinerer Narrative des Geizes genauer in den Blick zu nehmen.33 Allerdings kann auch das hier letztlich nicht geleistet werden. Wohl lassen sich einige Hinweise geben. So fällt auf, dass bspw. Diderots und d’Alemberts Encyclopédie den Geiz sehr viel nüchterner als pathologische Verwechselung von Zweck und Mitteln beschreibt: »L’avare, à proprement parler, est celui qui, pervertissant l’usage de l’argent, destiné à procurer les nécessités de la vie, aime mieux se les refuser, que d’altérer ou ne pas grossir un thresor qu’il laisse inutile.« Die wirtschaftlich unabdingbare Funktion des Geldes wird mitnichten verschwiegen: »L’or ou l’argent étant, en conséquence d’une convention générale, la clé du commerce & l’instrument de nos besoins; il n’est pas plus criminel d’en desirer, que de souhaiter les choses mêmes qu’on acquiert avec ces métaux.«34 In diesem Sinne gerät auch die Ökonomie auf der Theaterbühne in bürgerliche, ernsthafte Zusammenhänge.35 Aufschlussreicher noch ist ein Passus bei Voltaire, den man bei Hans Blumenberg findet und der die Psychologie des Geizigen auf eine neue Weise beschreibt: »Il n’y a point d’avare qui ne compte faire un jour une belle dépense: la mort vient et fait exécuter ses desseins par un héritier.«36 Tatsächlich gibt es wenig Hinweise darauf, dass Hapargon in einem ultimativen, für ihn nahezu apokalyptischen
33 Vgl. zur Skizze einer Rezeptionsgeschichte von Molières Avare im 18. Jh. und darüber hinaus: Jauss: Molière, S. 292. 34 Denis Diderot/Jean le Rond d’Alembert: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 1. Paris: Briasson u. a. 1752, S. 862. 35 Vgl. Mary Wunderlich: Die zeitgenössische Rezeption des genre sérieux im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Diss. Kassel 2017, S. 86–94; Christian v. Tschilschke: María Rosa Galvez’ Komödie La familia a la moda (1805): Paradigma für eine neue Ökonomie des Theaters? In: Beatrice Schuchardt/Urs Urban (Hg.): Handel, Handlung, Verhandlung. Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien. Bielefeld: transcript 2014, S. 2 83–303. 36 Aus den Notizbüchern von Voltaire zitiert nach Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Herausgegeben von Manfred Sommer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 604.
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Tausch einen Gegenwert oder die Erfüllung eines unaussprechlichen Wunsches erwarte. Voltaire gibt dem Geiz damit eine Richtung, die auf das Ansammeln von Vermögen hindeutet, in dem Sinne, den wir dann noch in Georg Simmels Philosophie des Geldes finden: nämlich verstanden als Macht in der Bandbreite der möglichen Tauschoptionen, ein »Astralleib, der sich über seinen konkreten Umfang hinausstreckt […].«37 Und da lässt sich mit Blumenberg hinsichtlich des Geizes festhalten, »daß ein Geld nichts wert ist, für das man nicht alles haben kann.«38 In diesem Sinne wird man behaupten dürfen, dass Balzacs Comédie humaine ein Epos der Moderne ist, weil es das unerschöpfliche Potential der Finanzmacht auslotet, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu destabilisieren, zu subvertieren oder zu zerstören. Letztlich handelt es sich um jene chaotische Welt, in der nach Rainer Warning »›vertu‹ und ›fortune‹ identisch geworden sind.«39 Es ist das Geld, welches Paris bewegt und die Machtverhältnisse umschichtet. Figuren wie der Geldverleiher Gobseck oder der Bankier Baron von Nucingen40 bilden im Geflecht der Comédie humaine ein zentrales Aktionspotenzial. Den wirtschaft lichen Hintergrund der Epoche hat Alexandre Peraud prägnant zusammengefasst: La Comédie humaine s’écrit à mesure que se déploient les mécanismes capitalistes modernes industriels et financiers, période de fort dynamisme économique où commencent à se développer les canaux, les chemins de fer et où la Haute-Banque connaît une croissance sans précédent. Mais en cette période de diffusion de la théorie économique classique, la loi de l’argent, faute de garde-fous réglementaires, s’impose avec son cortège d’iniquités et de scandales : absence de protection sociale, insécurité monétaire, collisions entre l’État et la haute finance sont facteurs d’instabilité économique.41
Im Einleitungsteil von La fille aux yeux d’or nehmen diese Zusammenhänge bedrohliche Gestalt an, wo Paris als infernaler Ofen metaphorisiert wird, in wel chem ständig zwei Dinge den Antrieb bilden und der urbanen Gesellschaft den
37 Georg Simmel: Philosophie des Geldes [Kap. 3, 1]. In: Ders.: Philosophische Kultur. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2008, S. 437. 38 Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 604. 39 Rainer Warning: Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comédie Humaine. In: Ders: Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999, S. 35–76, hier: S. 47. 40 Vgl. Jean-Hervé Donnard: La vie économique et les classes sociales dans l’œuvre de Balzac. Paris: Université de Paris 1961, S. 305–325. 41 Alexandre Peraud: Introduction. In: Ders. (Hg.), La Comédie (in)humaine de l’argent, Lormont: Le Bord de l’eau éditions 2013, S. 11–28, hier S. 13. Vgl. zu Balzac als ›Romancier des Geldes‹ Alexandre Peraud: Le Crédit dans la poétique balzacienne. Paris: Classiques Garnier 2012.
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Atem halten: Gold und Vergnügen. Nun läuft dieses Stadtporträt nicht nur unter einem ökonomischen,42 sondern ebenso weltanschaulichen Thema. Wie Thomas Stöber beschrieben hat, werden diese ökonomische Verhältnisse mit einer vitalistischen Urenergie, also Lebensenergie, in Verbindung gebracht, die die sozialen Sphären durchläuft, zum Kochen bringt sowie Konflikte, Affekte und Veraus gabung zeitigt, ohne dabei selbst als ewiges soziales Bewegungsprinzip je zu erlöschen.43 Geradezu emblematisch für die Überblendung von Ökonomie und Vitalismus ist der Protagonist von La peau de chagrin: Raphaël.44 Der Geiz erweist sich demnach als ein unzeitgemäßes Anhalten des pausenlosen energetischen Umlaufes, durch den Geld in Luxus und Luxus wieder in Begehren konvertiert wird. Wucher oder Geiz wird in einem solchen Kontext dann – wie Adorno schrieb – zu einer »Narretei«, zu einem »vorkapitalistische[n] Rudiment im Herzen des Freibeuters der Zirkulation.«45 Man könnte es aber auch anders sehen: Bei Balzac ist der Geiz zur Gier geworden. So heißt es in Eugénie Grandet: Les avares ne croient point à une vie à venir, le présent est tout pour eux. Cette réflexion jette une horrible clarté sur l’époque actuelle, où, plus qu’en aucun autre temps, l’argent domine les lois, la politique et les mœurs. […] Arriver per fas et nefas au paradis terrestre du luxe et des jouissances vaniteuses, pétrifier son cœur et se macérer le corps en vue de possessions passagères, comme on soufrait jadis le martyre de la vie en vue de biens éternels, est la pensée générale.46
Wie schon bei Voltaire so ist der Geiz auch hier ein Wechsel auf die künftige »belle dépense«, die gar als ›das irdische Paradies‹ in Aussicht gestellt wird und bei Balzac die Säkularisierung der modernen Welt zum Ausdruck bringt. Die gegenseitige Durchdringung von Leben und Finanzen diesseits des Todes deutet jedoch ebenso auf den Geiz als die Ansammlung von Zahlungs- und Macht-
42 Vgl. Patrice Baubeau: Un modèle économique chez Balzac? Une relecture de La Fille aux yeux d’or. In: Alexandre Peraud (Hg.): La Comédie (in)humaine de l’argent. Lormont: Le Bord de l’eau éditions 2013, S. 95–128. 43 Vgl. Thomas Stöber: Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola. Tübingen: Narr 2006, S. 57 f. 44 Vgl. ebda., S. 62–67. 45 Theodor W. Adorno, Balzac-Lektüre. In: Ders., Noten zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 5 1991, S. 139–157, hier: S. 149. Dass die ökonomische Vernunft bedroht werden kann durch die Narretei im Liebesaffekt, zeigt sich anhand des Baron von Nucingen und seiner Leidenschaft für Esther in Splendeurs et misères des courtisanes. 46 Honoré de Balzac: Eugénie Grandet. Herausgegeben von Pierre-George Castex. Paris: Garnier 1965, S. 120 f.
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reserven, die nur sekundär als das Ergebnis von Charakteren oder Verhaltens weisen betrachtet werden, sondern durch die primär die Zirkulation des Geldes in einer Figur nur angehalten wird, um dann im weiteren Verlauf durch Erbschaft an andere Akteure weitergegeben zu werden, was in der Comédie humaine häufig zu beobachten ist. Mit Voltaire gesagt: Wir wissen zwar nicht genau, was die aufgesparte »belle dépense« eines Gosbeck oder Grandet sein soll, wir wissen aber, in welche Hände ihr Besitz qua Erbschaft nach dem Ableben kommt und was mit ihm geschieht oder hätte geschehen können.
IV Eugénie Grandet Mit Blick auf den Avare von Molière finden sich hinsichtlich der Sujetbildung in Eugénie Grandet einige Gemeinsamkeiten. Félix Grandet, dessen durch die Revolution begünstigtes Geschick sich in seinen sprechenden Vornamen eingelassen hat, sieht sich als steinreicher Besitzer äußerst ertragreicher Ländereien und verborgener Barschaften von unermesslichen Ausmaßen. Mit der Gattin, die einen beträchtlichen Teil des Vermögens mit in die Ehe eingebracht hat, und der Tochter Eugénie fristet er jedoch seine nach außen hin bescheidene Existenz in der kleinen Ortschaft Saumur. Das Vermögen Grandets kommt vielfältig zustande, unter anderem durch den im Zuge der postrevolutionären Umverteilung lukrativen Erwerb von Grundbesitz und durch spätere Erbschaften. Sodann beteiligt er sich nach einem einträglichen Ernteverkauf an Spekulationen auf Staatsanleihen.47 Parallel zu den erwähnten finanziellen Expansionen Grandets wird von der emotionalen Reifung seiner Tochter berichtet. In den geschlossenen Provinzzusammenhang bricht Grandets Pariser Neffe Charles ein. Sein finanziell ruinierter Vater Guillaume – ein in Paris ansässiger Weingroßhändler – hat ihn zum Onkel geschickt, um seinen Suizid ins Werk zu setzen. Eugénie verliebt sich in Charles. Noch bevor der alte Grandet den Neffen in die indischen Kolonien abschieben kann, überlässt Eugénie ihm die von ihrem Vater sukzessiv erhaltene Sammlung von Goldmünzen – ihre Mitgift – als zinslosen Kredit. Als der Hausherr dahinterkommt, rast er vor Wut. Im Konflikt zwischen Vater und Tochter, erkrankt die gesundheitlich debile Ehefrau und stirbt. Schließlich, nach Grandets Ableben,
47 Vgl. zum Aufstieg Grandets Laurence Fontaine: Félix Grandet ou l’impossible rencontre de l’avare et du spéculateur. In: Alexandre Peraud (Hg.): La Comédie (in)humaine de l’argent, Lormont: Le Bord de l’eau éditions 2013, S. 29–52, hier: S. 29 f. Vgl. Pierre-Georges Castex: Horizons Romantiques, Paris: José Corti 1983, S. 111–125.
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verfügt Eugénie über ein märchenhaftes Vermögen. Als der zurückgekehrte und inzwischen moralisch depra vierte Cousin sie – wohl ge merkt in Un kenntnis ihrer Besitzstände – zurückweist, heiratet sie den ortsansässigen Prätendenten Cruchot, der alsbald ebenso das Zeitliche segnet. Im Handlungsüberblick deutet sich schon an, dass das Gefüge des dreigliedrigen Haushaltsmodells, in dem zuvor die Handlung des Geizes sinnfällig wurde, in Eugénie Grandet zwar zitiert wird, sich aber letztlich auflöst. Erstens lässt sich eine Verschiebung anhand des Verhältnisses zwischen Geld und dem symbolischen Kapital der Ehre aufzeigen, die schon Norbert Elias beschrieben hat.48 Diese Verschiebung von aristokratischen zu bürgerlichen Gesellschaftsformen spielte bereits in die Komik von Molières Avare hinein. In Kontinuität hierzu verläuft in Eugénie Grandet das traditionelle Spannungsverhältnis darin, dass bspw. Grandet in einer Romanepisode gegen die Handelsabsprache ortsansässiger Weinhändler seinen eigenen Wein an die nachfragenden Holländer und Belgier verkauft und damit seine Ehre im Dorf verspielt.49 Tatsächlich jedoch verhält es sich komplizierter: Das Geld ist längst schon mit der Ehre vermengt. Allein das sagenhafte Vermögen Grandets verleiht ihm einen quasi adeligen Status innerhalb der postrevolutionären Gesellschaft. Auf Steuerlisten hoch veranlagt, steigt der soziale Rang der Individuen.50 Eklatanter noch lässt sich im Roman das Eindringen des Geldes in die Funktionskreise der Ehre daran erkennen, dass der Bankrott des Pariser Bruders, ohne ordnungsgemäße Liquidation der Schulden als unehrenhaft angesehen wird. Der Selbstmord erklärt sich vor allem aus dem fundamentalen Ehrverlust des zahlungsunfähigen Großweinhändlers. Die Literatur des 19. Jh. ist voll von derlei Bankrottgeschichten.51 »Faire faillite« – so sagt Grandet – »c’est commettre l’action la plus déshonorante entre toutes celles qui peuvent déshonorer l’homme.«52 Sodann, in dem Moment, in dem er zum Schein die Liquidation der hinterlassenen Verbindlichkeiten seines Bruders an die große Glocke hängt, schickt er sich an, seine verlorene Reputation in der Dorfgemeinschaft wiederherzustellen.
48 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchung zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 71994, S. 423. 49 Dies verstößt auch gegen das mittelalterliche Ideal ›des ehrbaren Kaufmanns‹, das allerdings seit dem klassischen Liberalismus und der Nobilitierung des Eigeninteresses mit Skepsis behandelt wird. 50 Vgl. Pierre Georges Castex: Introduction. In: Honoré de Balzac, Eugénie Grandet, S. L. 51 Vgl. z. B. den Fall des Reeders Morrel in Alexandre Dumas’ Le comte de Monte-Christo (1844– 46). Edmond Dantès ist selbstredend eine weitere literarische Figur, anhand derer das Aktionspotential unermesslichen Vermögens legendär geworden ist. 52 Balzac: Eugénie Grandet, S. 110.
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Der Bankier des Grassins zeigt sich gänzlich begeistert von diesem noblen Ansinnen: Grandet a de l’honneur jusqu’au bout de cheveux, et ne souffrira pas que son nom reçoive la plus légère atteinte! L’argent sans l’honneur est une maladie. Il y a de l’honneur dans nos provinces! Cela est bien, très bien, Grandet. Je suis un vieux militaire, je ne sais pas déguiser ma pensée; je la dis rudement: cela est, mille tonnerres! sublime.53
Vorderhand scheint hier noch einmal Molières dramatischer Konflikt dargelegt zu sein, wenn des Grassins sentenziös verlauten lässt, dass Geld ohne Ehre eine Krankheit sei. Deutlich wird jedoch auch, dass diese Rede als altmodisch markiert wird, erstens in der Selbstcharakterisierung »vieux militaire« und zweitens in der Sentenz selbst, die aus der französischen Klassik stammt, nämlich einem Theaterstück Racines entliehen ist.54 Grandet hat natürlich anderes im Sinn, als die Familienehre wiederherzustellen. Ohne selbst auch nur einen Sou zu bezahlen, verwickelt er die Geldgeber in ein Spiel des Aufschubs und der Ver tröstungen. Die Herstellung der Reputation des Hauses wird Eugénie vorbehalten bleiben. Im Weltbild Grandets indes fungiert umgekehrt das Geld als Letztbegründung der Ehre. Damit wird die Sentenz Racines verkehrt: nicht das Geld ist wertlos ohne Ehre, in der Welt Balzacs hat die Ehre ohne Geld kein soziales Regulationspotenzial mehr inne. War Geldmangel zuvor überwiegend deswegen ein Problem, weil die standesgemäße Repräsentation nicht aufrechterhalten bleiben konnte,55 ist eine solche Motivationsstruktur in Eugénie Grandet nur zweitrangig. Wie der Ehre, so ergeht es auch der Liebe. Schon bei Molière war der Liebesaffekt nicht mehr im Sinne traditioneller Liebessemantik negativ besetzt, sondern hatte bereits an einer Positivierung Teil, die im Wandel der sozialen Umgangsformen möglich wurde. Ohne an dieser Stelle diese Übergänge zur Moderne hinreichend darstellen zu können, sei mit Blick auf das 19. Jahrhundert und vor allem auf Balzac gesagt, dass die Liebe angesichts ihrer Aufwertung im Sinne der Romantik durch vitalistische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts in den unterschiedlichen Entäußerungsformen einer allgemeinen und epistemologisch vorausgesetzten Lebenskraft eingesenkt wird. In diesem Sinn hat Wolfgang Matzat den diskursiven Hintergrund der Leidenschaften bei Balzac prägnant zusammengefasst:
53 Ebda., S. 142. 54 Jean Racine: Les plaideurs (1668), I, 1. 55 Vgl. etwa die von Elias analysierte Rolle des Hausintendanten in Die höfische Gesellschaft, S. 420 f.
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Bei Balzac wird die Leidenschaft nun ausschließlich als Manifestation der primären Vitalkraft bestimmt. In den psychischen Kräften ›passion‹, ›pensée‹ und ›volonté‹ – Begriffe, die Balzac weitgehend synonym verwendet – sieht er konzentrierte Manifestationen des energetischen Lebensprinzips.56
Die Leidenschaft ist eine Bewegungskraft, die in unterschiedlichen Gestalten Form annehmen kann. Nicht nur die Varianten des Eros fallen darunter, sondern auch »völlig ichbezogene Leidenschaften wie wissenschaftlicher Ehrgeiz, Machtstreben, Habsucht oder die Besessenheit des Sammlers.«57 Sind die Leidenschaften der Menschen als Varianten einer zugrundeliegenden Vitalkraft beschrieben, kann deutlich werden, dass das Geld im internen Romankontext der Comédie humaine ein transversales Medium darstellt, über welches die Lebenskraft und der soziale Kampf um Macht und Genuss in den vielfältigen sozialen Bereichen prozessiert und in konkrete Leidenschaften konvertiert wird. So kann man im Vorlauf von La fille aux yeux d’or eine Interpretation dessen nachlesen, was aus dem Allianzdispositiv der Vormoderne im Paris der Comédie humaine geworden ist: Ein ubiquitäres Aufstiegsbegehren, in dem Familiennamen, Mitgiften, Kulturkapital und sexuelles Begehren zirkulieren.58 In dieser Welt sind Genuss, Ansehen, vor allem aber das Geld der entscheidende Treibstoff. Für die Liebe bedeutet das, dass sie vom Geld weitreichend ›kolonia lisiert‹ wird und dass sie, wo sie noch in Opposition zur Ökonomie die Figuren bezirzt, im quasiästhetischen Status des Vergangenen betrachtet wird. In der Regel jedoch laufen Liebe und Luxus aufeinander zu.59 Scheinbar spricht allerdings dagegen, dass die Liebe der Protagonistin Eugénie und ihre Opferbereitschaft im Roman eine regelrechte Heroisierung finden. Die Aufrichtigkeit und Entschiedenheit der Zuneigung Eugénies für ihren Cousin Charles ist zwar nicht ohne jegliche ironische Brechung, aber der Erzähler findet bei mehreren Gelegenheiten salbungsvolle Worte, um diese in der weiblichen Hauptfigur personifizierte Übereinkunft von Liebe und christlicher Tugend als Grundanständigkeit einer alten sozialen Welt zu loben. Diese Liebe zwischen Charles und Eugénie ist allerdings gleichsam als vorübergehende Idylle im kulturell verspäteten Raum der Provinz markiert – auch das Ende lässt sich so deuten.
56 Wolfgang Matzat: Diskursgeschichte der Leidenschaft: Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac. Tübingen: Narr 1990, S. 187. Vgl. Stöber: Vitalistische Energetik, S. 51–56. 57 Ebda., S. 187 f. 58 Vgl. Baubeau: Un modèle économique chez Balzac? 59 Vgl. hierzu auch Wolfgang Pohrt: Liebe und Geld bei Balzac. In: Ders.: Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Pamphlete und Essays. Berlin: Rotbuch 1982, S. 7–16.
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Erinnern wir uns, dass im Avare der Liebesaffekt pausenlos droht, Kosten zu verursachen, sei es dadurch, dass Cléante sich verschulden möchte, sei es, dass er letztlich über seinen Diener La Flèche die Geldkassette in seinen Besitz bringt. In Eugénie Grandet wird diese Konstellation, wenn auch in abgewandelter Form, wieder aufgegriffen, und zwar durch die Münzsammlung, die Eugénie ihrem Cousin als zinslosen Kredit weitergibt: »En entendant le cri d’un noble désespoir, Charles laissa tomber des larmes sur les mains de sa cousine, qu’il saisit afin de l›empêcher de s’agenouiller. En recevant ces larmes chaudes, Eugénie sauta sur la bourse, la lui versa sur la table.«60 Mit der Hingabe ihres Vermögens erhält Eugénie die Zuneigung ihres Cousins in der liquiden Naturalie der Tränen. Wenn man die finale Gutmachung Eugénies hinzunimmt, mit der sie Charles’ monumentale Verbindlichkeiten tilgt, so mag man dies als nicht zu veräußernde Gabe im Sinne Batailles beschreiben.61 Indes in jenem Augenblick des Romans, den wir hier zitierten, handelt es sich eher um die Deckung von Zahlungsmitteln durch Gefühl und damit um die semiotische Konvertierbarkeit von Geld in Tränen, unter Aufopferung der Mitgift. Mit anderen Worten: Das Gefühl wird im Geld ausdrückbar, dabei muss allerdings der Wert dieses Geldes der Zirkulation vorübergehend entzogen und in die subjektive Erlebenswelt des Imaginären zurückgeholt werden. Es wäre prosaisch gewesen, wenn Eugénie ihrem Cousin eine Handvoll Staatspapiere in die Hand gedrückt hätte. Die Münzen sind aber auch nicht nur einfach Gold. Sie werden deshalb zum eminenten Zeichen des Gefühls, weil sie zuvor das eminente Zeichen der Beziehung zwischen Eugénie und ihrem Vater sind. So durchzieht das Geld die sozialen Welten von Ehre und Liebe. Das Geld selbst allerdings differenziert sich aus. War im Geizigen von Molière der Schatz zwar handlungsauslösend, aber letztlich eine abstrakte Größe, so gibt es in Balzacs Roman unterschiedliche Tauschmittel, darüber hinaus allerdings nur noch Reminiszenzen des Schatzmythos, die in der alten Münzsammlung evoziert werden. Im Allgemeinen stehen sowohl die Goldtaler als auch der Kontor des Alten im Verweisungszusammenhang einer finanziellen Komplexität, innerhalb derer der Goldpreis steigt oder fällt und in dem sich Zahlungs- und Verdienst möglichkeiten in anderen Dimensionen auftun. Félix Grandet befindet sich dabei nicht nur in der Rolle des Geldverleihers wie Hapargon, sondern in der Rolle des Spekulanten, der bei einer günstigen Preisentwicklung sein Gold verkauft, um mit dem Erlös Rentenpapiere in seinen Besitz zu bringen – »Un avare se dessaisir
60 Balzac: Eugénie Grandet, S. 151. 61 Vgl. Gisela Ecker: ›Giftige‹ Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur. München: Fink 2008, S. 93–113.
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de son or! Il faut que la spéculation présente d’exceptionelles garanties et d’énormes avantage.«62 Zwar tauscht Grandet die Staatsanleihen zu einem günstigen Zeitpunkt wieder gegen Gold ein, das er dann nach Saumur zurückverfrachtet. Wenn nun damit das Haus einerseits ein Ruhepol zirkulierender Güter zu sein scheint, in dem die Zahlungsmedien in Gold verwandelt werden, verdeutlicht sich andererseits, dass es in einem größeren, annähernd globalen Kontext steht, in dem der mythische Stellenwert des auf dem Anwesen vergrabenen Schatzes (Molière) verabschiedet wird. Die Rückverwandlung in Gold wirkt bei Grandet lediglich wie eine vorübergehende Stockung im Fluss der Finanzen, in der das alte Motiv des Geizes anklingt.63 Bei Grandets Spekulationsgeschäften spielen die Staatsanleihen eine exponierte Rolle. Heinrich Heine hat die Beweglichkeit von Grundbesitz, die u. a. durch die umgreifende Einführung staatlicher Wertpapiere befördert wird, eindrucksvoll in Worte gefasst: »Da kam Rothschild, und zerstörte die Oberherrschaft des Bodens, indem er das Staatspapierensystem zur höchsten Macht emporhob, dadurch die großen Besitztümer und Einkünfte mobilisierte, und gleichsam das Geld mit den ehemaligen Vorrechten des Bodens belehnte.«64 Man mag mit Rothschild den Baron von Nucingen in Verbindung bringen,65 allerdings spürt man auch in den Transaktionen Grandets die finanzielle Dynamik einer ande ren Epoche, ist dieser doch Nutznießer nicht nur der politischen, sondern der wirtschaftlichen Revolution, die Heine beschreibt. Die Immobilie wird mobil und der Grundbesitz, dessen sinnliche und vor allem literarische Erscheinung das Haus war, verschwindet als Bühne des Ökonomischen. Erst vor einem solchen Panorama möglicher Finanzmittel profiliert sich im narrativen Arrangement der Erzählung ein sentimentalischer Umgang mit überkommenden Zahlungsmitteln aus Edelmetall. Allein Eugénies Münzsammlung bringt die semiotische Energie auf, Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Indizieren lässt sich dies in der durch die Erzählinstanz erfolgende Inventarisierung
62 Donnard: La vie économique, S. 300. Vgl. Laurence Fontaine: Félix Grandet ou l’impossible rencontre de l’avare et du spéculateur. In: Alexandre Peraud (Hg.): La Comédie (in)humaine de l’argent. Lormont: Le Bord de l’eau éditions 2013, S. 29–52. 63 Hierzu passen in der Figurenzeichnung auch seine Wortknappheit und sein Stottern. Vgl. hierzu: Philippe Dufort: Les avatares du langage dans ›Eugénie Grandet‹. In: L’Année balzacienne (1995), S. 39–61. 64 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Herausgegeben von Klaus Briegler. Bd. 7. München: Hanser 1976, S. 29 f. Vgl. zum Bankhaus Rothschild: Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes. Die Währung der Geschichte. Berlin: Econ 32009, S. 72–84. 65 Vgl. Donnard: La vie économique, S. 307.
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der Goldmünzen: ihre Herkunft, ihr Wert etc. –66 eine kleine Numismatik der Nostalgie. Dieser unvermutete Exkurs legt den Akzent auf die Münzen als Objekte, die durch ihre Aufzählung aus der finanziellen Zirkulation einen Moment lang herausgenommen werden: […] vingt portugaises encore neuves, frappées sous le règne de Jean V, en 1725, valant réellement au change cinq lisbonines ou chacune cent soixante-huit francs soixante-quatre centimes, lui disait son père, mais dont la valeur conventionnelle était de cent quatre-vingts francs, attendu la rareté, la beauté desdites pièces qui reluisaient comme des soleils.67
Das Alter der Münzen und ihre Verbindung zu alten Königreichen verweisen auf die vorrevolutionäre Ständegesellschaft und ihre soziale Übersichtlichkeit, die mit ihren Zahlungsmitteln noch einmal verklärend evoziert wird: die Deckung durch das Edelmetall, die eingeprägten Könige als Garanten für den Wert des Geldes etc.
V Schluss In Eugénie Grandet ist der Geiz keine bloße Leidenschaft mehr, die sich in der Störung eines integral gedachten Haushaltsmodells ereignet und die Geldgier mit der Reputation oder der Liebespolitik der Akteure wie in einem System kommu nizierender Röhren in Verbindung hält. In einer Epoche aufkommender Sparkassen ist er auch nicht notwendig mit einer krankhaften Sparsamkeit assoziiert, die ja lange Zeit zur Komik dieser Motivik beitrug.68 In der Welt der Comédie humaine ist der Geiz immer auch Gier und mit jeglichen Begehrensstrukturen amalgamiert. Transversal und in unterschiedlichen Formen durchzieht das Geld das gesamte Panorama menschlicher Leidenschaften, vor allem aber bedeutet es in einem vor marxistischen Sinne – Balzac hat die Begriffe Industrie und Arbeit im modernen Sinn noch nicht im Blick –69 Aktionspotenzial und Macht. Als solches wird es im mythisch aufgeladenen Gemeinbegriff des Goldes bezeichnet.70
66 Vgl. Ecker: ›Giftige‹ Gaben, S. 102. 67 Balzac: Eugénie Grandet, S. 157. 68 Vgl. Carole Christen: Qu’est-ce qu’épargner veut dire? Par-delà les poncifs de l’avarice Bal zacienne. In: Alexandre Peraud (Hg.): La Comédie (in)humaine de l’argent. Lormont: Le Bord de l’eau éditions 2013, S. 53–75. 69 Vgl. Pierre Barbéris: Mythes Balzaciens. Paris: Armand Colin 1972, S. 138, und Patrice Baubeau: Un modèle économique chez Balzac?, S. 107 f. 70 So in der Einleitung von La fille aux yeux d’or oder in Gobseck.
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Das Haus als Modell makroökonomischer Zusammenhänge hatte bereits Rousseau in der Encyclopédie verabschiedet, als er schrieb: »[…] il y aura toûjours une extrême différence entre le gouvernement domestique, où le père peut tout voir par lui-même, & et le gouvernement civil, où le chef ne voit presque rien que par les yeux d’autrui.«71 Balzacs Roman verdeutlicht, welche Zusammenhänge der alte Grandet im Blick haben muss, um erfolgreich in die eigene Tasche zu wirtschaften. Der Wille zu realistischer Beschreibung im Roman spielt dem Haus eine scheinbar viel größere Bedeutung zu, als dies in einem Theaterstück des 17. Jahrhunderts qua Bühnenanweisung oder Figurenrede auch nur entfernt denkbar ist. Aber dies täuscht: Bei Molière noch aristotelische Ortseinheit und raumgebend, wird es bei Balzac zum bloßen Residuum einer Hauswirtschaft im großen ökonomischen Ganzen: Das materiell vorhandene Geld verflüssigt sich und geht in eine Zirkulation von Papierformat ein, dabei wird es zwar in Grandets quasi-alchemistischen Laboratorium materialisiert,72 aber das Geschick Grandets besteht gerade in seiner Diversifizierung der Geschäfte, was ihm Einfluss und Macht überhaupt erst ermöglicht, er überschreitet sein ›natürliches Milieu‹, die Provinz, d. h. einen abgeschlossenen, durch Landwirtschaft geprägten und damit klimagebundenen Raum.73 Was Ökonomie sein soll, wird also nicht länger in den vier Wänden des Familienvaters ausgetragen. Balzac nimmt das tradierte Sujet des Geizes als Postkarte und malt es an den Rändern weiter. Demgegenüber erscheint der bloße Geiz, als Liebe zum Geld, nur noch als lässliche Sünde, über die wir in Ansehung des Avare herzlich lachen können, weil wir vermutlich wissen, dass die wirklich gesellschaftsbedrohenden Dimensionen des Gewinn strebens nicht darin beschlossen sind.
Bibliographie Adorno, Theodor W.: Balzac-Lektüre. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 5 1991, S. 139–157. Artikel: Geiz ist geil. In: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Geiz_ist_geil [20. 06. 2016]. Auerbach, Erich: La cour et la ville. In: Ders.: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung. Bern: Franke 1951, S. 12–50.
71 Jean-Jacques Rousseau: Économie. In: Denis Diderot/Jean Baptiste le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie. Bd. 5. Paris 1755, S. 337. Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: Diaphanes 2002, S. 55 f. 72 Vgl. Balzac: Eugénie Grandet, S. 73. 73 Vgl. zur Wetterabhängigkeit der Ernten den Romaneingang, ebda., S. 8.
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Dagmar Stöferle
Balzacs Ehe-Spekulationen. Ökonomie des Nicht-Wissens und Selbstaffektion in der Physiologie du mariage Balzacs Comédie humaine fasziniert aufgrund des riesigen Risses, der das Werk durchzieht. Seine Figuren sind klüger als ihr Erzähler. Die Ordnung, die angestrebt wird, wird immer wieder gesprengt. Dabei ist fast egal, welchem Wissen diese Ordnung entstammt: einem zoologischen, physiologischen, juristischen, philosophischen, politischen … Kein Aufsatz über Balzac kommt umhin, diesen Bruch immer wieder neu zu umschreiben: zwischen Chaos und Kosmos, zwischen dem Fragment und dem Ganzen, zwischen histoire und discours, zwischen Drama und Roman, dem Bösen und dem Guten, der Komödie und der Tragödie. So mag auf den ersten Blick wenig erstaunen, dass auch das Verhältnis von Affekt und Ökonomie hier nur als ein gebrochenes zu beschreiben ist. Ökonomisches Verhalten, Selbstkontrolle, Mäßigung der Affekte scheinen dem notorischen Liebhaber und Spekulanten Balzac ebenso wenig gelungen zu sein wie seinen Romanfiguren, die soziale Mobilität vor allem als Fallhöhe erleben. Illustriert ist damit zum einen der begriffsanalytische Befund, dass man es beim Kompositum ›Affektökonomie‹ grundsätzlich mit einem Paradox bzw. mit einer Metapher zu tun hat: Der Affekt ist das, was sich per se der Regulierbarkeit – und einer ökonomischen erst recht – entzieht. Dichtungstheoretisch, poetologisch gelten Balzacs Romane denn auch als Schulbeispiel für das Melodramatische, das sich mit Peter Brooks durch moralische Antithetik, hyperbolische Dramatik mit jähen Glückswechseln, einer damit verbundenen Aura des Geheimnisvollen sowie der Restitution einer vorausliegenden Sinnordnung (›Religion‹ und ›Monarchie‹) auszeichnet.1 Illustriert ist damit zum zweiten, dass sich das, was Joseph Vogl als Oikodizee im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs entlarvt hat – die Annahme eines rationalen Akteurs, der Affekte in ökonomischen Nutzen ummünzt – am Beispiel von Balzacs Romanen sicher nicht bestätigen lässt.2 Im folgenden Beitrag soll daher nicht danach gefragt werden, warum Balzac in seinen Romanen illegitime Passionen immer wieder mit Geld-Bourgeoisie und Finanzkapitalismus in Verbindung bringt, sondern welche Effekte diese
1 Vgl. Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven/London: Yale UP 1976. 2 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphanes 2010/2011. https://doi.org/10.1515/9783110479638-004
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Korrelierung hat. Die Ausgangshypothese besteht in der Verschränkung einer Affekt- und Wissenspoetik. Die Zuspitzung, ja Gleichsetzung von Affekt und Ökonomie ermöglicht ein Wissen, das sich einem grundlegenden Nicht-Wissen verdankt. Mein Erkenntnisinteresse liegt insofern in einer affektökonomischen Poetik, als der Affekt-Begriff zunächst positiviert und dann in ein offenes Verhältnis zwischen Produktion und Rezeption umgemünzt wird. Balzacs Physiologie du mariage bietet sich für dieses Unterfangen in doppelter Hinsicht an: Erstens könnte man meinen, dass die Ehe hier tatsächlich als eine gesellschaftliche Einrichtung beschrieben würde, in der Affekt und Ökonomie, Liebe und Haushalt in Einklang sind bzw. wenn sie es nicht sind, in Einklang gebracht werden können. Gerade dies dementiert der Text aber, wie zu sehen sein wird, auf gründlichste Weise. Zweitens zeichnet sich der Text durch eine hochgradige Gattungsmischung aus; anders als die Romane mischt die Physiologie du mariage nicht nur Darstellungsformen, sondern auch Diskursformen. Die Sprecherposition bleibt durchweg eine labile, oder, anders gesagt, es handelt sich um eine Art Meta-Melodramatik.3 So scheint es bei dieser ›Physiologie‹, die ihren Gegenstand so ostentativ im Titel ausstellt, paradoxerweise unmöglich zu sagen, wovon sie ›eigentlich‹ spricht.4 Diese Hybridisierung der Sprecher-Position gilt es im Folgenden in vier Argumentationsschritten darzulegen: Zunächst soll vor dem publikationsgeschichtlichen Hintergrund gezeigt werden, dass die Ehe in der Physiologie du mariage als Gegenstand einer ebenso kommerziellen wie poetologischen Spekulation betrachtet werden muss (I). Im Verlauf dieser Spekulation verändert sich sowohl die Bedeutung dieses Gegenstands als auch die Methode, mit der er dargestellt wird. Die Ironisierung beginnt mit einer fiktiven Ehe-Politik, deren Ziel die Verhinderung des weiblichen Ehebruchs, also die Affektkontrolle
3 Vgl. zum Begriff der Meta-Melodramatik Armin Schäfer/Bettine Menke/Daniel Eschkötter (Hg): Das Melodram. Ein Medienbastard. Berlin: Theater der Zeit 2013. 4 Es lassen sich grob drei Stoßrichtungen in der Kritik unterscheiden: Erstens, der Versuch einer ›Rettung‹ der didaktischen Absicht des Werks, z. B. bei Gerhard R. Kaiser: Das Ende der Weisheit und der Beginn des Wissens. Balzacs Physiologie du mariage. In: Hans Gerd Rötzer/Herbert Walz (Hg.): Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann zum 70. Geburtstag. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 235–247. Zweitens, eine wissenspoetische und -poetologische Perspektive bei Edgar Pankow: Zwischen Wissenschaft und Kömodie: Honoré de Balzac und die Physiologie du mariage. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 121–139 und Michael Eggers: Wissenschaft, Satire und die »schwierigste Sprache der Welt«. Balzacs ›Physiologien‹ und ›Monographien‹ in gattungs- und begriffsgeschichtlicher Perspektive. In: Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen: Wallstein 2013, S. 203–226. Drittens, eine poetologische Lektüre des Werks als Schlüssel für die Comédie humaine bei Catherine Nesci: La Femme mode d’emploi. Balzac, de la ›Physiologie du mariage‹ à ›La Comédie humaine‹. Lexington: French Forum, Publishers 1992.
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der Frau ist (I). Durch eine diskursive Wende von der politischen zu einer ökonomischen Metaphorik wird die affichierte Affektpolitik in ihr ironisches Gegenteil verkehrt: Die Ehe-Spekulation erweist sich dann als Ehebruch-Spekulation (III). Unvermeidlich endet der Text zirkulär so, wie er begonnen hat, mit einer Problematisierung der Sprecher-Position. Während im Text normative Sätze, Axiome, Prinzipien, Beispiele und Anekdoten proliferieren, verschwindet der vermeintliche Ehe-Philosoph im Post-Scriptum zum eigenen Werk als eine Figur, die auf ihr deklariertes Vorhaben eines Heiratsaufschubs hin eine letzte Anekdote zu hören bekommt, nach der die Kunst der Verführung ihr Ziel immer um Haaresbreite verfehlt (IV). Wo der Romancier auktorial auf eine vorausliegende Sinnordnung verweisen kann, mangelt es dem diskursiv in der Luft hängenden Physiologen, Zoologen, Philosophen etc. just an dieser Möglichkeit, so dass er sich nur affektisch selbst beglaubigen und hoffen kann, dass seine Leser einen Sinn finden.
I Die Ehe als Spekulationsobjekt Im ›Avant-propos‹ von 1842 erklärt Balzac sein protosoziologisches Schreibprojekt, die »Société française« (11) darzustellen.5 Um zu zeigen, dass seine literarische Gesellschaftsdarstellung nicht auf willkürlichen, zufälligen – oder gar kommerziellen – Prinzipien beruht, vergleicht er sein Projekt insbesondere mit Buffons zoologischer Klassifikation und mit Bonalds restaurativem Monarchismus. In Anlehnung an letzteren vergleicht Balzac den Schriftsteller mit einem »homme d’État« (CH I, 12), der feste moralische und politische Ansichten haben müsse, um der Gesellschaft als »instituteur des hommes« (CH I, 12) dienen zu können. Zu diesen Ansichten gehörte nach Bonald, unter dessen Einfluss 1816 in Frankreich die Möglichkeit der Scheidung wieder aufgehoben werden sollte, die Unauflöslichkeit der Ehe als Basis der Gesellschaft. Balzac hatte zwar wohl eine liberalere Ansicht, was die Scheidung anbelangt, hielt aber gleichzeitig an der Idee fest, in der Ehe eine zentrale gesellschaftliche Ordnungsfigur zu sehen. Nur so wäre inhaltlich zu erklären, dass er seine 1829 erstmals erschienene Physiologie du mariage als ›analytischen‹ Teil in die Comédie humaine integriert. Von 1834 an, als Balzac die Einteilung seiner literarischen Werke in ›Sozialstudien‹ plant (»Études sociales«, unterteilt in »Études de mœurs«, »Études philosophiques«
5 Balzac wird im Folgenden – mit der Sigle CH, Band- und Seitenangabe – zitiert nach der Ausgabe: Honoré de Balzac: La Comédie humaine. Bibliothèque de la Pléiade. 12 Bde. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard 1976–1981; hier: Bd. 1, S. 11.
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und »Études analytiques«), firmiert die Physiologie als einziges Werk unter der dritten Rubrik dieser Studien. Es erscheint irrwitzig, dass Balzac ausgerechnet dem hybriden, völlig unklassifizierbaren und karnevalesken Text die Funktion des ›Analytischen‹ zugeschrieben hat. So heißt es im ›Avant-propos‹ von 1842: Au-dessus, se trouveront les Études analytiques, desquelles je ne dirai rien, car il n’en a été publié qu’une seule, la Physiologie du mariage. D’ici à quelque temps, je dois donner deux autres ouvrages de ce genre. D’abord la Pathologie de la vie sociale, puis l’Anatomie des corps enseignants et la Monographie de la vertu. (CH I, 19)
Auf diese Weise gerät der Text der Physiologie du mariage zugleich an den Rand und ins Zentrum des Romanprojekts. Thematisch scheint das Ehe-Thema insbesondere für die Scènes de la vie privée einzuleuchten; es genügt ein Blick auf die Romantitel, um die Bedeutung der Ehe für Balzacs ›Romanszenen‹ zu erkennen.6 In dem Briefroman Mémoires de deux jeunes mariées (1841) tauschen sich die Pensionatsfreundinnen Louise de Cheaulieu und Renée de l’Estorade über ihre konträren Ehe-Schicksale aus. In Une double famille (1830), kurz nach der Physiologie erstmals als Feuilletonroman erschienen, geht es um einen jener Ehebruch-Kompromisse, die dort als unvermeidliches Resultat dargestellt werden (allerdings mit dem Unterschied, dass es hier um den Ehebruch des Gatten geht). Le Contrat de mariage – 1835 erstmals unter dem Titel La fleur des pois erschienen – schildert den Moment einer fatalen Eheschließung, in der das Paar aufgrund des juristisch ausgehandelten Ehevertrages weniger vereint als vielmehr auf immer gespalten wird. Die Petites misères de la vie conjugale schließlich machen mit ihren nur lose zusammenhängenden, parodistischen Eheszenen ›Catherine‹ und ›Adolphe‹ zu einem bourgeoisen Feuilleton-Karikaturen-Paar, das in illustrierter Form seinen größten Erfolg hat. Die Publikationsgeschichte der Petites misères de la vie conjugale ist besonders interessant: Der Text entsteht aus einzelnen sogenannten saynètes, kurzen, sketch-artigen Szenen mit witzigen, oft metaphorischen Überschriften, die Balzac seit 1830 in verschiedenen Zeitschriften publizierte.7 1845 kauft Adam Chlendowski die Rechte an den Texten, um sie erneut als Feuilleton und gleichzeitig als illustriertes Buchprojekt zu drucken, wobei Balzac sich das Recht vorbehält, die Texte später in seine Physiologie du mariage zu integrieren. In Buchform erscheinen die von Bertall genial illustrierten Petites misères de la
6 Zum Motiv der Ehe in der Comédie humaine insgesamt vgl. Arlette Michel: Le mariage chez Honoré de Balzac. Amour et féminisme. Paris: Belles Lettres 1978; Alex Lascar: Les réalités du mariage dans l’Œuvre balzacienne. Le romancier et ses contemporains. In: L’Année balzacienne 9 (2008), S. 165–216. 7 Vgl. die ›Histoire du texte‹ zu den Petites misères de la vie conjugale in CH XII, 851–868.
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vie conjugale also erstmals 1846 bei Chlendowski.8 Allerdings enthalten weder der Werkskatalog von 1845 noch der 1846 von Furne herausgegebene letzte (16.) Band der Comédie humaine die Petites misères. Erst Houssiaux integriert sie ab 1855 in die »Études analytiques« seiner postumen Werkausgabe der Comédie humaine. Ebenso wie Balzac die Petites misères de la vie conjugale mit der Physiologie du mariage fusionieren wollte, gab es offenbar auch nie realisierte Pläne, die Physiologie du mariage zu illustrieren.9 Folglich gibt es die im Verhältnis zu den Sitten- und philosophischen (Roman-) Studien quantitativ ohnehin völlig unterrepräsentierten ›analytischen Studien‹ eigentlich gar nicht, zumindest nicht in der Form eines fertigen Werkes. Vor allem steht die vermeintliche Analytik nicht vor oder nach den »Études de mœurs« und den »Études philosophiques«. Vielmehr begleitet sie die Romanproduktion, ermöglicht sie kommerziell und konzeptionell. Erwartet man nun aber, durch die Physiologie du mariage zu erfahren, wie eine Ehe in der restaurierten französischen Monarchie funktioniert – wie es die physiologische Metaphorik des Titels nahezulegen scheint –, so wird man enttäuscht bzw. eines Besseren belehrt. Zwar suggeriert der Begriff der Physiologie eine organische Vorstellung, eben die Idee der Ehe als ›Keimzelle‹ einer Gesellschaft. Doch zugleich wird diese Keimzelle, das Organ auch als unheilbar ›krank‹ dargestellt. So beginnt der Text auch nicht mit der Ehe, sondern mit dem Ehebruch. Ist- und Soll-Zustand des sozialen Körpers klaffen von Anfang an auseinander, was die Physiologie der Ehe ununterscheidbar von einer Physiologie des Ehebruchs oder einer Physiopathologie der Ehe macht.10 Balzac bleibt in dieser Hinsicht skeptischer als die französischen Ideologen Destutt de Tracy und Cabanis, obwohl er sich auf deren behauptete Abhängigkeit des Sittlich-Moralischen vom Physischen beruft.11 Geht es nach der Physiologie du mariage, ist die Ehe keine materialistisch-logische und notwendige Institution der Gesellschaft, sondern sie bleibt eines ihrer (melodramatischen) Rätsel. Die medizinisch-organische Metaphorik konkurriert mit einer zunächst politischen und dann ökonomischen Metaphorik.
8 Und zeitgleich in der von Balzac nicht autorisierten Edition bei Roux et Cassanet (vgl. ebda., S. 867). Die Pléiade-Ausgabe stützt sich auf die Textausgabe Chlendowski, lässt die Illustrationen aber leider weg. 9 Vgl. Ségolène Le Men: Balzac, Gavarni, Bertall et les Petites misères de la vie conjugale. In: Romantisme 43 (1984), S. 29–44; hier: S. 29 f. 10 Vgl. Nathalie Basset: »La Physiologie du mariage est-elle une physiologie?«. In: L’Année Balzacienne 7 (1986), S. 101–114; hier: S. 109. 11 Vgl. hierzu Gerhard R. Kaiser: Das Ende der Weisheit und der Beginn des Wissens, S. 238.
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Publikationsstrategisch nutzt Balzac den ebenso ernsten wie abgenutzten Gegenstand der Ehe als Spekulationsobjekt, das ihm dazu verhelfen soll, sich als Berufsschriftsteller zu etablieren. Der Text erscheint im Dezember 1829 ohne Autorname, unter dem ironischen Pseudonym »par un jeune célibataire«, im selben Jahr wie Le Dernier Chouan, dem ersten Roman, den Balzac unter eigenem Namen veröffentlicht.12 Drei Jahre zuvor, 1826, erschien Brillat-Savarins Physiologie du goût, die von Balzac im Vorwort der Erstedition von 1829 bewundernd erwähnt wird. Die Physiologien-Mode ist nach Walter Benjamin Teil einer »panoramatischen Literatur«, die sich vor allem durch das Kleinbürgerliche, Harmlose und durch »vollendete[r] Bonhomie« auszeichnet.13 Sie verzeichnet ihren größten Erfolg um 1840; politisch wird dieser Erfolg zu einem Symptom der im Zuge der Septembergesetze erfolgten, verschärften Zensurmaßnahmen. Zensierte Unterhaltung, entschärfte Marktliteratur, die suggerieren sollte, dass auch in der kapitalisierten Großstadt noch jeder gesellschaftliche ›Typus‹ seinen angestammten, originalen Platz hat. Balzacs und Brillat-Savarins Ende der 20er Jahre erschienene Physiologien werden zu Haupt-Promotern dieser populärwissenschaftlichen Unterhaltungsliteratur, in der das Erkenntnisinteresse im übergeordneten Ziel verkauft zu werden, aufzugehen scheint. Vermutlich übernimmt Balzac die Idee, von einer Physiologie und nicht von einem Code du mariage oder einem Art de se marier zu sprechen, direkt von Brillat-Savarin. Es gibt ein um 1826 in Balzacs eigener Druckerei entstandenes Textexemplar, das vom Umfang her ungefähr halb so lang wie die spätere Textfassung ist. Maurice Bardèche hat das Druckexemplar 1940 unter dem Titel La Physiologie du mariage pré-originale publiziert. Man weiß nicht genau, warum es diese frühe Fassung und den zeitlichen Zwischenraum von drei Jahren bis zum schließlichen Erscheinen gibt. Balzac arbeitete zu diesem Zeitpunkt mit dem Journalisten Horace Raisson zusammen, der mit einer ganzen Serie ironisch-humoristischer Codes Geld machte: Le Code culinaire, Le Code conjugal, Le Code pénal des honnêtes gens, Le Code de la toilette … Balzac schrieb anonym für Raisson; so wird ihm etwa die Autorschaft des unter dessen Namen erschienenem Code des gens honnêtes zugeschrieben.14 Raissons ebenfalls 1829 erschienener Code conjugal versammelt in ironisch-normativer Weise ein Ehe-Alltagswissen, das weder besonders originell noch besonders kritisch ist, von dem aus man aber auf ein wachsendes bürgerliches Lesepublikum
12 Vgl. die ›Histoire du texte‹ zur Physiologie du mariage in CH XI, 1732–1760; hier: S. 1746. 13 Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Bd. II.2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 539. 14 Vgl. ›Histoire du texte‹ zur Physiologie du mariage, CH 11, S. 1738.
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schließen kann.15 Auch die folgenden Beispieltitel zeigen, dass der Text ganz offensichtlich im Kontext einer Unterhaltungsliteratur einzuordnen ist, in dem der Unterschied zwischen Codes, Physiologies und Arts zugunsten des kommerziellen Zwecks verschwimmt: 1823 Cuisin Le Conjugalisme ou l’Art de se bien marier 1825 Saint-Ange Le Secret de triompher des femmes et de les fixer Grammaire conjugale ou Principes généreux à l’aide desquels on peut 1827 Chabot dresser la femme L’Art de rendre les femmes fidèles16 1828 Mossé
Die erste Edition der Physiologie du mariage 1829 bei Levavasseur ist mit urheberrechtlichen Querelen verbunden. Von Balzac offensichtlich geplante Änderungen am Text werden dadurch blockiert, dass er die Rechte bis 1838 an Levavasseur abgegeben hat. Die dritte Edition bei Charpentier erscheint dann zusammen mit einer Neuauflage von Brillat-Savarins Physiologie du goût, zu der Balzac offenbar auch ein Vorwort beisteuern wollte. Damit kann Balzac von deren Erfolg auf dem Markt profitieren. Die Edition von 1838 erscheint in einer Auflagenstärke von 5 000 – die größte, die Balzac bislang erzielt hatte.17 Aufgrund des Titels und der Kapiteleinteilung in ›Méditations‹ werden die beiden Werke so präsentiert, als gehörten sie zusammen. Gleichzeitig unterwandert Balzac diese ›Paarung‹ dadurch, dass er – vielleicht an Stelle des angekündigten Vorwortes zur Physiologie du goût einen anderen kleinen Text mitliefert, nämlich den Traité des excitants modernes. Fragt man sich, warum die Pléiade-Ausgabe der Comédie humaine unter der Abteilung ›Études analytiques‹ neben der Physiologie du mariage und den Petites misères de la vie conjugale außerdem drei Texte aus einer torsohaften Pathologie de la vie sociale abdruckt, wird man hier fündig.18 Im Vorwort (›Préambule‹) zum
15 Horace Raisson: Code conjugal, contenant les lois, règles, applications et exemples de l’art de se bien marier et d’être heureux en ménage, Paris: Levavasseur 1829. 16 Zit. nach Gerhard R. Kaiser: Das Ende der Weisheit und der Beginn des Wissens, S. 237. 17 Vgl. die ›Notice‹ von Pierre-Georges Castex zu den ›Études analytiques‹. In: CH XI, S. 1714– 1732; hier: S. 1723. 18 Folgende Werke firmieren in der Pléiade-Ausgabe unter den ›Études analytiques‹: Physiologie du mariage, Petites misères de la vie conjugale und unter dem Titel Pathologie de la vie sociale die Texte ›Traité de la vie élégante‹ (erstmals 1830 in der Zeitschrift La Mode erschienen), ›Théorie de la démarche‹ (1833 in der Zeitschrift L’Europe littéraire erschienen) und der ›Traité des excitants modernes‹ (1839 als Anhang zur von Charpentier wieder edierten Physiologie du goût von Brillat-Savarin erschienen).
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Traité des excitants modernes, kündigt Balzac das analytische Projekt als eines an, das mit der Physiologie du mariage begonnen haben soll: M. Charpentier, qui donne cette nouvelle édition de la Physiologie du goût, a eu l’idée, heureuse pour moi, d’y joindre, comme pendant, la Physiologie du mariage. La connexité des titres m’oblige à donner ici quelques explications sur le mariage de mon livre avec celui de Brillat-Savarin. […] La Physiologie du mariage est ma première œuvre, elle date de 1820 […]. Dès 1820, j’avais formé le projet de concentrer dans quatre ouvrages de morale politique, d’observations scientifiques, de critique railleuse, tout ce qui concernait la vie sociale analysée à fond. Ces ouvrages, tous commencés et à peu près au même point d’exécution, doivent s’appeler Études analytiques, ils couronneront mon œuvre des Études de mœurs et des Études philosophiques. Le premier a pour titre: Analyse des corps enseignants. […] Ainsi, le deuxième ouvrage, dans l’ordre naturel des faits et des idées, est la Physiologie du mariage. Je l’ai lancé pour savoir si je pouvais risquer les autres théories. Le troisième est la Pathologie de la vie sociale, ou Méditations mathématiques, physiques, chimiques et transcendantes sur les manifestations de la pensée, prises sous toutes les formes que lui donne l’état social, soit par le vivre et le couvert, soit par la démarche et la parole, etc. […] Le quatrième est la Monographie de la vertu [Herv. D. S.], ouvrage depuis longtemps annoncé, qui vraisemblablement se fera longtemps attendre […]. L’éditeur qui vient d’augmenter […] la popularité des deux Physiologies imprime en ce moment la Pathologie de la vie sociale, où, sous peine d’être incomplet, je dois donner un Traité des excitants modernes. À ses yeux, ce traité semble compléter la Physiologie du goût. Ce fragment est donc un extrait de la Pathologie de la vie sociale, dont déjà quelques fragments, comme la Théorie de la démarche et le Traité sur la toilette ont paru.19
Balzac verbindet die Neuauflage des alten Textes und die Platzierung des neuen, kleinen Textes mit der spekulativen Vermarktung eines ganzen, zukünftigen Werkes, wobei der Physiologie du mariage ein nebulöser Ursprung zugeschrieben wird. Dabei scheut er keine Übertreibung: Die Texte der vier Abteilungen sind 1839 ja mitnichten »au même point d’exécution«: Die umfassende Analyse, die angekündigt wird, soll am Ende kaum über den Torso der Physiologie du mariage hinausgelangen. Gleichzeitig wird der theoretische Anspruch aufrechterhalten: Er habe die Physiologie ›lanciert‹, um zu erproben, ob er weitere Theorien solchen Typs ›riskieren‹ könne (»Je l’ai lancé pour savoir si je pouvais risquer les autres théories«). Der Zusammenhang seiner hier als Theorie bezeichneten Physiologie du mariage mit anderen Abhandlungen – wie über ›moderne Erregungsmittel‹ (excitants moderne), das elegante Leben oder den ›Gang‹ – bestünde also allein darin, dass diese Art von Theorien beim Publikum auf Interesse stößt.
19 Balzac: »Préambule« zum »Traité des excitants modernes« (1839). In: CH XII, S. 303–306; hier: S. 303–305.
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Was bedeutet das nun aber für den Text der Physiologie? Hat die Ehe hier nun eine Bedeutung, die über das Ziel, in Geld verwandelt zu werden, hinausgeht? Wenn ja, dann eine, die sich erst über den Produktionsprozess erschließen lässt. Interessant an dem Text ist, dass der Erzähler offensichtlich nicht weiß, was er mit dem Spekulationsobjekt Ehe anfangen soll. Schon der erste Teil der 30 Meditationen beginnt mit den ratlosen Worten: »Physiologie, que me veux-tu?« (CH XI, 913)20 Anders als Brillat-Savarin, der den Geschmackssinn als soziokulturelles Phänomen beschreibt, und anders als die Codes und Arts, die in der Übertragung einer bestimmten Darstellungsmethode ihrem Gegenstand einen Unterhaltungswert verleihen, ironisiert Balzacs Erzähler nicht nur seinen Gegenstand, sondern auch seine Methode.21 Vom heute weitgehend vergessenen Mainstream der seriellen Codes und Arts hebt sich die Physiologie du mariage damit vor allem durch ihre hochgradige Hybridisierung des eigenen Diskurses ab. Barock wuchert – ähnlich wie der eben zitierte, rabulistische Titel für die projektierte Pathologie de la vie sociale – bereits der Titel des Werks, der vollständig lautet: Physiologie du mariage ou Méditations de philosophie éclectiques sur le bonheur et le malheur conjugal. Man hat aufgrund des physiologischen Titels insbesondere den Einfluss des naturwissenschaftlichen Diskurses für Balzacs Darstellungsweise betont.22 Aber es geht um einen Eklektizismus, der in Anklang an Victor Cousins postrevolutionäre Philosophie explizit kenntlich gemacht wird und der nicht nur Anleihen aus der Naturwissenschaft, sondern aus einer Vielzahl von Diskursen – Literatur, Recht, Philosophie, Politik, Ökonomie – nimmt. Wenn Balzac wie Brillat-Savarin eine Physiologie in 30 Meditationen schreibt, geht es eben nicht darum, in der Verbindung von naturwissenschaftlicher und philosophischer Methode auf einen neuen, originellen gesellschaftsrelevanten Gegenstand zu stoßen. Vielmehr überträgt Balzac die Methode auf einen alten Gegenstand, dem Juristen, Philosophen und Staatsmänner wie Jean-Étienne-Marie de Portalis, Destutt de Tracy oder Louis de Bonald gerade eine neue, politische Gesellschaftsrelevanz attestierten.23 Die logische Progression, die die durchnummerierten Meditationen suggerieren, wird von einer heteronomen Darstellungsweise konterkariert, die auf ganz verschiedene, ja in sich widersprüchliche Zwecke verweist. Da ist
20 Die Physiologie du mariage ist in drei Teile mit insgesamt 30 Meditationen eingeteilt. 21 Vgl. Michael Eggers: Wissenschaft, Satire und die »schwierigste Sprache der Welt«, S. 216. 22 Vgl. zuletzt ebda.; außerdem Marc Föcking: Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert. Tübingen: Narr 2002, der deutlich gemacht hat, wie das statisch-taxonomische Modell der Biologie bei Balzac mit dem medizinisch-physiologischen Diskurs konkurriert. 23 Vgl. hierzu Vf.: Ehe als Nationalfiktion. Dargestelltes Recht im Roman der Moderne (unveröffentlichtes Typoskript).
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zum einen der sogenannte Plot, in dem es darum geht, den weiblichen Ehebruch zu verhindern und die Frau zu domestizieren. Dieses Hauptnarrativ legt nahe, dass der Text, bevor er den Titel Physiologie erhielt, wohl doch eher als ein Code conjugal (wenn auch ironischer) konzipiert war. Zweitens gibt es im Text die ihrerseits von I bis XCIV durchnummerierten und immer wieder zwischengeschalteten axiomes und aphorismes; einen Schein von Wissenschaftlichkeit erzeugende, allgemeine Sätze, die nicht zuletzt dazu da sind, den affichierten Plot dekonstruieren zu helfen. Zum Beispiel: I Une femme honnête est essentiellement mariée. (CH XI, 931) XXIII La courtisane est une institution si elle est un besoin. (CH XI, 947)
Oft als Fazit präsentiert liegt die Pointe dieser apodiktischen Schlüsse eher darin, dass sie das jeweils vorangegangene Räsonnement dementieren. Und drittens wird die Annahme eines theoretischen Erkenntnisinteresses durch eine immer wieder durchbrechende Theatralisierung des discours bewirkt. Die eingangs inszenierte Suche nach dem ›physiologischen‹ Gegenstand endet damit, dass der Sprecher in die persona Rabelais’ schlüpft, dessen Pantagruel im Tiers Livre am Ende bekanntlich keine Antwort darauf bekommt, ob er nun heiraten soll oder nicht. Anders als Pantagruel beginnt aber Balzacs Erzähler nicht mit dieser Frage. Er nimmt den Umweg über den ironischen Gesetzgeber, der im potentiell gehörnten Ehemann seinen fiktiven Adressaten sucht, findet sich dann aber am Ende seines Textes, doch ganz ähnlich wie Rabelais, in einer Position wieder, in der er, der Junggeselle und Ehe-Physiologe bzw. -Philosoph, gefragt wird, ob er denn heiraten wird oder nicht. Wenn ich im Folgenden dieser dreifachen Brüchigkeit der Darstellungsweise folge, so tritt darin erst einmal nur die formal klassische Dreigliederung wieder zutage, in die Balzac – anders als Brillat-Savarin – seine 30 Meditationen einteilt.24 Aber damit wird gleichzeitig die Annahme gestützt, dass sich die Physiologie du mariage eben doch auch als implizite Poetik lesen lässt. Dabei verschränken sich Wissens- und Affektpoetik oder, anders gesagt, eine Theorie und zugleich eine Praxis, über einen Gegenstand zu sprechen: Der fiktive, romanhafte Gegenstand entsteht erst dann, wenn das diskursiv heterogene Wissen nicht nur metaphorisiert wird, sondern zugleich für eine spekulative Selbstaffizierung produktiv gemacht wird.
24 Ich würde daher auch Arlette Michels Behauptung in der ›Introduction‹ zur Physiologie du mariage, hinter der vordergründigen Dreiteilung des Werks verberge sich eigentlich eine Zweiteilung, nicht uneingeschränkt zustimmen (vgl. Arlette Michel: ›Introduction‹. In: CH XI, 865–901; hier: S. 867 f.).
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II Ironische Ehepolitik Ausgangspunkt des Erzählers ist der Ehebruch, genauer ein moralisches Entsetzen darüber, dass ein juristisch hochgradig kriminalisiertes Faktum zugleich als gesellschaftliche Normalität wahrgenommen werden kann. Diese Feststellung eines Widerspruchs zwischen Gesetz und Sitte verweist direkt auf die restaurative Ehegesetzgebung. Mit dem revolutionären Eherecht, das die Möglichkeit der Scheidung einräumte, war der Ehebruch für kurze Zeit entkriminalisiert worden. Er findet sich nicht einmal mehr unter den Scheidungsgründen und war sozusagen Privatangelegenheit geworden. Zug um Zug wird dieses liberale Ehe- und Scheidungsrecht wieder eingeschränkt. Bereits der 1804 in Kraft getretene Code civil verankerte im Art. 229 den Ehebruch wieder als ersten Scheidungsgrund im Scheidungsrecht.25 Und mehr noch stellte er mit dem Art. 230 die traditionell ungleiche Strafbarkeit des Ehebruchs wieder her. Während die Frau immer und überall von ihrem Mann des Delikts bezichtigt werden kann, gilt dies umgekehrt für die Frau nur dann, wenn der Ehebruch im eigenen Haus erfolgt. Der Erzähler zitiert just diesen Paragraphen in der ersten Meditation, um damit eine Scheinheiligkeit des Gesetzes und eine indirekte Institutionalisierung des Ehebruchs zu beklagen.26 Nun könnte man angesichts dieses Ausgangsbefundes glauben, dass der ›Physiologe‹ in seiner Ehe-Darstellung auch den männlichen Ehebruch problematisiert. Dem ist aber nicht so. Die Ehe wird als patriarchales Herrschaftsverhältnis so fiktionalisiert, dass der männliche Ehebruch ausgeblendet bzw. tabuisiert werden kann. Der Begriff ›adultère‹ wird einseitig metaphorisiert; es ist die Rede vom ›Minotaure‹, vom ›Minotaurisiertwerden‹, von den ›criminelles conversations‹ (eine Übernahme des englischen, juristischen Fachterminus für den Ehebruch) oder von ›minotaurischen Beobachtungen‹. Und der in die persona Rabelais’ geschlüpfte Erzähler macht es sich zur Aufgabe, den Männern zu erklären, wie sie sich vor dem Minotaurisiertwerden schützen können. Der Zweck der Unterweisung wird dabei von Anfang an dadurch untergraben, dass der (weibliche) Ehebruch zugleich als notwendige soziale Konsequenz präsentiert wird, weil es in der Gesellschaft – so zeigt es die berühmte und aberwitzige Ehe-Statistik der zweiten Meditation – einen zahlenmäßigen Überschuss von Junggesellen gibt.
25 Vgl. Code civil, Erstes Buch, VI. Titel, Kap. I, Art. 229; zit. nach: Code civil des Français. Edition originale et seule officielle. Paris: Imprimerie de la République 1804. 26 »L’article du Code qui prononce des peines contre la femme adultère, en quelque lieu que le crime se soit commis, et celui qui ne punit un mari qu’autant que sa concubine habite sous le toit conjugal, admettent implicitement des maîtresses en ville.« (CH XI, 914 f.)
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Das heißt, dass es in allen Ehebruch-Szenarien, die in der Physiologie du mariage entworfen werden, nur treue Gatten, weibliche Ehebrecherinnen und Junggesellen als Liebhaber gibt. Anders als etwa in den Romanen oder auch in den Petites misères de la vie conjugale taucht der Typus des männlichen und verheirateten Ehebrechers nicht auf; und auch den Typus der gefallenen Jungfrau wird man in Balzacs Physiologie vergeblich suchen. Es ist also nur die verheiratete Frau, die die Gesellschaft bedroht. In seiner ›zoologischen‹ Typologie zielt Balzac auf die wohlhabende, nicht arbeitende, blasse, schwache, müßiggängerische Frau, die sich im Wesentlichen der Pflege ihres Körpers und ihrer Liebe widmet: Ici, nous ne stipulons que pour les oisifs, pour ceux qui ont le temps et l’esprit d’aimer, pour les riches qui ont acheté la propriété des passions, pour les intelligences qui ont conquis le monopole des chimères. (CH XI, 924)
Erst das Geld macht dieser Logik gemäß die Frau zur Frau: Die Frau ist Besitzerin der Leidenschaften. Von den veranschlagten 15 Millionen französischer Frauen kommt der Statistiker am Ende auf 400.000 ›honnêtes femmes‹, die verheiratet, schön, reich und zwischen 20 und 40 Jahre alt sind – Frauen über 40 stellen keine Ehebruch-Gefahr mehr dar – und deren Tugend von insgesamt zwei Millionen heiratssuchender Junggesellen, die Erfahrungen sammeln müssen, bedroht wird. Innerhalb der französischen Gesellschaft sei daher von insgesamt drei Millionen ›Abenteuern‹ auszugehen. Prädestiniert für den Ehebruch sind diejenigen Männer, die berufsmäßig viel außer Haus sind: Abgeordnete, Bankleute, Wissenschaftler. An sie wendet sich der Sprecher mit einer Präzeptistik, die zugleich als ›comédie des comédies‹ bezeichnet wird, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. So konstituiert sich das Narrativ einer ironischen Ehepolitik, die in den Überschriften zum zweiten und dritten Teil der Physiologie du mariage angekündigt wird: Dem zweiten Teil »Des moyens de défense à l’intérieur et à l’extérieur« folgt ein metaphorischer Bürgerkrieg (»De la guerre civile«) im dritten und letzten Teil des Textes. Die Ironisierung der Ehe und des Ehebruchs führt dazu, dass das entfaltete Wissen in einer grundsätzlichen Zweideutigkeit angesiedelt ist. Wissenspoetologisch nimmt dabei die weibliche Passion bzw. der als Bedrohung dargestellte weibliche Affekt die Funktion einer Macht ein, die es zu kontrollieren gilt. So wird dem fiktiven ›Prädestinierten‹ die Ehebruchsprophylaxe als ein »bréviaire du machiavélisme marital« (CH XI, 996) und »traité de politique maritale« (CH XI, 1009) präsentiert. Der weibliche Affekt markiert sozusagen die Stelle des Nicht-Wissens, aus dem das Wissen geschöpft wird und dessen Bedeutung ambivalent bleibt. Klammert man einmal die ausgestellte, ebenso misogyne wie restaurative Stoßrichtung der Fiktion ein, lässt sich die ironische Ehepolitik sowohl
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als Analyse der nachrevolutionären Restaurationspolitik als auch Enthüllung der sie begleitenden subjektdisziplinierenden Strategien lesen. ›Fortschrittlich‹ wäre der Text dann nicht zuvörderst deshalb, weil er auf juristische Ungerechtigkeiten des Eherechts verweist und damit implizit ein liberaleres Scheidungsrecht einfordert, sondern weil er in der Überblendung von Ehe und Politik das vorführt, was Michel Foucault als Biopolitik beschrieben hat.27 Zum Wissen der Ehe-Verfassung gehört die Maxime: »Qui peut administrer une femme, peut gouverner une nation.«(CH XI, 1016). Die Ehe-Regierungskunst ist eine männliche Regierungskunst, deren wichtigstes Mittel die dissimulatio ist, eine unsichtbare Kontrolle über die Frau. In der Maxime LIII des ›Catéchisme conjugal‹ heißt es: »La femme mariée est un esclave qu’il faut savoir mettre sur un trône.« (CH XI, 961) Die Verstellungskunst funktioniert eben ganz nach dem von Foucault beschriebenen Sexualitätsdispositiv. Fast schulbuchartig schreitet der Erzähler die Bereiche ab, in denen es gilt, die Lüste der Frau unmerkbar zu erkennen, zu kontrollieren und zu steuern: Pädagogisch geht es um die richtige Bildung der Frauen: Wie hält man sie am besten von der Lektüre ab? Was gibt man ihr zu lesen, wann verbietet man und wann erlaubt man die Lektüre? Auch hygienische Ratschläge werden erteilt: Hier empfiehlt der Physiologe viel Liegen auf weichen Kanapees, wenig frische Luft, die richtige Ernährung (nach dem Vorbild von Rousseaus Julie), kein kaltes Wasser usw. Balzac folgt hier der physiologisch-vitalistischen Anschauung einer bestimmten Lebenskraft (»une somme donnée d’énergie«, CH XI, 1027), die ökonomisch verausgabt werden muss. Um die Frau vom ehebrecherischen Sex abzuhalten, empfiehlt er den Tanz und natürlich viele Kinder. Damit einher gehen sexualhygienische Erklärungen zu einem als natürlich erklärten Verlangen nach dem anderen Geschlecht. Die Ehe ist eine Wissenschaft, heißt es im Aphorismus XXVII, dem Anfang der als »Catéchisme conjugal« bezeichneten Liste von Tipps zur Aufrechterhaltung der Liebe in einer monogamen Ehe.28 Polizeilich-haushalterische Maßnahmen im Haus runden die Ehepolitik ab: Der Erzähler rät dringend zu einem gemeinsamen Bett, getrennte Schlafzimmer stellen ein besonderes
27 Vgl. hierzu ausführlich Catherine Nesci: La Femme mode d’emploi, S. 38 f. 28 Samuel S. de Sacy geht in seiner Einleitung des Textes so weit, in der Physiologie du mariage weniger eine scientia sexualis als eine ars erotica zu erkennen. Hier muss man aber doch einwenden, dass der Text als Liebeskunst nicht gerade feine Verführungstechniken parat hält: Man denke an die Maxime, nach der es schlecht ist, die Ehe mit einer Vergewaltigung der Frau zu beginnen. Oder an den Vorschlag einer freieren Mädchen-Erziehung, der aber nur deshalb gemacht wird, damit die eheliche Pflicht danach besser eingehalten werden kann (Samuel S. de Sacy: Ébauche balzacienne d’une érotologie. In: Honoré de Balzac: Physiologie du mariage. Herausgegeben von Samuel S. de Sacy. Paris: Gallimard (folio classique), S. 9–14).
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Risiko dar. Die Hausdienerschaft, Pfarrer, Freundinnen und Schwiegermütter gilt es, als Verbündete zu gewinnen. Auf realpolitischer Ebene erscheint die immer wieder in politischen Metaphern ironisierte Ehe als eine Wiederkehr der Revolution von 1789.29 Stellt Balzac die Eheschließung einerseits als Akt politischer Restauration dar, mit dem die Ordnung wiederhergestellt wird; und präsentiert er die Ehe-Regierungskunst auch als eine nachrevolutionäre »Charte conjugale«30, so droht in der ehebrecherischen Frau die Revolution immer aufs Neue auszubrechen. Auf die »révolution conjugale« – das ist der Moment, in dem die Frau (nach dem Honigmond) die Ehe-Politik ihres Mannes zu durchschauen beginnt – folgt eine Schein-Restauration, die den Ehekrieg – das ist die Phase, in der die Frau um ihr Recht auf einen Liebhaber kämpft – eben nicht verhindern kann und mit dem Sieg der ehebrecherischen Frau endet. Der affichierte Plot ironischer Ehepolitik verliert auf diese Weise seine Teleologie, die lineare Logik kippt in eine zyklische – und ökonomische, wie wir gleich sehen werden. »Des péripéties« heißt die XXII. und letzte Meditation des mittleren Teils, bevor es in die letzte Runde, »De la guerre civile« geht. Der aristotelische ›Umschlag‹ des Erwarteten ins Unerwartete ereignet sich formal wohldurchdacht im Übergang vom zweiten zum dritten Teil. Die idealtypische Peripetie ist die In-flagranti-Szene, die der Ehemann in eine Reue-Szene seiner Frau zu konvertieren weiß (vgl. die Meditation XXII, ›Des péripéties‹, CH XI, 1113–1120). Die hier ausgebreiteten mehr oder minder heroischen Bravourstücke könnten nun in eine glückliche Auflösung der Komödie und in die politische Restauration einmünden; stattdessen lässt der Erzähler seine Meta-Komödie aber neu beginnen,31 indem er sein anfängliches, ehestatistisch deduziertes Risiko-Korpus von 400.000 ›honnêtes femmes‹ nun noch einmal auf 300.000 dezimiert – 100.000 potentiell zur Treue ›konvertierte‹ Frauen scheiden nun als Erfolg der eigenen, preisgegebenen Strategien aus. (CH XI, 1120). In dem Moment, wo der Ehekrieg vor dem Ehebruch in einen Ehekrieg nach dem Ehebruch kippt, werden die politisch codierten Positionen des Mannes (als Monarchist) und der Frau (als republikanische Revolutionärin) austauschbar. Die politische Metaphorik wird inkonsistent: Der Mann, der nach außen restaurative Politik betreibt, muss im Inneren plötzlich wie ein Revolutionär handeln. Er muss in der Lage sein, einen Schrecken zu produzieren,
29 Vgl. Catherine Nesci: Les révolutions conjugales: Le récit restauré dans la Physiologie du mariage. In: L’Année balzacienne 11 (1990), S. 243–254. 30 vgl. Méditation XVI, CH XI, 1050. 31 Die vorgebliche Scham ist die mächtigste Waffe der Frau. In dem Moment, wo sie ihre Mutterund Gattinnenliebe zur Schau stellt, wo sie sich zur Prostituierten ihres Gatten macht, um ihre Liebschaft zu dissimulieren, ist die Rede vom ›Teufelskreis der göttlichen Ehekomödie‹ (»[le] cercle infernal de la divine comédie du mariage«, CH XI, 1173).
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der die revolutionäre Terreur abwendet (»produire la terreur dans leur ménage et préparer longtemps à l’avance des deux septembre matrimoniaux«, CH XI, 1115). Die Strategien der Frau wiederum erweisen sich nach dem Ehebruch als ebenso napoleonisch wie restaurativ: »Toute la diplomatie du congrès de Vienne est dans leurs têtes« (CH XI, 1130). Mann und Frau stehen sich in einer ununterscheidbar gewordenen Ehe-Dissimulationspolitik gegenüber. Beide konkurrieren metaphorisch um die überlegene Machtposition eines Napoleon. Während es in der Physiologie du mariage das Verhalten der potentiellen Ehebrecherin ist, das mit der Militärstrategie des Korsen verglichen wird, erscheint in den Petites misères de la vie conjugale jenes Kapitel unter dem Titel »Le dix-huitième Brumaire des ménages«, in dem der Gatte seiner Frau die Haushaltskasse nur deswegen überlässt, um damit den Haushalt gezielt in den Ruin treiben und das auf politische Partizipation setzende ›konstitutionelle System‹ aushebeln zu können (vgl. CH XII, 83–88). Der um das nachrevolutionäre, politische Machtvakuum kreisende Ehekrieg endet nicht tödlich, tragisch, mit einer Katastrophe, sondern wird zu einer unendlichen Komödie. »La catastrophe conjugale«, heißt es gegen Ende in der mit ›Des compensations‹ überschriebenen Meditation, »qu’un certain nombre des maris ne saurait éviter, amène presque toujours une péripétie« (CH XI, 1179). Dass Ehe-Kata strophen nicht notwendig durch den weiblichen Ehebruch ausgelöst bzw. aufgelöst werden müssen, zeigt sich, wie gesagt, im Vergleich der Physiologie du mariage mit ihrem ›Zwillingsbuch‹ der Petites misères de la vie conjugale. Strukturell markiert dort nicht die Enthüllung des weiblichen, sondern des männlichen Ehebruchs die zentrale Peripetie. Er ist es, der Caroline im Umschlag vom ersten zum zweiten Teil der Ehe-Szenen zu einem Strategiewechsel im Umgang mit ihrem Adolphe bewegt. Zu Beginn des zweiten Teils reflektiert der Erzähler diese Variabilität der Positionen als ein chiastisches Gattungsverhältnis zwischen den beiden Büchern: Enfin, ils [les livres; Anm. D. S.] ont un sexe aussi! […] Jusqu’ici, toutes ces misères sont des misères infligées uniquement par la femme à l’homme. Vous n’avez donc encore vu que le côté mâle du livre. […] Voici maintenant le côté femelle du livre; car, pour ressembler parfaitement au mariage, ce livre doit être plus ou moins androgyne.32
›Buchgattung‹ und geschlechtliche Gattung stehen in einem inhaltlichen und formalen Verhältnis zueinander.33 Die den Text begleitende Illustration zeigt
32 Honoré de Balzac: Petites misères de la vie conjugale. In: CH XII, 21–182; hier: S. 102 f. 33 Zum chiastischen Verhältnis der beiden Texte vgl. auch die »Introduction« zu den Petites misères de la vie conjugale von Jean-Louis Tritter in CH XII, 3–19; hier: S. 8, sowie Edgar Pankow: »Honoré de Balzac und die Physiologie du mariage«, S. 138 – allerdings jeweils ohne die Beobachtung, dass das ›Geschlecht der Bücher‹ auf der Handlungsebene mit dem Ehebruch verknüpft ist.
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zwei Buchrücken, die von einem Frauen- und einem Männerkopf geziert und von einem gemeinsamen Hut und Schal zusammengehalten werden.
Abb. 1: Petites misères de la vie conjugale. Par Honoré de Balzac, illustrées par Bertall. Paris: Chlendowski 1846, S. 192. (Quelle: gallica.bnf.fr)
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Das ›Buchpaar‹ ist nicht nur am Anfang des zweiten Teils der Misères abgedruckt, als Emblem für den ganzen Text ziert es zugleich das Frontispiz. Die Petites misères de la vie conjugale enden buchstäblich opernhaft, das letzte Kapitel steht unter der Überschrift einer »felichitta des finale [sic]« (CH XII, 179). Caroline hat sich mit dem Ehebruch ihres Adolphe arrangiert und sich auch einen Liebhaber besorgt. Eine ›sehr dekolletierte Dame‹ darf das letzte Wort im Werk und seine Moral aussprechen, nach der nur die »ménages à quatre« (CH XII, 182) wirklich glücklich sind. Eine solch opernhafte Auflösung bleibt der Physiologie verwehrt. Sie bleibt in eine unauflösbare Dreierkonstellation eingeklemmt, mit der eine Ökonomie des Nicht-Wissens aufrechterhalten wird, in der offen bleibt, wer wen betrügt.
III Ökonomische Kompensationen Geschlechtertheoretisch wirken die Petites misères de la vie conjugale, wo der Ehebruch in einem unauflöslichen Ménage à quatre equilibriert wird, fast emanzipierter. Der in den dialogischen Szenen dargestellte Ehe-Alltag kommt einem realistischer, moderner vor, weil die fiktiv-restaurative Ehe-Politik wegfällt. In der Physiologie du mariage bleibt die Frau hingegen ein Rätsel. ›Politisch‹ nicht zu disziplinieren setzt sich im fiktiven Szenario der »comédie des comédies« nicht die Tragödie, sondern zunehmend eine ökonomische Metaphorik durch. Der politisch geschlagene und betrogene Ehemann beginnt zu rechnen. »Enfin la péripétie est, dans la science du mariage ce que sont les chiffres en arithmétique« (CH XI, 1119). Die Wende zum unabwendbaren Faktum des weiblichen Ehebruchs geht mit einer Wende im Diskurs einher. Statt eines Ausgleichs der Geschlechter stellt die Physiologie du mariage einen ökonomischen Ausgleich der Zahlen und eine Kompensation der Werte her. In der drittletzten Meditation ›Des compensations‹ werden in der Form von Anekdoten solche Fälle geschildert, in denen der Ehebruch gestohlenes Gold in Diamanten verwandelt: »Le Minotaure vous avait pris de l’or, il vous restitue des diamants. En effet, c’est peut-être ici le lieu d’articuler un fait de la plus haute importance. On peut avoir une femme sans la posséder« (CH XI, 1184). Im Ménage à trois profitiert der Ehemann in graduell abgestuftem Maße: Seine Frau ist gut gelaunt, sie verwöhnt ihn mit gutem Essen, vielleicht sogar mit gutem Sex. Sie verhilft ihm dank ihrer ›conversations criminelles‹ zu einem angesehenen Amt in der Politik. Am Ende des fiktiven Plots steht die Verteidigung von Glück und Nutzen der Gesellschaft, den die ehebrecherischen Ehen verschaffen. Die Ehestatistik der zweiten Meditation aufgreifend, rechnet der Erzähler in der letzten, mit ›Conclusion‹ überschriebenen Meditation
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vor, welchen Gewinn die Ehe-Spekulationen, deren Wert in Frage steht, am Ende für Ehemann, Staat und Gesellschaft abwerfen: Le résultat de cette statistique pécuniaire de l’amour fut que, l’une portant l’autre, une passion coûtait par an près de quinze cents francs, nécessaires à une dépense supportée par les amants d’une manière souvent inégale, mais qui n’aurait pas lieu sans leur attachement. […] Or, mon cher Monsieur, comme nous avons par les calculs de notre statistique conjugale (voyez les Méditations I, II et III), prouvé d’une manière irrévocable qu’il existait en France une masse flottante d’au moins quinze cent mille passions illégitimes, il s’ensuit: Que les criminelles conversations du tiers de la population française contribuent pour une somme de près de trois milliards au vaste mouvement circulatoire de l’argent, véritable sang social dont le cœur est le budget; Que la femme honnête ne donne pas seulement la vie aux enfants de la patrie, mais encore à ses capitaux; Que nos manufactures ne doivent leur prospérité qu’à ce mouvement systolaire; Que la femme honnête est un être essentiellement budgétif et consommateur; Que la moindre baisse dans l’amour public entraînerait d’incalculables malheurs pour le fisc et pour les rentiers […]. (CH XI, 1199)
Aus dem weiblichen Ehebruch wird gesellschaftliches Kapital. Aus der Ehe-Spekulation ist eine Ehebruch-Spekulation geworden. Balzacs Finanzstatistik der Liebe fördert unglaubliche Zahlen zutage: Mit jährlichen 1.500 Francs Ausgaben pro Liebesleidenschaft beleben die ungefähr 1.500.000 illegitimen Liebesverbindungen Frankreichs Geldumlauf um zusätzliche drei Milliarden. Die Rechnung beruht auf der Analogie von Geldkreislauf und Blutkreislauf. An die Stelle der weiblichen Treue, die die Gesellschaft wie ein unsichtbares Band zusammenhält, tritt ihr (Ehe-) Bruch, der in Geld und ›soziales Blut‹ umgemünzt wird. Der aus der Untreue geschöpfte Wert belebt den (Staats-) Haushalt, so wie das Herz den Blutkreislauf zirkulieren lässt. Die fiktive ›ökonomische Kompensation‹ impliziert eine Verkehrung der Machtverhältnisse: Im ehebrecherischen Regime regiert die Frau als imaginäres Kapital. Bemerkenswert an dieser Monetarisierung der illegitimen weiblichen Passion ist, dass der Erzähler mit ihr nicht nur das zuvor entworfene eheliche Herrschaftsverhältnis – also seine eigene Fiktion – dekonstruiert, sondern zugleich jenes ökonomische Wissen ironisiert, das vom vermeintlichen Ausgleich der Interessen und von einer Selbstregulierung des Marktes ausgeht. Die Ehebruch-Ökonomie regelt sich ja gerade nicht von selbst, sondern nur durch das ›Außen‹ der Ehe. Statt auf die gegenseitige Aufhebung der privaten Laster (›Affekte‹) im allgemeinen Wohl setzt sie auf die Hypertrophierung der weiblichen Passion. Der rhetorische Zusammenschluss von weiblichem Affekt und Kapital verschleiert zum einen die realhistorischen Mechanismen der Geldheiratspolitik und des sich verbreitenden Kapitalerwerbswesens; zum anderen hält er die Kontrollier- und Regierbarkeit jener Ehe-Institution aufrecht, die sich
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theoretisch-diskursiv als undurchschaubar und unkontrollierbar erwiesen hat. So scheint die finanzökonomisch zugespitzte Ehebruch-Allegorisierung keinen anderen Sinn zu haben, als das Wissen zu karnevalisieren, ihm seinen Grund zu entziehen und es gleichzeitig für eine ›ganze‹, ›gesellschaftliche‹ Wahrheit offen zu halten.34 Die Ökonomie erklärt nichts in der Physiologie du mariage, sie kompensiert das Nicht-Wissen und bringt dabei sowohl einen zufälligen Nutzen als auch einen nützlichen Zufall hervor. Das heißt aber auch, dass der als Physiologe und Philosoph angetretene Sprecher sich hier rechtfertigen muss: Just nach der eben zitierten Stelle dementiert er jeden normativen Gehalt seines Buches. Das Buch sei weder für noch gegen die Ehe geschrieben. Er möchte vielmehr, so wendet er die ökonomische Metaphorik nun auf sich selbst an, als Arbeiter an der Ehe-Maschine gesehen werden: »Si l’examen de la machine peut nous amener à perfectionner un rouage; si en nettoyant une pièce rouillée nous avons donné du ressort à ce mécanisme, accordez un salaire à l’ouvrier« (CH XI, 1201). Keine Rede mehr von der Ehe als quasi-natürlichem Organ (›moral et physique‹). Was bleibt, ist das Physikalische: eine Maschine, deren Funktionsweise der einfache Arbeiter nicht durchschaut, für deren teilweise Reparatur er aber seinen Lohn einfordert.
IV Selbstaffektion Die Physiologie du mariage ist ein narratologisch chaotischer Text ist, schwer zu folgen, mühsam zu lesen – scheinbar alles andere als nachsinnend fortschreitende Meditation. Nur fragend, holprig findet der Sprecher in seine parodistische Position, von der aus der Redegegenstand bearbeitet wird, und nur ebenso holprig findet er wieder aus ihr heraus. So wie der Text mit der ›Introduction‹ und der Rabelais’schen Rollenfindung in der ersten Meditation einen doppelten Anfang hat, so hat die Physiologie du mariage mit der letzten Meditation (›Conclusion‹) und einem angefügten ›Post-scriptum‹ (CH XI, 1201) auch ein doppeltes Ende. Schaut man sich diese den Text rahmende Verdoppelungen noch einmal genauer an, wird deutlich, dass mit der Figur des ironischen Wissenschaftlers, der sich am Ende als Arbeiter an der Ehe-Maschin(eri)e rechtfertigt, noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Hinter dem harmlosen Arbeiter verbirgt sich die
34 So mündet z. B. Eggers’ gattungs- und begriffsgeschichtliche Lektüre mit einer Perspektive auf die (über Linné vermittelte) Entstehung des Gattungsbegriffs ›Monographie‹ (vgl. Michael Eggers: Wissenschaft, Satire und die »schwierigste Sprache der Welt«, S. 220 ff.
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Figur des Liebhabers, der das ›wissenschaftliche‹ Projekt untergräbt, noch bevor es begonnen hat.35 Auf der Ebene des Plots weiß der Erzähler von Vornherein, dass der präsentierte Ehe-Krieg von den Männern verloren werden wird, weil all die Mittel, die vorgeschlagen werden, zugleich als weiblich codiert sind: Es geht um das paradoxe Unterfangen, eine männliche Dominanz durch Mimikry an ein Weibliches herzustellen. Das wird zum einen durch die paratextuelle Rahmung deutlich, die die weiblichen Leser ausschließt, indem sie sie einschließt: La femme qui, sur le titre de ce livre, serait tentée de l’ouvrir, peut s’en dispenser, elle l’a déjà lu sans le savoir. […] [L’auteur] a en quelque sorte gravé sur le frontispice de son livre la prudente inscription mise sur la porte de quelques établissements: Les dames n’entrent pas ici. (CH XI, 903)
Theoretisch nimmt der Erzähler eine männliche Position ein, die auf ein als weiblich qualifiziertes Wissen setzt. Damit erweist sich die passion féminine, die auf der Handlungsebene versuchsweise kontrolliert und funktionalisiert werden soll, nicht nur als unausgesprochener, ›eigentlicher‹ Gegenstand des Textes, sondern auch als verborgene affektische Antriebskraft. Wenn er Gattungs- und Diskursformen mischt, überschreitet der Erzähler immer auch die Grenze des männlichen Geschlechts. In moralistischer Tradition lässt er sich verbotenerweise von seinem Gegenstand affizieren. Der Ehebruch als Textauslöser ist das zweite Symptom dieser Affizierung. So erklärt der Erzähler in der ›Introduction‹, dass die Idee des Buches der Faszinationskraft entsprungen sei, die das schaurige Wort adultère (»le mot sacramentel«; CH XI, 904) in ihm, dem jungen Studenten des Rechts, ausgelöst habe. Selbstverständlich werden diese Eindrücke nicht weiter vertieft, stattdessen dient Napoleon als Alibi für die Selbstaffektion: So wird die affektische Rahmung des Textes bezeichnenderweise von zwei Napoleon-Zitaten begleitet, die der Erzähler auch als Auftakt und Schluss des Textes inszeniert. Jean-Hervé Donnard hat akribisch die kuriose Textgeschichte dieser Zitate verfolgt, hinter denen sich niemand anderes als Balzac selbst verbirgt.36 Wenn der
35 Die XIX. Meditation ist ›L’Amant‹ gewidmet und besteht fast nur aus ›Maximen‹, darunter die schöne, auf die sehr moralistische Logik des Entzugs verweisende: »Parler d’amour, c’est faire l’amour« (CH XI, 1087). 36 Jean-Hervé Donnard: A propos d’une superchérie littéraire. Le »bonapartisme« de Balzac. In: L’Année Balzacienne (1963), S. 9–142. Er führt als Quelle die 1838 unter dem Namen M. J.-L. Gaudy publizierte Sammlung Maximes et Pensées de Napoléon an, die mutmaßlich auf ein Manuskript Balzacs zurückgeht, das dieser vermutlich an Gaudy verkauft hat. – Zu den textrahmenden Napoleon-Zitaten vgl. CH XI, 903: »›Le mariage ne dérive point de la nature. – La famille orientale
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Ehe-Physiologe also erst einmal Napoleon zitiert und damit dezisionistisch die Machbar- und Veränderbarkeit der Institution Ehe behauptet, kämpft er – gleichsam wie die Gatten im Ehekrieg – um die Position der Macht und eskamotiert zugleich sein Nicht-Wissen und die amouröse Involviertheit als ›Junggeselle‹ in seinen Gegenstand. Die ironische Textintention, ein geordnetes Wissen zur Kontrolle der Ehefrau auszubreiten, wird damit insgeheim immer vom latenten Begehren des Junggesellen-Liebhabers gesteuert; das heißt, dass das trianguläre Verhältnis von Gatte-Gattin-Liebhaber in der Physiologie du mariage parasitär funktioniert.37 Das Buch muss demnach mit der Frage enden, ob der »célibataire« nun heiraten oder ein ehe-störender Liebhaber bleiben wird. Was das Textverfahren angeht, bedeutet dies, dass die Kombination von ›Physiologie‹ und ›Meditation‹ ernst genommen werden muss: Der Gegenstand der Ehe entsteht erst durch Selbstaffizierung und gewinnt dadurch zunehmend imaginäre Züge.38 Tatsächlich verselbständigt er sich dann auch: In der vorletzten Meditation imaginiert sich der Erzähler, affiziert von einer (personifizierten) Ehe, die er in all ihren fantastischen Stadien ›begleitet‹ hat, in seinem »laboratoire« (CH XI, 1189) als ein gealterter, ausgemergelter Greis, der quasi schon tot ist, obwohl oder weil er von Kindern und einer Frau umgeben ist, die er ›nicht geheiratet hat‹. Wo die Liebe geblieben ist, treibt ihn nun um, und weil auch der alte Marquis de T. ihn diesbezüglich nur desillusioniert,39 flüchtet er sich in der letzten Meditation in die Rolle eines alten Pro-
diffère entièrement de la famille occidentale. – L’homme est le ministre de la nature, et la société vient s’enter sur elle. – Les lois sont faites pour les mœurs, et les mœurs varient.‹ […] Ces paroles, prononcées devant le Conseil d’État par Napoléon lors de la discussion du Code civil, frappèrent vivement l’auteur de ce livre; et, peut-être, à son insu, mirent-elles en lui le germe de l’ouvrage qu’il offre aujourd’hui au public.« Sowie am Ende in der XXX. Meditation, CH XI, 1201: »Et puisque des paroles de Napoléon servirent de début à ce livre, pourquoi ne finirait-il pas ainsi qu’il a commencé? En plein Conseil d’État donc, le Premier consul prononça cette phrase foudroyante, qui fait, tout à la fois, l’éloge et la satire du mariage, et le résumé de ce livre: ›Si l’homme ne vieillissait pas, je ne lui voudrais pas de femme‹!« 37 Vgl. hierzu auch Helmut Pfeiffer: Balzacs Parasiten. Grenzen der Repräsentation in den Parents pauvres. In: Brunhilde Wehinger (Hg.): Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997, S. 239–256. 38 Zur konzeptionellen Beständigkeit der Meditation als Form der Selbsttechnik vgl. Christian Wehr: Imagination – Reflexion – Affektion. Aspekte einer Begriffs- und Funktionsgeschichte der Meditation zwischen Spiritualität, Philosophie und Poesie. In: Christoph Strosetzki (Hg.): Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte, Hamburg: Meiner 2010, S. 185–199. 39 Der Marquis de T. ist auch derjenige in der Physiologie du mariage, der den Satz ausspricht: »[M]on mariage est une spéculation« (CH XI, 1190) und dessen Aspirationen, völlig außerhalb der Ehe liegend, diejenigen des Louis Lambert ankündigen.
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pheten, dem am Ende ein einziger Leser bleibt, vor dem er sich mit einer »utilité sociale« (CH XI, 1194) und der zitierten Geld-Statistik eines amour public rechtfertigt. Die letzte Anekdote des Postskriptum bringt in pointierter Form das Risiko zum Ausdruck, das mit Balzacs Ehe-Spekulationen einhergeht. Das Wort hat hier jene Herzogin, die bereits im Eingang des Buches zur Rechtfertigung des Buchvorhabens aufgetreten ist und die nun das fertige Manuskript vorgelegt bekommt. Das Vorhaben, selbst auf diejenige Frau warten zu wollen, die mutig genug sei, ihn zu heiraten, quittiert sie mit einer ›orientalischen Apologie‹, die zugleich eine mise en abyme der Physiologie darstellt: Ein Philosoph, der eine Sammlung »de tous les tours que notre sexe peut jouer« (CH XI, 1202) verfasst hat, wird im Schatten einer Palme von der Orientalin Fatmé verführt. Er versucht – vergeblich – durch die Lektüre des eigenen Werks zu widerstehen. Als sich der eifersüchtige Gatte mit dem Galopp seines Pferdes ankündigt, versteckt sich der Philosoph in einer Kiste. Vom eingetroffenen Ehemann zur Rede gestellt, berichtet die Orientalin im Detail von dem Vorfall. In dem Moment, da der zornentbrannte Faroun sich mit einem Säbel auf die Kiste stürzt, hält ihn die Ehefrau zurück, indem sie die wahre Geschichte als Fiktion präsentiert: ›Reingelegt!‹ Diesen Trick, »ce tour-là« (CH XI, 1205), so Fatmés letzte Worte an den ridikülisierten Philosophen (bzw. jene der Herzogin an den Philosophen der Physiologie), dürfe er in seinem Ehe-Ratgeber nicht vergessen. Das Wissen des Ehe-Ratgebers bleibt ein (Liebes- ) Spiel, das offen lässt, wer gewinnt. Edgar Pankow hat in Bezug auf diese Ökonomie des Nicht-Wissens, deren Auslöser und Antrieb der verborgene Affekt ist, von einer Denkform gesprochen, deren Erkenntnisfortschritte in die eigene Abgründigkeit versenken.40 Man könnte auch sagen: Der Schreiber lässt sich von seinem Buch einsperren. Ob diese spielerische Arbeit entlohnt wird, ob sie ›kompensiert‹ wird, hängt allein davon ab, ob die Leser dieses Spiel mitspielen und sich ihrerseits affizieren lassen.
Bibliographie Balzac, Honoré de: La Comédie humaine. Bibliothèque de la Pléiade. 12 Bde. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard 1976–1981. —: Physiologie du mariage. Herausgegeben von Samuel S. de Sacy. Paris: Gallimard (folio classique).
40 Edgar Pankow: Zwischen Wissenschaft und Kömodie: Honoré de Balzac und die Physiologie du mariage, S. 126.
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Basset, Nathalie: »La Physiologie du mariage est-elle une physiologie?«. In: L’Année Balzacienne 7 (1986), S. 101–114. Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Bd. II.2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 509–690. Brooks, Peter: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven/London: Yale UP 1976. Code civil des Français. Edition originale et seule officielle. Paris: Imprimerie de la République 1804. Donnard, Jean-Hervé: A propos d’une superchérie littéraire. Le »bonapartisme« de Balzac. In: L’Année Balzacienne (1963), S. 9–142. Eggers, Michael: Wissenschaft, Satire und die »schwierigste Sprache der Welt«. Balzacs ›Physiologien‹ und ›Monographien‹ in gattungs- und begriffsgeschichtlicher Perspektive. In: Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen: Wallstein 2013, S. 203–226. Föcking, Marc: Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert. Tübingen: Narr 2002. Kaiser, Gerhard R.: Das Ende der Weisheit und der Beginn des Wissens. Balzacs Physiologie du mariage. In: Hans Gerd Rötzer/Herbert Walz (Hg.): Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann zum 70. Geburtstag. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 235–247. Nesci, Catherine: La Femme mode d’emploi. Balzac, de la ›Physiologie du mariage‹ à ›La Comédie humaine‹. Lexington: French Forum, Publishers 1992. —: Les révolutions conjugales: Le récit restauré dans la Physiologie du mariage. In: L’Année balzacienne 11 (1990), S. 243–254. Lascar, Alex: Les réalités du mariage dans l’Œuvre balzacienne. Le romancier et ses contemporains. In: L’Année balzacienne 9 (2008), S. 165–216. Le Men, Ségolène: Balzac, Gavarni, Bertall et les Petites misères de la vie conjugale. In: Romantisme 43 (1984), S. 29–44. Michel, Arlette: Le mariage chez Honoré de Balzac. Amour et féminisme. Paris: Belles Lettres 1978. Pankow, Daniel: Zwischen Wissenschaft und Kömodie: Honoré de Balzac und die Physiologie du mariage. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 121–139. Pfeiffer, Helmut: Balzacs Parasiten. Grenzen der Repräsentation in den Parents pauvres. In: Brunhilde Wehinger (Hg.): Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997, S. 239–256. Schäfer, Armin/Menke, Bettine/Eschkötter, Daniel (Hg): Das Melodram. Ein Medienbastard. Berlin: Theater der Zeit 2013. Stöferle, Dagmar: Ehe als Nationalfiktion. Dargestelltes Recht im Roman der Moderne (unveröffentlichtes Typoskript). Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphanes 2010/2011. Wehr, Christian: Imagination – Reflexion – Affektion. Aspekte einer Begriffs- und Funktionsgeschichte der Meditation zwischen Spiritualität, Philosophie und Poesie. In: Christoph Strosetzki (Hg.): Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte, Hamburg: Meiner 2010, S. 185–199.
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»dans les fissures de la pensée«: Denken und Affektivität in Valérys Cahiers An den Ursprung der Cahiers setzt Valéry nachträglich die Erfahrung seiner berühmten und krisenhaften Gewitternacht in Genua, die sich hierin als klassische Bekehrungsszene zu lesen aufgibt. Die »Nuit de Gênes« des 4./5. Oktobers 1892 prägt Valéry rückblickend als Ursprung einer vie de l’esprit, auf die er sich in Folge dieser berühmten Gewitternacht ganz und gar ausrichten wolle. Die Idee, die sein Schreiben fortan bestimmt, ist die einer Reinheit und Aktivität des Geistes, die er nach ökonomischen Prinzipien und im Sinne einer »économie limite« (C I, 346; 1923. IX, 623)1 zu steigern sucht: »Je désire pouvoir et seulement pouvoir.« (C I, 22; 1898. I, 492) Dies bildet den zentralen Anspruch, der mit seiner inszenierten Umkehr als »Abkehrung von der Literatur«2 einhergeht und dem Schreiben seiner Cahiers zugrunde liegt. Die Erfahrung jener »nuit effroyable« (Œ II, 1435)3 zeigt sich von einem Kampf zwischen Denken und Affektivität bestimmt. Das Begehren nach allumfassender puissance behauptet sich hier und im Anschluss dieser Erfahrung als Kampf gegen die impuissance der Affekte: »orage partout« (Œ II, 1436)4 Die Bekehrung jener Nacht kommt einer gesuchten Abkehr von den Affekten gleich. In ihrem Ansturm entscheidet sich Valéry für das Idol des Intellekts, für die Aktivität des Geistes, die es gegen alle Erschütterungen und Störungen zu bewahren gelte.5 Was in der vielzitierten Krise folglich hervortritt, ist die Frage der Affektivität, die gerade in dem fortgesetzten Kampf gegen die Ohnmacht der Affekte das Schreiben der Cahiers bestimmt. In der Unermesslichkeit der in ihnen behandelten
1 Paul Valéry: Cahiers 1894–1914. 13 Bde. Herausgegeben von Nicole Celeyrette-Pietri/Judith Robinson-Valéry u. a. Paris: Gallimard 1990. Im Folgenden mit der Sigle C direct im Text zitiert. 2 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 312. 3 Vgl. Zitiert nach: Paul Valéry: Œuvres. Herausgegeben von Paul Hytier. 2 Bde. Paris: Gallimard 1960. Im Folgenden mit der Sigle Œ direkt im Text zitiert. 4 Alle Hervorhebungen des Textes gehen auf den Originaltext zurück. Vgl. zu der Nacht in Genua als »fable comsogonique« den Kommentar von Jean Starobinski: Préface. In: Paul Valéry: Cahiers 1894–1914. 13 Bde. Herausgegeben von Nicole Celeyrette-Pietri/Judith Robinson-Valéry u. a. Paris: Gallimard 1990, S. I–XIV, S. VI. 5 Valéry verwendet in den Cahiers den Begriff sentiment weitgehend synonym mit demjenigen der émotion oder des im Gegensatz zum Begriff der affectivité eher selten verwendeten Begriff des affect. Die Begriffe verweisen gleichermaßen auf den hier eindeutig passiven Bereich der affectivité. https://doi.org/10.1515/9783110479638-005
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Themen lässt sich ihr Schreiben auf den Antagonismus von Denken und Affektivität, Aktivität und Passivität zurückführen.6 Die économie limite knüpft sich so an das Phantasma einer Zähmbarkeit der Affekte. Valéry denkt diese Ökonomie im Sinne einer bestmöglichen Ausnutzung geistiger Kräfte, als économie des forces oder économie de puissance gleich einer präzisen Dressur, für das es jede Verausgabung zu verhindern gelte.7 Das an dieser Steigerung des Geistes orientierte Schreiben richtet sich auf die Ausbildung geistiger Aktivität, das den ›sinnlosen‹ Energieverlust der Affekte einzugrenzen sucht. Im Anschluss an die Philosophie Descartes’ und in radikaler Ablehnung Pascals setzt Valéry damit auf ein Denken, das sich entschieden von der Vorstellung einer Erhabenheit der Gefühle oder einer Weisheit des Herzens absetzt und sich den Affekten zu widersetzen sucht, ja sich gerade über diesen Widerstreit gegen das Affektive etabliert. Dieses Vorhaben der Cahiers als Wendung gegen die Passivität der Affekte artikuliert sich in einem kurzen Teilsatz, den Valéry 1938 in einer Aufzeichnung seiner Cahiers niederschreibt und der im Zentrum der nachfolgenden Betrachtungen stehen wird: »Ce qui est pur en soi – qui touche à tout, et n’est par rien touché, étrange asymétrie« (C I, 160; 1938. XXI, 596). Das tägliche Schreiben, dem er sich von 1894 bis zu seinem Tod 1945 in den frühen Morgenstunden zwischen vier und fünf widmet, will dieses toucher à tout vollziehen. Die Berührung verweist wie die von Valéry verwendete Metapher der Betrachtung auf das Anliegen der Cahiers: Alles soll zum Thema der Analyse gemacht werden. Anders als diese Metaphorik der theoría aber verweist die Berührung hier nicht nur stärker auf die Nähe des Kontaktes im Sinne eines möglichst unmittelbaren Ergreifens, sondern auch auf ein Ineinander von Aktivität und Passivität, das sich als Kampf in den Cahiers austrägt.
Die Affekte als perturbationes animi Es geht um nichts weniger als darum, eine Wissenschaft des gesamten Geistes in den Cahiers zu entwerfen: »[…] de concevoir une sorte de science de tout l’esprit«
6 Vgl. hierzu v. a. die Rubrik der Affectivité in C II, 335–189. Vgl. zur bislang nur am Rande besprochenen Frage der Affektivität für Valérys Cahiers v. a. Judith Robinson: L’analyse de l’esprit dans les Cahiers de Valéry. Paris: Corti 1963, hier v. a. das Kap. VII: Le rôle de l’émotion, S. 155–172. 7 Vgl. hierzu v. a. C I, 339; 1918. VI, 901–902. Sowie zahlreiche weitere Stellen, in denen Valéry den Begriff der économie in diesem Sinne verwendet, vor allem in Bezug auf die Figur des Gladiators, u. a. C I, 242; 1913. IV, 901, C I, 14; 1914. XXIV, 713, C II, 264; 1914. V, 355.
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(C I, 834; 1931–1932. XV, 387). Die Cahiers gelten ebenso und damit verbunden der puissance, die gerade über diese Analyse gesteigert werden soll.8 Denn die Analyse der Gesetzmäßigkeiten des Geistes, des fonctionnement de l’esprit, hält seine Beherrschung und die Steigerung seines Vermögens bereit, die wiederum die gesuchte ›Berührung‹ erlaube. In dieser Ausrichtung auf die Fähigkeiten des Geistes, widmet sich das Schreiben gleichermaßen den Gesetzmäßigkeiten seines Funktionierens wie seiner Stärkung. Diese beiden miteinander eng verwobenen und sich wechselseitig bedingenden Ziele – Erforschung der Funktionsweisen des Geistes und ökonomische Steigerung sowie Beherrschung dieser Gesetzmäßigkeiten, die gerade über diese Erforschung verlaufen soll, – bilden die grundlegenden Ziele der Cahiers. Dieses in den Cahiers unternommene ›Training‹ des Geistes organisiert sich über die Frage des Affekts. Das Projekt der Analyse und der Beherrschung aller Bewusstseinszustände scheint an erster Stelle von den affektiven Widerfahrnissen bedroht, die den sensibelsten Punkt, den Prüfstein des Vorhabens bildet: »Et toute clarté ou netteté est instable tant que le sentiment existe« (C II, 352; 1912. IV, 708). Valéry versteht die Affekte so im wörtlichen Sinne als perturbationes animi, als Aufstörungen und Beunruhigungen des Geistes. Denn sie unterbrechen, so Valéry, das Funktionieren des Geistes und laufen damit dem Projekt der Cahiers entgegen. Denken und Affektivität erscheinen durchgängig in den Cahiers als sich streng gegenüberstehende und ausschließende Bereiche. Die Gefühle stören ebenso das Denken wie das Denken die Affektivität aussetzt: […] – Ainsi – d’un côté sentiments, de l’autre – pensée active – et contrariété mutuelle. Le sentiment se produit peut-être justement dans les fissures de la pensée questionnante et claire. (C II, 337; 1900. I, 1848)
Das Streben nach einem bruchlosen Denken wird so von den Affekten bedroht, die diesem Denken Fissuren zufügen und sich gleichzeitig gerade an seinen Fissuren bilden. Die hypothetische Rede von den ›fissures de la pensée‹ – ›se produit peut-être‹ – nährt das Phantasma einer absoluten Kontrolle und ungestörten Fortsetzung jenes reinen Denkens, das in dieser Vermeidung seiner Bruchstellen die Affekte ausschließen könnte. Denn das Gefühl profitiere, wie es im Fortgang der zitierten Aufzeichnung heißt, von dem Augenblick fehlender Beobachtung: »[Le sentiment] profite du moment où on ne se regarde pas –? – Pourquoi? il envahit la sphère …« (C II, 337; 1900. I, 1848) So fügt das Affektive nicht nur dem Denken
8 Diese gesuchte Steigerung wurde vielfach hervorgehoben, vgl. neben vielen anderen etwa Jean Starobinski: Préface, S. II.
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Brüche zu. Wenn die Gefühle an den Bruchstellen des klaren, aktiven Denkens stehen, so ist ihr Auftreten bereits Zeichen für die Schwächen des Denkens, denn dieses Auftreten weist für Valéry auf eine Unterbrechung, eine Ohnmacht der pensée active hin: Un événement qui émeut ce n’est pas en tant que je le pense qu’il m’émeut. C’est au contraire pour ne pas pouvoir le penser dans ma ou sa plénitude. (C II, 355; 1913. V, 62)
Das Bewegtwerden geht von dem Unvermögen aus, es in seiner Ganzheit zu denken. Der Akt des Denkens verlangt damit nicht nur die Abwesenheit der Affekte, er ist als solcher auf ihre Zähmung gerichtet. Valéry referiert damit auf ein Denken, das sich der Passivität radikal entgegenstellt und diese Entgegenstellung zu seinem obersten Prinzip erhebt.
Le contraire d’armes (Valéry und Pascal) Gerade hierin, in dieser Wendung gegen die Passivität, scheint Valérys Ablehnung von Pascal begründet zu sein, die Gegenstand zahlreicher Studien und Kommentare ist.9 Valérys Auseinandersetzung mit Pascal zeigt sich am prominentesten in seinem 1923 veröffentlichten Text, der sich als »Variation« über einen Gedanken Pascals versteht: »Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.« (Fragm. 201)10 Valérys eigenes Schreiben bildet jedoch keine einfache Variation oder Spielart des Pascal’schen Denkens, sondern offenbart sich vielmehr als Kampf mit Pascal, der vor allem in seinen Cahiers zum Tragen kommt. So finden
9 Vgl. zum Verhältnis von Pascal und Valéry verschiedene Bemerkungen Hans Blumenbergs, die Valéry als »Antipode« Pascals zeigen, u. a. in: Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, Kap. Abgrund und Brücke, S. 447. Vgl. auch u. a.: Kenneth N. Douglas: Paul Valéry on Pascal. In: Publication of the Modern Language Association of America, 61 (1946), S. 820–834. Douglas verweist bereits auf zahlreiche Texte, die sich mit dem Verhältnis von Pascal und Valéry befassen. Vgl. daneben auch spätere Studien: John Cruickshank: Valery and Pascal: Order and Adventure. In: Ernest M. Beaumont/J. M. Cocking u. a. (Hg.): Order and adventure in post-romantic French poetry. Essays presented to C. A. Hackett. New York: Barnes & Noble 1973, S. 120–135. Vgl. auch die Studie von Antonio G. Rodriguez: Paul Valéry et Pascal. Essai sur la dynamique pascalienne chez Valery. Paris: Debresse 1977. Rodriguez weist hier v. a. auch auf den Einfluss Pascals für Valéry. Sowie: Philippe Sellier: Critique et Poétique: Valéry ou Pascal. In: Critique: Revue générale des publications françaises et étrangères 58, 656–657 (2002), S. 72–80. 10 Zitiert nach: Blaise Pascal: Pensées. Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets. Herausgegeben von Louis Lafuma. Paris: Éditions du Luxembourg 1952.
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sich hier zahlreiche Aufzeichnungen und Notizen, die sich teils versteckt, teils sehr deutlich gegen Pascal richten und die Anmerkungen seiner »Variation« aufnehmen und weiterführen.11 Dabei wird deutlich, dass es hier nicht nur um eine marginale Auseinandersetzung mit Pascal geht. Vielmehr lässt sich das Projekt der Cahiers im Ganzen in seiner Gegenüberstellung zu den Pensées lesen. Maurice Blanchot weist in seinem 1947 erschienen Text La main de Pascal auf diese so häufig erinnerte Ablehnung Valérys gegenüber Pascal hin: On a maintes fois rappelé les âpres jugements de Valéry sur Pascal, le reproche qu’il lui fait d’être trop parfaitement désespéré et d’exprimer trop parfaitement ce désespoir. Reproches étranges et, de la part de Valéry, incompréhensibles, en outre contradictoires.12
Die Vorwürfe Valérys, die sich, wie es hier heißt, gegen eine zu perfekte Verzweiflung Pascals richten, seien insofern ›befremdlich‹ und ›unverständlich‹, als doch diese den Wirkungen verpflichtete Sprache die Anerkennung Valérys hervorrufen müsste. Die Absicht eines Schriftstellers, der sich seiner sprachlichen und logischen Mittel für einen gesuchten Effekt bediene, müsse doch eigentlich, so Blanchot weiter, von Valéry affirmiert werden. Aber auch wenn Pascal das ›Modell‹ darstelle, das Valéry hätte annehmen müssen, lehnt er ihn auf beinahe ›unbegreifliche‹ Weise ab: »Et cependant, il lui en veut de cette main qui le guide«.13 Hierin liegt für Blanchot der Widerspruch seiner Haltung. Er macht diese Abwendung Valérys zum Anlass einer Reflexion, die über Valérys Schriften hinausweist und sich allgemein mit den Wirkungen der Kunst befasst: Der Widerspruch in Valérys Haltung zeige eine grundlegende Ablehnung des Lesers gegen-
11 Vgl. Paul Valéry: Variation sur une »Pensée«. In: La Revue Hebdomadaire, 32e année, Bd. VII, n0 28, 7, 14 juillet 1923, S. 161–170. Wiederabgedruckt u. a. in Paul Valéry: Variété. Bd. 1. Paris: Gallimard 1924, S. 147–163. Sodann in: Paul Valéry: Œuvres. Herausgebe. von Jean Hytier. 2 Bde., Bd. 1. Paris: Gallimard 1960, S. 458–473. In den Cahiers finden sich zahlreiche Verweise auf Pascal, vgl. etwa zur silence éternel u. a. C II, 161; 1912. IV, 803, C II, 1197; 1925. X, 537. Vgl. zum esprit de géométrie / de finesse v. a. C. II, 1038–1040; 1936. XIX, 403–405, C II, 994–995; 1911–1912. IV, 624. Zur Pascal’schen Wette vgl. u. a. C II, 1175; 1917. VI, 516, C II, 1195; 1924. X, 272. Douglas zählt in seiner Studie weitere Referenzen auf Pascal im Werk von Valéry auf. Vgl. hierzu Kenneth N. Douglas: Paul Valéry, S. 832–834. 12 Maurice Blanchot: La main de Pascal. In: Ders.: La part du feu. Paris: Gallimard 1949, S. 249– 262, S. 251. 13 Ebda., S. 252.
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über dem Kalkül der Dichtung.14 Zugleich aber scheint mir diese Haltung Valérys nicht nur ein allgemeines und, wie Blanchot schreibt, ›lehrreiches‹ Verhältnis des Lesenden zu jener ihn führenden Hand des Schreibenden anzuzeigen, sondern ein spezifisches Verhältnis, das das Projekt der Cahiers grundlegend betrifft: Valéry lehnt diese ›main de Pascal‹ nicht ab, weil sie führt, sondern er lehnt vielmehr das Anliegen dieser Führung ab. Seine Haltung ist auch insofern lehrreich, als sie auf einen wesentlichen Kern seines Schreibens weist: Die Frage der Affektivität. Deutlich wird dies an den wiederholten Rekursen, die Valéry auf Pascals berühmten Satz vornimmt: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point; on le sait en mille choses.« (Fragm. 110) Valéry negiert in seinen verschiedenen Variationen und Verkehrungen dieses Satzes nicht diese Gründe des Herzens selbst. Er negiert vielmehr Pascals Aufruf, diesen Gründen, die er im Zusammenhang mit den Affekten setzt, einen Sinn zuzuschreiben: Die raisons folgen einer Affektion, einer passiven Widerfahrnis, der, wie es explizit heißt, keinerlei Vermögen und keinerlei Wert zukomme: »Or l’affection de l’âme n’a aucune valeur par elle-même.« (C II, 693; 1942. XXVI, 451) Die Affekte sind »effets de mauvaise ou insuffisante organisation«, »trouble fonctionnel«. (C II, 380; 1942. XXV, 687) Die raisons du cœur stellen so auch keine deutlich begründeten Kräfte dar, denen es zu folgen gelte, sie sind vielmehr dunkle, unbegründete und stumme Gewalten: »Il n’y a pas de ›raisons du cœur‹, mais des pressions et des décisions muettes.« (C II, 353; 1912. IV, 723) Die ganze Aufzeichnung Valérys, der dieser Satz entstammt, konfrontiert das Verborgene und Stumme mit dem deutlich Sichtbaren. Gegenüber der Klarheit des Geistes sind die raisons du cœur jenseits dessen, was sich sehen lässt, »en deçà de ce qui se voit.« (C II, 353; 1912. IV, 323) Ihre Verborgenheit zeigt sich hier nicht zufällig als Stummheit, als das nämlich, was sich der eigenen Sprache entzieht. Die Gründe des Herzens sind zwielichtig, zufällig, ungehorsam, gewaltsam. So spricht Valéry in der Verkehrung des Pascal’schen Satz von der Dummheit des Herzens: »Rien de plus bête que le cœur – dont Pascal estime qu’il faut le croire.« (C II, 374; 1932. XV, 641)15 Wie hier deutlich sichtbar wird, betrifft die Ablehnung Valérys die Abwertung der Vernunft und die Bejahung einer Affektion, die sich in Pascals Pensées artiku-
14 Ebda., S. 252: »L’attitude de Valéry est instructive. Elle nous apprend qu’en art les effets cherchent à revenir vers leurs causes et exigent de ne former avec elles qu’un même ensemble, un monde unique à deux pôle.« 15 Vgl. auch eine weitere Aufzeichnung, die diesen Satz Pascals variiert und hier analog auch dem esprit eine Form des Ungehorsams zuschreibt: C II, 383; 1945. XXIX, 584: »L’esprit aussi a ses raisons que la raison ne connaît pas. Il va où l’on ne voudrait pas qu’il aille, et ne vas pas où l’on voudrait qu’il allât.«
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liert. Seine Ablehnung richtet sich aber noch grundlegender gegen die Funktion, die die Schrift für diese Affizierung einnimmt. Denn Pascals Apologie formuliert nicht allein den Wert einer affection de l’âme, wie Valéry schreibt, sondern ist vielmehr selbst auf diese Affektion gerichtet. Pascals Pensées sind im Ganzen darauf gerichtet, den passiven, von Verlust und Mangel gezeichneten Zustand beim Lesenden hervorzurufen. Sie entziehen den Besitz, indem sie die Nichtigkeit und den unvermeidlichen Verlust aller scheinbaren Güter obsessiv vorführen und so das Gefühl unausweichlicher Unruhe im Lesenden zu erzeugen suchen. Alles soll, wie es explizit heißt, als ein Nichts betrachtet werden. Sie wenden sich damit auf die Affektion des Lesenden – darauf, die Passivität im Lesenden hervorzurufen und davon zu überzeugen, dass die so erzeugte Passivität die Ausrichtung auf das Göttliche anzeigt. Gemäß der christlichen Dialektik, die auf die Erzeugung des Leidens setzt, richten sich die Pensées so auf die Erfahrung der Passivität. Weil man leidet, hat man Schuld und indem man leidet, wird man von der Schuld erlöst werden – so lautet bekanntermaßen die Logik, die hier zum Tragen kommt. Hierfür bildet die Selbstaffektion Christi das unerreichbare Vorbild: Das ›turbare semietipsum‹, das Pascal aus der Bibel zitiert und als Bewegung der Selbstaffektion aus dem Kontext des Satzes deutend herauslöst: »il souffre les tourments qu’il se donne à lui-même.« (Fragm. 919) Es gilt den Lesenden jenem Leid zuzuführen, das als aktives Vermögen zur Passivität erscheint und das allein für die passiv erfahrene Wirkung der göttlichen Gnade disponiert. Für diese durch den Text angestrebte Affektion gilt es die Bewegung des divertissement zu unterbrechen, die Bewegung der Abkehr umzuwenden und dem Lesenden seiner Leere als Anlass seiner Zerstreuung zuzuführen. Wenn Blanchot von diesem Schock, der von dem Anliegen der Pensées ausgeht, nur am Rande schreibt – »qui d’ailleurs le choque«16 – so steht dieser Schock meines Erachtens im Zentrum von Valérys Ablehnung und würde den Widerspruch, den Blanchot aufzeigt, auflösen. Denn Blanchot deutet Valérys Urteil über Pascal als Ablehnung seiner rhetorischen Überredung. Er werfe ihm damit gerade das vor, was er an Poe, Mallarmé und Leonardo bewundere: »la liberté de son esprit, son art, son industrie, la sûreté de sa main«.17 Die Ablehnung Valérys richtet sich jedoch nicht, wie ich sagen würde, auf die ›Kunstfertigkeit‹ Pascals selbst. Zwar klagt Valéry wiederholt die impureté und confusion jener Absicht Pascals an, die nach Verführung oder Überzeugung suchen, aber es scheint Valéry weniger um diese Absicht der Verführung selbst zu gehen, als
16 Blanchot: La main de Pascal, S. 252. 17 Ebda., S. 251.
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um die Suche nach impuissance, auf die sich die Pensées im Ganzen richten: Das, was ihn empört, sei die Verbindung von art und désespoir.18 Valéry lehnt so nicht die Sprache als ein, wie er selbst schreibt, »instrument de calcul presque formel« (C II, 1168; 1916. VI, 29) ab, sondern vielmehr den Zweck, dem dieses Instrument der Sprache bei Pascal dient.19 So scheint es mir bei Valéry nicht um die Ablehnung einer main de l’écrivain zu gehen, sondern um die spezifische Ablehnung der main de Pascal, nämlich die Ablehnung der Erniedrigung und Entmäch tigung, auf die Pascals Pensées sich wenden: »dégoûter les autres par artifices« und den Leser, wie Valéry schreibt, für das Schlimmste zu sensibilisieren: »et que l’on essaie de les sensibiliser au pire, de les rendre infiniment attentifs, infiniment résonnants à l’idée la plus insupportable de leur état.« (C II, 1197; 1924. X, 342) Denn: »Pourquoi le faire?« fragt Valéry. Statt einer Erniedrigung, die sich auf die Erlösung richtet, gelte es doch »de sauver soi-même« (C II, 1202; 1926. XI, 679)20. Pascals Pensées aber dienen Valéry zu nichts [servir], führen nicht weiter, »ne nous avancent beaucoup«, sie bringen keine Steigerung der puissance21, keine auf Erhöhung gerichtete Transformation, sondern gelten der bloßen Erniedrigung [aplatir, déprimer].22 So kommt Valéry wiederholt auf diese verwirrende [turbulent, agitateur], gewaltsame und erniedrigende Wirkung zurück, die von Pascals Schriften ausgehe.23 Es sei aber diese Überzeugung von der Schwäche, so heißt es, ein Leichtes: Il est bien aisé de déprimer l’homme, de montrer l’infirmité de sa connaissance, l’instabilité de son attention, la fragilité de son corps, la misère de ses passions, le peu de sa durée, la vanité des arts qu’il approfondit par vanité […]. (C II, 1191; 1923. IX, 386)
In dieser so leicht zu bewirkenden Überzeugung der vanité und impuissance sei Pascal »nuisible«, er ist »ennemi du genre humain« (C II, 1222; 1933. XVI, 201). Seine Pensées stellen keine Waffen der Ermächtigung zur Verfügung, sondern suchen nach einer Affektion, die einer Entwaffnung gleichkommt: »Il ne nous donne pas des armes, mais souvent plutôt le contraire d’armes.« (C II, 1184; 1919– 1920. VII, 440)
18 Vgl. u. a. C II, 1223; 1934. XVII, 279. 19 Vgl. u. a. C II, 1195; 1924. X, 194, sowie C II, 1168; 1916. VI, 29 20 Gerade diese Möglichkeit der Selbstbewahrung aber wird von Pascal entschieden abgelehnt: »ce n’est point dans vous-même que vous trouverez ni la vérité ni le bien.« (Fragm. 149) 21 Vgl. hierzu u. a. C II, 1184; 1919–1920. VII, 440. 22 Vgl. C II, 1222; 1933. XVI, 201). 23 Vgl. C I, 615; 1925–1926. XI, 381.
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Wenn damit in der rhetorischen Absicht der Pensées gerade eine Nähe zu Valéry liegt24, so sind seine Cahiers genau entgegengesetzt auf die Steigerung des eigenen Vermögens aus: Sie sollen bewaffnen. Der gesuchten puissance des Denkens steht so die Pascal’sche impuissance gegenüber: »Descartes vise / songe / à la puissance – Pascal à l’impuissance de la pensée.« (C I, 600; 1924. X, 350) Die Cahiers, die sich gegen diese impuissance richten, stellen so im Ganzen auch immer einen Kampf gegen Pascal dar.
Gladiator Die Cahiers suchen nun gerade nach jenen Waffen, die Valéry bei Pascal nicht findet: »Je veux faire pour l’esprit, une arme, un instrument, un outil.« (C I, 50; 1910. IV, 426) Diese Waffen richten sich gegen die Bedrohungen der Affekte. Es gilt, sich gegen ihre »puissance aveugle« (C I, 48; 1909–1910. IV, 385) zu verteidigen, um den Geist unantastbar zu machen. In kriegerischer Metaphorik fassen die Aufzeichnungen diesen Kampf mit den Affekten als Auseinandersetzung mit den »vastes déploiements de l’âme« (C II, 340; 1910. IV, 438), den Angriffen der Affekte, den ›Dämonen‹ des Gefühls, gegen deren Kraft sich das Schreiben zu wappnen sucht und so eine »art de guerre«25 vollzieht. Die Cahiers werden auf diese Weise zum Schauplatz dieses Kampfes. Alles hängt damit von der eigenen, souveränen Handhabung ab: Tout mon effort ne tend-il pas à te mettre tout entier dans le creux de ta main? Je suis par moments – dans le creux de ma main. Si je n’y puis tenir – il n’y a pas de Science. (C I, 34; 1903–1905. III, 190)
Die Science ist an diese Handhabung, an eine manœuvre gebunden: Die Anstrengung, die Valéry hier befragt, richtet sich darauf, sich selbst in den creux de la main zu bringen. Diese Möglichkeit der Selbst-Führung gelingt hier nur par moments; sie ist immer von der Instabilität der Affekte bedroht.
24 Diese Nähe zeigt sich u. a. auch in der Bekehrungsszene. Vgl. hierzu auch Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 270. Auf eine Form der Nähe, aus der sich die Ablehnung gerade begründet, scheint auch Cioran anzuspielen: Émile M. Cioran: Valéry face à ses Idoles. In: La Nouvelle Revue Française 17, 204 (1969), S. 801–819, hier v. a. S. 812. 25 Jean-Michel Rey: Un travail sans nom. In: Paul Valéry: Cahiers 1894–1914. Herausgegeben von Nicole Celeyrette-Pietri/Robert Picerking u. a., Bd. XI: 1911–1912. Paris: Gallimard 2009, S. 13–26, S. 14.
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Das Training des Denkens verkörpert sich in der Figur des Gladiators, der als Allegorie des aktiven Kampfes in den Cahiers auftritt: »Gladiator. La volonté de potentiel et de pureté.« (C I, 345; 1923. IX, 588) Die dressage de l’esprit, nach der Valéry über die umfassende Analyse seiner Aufzeichnungen sucht, soll die Disziplin, Präzision, die Reaktionsfähigkeit und Stärke des Geistes steigern: »pour obtenir la plus grande précision et économie«. (C I, 371; 1937. XX, 545) In dieser Suche nach Handhabung soll folglich der passive Teil der Berührung überwunden werden. Es geht um eine rein aktive Berührung, die das Berührtwerden in der Beherrschung auszuschließen sucht. Denn das Berührende erscheint als das, was sich dem Denken entzieht, sich ihm entgegensetzt. Es hat, wie es in einer Aufzeichnung heißt, keinerlei Sinn: Ce qui nous touche le plus n’a point de sens. Une chose nous touche pour paraître avoir un sens, être chargée de sens. L’émotion est de ne pouvoir se détacher du point d’où la chose émouvante semble avoir un sens. (C II, 355. 1913. V, 62)
Das toucher à tout, das Valéry anstrebt, offenbart damit gerade und paradoxerweise das, was sich dem Berührtwerden gegenüberstellt. Die Aktivität der Berührung verhindert in dieser Vorstellung die passive Erfahrung. Damit aber deutet Valéry die Metapher der Berührung um, die doch gerade darin besteht, im Akt der Berührung berührt zu werden.26 Das, was mich berührt, berührt mich, weil ich es nicht in seiner Ganzheit denken kann, weil es sich als puissance caché meiner Handhabe entzieht: So lautet die Grundvorstellung, die in den zitierten Stellen immer wieder hervortritt. Nur die Möglichkeit, das Berührtwerden zu denken, würde die erfahrene Passivität in die Aktivität der Berührung überführen. Nimmt man die Figur einer unberührten, sich nicht selbst berührenden Berührung ernst, so gründet dieses Vorhaben einer sinnlichen Geste ohne erfahrene Passivität in einer Paradoxie: Die Paradoxie oder, wie Valéry schreibt, étrange asymétrie, liegt in der Vorstellung einer Berührung, die das Berührtwerden ausschlösse und so eine unmögliche Berührungsform denkt. Es geht folglich um einen Kampf um die unerreichbare Aktivität des Berührens. Dabei stellt sich die Frage, warum Valéry die Figur der Berührung für den Akt seines Schreibens überhaupt verwendet, wo er doch die aktiv-passive Verschränktheit, die das Berühren ausmacht, zugleich auszuschließen sucht. Es scheint gerade um diese zu überwindende Gegenseite
26 Vgl. zu dieser Gleichzeitigkeit von Aktivität und Passivität im Akt der Berührung u. a. v. a. die Studie von Derrida zur Berührung: Jacques Derrida: Le toucher, Jean-Luc Nancy. Paris: Gallimard 2000, S. 15 ff. Vgl. auch eine Anmerkung Blumenbergs über eine andere Stelle in Valérys Faust, in der es genau um diese Gleichzeitigkeit von Berührung und Berührtwerden geht: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 317.
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und Gegenseitigkeit der Berührung zu gehen. Sein Anspruch einer aktiven Berührung ruft stets das auf, was die Berührung selbst wiederum unterläuft. Es geht um einen Kampf zwischen Berührung und Berührtwerden. Noch im Akt der Berührung zeigt sich das Schreiben der Cahiers von dem berührt, was es berühren will und führt so immer jene doppelte Bewegung der Berührung vor, die es zugleich hinter sich lassen will. Eindeutig spricht Valéry die Absurdität dieses Vorhabens aus: So zeigt sich die in der Berührung gesuchte Geste der Unterwerfung, die die Gegenstände zu Objekten macht, undurchführbar und stößt gerade bei der Analyse der Affekte auf ihren größten Widerstand und die Grenzen einer gesuchten Ökonomisierung und Souveränisierung, wie es in dem mit »Sub signo doloris« betitelten Heft heißt: »Il [le cœur] triomphe plus fort que tout, que l’esprit, que l’organisme.« (C II, 389; 1945. XXIX, 909) Die ebenso starke wie uneinsehbare puissance der Affekte, ihre Eigengesetzlichkeit, Unausmessbarkeit und Irrationalität des »presque rien sur le tout« (C II, 386; 1945. XXIX, 753) entzieht sich der Inbesitznahme. Ihr Auftreten begründet sich in der Unangemessenheit von Ursache und Wirkung, in Störungen, fehlenden oder unzureichenden Organen, das heißt Werkzeugen, die ihre Handhabung zuließen und ihre grande effusion d’énergie, déperdition, dissipation stupide oder dépense verhinderten. Wir haben, so Valéry, keine Hände, um diese Verluste aufzuhalten: »nous n’avons pas de mains.« (C X, 755; –)27 Die gesuchte Beherrschung durch die Berührung wird so zum eigentlichen Subjekt der Berührung. Hier wird die Unbeherrschbarkeit der Affekte seinerseits selbst zum Affekt: Zur Furcht vor ihrer pouvoir souverain oder zur Scham, Qual oder Wut über die sich wiederholende Dummheit der Affekte, ihrer unnützen Verausgabung. In dieser Schwierigkeit des Berührungsaktes wird das Streben nach Beherrschung der Affekte seinerseits zum Beherrschtwerden, dem das schreibende Subjekt in den Cahiers unterliegt: »Le faire me domine« (C I, 187; 1940. XXIII, 553): Das Machen wird zum beherrschenden Subjekt: »Je fus possédé par le démon de la Pureté.« (C I, 303; 1929. XIII, 799) Zwischen dem Streben nach einem »minimum de souffrance« und der gleichzeitigen Suche nach einem »accroissement de connaissance-puissance du type humain« kann so, wie Valéry schreibt, wiederum Widerstreit auftreten.28 Gegen diesen Widerstreit aber behauptet sich das Training: »Très noble et absurde tendance vers l’état où toutes les émotions seraient obéissantes à la volonté.« (C II, 339; 1905. III, 626) Die eingestandene Absurdität bedeutet so
27 Vgl. auch C II, 362; 1920–1921. VII, 785. 28 Vgl. C I, 116; 1929. XIII, 799. So sind die Cahiers, wie Starobinski mit einem Zitat Valérys in Erinnerung ruft, die »Monumente« seiner Schwierigkeiten. Vgl. Jean Starobinski: Préface, S. I.
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nicht die Aufgabe der noble tendance. In der Unerreichbarkeit absoluter Reinheit und Stabilität installiert sich dieser dressage, in der für Valéry die Kunst besteht, als dauerhaftes Training. Das Schreiben wird gerade, wie Jean-Michel Rey schreibt, von dem verfolgt, was sich ihm entzieht: »L’écriture est continuellement hantée […] par ce qu’elle ne touche pas«.29 So ist es diese Suche nach einer Ökonomie, die zu diesem in äußerstem Maße unökonomischen Schreiben der Cahiers führt.
Moi pur – personnalité Dieser ebenso absurde wie erhabene Kampf gegen die Affekte vollzieht sich in den Cahiers als Kampf zwischen der personnalité und dem Moi pur.30 Das Ideal einer von den Affekten befreiten Reinheit des analytischen Blicks bindet sich an den Begriff des Moi als Träger dieses Blicks. Der Moi pur wird zum zentralen Fluchtpunkt der Cahiers:31 Auf ihn ist das Schreiben und das sich in ihm ausbildende, stets schärfende Bewusstsein gerichtet, von ihm aus gelte es zu denken. Das Ich erscheint dementsprechend als ein in seiner unerreichbaren Idealität virtueller Nullpunkt, als Zentrum und Ursprung aller Tätigkeit. Es bildet keineswegs eine eigene Individualität, sondern definiert sich gerade in seiner Entgegensetzung zur zufällig angenommenen Rolle der personnalité als eigenschaftslose, absolute und unpersönliche Potentialität, »diversité possible« (C I, 221; 1943. XXVII, 815), der man durch den ›Ausstieg‹ aus der affektbestimmten und bewirkten personnalité nahe komme: »Il faut sortir de la personnalité pour entrer dans le moi.« (C II, 299; 1921. VIII, 262) Valéry fasst den Moi pur damit als absoluten Anfang, »Moi le premier.« (C I, 43; 1907–1908. IV, 281) Dieses erste, reine Ich ist die gottähnliche Position einer causa prima, einer reinen Aktivität, die selbst von nichts affiziert als umfassende Bedingung alles Bewirkten erscheint: qui touche
29 Jean-Michel Rey: Un travail sans nom, S. 26. In Bezug auf die gesuchte Ökonomisierung schreibt er hier: »l’essentiel est du côté d’une économie de l’esprit«. (Ebda., S. 15) Diese Suche aber führt gerade zum dauerhaften Training des Schreibens. 30 Vgl. hierzu insbesondere die Rubrik »Moi et la personnalité«, C II, 277–333. Vgl. dazu auch v. a. die Studie von Nicolette Celeyrette-Pietri: Valéry et le Moi. Des Cahiers à l’œuvre. Paris: Klinck sieck 1979. 31 Zur »Theorie des Blicks« bei Valéry vgl. v. a. von Cornelia Klettke: Aspekte einer »Kunst« des Sehens. Zu Paul Valérys Philosophie des Blicks. In: Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hg.): Paul Valéry. Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur. Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 101–127. Vgl. hierzu auch den berühmten Text von Jacques Derrida: Qual quelle. Les sources de Paul Valéry. In: MLN 87, 4 (1972), S. 563–599, hier v. a. S. 576.
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à tout, et n’est par rien touché. Diese Unberührbarkeit kommt, wie der Folgesatz dieser Aufzeichnung deutlich macht, einer Weigerung gegen die eigene Vergangenheit gleich: »ce qui refuse d’avoir été«. (C I, 160; 1938. XXI, 596) Der Anspruch eines Ausschlusses des Berührtwerdens gilt der Berührung des Selbst im Akt der Berührung. Gerade in dieser unüberwindbaren Selbstaffektion liegt die uneinnehmbare Position des Moi als unbewegter, selbst unberührter Beweger. Denn die im Denken vollzogene Berührung des Moi wird von dem Gedachten eingeholt, von der Berührung berührt. Zwar ist dieses Ich unberührt, erscheint aber gleichzeitig durch die sensation erzeugt und damit gerade im Widerspruch als bereits Affiziertes. Derridas früher Text »Qual quelle« widmet sich diesem Moi pur als Denken einer Quelle, die Valéry in seinem unermüdlichen »soif de l’origine«32 als selbst nicht zur Erscheinung bringenden Punkt denkt, der sich nur in seiner »disparition incessante«33 zeige. Die Uneinnehmbarkeit des Moi bedingt so die Bewegung einer unablässigen Zurückweisung oder Negation der personnalité, die sich wiederum im Denken vollzieht: Die Position des Moi ist keine endgültig erworbene Position, sondern ist definiert als »incessant retirement de la puissance devant l’acte.« (C I, 282; 1905–1906. III, 875) Das Ich ist Rückzug auf die puissance gegenüber dem acte, das Sein, das einem reinen Vermögen gleichkommt. Es gilt, aus der personnalité auszutreten, gegen jede auferlegte, erfahrene Bestimmung aufzubegehren und so »en relation avec l’informe« (C I, 34; 1903–1906. III, 364) zu dieser Bewegung der Flucht selbst zu werden. Das Ich konzentriert sich damit, wie Valéry schreibt, auf den Punkt der Verneinung, »est réduit à un point qui nie«. (C XVI, 195) Es kommt in keiner Form zur Erscheinung, ist wesentlich gegen diese Erscheinung gerichtet. Dieser Rückzug auf den Moi pur ist so mit einer ständigen Opferung der von Affektion betroffenen personnalité verbunden: »Je m’immole intérieurement à ce que je voudrais être.« (C I, 35; 1903–1905. III, 439) In einer mit »Principe du Protée« überschriebenen Aufzeichnung heißt es, er selbst sei voller »créations mortes et de moi tués«. (C I, 329; 1912. IV, 797) Was hierin verneint und geopfert wird, ist der Fall in die Passivität, der durch die Suche nach immer erneuter Bewusstwerdung das Bewirkte ablehnt, indem es sich alles zum Gegenstand macht und so selbst zum Subjekt wird: Das Ich »interrompt nécessairement et indéfiniment la chute dans l’objet« (C II, 309; 1927. XII, 329), es verhindert den Fall ins Objekt.34
32 Ebda., S. 576. 33 Ebda., S. 570. Vgl. hier auch S. 573: »En tant que telle, cette source, a la pureté de son eau, est toujours disséminée loin d’elle-même et n’a pas de rapport à soi en tant que source.« 34 Gemäß einer solchen Opferung heißt es so auch in jener Aufzeichnung, der dieser Anspruch eines toucher à tout entstammt: »ce qui veut tout consumer. Ignis sunt.« Vgl. zur Bedeutung der
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Écriture active In diesem Ausschluss des Berührtwerdens sucht Valéry nicht die sensibilité als Bedingung von Erkenntnis auszuschließen. So erscheint die Sinnlichkeit gleichzeitig als Voraussetzung der gesuchten Berührung. Diese unterbricht jedoch zugleich als »aberrance de la sensibilité« das Funktionieren des Geistes und läuft damit dem Projekt der Cahiers entgegen. Der gesuchte Ausschluss bezieht sich auf eine »sensibilité affective et offensive« (C II, 383; 1944. XXVIII, 334). Es geht folglich in den Cahiers gleichermaßen um einen Kampf für wie auch gegen die Sensibilität: um einen Zustand der Empfindungslosigkeit, der einen gleichwohl von der Erkenntnis des Sinnlichen nicht ausschlösse. In diesem Widerspruch spricht sich das von Martin von Koppenfels beschriebene »Phantasma der Immunität« und der Affektabwehr aus, das auf Flaubert zurückgeht: Ständig erscheinen in Flauberts Korrespondenz »in einem Atemzug gesteigerte Sensibilität und völlige Unberührbarkeit als Bedingungen der wahren Kunst: Sensibilisierung als Desensibilisierung.«35 Gleich den von Valéry bewunderten Chirurgen, die mit dem Werkzeug ihrer »main armée« (Œ 1, 910) gegen die Schmerzen vorgingen, sucht sein Schreiben diesen Kampf um eine von der Sinnlichkeit nicht ausgeschlossene Anästhesie. Als eine solche mit der bewaffneten Hand vollzogene manœuvre zeigt sich das Schreiben der Cahiers: Die wiederholte Loslösung, die das Berührtwerden in die Aktivität der Berührung überführen will, vollziehen die Cahiers in einem Schreiben, das sich immer erneut seine Gegenstände unterwirft. Die schreibende Hand bildet das Werkzeug des Ankämpfens gegen das Berührtwerden, sie will alles berühren, ohne von den Gegenständen der Berührung berührt zu werden. Valéry setzt, wie gezeigt, auf ein bewaffnetes Schreiben, das sich den Affekten entgegenzustellen sucht. So geht es ihm, wie man in einer Aufzeichnung lesen kann, darum, selbst noch die »partie généralement passive de l’acte de l’écrire« (C I, 118; 1929–1930. XIV, 261) neu zu erfinden. Der Akt des Schreibens wird hier selbst in seiner Passivität aufgerufen, die es zu überwinden gelte: selbst das nämlich neu zu setzen, was im allgemeinen passiv ist. Der Schreibakt und sein im allgemeinen passiver Teil scheint zugleich gerade die Grenze dieser Idee
Opferschaft v. a. in der Dichtung Valérys die Studie von Karin Peters: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert. München: Fink 2013, hier insbes. das Kap. IV zu Valérys Gedicht »La Pythie«. 35 Martin von Koppenfels: Flauberts Hand. Zur Rhetorik der Immunität. In: Eckart Goebel/Eberhard Lämmert (Hg.): »Für Viele stehen, indem man für sich steht«: Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 83–105, S. 102. Vgl. zum »Phantasma der Immunität« als eine Konstante im Energiehaushalt der Moderne« auch ebda., S. 102 f.
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zu bezeichnen. Ohne dass Valéry an dieser Stelle näher auf diesen passiven Teil des Schreibaktes eingeht, lassen sich doch die Cahiers im Ganzen als Versuch einer solchen Neubestimmung des Schreibaktes lesen. Die von Valéry aufgerufene Passivität des Schreibens erinnert an den von Barthes geprägten Begriff der écriture mediale: Das Medium, das Barthes hier als Form, das moderne Schreiben zu denken, einführt, ist eine vor allem aus der griechischen Grammatik bekannte dritte Verbform, die hier neben Aktiv und Passiv existiert.36 Verweisen die Diathesen des Verbs auf die Position des Subjekts innerhalb des Prozesses, so bezeichnet das Medium einen Prozess, der auf das Subjekt dieses Prozesses einwirkt. Seine Analyse der medialen Verbform hat nun für das Schreiben selbst Bedeutung: Das Objekt wirkt auf das Subjekt ein und damit auch auf jenes Streben, von dem der Akt ausging. Der Schreibende existiert nicht außerhalb der Schrift, sondern bewirkt etwas, von dem er als Subjekt affiziert wird. Hierin entspricht das Medium, so Barthes’ vielzitierte Aussage in seinem Essay, gänzlich dem »état de l’écrire moderne«: Die écriture moderne zu denken, hieße für Barthes einen dritten Term zu denken, also eine Aktivität, die einer Affektion gleichkommt, eine Aktivität, die zugleich Affektion ist: Schreiben bezeichnet den Zusammenfall von Aktion und Affektion: »effectuer l’écriture en s’affectant soi-même«.37 Genau diese hier von Barthes reflektierte Affektion des Schreibens, s’affectant soi-même, ließe sich auf jene Affektion beziehen, die Valéry zu überwinden sucht: Denn er entwickelt in den Cahiers ein Schreiben, das sich im Gegensatz zu einem auf Affektion gerichteten oder von ihm betroffenen Schreiben von dieser Affektion loszulösen sucht. Am Ideal des – so ließe sich sagen – ›chirurgischen Schreibaktes‹38 zeigt sich zugleich die Paradoxie oder ›Asymmetrie‹ einer Berührung ohne Berührtwerden: Denn bildet die schreibende Hand auch das gesuchte Organ, das Werkzeug [organon] des Kampfes, so wird sie zugleich eingeholt von der Passivität ihres Aktes: »Die Hand, Organ der Berührung […] wird zum Organ der Immunisierung.«39 An dieser Stelle steht Valérys Hass gegenüber dem Körper und expliziter noch, die Ablehnung des Schreibaktes, der »dégout d’ecrire«: »Le physique de l’écriture m’est insupportable.« (C I, 40; –) Das Instrument der Immu-
36 Vgl. zu dieser Medialität des Schreibens v. a. seinen vielbeachteten Essay: Roland Barthes: Écrire, verbe intransitif? (1970). In: Ders.: Le Bruissement de la langage. Essais critiques IV. Paris: Seuil 1984, S. 21–31. 37 Roland Barthes: Écrire, verbe l’intransitif, S. 29. 38 Vgl. hierzu noch einmal die Nähe zu Flaubert: Martin von Koppenfels: Flauberts Hand, S. 99: »Inbegriff der immunen Hand ist die des Chirurgen […], die unberührt ins lebendige, aber auch (im Seziersaal) ins tote Fleisch schneidet.« 39 Ebda., Flauberts Hand, S. 100.
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nisierung ist somit zugleich immer das, was die Immunität bedroht. Die aktive Herauslösung aus der gerade im Schreiben erzeugten personnalité vollzieht sich so über ein immer neu ansetzendes Schreiben, das sich im Schreiben gegen die im Schreiben errichtete Form wendet: »Écrire enchaîne. Garde ta liberté.« (C I, 238; 1905–1906. III, 814) Hieran bindet sich das wiederkehrende Bild der sich selbst verschlingenden Schlange bei Valéry, die sich gerade im Schreiben wieder aufrichtet und das Selbst angreift: »Au moment que j’écris […] le Serpent se redresse […] prête à mordre mon cœur et à broyer entre ses spires ma poitrine«. (C II, 559; 1945. XXIX, 838) So geht es in den Cahiers nicht um Überarbeitung und Relektüre, sondern um ein neuansetzendes, morgendliches, von den Affekten des Tages unbetroffenes Schreiben. Dieses wendet sich in größtmöglicher Annäherung an ein unberührtes Ich seinen Gegenständen zu. Hierin vollzieht es einen dauerhaften recul vor der eigenen Passivität, es kehrt möglichst auch von der eigenen Schrift unbetroffen zur »page blanche« jener Nacht zurück, die als Ursprungsszene der Absonderung aus der Form der personnalité in Erscheinung tritt: Es ist die »heure de l’absolu.« (XX, 704), die »l’avant toutes choses« ist.40 Der hier erstmals geschaffene Blick – »… Je m’étais fait un regard.« (Œ I, 20) – bildet das immer neu einzuholende Ziel: refaire en pur, refaire son esprit, heißt es so an zahlreichen Stellen. Die Cahiers wiederholen damit jenen Zustand, den Valéry an den Beginn seiner Cahiers setzt: Dem Herauslösen des Ichs nicht als dauerhaft herausgelöster Blick, sondern als aktives Herauslösen, als immer erneut einzuholender Blick. Das re- als Anzeichen der Wiederholung bezieht sich nicht allein auf diesen ersten Akt des faire, sondern auf die Notwendigkeit der Wiederholung, ist doch die Herstellung einer absoluten Reinheit nie zu gewinnen. Denn das Ich beschreibt nicht die einmal gewonnene, sondern die immer neu einzuholende, unerreichbare Perspektive. In dieser Ausrichtung betreiben die Cahiers einen Culte du Moi, das heißt ebenso eine Anbetung, Verehrung dieses Moi als auch eine Pflege, Kultivierung, Übung dieses immer entfernten Ichs. Das Training, das die Cahiers vollziehen, hält dieses Ich im Raum des Zwischen der autodiscussion infini (C I, 229; 1897–1899. I, 180), das die Erfahrung der Selbstaffektion immer erneut einem Du zuschreibt: Dem Ringen zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Moi und personnalité: »Je suis entre moi et moi …« schreibt Valéry so auch über die nuit effroyable. (Œ II, 1435–1436) Der zentrale Moment des Erwachens ist »débat obscur« zwischen zwei Ichs und hierin Wiederholung dieser Szene des Zwischen: »Réveil – dialogue du Moi et du moi.« (C II, 315; 1931. XV, 319)
40 Vgl. dazu u. a. Nicole Celeyrette-Pietri: Valéry et le moi, S. 41.
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Die gesuchte Aktivität des Schreibens, die Aktivität der Berührung bedarf, so ließe sich umgekehrt formulieren, gerade der Affekte. Denn die Stärke des Geistes zeigt sich nur über die Möglichkeit, Beherrschung zu erlangen, das heißt die gegen sich selbst unternommene Anstrengung: »Ce que j’ai d’esprit me vient de m’être exercé contre moi-même.« (C I, 64; 1907–1908. IV, 280–281) Die Aktivität der Berührung bedingt nicht nur die Selbst-Berührung, sondern zeigt sich nur in der Passivität des Berührtwerdens. Das Ich als »éternel potentiel« (C II, 280; 1905–1906. III, 780) zeichnet sich einzig in der Flucht aus der personnalité ab. Das Unwetter der Gefühle ermöglicht so auch, wie es in einer Aufzeichnung heißt, gerade die Reinigung des Ich: »Un miroir jamais troublé ne se croit plus un miroir.« (C II, 342; 1911. VII, 269) Es umgibt sich mit »fantômes d’encerclement« (C I, 42. 1907–1908. IV, 281), umzingelt sich mit Gespenstern, nur um selbst, in diesem Entzug [»en s’y dérobant], der seinem Kampf gleichkommt, vorhanden zu sein.
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»dans les fissures de la pensée«
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II Dissimulationen
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Les affaires d’argent – Zum Verhältnis von Ökonomie und Affekt in Flauberts Madame Bovary In Flauberts Roman Madame Bovary wird in besonderer Weise eine Ökonomie des Affekts verhandelt, spielen das Verhältnis von Affekt und Ökonomie eine zentrale Rolle. Emma Bovary scheitert Bill Overton zufolge, der die Novel of Female Adultery im europäischen Zuschnitt fokussiert hat, anders als ihre Schwestern nicht eigentlich an ihrem Ehebruch, (mit Matt formuliert an ihrem Liebesverrat), sondern an ihrem nicht ökonomischen Handeln.1 Ökonomie definiert abgeleitet vom griechischen Wort oikos für Haus und nomos für Gesetz im ursprünglichen Sinn Haushalten. Gerade das kann Emma aber nicht: Sie macht Schulden bei dem Händler Lheureux.2 Bereits die Korrelation von Verführungsszene und Landwirtschaftsausstellung macht deutlich, dass Gefühle in Flauberts Roman im Zeichen der Ökonomie verhandelt werden. Die zentrale Verführung Emmas durch den Adeligen Rodolphe vollzieht sich scheinbar vor der Folie romantisch kodierter Liebe als Passion, gehorcht aber tatsächlich einer rigiden, ökonomisch kodierten Transaktion. Setzt die erste Affäre Emmas mit der Landwirtschaftsausstellung ein, so markiert bezeichnenderweise eine Opernaufführung den zweiten Ehebruch Emmas. Steht die erste Szene im Zeichen der Ökonomie und des Tausches, so wird die zweite durch die Opernhandlung affektiv aufgeladen: Insbesondere die Oper setzt Affekte frei, die zeigen, dass der ökonomische Diskurs Bruchstellen aufweist, Bruchstellen im ästhetischen Regime der Moderne.3 Folgt man der These Overtons, dass Emma in erster Linie an ihrem unokönomischen Handeln scheitert, so gilt es zunächst die Szenen mit dem Tuchhändler Lheureux genauer in den Blick zu nehmen. Der Tuchhändler, dem bereits das Glücksversprechen mit dem anspielungsreichen Namen L’heureux eingeschrie-
1 Bill Overton: The Novel of Female Adultery. Love and Gender in Continental European Fiction, 1830–1900. Basingtoke: Macmillan 1996, S. 82. 2 In Le grand Robert de la langue française wird der Begriff économie wie folgt definiert: »ÉCONOMIE: lat. class. œconomia, de oikonomos; Art de bien conduire, de bien administer une maison.« (»ÉCONOMIE«. In: Le grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. 3. Couv – Ento. Herausgegeben von Paul Robert/Alain Rey. Paris: Robert 1987, S. 763.) 3 S. Einleitung des Bandes, Hindemith/Stöferle. https://doi.org/10.1515/9783110479638-006
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ben ist, verführt Emma zum Kauf nicht nur, indem er die Qualität seiner Waren anpreist und ihr in Aussicht stellt, diese erst später bezahlen zu müssen, sondern auch indem er in besonderer Weise auf Emmas Wunsch nach sozialer Anerkennung und nach einer Flucht aus der provinziellen Enge zu spekulieren versteht: Die Ware wird zur Projektionsfläche ihrer Phantasien und zum Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs. Indem der Tuchhändler die Waren in besonderer Weise inszeniert, verführt er Emma zum Kauf und löst bei der enttäuschten Arztgattin einen veritablen Kaufrausch aus. Laut Gertrud Lehnert muss die Käuferin erst ihre eigene Imaginationskraft investieren, damit die Ware zum Symbol oft nicht klar artikulierter Sehnsüchte avanciert: »Die Begegnung mit dem Ding und der momentane Kontrollverlust bewirken ein Glücksgefühl in der Käuferin«, so Lehnert.4 Die Ware wird mit Affekten versehen. Zentral sind dabei vor allem folgende Momente: die Imaginationskraft der Verkäuferin, die ihre unartikulierten Phantasien und Wünsche auf die Ware projiziert, der implizierte Kontrollverlust, das Moment des Sich-Verlierens, des Rausches und die Konsumhaltung, die teilweise auch in den interpersonalen Beziehungen der Romanfiguren zu erkennen ist. Der Händler Lheureux, der seinen Kunden einen Kredit gewährt, um Frauen wie Madame Bovary zum unkontrollierten Kaufrausch zu bewegen, zeigt zugleich, wie auch die Figuren Balzacs, das Ende der Tradition des von Adam Smith und Jean Baptiste Say geprägten utopischen Liberalismus auf.5 Die beiden für das Selbstverständnis der ökonomischen Eliten der Julimonarchie zentralen ökonomischen Denker gehen davon aus, dass das auf Interaktion von konkurrierenden Privatpersonen angelegte gesellschaftliche Gefüge in der Lage sei, Harmonie und Wohlstand zu garantieren. Flaubert verdeutlicht, etwas später als Balzac, die Kehrseite der bürgerlichen Marktgesellschaft. Die Konsumhaltung offenbart sich in Emmas ständiger Suche nach neuen Konsumobjekten oder Waren. Jeder Widerstand des Objekts wird als Unzulänglichkeit eines falsch ausgewählten Produkts interpretiert; die nicht vollends befriedigende Ware im marktgesteuerten Konsumismus gegen eine neue und vermeintlich bessere ausgetauscht.6 Sinnfällig ist nun aber, dass diese Haltung nicht nur Emmas Konsumverhalten bestimmt, sondern auch ihre Paarbeziehungen, bei denen ihren Partnern wiederholt der Status von Konsumobjekten zugewiesen wird.7 Ist dies ein
4 Gertrud Lehnert: Kaufrausch. In: Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.): Koordination der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen. Berlin: Theater der Zeit 2009, S. 254– 266, S. 255. 5 Vgl. Achim Schröder: Geld und Gesellschaft in Balzacs Erzählung Gobseck. In: Germanisch Romanische Monatsschrift 49, 2 (1999), S. 161–190, S. 175. 6 Vgl. Zygmut Baumann: Leben als Konsum. Hamburg: Hamburger Edition 2009, S. 31. 7 Vgl. Ebda., S. 15.
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Kennzeichen der modernen Konsumgesellschaft, so ist im Roman auffällig, dass hier vor allem Emma sowie ihre Liebhaber Rodolphe und bedingt Léon dieses konsumorientierte Verhaltensmuster aufweisen, während ihre Tochter Berthe und ihr Ehemann Charles die Verlierer dieses Systems sind. Signifikant ist, dass Berthes Verlust der Mutter und der spätere Tod des Vaters einmal mehr unter ökonomischen Vorzeichen verhandelt werden: Quand tout fut vendu, il resta douze francs soixante et quinze centimes qui servirent à payer le voyage de Mlle Bovary chez sa grand-mère. La bonne femme mourut dans l’année même; le père Rouault étant paralysé, ce fut une tante qui s’en chargea. Elle est pauvre et l’envoie, pour gagner sa vie, dans une filature de coton.8
Bei der Inszenierung von Emmas ökonomischem Handeln geht es weniger um konkrete Summen als vielmehr darum, Schulden zu machen. Emma verliert zunehmend die Kontrolle über ihre Ausgaben, was durch den ihr zunächst umstandslos gewährten Aufschub, die Ware später zu bezahlen, verstärkt wird. Wenn wir zu Beginn gesagt haben, Emmas Verhalten sei unökonomisch, so muss man präzisierend hinzufügen, dass hier mehrere Ökonomien im Spiel sind. Emma verhält sich unökonomisch, wenn es um das bürgerliche Haushalten geht, das autarke Hauswirtschaften. Vor dem Hintergrund der Anforderungen des Wirtschaftsliberalismus von Adam Smith verhält Emma sich insofern gerade nicht unökonomisch, als sie ihren privaten Haushalt wie ein Industrieunternehmen führt, welches erst einmal investiert, d. h. es interagieren in dem Roman unterschiedliche Ökonomien. Halten wir fest: Emma verhält sich nicht angemessen gegenüber den ihr gegebenen ökonomischen Rahmenbedingungen, sie ist unökonomisch im ursprünglichen Wortsinn des Haushaltens. Interessant ist dabei der zeitliche Aspekt: So läuft der Aufschub, der Emma wiederholt gewährt wird, gleichzeitig auf ein Ende zu. Das Erbe, das Charles von seiner Mutter erhält, reduziert sich auf einen Betrag von viertausend Francs zum neu gegründeten Hausstand des Sohnes und wird schließlich Lheureux überlassen, der derart ein beträchtliches Kapital akkumulieren kann (vgl. MB, 432). Bleibt das genaue Ausmaß der Schulden Emmas unklar, so werden der finanzielle Gewinn und das Gewinnstreben von Lheureux nur umso genauer geschildert. Das ökonomische Geschehen dominiert derart den zweiten Teil des Romans.9 Als
8 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de Province. Herausgegeben von Thierry Laget. Paris: Gallimard 2001, S. 645, im Folgenden zitiert mit der Sigle MB und mit Seitenzahl in Klammern. 9 Vgl. Shigeru Nakano: Les réalités économiques et sociales dans l’œuvre de Gustave Flaubert. Madame Bovary et L’Éducation sentimentale. Diss. Lille 2004, S. 56.
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Lheureux bei Emma das Geld mit juristischen Mitteln einzutreiben sucht, reagiert Emma erneut mit dem Gedanken der Stundung, des Aufschubs: — Quelle réponse apporter à M. Vinçart? — Eh bien, répondit Emma, dites-lui … que je n’en ai pas … Ce sera la semaine prochaine … Qu’il attende … oui, la semaine prochaine. (MB, 584 f.)
Auf ihre Tränen und Bitten antwortet der nüchtern kalkulierende Lheureux nur, dass er nichts unternehmen könne, da ihm selbst die Hände gebunden seien. Anders als Emma ist der Kaufmann sehr genau in der Lage, die Kredite im Einzelnen zu benennen: Et, déployant un de ses registres: — Tenez! Puis, remontant la page avec son doigt: — Voyons …, voyons … Le 3 août, deux cents francs … Au 17 juin, cent cinquante … 23 mars, quarante-six … En avril … (MB, 586)
Emma bleibt angesichts der Nüchternheit der Kalkulation nur ein flehentliches Bitten, dem Lheureux mit einem neuen Kredit nachgibt, wobei er ihr wiederum seine Waren anpreist. Emma lässt sich erneut zum Kauf verführen und erreicht kurzfristig ihr Ziel, sich durch die Kleidung von den übrigen Bewohnern des französischen Provinzstädtchens abzuheben und sich so den Anschein einer Pariserin zu verleihen. Paris, die Hauptstadt, wird hier valorisiert und mit sozialem Aufstieg und Reichtum gleichgesetzt.10 Rodolphe unterwirft Emma sofort seinem taxierenden Blick und überprüft derart ihren Marktwert: Elle est fort gentille! se disait-il […] et de la tournure comme une Parisienne. D’où diable sort-elle? Où donc l’a-t-il trouvée, ce gros garçon-là? (MB, 225)
Rodolphe bemerkt auf den ersten Blick den soziokulturellen Unterschied zwischen Emma und ihrem provinziellen Ehemann und interpretiert eine daraus resultierende Frustration der Ehefrau, die er als leicht verführbares Objekt einschätzt. Wenig später stellt er im Gespräch mit Emma anlässlich der Landwirtschaftsausstellung den konstatierten Unterschied im vestimentären Code aus, wenn er bemerkt: Songer que pas un seul de ces braves gens n’est capable de comprendre même la tournure d’un habit! Alors, ils parlèrent de la médiocrité provinciale, des existences qu’elle étouffait, des illusions qui s’y perdaient. (MB, 235 f.)
10 Vgl. Ebda., S. 146 f.
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Dass Emma selbst von Rodolphe nach ihrem ökonomischen Tauschwert bemessen wird, ahnt sie freilich zunächst nicht. Insbesondere die Landwirtschaftsausstellung zeigt, was Nakano für den gesamten Roman konstatiert: dass er dominiert wird vom »esprit bourgeois de la compétition«.11 Philippe Hamon spricht vom »mécanisme du regard évaluatif«,12 dem Emma wiederholt unterworfen wird, von Charles, Léon und schließlich am deutlichsten von Rodolphe. Ihre weißen Fingernägel werden dabei wiederholt zum Symbol ihres sozialen Status, der sie als bourgeoise, als nicht arbeitende Frau auszeichnet (vgl. MB, 72). Charles bezieht zwar die finanzielle Situation des Hauses Rouault mit in seine Heiratsüberlegungen ein, lässt sich aber doch vor allem von Emmas Schönheit hinreißen, was durch die doppelte Emphase deutlich wird: »le père Rouault était bien riche, et elle!... si belle!« (MB, 82). Während Charles in seinen Heiratsplänen primär von ästhetischen Gründen gelenkt wird, ist sie für Léon vor allem ein Zeitvertreib und soziales Zeichen seines Aufstiegs. Nur für Rodolphe markiert sie tatsächlich ein Tauschobjekt, das man beliebig ersetzen kann, wenn es seine Funktion nicht mehr erfüllt. Deutlich wird dies bereits durch den gewählten Rahmen der Verführung Emmas. Während auf der Landwirtschaftsausstellung Nutztiere nach ihrem Wert taxiert und ausgezeichnet werden, wird Emma von dem adeligen Rodolphe sehr genau in Augenschein genommen und verführt. Ihr Tauschwert wird wie für Waren allgemein vor allem nach ihrem Seltenheitswert bemessen.13 Der taxierende Blick Rodolphes zeigt sich unter anderem darin, dass er Emma in einer ironischen Reprise des Petrarkistischen Schönheitskatalogs gleichsam auf wenige Attribute reduziert: Elle est fort gentille! se disait-il; elle est fort gentille, cette femme du médecin! De belles dents, les yeux noirs, le pied coquet, et de la tournure comme une Parisienne. (MB, 225)
Wie ein Kaufobjekt wird sie nach ihren Qualitäten beurteilt und nach dem Prestige, das mit ihr verknüpft ist. Marc Girard konstatiert denn auch zu Recht: »le désir de Rodolphe va dans le sens d’une simple consommation.«14 Beide, Léon und Rodolphe, verlassen Emma, als sie durch ihre ständige Verfügbarkeit an Wert verliert. Rodolphe bezieht zudem noch die Ausgaben mit ein, die ihn seine Mätresse kostet: »les embarras, la dépense …« (MB, 312) Nakano hat überzeugend verdeutlicht, wie die ästhetische Norm in einer Gesellschaft devalorisiert
11 Ebda., S. 176. 12 Philippe Hamon: Texte et idéologie. Paris: PUF 1997, S. 111. 13 Vgl. Shigeru Nakano: Les réalités économiques et sociales dans l’œuvre de Gustave Flaubert, S. 200. 14 Marc Girard: La passion de Charles Bovary. Paris: Imago 1995, S. 23.
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wird, die alles Denken ihrer sozio-ökonomischen Moral unterwirft.15 Als ob sich Emma dieser Tatsache bewusst wäre, verzichtet sie durch ihren Giftselbstmord schließlich selbst auf ihre äußeren Attribute und ihre lange gepflegte Schönheit. Bereits gegenüber ihrem ehemaligen Liebhaber bemerkt sie anlässlich eines Kompliments über ihr Aussehen: »ce sont de tristes charmes, mon ami, puisque vous les avez dédaignés« (MB, 452). So scheint sie sich selbst der Fruchtlosigkeit ihres Unterfangens bewusst, von dem ökonomisch denkenden Rodolphe die notwendige Summe von trois mille francs auszuleihen. Rodolphe, dessen Gefühle für Emma einen kurzen Moment lang wiederaufzuleben scheinen, erstarrt förmlich, als er den eigentlichen Anlass ihres Kommens realisiert. Emma hingegen verklärt ihren ökonomischen Status und damit auch die tatsächliche Ursache ihrer Not bis zum Schluss – ihre ›folie‹ legt sich wie ein Schleier über ihre Erinnerung: La folie la prenait, elle eut peur, et parvint à se ressaisir, d’une manière confuse, il est vrai; car elle ne se rappelait point la cause de son horrible état, c’est-à-dire la question d’argent. Elle ne souffrait que de son amour, et sentait son âme l’abandonner par ce souvenir, comme les blessés, en agonisant, sentent l’existence qui s’en va par leur plaie qui saigne. (MB, 611)
Insbesondere die Beziehung Emmas zu Lheureux wirft auch die Frage der Schuld und der Schulden auf: Emma verschuldet sich, da sie darauf spekuliert, derart nicht nur mehr zu scheinen, sondern tatsächlich auch mehr zu sein, d. h. sie hofft auf eine soziale Mobilität und Durchlässigkeit. Die Gesellschaft aber bleibt ihr den sozialen Aufstieg schuldig. Was dem geforderten ökonomischen Handeln Emmas zuwiderläuft, sind die Affekte, die vor allem die Opernszene beherrschen. Affekte lassen sich nach Mendelssohn beschreiben als »Tyranney der Leidenschaften über die Vernunft«.16 Dem Affekt ist im Unterschied zur Leidenschaft ein transitorisches Moment eigen.17 Seit ihrer Entstehung um 1600 ist immer wieder die emotionale Dimension des zentralen Mediums der Affekte, der Oper, betont worden. In der Oper wird, wie Clemens Risi verdeutlicht, an und mit Gefühlen gearbeitet, Oper erzeugt und überträgt Gefühle.18 Schon Giuseppe Monteverdi, der mit seinem
15 Vgl. Shigeru Nakano: Les réalités économiques et sociales dans l’œuvre de Gustave Flaubert, S. 205. 16 Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen. Ästhetische Schriften. Berlin: Voß 1755, S. 74. 17 Vgl. Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755– 1888). München: Fink 2005, S. 61. 18 Vgl. Clemens Risi: Das ›Kraftwerk der Gefühle‹: Oper und Emotion vom 17. Jahrhundert bis Verdi und Wagner. In: Gunter Gebauer/Markus Edler (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2014, S. 172–191, S. 172.
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Orfeo eine der frühen erfolgreichen Opern verfasste, notierte: »das Ziel, die Seele zu bewegen, muss die gute Musik haben.«19 Athanasius Kircher schrieb 1650 in seiner Musurgia Universalis, über den Überschuss der Gefühle in Roms Musiktheater: »[…] die Bewegung ist oftmals so groß und hefftig / daß die auditores überlaut anfangen zu schreien / seufzen / weinen / sonderlich in casibus tragicis.«20 Innere Erregungen (»interiorum affectuum«) manifestierten sich dabei in äußeren Zeichen (»signis extrinsecis«).21 Anders als in der Tragödie, wo aus einer Störung der Affekt-Ökonomie durch Katharsis, also Reinigung der Leidenschaften, ein dauerhaftes Ethos entstehen soll,22 inszeniert Oper eben jenen Überschuss, Exzess, wie er aus der ökomischen Ordnung heraustritt und fatalerweise – über die Opernaufführung hinaus – seine emotionalisierende Wirkung zeigt. Dies verdeutlichen literarisierte, d. h. im Medium der Literatur, des buchliterarischen Textes, reinszenierte Opernszenen von Stendhal, über Flaubert, Tolstoi, Leopoldo Alas (Clarín) bis zu Thomas Mann und Thea Dorn.23 Vor allem das opernhafte Prinzip unterscheidet die Opern- von einer Theateraufführung, macht die Oper zu einer extravaganten Kunst, wie Lindenberger schreibt.24 Melodramatik, Plots fokussiert auf Betrug, Ehebruch und Rache sind Kennzeichen dieser Kunst, die häufig vor üppiger historischer Kulisse ebenso ihre visuelle Kraft entfaltet. Timothy Martin zufolge können diese opernhaften Elemente als rhetorischer Gestus angesehen werden, »aimed at the most basic interests of an audience, our capacity for identification, our taste for thrills«.25 Der Opernraum bietet sich als Bühne an, auf der Bilder den Zuschauer anregen und
19 Claudio Monteverdi: Vorrede zum 8. Madrigalbuch, 1638, zitiert nach Risi: Das ›Kraftwerk der Gefühle‹, S. 172. 20 Athanasius Kircher: Musurgia universalis sive Ars magna consoni et dissoni. Bd. 1. (1650), S. 549. 21 Ebda., Musurgia universalis. Bd. 2, S. 202. 22 Vgl. Ulrich Port: Pathosformeln, S. 56. 23 Vgl. Kirsten von Hagen: ›Und gab ihm Ausdruck, diesem Erstaunen, in Tönen‹. Liebe, Oper, Transgression bei Thomas Mann und Thea Dorn. In: Miriam Albracht/Sebastian Hansen u. a. (Hg.): Düsseldorfer Beiträge zur Thomas Mann-Forschung. Düsseldorf: Wellem Verl. 2011 (Schriftenreihe der Thomas Mann Gesellschaft Düsseldorf, B. 1), S. 113–131; vgl. Dies.: ›Devo punirmi, se troppo amai‹ – Oper und Realistischer Roman bei Stendhal, Flaubert und Leopoldo Alas (Clarín). In: Maria Imhof/Anke Grutschus (Hg.): Von Teufeln, Tänzen und Kastraten. Die Oper als transmediales Spektakel. Bielefeld: Transcript 2015, S. 205–223. 24 Vgl. Herbert Lindenberger: Oper. The Extravagant Art, Ithaca/N. Y.: Cornell Univ. Press 1984, S. 10. 25 Timothy Martin: Introduction. Operatic Joyce. In: James Joyce Quarterly 38, 1 (2000), S. 25–44, S. 2 8 f.
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ihre affektreichen Spuren hinterlassen.26 Insbesondere im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts wird die Oper zum privilegierten Raum: Die neue Form, die sich dezidiert eine Affektdarstellung versagt, findet hier ein affektives Reservoir vor, das in besonderer Weise geeignet zu sein scheint, Kontinuitäten und Brüche hervortreten zu lassen, wie Martin von Koppenfels deutlich machen konnte.27 In Flauberts Madame Bovary, ist die Szene in der Oper, obwohl sie nur einige Seiten umfasst, von zentraler Bedeutung. Angespielt wird einmal mehr auf Emmas Vorliebe für die Lektüre, für den Schotten Walter Scott im Besonderen, dessen Roman als Vorlage für eben die Oper fungiert, die in Rouen zur Aufführung gebracht wird: Gaetano Donizettis Lucia de Lammermoor. 1835 in Neapel uraufgeführt, war die ebenso einfache wie eindringliche Geschichte um eine verratene Liebe im 19. Jahrhundert äußerst populär. Gekennzeichnet ist die Oper durch effektvolle Solo-Partien, allen voran die berühmte ›Wahnsinns-Arie‹ der Lucia. Donizetti und sein Librettist Salvatore Cammarano verdichteten den Roman The Bride of Lammermoor (1819) des schottischen Autors auf die wesentlichen Elemente, den Konflikt zweier Liebender, die zwischen die Fronten von Protestanten und Katholiken geraten, sodass die Oper nicht von ungefähr an Shakespeares’ Tragödie Romeo and Juliet gemahnt. Das Operngeschehen führt der Heldin angesichts einer zwar tragischen, doch unbedingten und idealisierten Liebe noch einmal die ganze Mediokrität ihres Ehelebens vor Augen. Zentral ist aber auch die Wirkung des Ortes selbst, die Tatsache, dass Emma in der Loge sitzt, erfüllt sie mit Stolz und lässt sie wie beim Ball im Schloss Vaubyessard für einen Moment die gesellschaftliche Realität ausblenden und wie durch die Käufe auf Kredit bei Lheureux einen anderen gesellschaftlichen Status imaginieren: Elle sourit involontairement de vanité, en voyant la foule qui se précipitait à droite par l’autre corridor, tandis qu’elle montait l’escalier des premières. Elle eut plaisir, comme un enfant, à pousser de son doigt les larges portes tapissées; elle aspira de toute sa poitrine l’odeur poussiéreuse des couloirs, et, quand elle fut assise dans sa loge, elle se cambra la taille avec une désinvolture de duchesse. (MB, 301)
Es ist die Abgeschlossenheit des Ortes, welcher als Heterotopie im Sinne Foucaults fungiert,28 der die ersten Zeilen der Opernszene markiert. Die Opernglä-
26 So wird im 19. Jahrhundert nicht mehr danach gesucht, durch eine bestimmte Tonfolge einen Affekt hervorzurufen, sondern durch die Art, wie sie gesungen wird und wer eine Rolle inkorporiert: Entscheidend wird nun das performative Element der Aufführung. (Vgl. Clemens Risi: Das ›Kraftwerk der Gefühle‹, S. 179 f.) 27 Vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007, S. 29. 28 Heterotopien nach Foucault sind »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der
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ser werden aus den Futteralen genommen, das Licht im Saal und im Orchestergraben wird entzündet, die Musik verkündet den Beginn des Spektakels. Nach der Musik wird die Szenerie sehr genau geschildert. Alle diese Zeichen wirken zusammen und versetzen Emma mit einem Mal in die Literatur ihrer Jugend zurück, in die Welt Walter Scotts. Erinnerung an die Lektüre, Musik, Dekor und Bühnenhandlung wirken zusammen und geben Emmas romantischen Phantasien von Schlossheldinnen neue Nahrung, die ihre Tage damit zubringen, auf den Kavalier zu warten, der sie auf seinem schwarzen Pferd entführen wird. Emma wird schließlich vollständig von der Oper mit ihrem melodramatischen Gestus affiziert: Le souvenir du roman facilitant l’intelligence du libretto, elle suivait l’intrigue phrase à phrase, tandis que d’insaisissables pensées qui lui revenaient, se dispersaient, aussitôt, sous les rafales de la musique. Elle se laissait aller au bercement des mélodies et se sentait elle-même vibrer de tout son être comme si les archets de violons se fussent promenés sur ses nerfs. (MB, 302)
Dies ist der Hintergrund, vor dem gleich mehrere Transfer- und Projektionsprozesse stattfinden, wie auch in den ökonomischen Tauschszenen. Zunächst imaginiert Emma sich selbst in der Rolle der Lucia. Die Identifikation mit der Opernheldin ist so vollkommen, dass Emma gar einen Schrei ausstößt, als die Liebenden einander singend das letzte Lebewohl zurufen. Desillusionierend in diesem Rahmen wirkt lediglich ihr Ehemann Charles, der seinerseits zunächst Mühe hat, der Opernhandlung zu folgen und Emma fortwährend um Erläuterungen bittet. Als Léon zu dem Ehepaar Bovary in die Loge tritt, offenbart sich der Prozess der Desillusionierung, die sich seit ihrer frühen Lektüre vollzogen hat: Emma findet das Bühnengeschehen schal, mag ihm nicht länger folgen, will vielmehr den Opernbesuch abbrechen. Die Erinnerungen an die Spielabende im Haus des Apothekers überlagern die Bühnenhandlung, die sie nun nicht mehr zu erreichen vermag. Emma verlässt den Opernraum bezeichnenderweise während der Wahnsinnsszene der Lucia, die in diesem Kontext als Vorausdeutung auf Emmas eigenes Ende erscheint. Die noch zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit Léon forcierte Ökonomie der Gefühle weicht schließlich einem Überschuss der Affekte,
Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«. (Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam (11990) 51993, S. 39.)
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der durch die Oper induziert ist. Doch der Opernbesuch selbst ist ebenfalls als ökonomische Ausgabe markiert, die die Mittel des Ehepaars Bovary übersteigt, wie auch der neuerliche Kaufrausch Emmas, nachdem sie sich regelmäßig mit ihrem Liebhaber Léon trifft. Zwar verkauft sie für ihre neue Passion ihre alten Kleider, aber diese mögen die neuerlichen Ausgaben nicht decken. Emmas Verhalten ist einmal mehr als unökonomisch markiert, auch wenn sie das ökonomische Prinzip ihrer Zeit, wie es Zola später in seinem Roman Au bonheur des dames (1884) inszenieren wird – billig einkaufen, um teuer zu verkaufen –, offenbar bereits verinnerlicht hat: Pour se faire de l’argent, elle se mit à vendre ses vieux gants […]. Puis, dans ses voyages à la ville, elle brocanterait des babioles, que M. Lheureux, à défaut d’autres, lui prendrait certainement. Elle s’acheta des plumes d’autruche, de la porcelaine chinoise et des bahuts. (MB, 425)
Je weiter die Zeit der Handlung voranschreitet, d. h. je umfangreicher die erzählte Zeit, desto mehr gibt Emma aus.29 Dies könnte nun unendlich so weitergehen, würde nicht Lheureux dem Leben auf Pump ein Ende setzen und damit den Tod der Heldin und folglich das Ende der Narration einleiten: Pensiez-vous, ma petite dame, que j’allais, jusqu’à la consommation des siècles, être votre fournisseur et banquier pour l’amour de Dieu? Il faut bien que je rentre dans mes déboursés, soyons justes! (MB, 432)
Die neue Religion des Geldes30 kennt keine Vergebung der Schuld(en).31 Dem Exzess der Ausgaben steht die Ökonomie der erzählerischen Mittel gegenüber. Obwohl die Ökonomie als Referenzsystem des Realen gleichsam ständig im Romanuniversum präsent ist, reduziert sich die genaue Beschreibung ökonomischer Transaktionen häufig auf wenige Seiten (vgl. MB, 432). Gleichwohl wird
29 Vgl. Shigeru Nakano: Les réalités économiques et sociales dans l’œuvre de Gustave Flaubert, S. 60. 30 Vgl. Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 55. 31 Obwohl der Fokus auf eine Dynamik des Tausches und der ökonomischen Transaktionen gelegt ist, fehlt die in Aussicht gestellte soziale Mobilität. Adeline Daumard hat in ihren Ausführungen zur Histoire économique et sociale de la France erläutert, dass die Veränderung der Lebensbedingungen ein zentrales Thema bourgeoisen Denkens und realistischer Romankunst im Frankreich des 19. Jahrhunderts ist. Vgl. Adeline Daumard: Caractères de la société bourgeoise. In: Fernand Braudel/Ernest Labrousse (Hg.): Histoire économique et sociale de la France: Volume 3. 1789 – années 1880: l’avènement de l’ère industrielle. Paris: PUF 1993, S. 829–844, S. 840 f.
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Emmas Handeln des Öfteren als Reflex ihrer ökonomischen Situation dargestellt.32 Es reicht also, das eine genau zu benennen, um das andere zu implizieren. Die Stagnation sozialer Mobilität und die damit verbundene Immobilität der Heldin werden in wenigen Sätzen angedeutet, die darauf hinweisen, dass sich nichts geändert hat in Yonville: Depuis les événements que l’on va raconter, rien, en effet, n’a changé à Yonville. Le drapeau tricolore de fer-blanc tourne toujours au haut du clocher de l’église; la boutique du marchand de nouveautés agite encore au vent ses deux banderoles d’indienne. (MB, 150)
Die Insignien des religiösen Lebens und der neuen Religion des Geldes werden nicht zufällig parallelisiert. Was die Opernszene somit verdeutlicht, ist das Verhältnis von Affekt und Ökonomie auf der Diskursebene. Nakano hat gezeigt, dass der Roman, indem er sich auf Rouen und die Opernszene konzentriert und zunächst eingefügte andere Ausflüge nach Dieppe und Rouen wieder streicht, einer Ästhetik der Verdichtung und Verknappung folgt, einer »économie textuelle«,33 die die besondere Stellung der Opernszene noch betont. Der Roman gehorcht mit der für Flaubert zentralen Trias von »impartialité, impassibilité und impersonnalité« einer Konsequenz, Regulation und Kontrolle der Mittel und des Stils, wie sie ökonomischer kaum zu denken ist.34 Wenn Lehnert dagegen schreibt, Emma imaginiere in einem permanenten Kaufrausch ihr eigenes Ende, ihren Selbstmord als »letzten großen Rausch«, wie »eine glanzvolle Operninszenierung«,35 so weist sie auf die dem Roman inhärenten Bruchstellen des Affekts hin, die sich auch und gerade in der Opernszene in Rouen manifestieren. So reicht die kurze Erwähnung von Donizettis Oper, um damit ein ganzes Referenzsystem aufzurufen, das deutlich macht, was Emma sich erträumt und wie ihr eigenes Dasein davon abweicht. Die großen Affekte sind Teil der Oper, der realistische Roman achtet auf die Ökonomie der eigenen Mittel. Wie Lindenberger schreibt, wird durch das intermediale Zwischenspiel mit der Oper im Regime des realistischen Romans, des ›low style‹, der ›high style‹ der extravaganten Oper sichtbar, da beide miteinander interagieren:
32 Vgl. Shigeru Nakano: Les réalités économiques et sociales dans l’œuvre de Gustave Flaubert, S. 65. 33 Ebda., S. 108. 34 Laurent Adert: Les mots des autres. (Lieu commun et création romanesque dans les œuvres de Gustave Flaubert, Nathalie Sarraute, Robert Pinget). Essai. Villeneuve d’Ascq: Presses Univ. du Septentrion 1996, S. 23. 35 Gertrud Lehnert: Kaufrausch, S. 256.
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[...] when the description of a scene or passage from an opera appears in a novel […] we are ordinarily made aware of the gap that separates the world of opera (associated as it becomes with matters such as passion and artifice) from the more prosaic and lowly world of fiction.36
Flaubert lässt in Madame Bovary aber auch die einzelnen Stimmen in einem polyphonen Tableau arrangieren, das Thibaudet gerade auch in seiner Stringenz der ›Comices agricoles‹, der Landwirtschaftsausstellung mit einer musikalischen Komposition verglichen hat.37 In diesem Kontext ist es unabdingbar, noch einen Blick auf den besonderen Stil des Autors Flaubert zu werfen, der sich durch eine immer wieder von der Kritik betonte Nüchternheit auszeichnet, die an den klinischen Blick des Chirurgen gemahnt. Sainte-Beuve gibt hier die Richtung vor, wenn er den Roman als grausame Sezierübung bezeichnet, als »dissection cruelle« und konstatiert: »Fils et frère de médecins distingués, M. Gustave Flaubert tient la plume comme d’autres le scalpel.«38 Der Autor selbst sah gerade in seinem unbedingten Stilwillen, der immer wieder hervorgehobenen Nüchternheit des Stils die Möglichkeit, eine alternative Art ›Affektpolitik‹ zu betreiben39, wie er in seiner Korrespondenz wiederholt deutlich gemacht hat: »ce coup d’œuil médical de la vie, cette vue du vrai enfin, qui est le seul moyen d’arriver à de grands effets d’émotion.«40 Barbara Vinken hat überzeugend aufgezeigt, dass der Autor Flaubert zu sehr in seine Figur Emma Bovary ›verstrickt‹ war, als dass er einen rein distanziert analytischen Standpunkt einnehmen konnte,41 wie besonders die Bruchstellen des Textes, die opernhafte Inszenierung einer Affektpolitik, die nicht im ökonomischen Denken der Zeit aufgeht, deutlich machen. Der unbedingte Stilwille hat zugleich eine Schattenseite, die uns – und damit komme ich zum Schluss meiner Ausführungen – auf einen anderen ökonomischen Zusammenhang verweist: den des Autors Flaubert. So notierte schon Jochen Hörisch zu dem Begriff der ›Deckung‹, der ein zentrales Problem unterschiedlicher Diskurse aus Jurisprudenz, Wissenschaft, Ökonomie und Kunst bezeichnet:
36 Herbert Lindenberger: Oper, S. 19. 37 Albert Thibaudet: Gustave Flaubert. 1821–1880. Sa vie, ses romans, son style. Paris: Plon-Nourrit et Cie 1922, S. 281. 38 Charles-Augustin Sainte-Beuve: Madame Bovary. In: Le Moniteur Universel. 4. 5. 1857, wieder abgedruckt in: Ders.: Les grands écrivains français: Volume 3. XIXe siècle. Les romanciers. Mérimée, Georges Sand, Fromentin, Flaubert, Edmond et Jules de Goncourt. Paris: Garnier 1927, S. 170. 39 Vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 185. 40 Lettre à Louise Collet, Croisset, 24 janvier 1852. In: Gustave Flaubert: Correspondance. Volume 2 (juillet 1851 – décembre 1858). Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard 1980, S. 75–82, S. 78. 41 Vgl. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne. Frankfurt a. M.: Fischer 2009.
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Gedeckt ist ein Versprechen, wenn ihm die z. B. die Handlung […] folgt. […] Gedeckt heißen demnach Urteile, Aussagen, Behauptungen oder (Zahlungs- ) Versprechen, die […] in einen anderen Bereich konvertiert, die in einem anderen Medium eingelöst werden.42
Gedeckt wird Flauberts Investition ins Kunstwerk nur, wenn schließlich auch Geld fließt, das heißt, die Verausgabung der eigenen Mittel muss in Relation zum erzielten Produkt stehen. In Madame Bovary wie auch in L’Éducation sentimentale werden Gewinne stets negativ dargestellt.43 Das neue ökonomische Denken erscheint mithin zweifelhaft. Dies zeigt sich auch in Flauberts Äußerungen zu Kunst und Ökonomie. Überzeugt davon, dass seine Werke nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für zukünftige Leser eine lohnende Lektüre darstellen, schrieb er über die »valeur commerciale de l’œuvre«: Ma marchandise ne peut donc être consommée maintenant, car elle n’est pas faite exclusivement pour mes contemporains. Mon service reste donc indéfini et, par conséquent, impayable.44
Und an anderer Stelle bemerkt er, dass ein Kunstwerk keine Ware sei, da ihm kein kommerzieller Wert zugemessen werden könne: Or, je maintiens, qu’une œuvre d’art […] est inappréciable, n’a pas de valeur commerciale, ne peut pas se payer.45
Im Roman ist die Metapher des Webens gleichsam ständig präsent: Emma näht, als sie Charles kennenlernt, sie wird selbst von der besonderen textilen Verführungskraft der Stoffe zum Kauf angeregt und schließlich wird ihre Tochter Berthe in einer der modernen Textilfabriken ums Überleben kämpfen. Die Metapher des Webens und Spinnens verweist selbstreferentiell auf das Entstehen des Textes, die Arbeit am Text.46 Nun ist es ein Gemeinplatz, dass gerade Flaubert immer
42 Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 15. 43 Vgl. Shigeru Nakano: Les réalités éocnomiques et sociales dans l’œuvre de Gustave Flaubert, S. 54. 44 Lettre à George Sand, Croisset, 4 décembre 1872. In: Gustave Flaubert: Correspondance. Volume 4 (janvier 1869 – décembre 1875). Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard 1998, S. 618–620, S. 619. 45 Lettre à George Sand, Croisset, 12 décembre 1872. Ebda., S. 624 f., S. 624. 46 Vgl. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Weimar: Böhlau 2002, S. 229; vgl. Edi Zollinger: Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben. Madame Bovary, Notre Dame de Paris und der Arachne-Mythos. München: Fink Verlag 2007.
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wieder an seinem Stil, dem Diktum der Verknappung folgend, gefeilt hat.47 Der Stil wird dabei – ökonomisch formuliert – zur Währung des Autors. Bekannt ist Flauberts Äußerung, ein Buch über nichts schreiben zu wollen, bei dem der Stil das Wesentliche ist: Ce qui me semble beau, ce que je voudrais faire, c’est un livre sur rien, un livre sans attache extérieure, un livre qui se tiendrait de lui-même par la force interne de son style […]. Les œuvres les plus belles sont celles ou il y a le moins de matière […].48
Ein Roman über nichts, was ließe sich an unökonomischem Handeln Treffenderes denken. Die Opernszene mit ihren Affekten überdeckt derart die Leerstelle des Romans, die eigentliche materielle Leere des ›livre sur rien‹, bei dem das Wie der Darstellung wichtiger ist als das Was. Die unablässige Arbeit an seinen Texten, die an die Dichte lyrischer Texte gemahnen, bei denen kein Wort zu viel ist und eine eng gewebte Intertextualität ein Netz an Verweisen herstellt, diese Ästhetik des less is more49, die materielle Ökonomie des Autors Flaubert ist dem Faktor Zeit geschuldet. Kurz zitiert sei die Anekdote der Postkarte, die zuletzt von dem deutschen Autor Daniel Kehlmann aufgegriffen wurde, da sie in unserem Kontext von zentraler Bedeutung ist, illustriert sie doch, dass die scheinbare Ökonomie der Mittel einem abundanten Schreiben abgerungen ist. Die Anekdote berichtet, wie Flaubert einst während eines Klassentreffens von seinen ehemaligen Kameraden mit der Aufgabe betraut wurde, einem abwesenden Freund eine Genesungskarte zu schreiben. Der Schriftsteller zog sich zurück. Man hörte ihn lange Zeit im Zimmer auf und ab gehen und dabei murmeln. Nach mehreren Stunden kam er mit der Karte zurück, die zahlreiche wieder durchgestrichene Entwürfe zeigte. Schließlich standen da nur noch die Worte: »Gute Besserung«.50 Die Ökonomie der Zeit und der Mittel hat somit eine andere Seite, die sich nur an den Bruch-
47 Die Annäherung von ›art‹ und ›science‹, die Forderung nach ›précision‹ und einer ›froidement de style‹, durchziehen seine Korrespondenz seit den 1850er Jahren. (Marc Föcking: Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert. Tübingen: Gunter Narr 2002, S. 209.) 48 Lettre à Louise Colet, Croisset, 16 janvier 1852. In: Gustave Flaubert: Correspondance. Volume 2 (juillet 1851 – décembre 1858). Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard 1980, S. 29–33, S. 31. 49 Vgl. Pierre-Marc de Biasi: Correspondance et genèse. Indice épistolaire et lettre de travail. Le cas Flaubert. In: Françoise Leriche/Alain Pagès (Hg.): Genèse et correspondances, Paris: Éd. des archives contemporaines/ITEM 2012, S. 71–108, S. 106. 50 Daniel Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verl. 2005, o. S.
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stellen erweist, wie die Opernszene verdeutlicht, die zu einer Schlüsselstelle des Romans avanciert: die des Affektes, des Rausches. Madame Bovary ist vor allem das Ergebnis eines fünfjährigen Prozesses permanenter Kondensation und Verdichtung:51 Pierre-Marc de Biasi spricht von der fast schon obsessiven Liebe zum Detail des Autors Flaubert, mit der er sich in seine Werke einschreibt und den Leser mit einer subliminalen Präsenz in seiner Lektüre steuert,52 wobei der Text, der für sich selbst steht, mit seiner Zurücknahme der Präsenz des Erzählers Literaturgeschichte schreiben wird, gilt es doch nichts weniger als den Roman der Moderne zu erfinden.
Bibliographie Adert, Laurent: Les mots des autres. (Lieu commun et création romanesque dans les œuvres de Gustave Flaubert, Nathalie Sarraute, Robert Pinget). Essai. Villeneuve d’Ascq: Presses Univ. du Septentrion 1996. Alikavazovic, Jakuta: Flaubert. Panorama d’un auteur. Levallois-Perret: Jeunes Éd. – Studyrama 2003. Baumann, Zygmut: Leben als Konsum. Hamburg: Hamburger Edition 2009. Biasi, Pierre-Marc de: Roman et histoire. Une lecture subliminale. In: Tanguy Logé/Marie-France Renard (Hg.): Flaubert et la théorie littéraire. En hommage à Claudine Gothot-Mersch. Brüssel: Fac. Univ. Saint-Louis 2005 (Publication des Facultés Universitaires Saint-Louis, B. 103), S. 223–242. —: Correspondance et genèse. Indice épistolaire et lettre de travail. Le cas Flaubert. In: Françoise Leriche/Alain Pagès (Hg.): Genèse et correspondances, Paris: Éd. des archives contemporaines – ITEM 2012, S. 71–108. Daumard, Adeline: Caractères de la société bourgeoise. In: Fernand Braudel/Ernest Labrousse (Hg.): Histoire économique et sociale de la France : Volume 3. 1789 – années 1880 : l’avènement de l’ère industrielle. Paris: PUF 1993, S. 829–844. Flaubert, Gustave: Correspondance. Volume 2 (juillet 1851 – décembre 1858). Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard 1980. —: Correspondance. Volume 4 (janvier 1869 – décembre 1875). Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard 1998. —: Madame Bovary. Mœurs de Province. Herausgegeben von Thierry Laget, Paris: Gallimard 2001.
51 Vgl. Jakuta Alikavazovic: Flaubert. Panorama d’un auteur. Levallois-Perret: Jeunes Éd. – Studyrama 2003, S. 84. 52 Vgl. Pierre-Marc de Biasi: Roman et histoire. Une lecture subliminale. In: Tanguy Logé/Marie-France Renard (Hg.): Flaubert et la théorie littéraire. En hommage à Claudine Gothot-Mersch. Brüssel: Fac. Univ. Saint-Louis 2005 (Publication des Facultés Universitaires Saint-Louis, B. 103), S. 223–242, S. 227 und S. 233.
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(Sprach-) Verismus zwischen tragischer Weltanschauung, Wirtschaftsgeschichte und Epiphanie: Giovanni Vergas I Malavoglia (1881) Giovanni Vergas Roman I Malavoglia aus dem Jahre 1881 besitzt ein phantasmatisches Zentrum, auf das sich nicht nur die gesamte Handlung bezieht. Das Haus der Familie Toscano stellt auch den im rhetorischen Sinne generativen Topos dar, in dem der Text thematisch und sprachlich-kompositorisch verankert ist. Das sogenannte Mispelbaum-Haus (»casa del nespolo«) fungiert als durchaus archaisch zu verstehender oikos im Rahmen des fiktiven Geschehens und als ökonomische Basis des sprachlichen Artefaktes, insofern es – mittelbar oder unmittelbar – dem chorischen Gesang der Erzählerstimmen als Szene dient.1 Die dramatische Reduktion auf einen einzigen Schauplatz wird im ersten Abschnitt durch ein Verfallsnarrativ motiviert, das den einst in epischer Breite verstreuten Clan zusammenschrumpfen lässt auf die Kernfamilie des Großvaters Padron ’Ntoni. Man darf sich vorstellen, dass dieser Familienzerfall ökonomischen Gründen folgt; verbatim ist jedoch von einer ökologischen Dispersion die Rede, wenn es heißt, »Sturmböen« (»burrasche«) hätten die übrigen Familienmitglieder auseinandergebracht, ohne, und hier liegt der Sinn der Metapher, »allzu großen Schaden angerichtet« zu haben: »senza far gran danno sulla casa del nespolo e sulla barca ammarrata sotto il lavatoio«.2
1 Zur Symbolik des Mispelbaums vgl. Giancarlo Mazzacurati: Paralleli e meridiane: l’autore e il coro all’ombra del nespolo. In: Fondazione Verga (Hg.): I Malavoglia. Atti del congresso internazionale di studi, Catania, 26–28 novembre 1981. Catania: Fondazione Verga. 2 Bde. 1982. 1, S. 163–179. Im Hinblick auf die modernistischen Aspekte von Vergas Ästhetik in den Malavoglia, die auch für meine Argumentation eine entscheidende Rolle spielen (s. u.), vgl. Epifanio Ajello: La fotografia della »casa del nespolo«. In: Prospettive sui Malavoglia. Atti dell’incontro di studio della Società per lo Studio della Modernità Letteraria, Catania, 17–18 febbraio 2006. Florenz: Olschki 2007, S. 99–113. Ajello sieht eine ähnlich zentrale Funktion des Mispelbaum-Hauses für den Roman, gerade weil es nie beschrieben wird, und vergleicht diesen Effekt mit dem von Roland Barthes in La chambre claire (1980) verwendeten photographieästhetischen Begriff des »punctum« (S. 111). 2 Giovanni Verga: I Malavoglia. In: I grandi romanzi. Herausgegeben von Ferruccio Cecco/Carla Riccardi. Mailand: Mondadori 1972, S. 9. Im Folgenden mit der Sigle IM und Angabe der Seitenzahl zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110479638-007
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Die ideologische Überblendung ökonomischer und ökologischer Narrative, oder anders formuliert: von Wirtschaftsgeschichte und ›Histoire‹ naturelle führt damit gleich zu Beginn zu den zentralen Fragen, die Vergas Text aufwirft. Ein »Affekt der Ökonomie«, so die in diesem Beitrag zu verfolgende These, müsste demnach dort zu suchen sein, wo die »ökonomischen Bedingungen der Moderne«3 ein ökonomisches Narrativ erzwingen, das sich scheidet von den zyklischen Narrativen unvordenklicher Zeiten – »da che il mondo era mondo« (IM, 9). I Malavoglia gibt, um auch dies schon vorwegzunehmen, eine implizite, weil performative Antwort auf die Frage nach der Genese eines solchen neuen, ökonomischen Affekts. Während die Handlung eher nach dem Modell differentieller Repetition zu beschreiben ist, liest sich der Romandiskurs selbst – und zwar entgegen der ›naturalistischen‹ Vermutung – als Echo der industriellen Moderne. Es bedarf nicht vieler Worte, um die Handlung zu resümieren. An ihrem Anfang steht die bis in die ökonomischen Diskurse unserer heutigen Zeit hinein kaum auflösbare Ambivalenz aus ökonomischem Affekt und Kalkül: Mit dem Ziel einer Verbesserung der finanziellen Familienverhältnisse lässt sich Padron ’Ntoni auf ein im Wortsinn ›faules‹ Geschäft ein. Er kauft auf Kredit eine Ladung Lupinen, die er mit seinem Fischerboot verschiffen und andernorts vorteilhaft weiterverkaufen will. Doch wieder ist es ein Sturm, der menschliches Trachten bestimmt und nicht nur die Ware, sondern auch einen Teil des humanen Kapitals vereitelt. Die fehlende objektive Erzählinstanz macht es in diesem Fall unmöglich zu klären, inwieweit der alternde Patriarch von vornherein einem Schwindel, das heißt unverkäuflicher Ware aufgegessen ist. Gier, Betrug und Grausamkeit gehören hier zu den der Tragödie entlehnten Affekten, ohne dass – und dies bleibt im gattungstheoretischen Sinne entscheidend – der Leser beurteilen könnte, inwieweit es sich um kolportierte Gerüchte handelt. Feststellbar sind nur die Hard Facts, nicht aber die Motive der Handelnden. Der tragische Fehler Padron ’Ntonis wäre diesem Schema zufolge eine Art ökonomischer Praesumptio: Er hätte bei seinen Fischen bleiben sollen. Mehrere Versuche, die durch den Verlust entstandene Schuld zu begleichen, scheitern an höherer Gewalt, weiteren Stürmen, einer Choleraepidemie etc. Außerdem führen menschliche Leidenschaften und sozialer Druck zu Unglücksfällen, die die Familie dezimieren und in ihrem Bestand bedrohen. Ein Enkelsohn fällt im Krieg, ein anderer muss ins Gefängnis; eine Enkelin flieht vor übler Nachrede und prostituiert sich in der Stadt, die andere entsagt der Heirat, um die Schande der Schwester zu büßen. Wie man sieht, sind diese Unglücksfälle motivisch und topologisch nicht zwangsläufig mit den neuen
3 Ich zitiere die Sektionsbeschreibung auf dem Romanistentag 2015 in Mannheim, der dieser Beitrag ursprünglich folgt.
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ökonomischen Bedingungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verknüpft. Es handelt sich vielmehr um die Allgemeinplätze des Familienromans, die sich seit dem antiken Drama in jeder Generation wiederholen. Schließlich ist es der jüngste Malavoglia, Alessi, dem ein Neuanfang gelingt. Da die Geschichte hier endet, bleibt die Tragik gewissermaßen im Suspense und damit auch die ideologische Botschaft des Romans. Ob Alessi scheitert, ob er es schafft, zum uralten Kreislauf zurückzukehren, oder ob er die Familiengeschichte nach den Gattungsregeln moderner Ökonomie in einer anderen Ordnung fortschreiben wird, hat Verga mit diesem Ende offengelassen, weil das Zurückverweisen auf den Anfang sowohl Hoffnung als auch Enttäuschung birgt. Dieses offene Ende konterkariert die Anleihen bei der Tragödie, setzt aber mit dem Ausblick auf die Wiederholung einen weiteren dramatischen Akzent.4 Symbol und Bühne des Schicksals der Malavoglia ist, wie gesagt, das Mispelbaum-Haus, das am dramatischen Höhepunkt der Handlung verkauft werden muss und erst am Ende wieder zurückerstanden werden kann. Bemerkenswerterweise bleibt dieser zentrale Raum des Dramas wie eine leere Bühne weitestgehend unbestimmt. Der Leser erfährt zwar, dass das Haus geräumig ist, einen Innenhof mit besagtem Mispelbaum und gewisse lokaltypische Merkmale besitzt. Wir sind aber weit entfernt von einer detaillierten realistischen Beschreibung wie der der Pension Vauquer in Balzacs Père Goriot (1835) etwa. Auch vom ökonomischen Wert des Hauses, das ja das gesamte Eigenkapital der Familie darstellt, ist keine Rede. Man versteht zwar, dass das Mietshaus, in dem die Familie zeitweise leben muss, weniger groß ist, es wird aber auch darauf hingewiesen, dass sie gegenwärtig gar nicht mehr Platz braucht: »[…] se fossimo nella casa del nespolo parrebbe vuota come una chiesa.« (IM, 199) Eine ›realokönomische‹ Darstellung der Immobilie erscheint deswegen überflüssig, weil ihr Wert und
4 Offen bleibt aus dieser Sicht auch, in welchem Paradigma sich der Fortgang des Familienschicksals in der nächsten Generation lesen lassen wird. Joachim Küppers These, dass das Ende der Malavoglia der »Illusion Raum [lasse], es könne letztlich doch, soweit man den Fortschritt moralisch zähmt, eine Lösung der ›contraddizioni‹« (vgl. Anm. 16) geben, ist nur eine der Möglichkeiten. Der allein auf sich gestellte Alessi sieht sich zwar allenthalben mit der Erwartung der Restitution konfrontiert, ihn selbst aber lässt Verga in der letzten, emblematischen Szene schweigen (»non osava dirgli nulla«; zweimal: »non rispose«, IM, 286) und zwar gerade auch gegenüber dem älteren Bruder ’Ntoni, der als verlorener Sohn und aufgrund seines Namens der ideale Kandidat für die nächste Wiederholung gewesen wäre. Als der Jüngere dem Älteren schließlich anbietet, das Haus zu übernehmen, lehnt dieser ab. Vgl. Joachim Küpper: Vergas Antwort auf Zola. Mastro-Don Gesualdo als ›Vollendung‹ des naturalistischen Projekts. In: Winfried Engler/Rita Schober (Hg.): 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte. Tübingen: Narr 1995, S. 109–136, hier S. 134–135.
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damit ihre Größe gebunden bleibt an ein moralisches Entsprechungsschema. Demzufolge steht die Größe der Immobilie für die moralische Größe ihrer Bewohner, nicht für deren reale Besitzverhältnisse. Der Verweis auf das Gotteshaus bedeutet, dass – dem Eindruck seiner Bewohner zufolge – jene Sünde der Anmaßung in der Leere des Stammhauses nur noch greifbarer gewesen wäre. Dieser oikos ist ein leeres Zeichen, das einem Fetisch gleich für die ökonomische Stabilität und damit für die moralische Integrität der kollektiven Wirtschaftseinheit Malavoglia steht. Gleichzeitig ist das Mispelbaum-Haus Origo des Romandiskurses, wenn man es metonymisch stehen lässt für das gesamte Dorf. Ein leerer Ursprung, wenn man so will, denn der Erzähler erster Ordnung, der narratologisch notwendige Verfasser der erlebten Rede, in die der Text gefasst wurde, gibt sich nicht zu erkennen. Allenfalls tritt an die Stelle dieses ersten Erzählers ein amalgamierter Diskurs, der sich offenbar auf mehrere Stimmen gleichzeitig oder auf eine aus den Stereotypen selbst extrapolierte repräsentative Kollektivstimme, auf einen Chor im eigentlichen Sinne also bezieht. Sichtbar wird diese narratologische Konstruktion nur dort, wo sich aus Gründen unabdingbarer Informationsvergabe in kurzen Wendungen eine Nullfokalisierung manifestiert – etwa im unten folgenden Zitat: »così pensava Mena sul ballatoio aspettando il nonno« (IM, 35). Zahlreich sind allerdings die Stellen, an denen implizit Bezug genommen wird auf den ironischen und polyphonen Charakter dieser Erzählung zweiten Grades: »Il nonno, poveraccio, […] gli [dem Enkel ’Ntoni] cantava sempre la canzone della casa.« (IM, 212) Anlässlich einer Familienfeier ist die Rede von der »babilonia che c’era in casa di Malavoglia« (IM, 125). Die alte Leier gilt dem Jüngeren, der sich selbst einem neuen politischen Diskurs verschrieben hat, als stereotyp und redundant, während die berichtete Rede im religiös-ekklesiastischen Register verharrt. Der sich in seinen politischen Kommentaren auf dem Dorfplatz in der Rolle eines neuen politischen Subjekts wähnende jüngere ’Ntoni wird vom Rest der Gemeinschaft als ein gewöhnlicher »predicatore« (ebda.) wahrgenommen. Darüber hinaus erscheint das so flache wie abgrundtief grauenhafte vielstimmige Geschwätz des Dorfes in biblischer Gestalt und nimmt damit wiederum Bezug auf die Sünde menschlicher Hybris. Wer auch nur ein paar wenige Seiten des Romans gelesen hat, weiß, warum es schwierig ist, mit Zitaten aus ihm zu argumentieren. Auch dies ein Grund dafür, warum es falsch wäre, sich im Sinne einer Botschaft des Romans interpretativ mit Bestimmtheit festzulegen. Die hier zitierten Metaphern – das Schicksal als Sturm, die Rede als Leier, das Haus als Kirche und als Ort der Sprachverwirrung – werden, so führt der Text uns dies vor, von den Figuren gedacht oder ausgesprochen. Es gibt keinen sinnvollen Weg, diese babylonische Verwirrung aufzulösen. Eher ist sie selbst als Akteur der Handlung und Gegenstand der Darstellung zu begreifen.
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Dabei spricht auch das vom Autor gewählte Setting für die in der Forschung zwar oft überstrapazierte, aber selten in aller Konsequenz verfolgte Chormetapher. Das Fischerdorf und die Casa del nespolo bilden zusammen einen kammerspielartig geschlossenen Raum, der begrenzt wird von der Perspektive der Figuren selbst. Deren Wahrnehmung orientiert sich an einer strikten Trennung zwischen Innen und Außen, Zuhause und Welt. Der Außenwelt begegnet man mit Furcht, Argwohn oder Ignoranz. Hervorgehoben wird diese Seklusion noch einmal durch die Tatsache, dass es sich um Fischer handelt, die zwar gelernt haben, sich aufs Meer hinauszubegeben, nicht aber über Land zu reisen. Was aus dieser Perspektive von der Außenwelt übrigbleibt, ist eine bedrohliche Geräuschkulisse, die das Rauschen des Meeres kontert: Des Nachts ziehen Karren auf den Straßen des Landes umher als Zeichen einer unabsehbar und immer wieder neu sich vernetzenden Welt, die durch ihre schiere Beweglichkeit die statischen Verhältnisse im Dorf infrage stellt. E adesso che non si vedeva più né mare né campagna, sembrava che non ci fosse al mondo altro che Trezza, e ognuno pensava dove potevano andare quei carri a quell’ora. (IM, 21) Il mare russava in fondo alla stradicciuola, adagio adagio, e a lunghi intervalli si udiva il rumore di qualche carro che passava nel buio, sobbalzando sui sassi, e andava pel mondo il quale è tanto grande che se uno potesse camminare e camminare sempre, giorno e notte, non arriverebbe mai, e c’era pure della gente che andava pel mondo a quell’ora, e non sapeva nulla di compar Alfio, né della Provvidenza che era in mare, né della festa dei Morti; – così pensava Mena sul ballatoio aspettando il nonno. (IM, 34–35)
Ins Rollen gebracht werden die Karren vom wirtschaftlichen und politischen Fortschritt, von hier aus schreibt sich Geschichte. Mit ihr konkurriert in dieser Komposition die geschichtslose Indifferenz – man beachte auch das Verb ›russare‹ – des Meeres. Es gibt in I Malavoglia nur einen Grenzgänger zwischen diesen beiden Welten, der einen kleinen Profit aus der Dichotomie schlagen kann: jener Compar Alfio, an den das Mädchen Mena im Zitat denkt und den sie am Ende aus Scham nicht wird heiraten wollen. Die, die in dieser unheimlichen Außenwelt ihr Glück suchen, scheitern; die, die von ihr gerufen – das heißt vom neuen Staat zum Militärdienst einberufen – werden, sterben; die, die zu Hause fallen, müssen sich in radikalster Form dem Warentausch der Außenwelt verschreiben, indem sie ihren Körper in der Stadt verkaufen. Der Botenbericht Alfios von dem, was die jüngste Malavoglia in der Stadt tut, bleibt für die Protagonisten selbst und damit für den Roman bis zum Ende unaussprechlich. Verga hält also auch in dieser Hinsicht konsequent an der Binnenperspektive fest und führt die Leser damit in eine Beklemmung, die beinahe schon an den ›Nouveau roman‹ erinnert.
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Dramatische Verdichtung in den Malavoglia lässt sich weiterhin an der Konstruktion von Raum und Zeit im Innen des Dorfes ablesen.5 Auch hier imitiert der Erzähler die mentalen Repräsentationen der Bewohner, die in ihrer alltäglichen Routine und aufgrund des omnipräsenten Klatsches zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort wissen, was zu jedem anderen Zeitpunkt an jedem anderen Ort geschieht. La Provvidenza partì il sabato verso sera, e doveva esser suonata l’avemaria, sebbene la campana non si fosse udita, perché mastro Cirino il sagrestano era andato a portare un paio di stivaletti nuovi a don Silvestro il segretario; in quell’ora le ragazze facevano come uno stormo di passere attorno alla fontana, e la stella della sera era già bella e lucente, che pareva una lanterna appesa all’antenna della Provvidenza. Maruzza colla bambina in collo se ne stava sulla riva, senza dir nulla, intanto che suo marito sbrogliava la vela, e la Provvidenza si dondolava sulle onde rotte dai fariglioni come un’anitroccola. (IM, 18)
Der Ursprung von Einzeldiskursen verliert sich in einer Art kollektivistisch-kubistischer Wahrnehmung: Man weiß schon im Moment des ausbleibenden Glockengeläuts, was erst später über den Küster berichtet werden wird; man sieht die Mädchen am Brunnen und auf demselben Bild das Fischerboot – la Provvidenza – am Hafen, weil dies zu dieser Uhrzeit nun einmal immer so ist, wohingegen die Aussage, dass der Abendstern am Bootsmast befestigt zu sein schien, einer individuellen Perspektive – die der am Ufer stehenden Mutter – entspricht, ohne dass dies markiert wäre, weil auch diese Perspektive auf das sich wiederholende Naturschauspiel im vertrauten Raum allseits bekannt ist. Unmarkiert bleibt auch, wem der spöttische Vergleich des bescheidenen Bootes mit einem hässlichen Entlein eingefallen ist, so dass dieser autorlose Kollektivdiskurs nicht zuletzt einen freilich artifiziellen mythischen Anschein bekommt. Das Ereignis, das hier beschrieben wird (»La Provvidenza partì«) steht damit einerseits in scharfem Kontrast zur Wiederholung; andererseits illustriert der Text die schiere Unmöglichkeit, diese Ordnung und ihr narratives Schema überhaupt zu durchbrechen. Das Verschmelzen raumzeitlicher Distanzen gerät dabei in Konflikt mit der unvermeidlichen linearen Logik des Romandiskurses. Auch an Stellen, die Verga wie Dialoge aussehen lässt, gerät die Chronologie und die üblicherweise einem Entsprechungsparadigma gehorchende Relation von erzählter Zeit und Erzählzeit aus den Fugen:
5 Vgl. hierzu u. a. Leo Spitzer: L’originalità della narrazione nei Malavoglia. In: Belfagor 11 (1956), S. 37–53; mit Betonung des chorischen Charakters der Zeit-Raum-Struktur, vgl. Tibor Wlassics: Gli interlocutori corali. In: Ders.: Nel mondo dei Malavoglia. Saggi verghiani. Pisa: Giardini 1986, S. 43–55.
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– Questo non va bene! diceva don Silvestro, la cavezza è fatta per il mulo. Compare Cinghialenta è un uomo grossolano. – Egli andava a dire queste cose quando c’era comare Venera, la Zuppidda, la quale dopo che la leva si portava via i giovanotti del paese, aveva finito per addomesticarsi un po’ con lui. – Ognuno sa gli affari di casa sua, rispondeva la Zuppidda; – se lo dite per ciò che vanno predicando le male lingue, che io metto le mani addosso a mio marito, vi rispondo che non sapete un corno, tuttoché sapete di lettera. Del resto ognuno in casa sua fa quel che gli pare e piace. Il padrone è mio marito. – Tu lasciali dire, – rispondeva suo marito. – Poi lo sanno che se vengono a toccarmi il naso ne faccio tonnina! La Zuppidda adesso predicava che il capo della casa era suo marito, ed egli era il padrone di maritare la Barbara con chi gli piaceva, e se voleva darla a don Silvestro voleva dire che gliela aveva promessa, e aveva chinato il capo; e quando suo marito aveva chinato il capo, era peggio di un bue. – Già! sentenziava don Franco colla barba in aria, – ha chinato il capo perché don Silvestro è di quelli che tengono il manico nel mestolo. (IM, 275)
Mehrere Szenen – um mit Genette zu sprechen – sind hier ineinander verkeilt: Die Dorfbewohner zerreißen sich das Maul darüber, dass die Zuppidda zu Hause die Hosen anhabe beziehungsweise ihren Mann mit einem Halfter (»cavezza«) schlage; sie selbst nimmt dazu Stellung (»Ognuno sa gli affari di casa sua, rispondeva«); dann liest man eine Replik des Ehemannes in einem offenbar privaten Gespräch, die sich auf den Tratsch und ihren Ärger darüber bezieht (»Tu lasciali dire«). Zusammengefasst wird im Anschluss die Argumentationsstrategie der Zuppidda wiedergegeben, mit der sie sich gegen die üble Nachrede – deren wahrer Kern grundsätzlich unauslotbar bleibt – zu verteidigen versucht (»La Zuppidda adesso predicava«), und schließlich kommentiert ein Außenstehender die Familienangelegenheiten (»Già! sentenziava don Franco«). Der Ereignischarakter der einzelnen Handlungen scheint hier beinahe vollständig getilgt. Diese Beispiele sind ohne Rücksicht auf den Handlungsverlauf herausgegriffen, ihr Darstellungsprinzip wiederholt sich auf jeder einzelnen Seite in mehr oder weniger stark ausgeprägter Form. Das Mispelbaum-Haus und das Dorf Aci Trezza sind konstruiert als multiperspektivische Bühnenräume, in denen Verga ein Stück in scheinbar endloser Wiederholungsschlaufe zur Aufführung bringt. Seine Figuren lässt er wie in der antiken Tragödie vor dem Haus, der ›σκηνή‹, auftreten.6 Ohne die Parallele zum griechischen Theater allzu weit treiben zu wollen:
6 Akademische Metadiskurse decken sich selten mit Äußerungen der Autoren selbst. Es sei nur darauf hingewiesen, dass Verga zwar einerseits den Begriff der Inszenierung (»messa in scena«, s. u.) ablehnt, andererseits aber durchaus von seinen Figuren als »attori« spricht (Brief Vergas an Felice Cameroni vom 27. 02. 1881, in: Enrico Ghidetti: Verga. Guida storico-critica. Roma: Ed.
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Dort zeichnet sich der Chor vor den Figuren durch sein Bestehen aus; erst vor der Folie des Chors erhält die Dramenhandlung ihren mythischen Charakter. Ex negativo geht dies auch aus Aristoteles’ Poetik hervor, denn gerade weil der Philosoph den mythischen Charakter der Handlung weniger stark gewichtet, schreibt er auch dem Chor eine untergeordnete Funktion zu und gibt vor, dass dieser vom Tragödienschreiber wie ein Schauspieler behandelt werden müsse, weil er sich sonst überflüssig mache.7 Die neuerliche Aufwertung des Mythos in der Moderne ist kein Geheimnis, wenngleich – und dies gilt auch für Verga – die mythisierende Konstruktion selbst modernen Zwecken folgt. Sein chorisches Erzählexperiment lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund einer Moderne, die das von ihm so dargestellte sizilianische Paradigma zwangsläufig zerstören wird. Die Privilegierung des Familienschicksals der Malavoglia ist zwar beinahe nur eine Frage der Perspektivierung, denn über die anderen Dorfbewohner und ihre Angelegenheiten erfährt man kaum weniger, erscheint dabei aber als Indiz dafür, dass auch seine eigene narrative Strategie im Konflikt steht mit dem Erzählparadigma moderner Ökonomie, in dem einzelne Akteure den linear orientierten Handlungsverlauf bestimmen. Zur näheren Charakterisierung der Funktion dieses Verfahrens muss man sich an Paratexte halten, insbesondere an die beiden Einführungen zum gesamten Projekt des von Verga so genannten, bekanntlich unvollendeten Ciclo dei vinti. Man findet Verweise auf sie in beinahe jedem Verga-Aufsatz, und dennoch lassen sich aus ihnen neue und andere Erkenntnisse gewinnen, die nicht unbedingt aus sich selbst sprechen und die gerade im hier vorliegenden Kontext von Relevanz sind. Vergas Manifest veristischer Poetik, das sogenannte Vorwort A vom 19. Januar 1881, begleitet bis heute die Ausgaben der Malavoglia. Es handelt sich um ein veritables schriftstellerisches Programm, weil es Haltung und Methode des Dichters normativ fixiert: »Aufrichtig und leidenschaftslos« (»sincero e spassionato«8) habe die Erzählung zu sein. Sie versteht sich nicht als ›Literatur‹ im emphatischen, das heißt im empfindsamen, romantischen Sinne, sondern als »Studium« (»studio«). Dieser Imperativ wird wiederholt am Ende der Einleitung, wo das Romangeschehen zwar als »spettacolo«, die Disposition seines Beobachters aber
Riuniti 1979, S. 79). Der hier zur Anwendung gebrachte Inszenierungsbegriff ist freilich ein narratologischer, wenngleich – wie oben weiter auszuführen sein wird – Anleihen an das (antike) Theater im Hinblick auf I Malavoglia von einigem analytischen Gewinn sind. 7 Vgl. Aristoteles: Poetik. Herausgeben und übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, Kap. 18, 1456a, S. 58–59. 8 Siehe das Vorwort in der zitierten Ausgabe IM, 5–7.
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explizit anti-aristotelisch mit »senza passione« charakterisiert wird. Wieder ist von »osservare« und »studiare« die Rede – bei gleichzeitiger Suspendierung des Urteils, die allerdings nicht narratologisch beziehungsweise epistemologisch wie bei Flaubert und den ›Nouveaux romanciers‹ – mit der Negativfolie Balzac –, sondern ethisch motiviert wird: Chi osserva questo spettacolo non ha il diritto di giudicarlo; è già molto se riesce a trarsi un’istante fuori del campo della lotta per studiarla senza passione, e rendere la scena nettamente, coi colori adatti, tale da dare la rappresentazione della realtà com’è stata, o come avrebbe dovuto essere.9
Festgehalten werden sollte außerdem, dass Verga im letzten der zitierten Sätze die aristotelische Distinktion von Literatur und Geschichtsschreibung aus dem neunten Kapitel der Poetik in eins fallen lässt: Nach Verga scheint es die Aufgabe des Dichters zu sein, Tatsache und Möglichkeit miteinander zu versöhnen, jedenfalls dann, wenn man sein »oder« (»la realtà com’è stata, o come avrebbe dovuto essere«) als nichtausschließlich interpretiert und die im Italienischen breite Semantik des Hilfsverbs zwischen müssen und sollen im Ganzen ausschöpft.10 Auch für Aristoteles ist die Dichtung bekanntlich das vornehmere, weil wahrere Medium, und Verga sieht – das lässt sich jenseits von semantischen Detailfragen am Vorwort zu I Malavoglia ablesen – eine geradezu moralische Verpflichtung des Dichters darin, das Besondere mit dem Allgemeinen zu verbinden, um es nicht inkommensurabel (»meschino«11) erscheinen zu lassen.12 Diese emphatische, nicht zuletzt von christlicher Mitleidsethik geprägte Akzentuierung allgemeiner Wahrheit hinter dem Einzelfall macht Vergas Verismus zu einem stark ideologisch konnotierten deduktiven Verfahren: Der Einzelfall ergibt sich aus dem Programm. Im Verhältnis zwischen Allgemeinem und Partikulären und darüber hinaus in der Bestimmung des Partikulären als repräsentativ einerseits oder inkommen-
9 Ebda, S. 7. 10 Vgl. Aristoteles: Poetik, 1451a, S. 2 8–29. Der Unterschied zwischen dem, »was wirklich geschehen ist« und dem, »was geschehen könnte«, ist im Original der zwischen Indikativ und Optativ des Verbs ›γίγνομαι‹. 11 IM, 6. 12 Aristoteles beschreibt den Gegensatz hier mit »καθόλου« (»im Allgemeinen«) einerseits und »κατ᾽ ἕκαστος« (wörtlich etwa: »auf ein Jedes bezogen«, Poetik 1451b, S. 2 8–29) andererseits. An anderen Stellen, die das Einzelne als Teil des Ganzen betonen, findet sich »κατὰ μέρος«. Vgl. Rhetorik I (also Rhetorik I, 1, 7): Ein Gesetz oder Urteil muss in jedem einzelnen Fall gültig (καθόλου) sein. Vgl. im Gegensatz dazu Metaphysik 981a: Der Arzt hat den Besonderen (»ἕκαστος«) zu behandeln, nicht den Menschen im Allgemeinen.
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surabel andererseits scheint mir auch der Schlüssel zur ideologisch-epistemologischen Differenzierung der so eng beieinanderstehenden literaturgeschichtlichen Epochenbegriffe Verismus, Naturalismus und Realismus zu liegen.13 Das Schema ließe sich wie folgt grob skizzieren: Naturalismus und Verismus verhandeln den von der Narration quasi in grammatikalischer Notwendigkeit zu etablierenden Einzelfall als eher repräsentativ, wobei der Naturalismus induktiv verfährt, das heißt er transponiert die im weitesten Sinne soziologischen, von realen Einzelfällen statistisch hergeleiteten Fakten in eine Erzählung, wohingegen der Verismus, wie oben schon angedeutet, deduktiv aus gewissen universell-anthropologischen Annahmen heraus den Einzelfall konstruiert.14 Man kann sich diesen Unterschied vor Augen führen, indem man I Malavoglia mit einem beliebigen Roman Zolas vergleicht: Während Vergas Titelhelden, wie wir gesehen haben, im polyphonen Tableau kaum mehr Kontur als die anderen Protagonisten gewinnen, steht in Zolas L’argent (1891) zum Beispiel die Hauptfigur Saccard allein im Vordergrund, auch wenn er (nur) als Repräsentant eines historischen Typus vorgeführt wird. Einem Realismus Flaubertscher Prägung wäre dagegen eher an einem inkommensurabel Partikulären gelegen, dessen Haecceitas die Darstellung fokussiert; man
13 Diese Ausführungen können nicht mehr sein als eine Skizze, dennoch scheint mir ein gewisser theoretischer Schematismus in der üblicherweise stark auf die Paratexte der infrage stehenden Autoren fixierten Diskussion nicht fehl am Platze. Die obige Gegenüberstellung deckt sich, wenngleich aus anderer Perspektive, mit den Ergebnissen von Niklas Benders Studie zu Zola, Flaubert und Fontane: »Les romans de Zola cherchent tous à établir, de manière plus ou moins explicite, le rapport entre le particulier et le général, à savoir le lien entre le récit individuel et l’époque du Second Empire, voire l’âge moderne en général […].« Wohingegen: »[…] Flaubert prend des cas limites éloignés pour montrer des vérités éternelles du corps.« (Niklas Bender: La lutte des paradigmes. La littérature entre histoire, biologie et médecine [Flaubert, Zola, Fontane]. Amsterdam/New York: Rodopi 2010, S. 376; 380.) 14 Zu diesen Annahmen gehört ein ökonomisch-sozialer Determinismus, der unverkennbar in den zuvor skizzierten Darstellungsverfahren codiert ist. Am Rande sei bemerkt, dass es schwer vorstellbar ist, wie Verga unter diesen ästhetischen Prämissen seine geplanten weiteren Romane wohl verwirklicht hätte, denn das Archaische der in den Malavoglia und im Mastro-don Gesualdo dargestellten Gesellschaften ist Teil des Programms. Vgl.: »A misura che la sfera dell’azione umana si allarga, il congegno della passione va complicandosi; i tipi si disegnano certamente meno originali, ma più curiosi, per la sottile influenza che esercita sui caratteri l’educazione, ed anche tutto quello che ci può essere di artificiale nella civiltà. Persino il linguaggio tende ad individualizzarsi, ad arricchirsi di tutte le mezze tinte dei mezzi sentimenti, di tutti gli artifici della parola onde dar rilievo all’idea, in un’epoca che impone come regola di buon gusto un eguale formalismo per mascherare un’uniformità di sentimenti e d’idee.« (IM, 5–6) Dem chorischen Moment in den Malavoglia, so würde ich die Aussagen reformulieren, stünde bei Realisierung ›fortgeschrittener‹ Gegenstände der Individualismus des modernen Menschen entgegen, der sich dem veristischen ›Studium‹ durch einen opaken Formalismus verschließt.
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vergleiche hier beispielsweise die Figur der Malavoglia-Tochter Mena mit Emma Bovary oder die des jüngeren ’Ntoni mit Frédéric Moreau. Auch Flaubert fundiert sein Verfahren in letzter Konsequenz ethisch, doch sein Mitgefühl (»sympathie«) ist ein philosophisches, das sich auf den Einzelfall als solchen bezieht: Je me borne donc à exposer les choses telles qu’elles me paraissent, à exprimer ce qui me semble le Vrai. Tant pis pour les conséquences. Riches ou pauvres, vainqueurs ou vaincus, je n’admets rien de tout cela. Je ne veux avoir ni amour, ni haine, ni pitié, ni colère. Quant à de la sympathie, c’est différent. Jamais on n’en a assez.15
Ohne an diesem Ort weiter auf die komplexe epochenbegriffliche Frage und auf Vergas Selbstbestimmung insbesondere im Verhältnis zu den genannten französischen Autoren eingehen zu können, möchte ich noch einen weiteren Aspekt seiner Romanästhetik hervorheben, der weniger offen auf der Hand liegt. Im schon zitierten Vorwort zum Ciclo dei vinti bestimmt der Sizilianer den Menschen als Affektwesen zum Gegenstand seiner literarischen Formsuche. Die Ästhetik, die er in seiner Programmschrift entwickelt, folgt in seiner Terminologie physikalischen Gesetzen: Einen »meccanismo« nennt er das Zusammenspiel der menschlichen »passioni«.16 Aus der Reibungsenergie widersprüchlicher Leidenschaften entsteht die Wahrheit: »Nella luce gloriosa che […] accompagna [l’umanità si dileguano] tutte le contraddizioni, dal cui attrito sviluppasi la luce della verità«. Der Physiker-Poet ist zwar leidenschaftslos, aber selbst gleichsam physikalischer Körper – »travolto anch’esso dalla fiumana« – heißt es an selbiger Stelle. Das nur wenige Tage später, am 22. Januar 1881 verfasste und von Vergas Verleger Emilio Treves abgelehnte, sogenannte Vorwort B sollte deshalb ebenso Beachtung finden, weil es diese teilnehmende Beobachtung in eine narrative Szene verlegt und dadurch noch einmal neue inhaltliche Akzente setzt: Der Erzähler befindet sich in einer Großstadt, es ist Nacht, er wandelt durch die Straßen und folgt seiner Einbildungskraft (»di fantasticheria in fantasticheria«17). Das Studienfach wechselnd beugt er sich über sein Objekt wie der Entomologe über ein zappelndes Insekt. Verga ersetzt daher auch, um im Bilde zu bleiben, die »Besiegten« (»vinti«) durch die »(Herunter-)Gefallenen« (»caduti«). Auch hier ist die Semantik des italienischen Worts breiter und schließt eine christliche Interpretation nicht aus, die im Übrigen in der hypothetischen Exklamation des Endes ihr Echo fände:
15 Gustave Flaubert: Correspondance. Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard. 5 Bde. 1972–2007. 3 (1991), Brief an George Sand vom 10. 08. 1868, S. 786. 16 IM, 6. Die folgenden Zitate aus dem Vorwort A finden sich ebda. 17 Das Vowort B findet sich in: Enrico Ghidetti: Verga, S. 74–75, hier S. 74.
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[…] e questo osservatore meno frettoloso degli altri, chinandosi sui caduti per esaminarne le convulsioni, sostando un momento dinanzi alle verità che la folla si lascia indietro nella fretta di correre avanti, o agli affetti che gemano invano o alle febbri che si scambiano per passioni, o alla giustizia su cui si mettono i piedi, non ha il diritto di esclamare: – Che peccato!18
Das Polysyndeton (die Autopsie des Insekts) lässt hier noch einmal in einem anderen Licht erscheinen, was Vergas Wahrheit ist: gefallen. Denn der menschliche Affekt ist eitel und in seiner semantisierten Form als ›Leidenschaft‹ nichts als Illusion. Nur oberflächlich betrachtet lässt sich der Ethos dieses Beobachters verwechseln mit Flauberts Indifferenz. Der Autor der Éducation weigert sich gerührt zu sein und motiviert seine Ästhetik von diesem affektiven ›Degré zéro‹ her. Vergas Darstellung hingegen impliziert den ›ἔλεος‹ des Zuschauers. Der Unterschied ist ein gewichtiger. In der Terminologie Martin von Koppenfels’ lässt sich der Zusammenhang folgendermaßen beschreiben: Wenn Flauberts Immunitätsparadigma im zwanzigsten Jahrhundert von Erzählern wie Marcel Proust und Louis-Ferdinand Céline durch eine »Wiederkehr des armen Dings«19 – des bewegten Ich-Erzählers sozusagen – revidiert wird, dann hat Verga eine andere Antwort darauf. Sein quasi-unsichtbarer Erzähler bleibt zwar scheinbar genauso immun wie der Flauberts, sein literarischer Diskurs aber ist eben doch Spektakel für den Leser und durchaus darauf angelegt, einen Zuschaueraffekt zu provozieren, denn was wäre kathartischer als dem Aufscheinen der Wahrheit beizuwohnen. Die physikalischen Metaphern im ersten Romanprolog und die Figur des nächtlichen Flaneurs im zweiten lassen erkennen, dass Vergas Sujetwahl – Dorfgesellschaften im Sizilien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zwar durchaus archaistisch ist. Das literarische Verfahren jedoch, das I Malavoglia mehr noch als Mastro-don Gesualdo (1889) kennzeichnet, scheint deutlich geprägt von der Wahrnehmung der modernen Großstadt und den Versuchen, sich deren Simultaneitäts- und Flüchtigkeitserfahrungen mehr simulativ als mimetisch zu nähern. Ein Brief Vergas an Luigi Capuana vom 13. März 1874 gibt Auskunft über den Einfluss, den der Urbanitätsschock auf den Autor hatte:
18 Ebda., S. 75. 19 Vgl. das gleichnamige Kapitel in: Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007, S. 235–243.
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Io immagino te, venuto improvvisamente dalla quiete tranquilla della nostra Sicilia […] a sentirti penetrare da tutta questa febbre violenta di vita in tutte le sue piú ardenti manifestazioni, l’amore, l’arte, la soddisfazione del cuore, le misteriose ebbrezze del lavoro, pioverti da tutte le parti, dall’attività degli altri, dalla pubblicità qualche volta clamorosa, pettegola, irosa, degli occhi delle belle donne, dai facili amori, o dalle attrattive pudiche…20
In einem anderen Brief an denselben Empfänger, ebenfalls 1874, ist die Rede von der »Babilonia« Mailand, wo Verga zur Zeit der Abfassung von I Malavoglia lebt. Er wird dieses Babilonien unter dem Namen ›Arci Trezza‹ beziehungsweise ›Casa del nespolo‹ rekonstruieren, in den »colori adatti« selbstverständlich, so dass diese Großstadtpoetik einen verkennbaren Anstrich bekommt, insbesondere dann, wenn man sich auf ihre mimetische Dimension konzentriert.21 Doch das unheimliche Geräusch der nachts umherziehenden Karren deutet darauf, dass hinter dieser verschlafenen Bühne eine ganz andere Welt steht. Man müsste die Ästhetik dieses Romans demnach weniger oder zumindest nicht nur auf die Seite Zolas und Flauberts stellen, denn der Text ist in gewissem Sinne der auf die Bühne eines sizilianischen Fischerdorfes verlegte Großstadtroman, den man mit Baudelaires Tableaux parisiens (1857), mit Ulysses (1922) oder Louis Aragons Le paysan de Paris (1926) vergleichen sollte.22 Dabei ist diese verdeckte Großstadtpoetik keineswegs ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt, im Gegenteil: Vergas Verfahren zielt auf ein Äquivalent des Großstadtschocks: »[…] tutta la questione e l’importanza del realismo sta in ciò che piú si riesce a rendere immediata l’impressione artistica, meglio questa sarà oggettiva, quindi vera o reale come volete, ma bella sempre.«23 Es handelt sich gleichsam um eine Überwältigungspoetik modernen Zuschnitts, die tatsächlich schon an Céline denken lässt, der den unmittelbaren Effekt seines Stils als
20 Verga in: Enrico Ghidetti: Verga, S. 50. 21 I Malavoglia als quasi-dokumentarische »microstoria« zu lesen, ist weithin Konsens. Vgl. z. B. Vitilio Masiello: I Malavoglia e la letteratura europea della rivoluzione industriale. In: Ders.: Icone della modernità inquieta. Storie di vinti e di vite mancate. Riletture e restauri di Verga e Pirandello. Bari: Palomar 2006, S. 37–93. Masiello definiert »microstoria« als Beschreibung eines repräsentativen Einzelfalls: »La microstoria […] reca in se la struttura cromosomica della macrostoria. E l’indagine dell’una consente di identificare – come in laboratorio – i meccanismi di funzionamento dell’altra« (S. 54). Die Einwände sowohl aus historiographischer als auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht liegen auf der Hand: Mikrogeschichte macht schon methodisch, aber eben auch ästhetisch nur dann Sinn, wenn der Einzelfall nicht vollständig mit dem Referenzrahmen verrechenbar ist. 22 Zum Flüchtigkeitsparadigma einschlägig: Hermann Doetsch: Flüchtigkeit. Archäologie einer modernen Ästhetik bei Baudelaire und Proust. Tübingen: Narr 2004. 23 Verga an Emilio Treves, 19. 07. 1880. In: Enrico Ghidetti: Verga, S. 71.
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dämonische Stimme im Kopf des Lesers beschreiben wird: »Le lecteur qui me lit! il lui semble, il en jurerait, que quelqu’un lui lit dans la tête!... dans sa propre tête... […] sans lui demander la permission!«24 Zum Vergleich Verga: […] la confusione che dovevano produrvi in mente alle prime pagine tutti quei personaggi messivi faccia a faccia senza alcuna presentazione, come li aveste conosciuti sempre, e foste nato e vissuto in mezzo a loro, doveva scomparire mano mano col progredire della lettura, a misura che essi vi tornavano davanti, e vi si affermavano con nuove azioni ma senza messa in scena, semplicemente, naturalmente, era artificio voluto e cercato anch’esso, per evitare, perdonami il bisticcio, ogni artificio letterario, per darvi l’illusione completa della realtà.25
Bei Céline wird dieser Effekt – in nachträglicher Zuspitzung durch den Autor selbst – absolut gesetzt. Bei Verga ist er gedacht als fulminante Exposition. Der Unterschied bleibt, zumindest vom Programmatischen her gesehen, ein gradueller. Das Amalgam aus archaisierendem Sujet und deutlich modernem, ja – um es abschließend noch einmal zugespitzt zu formulieren – proto-futuristisch inspiriertem Verfahren lässt verallgemeinerbare Schlüsse hinsichtlich der Thematik dieses Bandes zu. Zunächst einmal zeichnet Verga das Bild eines Kollektivschicksals, das sich zyklisch zu wiederholen scheint. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zum späteren Mastro don-Gesualdo, mit dessen Titelheld eine vom individuellen Affekt geprägte Wirtschaftsgeschichte beginnt, auch wenn ihr Autor diese – deutlicher als in den Malavoglia – mit einem grausamen Ende bestraft. Der ästhetisch konsequentere frühere Roman zielt letztlich allerdings auf den Affekt eines Lesers, der selbst längst Subjekt moderner Ökonomie und deren Erzählparadigmen ist. Reflektiert man die Prämissen und die Genese der Überwältigungsästhetik,26 die diesen Affekt möglich macht, erscheint er als gewissermaßen nachgeholt. So real die Welt von Arci Trezza auch sein mag, aus dem längst ins Zeitalter der Industrialisierung eingetretenen Mailand betrachtet,
24 Louis Ferdinand Céline: Entretiens avec le professeur Y. In: Romans. Herausgegeben von Henri Godard. Paris: Gallimard. 4 Bde. 1981–1993. 4 (1993), S. 545. 25 Verga an Luigi Capuana, 25. 02. 1881. In: Enrico Ghidetti: Verga, S. 77–78. 26 Schon Luigi Pirandello bescheinigt I Malavoglia größere wirkungsästhetische Effizienz und führt diese in seiner Bewertung gleichzeitig deutlich vor Augen: »[…] don Gesualdo Motta non vale padron ’Ntoni Malavoglia. Il suo romanzo si mostra un po costruito d’elementi che visibilmente si riportano attorno a lui, senza quella compatta et schietta naturalezza del primo romanzo, tanto piú mirabile e quasi prodigiosa, in quanto non si sa come risulti cosí fusa attorno a quella casa del Nespolo tutta la vita di quel borgo di mare e come venga fuori senza intreccio e pieno di tanta passione il romanzo in cui le vicende sembrano a caso.« (Pirandello, »Discorso di Catania«, 02. 09. 1920, in: Enrico Ghidetti: Verga, S. 179.)
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muss sie als verloren erscheinen. Die vom Roman beschworene Epiphanie der Wahrheit funktioniert einzig als Kontrastfolie zum nicht nur Unausweichlichen, sondern auch – man vergleiche noch einmal mit der Schilderung der Faszination, die die moderne Großstadt auf den Autor ausübt – Irresistiblen moderner Ökonomie und vice versa. I Malavoglia zeigt, dass der (es ist sicher nicht der einzige) bis zum heutigen Tag virulente, veritable Affekt, die die moderne Ökonomie in einer Welt der ›carri‹ generiert, ein Konterreflex ist, in dem der Homo oeconomicus seine eigenen Daseinsbedingungen als im wahlweise philosophischen, theologischen oder psychologischen Sinn ›gefallen‹ negiert.
Bibliographie Ajello, Epifanio: La fotografia della »casa del nespolo«. In: Prospettive sui Malavoglia. Atti dell’incontro di studio della Società per lo Studio della Modernità Letteraria, Catania, 17–18 febbraio 2006. Florenz: Olschki 2007, S. 99–113. Aristoteles: Poetik. Herausgeben und übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982. Bender, Niklas: La lutte des paradigmes. La littérature entre histoire, biologie et médecine (Flaubert, Zola, Fontane). Amsterdam/New York: Rodopi 2010. Céline, Louis Ferdinand: Entretiens avec le professeur Y. In: Romans. Herausgegeben von Henri Godard. Paris: Gallimard. 4 Bde. 1981–1993. 4 (1993). Doetsch, Hermann: Flüchtigkeit. Archäologie einer modernen Ästhetik bei Baudelaire und Proust. Tübingen: Narr 2004. Flaubert, Gustave: Correspondance. Herausgegeben von Jean Bruneau. Paris: Gallimard. 5 Bde. 1972–2007. 3 (1991). Ghidetti, Enrico: Verga. Guida storico-critica. Rom: Ed. Riuniti 1979. Küpper, Joachim: Vergas Antwort auf Zola. Mastro-Don Gesualdo als ›Vollendung‹ des naturalistischen Projekts. In: Winfried Engler/Rita Schober (Hg.): 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte. Tübingen: Narr 1995, S. 109–136. Masiello, Vitilio: I Malavoglia e la letteratura europea della rivoluzione industriale. In: Ders.: Icone della modernità inquieta. Storie di vinti e di vite mancate. Riletture e restauri di Verga e Pirandello. Bari: Palomar 2006, S. 37–93. Mazzacurati, Giancarlo: Paralleli e meridiane: l’autore e il coro all’ombra del nespolo. In: Fondazione Verga (Hg.): I Malavoglia. Atti del congresso internazionale di studi, Catania, 26–28 novembre 1981. Catania: Fondazione Verga. 2 Bde. 1982. 1 (1982), S. 163–179. Spitzer, Leo: L’originalità della narrazione nei Malavoglia. In: Belfagor 11 (1956), S. 37–53. Verga, Giovanni: I Malavoglia. In: I grandi romanzi. Herausgegeben von Ferruccio Cecco/Carla Riccardi. Mailand: Mondadori 1972. Wlassics, Tibor: Gli interlocutori corali. In: Ders.: Nel mondo dei Malavoglia. Saggi verghiani. Pisa: Giardini 1986, S. 43–55.
Jobst Welge
Die Affekte der Angestellten. Büroarbeit und ›Emotion‹ im italienischen Roman des späten 19. Jahrhunderts Affekte, Realismus, Bürokratie Während die emotionale Dimension von Literatur sicher so alt ist wie die Literatur selbst, lässt sich doch genauer nach der spezifischen Korrespondenz zwischen historisch entwickelten literarischen Formen und der ebenso historisch geprägten Kodifizierung und Versprachlichung von emotionalen Zuständen fragen. Jüngere kulturwissenschaftliche, aber auch narratologische Untersuchungen haben gerade diese historische Variabilität des scheinbar universellen, ›Gefühls‹ in den Vordergrund gestellt.1 Im 20. Jahrhundert ist der Begriff des Affektes zu einem allgemeinen Terminus für die körperliche Situiertheit und die Externalisierung von Emotionen geworden und konstituiert in diesem Sinne eine Brücke zwischen Körper und Geist.2 Eine frühe Historisierung des Affektbegriffs stammt von dem britischen, marxistischen Theoretiker Raymond Williams, der von »structures of feeling« gesprochen hat. Williams’s für die heutige kulturwissenschaftliche Affekt-Forschung zukunftsweisender Ansatz besteht darin, die Manifestation von Affekten nicht innerhalb gängiger Oppositionen (Innen vs. Außen, Subjektivität vs. Objektivität) zu verorten, sondern vielmehr von einer Konstellation unterschiedlicher Elemente auszugehen, die sich innerhalb eines internen Verweisungssystems zu
1 Schamma Schahadat: Kulturelle Codierungen. Soziologie, Ethnologie, Kultursemiotik. In: Martin von Koppenfels/Cornelia Zumbusch (Hg.): Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin: De Gruyter 2016, S. 122–139; Patrick Colm Hogan: Affective Narratology. The Emotional Structure of Stories. Lincoln: University of Nebraska Press 2011; Barbara H. Rosenwein: Worrying about Emotions in History. In: The American Historical Review, 107/3 (2002), S. 821–845. 2 Im 18. Jahrhundert hatte Kant (Anthropologie) ›Affekt‹ von ›Passion‹ differenziert. Vgl. dazu Ute Frevert: Defining Emotions: Concepts and Debates over Three Centuries. In: Dies. et al. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000. Oxford: Oxford University Press 2014, S. 2–31; S. 20: »Affect came from powerful sensory perceptions, which tended to overwhelm the person and disable rational will. As a ›surprise through sensation‹, they derailed the mind’s composure. As ›drunkenness‹, they left no room for reflection and immobilized ›dominion over oneself‹.« Für eine kritische Diskussion der jüngsten akademischen Karriere des Begriffs vgl. Ruth Leys: The Turn to Affect: A Critique. In: Critical Inquiry 37 (2001), S. 434–472. https://doi.org/10.1515/9783110479638-008
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einem identifizierbaren, verifizierbaren Phänomen verbinden. Es geht Williams um die tatsächlich ›gelebten‹ und ›gefühlten‹ Bedeutungen und Anschauungen, das ineinandergreifende oder reibungsvolle Widerspiel von Glaubensüberzeugungen und Erfahrungen, und zwar ausdrücklich insofern diese einer historischen Veränderung unterworfen sind: »We are talking about characteristic elements of impulse, restraint, and tone; specifically affective elements of consciousness and relationships: not feeling against thought, but thought as felt and feeling as thought: practical consciousness of a present kind, in a living and interrelating continuity.«3 Das lässt sich so verstehen, dass die Manifestation von Affekten stets auch an eine Ebene der Verkörperung (›embodiment‹) gebunden ist. Ich kann hier nicht weiter auf die Implikationen von Williams’s Affekt-Begriff eingehen, geschweige denn auf das Verhältnis zur gegenwärtigen Affekt-Theorie, möchte aber die Idee der Konstellation, der Relationalität und der Variabilität aufnehmen, um mich so der Frage nach dem Verhältnis von Affekt und Ökonomie, beziehungsweise der Affektökonomie zu nähern. Die beiden Begriffe wären dann also nicht einfach als Gegensätze zu denken, sondern als Bestandteile eines beweglichen Komplexes von sozialer Erfahrung. Wie Williams betont, sind diese affektiven Erfahrungen oft in der Sphäre des Privaten angesiedelt, also eigentlich noch vor der Stufe des Sozialen. Mein literarisches Fallbeispiel – der italienische Angestelltenroman des späten neunzehnten Jahrhunderts – bietet sich für eine affektökonomische Lektüre in diesem Sinne an, da er auf eine historische Übergangsepoche bezogen ist, die gewissermaßen erste Reaktionen auf Modernisierungserfahrungen (»emergent formations«) registriert, die, so Williams, naturgemäß im Rückblick stärker als solche kenntlich werden, deren affektive Bearbeitung sich jedoch zunächst in der unmittelbaren, gelebten Gegenwart (»in the true social present«) vollzieht. Die »Struktur des Gefühls« ist nach Williams somit eine »kulturelle Hypothese« mit Bezug zum Beispiel auf eine bestimmte historische Epoche oder generationelle Erfahrung.4 Auch für Fredric Jameson und seine Theorie realistischer Romanprosa besitzt die Darstellung von Affekten einen spezifisch historischen Index. Affekte, als körperlich situierte Sinneswahrnehmungen sind tendenziell der rationalen Konzeptualisierung, ja sogar der Sprache selbst enthoben. Jameson hat just hierin
3 Raymond Williams: Structures of Feeling. In: Devika Sharma/Frederik Tygstrup (Hg.): Structures of Feeling. Affectivity and the Study of Culture. Berlin: De Gruyter 2015, S. 20–24 (S. 20). 4 Raymond Williams: Structures of Feeling, S. 21: »The hypothesis has a special relevance to art and literature, where the true social content is in a significant number of cases of this present and affective kind, which cannot without loss be reduced to belief systems, institutions, or explicit general relationships, though it may include all these as lived and experienced […].«
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ein treibendes Motiv des literarischen Realismus erkannt, insofern sich die Repräsentation von Affekten vor allem in einer »erhöhten Präsenz der Darstellung« (»heightened representational presence«) manifestiere, also vorwiegend im Modus des Zeigens, weniger im Regime des Erzählens und der Bedeutung.5 Jameson hebt vor allem den historischen Moment hervor, in dem körperliche Affektäußerungen literarisch als solche darstellbar werden: »[...] it will be appropriate to associate the rise of affect with the emergence of the phenomenological body in language and representation; and to historicize a competition between the system of named emotions and the emergence of nameless bodily states which can be documented in literature around the middle of the nineteenth century […].«6 Die im Folgenden zu diskutierenden italienischen Romane aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, Emilio de Marchis Demetrio Pianelli (1890) und Italo Svevos Una Vita (1892) lassen sich noch im Kontext einer realistisch-naturalistischen Ästhetik begreifen, vor allem der zweite Text weist aber im Sinne einer stärkeren Innenorientierung bereits darüber hinaus. Der besondere Aufschlusscharakter dieser spät-realistischen Texte ergibt sich gerade aus der Kombination einer vor-modernistischen Ästhetik mit der Thematik der zunehmenden Urbanisierung, ökonomischen Modernisierung und der Erfahrung von Entfremdung und Entwurzelung, wie sie sich in Italien ab 1880 im städtischen Kontext manifestierten. Für diesen Komplex der Modernisierung steht wiederum stellvertretend die Chiffre und die konkrete Arbeitswelt der Bürokratie.7 Die Figur des impiegato, des kleinbürgerlichen Angestellten, kann als Emblem für die Erfahrung von Umbruchprozessen gesehen werden.8 Unsere Hypothese ist also, dass diese nahezu zeitgleich erschienenen Romane eine bestimmte historische Affekt-Konstellation (im Sinne von Williams) gewissermaßen in statu nascendi bezeugen, die an eine konkrete soziale Situation gebunden ist, die sich aber eben nicht restlos mit Kategorien des Sozialen beschreiben lässt. Dabei gilt in unserem
5 Fredric Jameson: The Antinomies of Realism. Verso: London 2013, S. 35. Emotionen beziehen sich für Jameson auf eine prototypisch ›ältere‹ Diskursform (System, Nomenklatur, Repräsentation, Erzählung), während Affekte eine gleitende Skala bezeichnen, verbunden mit der Emergenz des ›bürgerlichen Körpers‹ und der Idee der Phänomenologie (körperliche Empfindung, Chromatismus, Intensität, Erfahrungen, Beschreibung); vgl. S. 44. 6 Ebda., S. 32. 7 Zum Anstieg der Büroarbeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, s. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009, S. 988 ff. 8 Vgl. dazu Luciano Vandelli: Tra carte e scartoffie. Apologia letteraria del pubblico impiegato. Il Mulino: Bologna 2013. Vgl. ders.: Zwischen Akten und Zetteln. Notizen zu Literatur und Bürokratie. In: Leviathan 44/2 (2016), S. 303–327.
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Fall der Umstand der Umbruchsituation nicht nur für die Affektkonstellation als solche, sondern gerade auch für die literarische Form, die uns ja überhaupt erst Aufschluss über diese gibt. Für die Gattung des Angestellten-Romans beziehungsweise das Verhältnis von Bürokratie und Moderne ist aus heutiger Perspektive das in formal-stilistischer Hinsicht ungleich kühnere, modernistische Werk Kafkas ein offensichtlicher Fluchtpunkt. So hat der Kafka-Biograph Reiner Stach nicht zufällig Svevos Una Vita als »Prototyp des modernen Angestellten-Romans« und Alfonso Nitti, den Romanprotagonisten und prototypischen Anti-Helden als »vorweggenommene Karikatur Kafkas« bezeichnet.9 Obwohl Svevo in späteren Jahren Kafka als Autor durchaus schätzte, beruhen die auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Habsburger Autoren nicht auf direkter Beeinflussung, sondern sind den Ähnlichkeiten des kulturellen Umfelds – der bürokratischen Modernisierung in den geographischen outposts der Habsburger Monarchie – geschuldet.10 In seinem berühmten Kurzessay »Kafka y sus precursores« hatte ja Jorge Luis Borges nicht zufällig gerade Kafka gewählt, um das literarhistorische Phänomen zu verdeutlichen, bei dem sich ›starke‹ Autoren retrospektiv gewissermaßen ihre eigenen Vorgänger erschaffen.11 Kafkas unbedingter literarischer Anspruch zielte auf die strikte lebensweltliche Trennung von Arbeit/Ökonomie und Literatur, jedoch weist Stach zurecht darauf hin, dass sich die Erfahrungen aus der Arbeitswelt dann doch nachdrücklich in der Literatur sedimentiert haben: »Er schöpfte aus diesem Material, und die radikale Abspaltung des Berufs, die er lebenspraktisch so gern vollzogen hätte, […] durchkreuzte er selbst, indem er jene Welt einströmen ließ in die Literatur.«12 In diesem Sinne soll hier also nach einer kulturhistorisch noch früheren Dissoziierung sowie Durchdringung von Arbeitswelt und ›Literatur‹/Empfindung gefragt werden. Insbesondere wird es dabei auch um die Frage gehen, wie sich affektiv-emotionale Äußerungen zum literarischen Realismus verhalten.
9 Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. Frankfurt a. M.: Fischer, 2004, S. 10. Zum Zusammenhang von Affekt und Ökonomie bei Kafka, s. auch Luigi Ferrari: Alle fonti del kafkiano. Lavoro e individualismo in Franz Kafka. Piacenza: Vicolo del Pavone 2014, Kap. 4. 10 Vgl. die aufschlussreiche Diskussion bei Saskia Ziolkowski: Kafka and Italy: A New Perspective on the Italian Literary Landscape. In: Stanley Corngold/Ruth Gross (Hg.): Kafka for the Twenty-First Century. Rochester/NY: Camden House 2011, S. 237–49. 11 Jorge Luis Borges: Kafka y sus precursores. In: Otras Inquisiciones. Madrid: Alianza Editorial 1995, S. 107–109. 12 Reiner Stach: Kafka, S. 333.
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Demetrio Pianelli Der Roman Demetrio Pianelli von Emilio de Marchi (1851–1901) schildert das Mailand des späten 19. Jahrhunderts, im Zeitraum der Jahre 1887 bis 1890, aus der Perspektive eines kleinbürgerlichen Angestellten, der Titelfigur. Der melodramatische Inhalt des Romans war denn auch in erster Linie auf ein kleinbürgerliches Publikum zugeschnitten. Eine frühere Fassung des Romans trug noch einen weiblichen Namen im Titel, La bella Pigotta. Ritratti e costumi della vita milanese, und war ursprünglich in 63 Fortsetzungen (September bis November 1888) in der Mailänder Zeitschrift L’Italia. Giornale del Popolo erschienen; die erste Buchausgabe erschien 1890. Es kann hier nicht weiter auf die diversen Änderungen der Fassungen eingegangen werden, die De Marchi seit den ersten Entwürfen von 1883 vornahm.13 Es kann aber festgehalten werden, dass der frühere Romantitel im Rahmen der Feuilleton-Publikation offensichtlich die amouröse sowie die kostumbristische Dimension in den Vordergrund stellte,14 während die Buchfassung den Akzent auf das Typisch-Repräsentative einer männlichen Kleinbürgeridentität legt. Gerade die Herkunft aus dem Genre und der Kommunikationssituation des Feuilletons, das sich auch melodramatischer Techniken bediente, führt zu der Mischung aus realistischer Darstellung und affektiver Mobilisierung des Lesepublikums, welche den Roman auch noch in seiner Buchform charakterisiert. Mailand ist bekanntlich der praktisch einzige Ort für eine manifeste urbane Modernisierung im Italien dieser Zeit. Giovanni Verga nannte die Stadt (anlässlich der Esposizione nazionale delle arti e industrie, 1881) »la città più città d’Italia«. Aufgrund des ökonomischen Selbstbewusstseins der lombardischen Bourgeoisie und der einer ganzen Nation vorgelebten Ethik produktiver Arbeit stellte Mailand ein symbolisches Gegenmodell zu einer Stadt wie Rom dar.15 De Marchi pflegte eine nostalgische Einstellung gegenüber der vecchia Milano, den alten Stadtvierteln, die durch das urbanistische sventramento verschwanden
13 Vgl. Isabella Zanni Rosiello: Il donchisciotte del tavolino. Nei dintorni della burocrazia. Rom: Viella 2014, S. 43–45. 14 Die feuilletonistische Dimension – die auch in der Buchfassung weiterhin präsent ist – erhellt aus dem anonymen Werbetext, der am 17./18. Sept. 1888 der Publikation in der Zeitschrift »L’Italia« vorausging. Daraus hier ein Auszug: »La bella Pigotta è una donnina bella elegante, graziosina, ma senza serietà di indole e di educazione, che fa perdere la testa a più d’uno e fa finire in tragedia per gli altri la commedia della vita sua. Il racconto è palpitante di verità: ha colorito tutto moderno e milanese; corre via chiaro, spiccio, con emozione crescente di chi lo legge.« Zitiert nach Isabella Rosiello: Il donchisciotte del tavolino, S. 45 f. 15 Giovanni Rosa: Identità di una metropoli. Le letteratura della Milano moderna. Torino: Aragno 2004, S. 341.
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und rechtwinkligen Neubauten weichen mussten.16 Wenn Demetrio Pianelli, ein Angestellter im Verwaltungsapparat des seit kurzem geeinten Italien somit als Vertreter einer ›neuen‹ sozialen Klasse erscheint, ist es umso bedeutsamer, dass es sich um eine Figur handelt, die erst vor kurzem vom bäuerlich geprägten Land in die Stadt gezogen ist. Die kleinbürgerliche Perspektive De Marchis ergibt sich gerade aus dieser Symptomatik einer materiellen und ideellen Desorientierung, zwischen dem Alten und dem Neuen, wie sie typisch für die Erfahrungswelt dieser erst kürzlich in die Stadt übergesiedelten Subjekte ist.17 Abermals wäre hier Kafka als literarhistorischer Fluchtpunkt zu nennen, dessen Roman Der Prozess (1914 begonnen, 1925 posthum veröffentlicht) gleichfalls die Auflösung eines traditionellen Gemeinschaftsgefühls und die daraus resultierende Isolation des Individuums als Folge des Urbanisierungsprozesses psychologisch in Szene setzt, wie Robert Alter in seiner Lektüre gezeigt hat.18 Insofern eine solche soziale Situierung für den Leser ein sentimental-emotionales Identifikationsangebot anbietet, ist es bemerkenswert, dass der Protagonist Pianelli zugleich auch äußerst genau in seinen ökonomischen Verhältnissen platziert wird: »[...] dal ceto medio degli stipendiati a mille e ottocento, a due mila lire« (DP, 39).19 Die Tatsache, dass der Protagonist einer auf dem Land verarmten Familie entstammt, wird nicht zufällig mit der zweiten Ehefrau des Vaters in Verbindung gebracht, die nach dem soliden Haushaltssinn der ersten Ehefrau (»il suo grande spirito di economia«, DP, 66) nun durch eitles, maßloses Luxusgebaren die Ökonomie der Familie aus dem Lot bringt – was den Erzähler zu einem moralistischen Kommentar veranlasst: »[...] addio buon senso, addio economia!« (DP, 66). Auch Demetrio folgt diesem misogynen Topos, assoziiert »le donne« mit Verschwendung und Maßlosigkeit und kontrastiert sie mit seinen genügsamen Kanarienvögeln (DP, 120). In Mailand wohnt Demetrio in einer bescheidenen Dreizimmer-Wohnung, von wo er den Ausblick auf die begrünten Dachterrassen genießt. Dabei bemerkt der Erzähler, dass Gräser und insbesondere die Farbe Grün in ihm ein Gefühl auslösen, das ihn in einem Sehnsuchtsmoment mit der familiären Vergangenheit verbindet. Diese sentimentale Dimension wird aber zugleich durch die im Sinne des Realismus/Naturalismus objektivierende, sozialökonomische Situierung konterkariert, womit eine gewisse erzählerische Distanz
16 Vgl. Isabella Rosiello: Il donchisciotte del tavolino, S. 42. 17 Giovanni Rosa: Identitá di una metropoli, S. 337. 18 Robert Alter: Kafka. Suspicion and the City. In: Imagined Cities. Urban Experience and the Language of the Novel. New Haven/London: Yale University Press 2005, S. 141–160. 19 Emilio de Marchi: Demetrio Pianelli. Mailand: Garzanti 1991. Im Folgenden zitiert als DP, mit Angabe der Seitenzahl.
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zur sentimental-träumerischen Disposition des Antihelden geschaffen wird, die sich charakteristischer Weise auf einen idealisierten Raum der Natur bezieht, der Entlastung vor den Zumutungen der Moderne verspricht: Nato anche lui nel bel mezzo dei prati lombardi e da una gente abituata chi sa da quanti anni a rovistare nell’erba, aveva nel sangue l’istinto fantastico della natura verde e silenziosa, della quale sapeva intendere le voci più misteriose; era un vero appetito d’erba, che gli faceva costruire in tre o quattro cassette di legno sopra le tegole bruciate un campionario di quella natura, ch’egli sognava quasi tutte le notti. (DP, 115)
Die fortschrittsskeptische Haltung des Autors gegenüber der urbanen Moderne wird auch von Demetrio geteilt: »Oppure scendeva lungo i bastioni a contemplare le costruzioni nuove dei sobborghi e i grandi quartieri che spuntano come funghi in questa Milano dove il nuovo divora l’antico. Case nuove, miserie nuove! egli sarebbe andato così volentieri in cima a una montagna!« (DP, 348–49). Die Figur des nur halb in der bürgerlichen Gesellschaft angekommenen Angestellten verhält sich antithetisch zu den normativen Vorstellungen einer sich rapide verändernden Gesellschaft und kapriziert sich auf die Kultivierung traditioneller Werte und ›authentischer‹ Gefühle; dabei stellt das Pathos der Indignation an keiner Stelle die gegebene Ordnung in Frage. Demetrio, der in einer Unterabteilung des Finanzministeriums beschäftigt ist, der kopiert und mechanisch nach Diktat schreibt, ohne über den Inhalt des Geschriebenen nachzudenken, und der aufgrund dieser Bartleby-ähnlichen Selbstverleugnung der bevorzugte Kopist seines Chefs Balzalotti in der Abteilung »Ufficio del Bollo straordinario« ist (DP, 71), verbringt sein Leben außerhalb der eigentlichen Dienstzeit in einer gleichbleibenden mechanisch-chronometrischen Routine von Ritualen und bescheidenen Genüssen, die entsprechend vom Erzähler im Tempus des imperfetto berichtet werden: [...] colla solita puntualità uscì per andare in ufficio. La precisione e l’uguaglianza delle abitudini era tale, che il signor Pianelli serviva di orologio agli studenti e alle sartine che affrettavano il passo quando l’incontravano […]. La sua strada era sempre la stessa tutti i giorni, piazza del Duomo, piazza dei Mercanti, Cordusio, Bocchetto: da una parte nell’andare, dall’altra nel tornare. Sotto i portici meridionali comprava un sigaro virginia (l’unico vizio), che era già preparato in un astuccio di carta e ch’egli metteva in tasca per fumare mezzo a colazione, mezzo dopo pranzo. (DP, 94–95)
Die ereignislose Existenz Pianellis wird nur durch das Schicksal anderer Personen in Bewegung gebracht, Personen in Umständen, die dem Roman einen melodramatischen Zug verleihen. Zu Beginn des Romans ist ein solches Ereignis der Selbstmord seines Stiefbruders Cesarino aufgrund von Spielschulden. In dieser Situation nimmt sich Demetrio seiner verwitweten Schwägerin Beatrice
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und ihrer Kinder an. Als er die Ehre von Beatrice gegenüber den rufschädigenden Andeutungen seines Bürovorstehers, Filippo Balzalotti, verteidigt, kommt es mit diesem zu einem heftigen Wortgefecht. Demetrio wird des Ungehorsams gegenüber seinem Vorgesetzten beschuldigt und in eine andere Abteilung strafversetzt. Obwohl er mit seiner Strafversetzung und einer Lohnreduktion teuer dafür bezahlen muss, deutet er selbst seinen pathetischen Akt des Widerstands als geradezu titanischen Heroismus. Insofern darf man folgern, dass der Erzähler uns einerseits in eine empathische Nähe zum Protagonisten versetzen will, andererseits aber auch (durch ständigen Perspektivwechsel von Innen- und Außendarstellung) eine ironische Distanz zulässt: »[...] non gli dispiaceva d’aver cantato, almeno una volta, una bella verità a un potente. Gli era cara, dolce, consolante l’idea di aver osato alzare la voce – lui solo – in mezzo ad una bega di ipocriti e di maliziosi – per difendere l’onestà di una povera donna« (DP, 337). Diese auktoriale, jedoch sich der erlebten Rede nähernde Rahmung von Demetrios Aufbegehren macht den Gestus des Widerstands ›pathetisch‹. Pathos (gesteigertes Mitleid), Emotionalität und moralische Polarisierung (»povera«, »maliziosi«) sind eine Gruppe von Eigenschaften, auf die sich die Definition des Melodrams berufen kann.20 Wenn das Melodrama durch klare moralische Oppositionen gekennzeichnet ist, so entzieht sich die Figur des Angestellten typischer Weise solch klarer Zuordnung. Wenn Demetrio einen bestimmten sozialen Typus repräsentiert, so fügt er sich damit innerhalb des italienischen Kontextes in die literarische Tradition des »Signor Travetti«, einer sprichwörtlich gewordenen Figur, die auf den Protagonisten einer bekannten Komödie im Piemonteser Dialekt von Vittorio Bersezio zurückgeht, Le Miserie d’ monssù Travet (Uraufführung 1863 in Turin), dessen Name zum Synonym des kleinen, gehorsam-geduldigen Angestellten geworden ist, der den Schikanen seines Vorgesetzten ausgeliefert ist.21 So wird gleich zu Beginn von De Marchis Roman explizit auf diesen Intertext angespielt, wenn sich anlässlich des Karnevals eine Gruppe von Angestellten und ihren Familien in einem Zirkel trifft, der just auf den Namen »Circolo Monsù Travet« hört (DP, 7). Diese inter-literarische Anspielung belegt, dass sowohl der soziale Typus als
20 Ben Singer: Melodrama and Modernity. Early Sensational Cinema and Its Contexts. New York: Columbia University Press 2001, S. 16. 21 De Marchi war mit Bersezio direkt bekannt. In dieser Zeit gab es eine ganze Reihe von Angestellten-Komödien auf dem italienischen Theater; in seinen allerersten Anfängen war auch De Marchis Roman zunächst als Theaterstück geplant (Isabella Rosiello: Il donchisciotte del tavolino, S. 57); vgl. Luciano Vandelli: Zwischen Akten und Zetteln, S. 307.
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auch dessen literarische Repräsentation zu dieser Zeit bereits einen hohen Wiedererkennungswert hatten. Das Modell einer strikt disziplinierten, patriarchalischen Ordnung wurde durch eine Verordnung Cavours vom Oktober 1853 instauriert, die in der Folgezeit auf das gesamte vereinigte Italien ausgedehnt wurde.22 De Marchi selbst verfügte auch über administrative Erfahrung, allerdings vor allem im Bereich der Bildung und des Karitativen: 1892 war er Mitglied der Commissione civica per gli studi in Mailand; von 1895 bis 1899 war er an der Verwaltung von Waisenhäusern beteiligt. Die Schilderung der Bürotätigkeit von Demetrio Pianelli betont seine untergeordnete Stellung, die mechanische Tätigkeit des Schreibens und Kopierens, bei der – nicht ohne Komik – die Differenz von Schreiben und Verstehen, und damit die Verselbständigung bürokratischer Sprache, betont wird: Il Pianelli, uomo paziente, discreto, di poche parole, era come se non ci fosse. Copiava, ricopiava, scriveva sotto dettatura, con una calligrafia grossa e precisa senza fare tante questioni di lingua o di grammatica, come pretendono certi chiacchieroni saputelli, che, per essere stati bocciati alla quarta elementare credono di sapere più dei superiori. Demetrio non molto forte anche lui nelle questioni, dirò così, filologiche, copiava tutte le parole ciecamente, senza discuterle mai, senza mai cercare se avevano un senso o se dovevano averlo. (DP, 97).
Der Kontakt mit der Familie seiner Schwägerin, dem Neffen Naldo und vor allem der Nichte Arabella eröffnen für Demetrio eine bis dahin nicht gekannte affektive Dimension. Er begibt sich mehr und mehr in die Rolle eines fürsorglichen (Ersatz‑) Vaters. Für ihn selbst zunächst fast unmerklich, verliebt er sich schließlich in seine schöne Schwägerin, die jedoch nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen Paolino heiraten wird, einen wohlhabenden Cousin Demetrios auf dem Lande, der im Gegensatz zu ihm in der Lage ist, Beatrice und ihre Kinder finanziell zu versorgen. Das sentimentale Drama, das sich daraus ergibt – samt der resignativen Bescheidung Demetrios – illustriert somit, wie stark Liebe im kleinbürgerlichen Milieu durch ökonomische Gesichtspunkte bedingt ist. Demetrio, der Beatrice und ihre Kinder zunächst selbst unterstützt hat, nimmt hierbei große Opfer auf sich, die bis an die Grenzen seiner bescheidenen ökonomischen Kapazität gehen: »[...] Demetrio nella sua miseria aveva dato fondo ad altre tre mila lire sue, messe in disparte per l’avvenire, frutto di pazienti e lunghe economie, vere gocce di sangue stilato da una vita povera, senza piaceri, senza passioni, senza capricci, economizzando il quattrino giorno per giorno, sul caffè, sul tabacco, sul companatico, sul filo e sui bottoni dei suoi vestiti« (DP, 56).
22 Isabella Rosiello: Il donchisciotte del tavolino, S. 55.
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Um die Mischung aus Fortschrittsskeptizismus, Sentimentalität und distanzierender Objektivierung in De Marchis Roman besser zu verstehen, sollten wir uns seine poetologische Auffassung näher ansehen, das heißt seine spezifische Interpretation der wiederum spezifisch italienischen Adaption des Realismus/Naturalismus. Der für den Naturalismus typische Positivismus, der sich in Mailand im literarischen Milieu der Scapigliatura democratica etabliert hatte, gerät gegen Ende des Jahrhunderts zusehends in eine Krise, so dass auch De Marchi eine dezidiert kritische Haltung gegenüber dem Postulat der eingeschränkten Willensfreiheit sowie der allgemeinen Doxa der Fortschrittsideologie einnimmt.23 In narrativer Hinsicht folgt De Marchi auch nicht länger dem Ideal der Unparteilichkeit und der Distanz des allwissenden Erzählers, sondern der Erzähler greift ständig wertend mit Kommentaren, moralischen Urteilen, satirischen Charakterisierungen (etwa im Falle des selbstverliebten Bürochefs) in den Lauf des Geschehens ein. Der Autor war nicht nur in dieser Hinsicht stark vom Modell des großen Mailänders Alessandro Manzoni beeinflusst.24 De Marchi teilte zumal Manzonis christliche Perspektive, jedoch ohne der Rolle der Vorsehung größere Bedeutung beizumessen.25 Die christliche Perspektive De Marchis äußert sich in einer stoizistischen Haltung gegenüber den leidvollen Erfahrungen des Lebens, womit entsprechend die innere Freiheit und die moralische Verantwortung des Individuums privilegiert werden. Jedenfalls ist damit die Poetik der dokumentarischen Distanz des verismo zurückgewiesen und eine spirituelle Dimension wird als Bestandteil der Wirklichkeit anerkannt. So führen Demetrios aus der ländlichen Biografie geerbte moralische Vorstellungen und seine konstitutive pietas dazu, dass sein Leiden ein inneres bleibt. Von seiner subalternen Stellung aus bewahrt er seine moralische Integrität innerhalb der von Geld und Profit regierten Gesellschaft und vertritt stattdessen die Tugend der materiellen (und sexuellen) Genügsamkeit (DP, 119). Der Roman richtet sich an ein Lesepublikum von Kleinbürgern und Angestellten des post-risorgimentalen Mailands, das im Rhythmus der feuilletonistischen Lieferungen aktiv einen affektiven Pakt mit dem Protagonisten eingeht.26 Um diesen Effekt zu erreichen, der schließlich auch der Vermittlung von
23 Wie Angelo Lacchini schreibt: »De Marchi oppone un senso tragico dell’esistenza, una sfiducia sopratutto nelle istituzioni e nelle regole sociali quali garanti della felicità. La realtà appare a De Marchi dominata da una confusione irreale, le cui forze sfuggono al controllo dell’uomo e determinano l’illegibilità della storia«. Angelo Lacchini: Rileggendo il Demetrio. Il laboratorio di Emilio de Marchi. Fano: Metauro Edizioni 2002, S. 17. 24 Ebda., S. 9. 25 Ebda., S. 19. 26 Ebda., S. 18.
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ökonomischem Erfolg auf dem populärliterarischen Markt mit einem künstlerischem Anspruch im Genre des Fortsetzungsromans geschuldet ist, modelliert De Marchi die lebensweltliche Sphäre einer seinem Leserkreis und seinem Protagonisten gemeinsamen Alltäglichkeit, die sich auf vertraute Örtlichkeiten der Stadt Mailand und ihrer unmittelbaren Umgebung bezieht. Die Technik des Realismus und die teilweise humoristische Tendenz war De Marchi durch breite Lektüren der europäischen Literatur vertraut, darunter Goldoni, Dickens, Gogol, Flaubert, Verga, Fogazzaro.27 Den gesellschaftskritischen Impetus und einen gewissen experimentellen Gestus hat er mit der Strömung der sogenannten Scapigliatura democratica gemein. Wie Emilio de Marchi in einem Brief an seinen Freund Antonio Fogazzaro (5. 8. 1898) schreibt, strebt sein literarischer Realismus nach der Repräsentation der »affetti spontanei e naturali« – es ist kein emphatisch drastischer, sondern ein durch idealistische Tendenzen gemäßigter Realismus.28 Auf das Paradigma eines »romanzo sperimentale« geht De Marchi explizit in einem Vorwort zu seinem früheren Romanerfolg Capello del Prete ein, wo er auch die Kommunikation mit einem »Massenpublikum« reflektiert: [...] l’autore, entrato in comunicazione di spirito col gran pubblico, si è sentito più di una volta attrato dalla forza potente che emana dalla moltitudine; […]. Si è chiesto ancora se non sia cosa utile e patriottica giovarsi di questa forza viva che trascina i centomila al leggere, per suscitare in mezzo ai palpiti della curiositá qualche vivace idea di bellezza che aiuti a sollevare gli animi. […] L’arte è cosa divina, ma non è male di tanto in tanto scrivere anche per il lettori.29
Und auch in Demetrio Pianelli findet sich ein meta-narrativer Kommentar, der für den Verfasser von Romanen eine strategische Kombination von humoristischer Leichtigkeit und sentimentalem Pathos empfiehlt: »I letterati vanno alle volte a cercare argomenti inverosimili e strani nel mondo delle nuvole e non si accorgono che hanno sottomano dei casetti curiosi da far morire la gente dalla risa …e anche da far piangere« (DP, 334).
27 Ebda., S. 20; Luciano Vandelli: Zwischen Akten und Zetteln, S. 315–316. 28 In diesem Brief legt De Marchi seiner Poetik (neben der Berufung auf Hugo) gleichwohl eine musikalische Vergleichsebene zugrunde: »Dubito un poco che il grande poeta dell’avvenire possa uscire dalla classe più colta e più raffinata, e che possa nella sua forma ripetere le evoluzioni che Wagner produsse nella musica […]. Il nuovo oggi è Mascagni: il grande maestro dell’avvenire ci verrà […] da questa era degli affetti spotanei e naturali.« Emilio De Marchi: Tutte le opere. Varietà e inediti. 3 Bde. Herausgegeben von Giansiro Ferrata. Bd. III. 2. Mailand: Mondadori 1959–65, S. 766–67. 29 De Marchi, Avvertenza. Premessa dall’autore alla prima edizione (1888). In: Tutte le opere, Bd. I, S. 284.
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Wenn die Situation des Angestellten typischer Weise in der Literatur als eine graue, anonyme, der alltäglichen Routine unterworfene Existenz dargestellt wird, so äußert sich hierin zunächst die expansive Tendenz, wonach der europäische Realismus seinen Darstellungsbereich auf immer weitere Bereiche der prosaischen Lebensbereiche ausdehnte und sie somit als Aspekte der Wirklichkeit erkennbar und kommunizierbar machte.30 In diesem Sinne liest Isabella Rosiello den Roman als ein Komplement der historischen Kulturgeschichte, da er die kaum anderweitig dokumentierte Lebens- und Gefühlswelt der Angestelltenschicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Anschauung bringe (»tracce verosimili sulla vita quotidiana e sulla sfera emozionale«).31 Die durchaus komplexe Verhandlung von Melodrama, Sentimentalität und kühl-diagnostischem Realismus erzeugt beim Leser zugleich Nähe und Distanz – neben der dokumentarischen Funktion wird die ›emotionale‹ Reaktion des Lesers einer Selbstreflexion ausgesetzt, da sich die dargestellte ›Struktur des Gefühls‹ wiederum als kontextgebundenes Reaktionsmuster zu erkennen gibt. Wenn gegen Ende des Romans Demetrio die Szene verlässt (was hinreichend belegt, dass der Roman keineswegs in einer subjektivistischen Perspektive aufgeht), wird er zu einer ›Nummer‹ – er geht mithin in einer Anonymität auf, aus der ihn der nach ihm benannte Roman vorübergehend herausgelöst hatte: »Milano non si accorse menomamente della partenza del signor Demetrio Pianelli e, passato qualche tempo, nessuno pensava nemmeno ch’egli fosse al mondo« (DP, 431).
Alfonso Nitti Auch in Italo Svevos Roman Una Vita ist die psychosoziale Situation des Angestellten-Protagonisten durch seine neue Ankunft in der Stadt beziehungsweise die Situation der Entwurzelung motiviert.32 Alfonso Nitti ist ein junger, schlecht bezahlter Geschäftskorrespondent bei der Bank Maller in Triest, der aufgrund seiner niedrigen sozialen Position frustriert ist und der von der verarmten, kleinbürgerlichen Familie Lanucci, bei der er zur Untermiete wohnt, hoch geachtet
30 Guido Mazzoni: Teoria del romanzo. Bologna: il Mulino 2011, S. 297–298. 31 Isabella Rosiello: Il donchisciotte del tavolino, S. 66. 32 Jobst Welge: Unfähigkeit. Die Figur des Angestellten als schwacher Held im Roman der Moderne (Italo Svevo und Cyro dos Anjos). In: arcadia 47/2 (2012), S. 1–20. S. auch ders.: Svevo’s Una vita, ›inettitudine‹, and the Novel of the Employee. In: Giuseppe Stellardi/Emmanuela Tandello Cooper (Hg.): Italo Svevo and his Legacy for the Third Millenium. 2 Bde. Bd, 2: Contexts and Influences. Leicestershire: Troubador 2014, S. 86–100.
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und als potentieller Schwiegersohn gehandelt wird, was ihm wiederum selbst das Gefühl der ökonomischen und intellektuellen Überlegenheit ermöglicht. Mit dem Scheitern seiner Pläne, Ruhm als Schriftsteller zu erlangen, wird Alfonso immer mehr zu einem Zuschauer des Lebens, der in einer Haltung von Passivität verharrt und sich zur beschützten Welt der Kindheit zurücksehnt, verkörpert durch die Figur der Mutter. Die Mythisierung der ländlichen Vergangenheit und träumerische Zukunftsvisionen sind Alfonsos Reaktionen auf die Erniedrigungen durch die Arbeitswelt: Dacché era impiegato, il suo ricco organismo, che non aveva più lo sfogo della fatica di braccia e di gambe da campagnolo, e che non ne trovava sufficiente nel misero lavorio intellettuale dell’impiegato, si contentava facendo fabbricare da cervello dei mondi intieri. Centro dei suoi sogni era lui stesso, padrone di sè, ricco, felice.33
Alfonsos Schwäche ist also keineswegs etwa Resultat einer Erbanlage, sondern entspringt vielmehr dem Missverhältnis von Ambition und Realität. Die zitierte Passage ist auch Beleg dafür, dass das gewissermaßen abrupt in die moderne Arbeitswelt versetzte Subjekt hierauf mit einer Dissoziation von Körperlichkeit und affektiv-imaginativer Kompensation reagiert. Wie Deborah Amberson gezeigt hat, zeichnen sich die männlichen Protagonisten von Svevos Romanen durch eine (in chronologischer Hinsicht zunehmende) asymmetrische Manifestation körperlichen Ungenügens aus, eine Hypersensitivität – oder ›Krankheit‹ – die sich in literarhistorischer Hinsicht (also wiederum rückblickend) als Zeichen einer (proto‑) modernistischen Sensibilität diagnostizieren lässt.34 Die emotionale Kompensation der Zumutungen der Arbeitswelt kann also als eine Form von emotional work begriffen werden, mithin als der Versuch, die Manifestation von Gefühlen innerhalb bestimmter, sozial vorgegebener Rahmen zu halten.35 Der Roman öffnet mit einem Brief an die in der ländlichen Gegend zurückgelassene Mutter, in dem sich der Sohn über die ökonomisch prekäre Situation des Bankangestellten beklagt. Dem gegenüber imaginiert sich Alfonso in eine Rück-
33 Italo Svevo: Una vita. Herausgegeben von Gabrielle Contini. Mailand: Garzanti 2003, S. 14. Im Folgenden zitiert als UV, mit Angabe der Seitenzahl. 34 Deborah Amberson: Giraffes in the Garden of Italian Literature: Modernist Embodiment in Italo Svevo, Federigo Tozzi and Carlo Emilio Gadda. New York: Routledge 2012. Somit ließe sich Una Vita als ein literarhistorisches Bindeglied verstehen zwischen einem späten Naturalismus und dem durch La Coscienza di Zeno verkörperten ›modernistischen Realismus‹; zur Begriffsbildung und Datierung des Konzepts, siehe Riccardo Castellana: Realismo modernista. Un’idea del romanzo italiano (1915–1925). In: Italianistica 1 (2010), S. 23–45. 35 Ich beziehe mich auf das Konzept von Arlie Russell Hochschild: The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling. Berkeley: University of California Press 2012 (11983).
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kehr aufs Land, eine für den Leser von Beginn an transparente Selbsttäuschung, die Poesie, Humanismus, bukolische Natur, sowie körperliche Arbeit gegen das Entfremdungsgefühl der Moderne aufbieten will: »Non farei meglio di ritornare a casa? Ti aiuterei nei tuoi lavori, lavorerei magari anche il campo, ma poi leggerei tranquillo i miei poeti, all’ombra delle quercie, respirando quella nostra buona aria incorrotta« (UV, 4). Die falsche Sentimentalität des Briefes bereitet den Leser unvermittelt darauf vor, dass der am Ende Suizid begehende Protagonist kaum einer rationalen Einsicht in seine eigene Situation fähig ist. Es handelt sich um eine affektive Disposition, die einerseits ein Begehren nach körperlicher Unmittelbarkeit ausdrückt, andererseits durch den deutlichen, aber wohl unbewussten Verweis auf Vergils Bukolik einer idealistischen Verklärung der Wirklichkeit aufsitzt. Die Medien der Poesie und der Literatur erscheinen in Una Vita insofern als Ausdrucksformen der Emotionalität, als das mechanische Diktat-Schreiben des Angestellten zu einem Zeichen für die Dissoziierung von Bedeutung und mechanischer Tätigkeit wird, ähnlich wie bereits in Demetrio Pianelli: Miceni gli disse di scrivere rapidamente la prima lettera perché doveva servire poi di copia agli altri scrivani, ma Alfonso non sapeva scrivere presto. Gli toccava rileggere più volte prima di saper trascrivere una frase. Fra una parola e l’altra lasciava correre il suo pensiero ad altre cose e si ritrovava con la penna in mano obbligato a cancellare qualche tratto che nella distrazione gli era venuto fatto disforme dall’originale. Anche quando gli riusciva di rivolgere tutta la sua attenzione al lavoro, non precedeva con la rapidità di Miceni perché non sapeva copiare macchinalmente. Essendo attento, correva sempre col pensiero al significato di cuanto copiava e ciò lo arrestava (UV, 11).
Svevos Roman hebt aber nicht nur die Entfremdung durch die mechanische Schreibarbeit des Büros hervor, wie zum Beispiel Alfonsos gleichsam autonom ermüdete Hand am Ende eines langen Arbeitstages (UV, 59). Alfonso, der im zweiten Teil des Romans sozial aufzusteigen beginnt – und gleichzeitig an seiner konstitutiven inettitudine (»Unfähigkeit«) laboriert – kollaboriert mit der umworbenen Tochter des Bankdirektors, Annetta, an der Verfertigung eines amourösen Romans, wobei die gemeinsame Schreibarbeit (konsequent als »lavoro« bezeichnet, vgl. UV, 145), bei der Alfonso ganz unter dem ›Diktat‹ der im Lebenskampf als ›männlich‹ apostrophierten Annetta steht (UV, 109), ironischer Weise nicht als Befreiung von entfremdeter Arbeit, sondern geradezu als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln beschrieben wird: »Il lavoro, per Alfonso, cominciava a somigliare straordinariamente al lavoro bancario« (UV, 132). Dazu passt, dass Annetta durch ihre soziale Position (auf der literarischen Folie von Stendhals Le Rouge et le Noir) als Mittel zum Zweck des sozialen Aufstiegs von Alfonso figuriert. Noch die in Träumen antizipierte Liebe zu ihr wird durch ihre Gefühlskälte, ihre »indifferenza« (UV, 36) und »scrupolosa esatezza«
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(UV, 38) blockiert (sie ist schließlich die Tochter von »quel freddo Maller«, UV, 107), wodurch die ›geliebte‹ Frau sich geradezu als Gegenpol des Affektiven zeigt: »Non seppe però sognare« (UV, 107). Gerade die Tendenz zum Träumen aber ist es, die Alfonso selbst auszeichnet. Der amouröse Impuls für Annetta dient so ganz als ›Eintrittskarte‹ in die höhere soziale Sphäre der Bank-Firma und ist somit von vornherein einer instrumentalen Logik unterworfen. Der ironische Blick des Erzählers hebt dagegen hervor, wie einer der übereifrigen Kollegen Alfonsos, Ballina, just die Sphäre des Büros affektiv auflädt: »La sua abitazione, quella que aveva il suo affetto da femmina, era l’ufficio« (UV, 45). Gleichzeitig analysiert er bei Alfonso den selbstbetrügerischen Impuls für das Liebesgefühl: »Prima di conoscere la grazia e la bellezza di Annetta, lo aveva agitato, commosso il saperla figliuola di Maller, ed area stato da quell’agitazione e da quella commozione ch’era nato il sentimento ch’egli chiamava amore« (UV, 136). Die Liebe zu Annetta und die damit verbundene Rivalität unter Männern zeigen sich als unablösbarer Teil einer komplexen, variablen Situation, bei der sich Körper und Seele in soziale und ökonomische Kontexte gestellt sehen. Auch wenn Svevo nicht einem orthodoxen Naturalismus und dessen Doktrin von Herkunft, Milieu und physiologischem Determinismus huldigt und mehr an psychologischen Prozessen interessiert ist, werden die Verhaltensmuster von Alfonso doch von einem kühl-distanzierten Erzähler im Zusammenhang des Verhältnisses von Arbeit und Körper analysiert. Die soziale und arbeitsökonomische Situation des Angestellten zielt offensichtlich auf eine repräsentative Analyse eines kleinbürgerlichen Psychogramms. Dabei konnte Svevo für die Erfahrung der Dissoziation von Arbeit und literarischer Imagination auf autobiografische Erfahrungen zurückgreifen. Die Entgegensetzung von Literatur und Büroarbeit/ Ökonomie hat einen deutlichen Zusammenhang mit den spezifischen Bedingungen von Svevos Autorschaft.36 Nach dem ökonomischen Scheitern seines Vaters, eines zunächst erfolgreichen Geschäftsmanns, sucht der Sohn nach einer Beschäftigung als Sekretär der Triestiner Abteilung der Wiener Unionsbank. In einigen seiner autobiographischen Briefe präsentiert Svevo ausdrücklich den scheinbar unversöhnlichen Gegensatz zwischen merkantiler und literarischer Tätigkeit: »Poi risolsi di rinunziare alla letteratura ch’evidentemente attenuava la mia capacitá commerciale e le poche ore libere dedicai al violino, pur d’impedirmi il sogno letterario«.37 Die Form des Romans – darauf deutet nicht zuletzt der prosaisch-schlichte Titel Una Vita hin – zielt auf die Darstellung eines individuellen Schicksals
36 Vgl. Jobst Welge: Svevo’s Una Vita. 37 Mario Lavagetto: L’impiegato Schmitz e altri saggi su Svevo. Torino: Einaudi 1986 (11975), S. 6.
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im zeitlichen Verlauf. Guido Mazzoni spricht in diesem Zusammenhang vom romanzo di destino, der durch einen nicht-melodramatischen Realismus sowie durch die Zeichnung emotionaler Tonlagen gekennzeichnet sei und als Plotgrundlage lediglich der zeitlichen Verlaufsstruktur des individuellen Lebens dient: »Quando l’interesse è concentrato sul destino dei personaggi, l’uso della vita diventa un tema, oltre che un problema, e si carica di tonalità emotive.«38 Worin bestehen nun genau diese emotionalen Tonlagen, beziehungsweise worin besteht ihre Funktion? Durch die Rahmungen des Erzählers erkennt der Leser, dass sich Alfonso als Reaktion auf Verlust- und Erniedrigungserfahrungen ein Überlegenheitsgefühl konstruiert, das seine Pathologien nicht als defizient (wie im Naturalismus) erscheinen lässt. So bildet Alfonso gegenüber dem eine darwinistische Philosophie des Lebenskampfes vortragenden ›Freund‹ und Rivalen Macario ein Bewusstsein seiner eigenen ›Genialität‹ und Sensibilität (»nel cuore un affetto più gentile«, UV, 202) aus, das seine eigene Schwäche positiv umwertet: »Tempo prima Macario gli aveva detto che lo riteneva incapace di lottare e di afferrare la preda, ed egli di questo rimprovero s’era gloriato come di una lode« (UV, 202). Andererseits bezieht er so ein übersteigertes Selbstwertgefühl gerade auch gegenüber dem »volgo degl’impiegati« (UV, 203) – und noch am Schluss des Romans attestiert ihm der Erzähler ein Missverhältnis zwischen seinen Handlungen, Überzeugungen und Gefühlen (»quel desiderio intenso di venir ringraziato e ammirato«, UV, 330). Der längere Rückzug aufs Land anlässlich des Todes seiner Mutter (Kap. XVI) lässt sich einerseits als Scheitern und Desillusion lesen, andererseits als körperlich integriertes Gegenmodell zur mechanischen Routine und der Warenlogik der modernen Existenz. Der finale Suizid, als ein letzter Akt paradoxaler Selbstaffirmation, wird durch die erlebte Rede dahingehend bewertet, dass Alfonso so vielleicht doch noch Annettas Zuneigung (»l’affetto di Annetta«, UV, 354) erhalte und dass sein unruhiger, mit sich selbst entzweiter Körper damit zur Ruhe komme: »[...] bisognava distruggere quell’organismo che non conosceva la pace; vivo avrebbe continuato a trascinarlo nella lotta perché era fatto a quello scopo« (UV, 355). Die Fallhöhe für den durch romantischen Heroismus infizierten Alfonso Nitti ist somit höher als für den nur kurz aus seiner grauen Existenz auftauchenden Demetrio Pianelli. Sentimentalität, Melodrama (bei De Marchi) und die innere Zerrissenheit und romantische Hypersensitivität des Protagonisten (bei Svevo) zeigen jeweils eine Krise des zeitgenössischen Positivismus, des nationalen Fortschrittsdenkens, sowie der realistischen beziehungsweise naturalistischen Romanpoetik an. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass idealistische Tendenzen
38 Guido Mazzoni: Teoria del romanzo. Bologna: Il Mulino 2011, S. 305.
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und satirische Zuspitzungen selbst Teil einer realistischen Dynamik sind, die immer auch ihr Gegenteil als Folie zur Erneuerung braucht.39 Wie wir gesehen haben, werden in beiden Romanen die idealistischen Projektionen der AntiHelden sowohl durch erlebte Rede dargestellt, als auch durch ironische Erzählerkommentare distanziert. Für beide Protagonisten gilt, dass die romantische »esaltazione del sentimento« (UV, 37), die Alfonso schon bei vorbeihuschenden Frauenröcken ergreift, sich über die ökonomische Logik von Geld und Ware erhebt. Die literarischen Angestellten verkörpern eine innere Differenz zu den Anforderungen des urbanen Berufslebens – bei De Marchi kommt es zu einer Versöhnung durch das ethische Gebot der Bescheidung; bei Svevo brechen die Widersprüche dagegen offen auf (freilich ohne die groteske Traumlogik und die masochistische Scham der Kafkaschen Protagonisten). Der Aufschlusscharakter der beiden Romane besteht darin, dass sie durch die Konfrontation realistischer Darstellungstechnik mit einem personal fokussierten Idealismus eine Modernisierungserfahrung abbilden, die sich zwischen »emotionaler Kontrolle«40 und der emotionalen Kompensation ökonomischer Funktionalität bewegt.
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39 Simon Dentith: Realist Synthesis in the Nineteenth-Century Novel: »That unity which lies in the selection of our keenest consciousness«. In: Matthew Beaumont (Hg.): A Concise Companion to Realism. London: Wiley-Blackwell 2010, S. 33–49. S. auch Jameson: Antinomies of Realism, S. 49–52. 40 Rosenwein: Worrying about Emotions, S. 822.
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Niklas Bender
Kursschwankungen der Liebe: Ökonomie und Affekt in Italo Svevos La coscienza di Zeno Le barriere, i limiti che noi poniamo alla nostra coscienza, sono anch’essi illusioni, sono le condizioni dell’apparir della nostra individualità relativa; ma, nella realtà, quei limiti non esistono punto. Non soltanto noi, quali ora siamo, viviamo in noi stessi, ma anche noi, quali fummo in altro tempo, viviamo tuttora e sentiamo e ragioniamo con pensieri e affetti già da un lungo oblìo oscurati, cancellati, spenti nella nostra coscienza presente, ma che a un urto, a un tumulto improvviso dello spirito, possono ancora dar prova di vita […]. I limiti della nostra memoria personale e cosciente non sono limiti assoluti. Di là da quella linea vi sono memorie, vi sono percezioni e ragionamenti. Ciò che noi conosciamo di noi stessi, non è che una parte, forse una piccolissima parte di quello che noi siamo. E tante e tante cose, in certi momenti eccezionali, noi sorprendiamo in noi stessi, percezioni, ragionamenti, stati di coscienza, che son veramente oltre i limiti relativi della nostra esistenza normale e cosciente.1 Bei diesen Zeilen handelt es sich weder um Ausführungen von Italo Svevo noch um eine italienische Übersetzung von Sigmund Freud: Es ist Luigi Pirandello, der in L’umorismo (1908/1920) das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem bestimmt – nur drei Jahre vor Erscheinen von Italo Svevos Roman La coscienza di Zeno (1923),2 der im Zentrum meiner Ausführungen steht. Von Pirandello angesprochen werden Themen, die auch für Svevo und Freud zentral sind: die Grenzen von Bewusstsein und Individualität, die Existenz nichtbewusster Instanzen, Inhalte und Vorgänge, die Fortdauer des Vergangenen und sein überraschendes Erscheinen; Pirandellos Gewährsmann ist nicht Freud, sondern Alfred Binet.3
1 Luigi Pirandello: L’umorismo. A cura di Nino Borsellino e Pietro Milone. Mailand: Garzanti 4 2007 (zuerst 1995), zweiter Teil, Kapitel V, S. 206 f. Die zitierte Ausgabe ist besser kommentiert als die Referenzausgabe in der I Meridiani-Reihe. 2 Zitiert nach: Italo Svevo: Romanzi e ›continuazioni‹. Edizione critica con apparato genetico e commento di Nunzia Palmieri et Fabio Vittorini, saggio introduttivo e cronologia di Mario Lavagetto. Mailand: Arnoldo Mondadori 2004 (I Meridiani), S. 623−1085. Im Folgenden wird der Roman mit der Sigle CZ und der Seitenangabe direkt im Text zitiert. 3 Vgl. kritischer Apparat der zitierten Ausgabe (L’umorismo, S. 207, Anm. 2): Alfred Binet: Les Altérations de la personnalité. Paris: Alcan 1892, S. 243. https://doi.org/10.1515/9783110479638-009
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Man sieht, wie omnipräsent die Themen in den 1920ern sind, unabhängig von spezifischen Positionen. Svevos La coscienza di Zeno ist deshalb für das Thema unseres Bandes besonders ergiebig, weil er eine enge Verknüpfung von Ökonomie und Affekt vornimmt. Der Protagonist und Ich-Erzähler Zeno Cosini wird von bewussten oder unbewussten Affekten umgetrieben, die Gegenstand einer unübersehbaren Vielzahl an Deutungen geworden sind: Sie richten sich zunächst auf Frauen, allen voran Ada, Augusta, Carla und Carmen, d. h. (potentielle oder reale) Ehefrauen oder Geliebte; auf einer anderen Ebene aber gleichauf stehen sodann Vaterfiguren, Silva (der richtige Vater), Olivi (der Verwalter), Giovanni Malfenti (der Schwiegervater) und nicht zuletzt der Psychiater Dr. S.; am Ende der Reihe finden sich die Nebenbuhler, vor allem Guido Speier und (nachgeordnet) Enrico Copler. Im Kern variiert der Roman immer wieder zwei Grundkonstellationen, nämlich erstens das Begehren von bzw. die Rivalität um Frauen und zweitens den Konflikt mit mächtigen, ja erdrückenden Vaterfiguren, die über Vermögen, Frauen und Gesundheit herrschen. Beide Konstellationen sind eng verknüpft, wie das zentrale Beispiel zeigt: Nach dem Tod seines Vaters umwirbt Zeno reihum die Töchter des Ersatzvaters Giovanni und heiratet schließlich eine von ihnen, nämlich Augusta. Giovanni wiederum kennt er vom Tergesteum (der Triester Börse), wohin er sich nur begeben hatte, weil ein anderer Ersatzvater, Olivi, der Zeno nicht nur in Wirtschaftsfragen berät, sondern auch im Auftrag von Zenos Vaters und gegen Zenos Willen sein Erbe verwaltet, dies gewünscht hatte. Damit dominiert die Vater-Sohn-Konstellation spürbar. Das Beispiel belegt zugleich die Verknüpfung von Affekt und Ökonomie: Erstens ist die Affektdimension durch die Brautwerbung sowie die daraus folgenden emotionalen Bindungen, Verwicklungen und Verwerfungen offensichtlich (vgl. das Kap. ›La moglie e l’amante‹). Zweitens sieht man, dass der Protagonist sowie fast alle Vaterfiguren kaufmännisch tätig sind. Zeno hat zwar keine einschlägige Bildung, seine (unabgeschlossenen) Studien sind Jura und Chemie gewidmet, allerdings lehrt Olivi ihn Börsen- und Buchhaltungstätigkeit: Er schickt ihn, wie gesagt, an die Börse und erklärt ihm die doppelte Buchführung. Auch ist ein Gutteil des Romans wirtschaftlichen Vorgängen gewidmet, ein Interesse, das durchaus biographische Grundlagen hat.4 Vor allem aber ist Zeno das kaufmännische Kosten-Nutzen-Kalkül in Leib und Blut übergegangen:
4 Svevo kannte kaufmännisches Handeln durch das väterliche Beispiel und durch die eigene Tätigkeit als Angestellter der Wiener Unionbank und später als leitender Angestellter der Firma Veneziani. Vgl. Enrico Ghidetti: Italo Svevo. Ein Bürger aus Triest. Aus dem Italienischen von Caroline Lüderssen, Frankfurt a. M.: Cooperative Verlag 2001.
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Wie aktuelle Studien in Abgrenzung zu den vorherrschenden psychologischen Deutungen belegt haben und in der Folge präzisiert werden soll, ist er ein homo oeconomicus, der auch menschliche Beziehungen wirtschaftlich deutet.5 Dass dies über die Modellierung des Protagonisten hinaus für den Roman insgesamt entscheidend ist, ergibt sich – dieses Argument liegt allen folgenden Ausführungen zu Grunde – daraus, dass Zeno als autodiegetischer Erzähler sowohl histoire als auch discours entscheidend prägt.6 Im Folgenden soll die Beziehung von Affekt und Ökonomie in La coscienza di Zeno in vier Schritten herausgearbeitet werden: Erstens werden die zentralen ökonomischen Faktoren im Roman präsentiert und zweitens ihre Verquickung mit dem Liebesleben des Protagonisten in Handlungs- und Bewusstseinsdarstellung aufgezeigt.7 Drittens wird untersucht, ob und inwiefern das ökonomische Modell La coscienza dominiert. Viertens sollen wirtschaftliches und affektives Modell in ihrem Verhältnis abschließend zueinander bestimmt werden. Zum ersten Punkt kann gesagt werden, dass Zeno Cosinis Ausgangslage komfortabel ist: Das väterliche Erbe ermöglicht ihm den Kauf einer Villa mit Meerblick und eine müßige Existenz. Das otium ist freilich zweischneidig, und Zeno genießt es nur bedingt: Erstens verwaltet Olivi das Erbe, und Zeno fühlt sich durch dessen Vormundschaft gegängelt. Zweitens resultiert aus Luxus und Nichtstun eine tief-
5 Rudolf Behrens: Subjekt und Geld. Zur Interdependenz von Psyche und Kommerz bei Svevo im Hinblick auf Simmel. In: Poetica 37 (2005), S. 147−178, zur Kritik am Psychologismus S. 157; Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Wilhelm Fink 2004, S. 213−270, zur besagten Kritik S. 215. Frühere Studien berücksichtigen diesen Aspekt eher am Rande, etwa Giovanni Palmieri: Schmitz, Svevo, Zeno. Storia di due ›biblioteche‹. Milano: Bompiani 1994, Kap. ›Il tempo del mercante‹, S. 81–95; sowie bereits (handlungsnah) Giovanna Miceli Jeffries: Lo scrittore, il lavoro e la letteratura: la rappresentazione del lavoro nella narrativa di Italo Svevo. Abano Terme: Piovan 1988, Kap. III: ›Il lavoro e gli affari nella Coscienza di Zeno‹, S. 61–89. Zur älteren (marxistischen) Deutung vgl. das einschlägige Kapitel in der Forschungsanthologie von Sandro Briosi: La critica e Svevo. Bologna: Cappelli 1975, Kap. 6: ›Svevo, borghese in crisi‹, S. 200–236. Wie wenig die Bedeutung ökonomischer Themen und Strukturen in der breiten Forschung angekommen ist, zeigt etwa das aktuelle Resümee von Christof Weiand, welches das Thema fast völlig umgeht: Italo Svevo: La Coscienza di Zeno. In: Manfred Lentzen (Hg.): Italienische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 60−81. 6 Womit keine Aussage über die Glaubwürdigkeit des Erzählers gemacht wäre: Zeno ist offensichtlich, wie besonders der Bezug auf die Psychoanalyse zeigt, ein bedingt vertrauenswürdiger Mittler (s. u., bes. Anm. 17). 7 Bereits in der Schilderung von Zenos Kindheit finden sich Wucher- und Konkurrenzszenen, etwa im (simulierten) Löffeltraum für den Psychoanalytiker (CZ, 1052–54) und in der Zigarettenszene (CZ, 628 f.). Dazu Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, S. 217 f.
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greifende Langeweile, die Zeno zu mehr oder weniger tugendhaften Handlungen verleitet. Wenn man so will, ist Zenos Nichtstun eine sanfte Form väterlicher Kastration, die durch die wenigen Geschäfte, die er macht, und in denen er vom Schwiegervater übervorteilt wird, eine sadistische Pointe erhält. Diese Situation entwickelt sich im Laufe des Romans. Der erste Schritt ist Zenos Versuch, die eigenen Geschäfte zu übernehmen: Die Episode endet mit einer Entscheidung zwischen Olivi und Zeno, die – dank des Votums des Schwiegervaters – zu Olivis Gunsten ausfällt; die Väter behalten vorerst die Macht und helfen sich gegenseitig in ihrem Erhalt. Der zweite Schritt ist Zenos Zusammenarbeit mit seinem Schwager und Rivalen Guido,8 der nicht nur an seiner Statt Ada heiratet und Carmen verführt, sondern auch das Kapital des eigenen Vaters riskiert und daran zugrunde geht. Im Verlauf dieser Geschäfte wechselt Zeno die Rolle und wird zum pater familias, der nicht nur Guido wiederholt zu ordentlicher Buchführung und juristisch unverfänglichem Verhalten ermahnt, sondern auch dessen Verluste von 200 % auf ein erträgliches Maß reduziert; das verschafft ihm zwar die Anerkennung fast aller Malfenti-Frauen, doch ausgerechnet Ada entzieht Zeno endgültig ihre Gunst. Der dritte, wohl letzte Schritt wird am Ende des Romans, während des Ersten Weltkriegs, vollzogen: Durch die Umstände sowohl von Familie als auch von Olivi befreit, kann Zeno endlich autonom wirtschaften. Einerseits hortet er die Krisenwährung Gold, andererseits handelt er mit allem Möglichen und macht dabei hohen Gewinn. Der Roman scheint eine bürgerliche Befreiung zu schildern: Zeno scheitert zuerst in seiner Rebellion, nimmt dann als Stellvertreter an einer zweiten teil und gewinnt dabei an Handlungsraum; dank günstiger geschichtlicher Umstände kann er sich schließlich vom väterlichen Joch befreien. Der tiefere Sinn und das potentielle Pathos dieser Emanzipationsgeschichte werden freilich erheblich relativiert: einerseits durch Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit der Teilprozesse sowie des geschichtlichen Rahmengeschehens, andererseits durch Ironie, ja Komik der Darstellung, die wesentlich der Haltung des Ich-Erzählers entspringen. Oder, mit dessen eigenen Worten: »Per loro natura i contabili sono un genere di animali molto disposti all’ironia« (CZ, 991). Wie hängen zweitens die ökonomischen Verhältnisse mit der Liebeswelt des Protagonisten zusammen? Mittelbar sind die Bezüge eindeutig: Das wirtschaftliche Interesse führt Zeno mit seinem künftigen Schwiegervater zusammen. Der Wohlstand des Protagonisten ermöglicht eine gediegene Ehe und das Aushalten
8 Zumindest als er zu Guido zurückkehrt, flieht Zeno die Langeweile: »Non fu Guido che venne a cercarmi. Fui io che da solo ritornai a quell’ufficio a cercare il sollievo ad una grande noia« (CZ, 933).
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einer Geliebten. Die Muße trägt auch kausal zur Liebschaft mit Carla Gerco bei, und zwar im Sinne einer Kompensation: Erst das Scheitern in der Übernahme der eigenen Geschäfte treibt Zeno in ihre Arme.9 Schließlich geht die finale Befreiung von familiärem und von väterlichem Zwang einher mit geschäftlichem Erfolg. Auf einer generelleren Ebene der Handlungsmotivation kann man die stete bürgerliche Sorge um den eigenen Wohlstand sehen, die Furcht vor missgünstigen Rivalen oder skrupellosen Geliebten – etwa die Angst, Carla könne ihn ausnehmen wollen. Aber das Ökonomische scheint auf noch viel engere, intimere Weise mit dem Empfinden und Verhalten Zenos verknüpft zu sein. Er ist wie gesagt ein homo oeconomicus, seine Denkweise ist auch im rein Privaten oft von Kosten-NutzenDenken bzw. von Gedanken zu Schulden, Guthaben und Freizügigkeit geprägt; damit aber betreffen ökonomische Motive und Denkweisen nicht nur die Welt der Handlung, sondern auch jene der Bewusstseinsdarstellung des Romans. Ein Beispiel ist Zenos Verhalten Guido gegenüber. Als die anderen Familienmitglieder sich von Guido distanzieren, fühlt er sich ihm weiter verpflichtet: Io non potevo ritirarmi dall’impegno che avevo preso con Guido: era in compenso di quell’impegno, che m’ero creduto autorizzato di gridargli nelle orecchie tante insolenze, intascando così una specie d’interessi sul capitale che ora non potevo più rifiutargli. (CZ, 1022)
Es handelt sich um die Situation eines Zinsgeschäftes, die auf eine zwischenmenschliche Beziehung übertragen wird. Mehr noch, das Besondere ist die Verquickung verschiedener Ebenen: Zeno spricht hier auch, aber eben nicht nur in Bildern, er hat Guido tatsächlich Kapital zur Tilgung von Spekulationsschulden versprochen. Die Aggression Zenos und ihr Ertragen durch Guido stellt die Zinszahlung auf dieses Kapital dar – zumindest nach der Vorstellung des Sachverhalts, die Zenos Bewusstseins prägt. Es zeigt sich eine eigentümliche psychische Welt: Gefühl und Geld sind für Zeno austauschbar, es handelt sich um Währungen gleichen Ranges und Wertes. Allgemeiner verweist dies auf die enge Verbindung von metaphorischer und diegetischer Ebene in der Coscienza di Zeno sowie auf metonymische Übergänge in Form von Kausalbeziehungen. Anders gesagt: Die Sprache der Ökonomie ist bei Svevo oft weniger und zugleich mehr als eine Bildsprache, sie meint die Realität des Romans und (auch) deren Deutung.10
9 »Nella mia inerzia subito fui preso dal desiderio di rivedere Carla« (CZ, 812). 10 In diesem Punkt sei Giovanna Miceli Jeffries widersprochen, die in der ökonomischen Sprache vor allem eine Bebilderung sieht (hier anlässlich der Idee Guidos, die Buchführung zu fälschen): »Ancora una volta le immagini della crisi di contabilità, così come quelle precedenti dei conti, ripropongono e riassumono simbolicamente la condizione del personaggio (Guido) nel suo vano tentativo di camuffare la realtà.« Lo scrittore, il lavoro e la letteratura, S. 87.
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Ähnlich verhält es sich in der Beziehung zu Ada, der zentralen Liebe des Helden. Zunächst sagt Zeno Augusta, die meint, dass Ada gut daran getan hätte, ihn zu heiraten: »Sta a vedere se io avrei fatto un miglior affare sposando lei [Ada; N. B.] invece di te [Augusta; N. B.]!« (CZ, 894) Und bei der Wiederannäherung an Ada, die sich im Rahmen von Guidos kaufmännischem Versagen ergibt, ist Zeno sich nicht sicher, ob er diese noch wünscht, da Ada mittlerweile durch die Basedowsche Krankheit entstellt ist. Erneut denkt er über die Situation in ökonomischen Begriffen nach, diesmal scheint sie ihm einem Kommissions- und Termingeschäft vergleichbar: Ma andavo rivedendo i nostri rapporti passati e mi pareva che se essa fosse stata còlta da un improvviso amore per me, mi sarei trovato nelle brutte condizioni che ricordavano un poco quelle di Guido verso l’amico inglese dalle sessanta tonnellate di solfato di rame. Proprio lo stesso caso! (CZ, 959)
Der Vergleichsgegenstand ist ein Termingeschäft auf Kupfersulfat, das Guido versehentlich abschließt, weil er versäumt, die Order zu annullieren – u. a. auf Grund von Zenos Abwesenheit.11 Die unangenehme Konsequenz ist nicht nur ein überhöhter Kaufpreis, sondern auch der Besitz und die Einlagerung von 60 Tonnen schwer absetzbarer Ware. Zenos Vergleich meint nun, dass sein früheres Begehren für Ada ein ähnliches Kaufversprechen darstelle, wie Guidos Terminkontrakt – das er nun wie Guido einlösen müsse, obwohl die ›Ware‹ Ada mittlerweile unattraktiv geworden sei. Erneut dient dem Protagonisten ein ökonomisches Denkschema dazu, zwischenmenschliche Bindungen zu erläutern. Der Vergleich mit dem Termingeschäft inspiriert nicht nur Zeno, sondern auch Guido: Seine Zwillinge sind ihm – wie 60 Tonnen Salz – eine Lieferung en gros (CZ, 951). Generell ist Guido Zeno als homo oeconomicus vergleichbar; im Gegensatz zu seinem Schwager hat er eine Handelsakademie absolviert. Die Ausbildung scheint ihm wenig Kenntnis des Geschäftlichen verschafft zu haben, denn Zeno muss ihm die Buchhaltung beibringen; Guido wendet das Erlernte umso enthusiastischer auf alle Lebensbereiche an.12 Entscheidend hieran ist,
11 Zenos Abwesenheit wiederum ist durch seine Liebschaft mit Carla bedingt; die Konsequenz ist u. a. die finanzielle Schieflage von Guidos Firma, welche katastrophale Folgen auf den verschiedensten Ebenen zeitigen wird. Man sieht hier bereits die Verquickung von Geschäftlichem und Affekt, welche in der Folge, unter Drittens, untersucht werden soll. 12 »Gli pareva addirittura che la conoscenza della contabilità conferisse al mondo un nuovo aspetto. Egli vedeva nascere debitori e creditori dappertutto anche quando due si picchiavano o si baciavano.« (CZ, 916)
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dass Guido konsequent Familie und Büro vermengt, Privates und Geschäftliches durcheinanderbringt,13 ein Vorgehen, das Zeno zumindest in der Kontoführung streng missbilligt. Insofern stellt Guido die extreme Umsetzung einer Tendenz dar, die sich auch bei Zeno findet, und sein Schicksal eine Parallelgeschichte, welche zentrale Merkmale des Protagonisten in Überzeichnung hervortreten lässt. Ob dieser Präsenz des ökonomischen Denkens auch in affektiven Dingen ist drittens zu fragen, ob es sich um einen hegemonialen Diskurs handelt. Tatsächlich: Ökonomische Ideen strukturieren sogar andere Diskurse, etwa ein sozialdarwinistisches Gesellschaftsmodell Zenos, demzufolge die Menschen als ›parassiti‹ bzw. ›consumatori‹ um knappe Grundlagen konkurrieren.14 Der Sozialdarwinismus ist derart ausbuchstabiert, dass seine ökonomische Folie – Thomas Malthus’ Ernährungs- und Bevölkerungstheorie – deutlich erkennbar durchscheint. Auch die von der Basedowschen Krankheit inspirierte biologische Skala von Menschentypen, die Zeno entwirft, orientiert sich an zwei ökonomischen Prinzipien: Verschwendung und Geiz (CZ, 957 f.).15
13 Guido will Spesen vom Geschäftskonto abrechnen (CZ, 920); im Heim wartet Ehefrau Ada, im Büro die Geliebte Carmen auf ihn, dementsprechend spricht er von »le sue due famiglie, come egli diceva talvolta o i suoi due uffici« (CZ, 928 f.). Die Situationen werden dadurch real weiter verquickt, dass Guido nach einem Jahr Ehe und Geschäft eine doppelte Bilanz zieht, und zwar auf einem nächtlichen Spaziergang mit Zeno; dieser ist genau spiegelbildlich zum ersten Spaziergang nach Zenos Verlobung angelegt (CZ, 971). Guidos Bilanz ist »disastroso« (CZ, 972) in beiden Bereichen. Und schließlich bringt Guido auch real Adas Geld in sein Geschäft mit ein, hofft, die beiden Konten vermengen und so den Verlust reduzieren zu können. 14 »La legge naturale non dà il diritto alla felicità, ma anzi prescrive la miseria e il dolore. Quando viene esposto il commestibile, vi accorrono da tutte le parti i parassiti e, se mancano, s’affrettano di nascere. Presto la preda basta appena, e subito dopo non basta più perché la natura non fa calcoli, ma esperienze. Quando non basta più, ecco che i consumatori devono diminuire a forza di morte preceduta dal dolore e così l’equilibrio, per un istante, viene ristabilito. Perché lagnarsi? Eppure tutti si lagnano. Quelli che non hanno avuto niente della preda muoiono gridando all’ingiustizia e quelli che ne hanno avuto parte trovano che avrebbero avuto diritto ad una parte maggiore. Perché non muoiono e non vivono tacendo? È invece simpatica la gioia di chi ha saputo conquistarsi una parte esuberante del commestibile e si manifesti pure al sole in mezzo agli applausi. L’unico grido ammissibile è quello del trionfatore.« (CZ, 1012) 15 Bernd Blaschke entwickelt diesen Punkt knapp (Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, S. 227 f.), begeht dabei aber einen Verständnisfehler, auf den Marie Guthmüller zu Recht hinweist: Zenos Triebökonomie. Zum Haushalt des Begehrens in Italo Svevos La coscienza di Zeno. In: Scientia poetica 13 (2009), S. 135−171, hier S. 142−144. Zur Krankheit und ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Guthmüllers Ausführungen (S. 142−148).
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Angesichts dieser Befunde scheint alles auf eine Dominanz des Wirtschaftlichen hinauszulaufen: »Quaggiù quando non ci vogliamo male ci amiamo tutti, ma però i nostri vivi desideri accompagnano solo gli affari cui partecipiamo« (CZ, 927). In solchen Sätzen klingen Motivationsmuster von Figuren und Handlung an, die auf Strukturen des Realismus bzw. des verismo verweisen; dies wäre sozusagen die literarhistorische Dimension einer Hegemonie des Ökonomischen. Gemeint ist das Bedürfnis oder die Habgier als passion von Figuren, welche ihr Handeln und Denken bestimmen. Das Schema zeigt sich deutlich, wenn Zeno über seine Geliebte Carla sagt: Non le credetti quand’essa m’assicurò che non domandava altro che di essere sicura della propria e della vita della madre. Ora lo so con certezza ch’essa mai ebbe il proposito di ottenere da me più di quanto le occorresse, e quando penso a lei arrossisco dalla vergogna di averla compresa e amata tanto male. (CZ, 835)
Allerdings sagt Zeno gleich rückblickend dazu, dass sein kühles Nutzdenken fehlgehen wird; mit seinem Urteil entwertet er zugleich ein ökonomisch-materialistisches Motivationsschema und zeigt die Distanz zum verismo auf. Tatsächlich ist der Ökonomismus-Befund in mehrfacher Hinsicht einzuschränken. Zunächst zeigt die Handlung, dass die Intention wirtschaftlichen Handelns gegeben, ihre Umsetzung aber zweifelhaft ist. Mehrere Geschäfte scheitern aus affektiven Gründen, z. B. der bereits erwähnte Terminkontrakt auf Kupfersulfat. Auch wird das wirtschaftliche Verhalten Zenos massiv durch affektive Motive bestimmt; so lässt er sich von seinem Schwiegervater gern betrügen. Zudem funktioniert das Begehren wie angedeutet nicht nach einfachen Kauf- oder Zinsschemata. Zum Beispiel führt die Liebe zu Carla paradoxer Weise auch zu einer Steigerung der Liebe zu Augusta (CZ, 813, 885) und der Bruch mit der Geliebten zur Verstimmung mit der Ehefrau (CZ, 897). Auch auf Ebene der Rhetorik und der Modellhaftigkeit ist die Dominanz des Ökonomischen relativ. Metaphorische Übertragungen finden nicht nur von der sondern auch in die Wirtschaft statt. Über Guidos Gebaren als Geschäftsmann heißt es: »Egli stonava. Sì: bisogna dire proprio così; quel grande musicista stonava!« (CZ, 970) Vergleichsbereich ist Guidos Geigenspiel, mit dem er Ada erobert hat – die Tatsache, dass Zeno gerade diese Metapher wählt, belegt die emotionale Motivation seines Urteils. Des Weiteren wird in der Folge die Börse anthropomorphisiert: »Parlava della Borsa come se si fosse trattato di una sola persona ch’egli descriveva trepidante per una minaccia o addormentata nell’inerzia e con una faccia che sapeva ridere e anche piangere« (CZ, 999). Von ökonomischer Ratio findet sich hier keine Spur. Zwar werden die Worte einem Dritten in den Mund gelegt, dem Makler Nilini, sie sind aber gleichwohl aufschluss-
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reich, weil sie in dieselbe Richtung weisen wie Einlassungen, die dem Ich-Erzähler zugeordnet sind: Zeno spricht etwa von einem Konto, das ermordet werde.16 Der wichtigste Einwand gegen die These vom homo oeconomicus aber ist, dass die Vorstellung, ein einziges theoretisches Modell habe die Diskurshoheit und diene als Grundstruktur des Romans, eine deterministische Struktur suggeriert, die La coscienza abgeht. Der Roman ist gerade darin ein moderner Text, dass er mehrere Modelle ins Spiel bringt, thematisiert, reflektiert und kritisiert. Auf der Ebene der Handlungsmotivation bedeutet das: Svevo hebelt Determinismen aus, lässt sie ins Leere laufen, spielt sie gegeneinander aus. Konkret: Zeno ist eben kein Prototyp des Neurotikers im Sinne der Psychoanalyse.17 Die junge, attraktive Liebhaberin Carla nimmt Zeno eben nicht aus, obwohl Zeno und mit ihm der Leser kaum andere plausible Gründe für die Beziehung zu erkennen können glaubten. Und Zeno denkt und handelt eben nicht einzig nach ökonomischem Kalkül. Zudem steht die Ökonomie in Konkurrenz zu anderen Diskursen, neben der Psychoanalyse etwa der Biologie, die ebenfalls ein starker Kandidat für eine deterministische Erzählung gewesen wäre;18 Zeno greift häufig darauf zurück. Es finden sich die zitierten darwinistischen Erklärungsmuster, die Einordnung der Menschen gemäß einer Basedowschen Skala u.ä. Freilich sind diese Modelle
16 »Poi egli mi restò accanto per vedere come avrei saldato quel Conto Utili e Danni. Fu fatto in pochi minuti. Quel conto morì, ma trascinò nel nulla anche il conto di Ada a cui però notammo il credito in un libercolo, per il caso in cui ogni altra testimonianza in seguito a qualche cataclisma fosse sparita e per avere l’evidenza che dovevamo pagarle gl’interessi. L’altra metà del Conto Utili e Danni andò ad aumentare il Dare già considerevole del conto di Guido.« (CZ, 991) 17 Es ist spätestens seit Jean Pouillons Studie ein Topos der Kritik, in der Coscienza di Zeno den ›Roman einer Psychoanalyse‹ zu sehen – die Ergebnisse dieser Lektüren sind mehr oder weniger überzeugend; Jean Pouillon: La Conscience de Zeno: roman d’une psychanalyse. In: Les Temps Modernes 106 (Okt. 1954), S. 555–562. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Austauschs zwischen Psychoanalyse und Svevos Roman vgl. Florian Mehltretter, der ebenfalls die Vielfalt und Relativität der theoretischen (und ideologischen) Modelle betont und, weil diese dem IchErzähler Cosini zuzuschreiben sind, von »dilettantische[r] Modellpluralität« spricht (Florian Mehltretter: Die Wahrheit über Zeno Cosini. Svevos erzählerischer Dialog mit Freud. In: Italienische Studien 21 (2000), S. 161−200, hier S. 171; sowie Roland Galle: Wissenschaft und Kunsterfahrung. Zum Verhältnis von Romanform und Psychoanalyse in Svevos La Coscienza di Zeno. In: Ulrich Schulz-Buschhaus/Helmut Meter (Hg.): Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur. Tübingen: Narr 1983, S. 125–141). 18 Guthmüller macht diese in ihrer Untersuchung der im Roman präsenten wissenschaftlichen Einflüsse stark, in der Überzeugung, dass keineswegs ein ›Ausschlussverhältnis‹ zwischen ökonomischen und psychoanalytischen bzw. psychophysiologischen Diskursen bestehen müsse (Marie Guthmüller: Zenos Triebökonomie, S. 136). Dies trägt den Unterschieden zwischen psychischem und finanziellem Haushalt nicht genügend Rechnung – s. dazu unten.
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ökonomisch begründet oder kontaminiert. Zudem sind sie für sich gesehen nicht dominant, wie man daran sehen kann, dass Zeno den Zustand seines Organismus als ›sventura‹ bezeichnet:19 Sein Körper determiniert zwar sein unharmonisches Geigenspiel, ist aber ein Zufallsprodukt. Viertens schließlich ist es die Ökonomie selbst, die zur relativierenden Skepsis des Romans massiv beiträgt: Das wird in den Taten und Einlassungen des Ich-Erzählers besonders deutlich. Um Zenos Wirtschaften recht zu verstehen, müssen diese noch einmal eingehend betrachtet werden: Welche Art von Aktivität betreibt der Protagonist eigentlich? Gerade einem Autor wie Svevo, der in seinem bürgerlichen Beruf kaufmännisch tätig war und wusste, wovon er sprach, muss man die Frage stellen. Daher soll ein zweiter Blick auf das wirtschaftliche Treiben geworfen werden. Im für das Wirtschaften zentralen Abschnitt des Romans ist Zeno zunächst Buchhalter in Guidos Firma: In dieser Funktion vertritt er das Realitätsprinzip. Nur hier kann im emphatischen Sinne von ökonomischer Ratio gesprochen werden, die alle Träumereien Guidos auf den Boden der Tatsachen zurückführt.20 Anders sieht es in Zenos eigenen Geschäften aus. Diese lassen sich vier Feldern zuordnen: Handel, Kommissionsgeschäfte, Terminkontrakte sowie Aktienhandel.21 Eine zentrale Rolle spielen die letzteren zwei, und sie haben auch gemein, dass sie hochspekulativ sind: Es handelt sich nicht um simplen Kauf und Verkauf, sondern um Differenzgeschäfte, in denen die Akteure versuchen, dadurch Profit zu machen, dass sie Preisentwicklungen antizipieren. Naturgemäß sind die zukünftigen Preise von Produkten oder Wertpapieren bereits schwer vorherzusagen. Radikalisiert wird der spekulative Charakter des Unterfangens noch durch die Natur der Ware. Mit Guido bzw. später in seiner Folge kauft Zeno Kupfersulfat und Papiere »dallo strano nome di Rio Tinto« (CZ, 999) sowie andere, deren Namen ihm wenig sagen: Es handelt sich um extrem volatile Bergbauaktien; ihre Schwankungen bestimmen die Finanzen der Figuren und damit wesentliche Handlungssequenzen des Romans.
19 Zeno beruhigt sich im Selbstgespräch: »Per saper fare ciò, basta disporre di un organismo ritmico, una mano sicura e una capacità d’imitazione; tutte cose che io non ho, ciò che non è un’inferiorità, ma una sventura.« (CZ, 756) 20 Er sagt über Guido: »Voleva continuare a sognare in luogo ove non c’è posto a sogni: La partita doppia!« (CZ, 991) 21 Giovanni Palmieri erläutert die Bedeutung der Kommissionsgeschäfte, die im Zuge der Globalisierungswelle vor dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung in der Preisfindung gewannen: Schmitz, Svevo, Zeno, S. 89.
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Die Familie Malfenti hält den Aktienhandel für normal und ehrenwert. Daher werden die Geschäfte Guidos, die in sein Verderben führen, nur von Buchhalter Zeno verurteilt: Dunque Guido giocava in Borsa! […] Trovava che avevamo dovuto lavorare troppo per guadagnare quel denaro. E si noti che con qualche decina di quegli affari si avrebbe potuto coprire la perdita in cui eravamo incorsi l’anno precedente! (CZ, 1000)
Das zentrale Wort ist gefallen: ›giocava‹. Von Geschäft und Arbeit ist keine Rede mehr, Zeno wird im Fortgang des Romans mit Penetranz das Verb ›giocare‹ und das Nomen ›gioco‹ benutzen, um Aktienhandel zu bezeichnen. In der Tat ist die plausibelste Möglichkeit, die im Roman zur Tilgung von Guidos Schulden erörtert wird, eine Zahlungsverweigerung, ganz so, als ob es sich um Spielschulden handele (CZ, 1021).22 Auch weniger exotische Wertpapiergeschäfte sind spekulativ und zufallsbedingt: Zeno kauft zu Beginn solide Zuckeraktien, veräußert sie mit 100% Gewinn und sticht damit seinen Schwiegervater aus; dies ist allerdings weniger einem gelassenen Kalkül und einer ruhigen Hand – also: wirtschaftlicher Planung, Zweckrationalität und Emotionsarmut bzw. -kontrolle – als vielmehr einer ganzen Kette von Nachlässigkeiten und Zufällen zu verdanken, wie Zeno selbst eingesteht (CZ, 689 f.). Kurz: Die geschäftlichen Tätigkeiten stehen im Zeichen des Spiels, des Zufalls.23 Man kann die Bedeutung dieser Entmotivierung des Geschehens für die Handlung des Romans nicht hoch genug veranschlagen. In eben dieser Funktion – das Kontingente von Handlungsmotivationen sichtbar zu machen – figuriert die Börse auch in Beschreibungen des Gefühlslebens des Protagonisten. Im Gespräch mit Alberta überträgt Zeno seine Erfahrungen: Una donna era un oggetto che variava di prezzo ben più di qualunque valore di Borsa. Alberta mi fraintese e credette che io volessi dire una cosa saputa da tutti, cioè che una donna di una certa età aveva tutt’altro valore che ad un’altra. Mi spiegai più chiaramente: una donna poteva avere un alto valore ad una certa ora della mattina, nessunissimo a mezzodì, per valere nel pomeriggio il doppio che alla mattina e finire alla sera con un valore addirittura negativo. Spiegai il concetto di valore negativo: una donna aveva tale valore quando un uomo calcolava quale somma sarebbe pronto di pagare per mandarla molto ma molto lontano da lui. (CZ, 865 f.)
22 Damit werden en passant seriöse Buchhaltung und spekulativer Aktienhandel gleichgesetzt: Zeno hatte erstere vorher bereits mit dem Zusammenrechen von Gewinnen auf einem Spieltisch verglichen (CZ, 797). 23 Behrens beschreibt das Finanzgeschehen treffend als »Zufallsgenerator«, der beschränkt determinierte Erzählstränge generiere (Rudolf Behrens: Subjekt und Geld, S. 171).
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Das misogyne Modell, das Zeno auf Grundlage seiner Gefühle für die Geliebte Carla entwickelt, bedarf der Erklärung. Mit dem ›prezzo‹ der Frau scheint jener emotionale Wert gemeint, den Zeno ihr zugesteht; dieser ist heftigen Schwankungen unterworfen. Die Kurskurve ist die Metapher für die affektive Unbeständigkeit des Protagonisten. Schließlich führt Zeno aber als Möglichkeit einen ›valore negativo‹ ein: die Summe, welche der Mann bereit ist zu zahlen, um die Frau loszuwerden. Ein negativer Wert freilich ist an der Börse nicht vorgesehen; Aktien können maximal Pennystocks werden. Der Zusatz ist daher doppelt interessant: Einerseits sprengt er die Analogie, andererseits verankert er das Modell in der Realökonomie – es geht nicht mehr nur um einen emotionalen Wert, sondern um einen realen Preis. Kurz: Die metaphorische wird zur metonymischen Beziehung. Diese doppelte Überschreitung des Modells ist einschlägig für die Skepsis, die der Roman auch dem ökonomischen Modell gegenüber entwickelt.24 Das Modell betont also einerseits die Kontingenz der Handlungs- und Gefühlswelt, wird andererseits aber durch die gebrochene Art seiner Verwendung wiederum selbst relativiert. Eine weitere Möglichkeit der Relativierung liegt in der Konfrontation zweier konkurrierender Modelle. Tatsächlich gibt es im Roman eine eigenständige Gefühlsökonomie, nämlich die Triebökonomie im Freudschen Sinne.25 Auch, wenn der Begriff des Ökonomischen hier rein metaphorisch zu verstehen ist, lohnt die Betrachtung: Der psychoanalytische Diskurs ist schon dadurch fundamental, dass es sich um weit mehr als um ein beliebiges Modell handelt, das im Laufe der Handlung von Figuren oder vom Erzähler evoziert wird. Denn eine psychoanalytische Behandlung stellt den Rahmen der Erzählung und das Motiv ihrer Niederschrift dar: Das Modell Psychoanalyse gehört histoire und discours gleichermaßen zu. Zwar enthält La coscienza di Zeno eine Kritik der Psychoanalyse: Der Fachvertreter Dr. S. wird als problematischer Charakter diskreditiert, und Zeno exponiert luzide die Schwachstellen der Seelenheilkunde; die Kritik wird besonders in der ›Prefazione‹ und im Schlusskapitel artikuliert. Aus Platz-
24 Zur Skepsis Svevos allgemein vgl. Michael Rössner: Svevos (mitteleuropäische?) Skepsis. In: Rudolf Behrens/Richard Schwaderer (Hg.): Italo Svevo: ein Paradigma der europäischen Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 81–92; sowie Giuseppe Antonio Camerino: Italo Svevo e la crisi della Mitteleuropea. Firenze: F. Le Monnier 1974. Rössner kritisiert die bei Camerino u. a. zu findende Vorstellung, die Skepsis Svevos an sich sei typisch mitteleuropäisch – allenfalls ihr Ausdruck sei es (Michael Rössner: Svevos (mitteleuropäische?) Skepsis, S. 91 f.). 25 Zum Begriff vgl. den Eintrag »ökonomisch«. In: Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Aus dem Französischen von Emma Moersch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 357−361.
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gründen26 sei hier nur die finale Hauptkritik Zenos zitiert, die Psychoanalyse und Ökonomie gegeneinander ausspielt: »Fu il mio commercio che mi guarì e voglio che il dottor S. lo sappia« (CZ, 1082). Dennoch teilt Svevo, der sich wohl seit 1908 mit Freud auseinandergesetzt hat,27 offenbar einige Grundannahmen der Psychoanalyse,28 die dem Geist der Zeit entsprechen.29 Ein Indiz hierfür ist nicht zuletzt, dass Zeno, der meint, seinen Analytiker mit seinen Simulationen hinters Licht zu führen, durch diese affektiv angegriffen wird (CZ, 1050, 1057, 1064). Wenn aber die Psychoanalyse für den Roman insgesamt und für die Artikulation des Gefühlslebens darin so zentral ist, und wenn dieses letztere wiederum in besagtem Spannungsverhältnis zum Ökonomischen steht, dann ist der Blick auf die Psychoanalyse hier legitim, ja unvermeidlich. Nicht abzustreiten ist vor allem die Bedeutung von Affekten, die nicht immer bewusst sind und sich daher dem ökonomischen Kalkül entziehen. So ist Zenos Begehren für Ada stets präsent, auch wenn er das Gegenteil behauptet; es führt zu Fehlleistungen, Übersprungshandlungen und Lapsus. Ähnliches gilt für das Verhältnis zu Guido: Offenbar verschweigt oder verdrängt Zeno Holzgeschäfte der Firma, auch wenn hier Sprachprobleme eine Rolle spielen mögen (CZ, 1060 f.);30
26 Vgl. dazu Florian Mehltretter: Die Wahrheit über Zeno Cosini. Er arbeitet folgende Kritikpunkte heraus: 1. Dr. S., als Vertreter des Faches, zeigt sich als inkompetent: Er handelt aus einer »Konstellation aus Gegenübertragung und kommerziellem Interesse« heraus (S. 163). 2. Dr. S. erweist sich als Dilettant, der einen Text psychoanalytisch deutet – ein Fehlverhalten, welches auf das Machtgefälle zwischen Analytiker und Patient verweist (S. 164). 3. Das Nichtbeherrschen der toskanischen Hochsprache durch den Dialektsprecher Zeno verhindert eine freie Aussprache mittels Assoziationen im Sinne Freuds und verweist auf Zensuren, die nicht in den Bereich der Psychoanalyse fallen (S. 166). 4. Erzählerische Modelle und allgemein Sprachstrukturen beeinflussen das Ergebnis der Analyse (S. 166 f.). 5. Am Ende des Romans wird eine ideologische Modellvielfalt entwickelt, welche die Deutungsmacht der Psychoanalyse relativiert (S. 171). 6. Das psychoanalytische Modell wird von innen durch alternative Kausalitäten aufgeweicht, Fehlleistungen erweisen sich als Erfolg (S. 171–174). Diese Kritikpunkte zielen aber, so Mehltretter, allesamt »gegen ein System, das zwar in seinen Herrschaftsansprüchen, nicht aber bezüglich seiner grundsätzlichen Gültigkeit in Frage gestellt wird« (S. 183). – An Kritikpunkten könnte man noch hinzufügen, dass Zenos Bejahung der Krankheit, die offenbar von Svevo geteilt wird, mit der Psychoanalyse schwer vereinbar ist (Michael Rössner: Svevos (mitteleuropäische?) Skepsis, S. 91 f.). 27 Enrico Ghidetti: Italo Svevo. Ein Bürger aus Triest, S. 328–341. Vgl. ebenfalls John Gatt-Rutter: Italo Svevo. A Double Life. Oxford: Clarendon Press 1988, S. 246–251. 28 Zu den zahlreichen psychoanalytischen Deutungsansätzen vgl. Florian Mehltretter: Die Wahrheit über Zeno Cosini (vgl. den Forschungsüberblick S. 161 sowie Einzeldiskussionen: S. 165, 169, 172, 174 f.). S. auch Marie Guthmüller: Zenos Triebökonomie, S. 138, Anm. 8, sowie Rudolf Behrens: Subjekt und Geld, S. 156, Anm. 20. 29 Ich verweise auf das einleitende Pirandello-Zitat. 30 Dazu Florian Mehltretter: Die Wahrheit über Zeno Cosini, S. 165 f.
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manche Verhaltensweisen und Wünsche sind nur durch Hass zu erklären, insgesamt zeichnet sich Zenos Affektleben oft durch Ambivalenz aus.31 Hier dominiert die Triebökonomie jene der Finanzen, unbewusste Mechanismen und Objektbesetzungen bestimmen die Handlungen des Subjekts mindestens ebenso sehr wie das Kalkül. Die Zeitlosigkeit der Triebstrukturen benennt Zeno selbst, als er beschreibt, wie er, vom Wein enthemmt, Ada anstarrt: Il vino è un grande pericolo specie perché non porta a galla la verità. Tutt’altro che la verità anzi: rivela dell’individuo specialmente la storia passata e dimenticata e non la sua attuale volontà; getta capricciosamente alla luce anche tutte le ideuccie con le quali in epoca più o meno recente ci si baloccò e che si è dimenticate; trascura le cancellature e legge tutto quello ch’è ancora percettibile nel nostro cuore. E si sa che non v’è modo di cancellarvi niente tanto radicalmente, come si fa di un giro errato su di una cambiale. Tutta la nostra storia vi è sempre leggibile e il vino la grida, trascurando quello che poi la vita vi aggiunse. (CZ, 867 f.)
Svevo lässt die beiden Ökonomien per Vergleich aufeinandertreffen. Das Begehren ist kein Wechselvermerk, dessen Adressaten man durch einen Willensakt oder aus Kalkül ändern kann: Im Gegensatz zur realen Ökonomie ist das Begehren zeitlos und es kann hartnäckig auf seine Stunde lauern, eben die Verlobung Adas, im Laufe derer der betrunkene Zeno sie mit Blicken entkleidet; zudem ist es, das zeigt die Szene ebenfalls, dem betroffenen Subjekt nicht immer bewusst.32 Das Zitat belegt nicht nur Freudsches Gedankengut, sondern auch, dass die Triebökonomie keine Funktionsanalogie zur modernen Wirtschaft bietet. Damit soll nicht behauptet sein, dass Svevo der Psychoanalyse recht gebe gegen das Wirtschaften, oder sie gar zum alles erklärenden Modell mache, dem alle anderen in Bedeutung und Deutungsmacht nachgeordnet seien. Er setzt vielmehr beide in ein spannungsvolles Verhältnis: Einerseits ist die Ökonomie den Affekten ausgeliefert, und die Affekte entziehen sich meist dem Kalkül; sie sind irrational und haben Ausdrucksmodi und Effekte, welche nicht den Gesetzen der ökonomischen Zweckrationalität gehorchen. Andererseits kann das Unbewusste die vielen kapriziösen Volten – die letztlich nicht mehr sind als Flausen
31 Zur psychoanalytischen Deutung dieser vgl. Eduardo Saccone: Malattia E Psicanalisi Nella Coscienza Di Zeno. In: MLN 88, 1 (1973), S. 1–43. Es handelt sich um einen Teil der Studie: Commento a Zeno. Saggio sul testo di Svevo. Bologna: Il Mulino 1973. 32 Wie die psychischen Mechanismen narrativ umgesetzt werden, hat Paul Geyer am privilegierten Mittel der erlebten Rede untersucht. Paul Geyer: Kritischer Bewusstseinsroman und erlebte Rede in der Ich-Form: Italo Svevos La coscienza di Zeno. In: Winfried Wehle (Hg.): Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2001, S. 107–145 (zu »Projektionen, Selbsttäuschung, Verdrängung«: S. 137–144).
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und Reaktionen auf rein kontingente Umstände und Ereignisse – nicht erklären, welche die ›coscienza‹, die dem Roman nichts weniger als seinen Titel gibt, dominieren und oft Handeln und Geschehen bestimmen; diese lassen sich hingegen (auch) mit ökonomischen Bildern und Modellen erfassen. Svevos Reflexionsprosa läuft auf eine Valorisierung, eine Relationierung und schließlich auf eine Hinterfragung beider Modelle hinaus.33 In letzter Konsequenz unternimmt sie damit die Stärkung einer Literatur der Moderne, deren Prinzip sowohl im Erproben von Modellen als auch in Laune und Zufall zu suchen ist – eine Prosa der emotionalen Börsenkurse eben.34
Bibliographie Behrens, Rudolf: Subjekt und Geld. Zur Interdependenz von Psyche und Kommerz bei Svevo im Hinblick auf Simmel. In: Poetica 37 (2005), S. 147−178. Binet, Alfred: Les Altérations de la personnalité. Paris: Alcan 1892. Blaschke, Bernd: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Wilhelm Fink 2004. Briosi, Sandro: La critica e Svevo. Bologna: Cappelli 1975. Camerino, Giuseppe Antonio: Italo Svevo e la crisi della Mitteleuropea. Firenze: F. Le Monnier 1974. Dombroski, Robert S.: La coscienza di Zeno ai confini della modernità. In: Mauro Buccheri/ Elio Costa (Hg.): Italo Svevo tra moderno e postmoderno. Ravenna: Longo Editore 1995, S. 139–147. Galle, Roland: Wissenschaft und Kunsterfahrung. Zum Verhältnis von Romanform und Psychoanalyse in Svevos La coscienza di Zeno. In: Ulrich Schulz-Buschhaus/Helmut Meter (Hg.): Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur. Tübingen: Narr 1983, S. 125–141. Gatt-Rutter, John: Italo Svevo. A Double Life. Oxford: Clarendon Press 1988. Geyer, Paul: Kritischer Bewußtseinsroman und erlebte Rede in der Ich-Form: Italo Svevos La coscienza di Zeno. In: Winfried Wehle (Hg.): Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen.
33 Es handelt sich freilich nicht um ein freies Spiel der Signifikanten, und darum ist die von Robert S. Dombroski tentativ entwickelte (aber so schließlich nicht durchgehaltene) These, Zeno sei »Una specie di decostruzionista avant la lettre«, nicht haltbar (eine These, die Svevo mit meint) – es sei denn, jede Form von Skepsis wäre postmodern; der Autor gefällt sich in der Rolle des advocatus diaboli und argumentiert mitunter am Abgrund. Robert S. Dombroski: La coscienza di Zeno ai confini della modernità. In: Mauro Buccheri/Elio Costa (Hg.): Italo Svevo tra moderno e postmoderno. Ravenna: Longo Editore 1995, S. 139–147, hier S. 141. 34 Behrens betont, dass das Verhältnis zwischen den Kontingenzen des Finanzmarktes und der Haltlosigkeit des Subjekts in La coscienza di Zeno letztlich nicht geklärt würde (Rudolf Behrens: Subjekt und Geld, S. 155).
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Horizonte literarischer Subjektkonstitution. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2001, S. 107–145. Ghidetti, Enrico: Italo Svevo. Ein Bürger aus Triest. Aus dem Italienischen von Caroline Lüderssen. Frankfurt a. M.: Cooperative Verlag 2001. Guthmüller, Marie: Zenos Triebökonomie. Zum Haushalt des Begehrens in Italo Svevos La coscienza di Zeno. In: Scientia poetica 13 (2009), S. 135−171 Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse. Aus dem Französischen von Emma Moersch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972. Jeffries Miceli, Giovanna: Lo scrittore, il lavoro e la letteratura: la rappresentazione del lavoro nella narrativa di Italo Svevo. Abano Terme: Piovan 1988. Mehltretter, Florian, Die Wahrheit über Zeno Cosini. Svevos erzählerischer Dialog mit Freud. In: Italienische Studien 21 (2000), S. 161−200. Palmieri, Giovanni: Schmitz, Svevo, Zeno. Storia di due ›biblioteche‹. Milano: Bompiani 1994. Pirandello, Luigi: L’umorismo. A cura di Nino Borsellino e Pietro Milone. Mailand: Garzanti 4 2007 (zuerst 1995). Pouillon, Jean: La Conscience de Zeno: roman d’une psychanalyse. In: Les Temps Modernes 106 (Okt. 1954), S. 555–562. Rössner, Michael: Svevos (mitteleuropäische?) Skepsis. In: Rudolf Behrens/Richard Schwaderer (Hg.): Italo Svevo: ein Paradigma der europäischen Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 81–92. Saccone, Eduardo: Commento a Zeno. Saggio sul testo di Svevo. Bologna: Il Mulino 1973. Saccone, Eduardo: Malattia E Psicanalisi Nella Coscienza Di Zeno. In: MLN 88, 1 (1973), S. 1–43. Svevo, Italo: Romanzi e ›continuazioni‹. Edizione critica con apparato genetico e commento di Nunzia Palmieri et Fabio Vittorini, saggio introduttivo e cronologia di Mario Lavagetto. Mailand: Arnoldo Mondadori 2004 (I Meridiani). Weiand, Christof: Italo Svevo: La coscienza di Zeno. In: Manfred Lentzen (Hg.): Italienische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 60−81.
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Affektökonomie und (moderne) Wirklichkeit in Michelangelo Antonionis L’eclisse (1962) Ihr habt es gut, denn Ihr dürft alles fühlen. Und wenn Ihr trauert, drückt uns nur der Schuh. Ach, unsre Seelen sitzen wie auf Stühlen und sehn der Liebe zu. Erich Kästner, Ein Mann gibt Auskunft (1930)
Knappe Güter sind wertvoll. Dies lehrt uns die Ökonomie. Knapp geworden sind dem männlichen Sprecher in obigem Gedicht offenbar die Gefühle. Er gibt, wie der Titel sagt, Auskunft über sein nicht vorhandenes Gefühlsleben, über sein einziges verbliebenes Gefühl, die Furcht, und darüber, auf die Frauen wegen ihrer womöglich ›echten‹ Emotionen eifersüchtig zu sein: »Wenn wir euch leiden sehen«, so heißt es in der 6. Strophe, »packt uns der Neid«1. Der Sprecher bringt damit auf geradezu exemplarische Weise jenen Gefühlsschwund zum Ausdruck, den die jüngere literaturwissenschaftliche Diskussion um Funktion und Geschichte der Affekte mit der zweiten Moderne verbindet, mit der Wende zum 20. Jahrhundert also.2 Gefühle, so lautet die damit verbundene These, werden um 1900 zunehmend verknappt.3 Im medizinisch-psychoanalytischen Diskurs werden sie von einem ärztlich-sezierenden Blick auf Distanz gebracht, ja geradezu eliminiert. Für Sigmund Freud sind Emotionen und Affekte nur mehr pathologische Oberflächenphänomene, die ein eigentliches seelisches Geschehen geisterhaft verdecken und verfremden. Aus diesem Grund müssten Gefühle verschwinden. Ähnliches gilt für die Literatur: Angesichts der aus der Mode geratenen Romantik will man auch hier scheinbar nichts mehr von ihnen wissen. Die Parnassische Lyrik
1 Erich Kästner: Ein Mann gibt Auskunft. Zürich: Atrium 1985, S. 31. 2 Der Affektbegriff ist vielschichtig. Ich begreife Affekte im Folgenden als heftigen Erregungszustand, der, anders als Gefühle, immer von einem nicht willentlich kontrollierbaren physischen Zustand oder einer unweigerlich sich veräußernden Reaktion begleitet wird. Für eine diachrone Übersicht des Affektbegriffs vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007, S. 20—35. 3 Dies ist zumindest eine partielle Diagnose im Rahmen einer umfassenderen Beschäftigung mit Gefühlen und Affekten in der Moderne, die auf der anderen Seite ebenso Momente der Affektsteigerung registriert. Im Folgenden soll allein der Affektschwund als zentrales Kennzeichen der Moderne beleuchtet werden, zumal dieser, so die hier angestrebte These, zu einer Aufwertung von Affekten führt. Die These von der Affektreduktion stützt sich in erster Linie auf die Überlegungen von Martin von Koppenfels. Vgl. ders. ebda., S. 39. https://doi.org/10.1515/9783110479638-010
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beispielsweise verbannt das »Erfahrungssubjekt«4 aus dem Text und befreit das literarische Kunstwerk von einer emotional empfänglichen Instanz. Auch wendet sich Gustave Flaubert mit seinem Konzept der impassibilité gezielt gegen Gefühlskult und Genieästhetik der vorangegangenen Epoche. Das literarische Kunstwerk kann oder soll nicht mehr als Projektionsfläche der Gefühle des Autors oder der Figuren herhalten. Konsequent bricht Flaubert daher mit kulturell eingespielten Gefühlserwartungen und lässt seine Figuren entweder dann nichts fühlen, wenn es Gelegenheit dazu gäbe, oder dann etwas fühlen, wenn die Gelegenheit dazu verstrichen ist.5 Die Nicht-Synchronisierbarkeit von Gefühlen mit kulturell tradierten Anlässen – Martin von Koppenfels nennt dieses Missverhältnis ›Affektverfehlung‹ oder ›Affektschicksal‹ – bestimmt die Erzählstruktur der Romane Flauberts. Das einzige, was den Figuren angesichts dieser Schieflage noch bleibt, so ein Resümee, das von Koppenfels zieht, ist das Gefühl der Gefühllosigkeit. Mit dem Einzug der Moderne sind Gefühle, so scheint es zumindest, knapp geworden. Und knappe Güter sind wertvoll. Dies lehrt uns die Ökonomie. Geht man in der Tat von diesem ökonomischen Grundsatz aus, dann bedeutet die von der Moderne betriebene Affektreduktion jedoch nicht automatisch die Abwertung von Gefühlen. Vielmehr bedeutet Verknappung, dass das, was plötzlich nicht mehr abundant vorhanden ist, im Wert steigt. Affektreduktion lässt sich, gerade in ökonomischer Perspektive, somit immer auch als Aufwertung oder Steigerung von Gefühlen und Emotionen lesen, oder gar als Abgrenzung von ›echten‹, ›wertvollen‹ Gefühlen von solchen ›unechten‹, ›wertlosen‹, die allerorts zu Schleuderpreisen angeboten werden. Die von der Moderne ins Visier genommene Gefühlsinflation der Romantik, so ließe sich thesenhaft argumentieren, wird um die Jahrhundertwende zwar mit artifizieller Verknappung bekämpft. Wenn aber Verknappung, ökonomisch betrachtet, Aufwertung impliziert, so darf man vermuten, dass die Moderne zumindest eine umfassende Neubewertung dessen betreibt, was man als das affektive Potenzial künstlerischer Artefakte bezeichnen könnte, das darin besteht, Betrachter und Rezipienten emotional zu bewegen, all das also, was man seit Anbeginn der Rhetorik unter dem Schlagwort movere subsumiert hat. Die Kunst der Moderne zeichnet sich somit nicht einfach durch Affektreduktion aus, sondern durch einen andersartigen Umgang mit Gefühlen, bei dem reduzierte emotionale Investitionen in Kunst und von Kunst höchstmögliche (affektive) Rendite bringen sollen. Somit bedeutet die Affekt-
4 Klaus W. Hempfer: Konstituenten Parnassischer Lyrik. In: Titus Heydenreich/Eberhard Leube u. a. (Hg.): Romanische Lyrik. Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren, Tübingen: Stauffenburg 1993, S. 69–91; hier: S. 78. 5 Vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, Kap. 6.
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ökonomie der Moderne, ihr Haushalten mit Affekten, zumindest im Rahmen der hier angestellten Überlegungen, ein umgekehrt proportionales Verhältnis von Affektquantität zu Affektintensität. Die textseitige Affektreduktion, die die Moderne betreibt, so die einstweilig abstrakte These, soll affektive Potenziale auf Rezipientenseite steigern.6 Dies beschreibt in etwa die ästhetische Wirkung, die sich Flaubert von einem ärztlich-szientistischen Blick des Erzählers verspricht, welchen allein er in der Lage sieht, einmal mehr die ganz großen Gefühle, »de grands effets d’émotion«7, hervorzutreiben. Was man sich unter dem neuartigen Haushalten der Moderne mit Affekten vorzustellen hat, möchten die folgenden Überlegungen theoretisch entfalten und sodann anhand von Michelangelo Antonionis L’eclisse zeigen. Die Wahl dieses Films mag seltsam erscheinen, stammt das Werk doch aus dem Jahr 1962 und somit streng genommen nicht aus der Moderne. Es scheint für das hier angestrebte Vorhaben jedoch aus mehreren Gründen geeignet: Erstens führt es auf Handlungsebene die von ökonomischen Grundsätzen geprägte Welt der Börsenhändler mit einer Liebesgeschichte parallel. Ökonomischer Diskurs und Affektdiskurs werden funktional miteinander verschränkt und auf Schnittpunkte und Interferenzen hin befragt. Zweitens treibt L’eclisse Affektreduktion so weit, dass am Ende sogar die Figuren als letztmögliche Instanzen des Fühlens aus den Bildern verschwinden. Die Gefühlskrise der Moderne hat im Umfeld der Antonioni-Kritik mit dem Begriff der malattia dei sentimenti8 sogar ein eigenes Etikett erhalten. Und drittens schließlich erlaubt die Tatsache, dass L’eclisse ein Film ist, eine zusätzliche Abstraktionsebene: In jenen Filmen, die Gilles Deleuze dem ZeitBild-Kino zurechnet, und dazu gehört L’eclisse zweifelsohne, bilden einige der für die Literatur der Moderne typischen Motive und Verfahren erstmals ein spezifisch filmisches Paradigma. Aus der medialen und zeitlichen Distanz gleichermaßen ergibt sich so eine besonders aufschlussreiche Perspektive auf die Neu- und Umwertung von Affekten, die die Kunst der Moderne betreibt. Antonionis trilogia dell’incomunicabilità9 ist vor diesem Hintergrund nicht nur kritischer Rück-
6 Dort also, wo Gefühle oberflächlich betrachtet spärlich gesät sind, sollen sie auf- oder umgewertet werden. Umgekehrt und getreu des hier bemühten ökonomischen Grundsatzes gilt, dass dort, wo Gefühle inflationär ausgebreitet sind, diese qualitativ abgewertet werden. Uns interessiert der erstgenannte Fall. 7 Gustave Flaubert an Louise Colet am 24. April 1852. In: Œuvres complètes. Correspondance 1850–1859, Bd. 13, Paris: Club de l’Honnête homme 1974, S. 186. 8 Seymour Chatman: Antonioni, or the Surface of the World. Berkeley: Univ. of California Press 1985, S. 55–66. 9 Dazu gehören die Filme L’avventura (1960), La notte (1961) und L’eclisse (1962). Seymour Chatman rechnet Il deserto rosso (1964) ebenfalls zu der Reihe, zumal sich der Film lediglich durch
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blick, sondern selbst schon ein Stück weit Interpretation und Lehrstück eines für die Ästhetik der Moderne charakteristischen Haushaltens mit Affekten. Bevor jedoch L’eclisse in den Blick genommen wird, stellt sich die methodische und theoretische Frage, wie Affektreduktion und Affektsteigerung im ästhetischen Regime der Moderne zusammengehen, und wie sich der ökonomische Grundsatz, demgemäß knappe Güter wertvoll sind, in ein Vokabular übersetzen lässt, das den Blick auf eine Text- und Filmanalyse freigibt. Was in ökonomischen Begrifflichkeiten plausibel, in literaturwissenschaftlichen Kategorien hingegen fremd- oder eigenartig klingt, lässt sich vorerst am Beispiel der modernen Architektur nachvollziehen: Formal betreibt moderne Architektur Reduktion. Sie wirft das Ornament ab und begreift Bauwerke, zumindest wenn man Le Corbusier folgt, als Maschinen. Diese Maschinen sollen in der Lage sein, ihre Bewohner und Betrachter zu erregen, sprich: Gefühle in ihnen zu wecken. Ein Bauwerk als ›machine à émouvoir‹, so schreibt Le Corbusier in seinem Tagebuch, »écrase et terrorise. Le sentiment d’une fatalité extra-humaine vous saisit«10. Von einer »poésie lancinante«11 ergriffen, verbleibe im Betrachter daher zwar kein bestimmtes Gefühl, wohl aber ein »ébranlement extrême«12. Zugleich macht Le Corbusier klar, dass eine derart erschütternde Architektur von keinerlei Symbolen bevölkert ist. In strukturalistischer Wendung fehlt einem solchem Bauwerk die Ebene der Semantik13. Eine ›machine à émouvoir‹ gibt nichts zu lesen, und es bedarf keines Codes, sie zu entziffern. Der Affekt, auf den sie hinaus will, ergibt sich nicht durch etwas, das wir kennen, nicht also durch »die Wiederkehr lebenswelt-
den Einsatz von Farbe unterscheide, Handlungs- und Figurenelemente sowie stilistische Aspekte der vorangegangenen Elemente jedoch fortsetze. Vgl. ebda., S. 51. 10 Le Corbusier: Le voyage d’Orient. Marseille: Parenthèses 1987, S. 154. 11 Ebda., S. 124. 12 Ebda., S. 168. 13 Ich beziehe mich auf die Zeichendimensionen wie sie Charles William Morris beschrieben hat und bezeichne mit einer Ebene der Semantik den Bezug von Zeichen zu Inhalten, mit einer Ebene der Pragmatik den Bezug von Zeichen zu ihren Benutzern und mit einer Ebene der Syntaktik den Bezug der Zeichen zu anderen Zeichen. Bezogen auf narrative Texte bedeutet Semantik somit das Erzählte oder die Ebene der histoire nach Gérard Genette, Pragmatik das Erzählen oder, mit Genette, die Ebene des discours und Syntaktik die materielle Textebene oder das, was Genette, mit récit umschrieben hat. Vgl. Charles W. Morris: Writings on the General Theory of Signs. Den Haag: Mouton 1971 sowie Gérard Genette: Discours du récit. Paris: Seuil 2007. Zur analogen Unterscheidung von Erzählen und Erzähltem vgl. Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein ein neues Paradigma. Opladen: Westdt. Verl. 1990.
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licher Realität im Text«14 oder im Artefakt. Stattdessen ist der hier angestrebte Affekt reiner Affekt, namenlos, a-semantisch und auf nichts weiter bezogen als auf das Bauwerk allein.15 Was inhaltlich, oder besser: semantisch, Entleerung und Reduktion bedeutet, geht einher mit der affektiven Besetzung des Materials. Verknappung bedeutet für Le Corbusier somit die Bündelung einer Vielzahl möglicher (semantisierter) Ergriffenheiten zu einer einzigen, alles überspannenden (a-semantischen) Erregung, die ihrerseits ganz dem (materiellen) Artefakt gilt. Der Dreischritt, den Le Corbusier im Sinn hat, lautet also: (1) Affektreduktion durch Eliminierung eines lesbaren Codes, (2) Umverteilung affektiver Potenziale auf das Material und (3) affektive Maximierung des Rezeptionserlebens. Ähnlich begreift Flaubert sein Konzept der ›impassibilité‹. Richtet sich dieses auf der einen Seite polemisch gegen den Gefühlskult der Romantik, so fordert es auf der anderen Seite systematisch die Arbeit am Stil.16 Nicht die Ebene der Semantik lädt zum Fühlen ein, nicht die Schicksale der Figuren sollen erregen, sondern die stilistische Perfektion und hohe Kunstfertigkeit, in welchen sich diese Schicksale dem Leser präsentieren: »L’effet, pour le spectateur, doit être une espèce d’ébahissement«, so Flaubert in dem vielzitierten Brief an Louise Colet aus dem Jahr 1852: »Comment tout cela s’est-il fait ? doit-on dire, et qu’on se sente écrasé sans savoir pourquoi«.17 Nicht mehr läuternde Katharsis ist das Ziel, sondern, wie bei Le Corbusier, der im Übrigen ein ähnliches Vokabular wählt, sprachlose Verblüffung und namenloses Überwältigtsein. Dieses darf als letztes gefühlsähnliches Residuum zwar dem Schicksal der Figuren oder dem Seelenleben des Sprechers gelten, es soll sich aber an das in seiner Raffinesse nicht mehr durchschaubare Kunstwerk richten. Damit gelten die Gefühle, die vom Rezipienten gefordert werden, keiner dargestellten Wirklichkeit mehr, sondern, wenn überhaupt, der Wirklichkeit der Darstellung.18 Gefühle und Affekte sollen sich fortan nicht mehr an der Geschichte entzünden, sondern an ihrer Machart. Affektive Potenziale werden auch hier (1) von der Ebene der Semantik abgezogen
14 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 20. 15 Vgl. ebenso Heike Delitz: Architektursoziologie. Bielefeld: Transcript 2009, S. 78 ff. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang Rainer Warning: Flaubert und Fontane. In: ders. (Hg.): Die Phantasie der Realisten. München: Fink 1999, S. 185–239, S. 199 sowie ders.: Der ironische Schein. Flaubert und die ›Ordnung der Diskurse‹, In: Ebda. S. 150–184, S. 164. 17 Gustave Flaubert: Œuvres complètes. Correspondance 1850–1859, Bd. 13, S. 265 18 Über Madame Bovary schreibt Flaubert in einem Brief an Mlle de Chantepie, dass nichts an der Geschichte wahr sei: »C’est une histoire totalement inventée; je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence«. S. ebda., S. 567.
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und (2) auf die Ebene der Pragmatik und Syntaktik umverteilt, um sich dort (3) maximal zu steigern. Ein solches Umverteilen auf Pragmatik und Semantik ist in der Literaturwissenschaft hinlänglich bekannt als der Wandel von einer Kunst der Mimesis zu einer Kunst der Performanz. Mit dem ausklingenden 19. Jahrhundert bilden literarische Texte nicht mehr Wirklichkeiten ab, sondern stellen Wirklichkeiten her. Sie ahmen nicht mehr nach, sie ahmen ›vor‹, und Literatur wird zur Beschäftigung mit Sprache und Stil.19 Was dann als erzählte Geschichte oder als Schicksal der Figuren lesbar ist, wird stets aus der Distanz und in seiner ›Gemachtheit‹ als literarisches Kunstwerk präsentiert. Im Zentrum des Interesses stehen somit nicht mehr textexterne Welten, sondern ›Textwelten‹, nicht mehr die ›Wirklichkeit‹, sondern die Verfahren, die zu ihrer Erzeugung zum Einsatz kommen, der Variantenreichtum also und die Konventionalität narrativer, dramatischer und lyrischer Verfahren. Das hiermit verbundene paradigmatische Durchspielen literarischer Vertextungsstrategien, das moderne Literatur in unterschiedlichen Spielarten betreibt, kehrt letztlich all das an die Oberfläche, was vormoderne Literatur stillschweigend konstituiert. Handlungsverläufe, Sujets, Figurenzeichnungen, Gattungskomponenten, Erzählstrategien, metrische und typographische Konventionen werden als das präsentiert, was sie sind, und nicht auf das, worauf sie verweisen. All das, was qua Sprache in der Lage ist, Welten herzustellen, wird spätestens in der Moderne systematisch auf seine Funktionen hin befragt. Affekte sind hiervon nicht unbenommen. Denn gleich der Literatur besteht eine zentrale Funktion von Affekten darin, Welten herzustellen.20 Diesen Gedanken möchten die nachfolgenden Überlegungen entfalten. Welterzeugung durch Affekte geschieht zunächst unabhängig von literarischen Diskursen im Bereich sozialen Handelns. Für Talcott Parsons, dessen Arbeiten ganz wie die hier angestellten Überlegungen von ökonomischen Denkmustern geprägt sind, gehören zu jedem sozialen Handeln vier Elemente:21 ein (1) Akteur,
19 Vgl. Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Studium Generale 1957, 10 (1957), S. 266–283, S. 93. Vgl. in diesem Zusammenhang ebenso Andreas Mahler: Skepsis, Imagination und ›Kultur‹. Zu Genealogie und Funktion des Literarischen in Früher Neuzeit, In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 2008, 33 (2008), S. 119–140. 20 Eigentlich müsste man sagen, Affekte dienten dazu, Welten herzustellen. Denn es scheint, als sei die Affektreduktion, die die Moderne betreibt, ein Mittel, um genau diese welterzeugende Funktion von Affekten zu hinterfragen. Mehr dazu jedoch in Teil III. 21 Zur Ökonomie bei Parsons vgl. Bryan S. Turner: Talcott Parsons on Economic and Social Theory. The Relevance of the Amherst Term Papers. In: The American Sociologist 1996, 27 (1996), S. 41–47.
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seine (2) Ziele, die (3) Situation sowie die (4) normative Orientierung. Diese vier Elemente stellt Parsons in ein Interdependenzverhältnis: Ein (1) Akteur hat ein (2) Ziel, das er erreichen möchte. Zugleich befindet er sich dabei in einer konkreten (3) Situation. Seine Mittel sind begrenzt, sein Geld ist knapp, äußere Umstände wie Gesetze, Normen, das ›Nein‹ Anderer erschwert die Anschaffung des ersehnten Guts. Welche Mittel zum Erreichen des Ziels zur Verfügung stehen, hängt von den (4) normativen Orientierungen ab. Normative Orientierungen regeln Zweck-Mittel-Beziehungen. In Parsons Modell liefern sie Antworten auf die Frage, welcher Mittel man sich bedienen kann oder darf, um das zu kriegen, was man will. Parsons unterscheidet sodann zwei Möglichkeiten der Mittel-Zweck-Beziehung: intrinsische und symbolische. Intrinsisch sind Mittel-Zweck-Beziehungen dann, wenn dem Mittel Eigenschaften innewohnen, die dem Zweck kausallogisch oder dank physischer Eigenschaften dienlich sind.22 Symbolisch hingegen sind Mittel-Zweck-Beziehungen dann, wenn es keinen logisch-kausalen Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck gibt. Dies trifft vor allem auf Zeichen zu, näherhin auf Zeichen derjenigen Klasse, die Ferdinand de Saussure ›konventionell‹ genannt hat: Das Wort ›Buch‹ bezeichnet seinen Inhalt aufgrund von Konventionen. Der Signifikant ›Buch‹ könnte genauso gut auf ein anderes Signifikat verweisen.23 Für den geschulten Strukturalisten und Poststrukturalisten ist ein solcher konventioneller Zeichenbegriff gewiss nichts Neues, und die Gemeinsamkeit, die er mit den Parson’schen Mittel-Zweck-Beziehungen teilt, dürfte leicht erkennbar sein. Geläufig ist überdies die allgemeine Einsicht, dass die Konventionalität sprachlicher Zeichen sowie symbolischer Mittel-Zweck-Beziehungen einem reibungslosen Funktionieren kommunikativer und sozialer Handlungen keinesfalls abträglich ist. Wir halten uns die Konventionalität sprachlicher Zeichen systematisch verborgen und können Sprache aus diesem Grund benutzen. Auch im Bereich sozialen Handelns verzichten wir in weiten Teilen darauf, uns klar zu machen, dass unsere Welt- und Wirklichkeitsvorstellungen letztlich auf Übereinkunft beruhen. Der Soziologe Niklas Luhmann, der an den Überlegungen Parsons mehrfach anschließt, hat hierfür den Begriff der Latenz geprägt.24 Um soziale Orientierbarkeit aufrecht zu erhalten, so Luhmann, dürften bestimmte
22 Ein Kreuzschlitzschraubenzieher bringt mich meinem Ziel nahe, eine Kreuzschlitzschraube in ein Holzbrett zu treiben. Dies vermag der Schraubenzieher kraft seiner intrinsischen Eigenschaften. 23 Vgl. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Paris: Payot 1985. 24 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissensoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 63–71.
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Teilaspekte der sozialen Wirklichkeit nicht manifest werden. Ein solches LatenzGebot greift auch und insbesondere bei den oben genannten Mittel-Zweck-Beziehungen, näherhin denjenigen symbolischen Charakters.25 Es greift überdies besonders nachhaltig bei Wert- oder Wirklichkeitsvorstellungen. Auch sie fallen in den Bereich normativer Orientierung und bilden einen Erwartungshorizont, der selbst dann standhält, wenn ihm empirische Erfahrungen zuwiderlaufen.26 Aufgrund der Empirieresistenz von Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen entsteht bisweilen der Eindruck, ihr Mittel-Zweck-Charakter sei intrinsisch. Schließlich versucht jede Wertediskussion Begründungen für geltende Normen auf einen letzten Konstitutionsgrund zurückzuführen. Staatstheorien gehen bei der Suche nach Grundregeln für ein geordnetes Miteinander entweder von einem argumentum inconcussum aus oder sie laufen auf ein solches zu. Formal suchen Wertediskussionen also einen Punkt, der nicht mehr dissensfähig ist. Werte (sprich: normative Orientierungen, Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen) zu hinterfragen, gilt mitunter als Provokation. Es dürfte jedoch leicht einzusehen sein, dass Wertund Wirklichkeitsvorstellungen trotz guter Begründungen und trotz oder besser: wegen des geschichtlichen Überhangs, den sie mit sich bringen, nie restlos intrinsischen Charakter haben, sondern ein gutes Stück weit immer auch über symbolische Anteile verfügen. Damit ist gesagt, dass Wert- und Wirklichkeitsordnungen immer Komponenten in sich tragen, die sich nicht restlos mit rationalen, zweckorientierten und intrinsischen Argumenten begründen lassen, sondern genauso gut anders sein könnten. Da Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen jedoch höchste Geltung beanspruchen, muss ihr symbolischer Rest besonders stabil in der Latenz gehalten werden. Wer die Praktikabilität von Werten oder Wirklichkeitsvorstellungen hinterfragt, begibt sich auf unsicheres Gelände und muss, und das ist das Entscheidende, mit Emotionen oder gar mit Affekten rechnen. Aus diesem Grund machen sich Affekte im Bereich sozialen Handelns mitunter dort breit, wo Wertelemente in Gefahr geraten, ihrer vermeintlich intrinsischen Geltungslogik beraubt zu werden.27 Dort also, wo sich zeigt, dass Wertelemente einer rationa-
25 Man macht sich für gewöhnlich nicht klar, warum man bei einem geschäftlichen Abendessen ein Hühnerbein aller Praktikabilität zum Trotz mit Gabel und Messer filetieren sollte und nicht mit der Hand. Wenngleich die intrinsischen Qualitäten der Hände für letzteres Vorgehen sprechen würden, so haben die symbolischen Qualitäten im Fall eines Geschäftsessens höhere Geltung und werden vermutlich nicht weiter hinterfragt. 26 Wir wissen, die Erde ist rund. Selbst (empirisches) Laufen in flachen Landschaften vermag im Rahmen heute gültiger Weltvorstellungen nicht an dieser Überzeugung zu rütteln. 27 Vgl. Jens Greve: Talcott Parsons: Toward a General Theory of Social Action / The Social System. In: Konstanze Senge, Rainer Schützeichel (Hg.): Hauptwerke der Emotionssoziologie. Wiesbaden: Springer 2013, S. 255–266, S. 256.
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len Begründung (oder auch sonst einer Begründung) nicht restlos standhalten können, springen Affekte bei und wirken latenzverstärkend. In Parsons Theorie sozialen Handelns stopfen Affekte die Lücke, die sich auftut, wenn der symbolische Rest, und somit die Kontingenz, vorgeblich unerschütterlicher Wahrheiten Oberhand gewinnt. Niklas Luhmann definiert Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen deshalb als Normen, die so verankert werden »als ob es sie gäbe«28. Affekte sichern Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen vor drohenden Kontingenzeinbrüchen. Ist man gewillt von dieser Prämisse auszugehen, dann sind paradigmenbildende Affektsteigerungen historisch immer dann zu erwarten, wenn geltende Weltbilder mit plausiblen Alternativen konfrontiert werden. Ein solches Szenario lässt sich beispielsweise anhand der Gegenreformation und ihrer besonders affektbetonten Ästhetik des commovere beschreiben. Impulsgeber dieser gegenreformatorischen Ästhetik ist das Auftreten einer massentauglichen Alternative zu einer einstmalig gängigen und bis zu diesem Zeitpunkt weitestgehend konkurrenzlosen (katholischen) Welt- und Wirklichkeitsvorstellung.29 Möglicherweise adressiert auch die Gefühlsinflation der Romantik den Kontingenzschub des 19. Jahrhunderts.30 Was aber geschieht, wenn Affekte, wie eingangs für die Moderne beschrieben, plötzlich verzichtbar scheinen, verschwinden oder dort nicht mehr auftreten, wo sie eigentlich zu erwarten wären? Anders gefragt: Welche Implikationen ergeben sich durch die Affektreduktion der Moderne vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Affekte unverbrüchliche Welt- und Wirklichkeitsvorstellungen vor der Kontingenz zu bewahren in der Lage sind? Denkbar sind drei Szenarien oder Aspekte eine allumfassenden Affektreduktion: Wenn die Literatur der Moderne Affektreduktion betreibt, dann unterstreicht dies zunächst die Gültigkeit eines durch und durch kontingenten Weltbildes. Eine Welt, die keine Affekte kennt, muss offensichtlich nichts in der Latenz halten. Alles in dieser Welt kann und darf auch anders sein. Eine solche Ontologisierung von Kontingenz um die Jahrhundertwende ist eng verbunden mit dem oben erwähnten Gefühl der Gefühllosigkeit oder mit Begriffen wie ennui, Dekadenz oder gar der Kierkegaard’schen existentiellen Angst, wie Seymour Chatman im
28 Für Niklas Luhmann spielen Affekte jedoch eine untergeordnete Rolle. Das Zitat bei Niklas Luhmann: Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 232. 29 Vgl. den Überblick insb. in Kap. IX von Dieter Weiß: Katholische Reform und Gegenreformation. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 30 Dieser steht in Verbindung mit der Umstellung der abendländischen Gesellschaft auf funktionale gegenüber stratifikatorischer Differenzierung sowie eines neu gewonnenen Zeithorizonts. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 72– 191.
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Hinblick auf L’eclisse vorschlägt.31 Nichts hat in einer solchen kontingenten Welt einen erkennbaren Sinn, was nur mehr bedeutet, dass nichts in der Latenz verbleibt. Alles kann und darf sich manifestieren, ohne dass daran jemand Anstoß nimmt, ohne dass an irgendeiner Stelle eine emotionale Regung erkennbar wird. In einem weiteren Szenario bedeutet Affektschwund (als Schwund verbindlicher Normen), dass es überhaupt keinen ›welthaften‹ Rahmen gibt und somit überhaupt nichts ›Welthaftes‹. Bezogen auf den literarischen Text führt Affektreduktion also zum Verlust eines wie auch immer gearteten Kontextbezugs. Dies ist ein Teilaspekt des oben genannten Ausstiegs aus der Mimesis. Literatur bezieht sich nicht mehr auf Welt, da Welt ohnehin Simulacrum ist.32 Zuletzt bedeutet das Nicht-Vorhandensein oder das Ausbleiben von Affekten noch ein weiteres, eher untypisches Szenario, das dann in Erscheinung tritt, wenn man sich klarmacht, dass ein Weltbild, das keiner latenzverstärkenden Affekte mehr bedarf, gut, ja geradezu ideal ist. Ein nicht auf Affekte angewiesenes Weltbild brächte keinen symbolischen Überhang mit sich, und jeder nicht vorhandene oder ausgebliebene Affekt wäre dann nicht Ausdruck eines Mangels, sondern ein starker Beleg dafür, dass eine solche Weltordnung immer schon eine zweckrationale oder intrinsische ist, sich also mit der Welt, die sie beschreibt, deckt, mit ihr identisch ist. In Erscheinung tritt diese Welt dann entweder in der Form brutaler Technizität, die das denkende Subjekt ausschließt, ihm Widerstand bietet und für den eigenen Erhalt nicht mehr benötigt.33 Ganz in diesem Sinne wandeln die männlichen Figuren Antonionis durch die Bilder, stets auf der Suche nach etwas, das nicht nur unauffindbar bleibt, sondern sich nicht einmal mehr benennen lässt.34
31 Seyour Chatman: Antonioni, or the Surface of the World, S. 55. 32 Zum Begriff des Simulacrums und einem damit verbundenen Schwund ›göttlich‹ verbürgter Normen einerseits und dem Dominanzgewinn und der Omnipotenz reiner ›bedeutungsentleerter‹ Materialität andererseits vgl. Jean Baudrillard: Simulacres et simulation. Paris: Galilée 1981, S.14 f. Angesichts einer drohenden Vervielfältigung immer weiterer Bilder Gottes, so Baudrillard, hätten die Ikonoklasten gefürchtet, Gott letztlich zu vernichten oder ihn, was dasselbe ist, der Kontingenz preis zu geben. Der Ikonoklasmus der Reformation lässt sich somit als Affekthandlung begreifen mit dem Ziel, Gott als Norm in der Latenz zu halten: »[Les Iconoclastes] pressentaient cette tout-puissance des simulacres, cette faculté qu’ils ont d’effacer Dieu de la conscience des hommes, et cette vérité qu’ils laissent entrevoir, destructrice, anéantissante, qu’au fond Dieu n’a jamais été, qu’il n’en a jamais existé que le simulacre, voire que Dieu lui-même n’a jamais été que son propre simulacre – de là venait leur rage à détruire les images«. 33 Zum modernen Wirklichkeitsbegriff als ›Erfahrung von Widerstand‹ vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. München: Fink 1964, S. 9–27. 34 Zur Ökonomie der Verschiebung und einem supplementären Begehren in L’avventura vgl. Stefan Leopold: Die Liebe, der Blick und der ›Unsichtbare Dritte‹. Antonionis L’avventura (1960).
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Oder aber diese Welt tritt in Erscheinung als ein Prozess, der zwar nicht mehr durchschaubar ist und dem denkenden Subjekt ebenfalls Widerstand bietet, in seiner Undurchschaubarkeit und Widerständigkeit aber Staunen macht, ästhetisches Vergnügen bereitet, vollkommen ist.35 Genau dies, so meine Vermutung, hat Flaubert im Sinn, wenn er den verblüfften und ahnungslosen Leser fragen lässt, wie all das gemacht ist. Die Implikationen des letztgenannten Szenarios sind vielfältig. Denn wenn sich, wie der Medienwissenschaftler Norbert Bolz sagt, spätestens seit Kant als »die moderne Norm« durchgesetzt hat, dass zwischen dem »was man denkt und konstruiert, und der Welt, so wie sie ist, eine Kluft«36 liegt, dann würde eine affektfreie Welt, eine Welt also, die keines Weltbildes mehr bedarf, sondern evident ist37, bedeuten, dass es diese Kluft nicht gibt und ein vor-differentieller Zustand die Norm ist, in dem selbst die Opposition von Welt und Sprache aufgehoben ist, in dem Welt Sprache und Sprache Welt ist. Religionen aber auch die Philosophie kennen hierfür (mitunter) den Begriff der Ekstase. Zeichentheoretisch bedeutet ein solches Szenario die Identität eines Signifikanten mit einem Signifikat. Und narratologisch wiederum wäre dies gleichzusetzen mit der Identität von syntaktischer (materieller) Ebene, pragmatischer Ebene (énonciation, discours) sowie semantischer Ebene (énoncé, histoire).38 Materieller Text, Erzählen und Erzähltes wären identisch und auch von dem Referenten nicht zu unterscheiden. Da dies schwer vorstellbar, logisch unmöglich und mithilfe von Zeichen letztlich nicht darstellbar ist, muss ein Text, der eine solche Identität evozieren möchte, von besonderer Machart sein.39 Der Anglist Andreas Mahler hat hierfür
In: Uta Felten, Stefan Leopold (Hg.): Le dieu caché? Lectura christiana des italienischen und französischen Nachkriegskinos. Tübingen: Stauffenburg 2010, S. 121–141. 35 In einem Interview mit Jean Luc Godard betont Antonioni, dass es zu simpel sei, die industrialisierte, unmenschliche Welt nur anzuklagen. Stattdessen sei es seine Absicht zu zeigen, dass eine technisierte Welt schön sein kann. Gefühle müssten in einer solchen Welt nicht verschwinden, sie müssten sich nur ändern. Vgl. Jean-Luc Godard: La nuit, l’éclipse, l’aurore. Entretien avec Michelangelo Antonioni par Jean-Luc Godard. Cahiers du cinéma 160 (1964), S. 8–16. 36 Norbert Bolz: …immer wieder die kantische Kluft überspringen. Ein Gespräch mit Norbert Bolz. In: Zirkuläre Positionen 1998, 2 (1998), S. 93–110; hier: S. 95. 37 Oder, anders gewendet, dieses Weltbild ist. 38 Zum Begriffspaar énonciation und énoncé vgl. Émile Benveniste: Problèmes de linguistique générale I-II. Paris: Gallimard 1966. Ich verwende das Begriffspaar synonym mit Pragmatik und Semantik nach Morris, bzw. histoire und discours nach Genette. 39 Logisch unmöglich, da es uns schwerfällt, etwas zu imaginieren, dass auf zwei Seiten gleichzeitig ist, ohne dabei in zwei Hälften zu zerfallen. Des Weiteren erwächst einem Zeichen seine Verweisfunktion gerade durch Differentialität, sprich: durch die Tatsache, dass das Zeichen nicht ist, worauf es verweist und/oder der Referent abwesend ist. Wenn eine solche Welt per se
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den Begriff der ästhetischen Kommunikation ins Feld geführt.40 Gemeint ist ein gegenstrebiger Modus literarischer Kommunikation, bei dem ein Text durchaus im Dienst mimetischer Wirklichkeitsdarstellung steht, die dargestellte Wirklichkeit aber zugleich (performativ) auf die materielle Seite des Textes zurückverweist. Ästhetische Kommunikation fokussiert somit weder ausschließlich die semantische Ebene, noch ausschließlich die syntaktische Ebene, sondern beide medialen Ebenen zugleich. Ähnlich einer Sinuskurve oszilliert der Dekodierungsprozess im syntagmatischen Verlauf eines solchen Textes zwischen einem mimetischen und einen performativen Modus (oder drift) hin und her.41 Ausgelöst und beschleunigt wird diese Bewegung durch Komplexitätssteigerung auf beiden Ebenen: In sprachlich verfassten Kunstwerken wie der Lyrik zerfällt die Ebene der Syntaktik in weitere suprasegmentale und segmentale Ebenen wie Typographie, Prosodie, Phonetik, Morphematik, Lexematik und Syntax mit ihren je spezifischen Möglichkeiten der Deautomatisierung und des foregrounding.42 Die Ebene der Semantik hingegen teilt sich, wieder bezogen auf sprachliche Kunstwerke, in eine oder gar mehrere polyperspektivisch gebrochene, intrapragmatische Sprechsituationen auf der einen Seite, sowie in eine oder mehrere lexikosemantischen Ebenen auf der anderen Seite. Stellt man sich Alltagskommunikation als fortlaufendes Übersetzen von syntaktischen Impulsen in semantische Realisate vor, so bedeutet die (ästhetische) Komplexitätssteigerung auf beiden Ebenen die Verlangsamung des syntagmatischen Verlaufs sowie die Betonung des Übersetzungs- oder Dekodierungsprozesses. Die semantische Ebene liefert auf diesem Weg immer neue Impulse zu Generierung weiterer syntaktischer Varianten, während die syntaktische Ebene immer neue semantische Varianten produziert. Dies ist die Oszillationsbewegung ästhetischer Kommunikation. Ihr Anliegen ist
nicht zeichenhaft ist, dann wäre überdies die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft aufgehoben, da ja Zeichengebrauch, wie Derrida sagt, immer auch eine zeitliche Dimension impliziert. Zur Temporisation des Zeichens vgl. Jacques Derrida: La différance. In: Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972, S. 1–30. 40 Vgl. Andreas Mahler: Towards a Pragmasemiotics of Poetry. In: Poetica. Zeitschrift für Sprachund Literaturwissenschaften 2006, 38 (2006), S. 217–257. 41 Vielleicht nennt Roland Barthes die Filme Antonionis aus diesem Grund synkopisch. Vgl. Roland Barthes: Cher Antonioni. In: Cahiers du Cinéma 1980, 311 (1980), S. 9–11 ; hier: S. 10. 42 Zur formalistisch bzw. strukturalistischen Unterscheidung von ›Automatisierung‹ bzw. ›Naturalisierung‹ im Zeichen mimetischer Kunst einerseits und ›Aktualisierung‹ bzw. ›foregrounding‹ im Zeichen performativer Kunst andererseits vgl. Jan Mukařovský: Standard Language and Poetic Language. In: Paul Garvin (Hg.): A Prague School Reader in Aesthetics, Literary Structure and Style. Washington, DC: Georgetown Univ. Press 1964, S. 17–30 sowie Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1972, S. 118–147.
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nicht das mimetische Erzählen einer Geschichte, sondern das Durchspielen sämtlich denkbarer Erzählmuster einerseits, sowie sämtlich denkbarer Darstellungsmuster andererseits, sprich: das Erzählen aller Geschichten. Ihr Ziel ist überdies die epiphanische Evokation eines Zustandes vordifferentieller oder präsymbolischer Einheit.43 Bezogen auf das Verhältnis von Welt und ihrer Repräsentation in einem Weltbild zeigt sich ein vergleichbarer, ekstatischer Zustand möglicherweise in dem oben zuletzt genannten, eher untypischen Affektszenario, dann nämlich, wenn die Welt nicht mehr durch Affekte gesichert werden muss, weil sie ohnehin ›gut‹ ist und einer intrinsischen Logik gehorcht, wenn es also überhaupt keiner Affekte mehr bedarf, um die Welt vor Kontingenzeinbrüchen zu verteidigen, wenn der Zusammenhalt von Welt und Weltvorstellung nicht mehr von Affekten abhängig, sondern, Welt und Weltvorstellung wie bei einer Sonnenfinsternis zur Deckung kommen. Ein solches Szenario umkreist L’eclisse auf mehreren textuellen Ebenen. Dabei scheint von Anfang an jener Zustand der Normalfall zu sein, bei dem Sprache und Welt, Signifikanten und Signifikate gerade nicht deckungsgleich sind, sondern durch eine Kluft getrennt. Das Schließen dieser Kluft wird sodann in mehreren paradigmatischen Anläufen umspielt und soll, so die These, letztlich evoziert, nicht aber symbolisiert werden. Gleichwohl impliziert jeder Versuch, diese Kluft zu schließen den Einsatz von Gefühlen. Diese jedoch lassen sich zwischen den Figuren nicht mehr verbindlich verankern. Auf der Ebene der dargestellten Wirklichkeit (Semantik) gehen Affekte folglich konsequent ins Leere, haben keinen Resonanzraum und erfüllen keine Funktionen. Und wo sich in einer Liebesgeschichte keine Gefühle verankern lassen oder diese für die Figuren schlichtweg nicht erreichbar sind, fehlt letztlich auch eine Liebesgeschichte. Affektreduktion und die Unverfügbarkeit von Gefühlen dienen, so meine These, zuvorderst dazu, eine erzählbare Geschichte oder, mit Verweis auf Le Corbusier, einen lesbaren Kode zum Verschwinden zu bringen und so die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Darstellung umzulenken. Auf der Suche nach ›echten‹ Gefühlen irrt die Protagonistin in einer scheinbar sinnentleerten, gefühlsarmen Welt umher, die nur an Geld und Statussymbolen interessiert ist.44 Versuche, die alte Beziehung zu retten, sind ebenso problematisch wie die Anläufe, eine neue zu knüpfen. Auch sind ökonomischer Diskurs und Liebesdiskurs durch eine Kluft getrennt und
43 Andreas Mahler: Towards a Pragmasemiotics of Poetry, S. 230. 44 Den Figuren Antonionis wurde häufig nachgesagt, sie litten an unvollkommenen Lebensentwürfen, seien gelangweilt und von dem alleinigen Wunsch beseelt, ihren Existenzen zu entkommen. Vgl. Seymour Chatman: Antonioni, or the Surface of the World, S. 145–174.
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unmöglich miteinander vereinbar. Für Piero ist Vittoria ein Schmuckstück, das sie nicht sein möchte. Für Vittoria ist Piero ein potentieller Gesprächspartner für Intimkommunikation, der er nicht sein möchte, wie sich in zahlreichen wechselseitigen Anläufen der jeweiligen Partner zeigt. Auf histoire-Ebene betreibt L’eclisse zusätzlich Reduktion, indem am Ende letztlich nichts geschieht: Gibt es keine Liebesbeziehung, so auch keine schmerzvolle Trennung, und somit nichts, das handlungskonstitutiv wäre.45 Auch lässt sich das Innenleben der Figuren nur schwer erschließen, da Dialogpassagen oftmals kurz und ambivalent sind, und emotionale Zustände oft unvermittelt und plötzlich auftreten und sich ebenso rasch und unvermittelt ändern. In der Eröffnungssequenz beispielsweise überkommt Vittoria zunächst ein Schauder, sodann ein Schluchzen, nachdem ihr Blick zuvor von ihrem unglücklichen Liebhaber nach Links gewandert war, um dort das eigene Spiegelbild zu fixieren. Die Heftigkeit der Reaktion lässt auf ein heftiges und kompliziertes Streitgespräch, eine komplizierte Beziehung, ja sogar eine vielschichtig komplizierte psychische Verfasstheit der Figuren schließen. Die Einzelheiten jedoch bleiben dem Zuschauer aufgrund des knappen Dialogs vorenthalten. Die performance im optischen Kanal lässt sich mit der verbalen Figurencharakterisierung im akustischen Kanal nur schwer verrechnen. Auf diese Weise greift die oben erwähnte Kluft auf die Differenz von Ton und Bild aus. Tonspur und Bildspur werden zunehmend gegenstrebig. Somit steht weder die Tonspur den Bildern als eindeutige Zusatzkodierung zur Verfügung, noch lässt sich die Bildspur den Dialogen oder sonstigen akustischen Zeichen als bedeutungskonstitutiv beiseite stellen. Zwar wird ein gewisser mimetischer Nullpunkt nicht unterschritten – Lippenbewegungen bleiben synchron, Wind lässt Blätter rauschen und Menschen tun, was Menschen in einer Welt, wie wir sie kennen, tun. Die Anteilnahme am Lieben und Leiden der Figuren, sprich: eine mimetische Lesart, die Mitfühlen machen soll, wird jedoch von der Gegenstrebigkeit von Ton- und Bildspur systematisch unterlaufen. Mitfühlen scheitert an der Frage, was es zu fühlen gibt? Anstatt aber darauf Antworten in den Bildern zu liefern, folgt die Kamera solchen Details, die optisch-stilistisch reizvoll sind, sich aber nur schwerlich auf das Gefühlsleben der Figuren zurückrechnen lassen. Dies zeigt sich beispielsweise bei den Besuchen der jeweiligen Elternhäuser. Die hier ausgestellten settings und Interieurs illustrieren nicht allein die sozialen
45 Handlungskonstitutiv im Sinne einer Sujetfügung nach Jurij Lotman. Vgl. ders.: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 1993. L’eclisse ist damit die filmische Variante eines Flaubert’ schen »livre sur rien«. Gustave Flaubert: Œuvres complètes de Gustave Flaubert. Correspondance 1850–1859, S. 158.
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Milieus der jeweiligen Figuren, sondern verweisen erneut auf die filmische Darstellungsebene, indem sie Vittoria der Tonspur und Piero der Bildspur funktional zuordnen. Entscheidend ist bei diesem Verfahren jeweils der Ausgang der beiden spiegelbildlichen Kinderstuben-Szenen. Bei Pieros Hausbesuch versucht dieser zunächst erfolglos, Vittoria in ihrem Kinderzimmer zu verführen. Als dann die Mutter, die gerade ein Vermögen an der Börse verloren hat, heimkommt, tritt Vittoria ins Wohnzimmer, um die Börsennachrichten im Radio zu hören: »Stanno parlando di titoli nella radio«, lässt die sichtlich begeisterte Vittoria wissen, worauf Piero sie leicht erbost und mit ironischem Unterton zurückfragt: »Tu ascolti la radio?« Kleinlaut kehrt Vittoria ins Wohnzimmer zurück und schaltet das Radio mit schuldbewusster Miene aus. Piero hingegen lässt sich in einen Sessel fallen, macht die Beine lang und schließt die Augen, worauf Vittoria ihre Sachen packt und die elterliche Wohnung schweigend verlässt.46 Zusammen mit Vittoria wird die Tonspur, repräsentiert durch das Radio, sinnbildlich zum Schweigen gebracht. In einem zweiten Schritt wird ihr der Bildkanal bei Vittorias Besuch in Pieros elterlicher Wohnung übergeordnet. Dies wird zuvorderst anhand der Fülle bildender Kunst deutlich, die hier das Interieur bestimmt. Die Wohnung ist mit zahlreichen Gemälden, Landschaftsbildern, Statuen und Büsten ausgestattet, die ihrerseits keinen (exophorischen) Welt- und Wirklichkeitsbezug haben, wie die Fotografien von Vittorias Eltern, sondern nur (autophorisch) auf sich selbst verweisen. Denn auf Vittorias Frage, was eines der besonders großen Landschaftsbilder sei – »E questo, cos’è?« –, antwortet Piero: »C’è sempre stato«.47 Es geht somit gerade nicht darum, was das Bild zeigt, sondern darum, dass es einfach nur da ist. Auch gemahnt die Frau, die im Fenster des gegenüberliegenden Hauses erscheint und wieder verschwindet, an Portraits wie sie beispielsweise von Tizian stammen könnten. Als Person bleibt sie jedoch ebenso anonym und unkommentiert wie die Menschen auf all den anderen Gemälden. Pieros erster Verführungsversuch beginnt sodann mit dem Kuss durch eine Glasscheibe und endet mit dem angerissenen Kleid und der entblößten Schulter Vittorias, die im beschädigten Oberteil, das ihren Körper wie eine Toga ziert, zunehmend der antiken Büste im Nebenzimmer ähnlich wird. Bildelemente antworten nicht auf den Dialog der Figuren, sondern sie werden in eine metonymische Beziehung zu anderen Bildelementen gebracht. Die syntagmatische Verkettung optischer Versatzstücke steht somit nicht mehr im Dienst der histoire-Ebene, sondern wird selbstgenügsam und webt einen autonomen Supertext über die dargestellte Wirklichkeit. Dieser rein visuelle
46 Antonioni, Michelangelo: L’eclisse. Frankreich/Italien: Cineriz 1962, 01:10:08–01:13:48. 47 Ebda., 01:40:26.
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Supertext soll letztlich ohne einen auf semantischer Ebene anderweitig korrespondierenden Wirklichkeitsbezug auskommen und auf diese Weise sein eigener Referent werden. Bilder verweisen weder auf Welt(en) noch auf Gefühle, sondern sie beziehen sich auf die umliegenden Bilder, oder, wie Chatman sagt: »The contingency of incidental objects photographed with loving care opens a world that we must contemplate, not categorize«.48 Die systematische Gegenstrebigkeit von Bild- und Tonspur sowie die zumindest oberflächlich ästhetische Aufwertung der Bilder wird gestützt durch (1) die systematische Reduktion auf der Ebene der Semantik, (2) die Betonung der materiellen (hier: visuellen) Ebene sowie (3) ihre affektive Besetzung. Letzterer Aspekt kommt in der vieldiskutierten Schlussszene von L’eclisse besonders deutlich zum Tragen. Die Kamera zeigt hier einige Ansichten, Details und Passanten an der Straßenecke, an der sich Vittoria und Piero verabredet haben, während keiner der beiden am Ende auftaucht. Durch die bereits bekannten Ansichten wie die Frau mit dem Kinderwagen, der Holzscheit im Wasserfass, die moderne Architektur der umliegenden Wohnungen oder das Baugerüst ruft die Sequenz einmal mehr die Ebene der erzählten Geschichte auf, nur um sie ein weiteres Mal endgültig zu tilgen. Wir sehen optische Versatzstücke, die an Piero und Vittoria erinnern, ja wir sehen sogar eine Frau mit blonden Haaren von hinten, die man zunächst für Vittoria halten soll, die jedoch, wie sich herausstellt, nur eine namenlose Passantin ist. Ebenso erinnert jeder Mann im Anzug, der aus dem Bus steigt, an Piero. Doch auch der taucht am Ende nicht auf. Alles, was zuvor als Möglichkeit einer sich entwickelnden Geschichte zum Mitfühlen angeregt haben mag, wird noch einmal im Verschwinden gezeigt und am Ende ganz vernichtet. Die über den Blick in eine Zeitung anzitierte nukleare Bedrohung mag die ästhetische Vernichtung, die die Moderne ursprünglich gefordert hatte, versinnbildlichen. Denn wie bei einem Super Gau tilgen die Bilder ihren Wirklichkeitsbezug bis zur Gänze: Es wird Nacht, Straßenlaternen gehen an und der Film schließt mit dem unscharf und grobkörnig flackernden Oval eines elektrischen Laternenkopfes, das an den Rändern nahezu bis zur Unkenntlichkeit ausfranst. Was als Möglichkeit des Fühlens mit und für die Figuren anfänglich noch vorhanden war, wird von dem filmischen Artefakt, und gemeint ist der optische Kanal, für sich beansprucht. Bilder sollen am Ende nur Bilder sein, optische Phänomene, die einfach nur Staunen machen, aber nichts bedeuten. Im Hinblick auf das Naturschauspiel Sonnenfinsternis hat sich Antonioni einmal gefragt, ob es in der Lage sei, die Gefühle der Menschen für einen kurzen Moment
48 Seymour Chatman: Antonioni, or the Surface of the World, S. 100.
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anzuhalten.49 Seymour Chatman deutet diesen Gedanken dahingehend, dass sich das Verschwinden von Vittoria und Piero synekdochisch für die epochale Suspension von Gefühlen schlechthin lesen lässt, die er dann vermutet, wenn sämtliche Innovationsressourcen verbraucht sind, sprich: wenn nicht mehr klar ist, was es als nächstes zu tun gilt, wenn, so Chatmans eigene Worte, »civilization pauses to gasp incredulously«50. Nicht mehr zu wissen, welche Handlungsoptionen und Chancen in einer radikal offenen Zukunft zu erwarten sind, ist mitunter als Signatur moderner Zeiterfahrung beschrieben worden.51 Vor dem Hintergrund grundlegender Kontingenz und unsicherer Erwartbarkeiten sieht es einerseits so aus, als würde das Leben in modernen Gesellschaften immer schneller und unübersichtlicher werden und keinen Raum mehr für Gefühle lassen. Um diesen Gedanken kreist L’eclisse auf Handlungsebene: Potentielle Partner zirkulieren mit ebenderselben Geschwindigkeit wie Aktien, und jeder Anfang einer Beziehung verweist immer schon auf ihr Ende. Das letzte Mal sehen wir, wie Vittoria mit erkennbarem Unbehagen vor genau jenem Hauseingang innehält, vor dem Piero zuvor seinen letzten Flirt abserviert hatte. Andererseits aber, und aller Bedrohlichkeit zum Trotz, impliziert eine radikal offene Zukunft, dass inmitten der schier unendlichen Fülle aller denkbaren Welten, die eine solche Zukunft bereithält, zwangsläufig auch die beste und schönste aller Welten aufblitzt, die nämlich, in der (subjektiver) Weltentwurf und (objektiver) Weltbefund, Signifikant und Signifikat, nahtlos zur Deckung kommen – und sei es nur für einen kleinen Augenblick. Um diesen Gedanken kreist L’eclisse auf Darstellungsebene, indem das unschöne Gefühlsschicksal der Figuren schöne und immer noch schönere Bilder hervortreten lässt, die sich diesem Schicksal gegenüber auffällig indifferent verhalten. Einer derart untypischen und gegenstrebigen Konstellation von Ausdruck und Inhalt in voller Schönheit gewahr zu werden, ist, wie bei einer Sonnenfinsternis, eine Frage der Perspektive. Große Gefühle mögen in der Welt, die sich aus dieser Perspektive zeigt, zulässig sein. Ihr Zusammenhalt hängt aber nicht mehr von ihnen ab.
Bibliographie Antonioni, Michelangelo: L’eclisse. Frankreich/Italien: Cineriz 1962. Barthes, Roland: Cher Antonioni. In: Cahiers du Cinéma 1980, 311 (1980), S. 9–11.
49 Vgl. ebda., S. 72 f. 50 Seymour Chatman: Antonioni, or the surface of the world, S. 73. 51 Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstruktur der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, Kap. V.
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David Klein
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III Rebellionen
Karin Peters
Im Teufelskreis des Affekts: (An-)ökonomische Zirkulationsstrukturen in Paul et Virginie und seinen Bearbeitungen für die Oper Die Geschichte der Emotionen kann auch als Erzählung über das Wesen unserer politischen Moderne gelesen werden: So geht William Reddy davon aus, dass nach der Französischen Revolution, und damit nach der historischen Schwelle, die Europa in die Moderne führt, Politik und Gefühl nicht mehr gemeinsam auftreten. Nur während der Französischen Revolution sei für kurze Zeit das emotionale Regime mit den Zielen des republikanischen und also politischen Regimes auf Deckung gebracht worden – gemäß der Forderung nach vertu, sensibilité und Authentizität, die sich im 18. Jahrhundert zunächst als Gegenkultur zur höfischen Etikette und Heuchelei des aristokratischen Ancien Régime entwickelt hatte. Dies zog jedoch die verheerende Wirkung nach sich, dass die Suche nach dem wahren und wahrhaftigen sentiment des citoyen zu einer Pandemie des Verdachts und damit während der Terreur eine Vielzahl von citoyens unter die Guillotine führte. Denn jene Koppelung von Politik und Gefühl, die den Sentimentalismus für kurze Zeit aus dem gesellschaftlichen Abseits auf die zentrale Bühne befördert, habe direkt in die Terreur gemündet und sich demzufolge von einem utopischen Ideal- zu einem Schreckensbild gewandelt. So besehen reicht in der Emotionsgeschichte Reddys also eine direkte Linie vom Sentimentalismus Rousseaus zur Gewalt Robespierres. Nach deren Zäsur sei, so die Lehre der Geschichte, die europäische Politik vom Rationalismus geprägt gewesen und Emotion in den Bereich des Privaten verbannt geblieben. Im Laufe der Geschichte ändert sich also der sozial geteilte, emotionale common sense,1 wenn sich politische Ordnungen ändern. Umgekehrt gilt aber auch: Änderungen im politischen System sind ohne die Impulse nicht zu erklären, die dafür aus der Sphäre des emotionalen Gemeinschaftssinnes gegeben werden, der historischen Konjunkturen unterworfen ist. Diese Grundannahme hat unweigerlich Auswirkungen auf die Deutung von literarischen Texten, zum Beispiel in der Form, dass Genrekonventionen in bestimmten Kontexten neu und durchaus widersprüchlich aktualisiert werden können. So zeigt etwa der
1 Vgl. William Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions. Cambridge: Cambridge UP 2001, S. 143. https://doi.org/10.1515/9783110479638-011
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politische Gebrauch der Pastorale vor, während und nach der Französischen Revolution, wie dargestelltes Gefühl, Politik und literarisches Genre jeweils neue Konstellationen einzugehen in der Lage sind. Zunächst noch hat die Erneuerung der französischen Idylle in den 1780er Jahren am rückwärtsgewandten Diskurs des sentimentalen Rückzugs aus der Welt teil, mit Reddy gesprochen lässt sie sich also auf der Seite eines oppositionellen refuge2 aus der dominanten emotionalen Ordnung des Ancien Régime ansiedeln. Während der Französischen Revolution jedoch erlebt das Genre einen Aufschwung, der ältere Formen abwandelt: an die Stelle eines idealisierenden Blickes auf ein vergangenes Goldenes Zeitalter tritt der utopische Blick in die Zukunft, in der jenes Zeitalter von der Gemeinschaft französischer Freiheitskämpfer verwirklicht werden soll. Die Pastorale wird nun, wie Katherine Astbury kommentiert, zum Medium einer nationalen Pädagogik, weil es ihr gelingt, die Beschwörung eines common sense der Empfindsamkeit mit einem politischen Diskurs über ideale Gesellschaftsformen zu verknüpfen,3 sei es aus der Warte der Gemäßigten, der Radikalen oder aber der Konterrevolutionären. Pastorale Textsorten entpuppen sich in der Revolutionsepoche als in sich neutrale Medien: Sie vertreten unterschiedliche, wenn auch immer offen propagandistische Ziele. Gemeinsam ist diesen Texten nur der wie auch immer geartete utopische Vektor. Hier darf man wohl ergänzen, dass dies insbesondere deshalb der Fall ist, weil die Pastorale von jeher die Reflexion über ideale Gemeinschaftsformen mit dem Thema individueller Gefühle verbunden hatte, also der revolutionären Koppelung von Emotion und Politik entgegenkommt. Dabei muss es nun nicht allzu sehr überraschen, dass diese Koppelung auf Fragen der Ökonomie ausgreift, schließlich ist pastorales Leben dezidiert als Selbstversorgung im Kleinen bzw. Kleinsten entworfen, als eine fast übergangslose Verbindung von Produktion und Konsum von Gütern. Geld und Waren sind, zumindest im 18. Jahrhundert, in der Pastorale entweder abwesend oder zutiefst
2 »A relationship, ritual, or organization (whether informal or formal) that provides safe release from prevailing emotional norms and allows relaxation of emotional effort, with or without an ideological justification, which may shore up or threaten the existing emotional regime.« Ebda., S. 129. Bezüglich der Rezeptionsgeschichte von Paul et Virginie ist hier interessant, dass die englische Übersetzerin Helen Maria Williams, die ihre Übertragung in Paris inmitten der Unruhen der Terreur anfertigte, dabei »the most soothing relief in wandering from my own gloomy reflections to those enchanting scenes of the Mauritius« empfand, den Text also ganz im Sinne eines emotionalen »refuge« interpretierte; vgl. Helen Maria Williams: Paul and Virginia. Translated from the French of Bernardin Saint-Pierre. London: G. G. and J. Robinson 1795, S. v. 3 Sie spricht diesbezüglich von »creating a sense of community based on trust and sensibilité«; Katherine Astbury: Narrative Responses to the Trauma of the French Revolution. London: Modern Humanities Research Association and Maney Publ. 2012, S. 32.
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verdächtig. Umso dringlicher sind die Fragen, welche Anknüpfungspunkte an Politik und Gefühl die (An‑)Ökonomie der Pastorale bietet und wie eine geregelte Gefühlsnorm des emotionalen Regimes im literarischen Text auf einen entregelten Affekt hin geöffnet wird, der semantische Überschüsse produziert.4 Ich möchte im Folgenden deshalb anhand von Bernardin de Saint-Pierres moderner ›Pastorale‹5 Paul et Virginie, die erstmals 1788 in der vorrevolutionären Epoche publiziert wurde, sowie anhand einiger Bühnenadaptationen des Romans zeigen, wie dies zu denken ist. Dazu werde ich zwei Bearbeitungen vergleichend behandeln; zum einen die Oper Paulin et Virginie (1794) von Jean-François Le Sueur und Alphonse Dubreuil aus der Hochphase der Revolution, zum anderen Victor Massés Paul et Virginie (1876), zu dem Michel Carré das Libretto verfasst hatte. Vor allem aber möchte ich mit Blick auf diese Variationen die hier eingangs vorgestellte Perspektive aus der Emotionsgeschichte insofern verschieben, als ich jene Regeln des politischen Regimes betrachten werde, die der zeitgenössischen ökonomischen Ordnung zugrunde liegen. Somit muss auch der Befund von Reddy dahingehend neu befragt werden, ob das politische Regime in der Moderne nicht über die Revolutionsepoche hinaus mit ›affektischen Investitionen‹6 agiert. Meines Erachtens ist dies gerade im Bereich der Ökonomie der Fall.7 Das hat vor allem damit zu tun, dass auch im 19. Jahrhundert jener Diskurs nicht zum Erliegen kommt, den Mary Louise Pratt als die zweite Phase der europäischen Kolonialisierung, als second oder anti-conquest bezeichnet
4 Zum Unterschied von ideologischer »capture« durch objektfixierte Emotion und Habitus versus affektischen »escape« siehe Jon Beasley-Murray: Posthegemony. Political Theory and Latin America. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2010, S. 1–11. 5 Dass es sich bei dem Roman tatsächlich um eine Pastorale handelt, ist zunächst fraglich, wurde aber vom Autor selbst hervorgehoben; vgl. Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie, avec des extraits du Voyage à l’île de France [1788]. Herausgegeben von Jean Ehrard. Paris: Gallimard 2004, S. 32. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle PeV und der Seitenzahl. Die Handlung ist grob an Daphnis und Chloe (3. Jhdt.) angelehnt, einem antiken Vorbild des Schäferromans, und wird etwa von Youmna Charara als »pastorale pathétique« und »pastorale religieuse« bezeichnet, also als ein hybrides Genre zwischen Pastorale, dem sentimentalen Roman und der Elegie; Youmna Charara: Pensée morale et transformations génériques dans Paul et Virginie. In: Eighteenth-Century Fiction 21, 2 (2008–2009), S. 2 83–308; hier: S. 295. 6 Zum Begriff der libidinösen Investition in das Politische siehe Fredric Jameson: Third World Literature in the Era of Multi-National Capitalism. In: Social Text 15 (1986), S. 65−88; hier: S. 72. 7 Im 18. Jhdt. bildet der Begriff der Sympathie, der für die am Beispiel zu zeigende, idealisierte family of tears eine konstitutive Rolle spielt, nachgerade einen diskursiven Knotenpunkt, da im ›globalen Prinzip‹ der Sympathie Gefühlstheorie, politische Theorie der sozialen Kohäsion und ökonomische Theorie der Zirkulation aufeinandertreffen; vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: Diaphanes 2011, S. 88 u. 91.
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hat.8 Sie versteht darunter die ideologische Verschleierung der globalen Ausweitung der Handelswirtschaft – sprich: der Globalisierung des Warentausches, die auf Kosten der eroberten Länder geht, aber auf den ersten Blick weniger eindeutig als Ausbeutungssystem erkenntlich ist als die erste Phase der Kolonialisierung. Denn diese zweite Eroberung der Welt wird Pratt zufolge nicht durch militärische Gewalt, sondern im Zeichen von wissenschaftlichem Rationalismus und empfindsamem Sentimentalismus begründet. Sie geht nun nicht ohne Grund in französischen Texten am Ende des 18. Jahrhunderts Hand in Hand mit republikanischen Idealen. Dazu zählt eine im Namen der Menschenrechte verteidigte Universalisierung der ›sensibilité‹, die jedoch paradoxerweise im second conquest als Instrument genutzt wird, um sich die Welt Untertan zu machen und das eigene Gemeinschaftsgefühl zu stärken.9 Gerade in Reiseberichten ist dies der Fall. Auch Bernardin de Saint-Pierre war ein vielgereister Autor und sein Roman wurde als vierter Band des größeren Projekts Études de la Nature publiziert. Dieses Rahmenprojekt gibt dabei den wissenschaftlichen Rationalismus, der Roman jedoch den empfindsamen Sentimentalismus zum Besten. Er ist ein Paradebeispiel dafür, wie durch die literarische Inszenierung des Gefühls die Theorie und Moral der aufgeklärten Eroberung der Welt sanktioniert werden soll. Mir geht es deshalb in der Interpretation von Paul et Virginie auch weniger um die in der Forschung bereits einschlägige Deutung des Romans, die diesen auf die Anklage des rigiden Sozialsystems des Ancien Régime bezieht oder auf die Kritik seines Autors an der Sklaverei in Übersee.10 Ich konzentriere mich viel-
8 Vgl. Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York: Routledge 2009, S. 26. 9 Siehe zur Ausbildung einer sentimentalen, das französische Heim und eine bürgerliche Form von Weiblichkeit betonende imagined community durch die koloniale Fiktion des Romans einschlägig Carolyn Vellenga Berman: Creole Crossings: Domestic Fiction and the Reform of Colonial Slavery. Ithaca: Cornell UP 2006, S. 57−87. 10 Bernardin selbst lehnte in seiner Voyage à l’Île de France (1773) die Sklaverei wortreich als höchst beklagenswert ab (vgl. PeV, 286). Jedoch muss die Handlung von Paul et Virginie nicht weniger einem Narrativ zugerechnet werden, das auch Teil des second conquest und damit Teil einer, wenn auch subtileren, Unterwerfungsgeste ist; vgl. Karin Peters: Arcadia goes Overseas. Pastoral and Planetary Consciousness in Paul et Virginie (1788). In: Jernej Habjan/Fabienne Imlinger (Hg.): Globalizing Literary Genres. Literature, History, Modernity. London/New York: Routledge 2015 (Routledge Interdisciplinary Perspectives on Literature, 57), S. 90−109. Zur symbolischen Wiederholung der zivilisierenden Mission des Westens im Roman siehe darüber hinaus Françoise Lionnet: Shipwrecks, Slavery, and the Challenge of Global Comparison: From Fiction to Archive in the Colonial Indian Ocean. In: Comparative Literature 64, 4 (2012), S. 446−461; hier: S. 451, sowie zum »Enlightenment abolitionist doublespeak«, Pratima Prasad: Intimate Strangers: Interracial Encounters in Romantic Narratives of Slavery. In: L’Ésprit Créateur 47, 4
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mehr auf ein ökonomisches Dispositiv, das zum einen den Text unterfüttert und dort quasi pädagogisch idealisierte Gefühlsmodelle anbietet, zum anderen aber unweigerlich ein den Leser affizierendes ›Unbehagen in der (Konsum‑)Kultur‹ erzeugt. Beides fördern nicht zuletzt die Adaptationen noch deutlicher zu Tage, indem sie sich an jeweils anderer Stelle stärker auf eine Schale der Waage lehnen, die in Paul et Virginie selbst die ökonomische Logik von Tausch und Zirkulation gegen die anökonomische Logik von Verschwendung und Opfer11 noch seltsam ausbalancierte.
I Die Logik fataler Zirkulation in Paul et Virginie Bei Bernardin de Saint-Pierre vermutet man wohl nicht sofort, zu Fragen der Ökonomie fündig zu werden. In der Tat wird die Handlung seines Erfolgsromans jedoch stets dadurch vorangetrieben, dass Geld, Menschen und Waren – im weitesten Sinne – zirkulieren. Zwei Zirkulationen12 sind dabei meiner Meinung nach dominant: Zum einen die im ersten Teil der Handlung besonders eindrückliche Episode, als Paul und Virginie eine geflüchtete Sklavin (»une négresse marronne«, PeV, 126) zu ihrem brutalen Herrn an der Rivière-noire zurückführen, nachdem diese die jungen Leute im Namen des Mitleids angefleht hatte, ihr zu helfen. Zum anderen jene Zirkulation, in der Virginie selbst einem ähnlichen Schicksal zum Opfer fällt wie die Sklavin, so dass sie durch die Reise nach Frankreich und zurück nach Mauritius zuletzt zu Tode kommt. Doch zunächst zur ersten Episode. Hier heißt es über den Moment, als die geschundene Sklavin bei Paul und Virginie auftaucht: Elle se jeta aux pieds de Virginie, qui préparait le déjeuner de la famille, et lui dit: »Ma jeune demoiselle, ayez pitié d’une pauvre esclave fugitive […]«. En même temps, elle lui montra son corps sillonné de cicatrices profondes, par les coups de fouet qu’elle en avait reçus. […]
(2007), S. 1−15; hier: S. 2. Markman Ellis hat für den englischen Sentimentalismus herausgearbeitet, wie politische Debatten über die Sklaverei Eingang in einzelne Texte fanden; vgl. Markman Ellis: The Politics of Sensibility: Race, Commerce, and Gender in the Sentimental Novel. New York: Cambridge UP 1996, S. 49−86. 11 Zu den Begriffen der Anökonomie und Verschwendung vgl. Georges Bataille: La Part maudite, précédé de La Notion de dépense [1949]. Herausgegeben von Jean Piel. Paris: Minuit 2007, S. 59 f. 12 Bezüglich der strukturellen Analogie, nicht jedoch ihres ökonomischen Subtextes hat dies bereits erwähnt Carolyn Vellenga Berman: Creole Crossings, S. 75.
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Virginie, tout émue, […] lui dit: »Pauvre misérable! J’ai envie d’aller demander votre grâce à votre maître; en vous voyant il sera touché de pitié. […]«. (PeV, 126−127)
Virginie entscheidet sich also, für die malträtierte Frau Gnade zu erbitten, was ihr allerdings nur gelingt, weil deren maître offensichtlich Gefallen an ihr selbst gefunden hat. Schnell suchen Paul und Virginie das Weite und verlaufen sich dabei im Wald. Als ihr Sklave Domingue sie findet, berichtet er davon, dass die entflohene Sklavin nach ihrer Rückkehr noch härter als zuvor behandelt worden sei. Am emotionalen Tiefpunkt der Episode gelangen die drei schließlich nur durch das Eingreifen einer Gruppe von »noirs marrons« (PeV, 135) wieder sicher nach Hause. Die Begegnung mit den entlaufenen Sklaven fügt der Szene dabei einen wesentlichen und zugleich hochgradig paradoxen Aspekt hinzu: Denn obwohl die gute Tat von Paul und Virginie nicht das gewünschte Ergebnis zeitigt, bietet sich die »troupe« (ebda.) – wiederum im Namen von Gnade und Mitleid – an, die beiden Kinder auf ihren Schultern nach Hause zu tragen, »en reconnaissance« (ebda.) der guten Tat. Die große Bedeutung, die jene symbolische Entlohnung in den Augen des Autors gehabt haben muss, wird mit Blick auf die Entwicklung des Manuskripts noch deutlicher. Denn während in der Erstfassung des Textes die »troupe de noirs marrons« noch nicht vorkommt, baut Bernardin de Saint- Pierre in der finalen Version vor die Szene der Rettung eine Rede des Anführers der Truppe ein, die ihn in deutliche Analogie zur Rede Virginies vor ihrem Aufbruch setzt: […] mon dieu qu’il est difficile de faire le bien il ny a que le mal de facile a faire. en montant le revers de ce vallon ils entendirent crier du haut de la montagne paul. virginie!. ou etes vous mes enfans et ils virent leurs meres. domingues et marie qui accouroient au devant deux.13 »Oh qu’il est difficile de faire le bien!« […] Paul et Virginie ne pouvaient plus marcher; leurs pieds étaient enflés et tout rouges. Domingue ne savait s’il devait aller bien loin de là leur chercher du secours, ou passer dans ce lieu la nuit avec eux. […] Comme il était dans cette perplexité une troupe de noirs marrons se fit voir à vingt pas de là. Le chef de cette troupe, s’approchant de Paul et de Virginie, leur dit: »Bon petits blancs, n’ayez pas peur; nous vous avons vus passer ce matin avec une négresse de la Rivière-noire; vous alliez demander sa grâce à son mauvais maître: en reconnaissance nous vous reporterons chez vous sur nos épaules.« (PeV, 135)
13 Marie-Thérèse Veyrenc: Edition critique du manuscript de Paul et Virginie de Bernard de Saint-Pierre, intitulé Histoire de Melle Virginie de la Tour. Paris: Nizet 1975, S. 154−157.
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Nicht nur hat die Bewegung der Figuren im Raum also eine zirkuläre Struktur – vom kleinen Haus, wo Paul und Virginie mit ihren Müttern und zwei Sklaven leben, zur Plantage des maître und zurück; auch motivisch und sprachlich ist die Episode als ein Zirkel angelegt, der uns heute teuflisch erscheint. Dessen Sinn erschließt sich nur dann, wenn man von der Behandlung der entflohenen Sklavin absieht, die wieder dort ankommt, woher sie geflohen war, und dafür das finale Tableau – Paul und Virginie auf den Schultern der entlaufenen Sklaven – ins Auge nimmt. Denn nur aufgrund der Zirkulation von Paul und Virginie realisiert sich an diesem Punkt die utopische Vision, dass im Namen des westlich kodierten sentiment – der pitié – eine Gemeinschaft von schwarzen Unterdrückten und weißen Unterdrückern gestiftet werden kann.14 Sie wird weitaus wichtiger als die Tatsache, dass im Plantagenwesen Menschen wie Waren behandelt und deshalb auch in fatale Kreisläufe geschickt werden. Das Geben bzw. Zurückgeben im Namen des Mitleids und der belohnten Tugend wird dadurch gerade nicht aus der Logik der Ökonomie befreit, sondern die sentimentale bonne action ist an das ökonomisch fundierte Regime des second conquest gekoppelt. Bernardin de Saint-Pierre hat in der Folge die Kommerzialisierung seines Romans selbst befördert; die Szene mit den noirs marrons hat hier eine besondere Rolle gespielt. Nicht zuletzt mit der Prachtausgabe von 1806, der einige hervorragende Illustrationen15 beigefügt wurden, erschuf Bernardin eine Art modernen Mythos.16 Es entstand ein genuiner Markt für Adaptationen und Objekte, die dem Paul et Virginie-Kult huldigten. 1802 bereits fertigte Pierre-Philippe Thomire für Napoleon Bonaparte eine Uhr, die dieser dem Autor zum Geschenk machen wollte und die danach mehrfach in verkleinerter Form nachgebildet wurde.17 Sie
14 Carolyn Vellenga Berman: Creole Crossings, S. 76 spricht hier von »wish fulfillment«. Die politische Rolle dieser allegorisch-sentimentalen Figuration von Körpern wurde bereits früher kommentiert; vgl. Roddey Reid: Families in Jeopardy: Regulating the Social Body in France, 1750–1910. Stanford, Calif.: Stanford Univ. Press 1993, S. 101−136, insb. S. 103. Im Roman wird die dafür vorbildliche, frühe Beziehung zwischen Paul und Virginie als eine Art Herzenssprache entworfen, die auch ohne Worte auskommt: »mais à leurs regards qui cherchaient à se rencontrer, à leurs sourires rendus par des plus doux sourires, on les eût pris pour ces enfants du ciel, pour ces esprits bienheureux dont la nature est de s’aimer, et qui n’ont pas besoin de rendre le sentiment par des pensées, et l’amitié par des paroles.« (PeV, 123) 15 Siehe die auf Gallica zugängliche Ausgabe Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie. Paris: Didot l’Aîné 1806. 16 Vgl. Marc Serge Rivière: ›La scène est à l’isle de France‹: Paul et Virginie, drame, opéra-comique et ballet-pantomime. In: Loïc P. Guyon/Sylvie Requemora-Gros (Hg.): Voyage et Théâtre. Paris: PUPS 2011, S. 167−190; hier: S. 186. 17 Vgl. Catherine Labio: Reading by the Gold and Black Clock; Or, the Recasting of Bernardin de Saint-Pierre’s Paul et Virginie. In: Eighteenth-Century Fiction 16, 4 (2004), S. 671−694.
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verkörpert eindrücklich die ideale Gemeinschaft des second conquest am Beispiel von Paul und Virginie, die auf den Schultern der noirs marrons getragen werden18 und so die selbst gewählte Unterwerfung der Schwarzen unter die Gefühlsidealität der Europäer vorführen. Die sentimentale Eroberung der kolonialen Welt war somit zum Konsumobjekt geworden und schmückte in Frankreich wohl zahlreiche Kaminsimse von empfindsamen Damen. Man kann daher durchaus davon sprechen, dass Lektüre und Konsum von Paul et Virginie dem emotionalen Regime der Moderne ein bedeutsames Element beigesteuert hat: den sentimentalen Genuss am second conquest. Der Originaltext allerdings kann sich hier dennoch eines gewissen semantischen Überschusses nicht erwehren, da der geschundene Körper der Sklavin – einmal in der Darstellung des Erzählers, einmal durch den Erzähler Domingue – ein überaus melodramatisches Bild erzeugt. Es wird gegen die idealisierte Vision der auf Schultern getragenen, zu reinen Zeichen des sentiment stilisierten Kinder ins Feld geführt: »Mais quelle grâce! Il me l’a montrée attachée, avec une chaîne au pied, à un billot de bois, et avec un collier de fer à trois crochets autour du cou.« (PeV, 134) Als Bernardin de Saint-Pierre dann seine Protagonistin zum zweiten Mal der Logik fataler Zirkulation aussetzt, ist sie selbst buchstäblich dem Untergang geweiht.19 Denn als die reiche Tante aus Frankreich Virginies Mutter Madame de la Tour auffordert, das junge Mädchen zu ihr zu schicken, ›opfert‹ sich Virginie, damit das Glück ihrer kleinen Gemeinschaft auf lange Zeit gesichert
18 Eine Szene, die durch die autobiographischen Reiseberichte Bernardin de Saint-Pierres seltsam konterkariert werden, wo er ebenfalls auf den Schultern von Sklaven getragen wird, dies aber ambivalent erlebt; vgl. Carolyn Vellenga Berman: Creole Crossings, S. 77 f. 19 Die Parallelsetzung von Sklavenhaltergesellschaft und Ancien Régime in Frankreich hat Anastase Ngendahimana hervorgehoben: »Le statut de l’esclave devient en quelque sorte celui du citoyen français face au pouvoir oppresseur en place«, und: »la relation du maître et de l’esclave dans les colonies reproduit celle du seigneur et du serf en France«; Anastase Ngendahimana: Les idées politiques et sociales de Bernardin de Saint-Pierre. Bern u. a.: Peter Lang 1999, S. 174 f. Vgl. dazu ebenfalls: »C’est l’avidité des grands propriétaires qui a introduit et maintenu si long-temps en Europe l’esclavage dans l’agriculture. Où trouver en effet des hommes libres qui veuillent cultiver une terre uniquement pour le profit d’autrui? En Russie, les terres n’ont de valeur que par le nombre de leurs serfs.« Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre: Vœux d’un solitaire [1790]. In: Œuvres complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836, S. 666−746; hier: S. 727. Im gleichen Teil der Vœux macht Bernardin de Saint-Pierre mehrere Vorschläge, wie man Waren aus der neuen Welt, wie den Zucker oder die Baumwolle, wieder durch einheimische Produkte wie Honig und Leinen ersetzen könne. Idealistisch endet er mit der Vision, dass durch ein Umdenken der capitalistes die Werte des französischen Landlebens nicht nur im Mutterland, sondern auch in der Kolonie – insbesondere durch die Verbannung des Geldes – regieren könnten: »l’innocence, la concorde et le bonheur«; ebda., S. 734.
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sein möge, und verlässt dafür zum zweiten – und letzten – Mal das gemeinsame Heim. Die aus Frankreich als Anreiz geschickten Münzen, die aus diesem Grund in der kleinen Pastoralgemeinschaft auftauchen, wirken dabei wie Unglückszeichen, denn Virginie selbst wird bald zur so gekauften Ware, die – im zweiten großen Zirkulationszyklus – zwischen der Île de France, dem heutigen Mauritius, und Frankreich zirkuliert.20 Paul hingegen solle in Westindien sein Glück suchen. Aus niedrigerem Stand geboren, wenngleich aus ähnlicher mésalliance entsprungen wie Virginie, soll er den Weg des bürgerlichen Aufsteigers gehen, während Virginie in das alte, rigide Ständesystem ostentativer Verschwendung zurückgerufen wird, aus dem ihre Mutter entflohen war, weil deren Vertreter ihre standesungemäße Liebesheirat missbilligt hatten.21 Paul lehnt sich aber gerade dort, wo es um ihre jeweilige Eingliederung in das ökonomische System geht, verzweifelt gegen die Restitution sozialer Grenzen und seine Unterwerfung unter das Gebot des Geldes auf; vor allem weigert er sich, wie die anderen Europäer in Übersee über den Handel ein im Zeichen des Kolonialismus stehendes »projet de fortune« (PeV, 164) zu verfolgen. Im Gegenteil plädiert er, stellvertretend für die idyllische petite société, für eine Ökonomie der Selbstversorgung: »Y a-t-il un commerce au monde plus avantageux que la culture d’un champ qui rend quelquefois cinquante et cent pour un?« (ebda.) Aber obwohl er damit als Stimme der pastoralen Utopie eine den Physiokraten22 des 18. Jahrhunderts ähnliche Position vertritt, macht der Roman nicht etwa deren Utopie, sondern vielmehr die Unausweichlichkeit der kapitalistischen, globalen Zirkulation ansichtig. Am Ende ist der geliebten Virginie die Rückkehr in die idyllische Gemeinschaft, die sich über vordergründig anökonomische (Opfer-)Gaben und eine nicht minder verschwenderische Zirku-
20 Der Gouverneur M. de la Bourdonnais bringt im Namen der französischen Tante einen »gros sac de piastres« in das Haus der kleinen Pastoralgemeinschaft (PeV, 167). 21 So die Rüge der reichen Tante im ersten Brief (PeV, 124). 22 Vgl. u. a. zur Insistenz bei Mirabeau, dass Landwirtschaft die Basis von Gesellschaft sei und Besitz ein klassenunabhängiges Naturrecht darstelle, das somit zu deren Grundlage erklärt wird, Elizabeth Fox-Genovese: The Origins of Physiocracy. Economic Revolution and Social Order in Eighteenth-Century France. Ithaca, N. Y./London: Cornell UP 1976, S. 211−216 und Sarah C. Maza: Luxury, Morality, and Social Change: Why There Was No Middle-Class Consciousness in Prerevolutionary France. In: Journal of Modern History 69 (1997), S. 199−229; hier: S. 206. Die Landwirtschaft ist demzufolge dem Handel überlegen. Eine besondere symbolische Rolle spielt dabei das Vorbild der Familie und des Vaters, der bemerkenswerterweise in Paul et Virginie nur elliptisch vorkommt: beide Vaterfiguren sind abwesend und haben Frau und Kind zurückgelassen; der männliche Rahmenerzähler hingegen ist alt und beklagt tränenreich, dass die Utopie der Pastorale, die Jahre zurückliegt, bereits gescheitert sei.
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lation von Tränen23 auszeichnet, nicht vergönnt: Sie stirbt, als sie zuletzt inmitten der Sturmsaison mit dem Schiff zurückkehrt und vor der Küste ertrinkt, weil sie sich weigert, ihre Kleidung abzunehmen, um sich schwimmend zu retten. Im ersten Zyklus bewegen sich die Figuren zwischen der kleinen, pastoralen Hütte und der großen Plantage hin und her; der Zwischenraum des Waldes wird darin Schaustätte einer inszenierten und belohnten Tugend. Im zweiten Zyklus bewegt sich Virginie auf vergrößerter Skala zwischen der kleinen Kolonie und dem weit entfernten Mutterland Frankreich. Das Meer, der zweite wilde Naturraum, ist dabei ein immer wieder beschworenes Element des Handels und der Suche nach ökonomischer fortune24, der aber von den Protagonisten nicht bezwungen werden kann. Virginies toter Körper, der nach dem Unglück im Sand gefunden wird, weist dann deutlich sichtbar Spuren des Todes auf, aber hier hat der Leser
23 Anne Vincent-Buffault hat hingegen herausgearbeitet, dass das Verhältnis zwischen Tränen und Waren im 18. Jhdt. oft analog gedacht wurde: »one gives tears, one owes tears to another or even one pays one’s tribute of tears, one buys with tears«; Anne Vincent-Buffault: The History of Tears. Sensibility and Sentimentality in France. Basingstoke et al.: Macmillan 1991, S. 17. Wenn es auch das Ziel dieser Ökonomie der Tränen ist, eine idealisierte family of tears und somit ein metonymisches Modell für die ideale Gesellschaft zu stiften, so ist doch im Falle von Paul et Virginie nicht zu verkennen, dass das Martyrium Virginies zwar vordergründig zu einer Harmonisierung der schwarzen und der weißen Teile der Bevölkerung ihrer Heimat führt, aber nicht nur bewirkt, dass die pastorale petite société durch den Tod ihrer Mitglieder nach und nach komplett ins Jenseits verschoben wird, sondern die Beschreibung der toten Virginie auch frappant der Episode an der Rivière-noire und somit einer Opferung der weiblichen Figur ähnelt. Ob dies nun eher im Zeichen einer ökonomischen Zirkulation oder aber eines anökonomischen Verschwendens steht, macht die ambivalente Semantik des Textes aus; vgl. David Sigler: ›The Ocean of Futurity, Which Has No Boundaries‹: The Deconstructive Politics of Helen Maria William’s Translation of Paul and Virginia. In: European Romantic Review 23, 5 (2012), S. 575−592; hier: S. 589. Insofern muss auch die religiöse Interpretation des Opfertodes Virginies, die Malcolm C. Cook vorlegt, relativiert werden; vgl. Malcom C. Cook: Harmony and Discord in Paul et Virginie. In: Eighteenth-Century Fiction 3, 3 (1991), S. 205−216; hier: S. 216. Zur Rolle der weißen Mutter bei Bernardin de Saint-Pierre und der um sie zentrierten, ökonomisch autarken Familie, die dennoch paradoxerweise mit Sklaverei verbunden ist, vgl. Megan Vaughan: Creating the Creole Island: Slavery in Eighteenth-Century Mauritius. Durham: Duke UP 2005, S. 140−151. 24 Die Zirkulation von Menschen und Waren über den Seeweg verbindet das Liebesglück Pauls und Virginies im Übrigen indirekt auch wieder mit der Sklavengesellschaft. Mme de la Tour schlägt vor: »Ils sont trop jeunes et trop pauvres. […] Mais en faisant passer Paul dans l’Inde pour un peu de temps, le commerce lui fournira de quoi acheter quelque esclave: et à son retour ici nous le marierons à Virginie […].« (PeV, 163) Zuvor hatte die Tante aus Frankreich betont: »elle était après tout dans un bon pays où tout le monde faisait fortune, excepté les paresseux« (PeV, 124), und der Gouverneur M. de la Bourdonnais überredet die Mutter Virginies, diese nach Frankreich zu schicken, mit den Worten: »Pourquoi vient-on aux îles? N’est-ce pas pour y faire fortune?« (PeV, 167)
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es im Vergleich mit der Sklavin mit einem durch die Christusanalogie so stark idealisierten Bild zu tun, dass man schon von einer ästhetischen Bannung des geschundenen Körpers der Sklavin sprechen kann, einer Bannung, die dessen körperlich affizierenden Schrecken in einem melodramatischen Pathostableau der geopferten Unschuld stillstellt: »Ses yeux étaient fermés; mais la sérénité était encore sur son front: seulement les pâles violettes de la mort se confondaient sur ses joues avec les roses de la pudeur. Une de ses mains était sur ses habits, et l’autre, qu’elle appuyait sur son cœur, était fortement fermée et roidie.« (PeV, 226). Der Widerstreit zwischen den »roses de la pudeur« und den »pâles violettes de la mort« auf den Wangen Virginies scheint mir an dieser Stelle genau den Punkt zu markieren, an dem der verletzbare und verletzte menschliche Körper, der in seiner rohen Affektqualität nicht in das ideologische Narrativ des second conquest integriert werden kann, in ein melodramatisches Bild der idealisierten Körpergeste verbannt wird. Innerhalb der Figurenzeichnung ist diese Szene deshalb so zentral, weil die Protagonistin hier nicht nur das Glück im Jenseits wählt, sondern zugleich Tugend und Moral über die Erfüllung einer sexuellen Lust stellt, die sie bereits vor ihrer Abreise entdecken musste.25 Beachtenswerterweise erfüllt Bernardin de Saint-Pierre mit seinem idealisierten Pharmakon gegen das gespenstisch weiter wirkende Bild der Sklavin stilistisch zugleich das Gebot eines passionierten und passionierenden Schreibens des »ébranlement moral et physique«, wie es Madame de Staël im Jahr 1800 noch einmal mit Nachdruck auf die Tugend und ihr literarisches Pathos einfordern wird: »La vertu devient alors une impulsion involontaire, un mouvement qui passe dans le sang, et vous entraîne irrésistiblement comme les passions les plus impérieuses. Il est à regretter que les écrits qui paraissent de nos jours n’excitent pas plus souvent ce noble enthousiasme.«26 Man könnte also davon sprechen, dass sich an den melodramatischen Szenen des Paul et Virginie-Mythos ein pathetisches emotionales Regime kristallisiert, das moralische vertu, literarisches Pathos und second conquest zusammenführt und im Kontext des späten 18. und des bürgerlichen 19. Jahrhunderts stil- und diskursbildend werden wird. Hier entwickelt sich darüber hinaus das Genre der Pastorale weiter, indem es mit Elementen des Melodrams und der Tragödie ange-
25 Vgl. Jean-Michel Racault: Virginie entre la nature et la vertu: cohésion narrative et contradictions idéologiques dans Paul et Virginie. In: Dix-huitième siècle 18 (1986), S. 389−404 sowie Catherine Larrère: Du jardin de Julie au jardin de Virginie. In: Dix-huitième siècle 33 (2001), S. 497−506. 26 Madame de Staël: De la littérature [1800]. Herausgegeben von Gérard Gengembre u. Jean Goldzink. Paris: Flammarion 1991, S. 68.
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reichert wird.27 Die Todesszene Virginies ist aber mit besonders pathetischem Enthusiasmus aufgeladen, weil ihr Opfer rückwirkend den geschundenen Leib der Sklavin erlösen soll, die innerhalb des ersten Zyklus stellvertretend für die moralisch unerlöste Sklavenhaltergesellschaft auf Mauritius stand. Nach Virginies Tod weinen endlich alle, weiße und schwarze Bewohner der Insel, gemeinsam: »tant la perte d’un objet aimable intéresse toutes les nations, et tant est grand le pouvoir de la vertu malheureuse, puisqu’elle réunit toutes les religions autour de son tombeau.« (PeV, 229)
II Zur sentimentalen family of tears und der modernen Lesegemeinschaft Wie sich gezeigt hat, beschwört Bernardin de Saint-Pierre anlässlich der Todesszene Virginies erneut jene idealisierte Universalität des Gefühls, die er auch anderweitig immer wieder hervorgehoben hat. So im Avis der Ausgabe von 1789, wo es über den Erfolg des Romans heißt: »Je dois ce succès, non à mes émotions personnelles, mais au sentiment général de la nature, qui influe sur mes lecteurs comme sur moi.« (PeV, 263; Hervorh. KP) An gleicher Stelle ist die Rede vom »sentiment d’humanité« (PeV, 264), den die »beauté morale d’une petite société« (Avant-propos 1788; PeV, 251) exemplarisch behandeln könne. Die Sprache des Gefühls wird hier vom Vorzeige-Schüler und guten Freund Rousseaus28 zur Sprache der Natur und der Menschlichkeit, ja zur Sprache einer Moral erhoben, die sich besser für internationale Verständigung eigne als rationale Diplomatie: »Au moins j’ai la consolation d’éprouver que la langue de la nature est toujours entendue, même chez les nations rivales, et qu’elle peut encore les rapprocher mieux que la langue des traités diplomatiques.« (PeV, 268) Diese politisch instrumentalisierte Universalität des Gefühls sei folglich zeitlos und allgemein gültig, wie es in den Études de la nature heißt: »La raison varie d’âge en âge, et le sentiment est toujours le même.«29 Interessant ist nun, dass man bei dieser Vorstellung tatsächlich vom Symptom eines gemeinschaftsbildenden emotio-
27 Jean Fabre hielt Paul et Virginie für eine »pastoral wedded to tragedy«; Jean Fabre: Lumières et romantisme. Energie et nostalgie de Rousseau à Michiewicz. Paris: Klincksieck 1980, S. 250. 28 Bernardin de Saint-Pierre hat wohl auf die persönliche Empfehlung Rousseaus hin zur größeren Kontrastbildung seiner Erzählung in Form der französischen Gesellschaft ein negatives Gegenbild der Idylle hinzugefügt; vgl. Anastase Ngendahimana: Les idées politiques et sociales de Bernardin de Saint-Pierre, S. 72. 29 Œuvres complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836, S. 384.
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nalen Regimes ausgehen kann.30 Nicht nur führt Bernardin de Saint-Pierre das sentiment als Grundfeste einer alle Zeiten überdauernden und Landesgrenzen überschreitenden Menschlichkeit aus, die Rezeption seines Romans hat auch bei individuellen Lesern einen vergleichbaren Effekt gezeitigt: Sie treten mit ihrem Autor in eine Art sentimentale Tauschgemeinschaft ein. Der Autor war zum Beispiel nicht nur mit Napoleon, sondern auch mit dessen Brüdern Louis und Joseph Bonaparte in Briefkontakt. Diese bestätigen ihm u. a.: »Paul et Virginie m’a coûté bien des larmes, et sans doute Paul n’en versait pas plus lors de sa séparation avec sa sœur« (Louis Bonaparte im Alter von 18 Jahren, 22. Juni 1793); »Votre plume est un pinceau« (Napoleon am 13. Dezember 1797 / 23. Frimaire VI); und: »J’ai fait lire votre Paul et Virginie à quelques dames de ce pays, que je vois habituellement; elles avouent que la langue de Tasse n’a rien produit de si doux; elles se sont passé le livre de l’une à l’autre, et toutes en ont la même opinion« (Joseph Bonaparte am 17. November 1806 aus Neapel).31 Dass diese spezielle Lesergemeinde von Paul et Virginie nicht ohne die politischen Entwicklungen der Zeit gedacht werden kann, versteht sich. Wenn das ideale sentiment italienische Damen im Jahr 1806 noch ebenso berührt haben soll wie den jungen Franzosen 1793, so wird hier ein Prinzip emotionaler ›Völkerverständigung‹ offen propagiert. Verschleiert wird davon jedoch die Tatsache, dass sich der ältere Bruder Joseph Bonaparte ja nur in Italien aufhielt, um es dem französischen Herrschaftsgebiet anzugliedern – so wie er später als König José I. von Spanien dort für den blutigen Bürgerkrieg mitverantwortlich war. Das Prinzip des second conquest, der von Frankreich ausgeht, erstreckt sich also mitnichten nur auf die Kolonien in Übersee, sondern wird auch im Zuge der Ausbreitung der republikanischen Ideale bzw. der militärischen Herrschaft Napoleons in Europa beschworen. Dass hier dem Politischen gerade das sentiment und nicht die ratio zur Seite gestellt wird, ist nicht nur hinsichtlich der eingangs beschriebenen Koppelung von politischem und emotionalen Regime von Bedeutung. Auch die Verbindung des Sentimentalen mit dem Ökonomischen tritt immer wieder deutlich hervor: Louis Bonaparte bestätigt etwa, dass ihn die Lektüre des Romans zahlreiche Tränen ›gekostet‹ hätten und trägt im Gegenzug Bernardin de Saint-Pierre scheu die Freundschaft an.32 Im Namen eben jener Freundschaft gibt dann der ehema-
30 Vgl. zur taktischen Inszenierung der Familie (metonymisch: der Nation) als »victim of lack« sowie dem dazugehörigen Pathos des »lachrymose process of reading«, Roddey Reid: Families in Jeopardy, S. 110. 31 Vgl. Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre: Œuvres complètes. Bd. 2. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836, S. 622 u. 625. 32 Vgl. ebd., S. 622.
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lige Schüler, Freund und Herausgeber Bernardin de Saint-Pierres, Louis Aimé-Martin, eine Ausgabe der Œuvres complètes (1836) an einen Herrn Sturzenbecker weiter mit der handschriftlichen Widmung: »souvenir d’un ami de France«.33 Ob dieses Buch, das in der Universitätsbibliothek der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz steht, an den schwedischen Dichter Oscar Patric Sturzen-Becker (1811–1869) gerichtet war, ist nicht mehr mit Sicherheit festzustellen. Dennoch erlaubt diese Form der Zirkulation einen Rückschluss darauf, wie im sentimentalen Tauschprozess sich durch das Lesen und die Produktion literarischer Werke die kleine family of tears34 zuerst auf die Gemeinschaft von Autor und Leser ausweitet, danach auf die der französischen Lesegemeinschaft und schließlich idealiter auf ganz Europa und die Menschheit in aller Welt. Diese Utopie einer sentimentalen Leserschaft setzt sich bis ans Ende des 19. Jahrhunderts fort, wenn etwa Jules Leclercq 1895 in seinem Reisebericht Au pays de Paul et Virginie schwärmt: »J’éprouvais une bien douce émotion à la vue de cette terre, dont le nom évoque le touchant souvenir de deux figures qu’il nous semble avoir connues quand nous avions quinze ans. Voir l’île Maurice, qui fut l’île de France, n’était-ce pas l’accomplissement d’un rêve d’enfance qu’ont formé tous les lecteurs de Paul et Virginie?«35 Dass diese Vielzahl an Lesern vor allem auch dem Umstand geschuldet war, dass der Roman neben Goethes Werther als einer der ersten, europaweit übersetzten36 Bestseller der Moderne gelten darf, zeigt, dass die Popularität und Ubiquität dieses Kindheitstraums nicht losgelöst von Prozessen der Warenproduktion und -zirkulation verstanden werden kann.37
33 Vgl. die Ausgabe Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre: Œuvres complètes. Bd. 1, Titelei mit der Signatur B 222/1 am Standort Philosophie der Universitätsbibliothek der JGU Mainz. 34 Anne Vincent-Buffault spricht vom sogenannten »Rousseau-Effekt« in der Literatur des 18. Jahrhunderts, wo Gemeinschaften oft symbolisch über den Austausch von Tränen gebildet werden. Definiert wird diese Familie der Tränen über ihre bürgerlichen Werte – eine »micro-anthropology of the mythical family« – sowohl auf der Ebene des Plots als auch zwischen Autor und Publikum. Anne Vincent-Buffault: The History of Tears, S. 12 u. 23. 35 Jules Leclercq: Au pays de Paul et Virginie. Paris: Plon 1895, S. 43. 36 Die Bande der Freundschaft weiteten sich z. B. auch auf Helen Maria Williams aus, die Übersetzerin und persönliche Freundin Bernardin de Saint-Pierres, die in ihren Briefen über die Terreur davon berichtet, wie sie mit dem Autor 1793 idyllisch beim Tee sitzt, als die Nachricht kommt, dass alle Engländer in Frankreich unter Arrest gestellt werden sollen; Helen Maria Williams: Letters containing a Sketch of the Politics of France From the Thirty-First of May 1793, till the Twenty-eighth of July 1794. Bd. 1. London: Robinson 1795, S. 10. 37 Der Roman wurde im Zeitraum bis 1914 ganze 207 Mal neu aufgelegt; die Nouvelle Héloïse Rousseaus im Vergleich dazu nur 74 Mal; vgl. Jean-Marie Goulemot: L’Histoire littéraire en question: L’Exemple de Paul et Virginie. In: Jean-Michel Racault (Hg.): Études sur Paul et Virginie. Paris: Dider 1986, S. 203−214; hier: S. 205. Er wurde nicht nur international, sondern vor allem auch von
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Auf den ersten Blick ist die Beschwörung des universalen sentiment zwar auf das Projekt der Demokratisierung, den Frieden zwischen den Völkern und die Abschaffung der Sklaverei bezogen. Doch nicht nur mit Blick auf die kapitalistisch beförderte Konstitution der Lesergemeinde des Romans, sondern auch unter Berücksichtigung der bereits besprochenen Episode der Rivière-noire in Paul et Virginie ist das ökonomische Dispositiv aus Bernardins affektischer Investition in die Völkerverständigung nicht mehr wegzudenken. Denn das universale sentiment der Menschlichkeit ist eben unweigerlich auch Trägersubstanz des second conquest, der eine Angleichung der Welt an Europa, welches dieses Recht auf Gefühl vertritt, legitimiert, aber über die Tatsache hinwegtäuschen muss, dass dies nur aufgrund der Reduktion des Menschen auf das Dasein einer zirkulierenden Ware zu erreichen ist. Bernardin war sich dieser Doppelzüngigkeit des sentimentalen Diskurses durchaus bewusst, wie eine Textstelle zeigt, in der er französische »femmes sensibles« anklagt, ihren Kaffee zu genießen, ihre Wangen zu schminken und über Tragödien viele Tränen zu vergießen, dabei aber zu vergessen, dass alle Produkte aus Übersee mit dem Blut der Sklaven getränkt seien.38 Bevor ich nun einige spätere Bearbeitungen des Textes besprechen möchte, gilt es festzuhalten, dass in Bernardin de Saint-Pierres Fassung Virginie als Symbolfigur des sentiment einen durchweg ambivalenten Status hat. Ist sie einerseits qua Analogie Ware und Opfer der ökonomischen Zirkulation, so wird sie andererseits durch ihren Tod Stifterin einer die ganze Insel umfassenden family of tears, die gegen die Vertreter fataler Ökonomie das auf Stasis und Selbstgenügsamkeit ausgerichtete Familienideal von Paul, Virginie und ihren beiden
Lesern aus unterschiedlichsten Bildungsschichten gelesen, bald vor allem auch als Schulstoff von Kindern, im Sinne eines »manuel de pitié filiale et de bons sentiments«; vgl. ebda., S. 209 f. Vgl. dazu die kritische Wiederaufnahme in Flauberts Madame Bovary, der darin über das Zitat von Paul et Virginie als Lesestoff seiner Protagonistin den Abfall von Literatur in den realitätsfernen Kitsch beklagt; Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de Province [1857]. Herausgegeben von Thierry Laget. Paris: Gallimard 2001, S. 84 f. Schon bei Bernardin de Saint-Pierre seien, so Marc Föcking, Rousseaus Ideale »auf das Niveau der Massenunterhaltung abgesenkt« worden, wonach für Emma das ›Natürliche‹ und Echte nur noch im Modus des Exotischen zu haben sei, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unweigerlich an billige Massenmedien gebunden ist; Marc Föcking: Paul et Virginie. In: Barbara Vinken/Cornelia Wild (Hg.): Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch. Berlin: Merve 2010, S. 219−223; hier: S. 221. 38 Er verbindet dies mit der Problematisierung des Konsums in Europa: »Ces belles couleurs de rose et de feu dont s’habillent nos dames, le coton dont elles ouatent leurs jupes, le sucre, le café, le chocolat de leur déjeuner, le rouge dont elles relèvent leur blancheur, la main des malheureux Noirs a préparé tout cela pour elles. Femmes sensibles, vous pleurez aux tragédies, et ce qui sert à vos plaisirs est mouillé des pleurs et teint du sang des hommes!« (PeV, 289)
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Müttern zur Norm erhebt.39 Trotzdem muss man aber gerade aufgrund des Erzählrahmens,40 der dieses Geschehen in die 1720er Jahre verlagert, indirekt das Scheitern dieses Ideals und den späten Sieg des Kapitals über das Gefühl annehmen. Durch die intrikate Rezeptionslenkung des Lesers, der sich über seine eigenen Tränen mit dem weinenden Erzähler des Romans und den intradiegetischen Figuren verbrüdert (vgl. PeV, 248, 252 u. 268), wird der Text am Ende schließlich dennoch zum Komplizen des second conquest. Und auch überall dort, wo Bernardin de Saint-Pierre melodramatische Tableaux41 der freiwilligen Unterwerfung der Kolonie unter die sentimentale Herrschaft der Weißen inszeniert, geht der Text Hand in Hand mit der Ideologie der empfindsamen Eroberung der Welt. Obwohl also innerhalb der Romanhandlung die kapitalistische Zirkulation als neue Fatalität im kapitalistischen Zeitalter der Moderne verteufelt wird, erzählt der Text zugleich deren sentimentale Ermöglichungsbedingung: Er liefert das emotionale Regime des second conquest und ist deshalb unweigerlich in eine Logik eingeschlossen, die alles – und insbesondere die sentiments – der Ökonomie unterordnet. Dennoch gelingt es dem Roman, über die Reste des Affekts, der in Gestalt der geschundenen Frauenkörper ausgestellt wird, das pathetische Regime des second conquest und seiner melodramatischen Gesten zumindest stellenweise zu durchbrechen.
39 Im Roman hatte es zuvor nach der Rückkehr Virginies von der Rivière-noire geheißen: »Madame de la Tour embrassa sa fille sans pouvoir parler; et Virginie, qui sentit son visage mouillé des larmes de sa mère, luit dit: ›Vous me payez de tout le mal que j’ai souffert!‹« (PeV, 136) 40 Zu dieser elegischen Analepse vgl. Mark Darlow: ›Apprendre aux hommes à mourir‹: The Theatrical Adaptations of Paul et Virginie. In: European Studies 17 (2001), S. 129−142; hier: S. 132. 41 Bettine Menke hat festgehalten, dass das tableau auch im Erzähltext ein Ort des Eindringens des Melodramatischen darstellt, weil hier an die Stelle fortschreitender Handlung Lücken, Sprünge und Umschläge treten, deren Plötzlichkeit und Kontingenz für die melodramatische Welt und deren Theatralisierung im signifikanten Einzelbild stehen, weil »das Theater die wirkmächtige Metapher des trügerischen Spektakels stellt, hinter dessen Oberflächen nicht-sichtbare Einrichtungen die sichtbaren Effekte der plots ermöglicht haben müssen«. Zugleich wird das tableau ein »nicht-dramatischer Zeit-Raum der Empfindung«; Bettine Menke: Glückswechsel, Kontingenz und Tableaux in Balzacs La peau de chagrin. In: Bettine Menke/Armin Schäfer/Daniel Eschkötter (Hg.): Das Melodram. Ein Medienbastard. Berlin: Theater der Zeit 2013, S. 204−229; hier: S. 205 f.
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III Gemeinschaft, Affekt und Melodram auf der Bühne In der opéra-comique Paulin et Virginie ou Le Triomphe de la vertu von JeanFrançois Le Sueur und Alphonse Dubreuil, die am 13. Januar 1794 am Théâtre Feydeau in Paris uraufgeführt wurde, geht nun zwar mit dem tragischen Ende und dem Erzählrahmen das sakrifizielle Pathos verloren; die universale Sentimentalgemeinschaft rückt dort allerdings noch deutlicher in den Vordergrund. Die Oper entstand in Rivalität zu einer frühen Version von Rodolphe Kreutzer aus dem Jahr 1791 und ist symptomatisch für die Rezeption des Textes zur Zeit der Französischen Revolution. Die Rivalität der beiden Pariser Spielstätten Favart und Feydeau war wie in diesem Fall nicht nur künstlerisch produktiv, sondern zeigte auch, inwiefern gleiche Stoffe politisch unterschiedlich bearbeitet wurden. Die salle Feydeau, einstmals das théâtre de Monsieur (und also unter der Ägide des Bruders von Ludwig XVI., des comte de Provence), war allgemein den neuen republikanischen Ideen gegenüber eher feindlich gesinnt, ja sie galt später nachgerade als Keimzelle eines »cercle antirévolutionnaire« und wurde von der Polizei überwacht, weil die Zuschauer sich weigerten, republikanische Gesänge anzustimmen.42 Kreutzer wiederum wird später zusätzlich Ballettversionen seiner eigenen Variante u. a. bei der Kaiserin Josephine aufführen lassen, die man bereits als »la parodie de l’adaptation de l’adaptation du roman«43 bezeichnen muss. Aus diesem Grund handelt es sich bei diesen diversen Neuauflagen immer um eine Anpassung des literarischen Stoffes an eine tagesaktuelle politische Propaganda, für die die Oper als spektakuläres Medium noch lange eingesetzt wurde44 – insbesondere aufgrund der affektisch gesteigerten Rezeptionssituation im Theater, die eine andere Affizierung des Rezipienten erlaubte als das stille Lesen des Romans. Auf dem Weg dieser vielseitigen Aneignungen wird vor allem
42 Jean Montgrédien: La Musique en France des Lumières au Romantisme, 1789–1830. Paris: Harmoniques/Flammarion 1986, S. 91. 43 Cécile Champonnois: Échos de l’océan Indien dans les adaptations musicales et choréographiques de Paul et Virginie. In: Jean-Michel Racault/Chantale Meure u. a. (Hg.): Bernardin de Saint-Pierre et l’océan indien: Actes du colloque international organisé à la Réunion par le CRLHOI, centre de recherches littéraires et historiques de l’océan indien, du 30 novembre au 4 décembre 2009. Paris: Classiques Garnier 2011, S. 519−534; hier: S. 522. 44 Vgl. David Charlton: Genre and Form in French Opera. In: Anthony R. DelDonna/Pierpaolo Polzonetti (Hg.): The Cambridge Companion to Eighteenth-Century Opera. Cambridge: Cambridge UP 2009, S. 155−183; hier: S. 178 sowie Jean Montgrédien: La Musique en France des Lumières au Romantisme, S. 50−61.
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das melodramatische Register von Paul et Virginie weiter gesteigert.45 Dies ist selbstverständlich dem Konsum durch ein zahlendes Publikum förderlich; andererseits treten dadurch sentimental besetzte Mythen der kapitalistischen Warengesellschaft vielleicht noch deutlicher hervor. Bernardin de Saint-Pierre hatte selbst vorgeschlagen, die szenische Darstellung kurz vor der Rettung der entflohenen Sklavin zu beginnen.46 Dies nimmt sich Dubreuil in seinem Libretto zu Herzen und konzentriert die Handlung stark auf die Episode um die hier Sara genannte Sklavin. Der gesamte zweite Akt ist der Handlung im Wald gewidmet; dort wird auch ein genuines »melodrame« zur Aufführung gebracht.47 Auffällig ist zudem die Rahmung im ersten und dritten Akt: Denn die Oper beginnt mit einer Hymne der Indiens, die die Sonne als Gott – »astre puissant«48 – anbeten, und endet mit der Rettung Virginies vor ihrer drohenden Entführung nach Frankreich, eben durch jenen Chor der Ureinwohner. Inmitten eines spektakulär inszenierten Sturmes wird die Rettung sodann als Apotheose der belohnten Tugend und damit als Apotheose der von den noirs marrons im Wald bereits zuvor geretteten Virginie in Szene gesetzt. So rufen die Indiens aus: »Il faut mourir, ou la reprendre.«49; »La voici, la voici, céleste Virginie«50. Ob Dubreuil und der spätere Lieblingskomponist und Hofkapellmeister Napoleons Le Sueur mit der Sakralisierung Virginies und der emphatisch beschworenen Sonne im Stück der antirepublikanischen Tendenz ihres Hauses Rechnung zollten oder nicht, ist schwer nachzuvollziehen. Denn auch sie partizipieren an einem Diskurs, der beschreibt, wie durch Musik das ideale Gefühl und die Tugend der französischen citoyens gebildet werden könne51, so dass die revolutionäre Ideologie in den Vordergrund tritt.
45 Marc Serge Rivière: ›La scène est à l’isle de France‹, S. 167−190; hier: S. 177. Auch in der opéra-comique war seit 1798 eine größere Freiheit im Bereich der Genrekonventionen möglich; vgl. Jean Montgrédien: La Musique en France des Lumières au Romantisme, S. 94. 46 Vgl. den Avant-propos von 1789 (PeV, 267). 47 Alphonse Dubreuil: Paulin et Virginie, opéra en trois actes, paroles du c. Dubreuil, musique du c. Le Sueur. Paris: Huet 1793, S. 47 f. Im Roman selbst ist dies vorfiguriert, als die beiden Kinder gemeinsam mit dem Erzähler sowie ihren Sklaven Domingue und Marie pastorale und biblische Szenen aufführen (PeV, 150 f.). 48 Im Gesang der Hauptfiguren steht – nicht unähnlich der Illustrationen von Bernardins Prachtausgabe – Arbeit, sentiment und Ehe (»tendre hyménée«, ebda., S. 15) im Mittelpunkt. Rivière nennt dies »une dose très saine de morale laïque«; Marc Serge Rivière: ›La scène est à l’isle de France‹, S. 172. 49 Alphonse Dubreuil: Paulin et Virginie, S. 74. 50 Ebda., S. 75. 51 Vgl. Jean Montgrédien: La Musique en France des Lumières au Romantisme, S. 50.
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Was nun die Zirkulationsformen im Libretto Dubreuils angeht, steht aufgrund der Konzentration der Handlung der erste Typus im Mittelpunkt. Die Tatsache, dass dadurch die Zirkulation Virginies elliptisch wird, ist jedoch mitnichten willkürlich, denn so steht die Unterwerfung der Sklaven unter die Herrschaft der sanften – und bereits gottgleichen – Herrin Virginie an erster Stelle, ohne am Ende deren Leben zu fordern.52 Deutlich wird dies unter anderem, als Sara bei Virginie ankommt, »excédée de fatigue«, und sich Virginie als neue maîtresse erwählt: SARA, à genoux. Femme belle, homme bon: vous avoir pitié de moi; vous se laisser toucher par mes larmes & mes prières; moi, mourir de fatigue & de peine. PAULIN. Ne crains rien, ne crains rien, te dit-on; lève-toi, approche, parle; qu’as-tu? SARA. Etre tout hors de moi... tremblant de tout mon corps.... ciel... áh!.. C’est elle peut-être......53 SARA, baisant le bas de la robe de Virginie. Ah! Que n’êtes-vous maîtresse? Et moi Suivre votre loi!54
Das gesteigerte Pathos der melodramatischen Rede und des Gesangs stellt dabei ganz offen die Verbindung von Macht und Gold als Ursache des empörten sentiment aus: PAULIN. Fatal abus du pouvoir & de l’or, que tu parais condamnable à mon coeur! Peut-on penser, sans frémir d’horreur, à quel excès tu rends l’homme barbare & criminel! Pauvre
52 Es ließe sich mutmaßen, dass das Libretto insofern der reinen republikanischen Propaganda ausweicht, als mit der Auslassung des zweiten Zyklus die Kritik am Ancien Régime zumindest nicht auf heimischem Boden ausgetragen wird. 53 Alphonse Dubreuil: Paulin et Virginie, S. 2 8. Hier und in Folge handelt es sich um die 9. Szene des 1. Akts. 54 Ebda., S. 32.
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malheureuse! Que je te plains! Que vas-tu devenir!55
Im Vergleich zur Vorlage wurde dabei bezeichnenderweise die Tatsache verändert, dass nicht ein grausamer Herr der Grund für Saras Flucht gewesen ist, sondern vielmehr die in die Jahre gekommene Frau eines jungen maître (»cette méchante femme«56), der der schönen Sara nachgestellt hatte. Geschlagen wurde sie also von einer alten Frau, die im Text über die Parallele mit der »barbare tante«57 in Frankreich ein doppelköpfiges Monstrum missbrauchter Macht verkörpert. Die beiden Frauenfiguren werden so zu Symbolfiguren eines ungnädigen, ›alten‹ Regimes stilisiert, das die junge Republik überwinden will.58 Um noch einmal den Auftritt des Anführers der noirs marrons in Augenschein zu nehmen: Hier fällt auf, dass bei Dubreuil die Rede noch mehr an Bedeutung gewinnt; schließlich wird an dieser Stelle die Basis für die weitere Plotentwicklung gelegt, so dass im dritten Akt Le Chef als Begründung, warum er und seine Truppe eingriffen und Virginie retten wollen, die »récompense« der guten Tat erneut anführt. LE CHEF. Vous, aimables enfans, Vous avoir ce matin fait une œuvre admirable: Nous l’avoir vue, en être encor tout enchantés! PAULIN. Eh! Quelle œuvre admirable ? LE CHEF. Vous avoir obtenu d’une femme intraitable
55 Ebda., S. 30. 56 Vgl. das Trio ebda., S. 31. 57 Ebda., S. 18. Im Drama Paul et Virginie, drame en cinq actes et en prose de B. C. G. (Gournay) (1829), das wohl zwischen 1788 und 1806 entstanden ist und im Recueil dramatique publiziert wurde, taucht die Tante selbst auf Mauritius auf: »véritable Satan de la comédie sentimentale«; Marc Serge Rivière: ›La scène est à l’isle de France‹, S. 180. 58 Durch die Abänderung der Familienkonstellationen im Stück präsentieren die Autoren eine Variation der nationalpädagogischen family romance während der Französischen Revolution, wofür ganz offensichtlich Gender-Kategorien eingesetzt werden. Das alte Frankreich soll dabei durch das junge, tugendhafte Frankreich ersetzt werden, das Virginie allegorisch repräsentiert. Vgl. konzeptuell Lynn Hunt: The Family Romance of the French Revolution. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1992. Zur äquivalenten Funktion im Roman siehe Roddey Reid: Families in Jeopardy, S. 113.
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Le pardon d’un esclave avec sa liberté. Ce trait de générosité Vous rendre à jamais cher a toutes nos peuplades: L’avoir dit aussitôt à tous mes camarades; Eux avoir résolu, d’un unanime accord D’en témoigner à vous notre joyeux transport. Au Dieu de la lumière, En tout lieux y en tout tems, Nous adresssr nos chants: Notre, hommage sincère, Les adresser de même à vous, tendres amants! Les mortels bienfaisants Sont des Dieux sur la terre LE CHOEUR répète: Au Dieu , &c.59 LE CHEF. Etre utiles à vous, Etre assez douce récompense: Ah! Puissiez-vous encore avoir besoin de nous!60
In dieser Adaptation des second conquest wird also bereits deutlich, was Peter Brooks dann für die Blütezeit des Melodrams insgesamt annimmt: »melodrama becomes the principal mode for uncovering, demonstrating, and making operative the essential moral universe in a post-sacred era«.61 Er spricht dabei von »the cosmic moral sense of everyday gestures«.62 Gerade zur Zeit der Terreur wurde auf den Pariser Bühnen das Melodram für die eingangs erwähnte nationale Pädagogik63 dieses neuen »moral« oder »emotional common sense« ähnlich in Anspruch genommen wie die Pastorale.64 Nicht ohne Grund steigert sich das rhetorische Pathos bei Dubreuil gerade dort, wo sich Paulin angesichts der drohenden Ent-
59 Alphonse Dubreuil: Paulin et Virginie, S. 55 (Szene 5, Akt II). 60 Ebda., S. 60 (Szene 2, Akt III). 61 Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven/London: Yale UP 1976, S. 15. 62 Ebda., S. 14. 63 In dieser Variante des Plots kommt es am Ende tatsächlich zu einer Erfüllung der Idylle im Diesseits, wenn im letzten Gesang die Vaterfigur Saint-Albe verkündet: »Voilà mes plaisirs les plus doux, &c.« Alphonse Dubreuil: Paulin et Virginie, S. 77. 64 »The Revolution attempts to sacralize law itself, the Republic as the institution of morality. Yet it necessarily produces melodrama instead, incessant struggle against enemies, without and within, branded as villains, suborners of morality, who must be confronted and expunged, over and over, to assure the triumph of virtue.« Peter Brooks: The Melodramatic Imagination, S. 15.
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führung Virginies in Rage redet.65 Er wettert hier gegen »un acte injuste, tyrannique, dont s’indignent la tendresse & l’honneur«.66 Wiederholt werden Vertreter des Ancien Régime als Barbaren bezeichnet.67 Durch die Gegenüberstellung des kalten ordre, den der Kapitän des Schiffes im Namen der »barbare tante« walten lassen soll, und der menschlichen pitié68 der Indiens, wird so im Schwarz-Weiß des Melodrams die Forderung nach einer universalen Gültigkeit des sentiment noch unterstrichen. Ähnlich wie Bernardin de Saint-Pierre die Sprache des sentiment, so hat auch der Komponist Le Sueur im Übrigen Musik als die universale Sprache schlechthin verstanden: »La parole ne fait que nommer, exposer le sentiment; le ton exprime le sentiment même; le ton nous le fait éprouver, le fait passer en nous. La parole se fait dans un pays & non dans l’autre, puisque les langues changent. Le ton se fait entendre dans tous les pays, le ton est le langage universel«.69 Musik und Libretto gehen hier also Hand in Hand, was die Produktion des vorbildlichen citoyen angeht. Im vorliegenden Fall wird dabei insbesondere die »family romance« der Revolutionsepoche, von der Lynn Hunt gehandelt hat, für die Universalisierungsforderung in Anschlag gebracht: Innerhalb der Figurenkonstellation wird nicht nur die Mutter Pauls durch einen – sehr passiven – Vater ersetzt, sondern das affektive Gewicht (»affective charge«70), das im zeitgenössischen Diskurs auf Inszenierungen von Brüderlichkeit lastet, auch auf die unterworfenen schwarzen Brüder in der Kolonie ausgeweitet. Dadurch erhält der Text vor dem Hintergrund der Französischen Revolution eine neue sozialutopische Achse, die im Original fehlt, denn der Sturm führt in der Tat zu positiveren sozialen Verhältnissen71 – gleichwohl ganz im Sinne der ökonomischen Ideologie des second conquest. Bei James Cobb, dessen Oper am 1. Mai 1800 in London uraufgeführt wurde und eine
65 Alphonse Dubreuil: Paulin et Virginie, S. 63. 66 Ebda., S. 69. 67 Vgl. ebda., S. 71. 68 Vgl. ebda., S. 70 f. 69 Jean-François Le Sueur: Exposé d’une musique une, imitative, et particulière à chaque solemnité. Bd. 4, Paris: Hérissant 1787, S. 23. Im gleichen Text hebt er hervor: »le cœur humain est le livre vivant où le Compositeur doit sans cesse étudier«; ebda., S. 10. Zum Zusammenbruch der kritischen Distanz in der Musik, die dadurch erreicht werden soll, vgl. Tili Boon Cuillé: The Spectacle of Nature in Paul et Virginie: Natural History, Opera and the Novel. In: Forum for Modern Language Studies 48, 2 (2012), S. 149−163; hier: S. 160. Cuillé arbeitet dort heraus, dass Bernard Germain de Lacépèdes 1785 erschienene Poétique de la musique als missing link von Bernardin zu Le Sueur verstanden werden kann, der sich 1787 im Exposé d’une musique auf Lacépède bezieht. Dieser kannte Bernardin de Saint-Pierre durch gemeinsame Tätigkeiten im Jardin du Roi. 70 Vgl. Lynn Hunt: The Family Romance of the French Revolution, S. 13. 71 Vgl. Katherine Astbury: Narrative Responses to the Trauma of the French Revolution, S. 29.
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weitere Neubearbeitung des Stoffes darstellt, wird diese Achse übrigens explizit auf die »transnational sentimental community«72 des Empire ausgeweitet. Im Zeitalter drohender Aufstände in den Kolonien wurde so u. a. für eine sanfte Hand der Herrschaft geworben, die bei Cobb auf das Ideal der englischen Herren projiziert und gegen spanische Ausbeuter ins Feld geführt wird.73 Dennoch hat weder dort noch in Frankreich die Verbrüderungsszene viel mit einer Gemeinschaft von Gleichen zu tun gehabt; schließlich ist auf einer Abbildung der Kostüme für eine Inszenierung des Kreutzer-Stückes im Jahr 1810 klar erkennbar, dass die schwarzen Brüder sich der weißen Virginie unterordnen sollen (vgl. Abb. 1). In Frankreich erlebte Paul et Virginie dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine erneute Renaissance, als Victor Massé und Michel Carré in ihrer Oper das tragische Ende der Handlung wiederherstellen.74 Das Stück wurde am 15. November 1876 im Théâtre National Lyrique zum ersten Mal gegeben. Dort übernimmt die entflohene Sklavin, hier Méala, eine für die Handlung weitaus wichtigere Funktion, und ihr Herr, Monsieur de Sainte-Croix, der mit dem 1. Bariton der Oper besetzt ist und laut Titelei »une importance capitale«75 hat, stellt Virginie so vehement nach, dass sich das Gewicht der Handlung deutlich auf den zweiten Zirkulationszyklus verschiebt. Es ist also dieses Mal die Reise Virginies nach Frankreich, die im Fokus steht. Noch auf der Insel wird sie nicht nur strukturell mit der Sklavin gleichgesetzt, sondern auch aufgrund des exzessiven erotischen Begehrens, das ihr Sainte-Croix mit dem Jagdgewehr bewaffnet nachschickt. Sainte-Croix, der auf seiner Plantage als strafender und obszöner Vater76 auftritt, begehrt Virginie, nachdem er sie zum ersten Mal77 gesehen hat, wird aber
72 Luisa Calè: Sympathy in Translation: Paul et Virginie on the London Stage. In: Romanticism on the Net: An Electronic Journal Devoted to Romantic Studies 46 (2007), S. 14. 73 Hier verstößt der Spanier Don Diego gleich zu Beginn gegen die Idylle, als er dort gewaltsam (»intruder«) eindringt: »Let me pass – I will go in«; James Cobb: Paul and Virginia: A Musical Drama in Two Acts, as Performed at the Theatre-Royal, Covent-Garden. London: T. Rickaby 1800, S. 4. In Angesicht dieser Bedrohnung schließen sich dann die Inselbewohner den Engländern zur Verteidigung der »Common Cause« an: »But once the enemy in view, / shake hands – we soon are friends«; ebda., S. 7. Sinnfälligerweise wird Virginie in dieser Version am Ende ebenfalls gerettet. 74 Jean-Marie Goulemot: L’Histoire littéraire en question, S. 208 stellt die These auf, dass der Roman, der während des Second Empire noch viel gelesen wurde, ab 1871 an Popularität einbüßte, weil seine Botschaft sich mit den politischen Interessen Frankreichs in Afrika schlecht in Einklang bringen ließ. 75 Victor Massé: Paul et Virginie, opéra en trois actes & six tableaux, poème de MM. Jules Barbier et Michel Carré, musique de Victor Massé. Partition, Chant et Piano, réduite par H. Salomon. Paris: Grandremy & Henon 1876, Titelei. 76 Vgl. ebda., S. 84 f. 77 Vgl. ebda., S. 90.
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Abb. 1: Paul et Virginie, comédie mêlée d’ariettes de Kreutzer et Favières: costume de Mlle Alexandrine Saint-Aubin (rôle de Virginie), 1810. Quelle: Gallica.bnf.fr
gerade nicht von ihr zur Tugend bekehrt werden.78 Sainte-Croix verkörpert somit ein autokratisches männliches Regime, das auf den Innenraum der bürgerlichen Familie übergreift und dort durch sein sexuell negativ konnotiertes Machtstreben zum Scheitern des sentimentalen Bundes führt. In gewisser Weise spiegelt sich
78 Angedeutet wird dies bereits früh durch den Zusammenschluss von pardonner und ordonner im Reim; vgl. ebda., S. 107 f.
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darin nicht nur die negative geschichtliche Erfahrung des Second Empire, die wiederum im Imaginären durchgespielt werden muss, sondern auch das Scheitern der republikanischen Hoffnung, durch Gefühlsidealität eine vorbildliche Gemeinschaft von citoyens gründen zu können. Auch wenn damit das Gefühl vordergründig erneut in jenen refuge abseits der Politik verbannt erscheint, den Reddy dem emotionalen Regime gegenüberstellt, so kann dennoch nicht die Rede davon sein, dass das Stück einer affektischen Investition in das Politische ermangele. Dies wird vielmehr ex negativo über die ins Ökonomische übersetzte Rolle der bürgerlichen Familie evident. Die Kritik an der Macht einer unersättlichen Luxusgesellschaft wird dort offenkundig ausgetragen, wo Virginie in einer signifikanten Spiegelszene mit Schmuck79 ausstaffiert wird, Domingue und Paul sie jedoch fast nicht wieder erkennen. Gold und Schmuck fungieren hier wieder als fatale Unglücksboten, wie dies Domingue immer wieder betont: »Hélas! cet or venu de France / Emportera d’ici la joie et l’espérance!«80 Virginie ist dabei in dieser Version nicht nur zu einer ihrem Selbst entfremdeten Ware81 geworden, die an die luxuriöse Dekadenz des Second Empire gemahnt; im Konflikt mit dem maître ist sie Objekt der männlichen Jagd und damit ein affektisch wirksames Zeichen. Selbst der Signifikant »esclave« wird hier von Beginn an mehrdeutig:82 »Vous cherchez votre esclave?«83 Und als Paul schließlich für Méala mit dem »sac d’argent«84 bezahlt, der aus Frankreich für Virginie geschickt wurde, werden die beiden Frauen in einem einzigen ökonomischen Tauschprozess zusammengeführt.85 Als Virginie dann in Frankreich bei ihrer Tante weilt, hält der hartnäckige Sainte-Croix um ihre Hand an; die Parallelen, die zuvor zwischen Sklaverei und einer allein auf Trieb gestützten Ehe86 hergestellt wurden, weisen aber bereits darauf hin, dass
79 Vgl. ebda., S. 147 f. 80 Ebda., S. 149. 81 Vgl. dazu den Brief der Tante: »Son héritage est à ce prix.« Ebda., S. 151. 82 Bei Cobb wird ebenfalls eine Analogie zwischen der Ehe und der Sklaverei hergestellt; vgl. Ian Henderson: Young Colonists on the Australian Stage: Adaptations of Paul et Virginie by James Cobb and Marcus Clarke. In: Australasian Drama Studies 40 (2002), S. 90−105; hier: S. 96. 83 Victor Massé: Paul et Virginie, S. 186 f. 84 Ebda., S. 193 f. 85 Mme de la Tour ruft an anderer Stelle aus: »Non! Non! Je serais trop punie s’il fallait acheter son retour à ce prix!« Ebda., S. 272 f. Auch die Eheschließung mit Sainte-Croix ist als ein ›Kaufgeschäft‹ entworfen. 86 Diese Gleichsetzung ist bereits im 18. Jhdt. durchaus geläufig: »the trope of slavery presented a rich symbolic storehouse for articulating related issues of contemporary note, such as marriage, imprisonment or labour«; Markman Ellis: The Politics of Sensibility, S. 50.
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diese Vision, die Paul auf der Bühne in Form eines Tableau vivant ausphantasiert, das eigentliche Schreckgespenst der Oper darstellt. Die Tableaux vivants87 bei Massé sind dem semantischen Überschuss durchaus vergleichbar, dessen affektauslösende Rolle bei Bernardin de Saint-Pierre die geschundenen und toten Körper der Frauen übernehmen. Denn in der imaginären Kommunikation der Singstimmen88 von Paul und Virginie, die hier in Szene gesetzt wird, überbrückt die Oper die Logik der fatalen Zirkulation dadurch, dass im Imaginären die idyllische Intimität der petite société wieder hergestellt wird: »Les deux voix semblent traverser l’espace, se répondre, et se confondre dans un même élan amoureux.«89 Von dort springt der Text direkt zur toten Virginie am Strand.90 An die Stelle des effektvollen Sterbens der Heldin tritt im Zuge dessen ein unabwendbares Schicksal, das seiner moralisierenden Wirkung entkleidet wird. Am Ende bleibt mit dem letzten Tableau der Figurengruppe, das die Gemeinschaft des sentiment als eine statische Gemeinschaft visualisiert, eine Szene absoluter Fatalität: Aus der Ehe entkommt Virginie allein im Tod und aus der modernen Ökonomie die pastorale Gemeinschaft nur im melodramatischen Tableau (vgl. Abb. 2). An die Stelle der melodramatischen Tableaux im Erzähltext, die durch die Beschwörung positiver Affekte die Sklavenhaltergesellschaft zur sentimentalen Familie idealisierten, tritt hier ein unausweichlicher Schrecken, der das Scheitern dieses Projekts illustriert. Man könnte nun den Ursprung des melodramatischen Modus weniger einer einzelnen Epoche zuordnen, wie dies Brooks getan hatte, und damit auf eine bürgerliche Erfahrung der Welt festschreiben. Aus eben diesem Grund hat Augustin Zarzosa vorgeschlagen, das Melodram nicht als Ausdruck einer spezifischen Zeit zu verstehen, sondern als ästhetische Artikulation, die menschliche Erfahrung einer jeweils herrschenden Gegenwart direkt formen kann.91 Melodramatik gehörte damit zu jenen Strategien, wie man innerhalb eines herrschenden emotionalen Regimes mit individuellem Leiden umgehen kann, und wäre grundsätzlich »an idealist mode because it offers bodily suffering as evidence of an idea’s
87 Victor Massé: Paul et Virginie, S. 293 ff. 88 Ebda., S. 297–302. Mark Darlow spricht diesbezüglich von »tableaux which centre emotional involvement […] upon an intimate scene of communication between two individuals where such communication is based upon a transparent – because universal, not culturally-specific – form of eloquence«; Mark Darlow: Theorising the ›Dramatic Novella‹: The Case of Azémia, ou le nou veau Robinson. In: Nottingham French Studies 48, 3 (2009), S. 125−136; hier: S. 135. 89 Victor Massé: Paul et Virginie, S. 306. 90 Vgl. ebda., S. 319. 91 Vgl. Augustin Zarzosa: Melodrama and the Modes of the World. In: Discourse 32, 2 (2010), S. 236−255; hier: S. 241.
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Abb. 2: Paul et Virginie, opéra de Michel Carré, Jules Barbier, Victor Massé / documents iconographiques, 1876. Quelle: Gallica.bnf.fr
shortcomings«92. Der Schluss liegt mithin nahe, die melodramatische Abwandlung des pastoralen Genres, oder vielmehr: die Hybridisierung des melodramatischen und des pastoralen Modus93 in den Bearbeitungen von Paul et Virginie als einen Prozess zu deuten, der eng an Veränderungen im emotionalen Regime gekoppelt ist. Die Frage, die sich hier allerdings bezüglich der Darstellung des Leidens stellt, lautet, welche Norm oder idea in den einzelnen Versionen zum Widersacher der Figuren erklärt wird (»ideas function as melodrama’s actual villain«94): Im Roman ist dies nicht nur die Ständeordnung des Ancien Régime, sondern auch die Fatalität der kapitalistischen Suche nach der fortune gewesen; bei Le Sueur und Dubreuil tritt mit den ›barbarischen‹ Frauenfiguren ersteres in den Vordergrund – der second conquest dagegen wird nachgerade glorifiziert; bei
92 Ebda., S. 254. 93 Jörn Steigerwald: Arcadie historique: Paul et Virginie de Bernardin de Saint-Pierre, entre classicisme et préromantisme. In: Revue germanique internationale 16 (2001), S. 69−86; hier: S. 72. 94 Augustin Zarzosa: Melodrama and the Modes of the World, S. 253.
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Massé und Carré wird dann durch die Gleichsetzung von pervertierter Ehe und Sklaverei die Kritik am Kapitalismus zentral und das Scheitern der family of tears offenbar. Dennoch sollte man bei diesem Befund nicht unterschlagen, dass trotz der manifesten Kritik an der Logik der Warenzirkulation im Kapitalismus, die all diese Texte leisten, die sentimentale Legitimierung der Globalisierung und ihrer europäischen Hegemonie im Mythos um Paul und Virginie immer mitgedacht ist. Durch den Verweis auf die sentimentale Freundschafts-, Tränen- und Konsumkultur, zu deren Medium Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie rasch wurde, habe ich versucht, diesen Prozess zu entschlüsseln. Dabei ist vor allem die Koppelung von Affekten, Ökonomie und second conquest – vereint in der idealistischen Vorstellung eines transnationalen, universal-menschlichen politischen Bundes – zum Vorschein kommen. Genau hier wäre demnach der Ort einer ›affektischen Investition‹ in das Politische zu vermuten, der sich über die Epoche der Französischen Revolution hinaus in die Moderne erstreckt.
IV Epilog Abschließend lohnt deshalb ein Blick auf Varianten des Textes, die noch deutlicher zeigen, wie die sentimentale Idylle mit der Ökonomie im Bunde steht. Schon Baudelaire hatte angedeutet, dass Virginie, wenn sie nur lange genug der Pariser Kultur ausgesetzt wäre, sich dieser auch angepasst hätte – und im gleichen Zuge wohl ihre Naivität hätte ablegen müssen, um über grobe – Baudelaire zufolge: satanische – Karikaturen lachen zu können.95 Während hier Virginie noch als Fremdkörper in der Moderne gilt und dem sentimentalen refuge Reddys anzugehören scheint, verkehrt bereits 1883 Villiers de l’Isle-Adam in seinen Contes cruels die Rollen: In der Erzählung Virginie et Paul, die bezeichnenderweise den Titel des Romans ebenfalls invertiert, sind die Liebenden echte Kinder ihrer Zeit, die nur an das Geld denken. In dieser »page de l’idylle éternelle«96 kauft Paul seiner Angebeteten keinen Blumenstrauß, sondern bedient sich direkt im Garten seines
95 »Sans doute, que Virginie reste à Paris et que la science lui vienne, le rire lui viendra; nous verrons pourquoi. Mais, pour le moment, nous, analyste et critique, qui n’oserions certes pas affirmer que notre intelligence est supérieure à celle de Virginie, constatons la crainte et la souffrance de l’ange immaculé devant la caricature.« Charles Baudelaire: De l’essence de rire et généralement du comique dans les arts plastiques [1855]. In: Œuvres complètes. Bd. 2. Herausgegeben von Claude Pichois. Paris: Gallimard 1973, S. 525−543; hier: S. 529 f. 96 Auguste de Villiers de l’Isle-Adam: Virginie et Paul. In: Contes cruels [1883]. Herausgegeben von Pierre Reboul. Paris: Gallimard 1983, S. 128−133; hier: S. 130.
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Vaters, um das zukünftige Ehe-Geschäft kostengünstig zu besiegeln: »Il ne coûte pas d’argent, mais c’est de cœur.«97 Die Kommunikation des Rahmenerzählers und Zeugen der Szene mit dem Leser ist deshalb besonders ironisch, weil er zwar einerseits die sentimentale Verbrüderung der family of tears noch einmal zitiert im eigenen »verser des douces larmes«98, andererseits jedoch den sentimentalen Mythos, der zum Klischee des Bouquets gerinnt, das von ›Herzen‹ kommt, grausam demontiert: »Pendant que j’écoutais, ravi, le bruit céleste d’un baiser, les deux anges se sont enfuis; l’écho attardé des ruines vaguement répétait: ›… De l’argent! Un peu d’argent!‹«99 Mit dem Titel wird hier zugleich das Verhältnis von sentimentalem und ökonomisch-merkantilem Diskurs verkehrt. Anstatt jedoch bei diesem Verhältnis, wie es ja im Originaltext vorliegt, von einer Doppelstruktur aus unkritischer Oberfläche und ideologischer Tiefe100 auszugehen, möchte ich vorschlagen, den semantischen Überschüssen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die im Laufe der Rezeption des Romans eben dadurch entstehen, dass pathetische Melodramatik, die einer gewissen nationalen oder kapitalistischen Pädagogik zuzuschlagen ist, mit einem anökonomischen Affekt und dessen eindrucksvollen Gesten und Körperbildern gemeinsam auftritt. In der diachronen Zusammenschau wird so zu guter Letzt auch klarer, wie das pastorale Genre, dessen sich Bernardin de Saint-Pierre bedient hatte, durch die Überkreuzung mit dem melodramatischen Modus das ökonomische »Wissenssubstrat«101 in der Moderne nicht nur poetisch einlöst, sondern auch formal überschreitet.102 Wenn dann schließlich 1938 der Text bei Céline in eine groteske Satire verwandelt wird, hat der Mythos gewissermaßen seinen Endpunkt erreicht. Im
97 Ebda. 98 Ebda., S. 133. 99 Ebda. 100 Vgl. Rita Felski: The Limits of Critique. Chicago/London: The University of Chicago Press 2015, S. 56−69. Sie plädiert hier in Anlehnung an Paul Ricœur (herméneutique du soupçon) dafür, die symptomatische Lektüre, die durch Marxismus und Psychonalyse in die Literaturwissenschaft Eingang gefunden hat, durch eine Lektüre des »surplus of meaning« zu ersetzen: »Why not think of a text as gradually yielding up its interpretative riches rather than being probed for its unconscious contradictions?« Ebda., S. 66. 101 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: Diaphanes 2011, S. 14. 102 In diesem Sinne gilt es über die von Vogl vorgelegte Poetik des ökonomischen Menschen hinauszugehen, wie Gesine Hindemith und Dagmar Stöferle in ihrer Einführung zur Sektion »Affekt/Ökonomie – Bruchstellen im ästhetischen Regime der Moderne« beim XXXIV. Romanistentag in Mannheim betonten.
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ballet-mime mit dem Titel Voyou Paul. Brave Virginie verlegt Céline die Handlung in das Jahr 1830 und fantasiert ihr ein neues Ende hinzu, in dem Paul und Virginie überleben, nur um sich dem sexuellen und ökonomischen Exzess der von Amerika aus wirkenden Industriegesellschaft vollends zu überlassen. Nicht nur verkommt dort der »bon sauvage«103 zur Bedrohung, dessen wilde, obszöne Tänze die Europäer korrumpieren, bis selbst die züchtige Virginie zur entfesselten ›Furie‹ wird; der chaotische französische Hafen als Handelsknotenpunkt und Sammelplatz grotesker Körper sowie die apokalyptische Maschine des amerikanischen Fulmicoach104, der am Ende alle mit sich zieht, sind auch zu deutlich dystopischen Zeichen der kapitalistischen Gegenwart geworden. Der kurze Text, der in die Bagatelles eingelassen ist und eine deutlich rassistisch-antisemitische Pragmatik hat, untergräbt so nicht zuletzt den Mythos der universalen Weltgemeinschaft des Gefühls durch die groteske Überzeichnung der modernen Ökonomie. Im Rahmentext wird dies am Beispiel der Weltausstellung von 1937 vorgeführt, die dem Erzähler zufolge einer jüdischen Verschwörung dient. Dass hier der Affekt105 umschlägt auf eine durch Hass und Neid motivierte Gemeinschaft, die des Anderen bedarf, um sich konfrontativ von ihm abzusetzen, macht eine positive affektische Investition in die sentimentale Gemeinschaft des globalisierten Warenhandels endlich unmöglich. Während also die affektische Investition der Revolution auf eine utopische Feier des second conquest im Zeichen des universalen sentiment hinausläuft, beschwören Massé und Carré im Zeitalter der bürgerlichen Ökonomie das bürgerliche Ehegeschäft als deren unheimliches Zentrum. Villiers de l’Isle-Adam unterwandert dessen Klischee sentimentaler Liebe, bis Céline schließlich die Industrieund Handelsgesellschaft der Moderne in einen destruktiven Eros rückübersetzt, der die Idylle zerstört. All jene Variationen entwickeln dabei das Potenzial des
103 Louis-Ferdinand Céline: Voyou Paul. Brave Virginie. Ballet-mime [1938]. In: Ballets sans music, sans personne, sans rien. Herausgegeben von Pascal Fouché. Paris: Gallimard 2001, S. 49−68; hier: S. 52. 104 Zum Fulmicoach als maschineller Fortsetzung der orgiastischen Erotik und rassistischer Steigerung des Tanzes der Schwarzen vgl. Jörg Dünne: Céline und die Katastrophe. In: Stephan Leopold/Dietrich Scholler (Hg.): Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy. München: Fink 2010, S. 335−351; hier: S. 344 f., sowie zur besonderen Affektpoetik Célines, die sich am Paradigma der theatralen Féerie bedient und in einer »extremen Übersteigerung der Mittelbarkeit« umschlagen soll »in unmittelbare Affekte«, ebda., S. 339 u. 350. 105 Dünne hält fest, das Stück sei »durchlässig für ein das Literarische überschreitendes politisches Imaginäres der katastrophischen Weltverschwörung, in dem die Fratze eines bedrohlichen Anderen aufscheint, das die für Céline problemlos miteinander kompatiblen Merkmale des Schwarzen, des Amerikaners und des Juden trägt«; ebda., S. 342 f.
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Ausgangstextes so weiter, dass man von einer über die Zeit hinweg agierenden und beweglichen affektischen »Resonanz« des Textes im Allgemeinen und seiner Verbindung des Sentimentalen mit dem Ökonomischen im Speziellen ausgehen kann.106 Diese Resonanz erzeugt dabei offenbar ästhetisch produktive strukturelle und formale Bruchstellen, die aus der Mitte des ökonomischen Dispositivs der Moderne heraus ein Unbehagen an der kapitalistischen Kultur spiegeln.
Bibliographie Astbury, Katherine: Narrative Responses to the Trauma of the French Revolution. London: Modern Humanities Research Assiciation and Maney Publ. 2012. Bataille, Georges: La Part maudite, précédé de La Notion de dépense [1949]. Herausgegeben von Jean Piel. Paris: Minuit 2007. Baudelaire, Charles: De l’essence de rire et généralement du comique dans les arts plastiques [1855]. In: Œuvres complètes. Bd. 2. Herausgegeben von Claude Pichois. Paris: Gallimard 1973, S. 525−543. Beasley-Murray, Jon: Posthegemony. Political Theory and Latin America. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2010. Berman, Carolyn Vellenga: Creole Crossings: Domestic Fiction and the Reform of Colonial Slavery. Ithaca: Cornell UP 2006. Bernardin de Saint-Pierre, Jacques Henri: Paul et Virginie, avec des extraits du Voyage à l’île de France [1788]. Herausgegeben von Jean Ehrard. Paris: Gallimard 2004. —: Paul et Virginie. Paris: Didot l’Aîné 1806. —: Œuvres complètes. 2 Bde. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836. —: L’Arcadie [1781]. In: Œuvres complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836, S. 593−645. —: Vœux d’un solitaire [1790]. In: Œuvres complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836, S. 666−746. —: La Chaumière indienne [1790]. In: Œuvres complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Louis Martin-Aimé. Paris: Lefèvre 1836, S. 565−587. Brooks, Peter: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven/London: Yale UP 1976. Calè, Luisa: Sympathy in Translation: Paul et Virginie on the London Stage. In: Romanticism on the Net: An Electronic Journal Devoted to Romantic Studies 46 (2007), S. 1−23. [https:// www.erudit.org/revue/ron/2007/v/n46/016135ar.html] Céline, Louis-Ferdinand: Voyou Paul. Brave Virginie. Ballet-mime [1938]. In: Ballets sans music, sans personne, sans rien. Herausgegeben von Pascal Fouché. Paris: Gallimard 2001, S. 49−68.
106 Wai Chee Dimock: A Theory of Resonance. In: PMLA 112, 5 (1997), S. 1060–1071; hier: S. 1061 spricht vom »Transit« von Texten, die dadurch eine jeweils neue Tonalität gewinnen.
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Kapitalistischer Affektbefall und spalterische Energien in Vittorio Alfieris tramelogedia Abèle Vittorio Alfieris Abèle (entstanden 1782–1798) ist ein wahrhafter Ausfall aus dem Tragödienschema des Piemonteser Aristokraten, mit dem er 22 klassisch normative Dramen in Serie produziert. Sie alle kreisen um das große Thema des republikanischen Freiheitspathos. Abèle, die Adaptation der biblischen Geschichte von Kain und Abel, ist Alfieris Versuch einer Mischform aus Oper, Tragödie und Melodram. Er spielt hier mit einer Zusammenführung von Elementen, die er sonst aus seiner Tragödienkunst verbannt sehen will. Die ›tramelogedia‹ Abèle ist ein literaturgeschichtliches Ereignis. Es soll das einzige seiner Art bleiben. Abèle steht im Tragödienschaffen Alfieris seltsam über und sticht heraus. Hier konfiguriert sich der Kern seiner Tragödienpoetik von den Rändern her, von dem, was Alfieri in seiner klassischen Stilökonomie der ›sublimità‹ kategorisch ausgeschlossen hatte: das Lyrische der Oper und die Musik. Der biblische Stoff um den Brudermord ist im 18. Jahrhundert in Italien ein durchaus gängiges Sujet. Interessanterweise gibt es auch eine Bearbeitung aus der Feder Pietro Metastasios, den Alfieri zur Stärkung seiner Dichtungstheorie als poetisches Feindbild und Gegenspieler aufbaut, indem er dessen seiner Ansicht nach lyrisch verweichlichten Stil verurteilt. Aber ausgerechnet Metastasio fasst den Stoff in einer für ihn ungewöhnlich klassischen Weise. La morte d’Abel (uraufgeführt 1732 in Wien) ist ein Libretto zu einer ›azione sacra‹ und das dritte der sieben in Wien geschriebenen Opernlibretti. Das Stück folgt einem einfachen und klaren Aufbau und enthält keine göttlichen und allegorischen Personen, wie die ›tramelogedia‹ Alfieris. Metastasio folgt in seiner Umsetzung weitgehend den aristotelischen Einheiten gemäß französischer ›doctrine classique‹: Ensemblestücke und Chöre werden nur äußerst sparsam verwendet. Alfieri geht dagegen mit seiner Version des Abèle in einer für ihn einmaligen Weise auf den ursprünglich bei Aristoteles angelegten hybriden Charakter1 der Tragödie zurück, während er sonst seinen Antikebezug vorwiegend rhetorisch ausrichtet.2 Zunächst einmal unterscheidet sich seine Adaptation der Antike in wesentlichen Punkten von der
1 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1994, S. 15. 2 Vgl. dazu Bernhard Huss: Sublimität und Tragödie bei Vittorio Alfieri. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62.4 (2012), S. 391–418. https://doi.org/10.1515/9783110479638-012
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›doctrine classique‹ französischer Provenienz. Alfieri wendet sich mit dem Sujet der ›vendetta‹ und dem auf der Bühne gezeigten Mord einer wesentlich wilderen Antike zu als dies die von Richelieu für den Kontext der französischen Klassik verordnete ›bienséance‹ zuließ. Die Einordnung seines eigenen Tragödienprojektes in die Gattungsgeschichte spielt für Alfieri eine ungemein wichtige Rolle, um das italienische ›genus sublime‹ zuallererst zu konstituieren. Er bringt sich zu diesem Zweck nicht nur performativ auf Abstand zur Tragödie der französischen Klassik und zu den empfindsamen Mischformen des 18. Jahrhunderts bei Voltaire und Maffei, sondern auch zu anderen Gattungen wie Melodrama und Oper und zu deren berühmten Vertretern. Pietro Metastasio beispielsweise sei ein serviler und verweichlichter Höfling. Ein mögliches Kennenlernen am Hof Maria Theresias in Wien lehnt Alfieri rundweg ab. Metastasios Werke ordnet er als trivial ein, der Dichter selbst ist für ihn bloßer Repräsentant eines politisch überholten zentralistischen Staatsund Kultursystems.3 Nichts scheint ihm schlimmer als der harmonisch melodiöse Vers mit regelhafter Betonung aus der Traditionslinie Petrarca-Metastasio. Dagegen setzt Alfieri seinen harten jambisch geprägten Tragödienvers, den er als männlich, kraftvoll und energetisch definiert. Extremistisch und antikonformistisch muss die Sprache der Tragödie sein, gewaltsam und schroff deren Duktus.4 Die von Calzabigi kritisierte »durezza« verteidigt Alfieri, indem er in seinem Antwortbrief an den Kritiker seinen harten und dunklen Vers sowie die unkonventionelle Satzstellung und kontrastierende Betonung als absolut notwendig deklariert.5 Sein Vers darf nicht gefällig sein, sondern ist Schlüssel zu einer affektiven Übertragung, die im ›genus sublime‹ der Tragödie stattfinden soll. Dabei ist die Wirkungskraft der gesprochenen Sprache ausschlaggebend und die Diktion der Schauspieler eminent wichtig. Alfieri geht hier auch ganz von der eigenen rezitatorischen Erprobung seiner Texte aus. Er sieht seine Tragödien dezidiert nicht als Lesedramen, sondern setzt ganz auf die energetische Sprachwirkung der Aufführung. Der eskalatorisch dramatische Verlauf der Tragödie6
3 Vgl. zur performativen Abgrenzung Alfieris von Metastasio genauer auch Daniel Winkler: Körper, Revolution, Nation. Vittorio Alfieri und das republikanische Tragödienprojekt der Sattelzeit. Paderborn: Fink 2016, S. 175 ff. 4 Bernhard Huss: Sublimität und Tragödie, S. 395. 5 Vittorio Alfieri: Risposta dell’Alfieri. In: Ders.: Parere sulle tragedie e altre prose critiche. Asti: Casa d’Alfieri 1978, S. 231–233. 6 Dabei steht Alfieri mehr in der Tradition Jean Racines als er gerne zugeben möchte. Es entsteht eine Abschwächung der Peripetie als Umschlag von Glück ins Unglück durch den prädestinatorischen Rahmen, in dem die tragischen Figuren stehen. Dies ist vor allem in Abèle, Mirra und Saul der Fall.
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wird in dieser Vorstellung zusammengedacht mit dem erhabenen Rhythmus der Tragödiensprache, die sich leidenschaftlich dialogisch und brutal anmutend entfaltet. Sprachlich installiert Alfieri eine Affekten-Rhetorik, die sich an den Schriften des Pseudo-Longinus orientiert. Er entwickelt hieran anschließend ein Konzept der ›sublimità‹ mit entschieden »revolutionär gattungespoetischer Valenz«7, wie Bernhard Huss bemerkt. Sowohl die metastasianisch-lyrische Bühnenharmonie als auch die klassizistische Normpoetik der Tragödie sollen überschritten werden. Kern der Idee, die Alfieri bei Longinus aufgreift, ist eine Transferkette zwischen Autor, Textproduktion und Rezipient, die affektisch über das Sublime vermittelt wird. Der sublime Autor überträgt seine eigene Erhabenheit mittels stilistischer Unangepasstheit und Schroffheit mit Vehemenz, Schnelligkeit, Kraft und Wortgewalt in den Text und auf den Rezipienten. Dazu präpariert er plastische Affektmischungen, die durch eine entsprechende Stoffwahl leidenschaftlicher Sujets gefördert werden. Das Tragödientheater versteht Alfieri in diesem Sinne als eine energetische Kunst, das ›genus sublime‹ soll mit höchster Kraft durch den Vers stil affektiv berühren. Dabei setzt der Tragödienautor ganz auf Dissonanzen statt wie Metastasio auf die lyrische Harmonie oder auf den gänzlich geregelten Alexandriner der französischen Klassik. Ein weiterer wichtiger Einfluss des Pseudo-Longinus liegt in der Beurteilung externer Produktionsbedingungen für anspruchsvolle und wirkungsvolle Texte.8 So stellt Longinus die Frage nach dem Zusammenhang politischer Freiheit und Eloquenz und sieht eine Gefährdung nicht nur durch die Herrschaftsform der Monarchie sondern auch durch eine von Geldgier, Maßlosigkeit, Schamlosigkeit und Gesetzesverachtung geprägte egoistische Mentalität. Beide Gedanken finden sich bei Alfieri wieder. Zum einen auf der Produktionsebene der Texte, wenn der Dichter sich in polemischer Verachtung für vom Hof abhängige Dichter auslässt. Aufführungskontext seiner Tragödien sind deshalb auch nicht die aristokratischen Höfe mit ihrer Theaterpraxis. Alfieri sucht Formate des aufklärerisch-aristokratischen Laientheaters der Akademien und private Rezitationsabende, um seine Stücke möglichst selbstbestimmt aufführen zu können.9 Gerne übernimmt er auch selbst Rollen in seinen Tragödien. Aufführungspraxis und literarische Produktion müssen idealerweise unabhängig sein. Die andere Ebene betrifft die Person des Autors selbst: Alfieri definiert sich selbststilisierend in eine poli-
7 Bernhard Huss: Sublimität und Tragödie, S. 400. 8 Ebda., S. 402. 9 Daniel Winkler: Körper, Revolution, Nation, S. 101.
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tisch-moralische Außergewöhnlichkeit hinein.10 Der sublime Autor ist eine Figur des unbedingt Erhabenen, ein singuläres Individuum, das durch ein gesteigertes Reflexionsvermögen über den Einflüssen der Zeit und des gesellschaftlichen Kontextes steht und damit eben auch über einer Verführbarkeit durch bestimmte kapitalistische Affekte. Alfieri betreibt mithin eine regelrechte Performanz ökonomischer Unabhängigkeit. Anders als die höfischen Günstlinge Jean Racine und Pietro Metastasio ist er finanziell aus eigenen Mittel abgesichert.11 Die Tragödie gewinnt als Literatur aus dieser Legitimierung heraus eine politische Autorität, die programmatisch per Freiheitsethos ein neues Denken schulen soll. Wichtig ist dabei die Rechtfertigung der antiken und, zumal für Abèle, der biblischen Stoffe: I culti religiosi degli antichi Egizj, dei Persiani, degli Ebrei, Caldei, Arabi, ed Indiani, dei Celti, e Scozzesi, dei Greci stessi; e fra i moderni populi, quelli dei Messicani e Peruviani, come rimoti molto di luogo,
possono prestare ampia materia a questa specie di Dramma, essendo tutti a dovizia forniti di quel mirabile che quì si richiede; e lo possono sommir istrare sempre nuovo e diverso, ed egualmente efficace. Il campo, come poesia, è vastissimo. Chi è buon Lirico vi può sfoggiare; e così, chi è buon Tragico; poiché raccozzati questi due rami di sublime poesia possono tra lor gareggiare senza che l’uno l’altro danneggi. Potrà l’autore ai suddetti culti religiosi e costumi di queste remote nazioni appoggiare dei fatti cavati dalla tradizione, dalla favola, dalla storia, ed anco interamente inventati; ma sotto la scorza di nomi già cogniti, e di avvenimenti verisimili secondo gli usi e lo stato politico di quelle contrada in cui si vorrà fingere il fatto. (A, Prefazione dell’autore, 185) 12
Alfieri lässt hier keinen Zweifel daran, dass ihm die antiken Stoffe und insbesondere die religiösen Kulte als Träger politischer Verhältnisse dienen, die offengelegt werden sollen. Die Tragödie zielt also auf eine politische Analyse. Stoffe und Kulte sind Träger, weil sie das für das Drama unabbdingbar notwendige Wunderbare liefern. Das Lyrische und das Tragische sollen sich innerhalb einer sublimen Anordnung entfalten, ergänzen und miteinander wetteifern, ohne dass einer der beiden Stränge Schaden davontrüge. In diesem Abschnitt kommt auch eine andere Idee Alfieris deutlich zum Tragen, die sich in seinem Tragödienschaffen konstitutiv auswirkt: die Vorstellung einer Verschalung durch bekannte Begriffe, die neu gefüllt werden. Hier sind es die religiösen Kulte und Bräuche, die mit Gegebenheiten der Tradition, der Fabel, der Geschichte und auch mit Erfundenem überlagert werden. Aber unter der Schale bekannter, durch den Stoff bereit gestellter Namen, kommt die politische Situation zum Vorschein – und diese ist
10 Bernhard Huss: Sublimität und Tragödie, S. 403. 11 Vgl. dazu auch Daniel Winkler: Körper, Revolution, Nation, S. 102. 12 Vittorio Alfieri: Abele. In: Ders.: Tragedie postume. Herausgegeben von Nicola Bruscoli. Bari: Laterza & Figli 1947, S. 179–243. Im Folgenden im Fließtext zitiert mit der Sigle A.
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nicht nur auf die Antike zu beziehen, sondern spielt auch mit aktuellen Begebenheiten des 18. Jahrhunderts. Dies gilt in Abèle vor allem für die fortschreitend kapitalistisch ausgerichteten Affekte wie Neid und Habsucht, die zwar in der Antike schon vorhanden waren, nun aber durch das neue ökonomische Dispositiv eine andere Ausrichtung erfahren. Die Arbeit an Abèle beginnt ungefähr im Jahr 1782, d. h. der Abfassung des Vorwortes 1796 gehen vierzehn Jahre Konzeptions- und Schreibarbeit voraus, vom ersten Entwurf einer Tragödie, über die Ausarbeitung des Stoffes bis zur Versfassung, welche Alfieri in den Pariser Jahren anfertigt, während um ihn herum die Revolution Fahrt aufnimmt. Der schriftliche Entwurf aus dem Jahre 1782 trägt noch die Überschrift: Caíno, Tragedia musicale I und folgt unmittelbar auf die Tragödie Saul, in der sich Alfieri ebenfalls einem biblischen Stoff widmet. Die lange Bearbeitungszeit ist ungewöhnlich für den Tragödienautor, der ansonsten viel kürzere Entstehungsphasen für seine Bühnenstücke vorsieht. Abèle muss im Zusammenhang mit der vorhergehenden Tragödie Saul und der Inzesttragödie Mirra gesehen werden. Alle drei Stücke leben vom theologischen Gedanken der Prädestination und unterscheiden sich damit von den anderen Tragödien. Nukleus ist jeweils – und auch das macht ihre Besonderheit aus – die Grundkonstellation einer empfindsamen Kleinfamilie, die im tragischen Konflikt zugrunde geht. Mirra, eine an Racines Phèdre orientierte Figur, liebt den eigenen Vater. Die wie ihr französisches Vorbild Phèdre von Venus und deren Furien beherrschte Frau gesteht ihre illegitime Liebe nach unendlicher Gewissensqual erst am Ende des fünften Akts und tötet sich unmittelbar daraufhin selbst mit dem Schwert vor den Augen des mitleidlosen Vaters. Dieser ist dem unvereinbaren Konflikt von empfindsamem Vater und souveränem Herrscher unterworfen und entscheidet sich zuguterletzt für die Souveränität und gegen die Tochter. Dennoch ist der Bruch mit der fünf Akte lang durchgetragenen Rolle des empfindsam liebenden Vaters zu abgründig, als dass hier die Souveränität unangetastet restitiuert würde. Auch sind Mirras heroische Bemühungen, sich der Furien zu erwehren, zur passional-wissenden Alterität einer tragischen Figur stilisiert, die sich ungemein vom sonstigen Personal der Tragödie abhebt. Alfieris Saul inszeniert die Geschichte des ersten israelitischen Königs, der zwischen den Persönlichkeitspolen machthungriger Herrscher und liebender Vater hin- und hergerissen wird. Der von einer zusätzlichen dramatischen Person, dem Heerführer Abner, geschürte Neid auf den Schwiegersohn und erfolgreichen Krieger David, welcher mit der Gnade und im Auftrag Gottes handelt, zernagt Saul innerlich, bis er von den Philistern besiegt einsam seiner persönlichen und kriegerischen Niederlage preisgegeben wird. Die ›tramelogedia‹ Abèle buchstabiert schließlich die Geschichte der ersten biblischen Familie um den Brudermord von Kain an Abel im empfindsamen
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Gestus aus und gibt ihr damit den Anstrich der bürgerlichen Kleinfamilie. Die drei tragischen Figuren Mirra, Saul und Caíno befinden sich im Stand der Ungnade, ihre Affekte sind nicht vermeidbar: Mirra ist zu ihrer Leidenschaft von Venus verflucht, Saul hat die Gnade Gottes, im Gegensatz zu seinem Gegenspieler David, verloren, Caíno wird vom Teufel mit der Billigung Gottes verführt. Es ist kein Zufall, dass Alfieri in genau diesen drei Stücken die ›melopoiia‹ als ein Element des aristotelischen Dramas wiedereinführt. Er erprobt den Einsatz von Musik, um sowohl auf der Figurenseite als auch auf der Rezeptionsseite die Affekte in Form des ›forte sentire‹ noch zu steigern. In Mirra gibt es eine musikalische Regieanweisung für den Einsatz des Chores während der anberaumten Hochzeitsfeierlichkeiten zur Vermählung Mirras mit Peréo im vierten Akt: »Ove il coro non cantasse, precederá ad ogni stanza una breve sinfonia adattata alle parole, che stanno per recitarsi poi«13. Auch in Saul experimentiert Alfieri mit Gesängen: Tutti i seguenti versi lirici si potranno cantare senza gorgheggi da David, s’egli si trova essere ad un tempo cantore ed attore. Altrimenti basterà, per ottenere un certo effetto, che ad ogni stanza preceda una breve musica istromentale adatta al soggetto; e che David poi reciti la stanza con maestria e gravità.14
Die beiden musikalischen Einsätze leiten die Peripetie ein und tragen musikalisch zu einer gesteigerten Rezeption der Affekte bei. Saul lauscht halbschlafend und wie hypnotisiert der Stimme Davids, die Umkehr scheint hier noch möglich. Erwacht fällt Saul jedoch wieder seinem Neid zum Opfer und wendet sich gegen den von Gott gesandten David. Die Energetik des primitiv biblischen Geschehens kommt der dichterischen Konzeption Alfieris ebenso entgegen wie das biblische Vorbild der ungeschliffenen Sprache, des bewusst archaischen Stils. Die Tat im Affekt, welche Alfieri immer wieder als ›vendetta‹ inszeniert, bildet auch in Abèle die tragische Katastrophe des fünften Aktes. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen wird der Sonderfall Abèle stehen, der einzigen realisierten ›tramelogedia‹ von fünf geplanten. Das poetische Konzept zum neuen Genre erläutert Alfieri ausführlich in seinem Vorwort. Nicht, dass er in der ›tramelogedia‹ die Gattung der Zukunft sehen würde. Sie stellt vielmehr eine Art pädagogisches Übergangsgenre da, um das von der Oper
13 Vittorio Alfieri: Mirra. In: Ders.: Tragedie. V. I. Herausgegeben von Nicola Bruscoli. Bari: Laterza & Figli 1946, S. 30. 14 Vittorio Alfieri: Saul. In: Ders.: Il teatro italiano, IV, Vittorio Alfieri, Tragedie. Bd. II. Torino: Einaudi 1993, S. 536.
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verbildete italienische Publikum an die Tragödie, die einzig wertvolle Gattung heranzuführen: Avvezi dunque gl’Italiani a marcir ne’ teatri, senza pure aver teatro, coll’Opera in musica hanno ritrovato uno stucchevole trastullo all’orecchio, che a poco a poco li ha poi fatti incapaci di esercitare in questi loro sedicenti teatri nessuna di quelle facoltá intelettuali necessarie per sentire, gustare, giudicare, od intendere almeno, una vera tragedia. (A, 19)
Oper und Tragödie werden zu einander feindlich gegenüberstehenden Wahrnehmungsformen erhoben: Troppo è diverso il frutto di questi due spettacoli, perché mai una sana Nazione li lasci tra essi gareggiare del pari: l’Opera gli animi snerva e degrada; la tragedia gl’ innalza, ingrandisce, e corrobora. Possa dunque la tramelogedia preparare in parte questo necessario e prezioso cangiamento, per cui gl’Italiani dalla loro effeminatissima Opera alla virile tragedia salendo dalla nullitá loro politica alla dignitá di vera Nazione a un tempo stesso s’innalzino. (A, 24)
Der Unterschied liegt vor allem in der Wirkästhetik. Während die weibische Oper erfundene und spaßige Liebeständel zeige und nur überflüssige und gefällige Affekte erzeuge, sei die männliche Tragödie der Schlüssel zur politischen Erneuerung des Landes. Nun ist es aber gerade diese Oper und das an der Persona Metastasios von Alfieri hart kritisierte Melodram, das seiner Tragödie die nötige Durchschlagkraft beim Publikum verleihen soll. Das Aufeinanderprallen zweier unterschiedlicher Muster bildet für Abèle eine Grundstruktur, die sich auf verschiedenen Ebenen wiederfindet. Das betrifft die Figurengruppierung, die Anlage des Bruderpaares Kain und Abel, die sprachliche Codierung sowie die emotionalen Parameter. Es entsteht im eigentlichen Sinne kein Hybrid, denn es kommt zu keiner Verschmelzung. Das von Alfieri in Abèle umgesetzte Prinzip ist vielmehr eines der immer wieder herbeigeführten konfrontativen Trennung, eine Art energetischer Spaltungsprozess, der die dramatischen Prozesse vorantreibt. Dabei wählt Alfieri einen durchaus anachronistischen Stoff, wenn er die biblische Geschichte um Kain und Abel umsetzt. Er optiert in der Anlage mit dem Dispositiv der Prädestination, wie es in den protestantischen Gnadenlehren Konjunktur hat. Auch hier könnte man annehmen, dass die Idee der Prädestination durch die Ausrichtung an Racine in die Tragödien Alfieris diffundiert. Denn, wie Daniel Winkler in seiner Studie jüngst betont: so entfernt steht Alfieris Gedankengebäude der negativen Anthropologie Racines nicht.15 Alfieris republikani-
15 Vgl. Zum Racineschen Erbe bei Alfieri: Daniel Winkler: Körper, Revolution, Nation, S. 123–125.
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sches Freiheitspathos führt nicht zu einem positiven und freien Menschenbild, es bleibt ganz im Gegenteil zutiefst dem menschlichen Pessimismus verhaftet. So verschwindet der Gedanke des lenkenden Schicksals als fortuna oder der willkürliche Gott als Instanz nicht gänzlich aus der Tragödienanordnung. In einigen Stücken ist er durchaus noch präsent, wenn diese Funktionsstelle auch, und dies wird hier zu zeigen sein, als Platzhalterstruktur für das moderne Affektregime der gespaltenen Persönlichkeit dient, die ihren weitgehend unbewussten und diffusen Wünschen folgt. Zu den Stücken, in denen eine solche Platzhalterstruktur zu finden ist, gehören die Inzesttragödie Mirra und eben auch die ›tramelogedia‹ Abèle. Der Konflikt, der sich um den Neid und den Mord am eigenen Bruder herum aufbaut, verlagert sich im 18. Jahrhundert in der Tendenz zunehmend ins Individuelle. Damit liegt Alfieri ganz im zeitgenössischen Trend, in dem der Stoff seine dogmatische Gebundenheit verliert und zum rein menschlichen Problem wird.16 Angela Oster spricht in dieser Hinsicht von den »prekären Emotionalisierungen«17 in Alfieris Tragödien. Die Figuren der Tragödien gerieten deshalb in Konflikte, weil ihre Emotionen sich unterschiedlichen Verantwortungen ausgesetzt sähen, von denen jede Instanz ihre Berücksichtigung bzw. ihr Sonderrecht einfordere.18 Um diese prekären Emotionalisierungen genauer fassen zu können, erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, für die Tragödien Alfieris eine Unterscheidung der Begrifflichkeiten von Emotionen und Affekten im Anschluss an Fredric Jameson19 einzuführen. Demnach betreffen Affekte körperliche Sensationen, während Emotionen bereits im Bewusstsein verankerte und reflektierte Gefühle sind. Caínos Problematik ist in erster Linie ein den Affekten ausgelieferter Körper. Sein Mord am Bruder Abèle ist eine Tat im Affekt, die von keinem Gefühlsregime reflektierend eingefangen werden kann – zuallerletzt vom empfindsamen Modus des Elternhauses. Alfieri lässt näherhin zwei Gefühlsregime aufeinanderprallen. Sie sind innerhalb der ›tramelogedia‹ zwei Personengruppen zugeordnet und auch im Hinblick auf die Gattung voneinander getrennt: Die Figuren des »mirabile religioso« (A, 184) treten als personifizierte Affekte auf und sind auf der Seite des religiösen Wunderbaren von Oper und Melodram zu verorten. Sie sind die »personaggi fantastici« (A, 182): die Stimme Gottes, Lucifero verschiedene Teufelsgestalten
16 Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1983, S 394 f. 17 Angela Oster: Tyrannei, Tragödie, Traktat: Vittorio Alfieri und die Machiavellistik der Aufklärung. In: Judith Frömmer/Dies.: (Hg.): Texturen der Macht. 500 Jahre ›Il Principe‹. Berlin: Kadmos 2015, S. 290–318, hier S. 310. 18 Angela Oster: Tyrannei, Tragödie, Traktat, S. 307 f. 19 Fredric Jameson: The Antinomies of Realism. London/New York: Verso 2013, S. 29 ff.
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(Mammóna, Astarotte) und die allegorischen Figuren Il Peccato, L’Invidia und La Morte, dazu Engels- und Dämonenchöre. Ihre Texte sind wie Opernlibretti ausgeführt unter Verwendung verschiedener Versformen. Auf der Tragödienseite findet sich die erste Familie der Bibel: Adamo, Eva, Caíno und Abèle, die im tragischen, in ›versi sciolti‹ abgefassten Stil Alfieris auftreten.20 Formal sind beide Gruppen auch zunächst gattungsmäßig und durch die Aktstruktur voneinander getrennt, bis schließlich im dritten und vierten Akt Begegnungen stattfinden, die den tragischen Verlauf initiieren. Der erste Akt ist »tutto Opera« (A, 184): Luzifer versammelt seine Höllenbrut, um einen Plan zu ersinnen, wie man die biblische Familie zerstören kann. Der zweite Akt ist ganz Tragödie und zeigt die biblische Variante der bürgerlich-empfindsamen Kleinfamilie: die liebenden Eltern Adam und Eva mit ihren Söhnen Kain und Abel als ödipal gedoppelte Konstellation in vermeintlich pastoraler Idylle, welche bald deutliche Risse zeigt. Im dritten und vierten Akt kommt es zur Mischform, der »tragedia mista« (A, 185), wenn die Höllengestalten Neid und Tod in Menschen verwandelt auf die Erde kommen. Der fünfte Akt ist im Vorwort abgekündigt als »schietta tragedia« (A, 185). Alfieri legt großen Wert darauf, dass dem fünften Akt »la totalità del tragico effetto« (A, 182) entnommen wird. Es treffen zwei Familienkonstellationen aufeinander: die biblische Familie wird konfrontiert mit der teuflischen Familie Satans. Dabei handelt es sich um Platzhalterstrukturen für moderne Konstellationen. Die biblische Familie repräsentiert sowohl die bürgerlich empfindsamen Werte der modernen Kleinfamilie im 18. Jahrhundert als auch das ökonomische Gefüge des kleinen Hauses mit mühevoll archaischer Agrarwirtschaft. Die teuflische Familie als allegorisierte Personifikationen der Todsünden bringt mit der Einspeisung des Neides als Verführungsinstanz einen Affekt ein, der sich in Abèle im Zeichen des aufziehenden Kapitalismus lesen lässt. Die Dimension dieser Affekte ist durch die ökonomische
20 Insgesamt ist der Autor sich der Merkwürdigkeit seiner Konstruktion sehr bewusst: »Ma io stesso sarò il primo a riconoscere questo genere […] per mostrusoso, e da non dover mai trovar luogo in alcuna sana poetica.« (A, 182). Der große szenische Aufwand des Stückes treibt Alfieri dazu, es im Vorwort den Fürsten zur Unterstützung anzuempfehlen, soll doch die ›tramelogedia‹ den politischen Geist der Italiener wecken und käme damit der Volkserziehung zugute. Abèle erschien jedoch erst postum, eine Aufführung zu Alfieris Lebzeiten hat es nie gegeben. Auch existiert keine eigens für Abèle komponierte Schauspielmusik – wie es überhaupt kaum Anhaltspunkte zur Schauspielmusik für diese Zeit in Italien gibt. (Vgl. dazu Martina Grempler: Schauspielmusik in Italien um 1800. Eine Spurensuche. In: Ursula Kramer (Hg.): Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen, Bielefeld 2014, S. 171–181.) Alfieri, der sonst in seinen Tragödien nur spärlichste Regieanweisungen gibt, macht hier für die Musik eine Ausnahme.
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Codierung der Teufelsfiguren deutlich markiert. Beide Gefühlsregime – Empfindsamkeit und Sünde – lassen sich im Sinne Jamesons eher auf der Seite bekannter und bereits kulturell reflektierter Emotionsmuster verorten. Der Neid als durchaus bekannte Emotion mit seinen Folgen erhält in Abèle eine zusätzliche Dimension, die nicht mehr deckungsgleich mit der christlich definierten Todsünde ist. Innerhalb der bekannten Form entsteht ein dem Bewusstsein noch nicht zugänglicher Affekt. Fredric Jameson beschreibt dieses Nebeneinander von Affekt und bekannter Emotion mit dem Ziel, die Wandlung historischer Verkörperungen in der Literatur zu fassen: [...] what is presupposed is that affects or feelings which have not thus been named are not available to consciousness, or are absorbed into subjectivity in different ways that render them inconspicious and indistinguishable from the named emotions they may serve to fill out and to which they lend body and substance.21
Der historische Wandel wird in dem greifbar, was ein Autor der Sprache abverlangt.22 Alfieris Konzept einer sublimen Sprache der Tragödie erschreibt einen neuen Körper, der die alten Muster der feudalen Ära verlässt und andeutungsweise kapitalistische Ausprägung findet. »[…] any proposition about affect is also a proposition about the body; and a historical one at that«.23 Die dramatische Wirkästhetik, welche bei Alfieri auf Longinus zurückgeht, arbeitet an einer Affizierung durch strenge rhetorische Muster der Stilisierung. So sind zunächst spezifisch familiäre Rhetorikmuster Träger historisch bereits etablierter Emotionen. Die biblische Familie kommuniziert im zweiten Akt besonders mit einer großen Anhäufung von Diminuitiven in dezidiert affektiver Form: »giovinetto, agnellina, viminetti guinzaglino, cenetta, ritindetto, fratellino, Abelino, spicchietto, ghiottarello, tumidetta« (A, 203–211). In das gleiche emotionale Register fallen die Anredeformen der biblischen Proto-Familie: »dolce/ amatissima mia consorte e suora«; »Parte di me, più di me stesso cara«, »Eva mia dolce«, »Madre amata«; »Amati figli«; »Dolci miei figli«, »figlio mio«; »Eva mia«; »Padre amato« etc. (A, 203–211). Aber das vermeintlich irdische Paradies hat unverkennbare Risse. Während in der Personengruppe der »personaggi fantastici« die Sprechweise nicht variiert, brechen in das empfindsame Regime vermehrt Verunsicherungen und dunkle Ahnungen ein, die paranoide und schizophrene Affektstrukturen hervorbringen.
21 Fredric Jameson: The Antinomies of Realism, S. 34. 22 Ebda., S. 32. 23 Ebda., S. 34 f.
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Die Arbeit ist hart und ernährt kaum die Familie. Eva erweist sich als Unzufriedene, die von Adam im Sinne Gottes zurechtgewiesen werden muss. »Son io cagion del faticoso ingrato / travaglio lungo, onde a sussister hanno / i tuoi figli e nepoti! Io mai non porgo / alla mia bocca il cibo a noi prodotto / dalle dure fatiche di Caíno, / ch’io non ne pianga, ed in me non mi adiri« (A, 204). Weiterhin gibt Eva auch ihre ungleiche Liebe für ihre Söhne zu erkennen. Der Neid Caínos ist also durchaus berechtigt. Die Mutter empfindet eine deutlich größere Zuneigung zum sanften Abèle und tut sich schwer mit dem rauen und männlichen Caíno. »È ver, che s’io d’entrambi / madre non fossi, un non so che in Abèle / di piú innocente e docile, piú forza / fariami al cor, che il ruvido maschio aspro / contegno di Caíno« (A, 205). Das empfindsame Vokabular wird in einer perversen Umkehr familiärer Rhetorik auch in der Hölle verwendet. Lucifero berät sich mit der personifizierten Sünde, die er als »dolce mio figlio« (A, 189) anredet. Der biblischen Kleinfamilie wird somit die höllische Familie sprachlich und strukturell entgegengesetzt. Dazu gehören Lucifero mit seinem Sohn Il Peccato und seiner stummen zweiten Tochter La Morte sowie weiteren Kindern. In der zweiten Szene des ersten Aktes tritt der Chor auf, der mit einer zusätzlich heraustretenden Stimme im Wechsel den Rat der Teufelsgehilfen Belzebú, Astarotte und Mammóna heraufbeschwört: »Venite, udite la fera voce / del vostro Re tonante, / che rimbombante / tutti vi appella in questa immensa foce« (A, 192). Die Wahl von Mammon und Astaroth für die Verführung Kains lässt einen ökonomischen Subtext aufscheinen. Mammon, vom aramäischen Wort ›mamona‹ (Vermögen, Besitz) abgeleitet, gilt als Götze des unmoralisch und unredlich erworbenen Gewinns. Eine der Funktionen Astaroths ist es, Schatzmeister der Hölle zu sein. Beides sind Anspielungen auf Besitz und Kapital, die gegen das harte und entbehrungsreiche Leben der Hirten Kain und Abel gesetzt werden. Genau hier setzt die Verführung Kains an, Mammóna plädiert im Höllenrat für die Verführung durch L’Invidia: Perché a vittoria – mandar tue squadre, se da meno sudore uguale gloria può ridontarmente, – almo gran Padre? Tiene una livida – gemma lo Inferno, al cui mostrarsi ognun di noi si abbrivida; di fera Invidia – l’alito eterno. Quella terribile, – che noi dal Cielo precipitò nel fuoco inestinguibile, all’uom mortifera – porti il rio gelo. Essa, col placido – mentito aspetto, gli fará il cor fin da radice fracido; essa, inquissimi – l’animo e il petto. (A, 199)
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Das von L’Invidia injizierte Neidgefühl führt gemäß des biblischen Stoffes zur Blutrache am eigenen Bruder. Die von Alfieri so geschätzte und seriell in seinen Tragödien verwendete Vendetta ist ein Sujet des Exzesses, mit dem er in einem Zuviel von Blut und Gewalt an eine griechische Antike anknüpft, die in der ›doc trine classique‹ ausgeblendet wurde. Die Vendetta ist ein zentrales Moment der Affektheorie Alfieris und wird in Abèle auf zwei Ebenen ausgeführt, wobei die Verführung Kains die praktische Ableitung der ersten ist: Im ersten Akt überlegt sich das Höllenpersonal, wie es sich für die eigene Verbannung am Schöpfer rächen soll. Der blutige Brudermord soll die harmonische Einheit zwischen Gott und der ersten Familie zerstören. Astarotte verwendet das Motiv der Blut trinkenden Erde als zentrale Metapher für die Rache: la terra omai di messe tal si ingiunca; né d’uman sangue la terra è satolla, se da radice pria svelta non crolla. (A, 201)
La Morte als Ausführungsgewalt steht am Ende des geplanten Feldzuges, nachdem die Zwietracht die menschliche Hoffnung völlig zersetzt haben wird. Dazu fallen im dritten Akt Lucifero, L’Invidia und La Morte über die schlafende Familie her. L’Invidia greift sich Caìno als Beute »Ecco mia preda« (A, 213) und lässt ihre Schlange über sein Gesicht kriechen, das anschließend von der Narbe gekennzeichnet ist. La Morte greift sich Abèle: »A me qu’est altro piace, / Che al di lui fianco giace. / Piace a me la gioventù: / Segnare il vo’. Dormi, dormi, pur tu; / Doman tuo sangue tutto io mi berrò« (A, 213). Die zweite Szene besteht in einem Monolog des schlafenden Caíno, der von der Spitzhacke und seinem Elternhaus als einem »nido d’ingrati« (A, 214) träumt und anschließend in äußerster Verwirrung flieht. Er wird von einer unsichtbaren Hand geführt: »a viva forza, una invisibil mano / fuor mi strascina« (A, 215). Der Zustand der Ungnade und damit der tragischen ›harmatia‹ ist in Abèle stark ausgeprägt. Der Rahmen der Prädestination ist fest um die Handlung gezogen. In der vierten Szene erscheint Lucifero dem Rest der Familie in einer schwarzen Wolke, die Eva an den Moment ihrer eigenen Verführung im Paradies erinnert. Abèle erinnert sich an einen Alptraum in der Nacht, bei dem er seine Herde verliert und in den Armen der Mutter stirbt. In der letzten Szene sind Adam und Eva mit der Stimme Gottes konfrontiert, die das Schicksal als unentrinnbares offenlegt und die beiden auffordert, sich nicht zu wehren, sondern die eigene menschliche Beschaffenheit anzuerkennen: »Adamo, un uom tu sei: / Cede al destino ogni creata cosa; / E tu pur ceder dei« (A, 192). Die Ungnade ist in Alfieris Abèle weniger ein religiöser Stand als ein konstituierendes Element der menschlichen Natur.
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Im vierten Akt imitiert Lucifero die Stimme Caínos und lockt den suchenden Abèle auf die falsche Fährte. Neid und Tod verfolgen Caíno, der, gänzlich verwirrt, von sich selbst spricht: Che fai, Caíno? [d]ove t’aggiri? … Io ‚l piede, / per ritornar, piú volte ho già ritorto, e vie piú sempre una incognita forza tornami a spinger lungi dal paterno desiato ricetto. Insolita ira mi divora, mi strugge; e in chi sfogarla, non so. – Ma pur sul cuore a un tempo stesso I flebili lamenti mi rimbombano dei Genitori miseri, che indarno or mi cercano, al certo. E il dolce mio fratel d’amore […] (A, 225)
Dieser Monolog Caínos in der dritten Szene des vierten Aktes ist eine Schlüsselpassage für die tragische Figur. Bei vollem Bewusstsein seiner passionalen Lähmung durch Zorn und Neid reflektiert Caíno sein Verhältnis zum geliebten Bruder. Es gibt gute Gründe, den biblischen Stoff des Brudermordes hier als die Geschichte einer gespaltenen Persönlichkeit zu lesen. Alfieris Tragödienwerk enthält zahlreiche solche Doppelfiguren, die den Mord als komplizierte Form des Selbstmordes ausweisen. Zu nennen wäre an erster Stelle das Brüderpaar Timoleone/Timofanes (der republikanische Held Timoleone tötet den Tyrannenherrscher Timofanes) oder das Doppel Rosmunda/Romilda, ein Stiefmutter/Tochter Verhältnis. Ein etwas anders gelagerter Fall wäre der Vater Virginius, der seine Tochter Virginia opfert. In den Tragödien Saul und Mirra, aber auch in der ›tramelogedia‹ Abèle knotet sich die Handlung um eine Gemütskrankheit, um die ›malinconia‹, der die tragischen Figuren zum Opfer fallen. Sie entfernt sie unweigerlich aus der Idylle der bürgerlichen Familie, die in Abèle eine banal anmutende Schilderung erfährt: Vom harten arbeitsreichen Tag ermüdet, isst man miteinander zu Abend und geht ins Bett. Zunehmend befallen jedoch unerklärliche Ahnungen und Affekte die Protagonisten in der Idylle. Dies gilt insbesondere für die biblischen Sündenfiguren Eva und Kain. Eva ist beispielsweise von »terrori« befallen, die ihrem Mutterherz den Krieg erklären: »[...] ogni tempesta / del mio cuore. Si affaccian molte nubi« (A, 204). Mit hellseherischen Fähigkeiten sieht sie die Tat kommen: »[...] come se fosse una nube di sangue, / non ti sembr’egli pur tra ciglio a ciglio / veder scolpito di Caíno in fronte?« (A, 205). Eva und Kain führen die Dimension eines problematischen Wissens ein. Verzweiflung, dunkle Ahnungen, unsichtbare Mächte nehmen von ihnen Besitz, während Adam und Abel weiter in der Identifikation mit dem Willen Gottes ver-
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harren. Dies gilt strukturell ebenso für die anderen Protagonisten in der Trias der thematisch verwandten Tragödien: Mirra, Saul und Caíno reflektieren in Zuständen zwischen Benommenheit und Wachheit mehr oder weniger bewusst ihr Unglück, ohne sich wehren zu können. Affekte werden hier dezidiert körperlich und für den Verstand unbewusst erlebt und sind zu trennen von Emotionen, die sich durch eine Bewusstheit über den eigenen Zustand qualifizieren lassen. Emotionen haben Objekte, Affekte sind körperliche Empfindungen.24 Besonders evident werden die körperlichen Affektreaktionen im Sprachgestus Caínos, der als Figur durch ein suchendes und noch nicht gefestigtes Affektdispositiv gekennzeichnet ist. Schlüsselstelle für diese neue Qualität von Affekten und Körpererregung ist Caínos Monolog in der zweiten Szene des dritten Aktes unmittelbar nach der Zeichnung durch die Schlange: Che fu? che fu? … Son io ben desto!... Or, donde, dond’è che il sonno, anzi il venir dell’alba, giá mi abbandona? è notte ancora. Il sonno, fors’io mercato col sudor diurno non mel sono abbastanza? … Ecco questi altri dormir frattanto placidi. E che fanno, che fan costor poscia svegliati, e sorti dalle lor foglie morbide? Caíno, Caíno fa; tutto, Caíno: e il caro,
e l’occhio pur dei genitori, è Abèle.
Mi si vorria ciò ascondere, ma indarno: pur troppo io’l veggo. A che piú stai, Caíno, fra questa a te nemica gente? — Oh cielo! Nemici a me il fratel, la madre, il padre? … Son’io ben desto? Or, che diss’io? … Ma, quale gel, non sentito pria, mi assale il petto?
E come, a un tempo, in mezzo al gelo avvampo di subit’ira? Or che diss’io? … Ben dissi: questo nido d’ingrati, io sí, per sempre, lasciarlo vo’. Saprò ben io, con questo robusto braccio, da me solo, e vitto procacciarmi e quiete. Ah! fra noi troppo fur disuguali i patti: or si ricompri col mio sudor mia libertade almeno. — Vieni, o tu, dura marra, a me ne vieni compagna tu; fiera nessuna io temo, di te munito; o marra, arme, e ricchezza, e del retaggio mio paterno sola
24 Vgl. Fredric Jameson: The Antinomies of Realism, S. 32.
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parte a me sii. Piú starmi io quí non posso: a viva forza, una invisibil mano fuor mi strascina. Vadasi. Non posso veder piú, no, costoro tutti immersi placidamente in usurpato sonno.
Ch’io mai piú non li vegga! mai, mai più. (A, 214 f.)
In der vorangegangenen Szene hatte Lucifer eine Schlange über das Gesicht des schlafenden Caíno laufen lassen. Die Affekte befallen ihn sukzessive. Mit der geistigen Verwirrtheit geht eine körperlich-sensitive Skala einher. Caíno erlebt nach der Zeichnung durch die Schlage einen ungeklärten Bewusstseinszustand zwischen Wachen und Schlafen. Dann bricht sich die Eifersucht auf den Bruder Bahn. Zweifel an den anderen Familienmitgliedern greifen um sich. Sind sie Freunde oder Feinde? Dann befällt die Kälte seine Brust, der Zorn bricht inmitten dieses ungekannten ungewöhnlichen Kälteempfindens aus. Nun ergreift Stolz von Caíno Besitz, er will die Familie verlassen und aus eigener Kraft überleben. Die Hacke fällt ihm zu, eine fremde Macht führt ihn mit unsichtbarer Hand und schleppt ihn nach draußen. Caíno ist besessen. Die Szene endet mit körperlicher Erblindung und dem Gefühl, die Familie nie wieder zu sehen. Der Monolog setzt hier auf eine maximale Versammlung von Affekten mit physischen Auswirkungen. Damit greift Alfieri eine Idee des Longinus auf, die dieser in seiner Schrift an einem Sappho-Gedicht erläutert, dem die Symptome der Liebesleidenschaft an den Begleiterscheinungen in der Wirklichkeit, nämlich heftigen körperlichen Reaktionen, entnommen werden.25 Bewunderung verdient Sapphos Darstellung und die Weise, wie sie »zugleich Seele und Leib, die Ohren, Zunge, die Augen, die Haut, alles, als sei es ihr entfremdet und zerstoben, zusammensucht und in grellem Wechsel Kälte zugleich und Hitze spürt, ohne Verstand besonnen ist (so schwebt sie ja entweder in Furcht oder ist dem Tode nah), so daß nicht nur ein Affekt hervortritt, sondern eine Versammlung von Affekten«26. Caínos Monolog kreist um einen solchen Zustand von Affektansammlungen, den er selbst nur in momenthaften Äußerungen fassen kann. Körperliche Zustände folgen wechselnd aufeinander und Caíno gerät durch eine unsichtbare Hand geführt in Bewegung. Die Gefühlsregungen werden zwar genannt, aber nur vage wahrgenommen und vor allem als körperlich gefühlte Affekte aufgezählt. Ganz anders gestaltet sich dieselbe Funktionsstelle des Monologes in Metastasios La morte d’Abel:
25 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1988, S. 31. 26 Ebda., S. 33.
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Io del minor germano Il merto, e la mercede Stupido sossrirò! La gloria altrui Un oltraggio è per me. Mille ragioni Medito onde scemarla, e mille sempre D’accrescerla ne incontro. Il mio rivale Malignando ingrandisco. Ei più sublime Mi sembra allor che più lo bramo oppresso, E son del mio dolor sabbro a me stesso. Alimento il mio proprio tormento Ripensando che Abelle è felice: Smanio, fremo, trasigger mi sento; L’abborrisco, nè intendo perchè. Vo cercando d’odiarlo non trovo; Ma lo sdegno, ma l’odio rinnovo, Perchè degno dell’odio non è.27
Zwar gibt es durchaus auch die körperlichen Erregungen: »Smanio, fremo, trasigger mi sento«, aber deutlich weniger ausgeprägt als bei Alfieri. Dagegen steht ein weitaus stärkerer Versuch, den negativen Affekt mittels Reflexion einzufangen, denn, wie Kain feststellt: Es gibt keinen Grund für seinen Hass. Der Kain Metastasios ist eine Figur, die sich um die Möglichkeit der menschlichen Vollendung bringt. Sein Versagen ist ein Versagen seines aufklärerischen Denkvermögens, das nicht in Handlung umgesetzt wird bzw. hier die tödliche Handlung nicht verhindern kann. Kain verpasst schlicht die Chance, sich menschlich zu erheben. Ganz anders ist die menschliche Anlage bei Alfieri gezeichnet. Die Affekte Neid und Angst werden in den Äußerungen zur Tragödie nicht überwiegend negativ verhandelt, sondern vielmehr als Motor der Gesellschaft begriffen. Die Angst fasst der Tragödienautor als anthropologischen Grundaffekt. Sie bewegt in den Stücken sowohl den republikanischen Helden und Tyrannenmörder als auch den Tyrannen selbst und wird damit zur Grundkonstellation von politischer und historischer Veränderung. Der Ausbruch Kains aus der Familienkonstellation, die sich als schizoider Prozess der Abspaltung seines weiblich-empfindsamen Teils Abel durch den Mord ereignet, ist in diesem Sinne ebenfalls nicht nur negativ zu lesen. Zu deutlich ist Alfieris Bevorzugung des männlich-virilen Momentes in seiner Dichtungskonzeption der ›sublimità‹, die auch eng an die Vorstellung vom schöpferisch energetischen und eben auch männlichen Schriftsteller gekoppelt ist.
27 Pietro Metastasio: La morte d’Abel. In: Opere del Signor Abate Pietro Metastasio. Bd. 7. Paris: Presso la Vedova Herissant 1780, S. 310.
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In Abèle arbeitet Alfieri mit einem spezifisch gebrochenen Menschenbild, indem er das Tierische im Menschen betont und den Schlamm, aus dem er entstanden ist: »Quel fango vil che costá su si appella / L’Uomo […]« (A, 189); »Quel bipede animal, del sozzo limo / creato in terra […]« (A, 194) etc. Die Stimme Gottes, die in Abèle die Unausweichlichkeit des menschlichen Schicksals, das richtig verstanden ein Affektschicksal ist, verkündet, ist nicht die Stimme eines barmherzigen Vaters, sondern die eines den Menschen verdammenden und grausamen Gottes. Gott ist hier eine Doppelgestalt Luzifers, was sich dramentechnisch im Auftritt ihrer Stimmen zeigt: Luzifer ist der dröhnende König wie der Chor wiederholend besingt: »Venite, udite la fera voce / Del vostro Re tonante, che rimbombante / Tutti vi appelle in questa immensa foce.« (A, 192 ff.). Das Wort Gottes ist ebenso dröhnend von Donner und Blitz begleitet. Diese pessimistische Anthropologie, die sich auch in Saul und Mirra findet, scheint der Freiheitsideologie der übrigen Tragödien diametral entgegen zu stehen. Im fünften Akt kommt es zum blutigen Konflikt zwischen Caíno und Abèle, in dem Caíno gegen das ausgedehnte Flehen seines Bruders die tödliche Spitzhacke schwingt. Der offen auf der Bühne gezeigte Tod ist eines der Merkmale der Tragödienmodifikationen Alfieris, die sich von der ›bienséance‹ der französischen Klassiker deutlich abheben. Der Tod wird brutal drastisch in Szene gesetzt. Die Tragödienökonomie, wie sie die französische Klassik definiert, wird hier nicht nur mit der blutigen Darstellung überschritten, sondern auch sprachlich herausgefordert. Alfieri insistiert nicht nur auf Wiederholungen, asyndetischen Sequenzen von Adjektiven, Epitheta und Substantiven, sondern auch auf Anastrophen, Hyperbati, schnell ausgeführten Schlagabtäuschen, Enjambements, internen Pausen im Vers, um eine kurze und kräftige Phrasierung zu erzielen, die sowohl den tragischen Endecasillabo als auch die lyrischen Metren der »personaggi fantastici« durchbricht. Alfieris formale Anordnung trägt jedoch Sorge, dass die Figuren des Religiös-Wunderbaren möglichst nicht in das Gebiet des Tragischen eindringen. Sie sind entweder unsichtbar, als Traum, als Wetterphänomen (schwarze Wolke, Donner und Blitz) oder sind als Menschengestalten (Neid und Tod erscheinen als Mutter und Tochter) so camoufliert, dass sie das Real-Tragische nicht durchsetzen. Auch die Stimme Gottes und der Engelschor sind in erster Linie akustische Ereignisse. Es sind Chiffren, die für einen affektischen Subtext stehen, der noch nicht ausgeschrieben ist. Das Religiös-Wunderbare ist Platzhalter für eine menschliche Begehrens- und Affektstruktur, die mittels der allegorischen Figuren Mammóna und Astarotte ein ökonomisches Gepräge erhalten. Wie Alfieri auf der Figurenebene häufig mit gespaltenen Komplementärgestalten arbeitet, die im Grunde die zwei Seiten einer einzigen modern gespaltenen Seele sind, so werden in Abèle die zwei aufeinanderprallenden Gefühlsregime
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zu Zeichen einer einzigen mit sich widerstreitenden menschlichen Natur in einer historischen Schwellensituation. Caíno kommt nach dem Mord wieder zu sich und in diesem Moment offenbart sich die innere Spaltung seiner Person noch einmal, wenn er sich vor Gott verbergen und vor dem Zorn des Vaters fliehen will. Der Hirte ist in die tragische Einsamkeit geworfen: Che feci? il sangue mi zampillò sul volto! ei cade; ei sviene... Ahi vista! … Ove mi ascondo? … Oh ciel! che feci! Empia marra, per sempre in bando vanne Dalla mia man, dagli occhi miei... Che ascolto? Oimè! giá giá la rimbomante voce d’Iddio mi chiama... ove fuggir? lá rugge l’ira atroce del padre... Quá i singulti del fratel moribondo... Ove celarmi? Fuggasi. (A, 238)
Abèle stirbt schließlich in einer Unmenge von Blut und wird dabei von den Eltern gefunden. Die verzweifelte Mutter fordert den Sohn zurück: »Onnipotente Iddio, rendimi Abèle; / rendimi Abélé...« (A, 243) schreit Eva, nachdem sie die unerbittliche Stimme Gottes vernommen hat: La Voce d’Iddio (preceduta e seguita da lampi e tuoni.) Uom, lasciato a te stesso, ecco qual sei. – Ma, bevuto ha la terra il sangue primo; E udito ha il Cielo i vostri giusti omèi: Caín fia tratto d’ogni orrore all’imo feroce esemplo spaventoso ai rei. – Sfogato il pianto, voi dal terrestre limo Voi gli occhi ergete al Creator, che vuole novella darvi e piú felice prole. (A, 243)
Die Stimme Gottes, die wie ein ›Deus ex machina‹, so Alferi im Vorwort (A, 185), in den fünften Akt eingreift, welcher doch eigentlich formal »schietta tragedia« sein soll, lässt dann doch das Religiös-Wunderbare ins tragische Universum einbrechen. Der Gedanke der Prädestination, den Adamo in seinem Schlusswort aufgreift, Eva möge sich doch jetzt bitte zusammennehmen und das soeben gesprochene Wort anbeten, wird noch einmal forciert. Der im melodramatisch opernhaften Teil der ›tramelogedia‹ vom Höllenpersonal gezüchtete negative Affekt des Neides ist von Gott gegeben und Initiator der tragischen Verstrickung. Caíno wird des elterlichen Hauses verwiesen, dem er sich dennoch angehörig
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fühlt. Eine tiefgreifende Entfremdung von Persönlichkeit und Herkunft tritt ein, der empfindsame Abèle als Teil dieser Persönlichkeit ist nur noch als Sehnsucht nach dem Verlorenen erhalten. Alfieri inszeniert diffuse und unbewusste Affekte als tragische Suchbewegung im Bannkreis von zwei konträren Gefühlsregimen. Caíno wird von einem Neidgefühl affiziert, das ihn in eine entfesselte Wunschstruktur hineintreibt. Nicht umsonst ist es Eva, die das Mal auf Caínos Stirn voraussieht. » […] un certo / non so qual tetro inesplicabil segno, / come se fosse una nube di sangue, / non ti sembr’egli pur tra ciglio e ciglio / veder scolpito di Caíno in fronte?« (A, 205). Gezeichnet von der Schlange, die die Problematik um das verbotene Wissen einst an Eva im Paradies herantrug. Eine sich unbewusst formierende Wunschstruktur greift nach einem noch nicht spezifizierbaren Wissen um ein Außerhalb der bisher bekannten Gefühlskonstellation der bürgerlichen Familie. Das Gegeneinander von höllischer und empfindsam-bürgerlicher Familie ist jedoch nur an der Oberfläche als solches zu begreifen. Was sich zunächst als zwei voneinander getrennte Bereiche ausnimmt, sind im Grunde zwei Seiten ein und derselben Struktur. Luzifer und Gott ergeben eine Figur. Die höllische und die empfindsam-bürgerliche Familie kippen ineinander. Caínos in Bewegung gesetzter Körper ist die Umsetzung einer energetischen Begehrensstruktur ohne Ziel und Zweck. Seine Infizierung mit dem Neid ist der repressiven Struktur der bürgerlichen Kleinfamilie geschuldet. Die Gefühlsproblematik Caínos entzündet sich nicht nur an der von Gott unberücksichtigten Opfergabe, sondern wird in erster Linie als individueller Familienkonflikt dargestellt, der sich in einer schizoiden Abspaltung lösen wird. In den Mittelpunkt stellt Alfieri die im Freudschen Sinne ödipale Konstellation der Familie. Er präpariert aus dem biblisch archaischen Stoff eine späterhin als modern psychologisch firmierende Problematik heraus. Mit Abèle verlässt Alfieri die an Aristoteles orientierte klassische Ökonomie der Tragödie und die Ordnung der Repräsentation. Er schließt vielmehr an ein pathos an, wie es noch in Sophokles’ König Ödipus vorhanden war und auch von Aristoteles schon nicht mehr verstanden wurde.28 Hier liegt auch die für Alfieri so spezifische Überschreitung der französischen ›doctrine classique‹ begründet. Sie ist zuallererst ein Rückgriff auf eine wilde und nicht bereinigte Antike, wie sie von Nietzsche in der Geburt der Tragödie wiederentdeckt wird. Alfieri konfiguriert die Tragödie an der Schwelle zur Moderne neu. Seine implizite Verhandlung der ödipalen Konstellation überschreitet die vorangegangenen Bearbeitungen des Stoffes bei Corneille oder Voltaire. Hier war es die Unmöglichkeit des Sujets, so Jacques Rancière, die dazu führte, dass der Inhalt radikal geändert oder neu
28 Jacques Rancière: L’inconscient esthétique. Paris: Galilée 2001, S. 21.
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ausgerichtet werden musste.29 Das klassischen Zeitalter – und dem gehört auch Voltaire mit seinem Bezug zu Racine noch teilweise an – qualifiziert das Sujet des Ödipus als massiv fehlerhaft. Der Fehler liegt dabei nicht in der Inzestgeschichte, sondern in der nicht gelungenen Enthüllung des eigentlichen Geheimnisses. Fehlerhaft ist vor allem die Beziehung zwischen dem, was gesehen wird, und dem, was gesagt wird, zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gehört wird.30 Es muss als hoch unwahrscheinlich angesehen werden, dass der vor Wissensdurst rasende Ödipus die Wahrheit nicht hört, als sie ihm vom Seher Teiresias offenbart wird. Hierin liegt, mit Rancière gesprochen, das pathos des unmöglichen Wissens von Sophokles’ Ödipus, das am Ende dazu führt, sich der Welt des Sichtbaren ganz zu entziehen. Dieses pathos sei der Ordnung der klassischen Repräsentation absolut fremd, die im Fahrwasser der aristotelischen Poetik die Maschinerie der Peripetie und der Erkenntnis entstehen lasse. Denn, so die These Rancières, die ganze Theorie der dramatischen Handlung in der Poetik ist darauf abgestellt, diese eigentliche Dynamik im Sophokles’schen Ödipus zu unterdrücken.31 Caíno erscheint als tragischer Held der ununterdrückbaren Wünsche, die ihre Dynamik durch den Neid erhalten. Der Neid allerdings ist nur an der Oberfläche noch biblisch definierte Sünde, gefüllt ist die Chiffre des Neides mit einem neuen Affekttypus. Das Mal auf Kains Stirn ist einmal bibelgemäß das von Gott gesetzte Zeichen, dass er nicht erschlagen werden dürfe. In Alfieris Abèle ist es aber auch Brandmal des Wissens, das die Schlange Evas auf sein Gesicht zeichnet. Der Drang nach einem Außerhalb des bekannten Lebensbezuges wird hier mit einem Zeichen chiffriert. Das Ziel der Dynamik, die einer weitgehend unbewussten Wunsch- und Begehrensstruktur folgt, ist unbekannt oder nicht existent. Caíno wird des elterlichen Hauses verwiesen und muss von da an nomadisch umherirren. Caíno zeigt sich als eine Figur des Nicht-Denkens, die einer affektinduzierten Bewegung folgt und in einer Dynamik der Spaltung begründet liegt. Alfieris Abèle operiert auf allen Ebenen mit einer Erzeugung von Spaltungen: Abèle
29 Corneille streicht die ausgestochenen Augen. Teiresias als Figur fällt ebenfalls weg. Statt des Frage- und Antwortspiels zwischen dem Seher und Ödipus fügt er eine moderne Intrige mit Liebes- und Interessenkonflikten ein. Ödipus erhält zudem eine Schwester, mit der er um den Thron konkurriert. Die Liebesgeschichte zwischen dieser Schwester, Dirke, und Theseus treibt die Handlung voran. Sie erzeugt Spannung, indem sie die Verteilung des Wissens und der Ungewißheit über die Auflösung steuert (Ebda., S. 19). Voltaire korrigiert ebenfalls das Sujet, indem er den Mord einen anderen begehen lässt, der zufällig pünktlich zur Enthüllung wieder in Theben auftaucht. 30 Jacques Rancière: L’inconscient esthétique, S. 21 f. 31 Ebda., S. 22 f.
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vs. Caíno, bürgerliche Kleinfamilie vs. höllische Familie, Oper vs. Tragödie. Die Figur des Caíno setzt in einem schizoiden Akt die Spaltung in Handlung um. Er katapultiert sich mit der Affekthandlung aus der repressiv familiären Bezogenheit heraus und verliert damit seine stabilitas loci, ist dazu verdammt, als ewiger Fremder und Heimatloser weiter zu leben. Caíno ist Nomade. Hier folgt Alfieri ganz der Genesis-Erzählung, in der Kain von Gott dazu verflucht wird, unstet und flüchtig zu sein. Der biblische Text wird jedoch mit einem auf die Moderne vorausweisenden Subtext angereichert. Caínos Begehrensstruktur setzt sich durch den Brudermord von der ödipalen Dreieckskonstellation ab und wird in einen unbekannten Außenraum gestellt. Er mutiert damit zu einer Art Anti-Ödipus im Sinne von Deleuze und Guattari, die den Ödipus-Komplex als ein kulturspezifisch abendländisch-bürgerliches Phänomen markieren. Der Vorwurf an die Psychoanalyse Freuds lautet hier, das Unbewusste und sein Begehren auf das familiäre Dreieck zu reduzieren. Das Unbewusste werde in dieser Konstellation der kleinbürgerlichen Familie unterworfen, Wunsch und Begehren ungebührlich eingezwängt: »Freud entdeckt den Wunsch als Libido, den Wunsch, der produziert. Aber gleichzeitig gibt er keine Ruhe, bis die Libido wieder in der familialen Repräsentation entfremdet ist (Ödipus). […] Der Wunsch wird auf eine Familienszene zurechtgestutzt.«32 Die Psychoanalyse ist damit immer schon Teil der allgemeinen bürgerlichen Repression, die auch eine kapitalistische ist. Aus dem Text von Alfieris Abèle lässt sich dieser strukturelle Zusammenhang herauslesen, wenn er auch nicht explizit ausformuliert ist. Caíno steht als Figur für einen affizierten Körper, der sich über bekannte Gefühlsregime hinwegsetzt und – auch in einer vermeintlichen Negativität – der Spur des reinen Begehrens folgt. Seine schizophrene Anlage gehorcht einem Typus des Unbewussten, der sich aus der ödipalen Situation freisetzt. Das Unbewusste ist hier gekoppelt an ein Unwissen, das sich in Abèle im Laufe der Handlung nicht auflöst. Die Zeichnung Caínos wird in Alfieris Version vielmehr zum Brandzeichen eines affektinduzierten Nicht-Denkens, in dem das spezifische pathos von Abèle begründet liegt. Es entsteht die Dynamik eines spalterisch vorangetriebenen Körpers, der alle bekannten Formationen verlässt und als reiner Begehrens- und Bewegungskörper existiert. Abèle ist die Adaptation der pathetischen Qualität von Sophokles’ König Ödipus, die Alfieri anders dimensioniert. Mit dem Verlassen des inzestuös-familiären Dreiecks verlässt Alfieri auch die engen Grenzen des klassisch-repräsentativen Dramas und führt einen neuen Körpermodus der affektinduzierten Bewegung ein, der im unbewussten Stand eines Nicht-Denkens gründet. Dieses dynamisch Unbewusste verweist über die bekannten Gefühls-
32 Gilles Deleuze: Unterhandlungen: 1972–1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 29.
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Gesine Hindemith
und Machtkonstellationen in eine neue historische Situation. Ähnlich wie der Schizophrene bei Deleuze und Guattari zum universellen Produzent wird,33 setzt sich das schizophrene Muster der Spaltung in Abèle erkennbar in poetische Energie um. Alfieri konfiguriert hier eine spezifische kathartische Situation, bei der der Zuschauer in einer von ihm entfernten Situation eine Verkörperung der Überschreitung historischer Verhältnisse erleben kann. Die Figur des Caíno steht als Platzhalter für eine Form des Unbewussten, die ein schizophren maschinelles Bewusstsein ausbildet. In ihr ereignet sich eine ›mise en abyme‹ der Ifierianischen Tragödienmaschine, die qua infizierender Wirkästhetik neue politische Verhältnisse herbeizuschreiben scheint.
Bibliographie Alfieri, Vittorio: Risposta dell’Alfieri. In: Ders.: Parere sulle tragedie e altre prose critiche. Asti: Casa d’Alfieri 1978, S. 216–238. —: Abele. In: Ders.: Tragedie postume. Herausgegeben von Nicola Bruscoli. Bari: Laterza & Figli 1947, S. 179–243. —: Mirra. In: Ders.: Tragedie. V. I. Herausgegeben von Nicola Bruscoli. Bari: Laterza & Figli 1946. —: Saul. In: Ders.: Il teatro italiano, IV, Vittorio Alfieri, Tragedie. Bd. II. Torino: Einaudi 1993. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1994. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen: 1972–1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Capitalisme et schizophrénie. L’Anti-Œdipe. Paris: Éd. de Minuit 1972. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1983. Grempler, Martina: Schauspielmusik in Italien um 1800. Eine Spurensuche. In: Ursula Kramer (Hg.): Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen, Bielefeld 2014, S. 171–181. Huss, Bernhard: Sublimität und Tragödie bei Vittorio Alfieri. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62.4 (2012), S. 391‑418. Jameson, Fredric: The Antinomies of Realism. London/New York: Verso 2013. Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1988. Metastasio, Pietro: La morte d’Abel. In: Opere del Signor Abate Pietro Metastasio. Bd. 7. Paris: Presso la Vedova Herissant 1780.
33 Gilles Deleuze/Felix Guattari: Capitalisme et schizophrénie. L’Anti-Œdipe. Paris: Éd. de Minuit 1972, S. 13.
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Oster, Angela: Tyrannei, Tragödie, Traktat: Vittorio Alfieri und die Machiavellistik der Aufklärung. In: Judith Frömmer/Dies.: (Hg.): Texturen der Macht. 500 Jahre ›Il Principe‹. Berlin: Kadmos 2015, S 290‑318. Rancière, Jacques: L’inconscient esthétique. Paris: Galilée 2001. Winkler, Daniel: Körper, Revolution, Nation. Vittorio Alfieri und das republikanische Tragödienprojekt der Sattelzeit. Paderborn: Fink 2016.
Rebekka Schnell
Der Tod Luciens: Exzess und Entleerung der melodramatischen Affektregie in Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes Mit seinem zwischen 1838 und 1847 erschienenen Roman Splendeurs et misères des courtisanes erzielt Balzac, neben La Cousine Bette, seinen größten Publikumserfolg. Sein Ziel, daran lässt Balzac keinen Zweifel, ist die Eroberung und Manipulation des Publikums: »manier le public«, wie er an Mme Hanska schreibt.1 Der Wunsch nach Publikumserfolg sowie seine ständigen Geldsorgen zwingen Balzac, sich den Regeln der kommerziellen Literaturproduktion zu unterwerfen: Nirgends nähert er sich dem Fortsetzungs- und Feuilletonroman eines Eugène Sue stärker an als in den Splendeurs.2 Dabei ist es vielleicht kein Zufall, dass das ökonomisch erfolgreichste zugleich auch das melodramatischste von Balzacs Spätwerken ist.3 So bringen gerade die hyperbolischen Gesten und Pathosformeln des Melodramas, wie Christopher Prendergast gezeigt hat, die verborgene Ökonomie der Erzählung zur Erscheinung.4 Der »sens caché«, auf den Balzac im Vorwort seiner Comédie humaine anspielt, verweist auf die »passionelle Dynamik«5 der Begierden und Affekte, hinter denen sich als nicht weiter reduzierbarer Kern das nackte (Eigen-)Interesse verbirgt.6 Die soziale Welt Balzacs ist beinahe restlos ökonomischen Prinzipien unterworfen: Körper, Identitäten, Überzeugungen, alles ist austauschbar, alles wird zur käuflichen Ware.7 Strippenzieher auf diesem gewaltigen Basar, der Paris ist, sind der geflohene Galeerensträfling Jacques
1 Honoré de Balzac: Lettres à Mme Hanska. Bd. 1. Herausgegeben von Roger Pierrot. Paris: Éd. du Delta 1967, S. 99. 2 »Je fais du Sue tout pur«, schreibt Balzac am 31. Mai 1843 an Mme Hanska. Honoré de Balzac: Lettres à Mme Hanska. Bd. 2. Herausgegeben von Roger Pierrot. Paris: Éd. du Delta 1968, S. 229. 3 Vgl. Christopher Prendergast: Balzac. Fiction and Melodrama. London: Arnold 1978, S. 35. 4 »Balzac’s novels open and complete the file on modern life, they uncover and record what in the Avant-propos is called the ›sens caché‹ of reality. The narrative structure of Splendeurs proceeds as a progressive hermeneutic dévoilement.« Christopher Prendergast: The Order of Mimesis: Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1986, S. 102. 5 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 2010, S. 35. 6 Vgl. ebda., S. 35. 7 Prendergast: The Order of Mimesis, S. 87. https://doi.org/10.1515/9783110479638-013
Der Tod Luciens
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Collin alias Vautrin, der als »Banquier des […] bagnes«8 das Vermögen der kriminellen Unterwelt verwaltet, und der steinreiche Bankier Baron de Nucingen, »qui a été Jacques Collin légalement et dans le monde des écus« (VI, 923). Nucingen und Jacques Collin sind einander strukturell äquivalent: Beide spielen virtuos auf der kapitalistischen Klaviatur, nur dass die Wirtschaftskriminalität Nucingens unbestraft bleibt, während die kriminellen Machenschaften Vautrins staatlich verfolgt werden. Vautrin ist nicht nur der archetypische Verbrecher der Comédie humaine, sondern zugleich einer ihrer größten Kapitalisten:9 Niemand ist so geschickt wie er darin, aus Wissen, Schönheit und Macht Kapital zu schlagen. Am Ende von Illusions perdues rettet er als falscher spanischer Priester Carlos Herrera den suizidalen Lucien Chardon und erkennt auf den ersten Blick dessen immensen Marktwert: »Le diamant ignore sa valeur« (V, 691)10, verrät er dem verarmten und verzweifelten »Poeten«, und macht sich in Splendeurs et misères des courtisanes daran, Luciens erotisches Potential in soziales und finanzielles Kapital umzumünzen. Gottgleicher Pygmalion der Unterwelt, erschafft sich Vautrin in Lucien seine eigene Kreatur, in der er sich fortan inkarniert: »Je veux aimer ma créature, la façonner, la pétrir à mon usage, afin de l’aimer comme un père aime son enfant.« (V, 708) Luciens ›Rettung‹ und Vermarktung durch Vautrin wiederholen sich im Schicksal Esthers: Die legendäre Kurtisane macht als »La Torpille« alle Männer verrückt, bis sie sich unsterblich in Lucien verliebt. Als dieser jedoch durch Zufall von ihrer Vorgeschichte als Prostituierte Wind bekommt, versucht Esther sich umzubringen. Wie Lucien am Ende von Illusions perdues, bewahrt Vautrin Esther am Anfang von Splendeurs vor dem Suizid und steckt sie in ein Kloster, wo sie zur reuigen Büßerin konvertiert. Fortan dient sie nur noch einem Gott: Lucien. Eingesperrt im goldenen Käfig seines Apartments, darf dieser schöne Vogel nur im Schutz der Dunkelheit ausfliegen. Eines Nachts wird sie vom alten Baron de Nucingen gesichtet, der der Unbekannten augenblicklich mit Haut und Haaren
8 Honoré de Balzac: Splendeurs et misères des courtisanes. La comédie humaine. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 6. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex u. a. Paris: Gallimard 1977, S. 503. Im Folgenden zitiere ich aus dieser Ausgabe unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl im laufenden Text. 9 »Archetypical criminal of the Comédie humaine, Vautrin is also, in a sense, one of its great capitalists, or rather he incarnates the spirit of anonymously mobile capital, its origins opaque, its transactions murky, its ›life‹ that of continuous circulation. […] Everywhere and everything, Vautrin is the very image of a universal convertibility, of an exchange-rate without the underpinning foundation of a ›gold-standard‹.« Prendergast: The Order of Mimesis, S. 97. 10 Honoré de Balzac: Illusions perdues. La comédie humaine. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 5. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex u. a. Paris: Gallimard 1977, S. 691.
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verfällt. Gerissener Kapitalist, der er ist, erkennt Vautrin die Gelegenheit, Esthers liebendes Herz in Gold zu verwandeln. Sie soll sich für eine astronomische Summe an Nucingen verkaufen, um Luciens Hochzeit mit Clotilde de Grandlieu zu ermöglichen, die zwar über keinerlei erotisches, dafür aber über umso mehr soziales und finanzielles Kapital verfügt. Verkauft Esther im Namen ihrer Liebe zu Lucien ihren Körper an Nucingen, so prostituiert sich Lucien seinerseits, um die Protektion der ›grandes dames‹ des Faubourg Saint Germain zu erlangen. So wird Madame de Sérisys Passion für Lucien beschrieben als »un amour semblable à celui du baron de Nucingen pour Esther« (VI, 962).11 Wie Nucingens Liebe zu Esther gilt die Leidenschaft der großen Pariser Damen für Lucien einem Körper, der als sexuelles Tauschobjekt unermesslichen Wert gewinnt. Wie einst der Torpille, verfällt ganz Paris Lucien: Vautrin wie Esther, Mme de Bargeton, Mme de Maufrigneuse, Mme de Sérisy, alle begehren Lucien.12 Gerade weil Luciens körperliche Reize seltsam unterbestimmt bleiben, er als effeminiert und viril, erotisch unbedarft und virtuos, passiv und aktiv zugleich umschrieben wird, bietet er die perfekte Projektionsfläche für das Begehren, sei es sexueller oder romantischer, hetero- oder homosexueller Natur. Polymorph und frei von jeder geschlechtlichen wie semantischen Bestimmung, zirkuliert Luciens Körper durch alle Milieus und verknüpft so den Faubourg Saint-Germain mit der Unterwelt.13 An Esther und Lucien erweist sich einerseits exemplarisch die Symbiose von Affekt und Ökonomie, die Balzacs Text im Ganzen prägt; andererseits lassen sich an ihnen, so meine These, zugleich jedoch die Bruchstellen ablesen, an denen der Affekt die Ökonomie (des Textes) durchkreuzt. Die Ökonomie der Splendeurs beruht nicht so sehr auf dem Haushalten und Disziplinieren, sondern vielmehr auf der Entfesselung der Passionen. Diese passionelle Ökonomie gerät jedoch genau dann ins Stottern, wenn die derart entfesselten Affekte sich nicht auf egoistische Interessen reduzieren lassen.14 In den Splendeurs sind es vor allem
11 Prendergast: Balzac. Fiction and Melodrama, S. 84. 12 Christopher Prendergast zufolge verkörpert Lucien die Idee des reinen Tauschwerts: »he is all things to all men, he ›is‹ whatever offers for exchange in any given situation […].« Prendergast: The Order of Mimesis, S. 99. 13 »Lucien’s body thus circulates throughout the social organism like an insidious poison generating corruption, excess, madness and death. In the circuit it travels, it also creates a nexus of interests binding the underworld and the Faubourg Saint-Germain.« Prendergast: Balzac. Fiction and Melodrama, S. 85. 14 José-Luis Diaz hat für die paradoxe Ästhetik Balzacs zwischen dramatischer Verdichtung und produktiver Verausgabung in Balzacs La Peau de chagrin die Formel der »économie passionnée« geprägt. Im Hinblick auf den Tod Luciens und Splendeurs et misères des courtisanes würde ich jedoch argumentieren, dass der melodramatische Exzess die Balzac’sche Affekt- und Erzähl-
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zwei Affekte, die das ökonomische Prinzip der freien Zirkulation und des unbegrenzten Tausches torpedieren: einerseits der selbstlose, uninteressierte Affekt, wie er sich exemplarisch in Esthers aufopfernder Liebe für Lucien manifestiert; andererseits die affektive Besetzung eines individuellen und daher eben nicht austauschbaren, unersetzlichen Objekts, wie sie Vautrins Liebe zu Lucien verkörpert. Fungiert Vautrin als Motor des Narrativs, so scheitert sein elaborierter Plot – der soziale und finanzielle Aufstieg Luciens – an eben diesen beiden Affekten: an Esthers Liebesopfer, ihrem Selbstmord direkt im Anschluss an die Nacht mit Nucingen, mit dem sie sich Vautrins Regie in letzter Konsequenz entzieht; aber auch seinem eigenen Begehren, sich in Lucien zu inkarnieren, in ihm aufzugehen, das sein »cœur de bronze« (VI, 813) affiziert und letztlich porös und weich werden lässt.15 Dieser doppelte Kontrollverlust spiegelt sich in zwei Selbstmorden: dem Suizid Esthers, mit dem nicht nur Vautrins master plan, sondern auch die Narration selbst ins Straucheln gerät, und dem Selbstmord Luciens, der die grandiosen Machinationen Vautrins endgültig zum Scheitern bringt. * Es ist bezeichnend für das Verhältnis von Affekt und Ökonomie bei Balzac, dass gerade die Passion, die jeder Ökonomie entgegensteht, nämlich Esthers Liebe zu Lucien, in letzter Konsequenz noch ökonomischen Prinzipien folgt. Anders als ihre tragischen Vorgängerinnen bringt sich Esther nicht vor, sondern nach der Nacht mit Nucingen um. Sie erfüllt den von Vautrin arrangierten Deal, schlüpft ein letztes Mal in die Rolle der Prostituierten, und wird im Tod zugleich zur selbstlosen Braut Luciens. Vor der Nacht mit Nucingen legt sie eine »toilette de mariée« aus weißer Spitze und Satin an, schmückt sich mit Kamelienblüten »en imitant une coiffure de jeune vierge« (VI, 688), und ihre größte Sorge ist es, noch im Tod bella figura zu machen: »Vois-tu«, schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief, »je veux être belle en morte […] je ne serai défigurée ni par les convulsions, ni par une posture ridicule« (VI, 760). Ihr Liebestod, der nach Shakespeares Romeo und Julia modelliert ist (vgl. VI, 688) beruht jedoch gerade nicht auf einer romantisch-tragischen, sondern auf einer kapitalistischen Logik. Indem sie ihren Körper erst in
ökonomie durchkreuzt. José-Luis Diaz: L’économie, la dépense et l’oxymore. In: Claude Duchet/ Madeleine Ambrière (Hg.): Balzac et La Peau de Chagrin. Paris: Belfond 1979, S. 161–177. 15 Ebda., S. 176: »No less than his ›creature‹, Vautrin is motivated by specular dreams of presence. The desire to be, to have Lucien, fatally attaches him to a specific object rather than to social processes themselves. Until his ›conversion‹, Vautrin is an anachronism: […] what inspires him are fantasies of individual possession, possession of individual objects by individual subjects.«
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Gold verwandelt und sich danach umbringt, verschafft sie Lucien den nötigen Reichtum für seinen Aufstieg und schafft sich zugleich selbst aus dem Weg. Noch im Tod und über den Tod hinaus soll sie sich für Lucien rentieren: »Oui, j’y consens, je te serais encore bonne à quelque chose comme de mon vivant […]. Ma mort te sera donc utile encore« (VI, 759; Herv. R. S.). Folgt Esthers Passion noch in ihrer absoluten Selbstlosigkeit einem ökonomischen Prinzip, so torpediert ihr Selbstmord gleichwohl die Ökonomie des Plots und der Narration. Im Anschluss an ihren Suizid werden Vautrin und Lucien verhaftet und die Erzählung verwandelt sich mit Beginn des dritten Kapitels in eine Hängepartie: Nachrichten und Briefe kommen nicht oder zu spät an, überkreuzen oder verfehlen sich; die Zirkulation von Worten, Waren und Körpern gerät ins Stocken.16 Vautrin schafft es trotz aller raffinierten Schachzüge nicht, Lucien rechtzeitig zu übermitteln, dass er nicht nur Nucingens 750.000 Francs erben wird, sondern auch die sieben Millionen, die Esther Van Bogseck – die sich als Nichte des schwerreichen Wechselverkäufers Gobseck entpuppt – geerbt hat. Vautrins Strategie, seine falsche Identität als spanischer Priester zu behaupten und Lucien als seinen leiblichen Sohn auszugeben, scheitert an Luciens Willensschwäche und Feigheit: Vom gerissenen Untersuchungsrichter Camusot befragt, gibt er sofort zu, dass Vautrin kein spanischer Priester und nicht sein Vater, sondern niemand anders als der flüchtige Galeerensträfling Jacques Collin ist. Wie alle echten Frauen ist auch Lucien, »[cette] âme de femme« (VI, 765), seinen unmittelbaren Gefühlen und Affekten ausgeliefert, während Reflexion und Urteilsvermögen, wenn überhaupt, immer zu spät einsetzen: »Le poète est faible, il est femme« (VI, 768).17 Die weibliche Seite Luciens wird ihm bzw. seinem Schöpfer zum Verhängnis. Mit aller Macht sucht Vautrin das Weibliche zu unterdrücken: Esthers immense erotische Macht wird unter seiner Ägide zunächst aus dem Verkehr gezogen und domestiziert, dann im Deal mit Nucingen ausgebeutet. Luciens feminine Schönheit verwandelt Vautrin in soziales Kapital; die Willens-
16 Vgl. Prendergast: The Order of Mimesis, S. 98 f. »Moreover, the anticipated last act of the play is the one thing its author cannot in fact guarantee. Vautrin’s elaborate plan comes crashing to the ground; the doublings of which he is the author release forces which run beyond his apparently omnipotent control: creator of disorder, he cannot himself fully command the field of that disorder. From the moment of Esther’s suicide, the plot of Splendeurs runs riot, largely in the form of a series of messages and letters that cross, conflict, arrive too late or cannot be transmitted; the communicative circuit gets blocked, seize up, go wild.« 17 Vgl. auch VI, 773: »La réflexion était venue trop tard, comme chez tous les hommes qui sont esclaves de la sensation. Là est la différence entre le poète et l’homme d’action: l’un se livre au sentiment pour le reproduire en images vives, il ne juge qu’après ; tandis que l’autre sent et juge à la fois.«
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und Reflexionsschwäche seines Geschöpfs kompensiert Vautrin hingegen durch seinen männlich-analytischen Verstand.18 Jedoch lässt sich das Weibliche nicht restlos unterdrücken und schlägt in beiden Fällen auf ihre Autoren zurück – auf Vautrin, aber auch auf den Erzähler der Splendeurs selbst. Denn das Weibliche, und das heißt bei Balzac der unkontrollierbare, unverfügbare Affekt, erweist sich als hochgradig ansteckend. So verfällt Vautrin, der sich gegen jede weibliche Verführung immun glaubt, mit Haut und Haaren Lucien, »cet homme à moitié femme« (VI, 505). Sein Begehren, Lucien zu besitzen, ja Lucien zu sein, erweist sich als intensive Form der Liebe, die ihn selbst schwach und anfällig für taktische Fehler macht: »Au milieu de sa force, il était si faible contre les fantaisies de sa créature qu’il avait fini par lui confier ses secrets.« (VI, 502) Wenngleich er aus Luciens Schönheit maximales Kapital schlägt, geht seine eigene Passion doch in keinem kapitalistischen Kalkül auf. So heißt es gegen Ende der Splendeurs, als der Plan Vautrins bereits im Scheitern begriffen ist: »Jacques Collin, si l’on a bien pénétré dans ce cœur de bronze, avait renoncé à lui-même depuis sept ans. Ses puissantes facultés, absorbées en Lucien, ne jouaient que pour Lucien […].« (VI, 813) Weil Vautrin Lucien auf eine im Kern desinteressierte Weise liebt, vermag er ihn nicht als reines Instrument zu benutzen, d. h. bei Bedarf auszutauschen; weil Esther Lucien uneigennützig liebt, lässt sie sich nicht restlos zur Ware machen und setzt ihrem Leben eigenmächtig ein Ende. Vautrin, der ›gottgleiche Pygmalion‹, verliert die Kontrolle über sein Geschöpf und über diejenige, die Lucien selbstlos verfallen ist. »Je suis l’auteur, tu seras le drame« (VI, 504), sagt er zu Beginn zu Lucien, aber die Regie entgleitet ihm in dem Maße, in dem Affekte ins Spiel kommen, die mit keinem Eigeninteresse verrechenbar sind.19 Symptom dieses Kontrollverlusts in der Folge von Esthers Selbstmord, der die Verhaftung Luciens nach sich zieht, ist die grassierende Hysterie, die zunächst ganz klassisch die Frauen affiziert. Ihrem inhaftierten ›chéri‹ zur Hilfe eilend, wirft Léontine de Sérisy die Lucien belastenden Verhörprotokolle ins Feuer und liefert sich mit dem Richter Camusot einen wilden Kampf um die brennenden Schriftstücke. Dieses »grave attentat« gegen die Justiz, das von den umstehenden männlichen Amtsträgern umgehend zur »plaisanterie de jolie femme« (VI, 784)
18 Vgl. VI, 450: »Il était, certes, insensible aux jolies rondeurs d’un sein presque écrasé sous le poids du buste fléchi et aux formes délicieuses de la Vénus accroupie […].« 19 Vgl. Peter Brooks: The melodramatic imagination. New Haven, London: Yale Univ. Press 1976, S. 109: »The one thing in the story of Splendeurs that cannot be fully controlled and manipulated is the desire of Esther and the only solution she can find for its impossible predicament. Her suicide marks the point of Vautrin’s loss of control over events.«
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verniedlicht und relativiert wird, ist jedoch nur Madame de Sérisys erster Streich. Als sie vom Tod Luciens erfährt, entwickelt Léontine buchstäblich übersinnliche Kräfte und verbiegt mit ihren zarten Damenhänden die Gitterstäbe des Hochsicherheitstrakts der Conciergerie: Elle s’abattit comme une plume poussée par un vent furieux à la grille, elle en secoua les barres de fer avec tant de fureur, qu’elle arracha celle qu’elle avait saisie. Elle s’enfonça les deux morceaux sur la poitrine, d’où le sang jaillit, et elle tomba criant: ›Ouvrez! ouvrez!‹ (VI, 795)
Diese im Paroxysmus der Passion freigesetzten übermenschlichen Energien werden einige Seiten später in einem Exkurs über den Magnetismus wieder eingeholt und rationalisiert. So räsoniert der Gerichtsmediziner, der hier zur ›porte-parole‹ des Autors wird, über das magnetische Energiereservoir der Passionen: Il me paraît donc prouvé que, sous l’empire de la passion qui est la volonté ramassée sur un point et arrivée à des quantités de force animale incalculables, comme le sont les différentes espèces de puissances électriques, l’homme peut apporter sa vitalité tout entière […]. (VI, 811)
Die (weibliche) Passion setzt eine unheimliche animalische Energie frei, die von einem sich allmächtig und allwissend gebärenden Erzähler bzw. seinen Stellvertretern umgehend kommentiert, gedeutet und somit angeeignet und domestiziert wird. Indes erweist sich der hysterisch überschießende Affekt als hochgradig ansteckend: weder vor halben Männern wie Lucien noch vor ganzen wie Vautrin macht er halt. So erlebt Lucien kurz vor seinem Selbstmord eine Vision, die der Erzähler auf den Ausbruch eines einzigen, monomanen Affekts zurückführt: »L’homme sous la pression d’un sentiment arrivé au point d’être une monomanie à cause de son intensité, se trouve souvent dans la situation où le plongent l’opium, le haschisch et le protoxyde d’azote.« (VI, 793) Kaum hat man uns indes Luciens Fata Morgana bildhaft vor Augen gestellt, belehrt uns der Erzähler mit auktorialem Gestus: »Aujourd’hui les phénomènes de l’hallucination sont si bien admis par la médecine […]« (ebda.). Allen Rationalisierungsversuchen zum Trotz bringen die überschüssigen, ja übersinnlichen Energien, die der gesteigerte Affekt entfesselt, die Ökonomie der Narration aus dem Tritt. Was der Erzähler daher im Hinblick auf das Räderwerk der Justiz sagt, gilt a fortiori für die Maschinerie des Textes selbst: »La mort de Lucien et l’invasion à la Conciergerie de la comtesse de Sérisy venaient de produire un […] grand trouble dans les rouages de la machine« (VI, 809). Die Hysterisierung der Figuren lässt sich nicht rational einhegen, sondern schlägt im Gegenteil auf den Text selbst zurück. So spricht Charles Bernheimer
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von einer Art »narrative hysteria«20, die den Text in der Folge von Esthers und Luciens Selbstmord befällt, und die in der hysterischen Krise Mme de Sérisys und Vautrins gipfelt. Vautrins Reaktion auf den Tod seiner Kreatur scheint die bereits ins Extrem gesteigerte Passion von Mme de Sérisy zu wiederholen und noch zu überbieten. Léontines »cri terrible«, in dem eine »puissance incalculée« (VI, 794) hervorbricht, wird gedoppelt durch Vautrins »cri […] épouvantable« (VI, 816), den der Erzähler mit dem Schrei eines Tigers vergleicht, dem die Jungen weggenommen wurden. Beider Affekt artikuliert sich in einer Reihe von Pathosformeln, die disparaten Bildfeldern und -traditionen angehören. »[C]omme une plume poussée par un vent furieux«, erinnert die Lucien zufliegende Léontine an die eilenden Nymphen Botticellis oder Ghirlandaios, in deren flüchtiger Bewegung sich für Warburg die Pathosformel der Ninfa kristallisiert. Über diese heidnische schiebt sich unmittelbar eine christliche Figur, nämlich die der ›mater dolorosa‹: Wie die Schmerzensmutter, die in der christlichen Ikonographie häufig mit einem oder sieben Schwertern in der Brust dargestellt wird, rammt sich Léontine die Gitterstäbe in die Brust, die sie zuvor mit den Löwenkräften, die sie im Namen trägt, ausgerissen hatte. Kurz bevor sie ohnmächtig wird, stellt Léontine noch ein letztes Mal die Schmerzensmutter, die kniend die gefalteten Hände zum Himmel reckt: »mais elle se dressa sur ses pieds, et tomba sur ses genoux en joignant les mains« (VI, 795). Beim Anblick des in seiner Zelle erhängten Luciens brechen schließlich alle Pathosformeln zusammen und Léontine mutiert zu einem röchelnden Tier, »en jetant des cris étouffés par une sorte de râle« (VI, 796). Ganz ähnliche Pathosformeln kommen in Vautrins hysterischer Krise zum Einsatz. So verschmilzt in seiner Schmerzensgeste das Bild des Tigers mit der Figur des Gottvaters, der den Tod des eingeborenen Sohnes beweint: Jacques Collin »se dressa sur ses pieds comme le tigre sur ses pattes […]; puis il s’affaissa sur son lit de camp en disant: ›Oh! Mon fils!‹« (VI, 816) Wie bei Léontines hysterischer Krise wird der extrem gesteigerte Affekt durch die Reihung von Pathosformeln aus völlig disparaten Bildfeldern – hier von Tierreich und christlicher Ikonographie – vermittelt. So sehen wir Jacques Collin in der nächsten Szene als ›mater dolorosa‹ über den Leichnam seines Sohnes gebeugt, den er mit aller Kraft umklammert: »il tomba sur ce corps et s’y colla par une étreinte désespérée, dont la force et le mouvement passionné firent frémir les trois spectateurs de cette scène« (VI, 818). Wie bei Warburgs Pathosformeln wird dieses »mouvement passionnée« in seiner maximalen Intensität stillgestellt. Als die Wärter einige Stunden später in Luciens
20 Charles Bernheimer: Figures of Ill Repute. Representing Prostitution in Nineteenth-Century France. Cambridge, Mass. u. a.: Harvard Univ. Press 1989, S. 67.
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Zelle kommen, finden sie Vautrin in der selben Haltung in einer »immobilité surnaturelle« erstarrt: »il ressemblait à une de ces figures de pierre agenouillées pour l’éternité sur les tombeaux du Moyen Age« (VI, 820 f.). Die narrative Hysterie manifestiert sich in einer »Überfülle der Bilder«, in »sensationelle[n] Bilderserien«,21 deren Effekte sich ebenso aus Oper, Kunst, Skulptur und Religion wie aus Biologie und Zoologie speisen. Wie Kultur und Natur, christliche und heidnische Ikonographie in diesem Exzess an Pathos übereinander geblendet sind – mal ist Vautrin ein Tiger im Dschungel, mal ›mater dolorosa‹ am Grab des Sohnes – so gehen auch die Geschlechts- und Verwandtschaftsbeziehungen wild durcheinander. Vautrins »paternité morale« wird ausgerechnet mit der Liebe der Frauen verglichen, »qui, dans leur vie, ont aimé véritablement, qui ont senti leur âme passée dans celle de l’homme aimé« (VI, 813). Und obwohl der Text immer wieder auf der Authentizität von Vautrins Rolle als Vater Luciens beharrt, sät er zugleich ständig Zweifel an dessen geschlechtlicher Zuordnung: »Après avoir couvé Lucien par un regard de mère à qui l’on arrache le corps de son fils, Jacques Collin s’affaissa sur lui-même.« (VI, 821; Herv. R. S.) Vautrin wird zur Verkörperung einer Dreifaltigkeit aus Gottvater, Mutter und Sohn, zwischen deren Identitäten er hysterisch oszilliert. Er selbst bringt diese Auflösung fester Identitäten und Verhältnisse auf den Punkt, wenn er stammelt: »Vous n’êtes père, si vous l’êtes, que d’une maniére; … je suis mère, aussi! … Je … je suis fou … je le sens.« (VI, 817) Damit spricht er über sich dasselbe Verdikt, wie ein umstehender Wärter über Mme de Sérisy: »Cette femme est folle« (VI, 794). Seines Geschöpfes beraubt, wird der allmächtige Autor zur Hysterikerin, die ihre Affekte unmittelbar ausagiert. Durch den Tod Luciens wird Vautrin zum ersten Mal selbst bis ins Mark affiziert: Sein Herz aus Bronze wird weich, erstmals seit seiner Kindheit steigen ihm Tränen in die Augen.22 Er, der Nerven aus Stahl und einen Körper wie Herkules besaß, wird schwach wie ein Kind: »Cet audacieux Trompe-la-Mort était devenu faible comme un enfant.« (VI, 821) *
21 Juliane Vogel: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ›großen Szene‹ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau: Rombach 2002, S. 350. 22 Vgl. VI, 815: »ce malheureux se sentit les yeux mouillés de larmes, phénomène qui, depuis son enfance, ne s’était pas produit uns seule fois en lui.«
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Der Tod Luciens in Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes, den Oscar Wilde als »one of the greatest tragedies of my life«23 bezeichnete, ist genauer betrachtet weniger tragisch, als zutiefst melodramatisch. Er bewirkt, exemplarisch bei Mme de Sérisy und Vautrin, eine dramatische Steigerung und ein theatralisches Ausagieren von Affekten, die auf kein psychisches Innenleben mehr verweisen. Dabei war Lucien nicht nur Vautrins Geschöpf, sein geistiger Sohn und Geliebter, sondern auch sein »drame«, seine soziale Repräsentation. Ohne ihn steht Vautrin nunmehr nackt bzw. körperlos auf der Bühne seines Melodramas – »vêtement sans corps, comme un haillon« (VI, 822). Mit dem Tod Luciens bricht die Doppelbödigkeit zwischen Repräsentation und Bedeutung zusammen, die Balzacs gesamten Text bestimmte: Vautrins hysterisches Ausagieren gilt einem Affekt, der nur noch auf sich selbst verweist, Teil eines Schauspiels ist, das es mit dem Ende Luciens gar nicht mehr gibt. Diese Ermüdungs- und Auflösungstendenzen, die exemplarisch Vautrin, aber auch den Text selbst, ja möglicherweise ein ganzes Genre erfassen, übersetzt der Erzähler in die Metapher des Rostens: Eh bien, l’âme humaine, ou, si vous voulez la triple énergie du corps, du cœur et de l’esprit se trouve dans une situation analogue à celle du fer par suite de certains chocs répétés. Il en est alors des hommes comme du chanvre et du fer: ils sont rouis. (VI, 822)
Wie also das Herz aus Bronze des großen Vautrin durch zu viele Schocks mürbe, der stählerne Körper und Verstand rostig geworden sind, so ist auch das Räderwerk des Textes spätestens mit dem Tod Luciens aus dem Gleis gesprungen. Deutlichstes Indiz dieses Hängenbleibens ist, neben der Serie von Peripetien, Exkursen und hysterischen Krisen, wohl der Abschiedsbrief Luciens, der in nahezu identischer Form doppelt abgedruckt ist: während Luciens Vorbereitungen auf den Suizid, und ein zweites Mal rund 35 Seiten später, als Vautrin den Brief schließlich zu Gesicht bekommt. Definiert man die Ökonomie des Textes, analog zu jener der Körper und Waren, als unendliche Zirkulation der Zeichen, so ist diese hier ganz manifest außer Kraft gesetzt: Die Narration stockt, kreist in sich selbst, hysterisiert sich in hypertrophen Pathosformeln, die auf nichts mehr verweisen als sich selbst. Vautrins herkulische Größe und Virtuosität entpuppen sich am Ende als anachronistisch und ohnmächtig – Vautrin reimt sich, wie Christopher Prendergast bemerkt hat, auf »vaut-rien«24, seine Machenschaften sind buchstäblich ›nichts
23 Oscar Wilde: The Artist as Critic: Critical Writings of Oscar Wilde. Herausgegeben von Richard Ellmann. New York: Random House 1969, S. 299. 24 Prendergast: The Order of Mimesis, S. 99.
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wert‹. Die Bilanz seines Masterplans erweist sich als ausgesprochen dürftig: Mit dem realisierten Doppelselbstmord wurden die einst von Vautrin vereitelten Suizidversuche Luciens und Esthers lediglich einige hundert Seiten aufgeschoben. Ist Jacques Collin der »guiding genius«25 des Plots, so steht am Ende nicht nur er in Lumpen – »vêtement sans corps, comme un haillon« (VI, 822) – auf der Bühne seines Melodrams, sondern auch die Geschichte selbst wird durchscheinend: Nach einigen Volten endet sie in einem letzten Coup, der Kehrtwende Collins, der zum Chef der Polizei aufsteigt. Aus dem Erzkriminellen ist ein Funktionär geworden, dessen geschmeidiges Agieren im Dienste des Staates von keinem Affekt mehr getrieben oder hintertrieben wird. Genau aus diesem Grund taugt diese finale Inkarnation aber auch nicht mehr zum Stoff der Erzählung. So lautet der lapidare letzte Satz des Romans: »Après avoir exercé ses fonctions pendant environ quinze ans, Jacques Collin s’est retiré vers 1845.« (VI, 935) Mit dieser letzten Inkarnation gelangt auch das Modell auktorialer Autorschaft und narrativer Kontrolle ans Ende, wie es vom gottgleichen Vautrin und seinem Geschöpf Lucien exemplarisch verkörpert wurde. Ohne Affekte, so ließe sich als Fazit ziehen, versiegt die Erzählung. Es sind die entfesselten Affekte, die Balzacs passionelle Ökonomie in Gang setzen und am Laufen halten; umgekehrt tun sich in dieser Ökonomie unendlicher Zirkulation Bruchstellen gerade dort auf, wo Affekte nicht mit egoistischen Interessen verrechenbar sind, Individuen gelten, die nicht austauschbar sind. Solche desinteressierten Affekte gehen nicht in der Mechanik der Interessen auf, sondern setzen einen Überschuss frei, der die passionelle Ökonomie des Textes sprengt und sich in hyperbolischen Pathosformeln Ausdruck verschafft. Jedoch mündet dieses hysterische Ausagieren gerade nicht in einer Abfuhr der Affekte und Wiederherstellung der Ordnung, sondern vielmehr in ihrem endgültigen Kollaps. Der Tod Luciens markiert so nicht nur die Bruchstelle zwischen Ökonomie und Affekt, sondern auch den Exzess und die Entleerung der melodramatischen Affektregie und Affektübertragung, die hier an ihr Ende gelangen. Reagierte das Melodram auf die Erosion der christlich-monarchischen Ordnung und den Verlust des tragischen Weltbilds im Kontext der französischen Revolution,26 so zeichnen sich am Ende von Splendeurs et misères des courtisanes neue Erzählformen am Horizont ab. An Stelle überlebensgroßer Individuen aus Fleisch und Blut wie Vautrin treten anonyme Funktionsträger, und an Stelle einer von singulären, überschießenden Affekten getriebenen Handlung tritt das abstrakte, von allen Affekten bereinigte Feld von Kräften und Funktionen, das Balzac in den Splendeurs nur noch andeutet, jedoch nicht mehr erzählt.
25 Bernheimer: Figures of Ill Repute, S. 55. 26 Vgl. Brooks: The melodramatic imagination, S. 15.
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Bibliographie Balzac, Honoré de: Lettres à Mme Hanska. Herausgegeben von Roger Pierrot. Paris: Éd. du Delta 1967–68. —: Splendeurs et misères des courtisanes. La comédie humaine. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 6. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex u. a. Paris: Gallimard 1977. —: Illusions perdues. La comédie humaine. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 5. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex u. a. Paris: Gallimard 1977. Bernheimer, Charles: Figures of Ill Repute. Representing Prostitution in Nineteenth-Century France. Cambridge, Mass. u. a.: Harvard Univ. Press 1989. Brooks, Peter: The melodramatic imagination. New Haven/London: Yale Univ. Press 1976. Diaz, José-Luis: L’économie, la dépense et l’oxymore. In: Claude Duchet/Madeleine Ambrière (Hg.): Balzac et La Peau de Chagrin. Paris: Belfond 1979, S. 161–177. Miller, D. A.: Balzac’s Illusions Lost and Found. In: Yale French Studies 67 (1984), S. 164–181. Prendergast, Christopher: Balzac. Fiction and Melodrama. London: Arnold 1978. —: The Order of Mimesis: Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1986. Vogel, Juliane: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ›großen Szene‹ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau: Rombach 2002. Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: Diaphanes 2010. Oscar Wilde: The Artist as Critic: Critical Writings of Oscar Wilde. Herausgegeben von Richard Ellmann. New York: Random House 1969.
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Ruinöses Erzählen, oder: Vom Affekt des Haus-Spaltens bei Zola I Affekt: Débordement des appétits – cette impulsion essentiellement moderne Émile Zolas Romanzyklus Les Rougon-Macquart kann als eine monumentale literarische Abhandlung über das gelten, an was gemeinhin gedacht wird, wenn von ›Affekten‹ die Rede ist. Zola selbst nennt diese ›Triebkräfte‹ nicht Affekte; er greift auf eine Hand voll anderer Namen zurück, die in den 20 Romanen des Zyklus immer und immer wiederkehren: les instincts, les passions, les appétits, les jouissances. Sie halten seine umfassende Studie des Zweiten Kaiserreichs zusammen. Sie kommen dabei nicht einem ausgewählten Individuum in einer speziellen Situation zu, sie sind Charakteristikum einer Gemeinschaft; Charakteristikum, das verschiedenste soziale Milieus überspannt. So steht es schon in der kurzen programmatischen Notiz, die dem ersten Roman vorangestellt ist: Les Rougon-Macquart, le groupe, la famille que je me propose d’étudier, a pour caractéristique le débordement des appétits, le large soulèvement de notre âge, qui se rue aux jouissances.1
Das Überborden der Appetite ist nicht bloß erbliche Anomalie einer Familie; die Familie der Rougon-Macquart verkörpert vielmehr exemplarisch das »large soulèvement de notre âge«, wie Zola die umwälzenden sozialhistorischen Prozesse im Frankreich der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nennt, denen sein Werk gewidmet ist. Die überbordende Affektintensität geht aus Zolas literarischer Analyse als das Charakteristikum des Zweiten Kaiserreichs hervor2 und zeichnet auch für dessen Untergang verantwortlich.
1 Émile Zola: La Fortune des Rougon. Bibliothèque de la Pléiade. Bd. 1. Paris: Gallimard 1960, S. 3. 2 Rainer Warning: Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹. Zolas Les Rougon-Macquart. In: Poetica 22 (1990), S. 373. https://doi.org/10.1515/9783110479638-014
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Der Schlüsselbegriff des débordement, dem in allen Romanen des Zyklus eine tragende Rolle zukommt,3 impliziert einen entscheidenden Umschlag von sich steigernder Intensität zu einer qualitativen Veränderung: insbesondere dann, wenn, wie in diesem Band vorgeschlagen, das Zusammenwirken der (gesellschaftlichen) Triebkräfte unter der Perspektive der ›Affektökonomie‹ betrachtet wird. ›Affektökonomie‹ bezeichnet zunächst das Funktionieren eines ›Apparats‹, der Triebenergien so verteilt, dass sich auf ›gesunde‹, ›produktive‹, ›gewinnbringende‹ oder ›reinigende‹ Weise ein Gleichgewicht einstellt – ob auf der intrapsychologischen, der gesellschaftlichen oder auf der rezeptionsästhetischen Ebene. Am Namen selbst skizzenhaft abgeleitet: Affekte werden verteilt (nomos) und zwar in einem vordefinierten Rahmen (des Hauses, oikos) zu dessen ›Wohle‹. Ein Haushalten mit Affekten, wobei ein gesteigerter Affektumsatz bei gutem Management zur Prosperität des Hauses, also zur Erwirtschaftung von Gewinn führt. Der Zola’sche Begriff des débordement markiert genau die Grenze dieses oiko-nomischen Optimierungskalküls: Die extreme Intensivierung hat zur Folge, dass die Affekte den Rahmen überborden, innerhalb dessen sie verteilt werden sollen. ›Das Haus‹ als rahmender Grund für den Verteilungsprozess kann nicht mehr ›gehalten‹ werden, es geht zu Grunde. Im typischen Bild Zolas für diesen Prozess: Die überhitzte Maschine platzt. Als Grenzfall des (affekt-)ökonomischen Kalküls, als GAU, der den homo oeconomicus stets vor dem Scheitern seines Lebensprinzips warnt, ist dieses Szenario wohlbekannt; vielleicht auch als Nebeneffekt des Kalküls, als dessen Immunsystem, das von Zeit zu Zeit Abirrungen des Marktes bereinigt. Bei Zola ist dieses Überborden aber kein Grenz- oder Un-fall; keine reine Intensivierung. Für Zola ist tatsächlich das Überborden der Appetite selbst das Charakteristikum von Familie und Gesellschaft. Diese »impulsion essentiellement moderne«4 stellt jede Vorstellung von ›Affektökonomie‹ vor ein grundsätzliches Problem: ein Affekt, der genau darauf zielt, die ordnende Rahmung zu überborden, hinter sich zu lassen und zu zerstören, ist per se anti-oiko-nomisch. Statt anzueignen (wie der homo oeconomicus) und Haus-zu-Halten, zielt die so rekonstruierte »impulsion essentiellement moderne« einzig auf die Überwindung, die Spaltung dieser einhegenden, ›häuslichen‹ Rahmung. Dass es dennoch überhaupt Sinn macht, sich der Zola’schen Analyse der ›Affektlage‹ des Zweiten Kaiserreichs über den Begriff der Ökonomie zu nähern,
3 Vgl. hierfür mein Buch Literature and Weather. Shakespeare – Goethe – Zola. Berlin: De Gruyter 2018, das die im Begriff des débordement enthaltene Wettermetaphorik und ihre Bedeutung für die Rougon-Macquart erkundet. 4 Émile Zola: La Fortune des Rougon, S. 3.
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ist Zolas eigenem Ansatz geschuldet: Er selbst führt die Entfesselung der Passionen mit dem Verhalten auf der Ebene des ›Ökonomischen‹ eng und macht erst so die enormen, gesellschafts-umwälzenden Auswirkungen dieser neuen Triebkraft verständlich. Die Romanfigur, die diesen Nexus exemplarisch verkörpert ist Aristide Saccard. Ihr sind gleich zwei Romane des Zyklus gewidmet: nicht zufällig bilden die beiden, La Curée als zweiter und L’Argent als achtzehnter Roman, für die Rougon-Macquart eine Art Rahmen. Mit Saccard erzählt Zola an einer persönlichen Biographie, gewissermaßen als paradigmatische Synekdoche, den allgemeinen, also gesellschaftlich-historischen Aufstieg und Fall des Zweiten Kaiserreichs. Saccard ist Geschäftsmann, der in La Curée durch Immobiliengeschäfte aus der Haussmannisierung Paris’ ein Vermögen schlägt (und wieder verliert) und in L’Argent mit einer Bankengründung die Börsenlandschaft erobert und den aufkeimenden Finanzkapitalismus für sich zu nutzen versucht (das Ganze endet erneut im Desaster). Trotz des klaren historischen Bezugs – Haussmannisierung und der Untergang der Union générale, die offensichtlich Pate für Zolas banque Universelle gestanden hat – zeichnen Zolas Romane kein bloßes Panorama verfehlter wirtschaftlicher oder finanzrechtlicher Rahmenbedingungen. Wie in der zitierten programmatischen Notiz angekündigt, widmet sich Zola auch in diesen Romanen der »question des tempéraments«5 – es sind wieder die Passionen, die überbordenden Appetite, die Triebkräfte, die für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Geschehen in Anschlag genommen werden: die Entwicklung der Ökonomie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist nach Zola eine Frage der Entwicklung der ›allgemeinen‹ Affektökonomie. Von Beginn an lernen wir Saccard als einen Mann kennen, dessen Lebensprojekt es ist, seinem großen Appetit, seinen Leidenschaften nachzujagen. Schon die ersten Schritte auf den Pariser Gehwegen lassen daran keinen Zweifel: »Jamais il n’avait ressenti des appétits aussi larges, des ardeurs aussi immédiates de jouissance« (C, I 360).6 Auch wenn die Ausmaße seiner »terribles appétits« (A, V 96) monströs scheinen, die Grundorientierung, Saccards »volonté âpre au gain et à la jouissance« (C, I 425), entspricht vollkommen dem (erfolgsversprechenden!) Muster des homo oeconomicus. Trotzdem konstatiert der unumstrittene ›Gott‹ der Finanzwelt, Gundermann, sofort Saccards ökonomische Unfähigkeit: »Infailli-
5 Ebda. 6 Der Nachweis der Zitate aus Zolas Rougon-Macquart erfolgt direkt im Text aus der von Armand Lanoux und Henri Mitterand herausgegebenen Pléiade-Ausgabe: Zola, Émile: Les Rougon-Macquart. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1960–1967. Die Sigle ›A‹ steht für L’Argent, ›C‹ für La Curée, ›D‹ für La Débâcle. Nach der Sigle folgt, abgetrennt durch ein Komma, die Bandangabe in lateinischen Ziffern und die Seitenzahl.
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blement, vous ferez la culbute, c’est mathématique, ça; car vous êtes beaucoup trop passionné« (A, V 97). Offenbar geraten Saccards Passionen in Konflikt mit dem Streben nach Gewinn – ohne dass dies auf den ersten Blick klar würde, zielen sie auf etwas anderes als die Aneignung von Geld oder Lust. In La Curée stellt Zola Saccard eine Frau, Renée, zur Seite, die die Passionen des Geschäftsmanns spiegelt; wie ihr Ehemann auf dem Feld des Geldes, lebt sie diese Passionen auf dem Feld der körperlichen Lust aus. Im Parallelismus dieses Paares – »le mari et la femme, ces deux fièvres chaudes de l’argent et du plaisir« (C, I 399) – erzählt Zola die außergewöhnliche Eigenart dieser Passion. Es ist dabei Renées Streben nach Lust, das schon zu Beginn des Romans klar ausspricht, dass sich diese ›Leidenschaft‹ von einer reinen Intensivierung der ›gewöhnlichen‹ körperlichen Lust unterscheidet: ihre Lebenssituation, insbesondere der sexuell an ihr wenig interessierte Ehemann, gesteht ihr alle erdenklichen Freiheiten zu. Renée lebt in Luxus und ist in jeder Hinsicht »bien libre« (C, I 591), wie ihr Dienstmädchen später sagen wird. Dennoch können all die Vergnügen dieser Welt, alle legitimen Liebhaber, nicht erfüllen, wonach Renée sucht: »Je veux autre chose« (C, I 325), sagt sie, und diese Formel wird ihr zu einer Art anleitendem Mantra (cf. C, I 326; C, I 327; C, I 328). Renée sucht »une jouissance rare, inconnue« (C, I 327), »une jouissance unique, exquise, où elle mordrait toute seule« (C, I 422). Die Formulierung verweist bereits auf die fatale Zielrichtung, nach der diese »jouissance unique, exquise« in letzter Konsequenz strebt: »Tod ist je nur eigener«7 schreibt Martin Heidegger in Sein und Zeit; die Exklusivität, die Einzigartigkeit der »jouissance«, von der Renée träumt, ist die ›Eigentlichkeit‹ des Todes – nur dieser »beansprucht [sie] als einzelne[ ]«.8 Renées Suche geht, ohne dass sie sich dessen bewusst ist, hin zum ›großen Tod‹ im Rücken des ›kleinen‹. Und tatsächlich lässt Zola Renée selbstzerstörerisch, ganz alleine und einsam, symbolträchtig ›am Tod knabbern‹, als ihr ein Weg zu dieser erträumten jouissance in den Blick kommt: vom Gewächshaus aus beobachtet sie ihren Stiefsohn Maxime – und plötzlich erscheint ihr der Inzest als Verwirklichung dessen, was sie sucht. Dass der Entschluss, diesem inzestuösen Begehren nachzugehen, gefallen ist, fasst Zola in ein Bild: Renée beißt (»elle mordit«) in einen Zweig der »plante maudite« (C, I 358) unter der sie steht – eines »Tanghin de Madagascar, […] dont les moindres nervures distillent un lait empoisonné« (C, I 358). Die Anklänge an den biblischen Sündenfall werden später wieder aufgenommen: den erstmaligen tatsächlichen Vollzug des Inzests fasst die Erzählinstanz als ein »faire goûter au fruit défendu« (C, I 447) – die Logik des Giftes wie des Verzehrs
7 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 265. 8 Ebda., S. 263.
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der verbotenen Frucht zeigt von Beginn an, bevor überhaupt der Lust selbst nachgegangen wird, die Konsequenz dieser »jouissance unique, exquise« an: den Tod. Er ist keine übersehene fatale Nebenwirkung, sondern das zerstörerische Ziel, das genau den besonderen Reiz, die Eigenart dieses Begehrens, dieser Triebkraft, ausmacht. »Wirft sich das Dasein je faktisch in ein solches Sein zum Tode?«,9 fragt Martin Heidegger in Sein und Zeit mit unverkennbar skeptischem Unterton. Zumindest fiktional lässt Zola dies seine Heroine in La Curée vollziehen. Dabei zeigt sich Provokantes, ja geradezu Verstörendes: eine Triebkraft tritt an die Oberfläche und wird explizit, die der immer vorausgesetzten Grundmechanik, den Rahmenbedingungen der ›Triebverteilung‹, nicht gehorchen mag. Eine anti-oikonomische Kraft, die nicht auf Aneignung, sondern auf Überwindung des Aneignungs-Zusammenhangs, auf das Gleichgewicht des Ruins zielt. Fast genau 50 Jahre nach Zolas Roman erfährt diese Kraft ihre erste große theoretische Würdigung: Sigmund Freud schreibt über ein »Jenseits des [ökonomisch gedachten!] Lustprinzips« und analysiert eine Kraft, die fortan als ›Todestrieb‹ in aller Munde sein wird.10 Ähnlich wie bei Freud steht bei Zola diese ungewöhnliche Triebkraft in einem größeren, überindividuellen Zusammenhang: Es ist nicht zufällig der Inzest, der als verbotene Frucht in den Untergang führt. Renées Suche nach einer »jouis sance unique« leitet nicht nur ihren individuellen Ruin, ihren Tod ein – der Inzest symbolisiert und praktiziert auch eine Form der kollektiven Morbidität. Es ist genau das Inzestverbot, das die gesellschaftliche Genealogie, das kollektive ›ewige Leben‹ garantiert; das Inzestverbot schafft den so wichtigen Nexus, der ›jouissance‹ mit kultureller Produktivität, dem Fortbestand der Gattung verbindet – und so auf überindividueller Ebene den Tod, die Sterblichkeit, zu besiegen scheint. Renée bezahlt also am Ende von La Curée nicht einen persönlichen Fehltritt mit ihrem jämmerlichen Ableben; ihr Schicksal steht paradigmatisch für die Ausprägung einer »impulsion essentiellement moderne«, die jenseits aller AffektOikonomie in letzter Konsequenz das kollektive Gefüge in den Ruin treiben wird. Betrachtet man La Curée isoliert für sich, mag man mit Rainer Warning den Eindruck teilen, dass »Zola die Verbindung der beiden thematischen Komplexe, also der Finanzspekulation mit der Renée-Handlung, nicht recht gelingen [will]«.11 Schließlich endet die Parallele der »deux fièvres chaudes de l’argent et
9 Ebda., S. 266. 10 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 213–272. 11 Rainer Warning: Der Chronotopos Paris bei Zola. In: Roland Galle/Johannes Klingen-Protti (Hg.): Städte der Literatur. Heidelberg: Winter 2005, S. 151.
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du plaisir« in frappierender Asymmetrie: Renée stirbt als Opfer des zeittypischen Überbordens der Affekte, während Saccard seiner Jagd nach dem Geld weiter unbeirrt frönen darf. Mehr noch: Renée stirbt auch als Opfer ihres Mannes, der sich skrupellos und ihre Passionen ausnützend an ihrem Erbe bereichert – und seine Frau damit ruiniert. Sicherlich manifestiert sich an diesem Kontrast ein wiederkehrendes Zola’sches Muster des ›virilen‹ Überlebens und des Sterben-Müssens alles ›Effeminierten‹ und ›Degenerierten‹, eine sozialdarwinistisch und tatsächlich auch eugenisch gedachte Gesellschaftshygiene, die als höchst problematischer Zug der Rougon-Macquart keinesfalls übersehen werden darf. Dass Saccard als klassisches Stehaufmännchen selbst das finale débâcle des Zweiten Kaiserreichs äußerst erfolgreich überdauert, spricht Bände. Dennoch trägt, was die Affektökonomie betrifft, die Parallele zwischen Renée und Saccard weiter als es das Ende von La Curée anzuzeigen scheint. Saccards Geschichte ist schlicht noch nicht auserzählt, sein Ruin ist nur aufgeschoben: diesem ist der Roman L’Argent gewidmet. Hier erst schließt sich der Kreis, der sich für Renée schon in La Curée geschlossen hatte: »C’était sa passion qui élevait ainsi Saccard, et sa passion qui devait le perdre.« (A, V 255–256) Genau wie Renée nicht schlicht danach trachtet, sich ›mehr‹ und immer ›mehr‹ fleischliche Lust anzueignen geht es Saccard im Grunde nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – um das Anhäufen von immer ›mehr‹ Geld. Anfangs mag das Gebaren des Neuankömmlings aus der Provinz noch genau danach ausgesehen haben; deshalb muss dem schon in Paris etablierten Bruder »ce naïf appétit de l’argent«, den der junge Aristide zur Schau stellt, »bourgeois et puéril« erscheinen (C, I 363). Doch einmal Fuß gefasst und sozusagen ›erwachsen‹ geworden, strebt Saccard nach anderem. Sein Sohn Maxime fasst das treffend zusammen: Oh! Entendons-nous, il n’aime pas l’argent en avare, pour en avoir un gros tas, pour le cacher dans sa cave. Non! S’il en veut faire jaillir de partout, s’il en puise à n’importe quelles sources, c’est pour le voir couler chez lui en torrent, c’est pour toutes les jouissances qu’il en tire, de luxe, de plaisir, de puissance … (A, I 218–219)
Natürlich sehnt sich Saccard, manchmal, tragischerweise, danach, »la richesse, menteuse de la façade« einzutauschen gegen »l’édifice solide de la fortune, la vraie royauté de l’or trônant sur des sacs pleins!« (A, V 16) Dass dieser ›Wunsch‹ jedoch ein oberflächlicher ist, dem andere, stärkere in der Tiefe entgegenwirken, zeigt sich spätestens daran, dass Saccard dieser Status der »vraie royauté de l’or, solide, trônant sur des sacs pleins« (A, V 254), als er schließlich erreicht ist, offenbar nichts bedeutet. Saccards Passion ist nicht befriedigt und er unternimmt deshalb nichts, diesen Stand zu halten – im Gegenteil.
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Das Bild des Hauses – eines »édifice solide« – wird hier selbstverständlich nicht zufällig bemüht; es bringt unverkennbar den Begriff der oiko-nomie ins Spiel. Obwohl zeittypischer Geschäftsmann operiert Saccards passioniertes ›Wirtschaften‹ jenseits des Oiko-nomischen. Haushalten, oder die économie, ist die mittelmäßige Sache der anderen.
II Oikos: Haushalten – oder les économies des autres A ce moment, comme la Ville, il se trouvait en face d’un formidable déficit qu’il s’agissait de combler secrètement; car il ne voulait pas entendre parler de sagesse, d’économie, d’existence calme et bourgeoise. Il préférait garder le luxe inutile et la misère réelle de ces voies nouvelles, d’où il avait tiré sa colossale fortune de chaque matin mangée chaque soir. D’aventure en aventure, il n’avait plus que la façade dorée d’un capital absent. (C, I 463)
Statt der bürgerlichen – und wie sein Bruder sagen würde ›jugendlichen‹ – Lust am Sammeln und Horten im Haus verfolgt Saccard eine Passion des Exzesses, des Überbordens, die keine Vernunft und kein Sparen kennt. Aufgrund des enormen ›wirtschaftlichen‹ Erfolgs, den Saccards ›Strategie‹ über lange Strecken hinweg zeitigt, lässt sich seine Passion kaum vom Handeln des herkömmlichen homo oeconomicus unterscheiden. Deshalb stellt Zola Saccard zu jedem Moment seiner Biographie im engen Sinne oiko-nomisch handelnde Menschen zur Seite; im Kontrast zeichnen sich dann nach und nach die Eigenarten der von Saccard in Reinform verkörperten »impulsion essentiellement moderne« ab. In dieser Funktion treten bereits früh in La Curée das Unternehmerduo »Mignon et Charrier« (C, I 463) auf. Sie agieren, wie Saccard, im lukrativen Immobiliengeschäft während der Haussmannisierung von Paris. Lange Zeit sind sie seine Geschäftspartner und profitieren von Saccards Insiderwissen. Anders als Saccard verbinden sie mit dem Bauwahn der Haussmannisierung aber keine großen Visionen; während Saccard opulente Monumente baut und wohl, wie die Erzählinstanz behauptet, am liebsten vorgeschlagen hätte »de mettre Paris sous une immense cloche, pour le changer en serre chaude, et y cultiver les ananas et la canne à sucre« (C, I 419), folgen die beiden Unternehmer einem sehr viel bodenständigeren – und ökonomischeren – Credo: »quand on gagne de l’argent, tout est beau.« (C, I 344) Letztlich gelingt es den beiden so »de réaliser des bénéfices énormes dans une affaire où [Saccard] avait joué un rôle de dupe.« (C, I 547) In L’Argent stellt Zola Saccard ganz ähnlich agierende Charaktere zur Seite. Einer davon ist der Abgeordnete Huret, wie die Unternehmer Mignon und Charrier
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ein Aufsteiger aus dem bodenständigen, ländlichen Milieu und lange Zeit treuer Geschäftspartner von Saccard, der exemplarisch für eine simple, ökonomische Gewinnmaximierung steht: »j’aime mieux réaliser tout de suite, dès qu’il y a un joli bénéfice« (A, V 276). Einen weiteren, anders gearteten, Gegenentwurf stellt der Spieler Amadieu dar, der sich nach einem glücklichen Zug aus dem Börsenspiel zurückzieht, »comme satisfait, trônant désormais dans son coup de génie unique et légendaire« (A, V 12). Diese Option, die auch Saccard nach seinem ersten großen Coup rund um die Ereignisse von Sadowa offen gestanden hätte, stellt Zola nicht zufällig gleich auf den ersten Seiten des Romans in den Raum. Mit Capitaine Chave zeichnet Zola zudem das Bild des umsichtigen, risikoaversen Spielers, der dem Größenwahn Saccards eine Genügsamkeit entgegensetzt, die ihm jeden Tag ein kleines Zubrot beschert, ohne von den Turbulenzen des Marktes betroffen zu sein. Die wahren Künstlerinnen des Haushaltens sind jedoch Frauen. So vollbringt die klamme comtesse de Beauvilliers mit ihrer Tochter »miracles d’économie sordide« (A, V 342); die beiden Frauen praktizieren eine »économie infinie« (A, V 343), um den Schein ihres Standes, »cette apparence menteuse de fortune« (A, V 69) trotz ihrer Mittellosigkeit zu wahren. Genau wie Mme Maugendre, die einst »si prudente, si économe, la terreur de ses bonnes, toujours sur leurs talons, à éplucher leurs comptes« (A, V 346) gewesen war, wird aber auch die Gräfin schließlich vom allgemeinen Börsenfieber erfasst, gibt ihre économie auf – und fällt in den Ruin. Nur wenige widerstehen dem risikoaffinen, von Exzess und Überborden der Affekte geprägten Zeitgeist. In La Curée ist das etwa das Dienstmädchen Renées, »une fille très économe, très honnête« (C, I 494), »sans amant, sans vices« (C, I 589): »gagner honnêtement mon argent« (C, I 591), das ist ihr bescheidenes Ziel – als die geplante Summe erreicht ist, zieht sie sich tatsächlich aufs Land zurück, um dort ein einfaches, sicheres Leben zu führen. Diesen haushälterischen, sowohl ehrlichen als auch ökonomisch-sparsamen und offenbar spezifisch weiblichen Zug schreibt Zola in L’Argent nun einer Hauptfigur zu: Mme Caroline. Nachdem sie für Saccard »deux ou trois économies« (A, V 64) durchgeführt hat, bietet dieser ihr an, doch seine »intendante« (A, V 64–65) zu werden. Sie kümmert sich fortan um das, wozu Saccard, trotz seines wirtschaftlichen Elans, nicht im Stande ist: »s’occuper de sa maison, […] lui faire réaliser des économies« (A, V 171), »veiller sur sa maison et sur sa tranquillité« (A, V 144). Mme Caroline wird also zur »dame qui tenait la maison« (A, V 142). Das Haushalten als die Grundvoraussetzung für die Aneignung des umgesetzten Kapitals oder der angefachten Affekte ist Saccards Sache nicht. Doch obwohl, oder gerade weil sich Saccard und Mme Caroline in ihrer Grundorientierung fundamental unterscheiden – er passioniert, skrupellos und exzessiv, sie ehrlich, rational, beschei-
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den – bilden sie ein äußerst interessantes und produktives Duo, das in Symbiose gut funktioniert. Mehr noch: Über die unerklärliche Attraktion, die beide aneinander bindet, zeigt Zola auf, dass auch die von ihnen verkörperten gegensätzlichen Strebungen – Exzess und Haushalten – genau wie Freuds Geschlechts- und Todestrieb untrennbar zusammengehören. Für diese wichtige Paarkonstellation gibt es einen Vorläufer in einem früheren Roman des Zyklus: Octave Mouret und Denise Baudu aus Au Bonheur des Dames. Hier lässt Zola das haushaltende, einhegende Prinzip über den zu Ruin und Tod strebenden passionierten Exzess siegen. Wie Barbara Vinken eindrucksvoll dargestellt hat, erlöst in Au Bonheur des Dames Denise als eine neue heilige Maria Octave Mouret von seiner obsessiven und zerstörerischen Passion. Seine schließlich in die unwahrscheinliche Ehe mündende Liebe zu Denise geht mit einer quasi-religiösen conversio einher, die den Wahnwitz des über alle Grenzen wuchernden Warenhauses, das die Armee seiner Arbeiterinnen skrupellos ausbeutet, stoppt und in ein sich um Arbeiterrechte sorgendes, ›gesundes‹ Ganzes überführt.12 Deutlicher als anderswo in den Rougon-Macquart leuchtet hier Zolas Vision einer neuen Republik auf, der sein Spätwerk gewidmet ist. Von der mit starken, althergebracht-patriarchalischen Mustern operierenden Affektökonomie dieser ›neuen‹ Welt – die ›neue Frau‹ Denise erlöst, wie Barbara Vinken schreibt, Octave von seiner gefährlichen Feminität und macht aus ihm den Familienvater – ist in L’Argent aber nichts zu spüren. Im Gegensatz zu Au Bonheur des Dames, wo am Ende das Warenhaus, als prosperierendes und reformiertes, gehalten wird – also die Ökonomie sich letztlich gewandelt re-formiert (Denise tut im Großen, für das Warenhaus, was Caroline im Kleinen, Privaten, für Saccards Haushalt unternimmt; »elle réforma la maison« (A, V 65)) – endet L’Argent mit dem Untergang des Bankhauses, mehr noch, mit dem allgemeinen Ruin. Statt zur erlösenden Retterin wird Mme Caroline zur Identifikationsfigur, die von der Notwendigkeit dieses Ruins für einen Neubeginn des prosperierenden Lebens überzeugt wird. Dies fällt ihr insofern leicht, als sie selbst zugleich das Vernünftige, Haushalterische verkörpert und, ähnlich wie Saccard, ein Talent für den Neuanfang hat. Sie ist in dieser Hinsicht wesensverwandt mit Saccard, nicht bloß abstrakte Gegenspielerin. Diese Rolle nimmt ein anderer ein: der jüdische Bankier Gundermann. Anders als mit Mme Caroline kommt Saccard mit Gundermann nicht in produktiven Dialog: »Ils ne pouvaient s’entendre, l’un passionné et jouisseur, l’autre
12 Barbara Vinken: Temples of Delight. Consuming Consumption in Emile Zola’s Au Bonheur des dames. In: Margaret Cohen/Christopher Prendergast (Hg.): Spectacles of Realism. Body, Gender, Genre. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1995, S. 247–267.
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sobre et de froide logique.« (A, V 22) Als »simple marchand d’argent« (A, V 95), wie er sich selbst gerne bezeichnet, hat es Gundermann zu Milliarden und zum Status des unumstrittenen Königs der Pariser Finanzwelt gebracht. Im Gegensatz zu Saccard operiert Gundermann ›klassisch ökonomisch‹: er hält Haus, »plein du mépris de la passion« (A, V 266), als kühler »joueur mathématique« (A, V 266) und hat seine Milliarden auch »par l’épargne« (A, V 90) erwirtschaftet. Gundermanns ›haushalterische‹ Grundhaltung zeigt sich auch in seinem wortwörtlichen, alltäglich oiko-nomischen Verhalten: »Gundermann occupait là un immense hôtel, tout juste assez grand pour son innombrable famille.« (A, V 90) Dieses Haus-Halten ist ganz explizit als ein familiales Prinzip markiert: Gundermanns Haus ist gleichermaßen und ununterscheidbar Geschäfts- als auch Familiendomizil, die Enkelkinder spielen zwischen den Kunden und erhalten verstörenderweise die gleiche Aufmerksamkeit. Sein hôtel ist zwar »immense«, aber, im Gegensatz zu Saccards, nicht überdimensioniert: »tout juste assez grand«, geradezu ökonomisch zugeschnitten für die Familie sichert es den Fortbestand der Generationen, der im Haus-halterischen Kalkül genau die Berechnungsgröße darstellt. Von hier aus erschließt sich dann kontrastiv die Parallele der beiden »fièvres chaudes« aus La Curée, die Parallele von Saccards Passion für Geld und Renées perverser Lust: während Gundermann familial Haus-hält, wirtschaftet Saccard inzestuös. Er sorgt nicht für kommende Generationen, denen sein Domizil ein Zuhause geben würde – seine Luxuslust richtet vielmehr bereitwillig und sehenden Auges Familien zugrunde – seine eigene genau wie die derer, die sich mit ihm einlassen: »Il nous vendrait, vous, moi, n’importe qui, si nous entrions dans quelque marché« (A, V 219), sagt sein Sohn Maxime zu Mme Caroline – und die Leser von La Curée wissen, wie recht er mit dieser Einschätzung hat. Wieder spiegelt sich dieses ›(anti-)oikonomische› Verhalten in der Behausung, in der sich der Protagonist einrichtet: Saccards private und geschäftliche Unterbringungen sind stets alles andere als »tout juste assez grand«. Entweder drängen sich, wie in der Anfangszeit seiner Bank, mehr als 200 Angestellte »dans un espace si resserré« (A, V 139), dass das Gebäude aus allen Nähten platzt, oder er umgibt sich auch baulich mit einem »luxe flambant« (A, V 98), einem »luxe inutile« (C, I 463), den er auf längere Frist gar nicht bezahlen kann. Unweigerlich ergibt sich der für Saccard typische rhythmische Wechsel der Wohn- bzw. Geschäftsräume: Saccard hält, ganz wörtlich, nicht (das) Haus. Seine Biographie erzählt die Geschichte der Abfolge von Appartements und Anwesen: nach bescheidenen Zimmern mit einer Hand voll Möbeln zu Beginn seiner Zeit in Paris über eine Etagenwohnung in der rue de Rivoli hin zum prächtigen hôtel du parc Monceau. Von dort, finanziell gescheitert, wieder in eine Wohnung, bis er sich für das prosperierende Bankhaus »l’hôtel de ses rêves, le palais où il logerait fastueusement son œuvre« (A, V 202) bauen lässt. Zweimal durchläuft Saccard den typischen Zyklus des
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zügellosen Wachsens, das stets im Ruin endet – und genau wie in Au Bonheur des Dames erzählt Zola in La Curée und L’Argent die Geschichte des Protagonisten auch als Geschichte seines ›Hauses‹: das Haus ist nicht, wie bei Gundermann, der zu Grunde liegende Rahmen, in dem das Erwirtschaftete gesammelt, angehäuft und verteilt würde. Genau wie das Warenhaus wuchern Saccards Domizile. Anstatt ›das Eigene‹ einzuhegen – also die tranquillité zu garantieren, über die die Haus-haltende Mme Caroline zu wachen versucht – stellen sie kaum eine Abgrenzung zum ›Außen‹ her. Im Gegenteil, es geht vielmehr um das Überspielen, das Negieren genau dieser Grenze: Le coup de vent de la vie contemporaine, qui avait fait battre les portes du premier étage de la rue de Rivoli, était devenu, dans l’hôtel, un véritable ouragan qui menaçait d’emporter les cloisons. (C, I 437)
An-eignung, die »Nahme«, wie Carl Schmitt dies nennt,13 kann kein Paradigma mehr sein in einer Struktur, die den Rahmen des Oikos so offensiv demoliert. Dies geschieht in beide Richtungen: »La rue montait dans l’appartement« (C, I 426), der Innenraum wird Außenraum, genau wie der Außenraum zum Innenraum wird: »Chaque boulevard devenait un couloir de leur hôtel.« (C, I 497) Diese Kraft unterläuft fundamental das Kalkül des den eigenen Vorteil optimierenden homo oeconomicus, weil sie zum Ununterscheidbar-Werden des Eigenen und des Anderen, des Privaten und des Öffentlichen, drängt. Gewissermaßen inzestuös sind in der Folge der Auflösung des Oikos alle Regeln ausgesetzt, die eine familiale Ordnung, und das heißt überhaupt eine ordnende, zuteilende Struktur ermöglichen. Zugespitzt formuliert: Diese Form des ›anti-oikonomischen Wirtschaftens‹ betreibt eine radikale Strategie der Ent-Eignung (oder der Deterritorialisierung, wie Gilles Deleuze das nennen würde14): Anstatt möglichst viel aus dem Kreislauf ins eigene Haus einzubringen (also aus Umsatz Gewinn zu machen), speisen Saccard (und auch Renée) alles Eigene in den Kreislauf ein (kreieren Umsatz) und geben ›sich‹ ganz der Gewalt hin, die aus der so erzeugten, allgemeinen Intensivierung des Zirkulierens entsteht. Der ›Reichtum‹, der den Akteuren dieses ›Wirt-
13 Carl Schmitt: Nomos – Nahme – Name (1959). In: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Berlin: Duncker und Humblot 1995, S. 573–591. 14 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Capitalisme et schizophrénie. L’Anti-Œdipe. Paris: Éd. De Minuit 1972. Es ist sehr interessant, dass Zola und Deleuze, ein Jahrhundert später, die gesellschaftliche Entwicklung in zwei zentralen Punkten ähnlich denken, die gemeinhin schlicht dem sich entfesselnden Kapitalismus zugeschrieben wird: 1) diese Entwicklung hat etwas mit einer kollektiv zu konzipierenden Begehrensstruktur zu tun; 2) sie vollzieht sich über eine Dynamisierung dessen, was als ›Eigenes‹, als Territorium oder oikos abgesteckt ist.
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schaftens‹ zugeschrieben wird, ist, wieder konsequent im Bild des Oikos gesprochen, »richesse […] menteuse de la façade« (A, V 16; V 254), »la façade dorée d’un capital absent« (C, I 463). Den LeserInnen des Roman-Zyklus ist das Gesicht des höheren Gleichgewichts jenseits des Oikos wohlbekannt: Die »impulsion essentiellement moderne«, diese gesellschaftsprägende Triebkraft, die Saccard idealtypisch verkörpert, drängt unaufhaltsam in den allgemeinen Ruin.
III Von Ruinen – (Mobilisierendes?) Haus-Spalten Viele, und vor allem die großen Romane der Rougon-Macquart enden mit Ruinen: am prominentesten wohl das zerstörte Bergwerk von Germinal, die Ruinierten von L’Argent und natürlich Paris in Trümmern in La Débâcle. Ähnlich wie in Nana illustriert Zola in La Curée den drohenden und logisch folgenden allgemeinen Ruin, indem er ihn metonymisch an einer Person vorführt. Genau wie das »terrible feu«, das Renée in ihrem Zimmer anheizt, »faisait craquer les meubles autour d’elle« (C, I 470), wird sie selbst von der entfachten Intensität der Passionen zerstört, denen sie sich hingibt. Ein »craquement cérébral« (C, I 576) richtet sie zugrunde. Im typischen Bild der überhitzten Maschine schildert Zola ihren allmählichen Niedergang: »on commençait à entendre un râle, le détraquement de cette adorable et étonnante machine qui se cassait.« (C, I 514) Renées »craquement« ist ein typischer Fall dessen, was Gilles Deleuze als »fêlure« bezeichnet und in seiner Lektüre als das Grundproblem der RougonMacquart identifiziert hat.15 Auch im Hinblick auf die ›ökonomische‹ Lage Saccards und des Second Empire allgemein kehrt dieses Aufbrechen, dieses Spalten immer und immer wieder: »le sol craqua de nouveau sous ses pieds« (C, I 587), das ist die Formel, die Saccards rhythmisches Scheitern fasst. In einem Moment der Klarsicht stellt sich auch die Wahrheit rund um den frappierenden Erfolg der banque Universelle Mme Caroline in eben dem ›Bild‹ des Spaltens, des Aufbrechens dar: Dans une brève lucidité, elle vit l’Universelle suer l’argent de toutes parts, un lac, un océan d’argent, au milieu duquel, avec un craquement effroyable, tout d’un coup, la maison coulait à pic. Ah! L’argent, l’horrible argent, qui salit et dévore! (A, V 221)
15 Gilles Deleuze: Zola et la fêlure. In: Logique du sens. Paris: Éd. de Minuit 1969, S. 373–386.
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Der Riss, das Bersten des Hauses nimmt Saccards ›grandiosen‹ Ruin vorweg, »l’histoire du monstrueux écroulement de deux cents millions, qui amoncelait tant de ruines et écrasait tant de victimes.« (A, V 359) Das Haus-spalterische Klaffen des Risses kündet von zweierlei: von Tod und zugleich von Zirkulation als unabdingbarem Lebensprinzip. Der durch den Wertverlust der Universelle-Aktien ausgelöste private Ruin, der den Verlust des Anwesens erzwingt, ist für die comtesse de Beauvilliers »la mort même de ce qu’elle avait cru être, l’effondrement de l’édifice de sa race« (A, V 342). Mme Caroline wird Zeugin des Selbstmords eines Brokers, der durch den Untergang von Saccards Bank ruiniert wird und Frau und Kinder hinterlässt; auch Renées »craquement« endete tödlich. Die Rougon-Macquart schreiben, so Deleuze, »l’épos de la mort«.16 Ein Tod, der ein ›ganz großer‹ ist, der einer Gesellschaft: Saccards Schicksal ist, sehr präzise, das einer Stadt und einer Ära. Dieser Tod ist aber nicht bloß die verdiente Strafe für den aus Hochmut folgenden dekadenten Verfall; die Ruinen sind nicht bloß das unrühmliche Ende einer lasterhaften Ära, nicht bloß Mahnmal der Verfehlungen. Auch wenn es den Anschein von Verrücktheit hat, dass eine breite Masse der Bevölkerung »démoliraient l’hôtel pour nous [der banque Universelle] apporter leur argent« (A, V 242) – die Mobilisierung der Immobilien stellt neben dem Verfall zugleich auch ein wichtiges Lebensprinzip dar: das Bild des »maison [qui] coulait à pic« verweist auf die wichtige Lebenskraft der Zirkulation, die jenseits von Einhegung und Haus, jenseits des Soliden schon immer statt hat: ohne offenes Strömen, ohne Austausch, ohne Bewegung kein Leben. Saccard verkörpert die unbändige Kraft der Zirkulation: sein ›Reichtum‹ ist »une fortune sans cesse mouvante, qui semblait infinie comme la mer, mais qui en avait le flux et le reflux« (A, V 98). Es ist ein ›fragiler‹, im Grunde gar ein imaginärer Reichtum, weil gar keine An-Eignung stattfindet; Saccard ›immobilisiert‹ das Geld nicht, ›das er macht‹; er bringt es nicht oiko-nomisch in das Haus ein und verteilt es nicht wie Gundermann familienintern. Das Geld wandelt sich so nicht in das kalte, ewige, aber tote Haus, sondern wird durch sofortigen Konsum oder mittelfristigen Ruin, d. h. Zerfall alles Immobilisierten, zurück in die allgemeine Zirkulation gespeist und heizt diese an. Anstatt das Geld im großen Haufen sicher im Haus zu verwahren, freut sich Saccard daran, »[de] le voir couler chez lui en torrent« (A, V 218). Zur Not bleibt, »[de] liquider sa situation, à vendre son hôtel du parc Monceau, pour louer un appartement« (A, V 13), was aber für ihn kein todesähnlicher Untergang, sondern schlicht ein spannender Neuanfang ist. Es ergibt sich eine paradoxe Situation: Die Kraft, diese »impulsion essentiellement moderne«, treibt den Einzelnen und auch jede geronnene Struktur über
16 Ebda., S. 15.
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sich selbst hinaus – und zwar auf produktive wie auf zerstörerische Weise, wobei diese nicht voneinander zu trennen, ja identisch sind. Ohne die treibende, Zirkulation erzeugende Kraft gäbe es gar nichts anzueignen, ohne (überflüssige, sinnlose) Demolierung bald nichts mehr zu bauen: Quelle force mystérieuse, après avoir édifié si rapidement cette tour d’or, venait donc ainsi de la détruire? Les mêmes mains qui l’avaient construite, semblaient s’être acharnées, prises de folie, à ne pas en laisser une pierre debout. Partout, des cris de douleur s’élevaient, des fortunes s’effondraient avec le bruit des tombereaux de démolitions, qu’on vide à la décharge publique. (A, V 359)
So endet L’Argent genau dort, wo La Curée begonnen hatte: mit dem Lärm des Abrisses, inmitten von Ruinen. Sehr präzise arbeitet Zola so heraus, was er auch an Renée gezeigt hatte: der Ruin, das Scheitern, der Zerfall geschieht dem Streben oder dem appétit nicht aus Versehen, nicht erst am Ende. Genau wie Renée vor dem Vollzug der inzestuösen Lust in das giftige Blatt beißt, so stehen auch bei Saccard die Ruinen am Anfang: seinen rapiden Aufstieg verdankt er dem großflächigen Abriss im Zuge der Haussmannisierung. Er selbst reißt die »antique bâtisse« in der rue de Londres nieder, um sich dort das Anwesen seiner Träume zu bauen (A, V 202). Dass dies womöglich hinterlistig von Gundermann eingefädelt worden sein mag, der weiß, dass sich Saccard mit solcherlei Projekten mittelfristig ruiniert, zeigt nur, dass Gundermann in seiner hyper-oikonomischen Weltsicht nicht verstanden hat, worum es Saccard geht: Eben nicht um das kalkulierte Haus-Halten, sondern um »[l]a force de vivre, cette impulsion« (A, V 67), zu der das Haus-Spalten, der Wandel, das Werden, das Zirkulieren, das Vergehen maßgeblich gehören. Mehr noch: genau inmitten der Ruinen, im Kompost, wie Zola das wiederholt nennt,17 zeigt sich dieser tiefgreifende, a-moralische und anti-oikonomische Affekt. »Saccard semblait réjoui par cette promenade à travers des ruines« (C, I 584), schreibt die Erzählinstanz in La Curée, und scheint damit zunächst den Protagonisten in ein ethisch zweifelhaftes Licht zu rücken. In L’Argent erlebt dann die Identifikationsfigur Mme Caroline diesen Affekt ganz explizit; im größten Elend genügt ein Sonnenstrahl, um eine mysteriöse Lebenskraft in ihr zu wecken. Es kommt ihr selbst makaber vor, aber es sind die Ruinen, die für diesen Moment unabdingbar sind: »de ces ruines chaudes encore, elle sentait déjà germer, s’épanouir au soleil toute une floraison« (A, V 397). Es ist eine für die
17 Am explizitesten wird dies in Hinblick auf das Geld in L’Argent: »L’argent, empoisonneur et destructeur, devenait le ferment de toute végétation sociale, servait de terreau nécessaire aux grands travaux dont l’exécution rapprocherait les peuples et pacifierait la terre. […] Tout le bien naissait de lui, qui faisait tout le mal.« (A, V 224–225).
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Rougon-Macquart typische Szene. Ohne offensichtlich dekadent und verdorben zu sein, ist Mme Caroline »gaie et confiante sur les ruines« (A, V 74). Hier kommt die affekttheoretische Lektion der Rougon-Macquart zum Ausdruck: »C’est l’excès qui amène le nécessaire, n’est-ce pas?« (A, V 135), fragt Saccard Mme Caroline rhetorisch. Später erinnert sich Mme Caroline an Saccards Worte. Angesichts der bemerkenswerten baulichen und infrastrukturellen Leistungen, die ihr Bruder mit Saccards Geld im ›Orient‹ vollbringt, kann sie nicht anders, als in ihnen eine (bittere) Wahrheit zu entdecken: »Il faut cet excès de la passion, toute cette vie bassement dépensée et perdue, à la continuation même de la vie.« (A, V 224) Das epochencharakteristische débordement des appétits, cette impulsion essentiellement moderne, und damit das Versagen aller einhegenden, kontrollierenden Oikonomie, bringt unweigerlich tödlichen Ruin – und ist dennoch zugleich notwendiger Garant für die große, unpersönliche Kraft, die Zola ›Leben‹ nennt. ›Notwendig‹ ist in der Logik dieses gesellschaftsverändernden Affektes so auch das Ende des Second Empire – und genau diese These vertritt auch die finale Passage in La Débâcle, die der gerade diskutierten Szene am Ende von L’Argent analog entspricht. Die fêlure, der Haus-spaltende anti-oikonomische Affekt, bereitet so gewissermaßen von Innen dem hyper-oikonomischen Treiben ein Ende. Mit dieser These berührt Zolas Romanzyklus marxistische Theorie, die er über die Figur des Sigismond – nicht zufällig Bruder des von finanziell Ruinierten lebenden Busch – in das Romanwerk einschreibt: [L]es grandes maisons de crédit et les grands magasins tuant tout concurrence, s’engraissant de la ruine des petites banques et de petites boutiques, sont un acheminement lent, mais certain, vers le nouvel état social … Nous attendons que tout craque, que le mode de production actuelle ait abouti au malaise intolérable de ses dernières conséquences. (A, V 44)
Auch die Rougon-Macquart warten geduldig und ebenso gewiss wie Sigismond auf das allumfassende Aufklaffen der fêlure: »que tout craque«. Und natürlich geht es Zola bekanntermaßen um einen »nouvel état social«, der notwendig folgt. Allerdings dürfte dieser, wie sich nicht nur in Zolas Spätwerk zeigt, deutlich anderen Vorstellungen folgen als der der Kommunisten.18
18 Vgl. Barbara Vinken: Götzendienst (Émile Zola). In: Judith Kasper/Cornelia Wild (Hg.): Rom Rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale von Lucan bis Lacan. Paderborn: Fink 2015, S. 61–65.
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IV Nomos: Neuverteilung und der Parasitismus des Literaten Unbestritten zielt Zolas Rougon-Macquart als gesellschaftskritisches Romanprojekt auf eine Neuverteilung, die auf die ruinösen Debakel folgen muss, mit denen das Erzählen in den Rougon-Macquart stets endet: »toute une France à refaire« (D, V 912), das sind die letzten Worte von La Débâcle. Angesichts von tabula rasa und allgemeinem Ruin stellt sich die Frage, welche Rolle die Literatur für diesen ›notwendigen‹ Bruch spielt, welche Konsequenzen ihr selbst aus der von ihr konstatierten Entwicklung erwachsen. Es handelt sich also letztlich um die Frage nach ihrer Position inmitten des Überbordens der Appetite und des Untergangs einer Welt, an der sie auf die ein oder andere Weise partizipiert. Anders formuliert: Wie hält es die Kunst, wie hält es Zola als Literat also mit der Oiko-nomie, den Passionen und dem Geld? Welcher Art ist seine ästhetische ›Affektökonomie‹? Es gibt sie, die Literaten à la Zola in der Welt der Rougon-Macquart, auch wenn ihnen selbst keine eigene, detaillierte Studie gewidmet ist. Sie sind Randgestalten, die schüchtern durch das Bild huschen, wie um zu bezeugen, dass sie einen Platz haben – allerdings offenbar keinen, der sich metonymisch zur Beschreibung dieser Welt eignen würde. Typisch der Bewohner des Hauses in Pot-Bouille, der scheinbar durch das Schreiben von Büchern seine Familie gut ernähren kann, über den jedoch Octave Mouret, der mit allen anderen Bewohnern intimen Umgang pflegt, nichts weiß und der ihm ein Mysterium, eine fremde Welt innerhalb der eigenen bleiben wird. Auch in L’Argent gibt es einen Literaten, der sich im Hintergrund auf dem typischen Weg des Journalismus zu einem solchen mausert: Weil sein erster Roman nach langer Wartezeit ein Erfolg wird, ist Jordan einer der wenigen glücklichen Gewinner inmitten der finanziell Ruinierten. Er kann nun seine Kleinfamilie ernähren und gar die von Reichtum in Mittellosigkeit gefallenen Schwiegereltern unterstützen. Erstaunlich scheint, dass er trotz des allgemeinen Ruins Saccards desaströses ›Wirtschaften‹ nicht verurteilen mag. Er ist weder moralisch verdorben, noch unwissend, ganz im Gegenteil – »ce n’était pas un ignorant, cet écrivain qui avait traversé le monde de la finance, plein d’un si beau mépris de l’argent« (A, V 351), und dennoch affirmiert er Saccards Haus-Spalten. Ein Blick in Zolas 1880 erschienenen Essay »L’Argent dans la littérature« entlarvt Jordan als mustergültigen Literaten ganz nach Zolas Vorstellungen: Es ist gerade seine Einstellung zum Geld, gepaart mit der eigenen finanziellen Situation, die sehr getreu widerspiegeln, was Zola zuvor manifestartig verlautbart hatte. Zola affirmiert in seinem Essay ganz energisch das Schreiben als ökono-
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mische Praxis in einer kapitalistischen Welt und polemisiert gegen jede Form der öffentlichen Förderung von Kunst. In seiner Haltung zum ›Geld‹ ähneln seine Ansichten deshalb auf frappierende Weise dem von Saccard stets wiederholten Credo: »Il est bête de déclamer contre l’argent, qui est une force sociale considérable.«19 Habe sich die Literatur in der vergangenen, fälschlicherweise als Vorbild angesehenen Epoche in einer »situation de parasite«20 befunden, weil der Literat von großzügigen Zuwendungen der Reichen oder Mächtigen abhängig war, befinde sich die künstlerische Produktion im kapitalistischen Zeitalter in einer freieren, gerechteren Lage: »l’argent fait pousser les belles œuvres«, so Zolas provokante Diagnose.21 Wichtiger und wahrscheinlich noch umstrittener ist der Umkehrschluss, der sich als selbstgerechte Grundthese wie ein roter Faden durch den ganzen Aufsatz zieht: Der freie Markt selektiere viel treffender als Mäzene oder Kulturförderung gute von bloß mittelprächtiger Literatur; geradezu ästhetisch-darwinistisch gedacht überlebten nur die Fähigen als Künstler und würden, so das Werk gut genug sei – wie im eigenen Fall – finanziell durchaus reichlich belohnt, so reichlich wie nie in vergangenen Zeiten. Es ist diese Geschichte, die Zola Jordan in L’Argent erleben lässt – der Markt belohnt sein Talent und verschafft ihm am Ende das ›verdiente‹ finanzielle Auskommen. Hinter dieser biographischen Erzählung steht die Idylle einer klassischen, in handfesten Werten der Produktion gegründeten, ›gerechten‹ Ökonomie. Sie muss sich jedoch seltsam und fremd ausnehmen im Zusammenhang des ganz anders gearteten, anti-oikonomischen, Haus-spalterischen ›Wirtschaftens‹, das der Roman detailliert darlegt. Auch wenn Saccard und Zola ›das Geld‹ in fast identischen Worten affirmieren, könnte die oiko-nomie, oder genauer, die Logik der Verteilung unterschiedlicher nicht sein, die sie jeweils ihrem Lob des Geldes zugrunde legen könnte. Diese Differenz trägt sich ganz augenscheinlich dort in die Welt der Rougon-Macquart ein, wo Autorfiguren oder Dubletten des Autors, wie Martine Gantrel sie nennt, auftauchen: le locataire du second [aus Pot-Bouille] et Sandoz [aus L’Œuvre] existent à part, non seulement de l’univers romanesque où on les rencontre, mais aussi de ses lois et en particulier de la loi naturaliste par excellence, celle qui présuppose l’inéluctable désagrégation du vivant.22
19 Émile Zola: L’Argent dans la littérature. Œuvres complètes. Bd. 10. Paris: Cercle du livre précieux 1966, S. 1277. 20 Ebda., S. 1265. 21 Ebda., S. 1278. 22 Martine Gantrel: Zola et ses doubles. Les instances de auto-représentation dans Pot-Bouille et L’Œuvre. In: Les Cahiers Naturalistes 47 (2001), S. 87–88.
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Sie sind ganz offensichtlich vom Affekt des Haus-Spaltens, von dieser anti-oikonomischen und a-moralischen Lebenskraft ausgenommen: Anders als Saccard ruiniert sich der Schriftsteller (Jordan=Zola?) nicht mit der Welt, die ihn umgibt und deren Ruin erst das Geld freisetzt, das es nun neu zu verteilen gilt. »Ainsi, les instances du double […] semblent exister non seulement à distance de l’univers romanesque mais aussi au-dessus de ses lois.«23 Übertragen auf die Position des Erzählens bestätigt dieser Befund die These, die Martin von Koppenfels mit Blick auf Flaubert formuliert hat: Der Erzähler ist gegenüber seiner Geschichte immun.24 Er erzählt Ruinöses und affirmiert in gewisser Hinsicht den Affekt des Haus-Spaltens, ohne selbst davon betroffen zu sein. Er spricht aus einer erhöhten Position, für die bereits andere Gesetze gelten. Für Zolas Rougon-Macquart könnte man sagen, dass diese Position jenseits des großen historischen Bruches liegt, die Romane schon implizit vom »nouvel état social« aus erzählt sind. Die Ruinen und die ruinöse, paradoxe Kraft der Mobilisierung sind für den Literaten offenbar ganz in die ästhetische Sphäre verschoben. Statt materiell tatsächlich den Einzelnen zu treffen, dienen sie als Metapher, die der bekannten intra-artistischen querelle des anciens et des modernes ein Bild gibt: Voilà la situation. Je la résume en répétant que notre époque est grande et qu’il est puéril de se lamenter devant le siècle qui se prépare. En avançant, l’humanité ne laisse derrière elle que des ruines; pourquoi toujours se retourner et pleurer la terre que l’on quitte, épuisée et semée de débris? Sans doute, les siècles passés ont eu leur grandeur littéraire, mais c’est une mauvaise besogne que de vouloir nous immobiliser dans cette grandeur, sous le prétexte qu’il ne saurait en exister une autre. Une littérature n’est que le produit d’une société.25
Das Produkt welcher Gesellschaft ist aber Zolas Literatur – und was bedeutet dies für die Literatur und deren Affektökonomie? Ein unheimlicher Kurzschluss sucht an dieser Stelle Zolas meta-literarische Reflektion und die für diese entwickelte Bilderwelt heim: tut der von ihm so eifrig programmatisch beworbene Naturalismus in den Rougon-Macquart nicht genau, was im obigen Zitat als warnender Bildspender dient? Beweinen mag sein Schreiben die alte Welt nicht, das sei offen zugestanden, aber ist es nicht genau die »terre que l’on quitte, épuisée et semée de débris«, sind es nicht genau die Ruinen einer Ära menschlichen Handelns, auf die Zola in seinem Zyklus auf monumentale Weise zurückblickt? Mehr noch:
23 Ebda., S. 93. 24 Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007. 25 Émile Zola: L’Argent dans la littérature, S. 1280.
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Speist sich nicht die unbestrittene affizierende Kraft, die aus den Rougon-Macquart einen Klassiker der Weltliteratur gemacht hat, genau aus der »impulsion essentiellement moderne«, aus dem Affekt des Haus-Spaltens, gegen den die Erzählinstanz doch immun zu sein vorgibt? Im Hinblick auf die Affektökonomie von Zolas Schreiben ergibt sich so ein frappierender »parasitisme littéraire«:26 Der erhabene Standpunkt, den sich Zola naturalistisch erschreibt, speist sich materiell-finanziell und vor allem auch ästhetisch aus dem Reiz dessen, was sein Schreiben kritisch anprangert und überwinden wissen will. War die ›Freiheit‹ der Literaten der goldenen, klassischen Zeit mit größter Abhängigkeit von Gönnern erkauft, so baut sich Zola ein solides, ja monumentales Haus aus dem allgemeinen Zerfall der Häuser. Säße Zolas literarisch-ökonomische Selbstreflexion nicht einem fundamentalen Irrtum auf, näherte ihn die perfide, selbstgerechte Oikonomie, unter der er seine literarische Praxis betrachtet, einem Charakter wie Bosch. Dessen Geschäftsmodell ist es, als listiger Geldeintreiber vom Ruin anderer zu leben, also eine Oikonomie zu betreiben, die letztlich aus dem Ruin verlässlich und ›gerecht‹ Wert schöpft. Die Romane unterlaufen jedoch den erhabenen, affekt-immunen Standpunkt, dessen sich die Erzählinstanz selbst so sicher zu sein scheint. La Curée und L’Argent erzählen nämlich die Geschichte eines weiteren fiktionalen ›Doubles‹ der Autorinstanz. Dieses ist vielleicht weniger eindeutig auf den ersten Blick zu erkennen, dafür aber sehr ausführlich portraitiert: Aristide Saccard. Zu den »jouissances«, die er aus seinen Geschäften zieht und auch aus allem, was ihn ›privat‹ umgibt, gesellt sich neben den ›klassischen‹, den »jouissances […] de luxe, de plaisir, de puissance« (A, V 219) eine weitere, schwieriger zu klassifizierende ›jouissance‹: ein ästhetisches, ein literarisches Vergnügen. Anstatt Geschäfte zügig abzuwickeln und umgehend den Gewinn einzustreichen, spinnt Saccard aus ihnen verwickelte Geschichten: »Les opérations les plus simples se compliquaient, dès qu’il s’en occupait, devenaient des drames noires« (C, I 518). Anstatt direkt zu oiko-nomisieren – also den Appetit in Befriedigung zu wandeln, Zirkulation in gehäuften Reichtum – wandelt er das überbordende Verlangen in einen vielschichtigen ästhetischen Affekt um, den er dann selbst genießt: »Cette comédie l’amusait énormément, l’histoire de ces billets le ravissait par le roman qu’ils mettaient dans l’affaire.« (C, I 491) Dabei geht es nicht um einen narzisstischen Impuls der Erhöhung eigener Errungenschaften im Spiegel der Erzählung. Es handelt sich vielmehr um die Kreation eines ästhetischen Affekts, denn ganz aristotelisch besteht die gewagte Kunst darin, Unwahrscheinliches wahrscheinlich werden zu lassen:
26 Ebda., S. 1266.
Ruinöses Erzählen
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Il n’avait pas conscience du nombre incroyable de ficelles qu’il ajoutait à l’affaire la plus ordinaire. Il goûtait une vraie joie dans ce conte à dormir debout qu’il venait de faire à Renée; et ce qui le ravissait, c’était l’impudence du mensonge, l’entassement des impossibilités, la complication étonnante de l’intrigue. Depuis longtemps, il aurait eu les terrains, s’il n’avait pas imaginé tout ce drame; mais il aurait éprouvé moins de jouissance à les avoir aisément. D’ailleurs, il mettait la plus grande naïveté à faire de la spéculation de Charonne tout un mélodrame financier. (C, I 526)
»[C]omédie«, »roman«, »drames noires«, »mélodrame«, »complication«, »intrigue« – die Häufung literarischen Fachvokabulars ist nicht zu übersehen. Saccards anti-oikonomische, Haus-spalterische Praxis ist auch – wenn nicht gar vor allem – literarische Praxis. Der zurückgezogene, von der Gesellschaft abgekoppelte und wissenschaftlich-kühl analysierende, naturalistische Literat, wie ihn Zola entwirft und von Zeit zu Zeit in seine fiktionale Welt einführt, ist nur Schreiber: ist nur Deckfigur, die sich geradezu vampiristisch die Affekte aneignet und in das Werk kopiert, die andere als literarische fabrizieren. So denkt Renée, als sich das »craquement cérébrale« immer stärker bemerkbar macht nur noch an einen angemessenen ›Abtritt‹. Die Flucht mit Maxime nach Amerika erscheint ihr, gerade aus literarischen, also inszenatorischen Gesichtspunkten ein besonders gelungener Einfall: »C’était une excentricité suprême, une fin qui, dans cette crise de fièvre chaude, lui semblait tout à fait originale. Ça dépassait de beaucoup son désir de voyage en ballon.« (C, I 570) Intrigen mit ihren überbordenden, affizierenden Kräften spinnen in den Rougon-Macquart diejenigen, die selbst im Sturm des Geschehens stehen: Saccard, Nana, Maurice und auch Renée. Sie schreiben sich in den Ruin – ja zu Tode. Ohne diese Ruinen gäbe es nichts zu erzählen, und vor allem keine Affekte, die diese Geschichten als literarische wirksam machen: Der Affekt des Haus-Spaltens ist intrinsisch literarisch; Todestrieb und das (zwanghaft-wiederholende) Erzählen des Lebens untrennbar. ›Affektökonomisch‹ ist es das auf der Ebene des Erzählten analysierte Überborden, diese »excentricité suprême«, die Zolas Rougon-Macquart prägt. Alles Theoretisieren wissenschaftlicher Kontrolle und kühler Analyse verdeckt bloß, was Zolas monumentales Meisterwerk als literarisches auszeichnet: das unbeherrschbare und Bestehendes ruinierende »débordement des appétits«. Die Rougon-Macquart sind nicht ›kritisch‹, weil sie von einem höheren Standpunkt Missstände aufzeigen. Sie sind kritisch, weil sie nicht nur von der fêlure erzählen, sondern selbst erzählend Risse erzeugen. Sie leben gerade von der kritischen Spannung, die zwischen Affekt-Exzess und ›immuner‹ Erzählinstanz besteht. Deshalb ruiniert sich Zolas Erzählinstanz, genau wie Saccard, am Ende unweigerlich. Der Vorhang schließt sich, naturgemäß, wenn alles in Schutt und Asche liegt – das Haus-Spalten ist an ein Ende gekommen, es gibt nichts mehr zu erzählen. »Mit dem Docteur Pascal beginnt
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Zola ästhetisch unlesbar zu werden«,27 schreibt Rainer Warning – Zolas Spätwerk ist unfreiwillig Zeuge davon, dass »toute une France à refaire« (D, V 912) kein literarischer, sondern eher ein politisch problematischer, propagandistischer Stoff ist. Vielleicht Sache einer ›besseren‹ oiko-nomie, der es um dauerhaftes (Auf)Bauen geht – Zweifel bleiben angebracht. Ganz sicher aber nicht Sache literarischen Schreibens, wie es in den Rougon-Macquart statt hat: Dessen ästhetische Affekte speisen sich aus dem Haus-Spalten, aus der Lust auf »autre chose« jenseits des aktuell Möglichen, aus einer jouissance, die sich nicht beherbergen lässt – und dennoch, oder gerade deshalb wirkt.
Bibliographie Deleuze, Gilles: Zola et la fêlure. In: Logique du sens. Paris: Éd. de Minuit 1969, S. 373–386. Deleuze, Gilles/Félix Guattari: Capitalisme et schizophrénie. L’Anti-Œdipe. Paris: Éd. de Minuit 1972. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 213–272. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006. von Koppenfels, Martin: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007. Schmitt, Carl: Nomos – Nahme – Name. In: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Berlin: Duncker und Humblot 1995, S. 573–591. Vinken, Barbara: Temples of Delight. Consuming Consumption in Emile Zola’s Au Bonheur des dames. In: Margaret Cohen/Christopher Prendergast (Hg.): Spectacles of Realism. Body, Gender, Genre. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1995, S. 247–267. —: Götzendienst (Émile Zola). In: Judith Kasper/Cornelia Wild (Hg.): Rom Rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale von Lucan bis Lacan. Paderborn: Fink 2015, S. 61–65. Warning, Rainer: Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹. Zolas Les RougonMacquart. In: Poetica 22 (1990), S. 355–383. —: Der Chronotopos Paris bei Zola. In: Roland Galle/Johannes Klingen-Protti (Hg.): Städte der Literatur. Heidelberg: Winter 2005, S. 145–160. Zola, Émile: Les Rougon-Macquart. Bibliothèque de la Pléiade. 5 Bde. Paris: Gallimard 1960–67. —: L’Argent dans la littérature. Œuvres complètes. Bd. 10. Paris: Cercle du livre précieux 1966, S. 1259–1284.
27 Rainer Warning: Kompensatorische Bilder einer ›wilden Ontologie‹, S. 383.
IV Appelle
Barbara Ventarola
Das (weibliche) Subjekt zwischen Affektivität und Ökonomisierung – Françoise de Graffigny: Lettres d’une Péruvienne (1747) Verflechtungen zwischen Affektivität, Ökonomie und Ästhetik Zwischen Affektivität, Ökonomie und Ästhetik herrscht ein komplexes Spannungsverhältnis: Einerseits zielen politisch-ökonomische Ordnungen oftmals auf die Disziplinierung von Affektivität und Ästhetik ab. Wirkmächtigstes Beispiel ist hier Aristoteles’ Konzept der ›oikonomia‹, das bis ins 18. Jahrhundert hinein prägend geblieben ist. Die Ökonomik meint bei Aristoteles den rationalen Umgang mit Gütern im Namen eines reinen Gebrauchsgebotes, das jeden Verlangensüberschuss als moralisch verwerflich ausschließt.1 Eine inzwischen große Zahl an Studien führt vor, wie sich Literatur gegen diese Domestizierungsstrategien immer wieder zu Wehr setzt.2 Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die Tatsache, dass eine gewisse ökonomische Sicherheit allererst die Grundlage für die Ausbildung, Stimulierung und Befriedigung von Affekten sowie für die Erzeugung und den Genuss ästhetischer Gebilde darstellt. Literatur, Ästhetik und Affekte einerseits und Ökonomie andererseits sind also nicht nur feindlich aufeinander bezogen, sondern bilden ein enges Beziehungsgeflecht. Im theoretischen Diskurs werden diese komplexen Verflechtungen erst im 20. Jahrhundert systematisch reflektiert. Georg Simmels Untersuchungen zur Interdependenz zwischen Geld und (Inter‑)Subjektivität, Marc Shells Studien zum Einfluss der Ökonomie auf Sprache und Literatur und die ›behavioral economics‹, die den ›homo oeconomicus‹ als ein wesentlich irrationales Wesen re‑de-
1 Vgl. dazu Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999; bes. S. 68 f. 2 Grundlegend sind hierfür die Arbeiten von Georges Bataille und Jean Baudrillard geworden. Vgl. Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung. In: ders.: Das theoretische Werk. Bd. 1. Die Aufhebung der Ökonomie. München: Rogner & Bernhard 1975, S. 9–31; Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz 1982. https://doi.org/10.1515/9783110479638-015
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finieren, bilden dafür eindrückliche Beispiele.3 Jüngst hat vor allem die Soziologin Eva Illouz Furore gemacht. In ihrer 2003 erschienenen Studie Der Konsum der Romantik weist sie auf, dass der Güterkauf sogar eine zentrale Bedeutung für die Konstruktion ›romantischer‹ Liebesbeziehungen hat, also Affektivität nicht verkümmern lässt, wie etwa Theodor Adorno in seinen Minima Moralia schreibt, sondern umgekehrt ermöglicht und fördert.4 Damit ergänzt sie Adornos (und auch Max Webers) wirkmächtige Zeitdiagnosen des Prozesses der Moderne um eine notwendige, andere Perspektive. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Moderne nicht allein als eine Zeit der ökonomisch bedingten Verkümmerung oder Korrumpierung der Gefühle begriffen werden darf. Illouz konzentriert sich weitgehend auf die zeitgenössische, ›postmoderne‹ Situation und verzichtet auf eine Untersuchung ihrer historischen Entstehungsbedingungen. Diesen möchte ich mich im Folgenden zuwenden und vorführen, dass ähnliche Ambivalenzen bereits ganz zu Beginn des Prozesses der Moderne durchdacht werden, also im 18. Jahrhundert. Bezeichnend ist, dass dies im literarischen Diskurs und ebenfalls aus weiblicher Feder geschieht. Eine der ersten, die den komplizierten Verflechtungen von Affektivität, Ökonomie und Ästhetik Aufmerksamkeit schenkt, ist nämlich Françoise de Graffigny. In ihrem Briefroman Lettres d’une Péruvienne entwickelt sie eine ganze Phänomenologie dieses Spannungsverhältnisses, mit der sie kritisch auf zeitgenössische sozioökonomische Entwicklungen und wirtschaftstheoretische Reflexionen reagiert und auf diese Weise zahlreiche moderne Überlegungen vorwegnimmt. Wenn man Literatur als einen heterotopen Raum ansehen kann, in dem ökonomische Ordnungen kritisch verhandelt werden, so nutzt de Graffigny diese Möglichkeit auf eine sehr besondere Weise. Die Konturen und Bedingungsfaktoren dieser Philosophie des Geldes möchte ich im Folgenden herausarbeiten. Dies wird es erlauben, den modernen Prozess der Ökonomisierung insgesamt mit neuen Augen zu betrachten.
3 Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Berlin: Duncker & Humboldt 81987 (11900); Marc Shell: The Economy of Literature. Baltimore: JHU Press 1978; ders.: Money, Language, and Thought. Berkeley u. a.: University of California Press 1982; Daniel Kahneman/Amos Tversky (Hg.): Choices, Values, and Frames. New York: Cambridge University Press 2000; George A. Akerlof/Robert J. Shiller: Animal Spirits. How Human Psychology Drives the Economy, and Why it Matters for Global Capitalism. Princeton: Princeton University Press 2009. 4 Vgl. Eva Illouz: Konsum und Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Campus 2003 (11997), hier S. XIII. Siehe auch dies.: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 52015 (12007).
Das (weibliche) Subjekt zwischen Affektivität und Ökonomisierung
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Eine ›Philosophie des Geldes‹ in den Lettres d’une Péruvienne I Schwellenzustände Françoise de Graffignys Briefroman Lettres d’une Péruvienne, 1747 erschienen, könnte als Sonderform eines weiblichen Bildungsromans bezeichnet werden: In 41 Briefen erzählt der Roman die Geschichte einer peruanischen Inka-Prinzessin, die anlässlich der Eroberung Amerikas nach Frankreich verschleppt wurde und sich dort von einer unwissenden Eingeborenen zu einer scharfsinnigen Philosophin, Kulturkritikerin und Schriftstellerin entwickelt. Im Zuge der aktuellen Re-Kanonisierungsdynamiken im Zeichen von Gendertheorie und Postkolonialismus wird dem Roman mehr und mehr Aufmerksamkeit zuteil. Er wird als eindrückliches Beispiel einer weiblichen Autorschaft gewürdigt, die sich – bei aller Zeitbezogenheit – eine bemerkenswerte Unabhängigkeit von zeitgenössischen Dispositiven bewahrt und damit zahlreiche spätere Entwicklungen vorwegnimmt. Besonders hervorgehoben werden ihre kritischen Überlegungen zur französischen Gesellschaft, zum Kolonialismus und zur zeitgenössischen Behandlung der Frauen, die spätere Autoren ebenso beeinflusst haben wie ihr raffiniertes Spiel mit literarischen Traditionen (›conte philosophique‹, Briefroman, psychologischer Roman, Liebesliteratur) und ihre Technik, das Eigene im Blick der fremden Beobachterin wie in einer umgekehrten Ethnographie zu verfremden.5 Janet Altman spricht gar von einem der einflussreichsten Werke der französischen Aufklärung, mit dem die Autorin neben Voltaire, Diderot und Rousseau zahlreiche weitere ›philosophes‹ der Zeit beeinflusst habe.6 Dennoch erhält der Roman nach wie vor nicht jene breite Anerkennung, die er verdient. Außerhalb der akademischen Welt wird er kaum wahrgenommen, und auch seine wissenschaftliche Erforschung weist noch große Lücken auf. Zumal die Reflexionen über die Verflechtungen von Denken, Sein, Fühlen und Ökonomie, mit denen die Autorin bereits im 18. Jahrhundert eine zukunftsweisende ›Phi-
5 Vgl. dazu Joan DeJean/Nancy K. Miller: Introduction. In: Françoise de Graffigny: Lettres d’une Péruvienne. Herausgegeben von Joan DeJean und Nancy K. Miller. New York: MLA 1993, S. IX–XXII. Die Lettres werden mit der Sigle LP und Seitenangabe nach dieser Ausgabe zitiert. 6 Vgl. Janet Altman: »Graffigny’s Epistemology and the Emergence of Third-World Ideology«. In: Elisabeth C. Goldsmith (Hg.): Writing the Female Voice. Essays on Epistolary Literature. London: Pinter 1989, S. 172–202; hier: S. 175; dies.: »A Woman’s Place in the Enlightenment Sun: The Case of F. de Graffigny«. In: Romance Quarterly 38 (1991), S. 261–271.
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losophie des Geldes‹ entwickelt,7 ja geradezu eine phänomenologische Tiefenschürfung der benannten Zusammenhänge vornimmt, wurden noch gar nicht beachtet. Indem ich dies nachhole, bemühe ich mich, dem Roman jenen Platz in der Literaturgeschichte zu sichern, der ihm gebührt: als ein Stück Weltliteratur, das den Vergleich mit einem Voltaire, Diderot oder Rousseau nicht zu scheuen braucht. Um ihre (Proto‑)Phänomenologie der genannten Verflechtungen literarisch zu inszenieren, bedient sich die Autorin eines raffinierten Verfahrens. Sie stellt mit der geraubten und in die französische Kultur verpflanzten InkaPrinzessin Zilia eine paradoxe Figur ins Zentrum: Als Inka-Prinzessin ist Zilia im goldenen Käfig fern von der gesamten Wirklichkeit aufgewachsen und erlebt den Austritt daraus ebenso wie den Eintritt in die französische Gesellschaft folglich wie eine (Neu‑)Geburt, wie einen Eintritt in die Welt überhaupt. Alles ist neu, fremd, anders, selbst die Natur, wie für ein Neugeborenes. Aufgrund der Weltabgeschiedenheit ihres früheren Lebens weist ihr Denken eine seltsame Mischung aus Naivität und politischer Bildung auf. Zwar sind ihre kognitiven Fähigkeiten zur (Selbst‑)Beobachtung, zur kritischen (auch politischen) Reflexion und zum Schreiben bereits ausgebildet. Gleichwohl ist ihre Wahrnehmung in vielen Dingen völlig unbedarft, noch unverstellt durch Kategorisierungen. Sie stellt also eine besondere Form einer ›edlen Wilden‹ dar, in der unterschiedliche Bewusstseinszustände paradox zusammengespannt sind. Und genau diese Paradoxie liefert die Grundlage, um eine Vorform der phänomenologischen Methode zu realisieren. Im naiven und zugleich scharfsichtigen Blick Zilias kann de Graffigny eine epoché inszenieren, die im Rückgriff auf die unverstellte Erfahrung alle vermeintlichen Selbstverständlichkeiten des Denkens aushebelt und so ganz neue Dimensionen des Wirklichen entdeckt. Am Beispiel dieser paradoxen Figur führt de Graffigny exemplarisch einen Sozialisierungs-, Zivilisierungs- und Subjektwerdungsprozess vor, den sie von der Protagonistin selbst dokumentieren lässt. Dabei inszeniert sie den Entwicklungsweg Zilias sehr präzise als einen Durchgang durch mehrere Schwellensituationen, wie sie Subjekte Victor Turner zufolge stets durchlaufen, wenn sie neue semiotische, affektive und soziale Bindungen eingehen.8 Wichtig ist hier
7 Die Bezeichnung spielt bewusst auf Simmels Philosophie des Geldes an. Es wird sich zeigen, dass Zilia bereits viele Überlegungen anstellt, die Simmel – natürlich mutatis mutandis – systematisch ausarbeiten wird. 8 Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M., New York: Campus 2000 (11969), S. 94 f.
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zudem, dass in diesen Übergangsphasen auch die klare Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität verschwimmt, weil sich das Subjekt vorübergehend keiner Ordnung eindeutig zugehörig fühlt. So beschreibt die Protagonistin ihre gewaltsame Verpflanzung in die sozio-ökonomische Ordnung des Frankreichs des 18. Jahrhunderts selbst als einen »passage« (LP, 18), und diese Schwellenerfahrung stellt den Ausgangspunkt eines ganzen Phasenmodells der Subjektkonstitution dar, das offenbar nach dem Schema der Entwicklungsstadien des Erwachsenwerdens inszeniert wird. Besonders sinnfällig wird dies bei Zilias Beschreibung ihrer Überfahrt nach Europa, jener zentralen ›Passage‹ also, die den Beginn ihres Lebens in Frankreich darstellt. Die Reise im dunklen Schiffsbauch nimmt die Protagonistin als ein »balancement continuel« wahr (LP, 30), das sie sich nicht erklären kann und an dessen Ende sie, als sie (wieder) das Licht der Welt erblickt (»je revis la lumière«; LP, 32), wie aus einem langen Traum erwacht (»réveillée comme d’un profond sommeil«; LP, 32). Mit diesem Sprachmaterial wird der Schiffsbauch wie ein Mutterbauch gestaltet, und die Ankunft im neuen Land wie eine Geburt. Die Passage nach Europa wird als eine Neugeburt des Subjekts inszeniert, das als Quasi-Neugeborenes für Neueinschreibungen offen ist. Zugleich zeigen die zitierten Passagen, dass Zilia die am eigenen Leib erlebten Schwellensituationen und Sozialisierungsprozesse reflektieren und dokumentieren kann, da sie durchaus die kognitiven Voraussetzungen einer Erwachsenen hat. Bezeichnend sind die weiteren Etappen des literarisch gestalteten Sozialisierungsprozesses. De Graffigny nimmt damit zentrale Erkenntnisse der neueren Psychologie vorweg. Es folgt eine Art Spiegelstadium (LP, 49, und 55), sodann der Spracherwerb, oder genauer der Erwerb der französischen Sprache, der die wichtigste Zäsur im Text bildet (LP, 77 f.), und schließlich eine allmähliche Verfeinerung des Fühlens, des Denkens, der sozialen Beziehungen und des Schreibens, die sich vollzieht, während die zunächst außenstehende Protagonistin in immer neue Räume und sozioökonomische Subsysteme eindringt und hierbei über sich und die Welt nachdenkt. In all diese Übergangsphasen wird das Ökonomische als wichtiger Faktor integriert. Bereits mit dieser makrostrukturellen Anlage geht de Graffigny über zeitgenössisch vorherrschende Diskurs- und Denkmodelle hinaus. Indem sie stru ihren Text wie eine quasi-phänomenologische Versuchsanordnung kon iert, mit der sie vor allem die Rolle erforschen kann, die die Ökonomie bei der Konstitution des Subjekts, seiner Affekte, seiner Sprache und seiner ästhetischen Erzeugnisse spielt, etabliert sie eine neue Textstruktur und dringt damit zugleich gedanklich tiefer in das benannte Verflechtungsverhältnis ein als ihre Zeitgenossen. Diese reflektieren zwar durchaus bereits auf innovative Weise über die Interdependenzen zwischen Ökonomie und Affektivi-
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tät;9 gleichwohl bleiben sie blind für einige sehr zentrale Aspekte dieses Zusammenhangs. Es wird sich zeigen, dass es vor allem de Graffignys marginalisierte weibliche Situation im sozio-ökonomischen Gefüge ihrer Zeit ist, die ihr diese Tiefe und die im Folgenden herauszuarbeitenden Innovationen und Neuzuordnungen ermöglicht.
II Leere Werte Zunächst steckt der Text den makro-politischen Rahmen für die Subjektwerdung ab. Aus der doppelt heterotopen Perspektive der kolonialisierten Frau kommentiert Zilia, vielfach sehr kritisch, das sozio-ökonomische System Frankreichs und dessen zeitgenössische Umwälzungen. Im 18. Jahrhundert vollzieht sich der Übergang von der aristotelischen Ökonomik zu merkantilistischen und sodann physiokratischen Modellen, der Joseph Vogl zufolge zur Geburt des ökonomischen Menschen führt.10 In einer sich mehr und mehr säkularisierenden Gesellschaft, die sich im Inneren zunehmend durch soziale Vereinbarungen konstituiert und sich zugleich immer stärker auf fremde Kulturen hin öffnet, spielen ontologische Begründungen von (auch ökonomischen) ›Werten‹ eine immer geringere Rolle. Stattdessen werden interne wie externe Tauschbeziehungen zentraler. Damit verliert die aristotelische Ökonomik, die auf die Autarkie und naturgemäße Selbstgenügsamkeit geschlossener Systeme setzt, an Gültigkeit. Albrecht Koschorke beschreibt diesen Umwälzungsprozess wie folgt: Der naturale Charakter der Dinge, das ontologische Fundament der älteren [aristotelischen, B. V.] Theorie, erblindet hinter der wachsenden Macht relativer, von Marktabhängigkeiten bestimmter Wertattributionen; Güter verwandeln sich in Waren, deren Qualität allein in ihrer Äquivalenzform besteht.11
Aufgrund dieser Umstellung auf die Zirkulation nur mehr relativer Werte verwandelt sich das Ökonomische in »ein entgrenztes Beziehungsgeflecht sozialer Tausch- und Verkehrsformen«,12 das auch die Semiotik der Waren und des Geldes
9 Besonders wirksam ist hier John Locke geworden. Vgl. dazu etwa Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 66–76. Siehe auch Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich, Berlin: diaphanes 2004, S. 54–82. 10 Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft, v. a. S. 54–82. Siehe dazu auch Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 66–76. 11 Ebda., S. 67. 12 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 54.
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betrifft: diese zirkulieren nun als Signifikanten, denen keine festen, unveräußerlichen Signifikate mehr zugeordnet werden können. Françoise de Graffigny kommentiert diese komplizierte Situation scharfsichtig. Die folgenden Passagen führen auf verdichtete Weise vor, wie sich das skizzierte sozio-ökonomische Klima auf das Individuum auswirkt: La vanité dominante des Français est celle de paraître opulents. Le génie, les arts, et peutêtre les sciences, tout se rapporte au faste, tout concourt à la ruine des fortunes; et comme si la fécondité de leur génie ne suffisait pas pour en multiplier les objets, je sais d’eux-mêmes qu’au mépris des biens solides et agréables que la France produit en abondance, ils tirent à grands frais de toutes les parties du monde les meubles fragiles et sans usage qui font l’ornement de leurs maisons, les parures éblouissantes dont ils sont couverts, jusqu’aux mets et aux liqueurs qui composent leurs repas. […] La même dépravation qui a transformé les biens solides des Français en bagatelles inutiles n’a pas rendu moins superficiels les liens de leur société. […] Mais à présent, ce qu’ils appellent politesse […] consiste dans une infinité de paroles sans signification, d’égards sans estime, et de soins sans affection. […] Le penchant des Français les porte si naturellement aux extrêmes […] que Déterville, quoique exempt de la plus grande partie des défauts de sa nation, participe néanmoins à celui-là. (LP, 119–125)
Die unterschiedlichen Aspekte der ökonomischen Kultur werden sprachlich präzise choreographiert. Die erste Passage fokussiert die französische sozio-ökonomische (Ding‑)Kultur im Allgemeinen und verbindet eine Isotopie der Entgrenzung mit einer Isotopie der Entleerung und einer Isotopie der Verflüssigung. Eindrücklich beschreibt die Protagonistin, wie der zeitgenössische Exotismus auch ökonomisch motiviert ist und wie sich im Gefolge der damit zusammenhängenden Entgrenzung der Zirkulation wertvoller Dinge alle festen Werte verflüssigen und entleeren. Das Ideal nationalökonomischer Autarkie wird hierdurch, wie die Passage nahelegt, durch ein sinnentleertes Streben nach einer Akkumulation von Werten ersetzt, die allerdings nur mehr einen scheinhaften, gleichsam fiktionalen Charakter haben. Kritisch stellt die Protagonistin die zeitgenössische französische Kultur als eine Kultur der Zirkulation leerer Werte und der Oberflächlichkeit dar, als eine Kultur, die sich dem reinen Schein, dem Überflüssigen und dem bloßen Luxusstreben verschrieben hat. Die darauffolgenden Passagen führen nacheinander vor, wie sich diese ökonomische Dynamik auf die sozialen Beziehungen, die sprachlichen Codes und schließlich den Affekthaushalt des Individuums auswirkt. Analog zu den zunächst skizzierten makro-ökonomischen Bedingungen betont die Briefschreiberin die Oberflächlichkeit sozialer Beziehun-
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gen, das Zirkulieren leerer Signifikanten und die Tendenz zu übermäßigen, aber leeren, unechten Gefühlsexzessen. Trotz dieser innovativen philosophischen Einsicht mutet die Kritik am skizzierten ökonomischen Regime auf den ersten Blick recht traditionell an. Zunächst kritisiert die Autorin sichtlich jene Auflösung der alten aristotelischen Ökonomik in das erwähnte »entgrenzte Beziehungsgeflecht sozialer Tausch- und Verkehrsformen«,13 die im 18. Jahrhundert stattfindet und die man zu Recht als Beginn der modernen Ökonomisierung ansehen kann.14 Die Darstellung des Inka-Reiches, die de Graffigny dem Briefroman in der »Introduction historique« voranstellt, deutet im ersten Ansehen in dieselbe Richtung. Ganz gemäß den aufklärerischen Prinzipien der Verklärung der ›edlen Wilden‹ stilisiert die Autorin dieses Reich zu einem utopischen Idealmodell, und dort herrschen weitgehend jene Prinzipien vor, auf denen die aristotelische ›oikonomia‹ aufruht. So ist zwar alles aus Gold, allerdings ist der Reichtum ›gehaltvoll‹, insofern er nur rituellen Zwecken oder der Befriedigung der Grundbedürfnisse dient (LP, 10–15). Die geschilderte Theokratie repräsentiert also Aristoteles’ Modell der Ökonomik als von einem Hausvorstand regulierte, weitgehend autarke Haushaltung, die ausschließlich auf Subsistenz und Konsumption abzielt. Wie im traditionellen ökonomischen Diskurs appliziert de Graffigny dieses Modell auf die Nationalökonomie.15 Zugleich kreuzt sie es mit Platons politischer Utopie, an der sich Aristoteles bei aller Kritik in vielerlei Hinsicht orientiert. Wie in Platons Politeia sind auch in de Graffignys utopischer Schilderung des Inka-Reichs die Affekte sowie die kulturellen Tätigkeiten wie die Künste, die Musik, das Handwerk etc. auf Nützlichkeit ausgerichtet und entsprechend domestiziert.16 In Anlehnung an Platon und Aristoteles geht die ökonomische Regulierung in der Inka-Theokratie also mit einer Domestizierung der Affekte und der Künste einher. Zugleich werden individueller Reichtum und Luxus als ›unnütz‹ und sinnentleert ausgeschlossen. Damit steht das Inka-Reich für die traditionelle
13 Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 54. 14 Ebda., S. 54 f. 15 Zur aristotelischen Ökonomik und diesem Transfer allgemein vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 67 f.; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 55 f. 16 Zu Platons Utopie vgl. Barbara Ventarola: Ordnung und Perspektive. Die utopischen Stadtentwürfe von Platon, Leibniz und Voltaire im Vergleich. In: dies. (Hg.): Literarische Stadtutopien zwischen totalitärer Gewalt und Ästhetisierung. München: Martin Meidenbauer 2011, S. 121–151; hier: S. 122–128. In einem ihrer Briefe erwähnt de Graffigny Platons Politeia explizit. Vgl. dazu Laura J. Burch: La nouvelle république des lettres: Graffigny et l’amitié philosophique. In: Jonathan Mallinson (Hg.): Françoise de Graffigny, femme de lettres. Écriture et réception. Oxford: Voltaire Foundation 2004, S. 319–327; hier: S. 319.
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Verbindung von Ökonomie und Moralphilosophie, in der stoizistische Konzepte der Affektkontrolle weiterleben. Auf dieser Grundlage übernimmt de Graffigny auch (zunächst) Aristoteles’ Kritik an der ›chrematistike‹, die im Unterschied zur ›oikonomia‹ auf eine Vermehrung individueller Güter abzielt und von Aristoteles unter das Verdikt der Widernatürlichkeit und Minderwertigkeit gestellt wird, weil damit die Grenzen der natürlichen Erhaltung und des konkreten Gebrauchsnutzens gesprengt werden.17 Vor diesem Hintergrund erscheint die sodann geschilderte französische Gesellschaft umso mehr wie ein korrumpiertes sozioökonomisches System: Die nationalökonomische Autarkie ist aufgebrochen, die als deutlich problematisch dargestellte Chrematistik das vorherrschende Prinzip. Alle streben danach, Werte anzuhäufen, die keinen konkreten pragmatischen Nutzen haben, sodass der Güterverkehr zum Selbstzweck wird, zu einem ebenso selbstreferentiellen wie entgrenzten System, in dem auch die sozialen Beziehungen, die sprachlichen Signifikanten und die Affekte entleert sind, zugleich aber unkontrolliert ins Extreme anwachsen. Auf den ersten Blick entspricht die skizzierte Gegenüberstellung der beiden sozio-ökonomischen Systeme folglich einer Kontrastierung von neu und alt. Die Kritik an Frankreich verklausuliert eine Kritik an der beginnenden Auflösung der aristotelischen Ökonomik, die, so könnte man zunächst meinen, mit einem nostalgischen Wunsch einhergeht, das platonisch-aristotelische Modell wiedereinzusetzen.18 Bei genauem Besehen finden jedoch Verschiebungsbewegungen statt, in deren Verlauf beide kontrastierten Systeme (und ineins damit die zugrundeliegenden ökonomisch-moralphilosophischen Theorien) kritisch hinterfragt werden. Der Roman geht gerade nicht in einer schlichten Gegenüberstellung der modernen Tauschgesellschaft und der traditionellen aristotelischen Ökonomik auf, wobei Letzterer nostalgisch der Vorrang eingeräumt würde. Sein leitendes Prinzip ist stattdessen ein systematisches ›déplacement‹, das auf einen dritten Raum zusteuert, in dem die Konturen einer neuen Utopie erkennbar werden. Dieses semantische ›déplacement‹ ist vor allem mit der Figur der kolonialisierten, kulturell verpflanzten Frau verbunden. Als weibliche Wanderin zwischen den Ordnungen ist Zilia beiden gegenüber heterotop. Die Liminalität bleibt bis zum Ende ihr existentieller Zustand, und genau dieser Zustand erlaubt
17 Zur aristotelischen Unterscheidung zwischen ›oikonomia‹ und ›chrematistike‹ vgl. Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie. Herausgegeben von Franz F. Schwarz. Stuttgart: Reclam 1989. Erstes Buch, Kap. 9, S. 93 f. 18 Vgl. dazu etwa die Lektüren von Jack Undank: Graffigny’s Room of her Own. In: French Forum 13 (1988), S. 297–318; sowie Robin Howells: Regressive Fictions: Graffigny, Rousseau, Bernardin. Leeds: Maney Publishing 2007.
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es ihr, alle im Text evozierten sozial-politischen und ökonomischen Ordnungen kritisch zu betrachten und gedanklich abzuwandeln. Indem de Graffigny die Erfahrungen dieser liminalen Figur ins Zentrum stellt, kann sie eine Doppelstrategie verfolgen. Zum einen begründet sie die Notwendigkeit der Kritik und der Veränderung aller aufgerufenen Systeme, indem sie aufzeigt, welche bis dato vernachlässigten Probleme diese für die weibliche Subjektwerdung mit sich bringen und wie diese durch misogyne Klischees in den zugrundeliegenden Theorien verstärkt werden. Auf dieser Grundlage bringt sie zum anderen allgemeine Facetten des Verhältnisses von Ökonomie, Affektivität und Subjektivität ans Licht, die von den zeitgenössischen männlichen Denkern nicht berücksichtigt werden. So schafft die Kritik an den bestehenden Systemen (und Theorien) zugleich die Fundamente, um ein alternatives Konzept des ökonomischen Menschen zu erproben, das sich im Rückblick als zukunftsweisend herausstellt. Eine etwas genauere Analyse der textuellen Dynamik und der damit inszenierten weiblichen Subjektwerdung Zilias erlaubt es, die Konturen dieser Doppelstrategie sichtbar zu machen.
III Vom nackten Ich zum wahren Sein Wie eng Subjektivität und Ökonomie miteinander verflochten sind, bringt de Graffigny bereits zu Beginn der Textentwicklung zur Anschauung. Durch den Raub aus dem Sonnentempel ist Zilia nicht nur aus ihrem gewohnten Kontext (und ihrer sprachlichen Kommunikationsgemeinde) gerissen, sondern verliert auch all ihr Hab und Gut. Damit wird sie notgedrungen zu einem Parasiten, was sie im berühmtesten Brief des Romans, in Brief 20, reflektiert: Mais hélas! Que la manière méprisante dont j’entendis parler de ceux qui ne sont pas riches, me fit faire de cruelles réflexions sur moi-même! Je n’ai ni or, ni terres, ni industrie, je fais nécessairement partie des citoyens de cette ville. O ciel! Dans quelle classe dois-je me ranger? (LP, 85)
Die Verpflanzung in den neuen Kontext wird hier vor allem als ein Statusverlust ökonomischer Art inszeniert, der massive Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung Zilias hat. Mit dem Verlust ihres Besitzes geht ein tiefgründiger Ich-Verlust einher. Zilia ist im ganz und gar negativen (Agamben’schen) Sinne auf ihr nacktes Sein reduziert: » […] la place que j’occupe dans l’univers est bornée à l’étendue de mon être.« (LP, 21) Dass es der Autorin genau auf diese Bedeutungsfacette ankommt, zeigt sich etwas später im Text. Zilia kommentiert dort die Unterschiede im Empfang, der fremden Neuankömmlingen von der Gesellschaft
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bereitet wird. Mit Verwunderung stellt sie fest, dass ein reicher Fremdling trotz seiner Andersheit im Unterschied zu ihr keinerlei Verachtung und Ablehnung, sondern umgekehrt Bewunderung und herzliche Aufnahme findet. Subjekttheoretisch ist dieser Vergleich in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen macht er sinnfällig, wie sehr das Ich in ökonomisch ausdifferenzierten Gesellschaften insgesamt vor allem über pekuniäre Parameter definiert wird und wie stark sich diese Fremdzuschreibung auf die Selbstwahrnehmung und ‑konstitution des Subjekts auswirkt. Zum anderen wird diese Einsicht geschlechterspezifisch ausdifferenziert. In patriarchalischen Gesellschaften wie der französischen des 18. Jahrhunderts wird Frauen, wenn sie nicht reich verwitwet sind, generell kein eigener Besitz zugestanden, sodass sie prinzipiell zu einem Parasitendasein verurteilt sind. Mit der ihres Besitzes beraubten Protagonistin macht de Graffigny auch auf diese Problematik aufmerksam. Zugleich führt sie die Auswirkungen vor, die diese gesellschaftliche Praxis auf die weibliche Subjektivität hat. Da die Frau im eigenen Land gleichsam immer schon kolonisiert ist und nur als Objekt an den sozialen Tauschprozessen teilhat, ist ihre Selbstkonstitution viel stärker von fremden Wertzuschreibungen abhängig als jene männlicher, vermögender Mitglieder der Gesellschaft. Sie bildet notgedrungen jene schwache, abhängige Subjektivität aus, wie sie erst viel später, nämlich in den Subjekttheorien der Postmoderne, für alle Individuen ausgerufen wird.19 Aufgrund ihrer sozial aufgezwungenen finanziellen Abhängigkeit, so zeigt de Graffigny, kann sie gar keine autonome Subjektivität nach dem männlichen Modell entwickeln, wie es vor allem durch Descartes geprägt wurde. Durch eigene Erfahrung für diese Problematik sensibilisiert, legt de Graffigny die ökonomische Bedingtheit der Konzeption autonomer Subjektivität frei. Sie zeigt auf, dass das Konzept des autonomen Subjekts finanzielle Unabhängigkeit wesentlich voraussetzt und sich nur deshalb scheinbar über ökonomische Interessen erheben kann, weil die finanzielle Sicherheit bereits gewährleistet ist. Aufgrund ihrer Erfahrungen als ökonomisch abhängige Frau gewinnt de Graffigny also einen neuen, heterotopen Blick auf die (zeitgenössische) Gesellschaftsordnung und Konstituenten des Subjekts, der Aspekte sieht, die dem privilegierten männlichen Blick deshalb verborgen bleiben, weil er existentiell nicht davon betroffen ist. Vor dem skizzierten Hintergrund ist es nur schlüssig, dass die Ökonomie auch beim Wiederaufbau des (weiblichen) Ichs eine zentrale Rolle spielt. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Briefe 27 und 35, die zwei zentralen Etappen
19 Zur postmodernen Theorie des schwachen Subjekts und ihren ökonomischen Grundlagen vgl. Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Wilhelm Fink 2004, S. 92 f.
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dieses Prozesses gewidmet sind. Nach der Erfahrung eines radikalen Ich-Verlustes wird nun der Wiederaufbau des Ichs im veränderten kulturellen Kontext vorangetrieben, und wieder sind ökonomische Veränderungen wesentlich beteiligt. Bezeichnend ist, dass nun auch die aristotelische Ökonomik, die in der idealisierenden Beschreibung des Inka-Reiches verklausuliert ist, abgewandelt wird. Der erste Schritt des erwähnten Subjektaufbaus wird durch die Wiedererstattung des geraubten Inka-Schatzes ermöglicht. Der Adlige Déterville, in dessen Besitz Zilia nach ihrem Raub gerät, macht den Schatz ausfindig und erwirbt ihn, um ihn ihr zurück zu erstatten. Je croyais avoir perdu pour jamais ces précieux monuments de notre ancienne splendeur, je n’y comptais plus, je n’y pensais même pas. J’en suis environnée, je les vois, je les touche, et j’en crois à peine mes yeux et mes mains. […] Un sentiment confus, mêlé de tristesse et de joie, de plaisir et de regret, remplit tout mon cœur. Je me prosternai devant ces restes sacrés de notre culte et de nos Autels; je les couvris de respectueux baisers, je les arrosai de mes larmes; je ne pouvais m’en arracher, j’avais oublié jusqu’à la présence de Céline; elle me tira de mon ivresse, en me donnant une lettre qu’elle me pria de lire. (LP, 111 f.)
Zunächst fällt die extreme Affektivität auf, die hier nun, im deutlichen Unterschied zur oben zitierten Passage, sehr positiv gezeichnet wird. Die Zeilen enthalten eine ganze Dingtheorie, die das in der Darstellung des Inka-Reichs evozierte platonisch-aristotelische Modell der oikonomia sichtlich sprengt. So ist es nun die schiere Dinghaftigkeit der wertvollen Objekte, die zu einem tiefempfundenen, wahrhaftigen und exzessiven Glücksgefühl führt, ja zu einer Verzauberung, bei der sich – wie in Turners Modell schwellenhafter Übergangsphasen – die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft sowie zwischen Imagination und Wirklichkeit auflöst. Als Archive der Erinnerung an das verlorene Ich ermöglichen die Objekte dessen Neuaufbau, sind also wesentlich an der Konstitution des Subjekts beteiligt, und es ist bemerkenswert, welch große Rolle die Affektivität und die Körperlichkeit dabei spielen. In ihrer affektiven Dichte erfüllen die Dinge eine wichtige Überbrückungs- und Relaisfunktion beim Übergang zwischen den verschiedenen Zuständen des Ichs und sind somit substantiell in dessen Struktur eingeflochten. Neben Turner könnte man auch die psychoanalytische Theorie der transitional objects von Donald Winnicott anführen. Winnicott bezeichnet damit affektiv aufgeladene Gegenstände, die in Situationen der Trennung (oder anderer schmerzvoller Erfahrungen der Übergängigkeit) verwendet werden können, um die Trennungserfahrung zu überbrücken, indem sie einen Zustand der imaginären Einheit zwischen dem Ich und der Welt herstellen und so dabei helfen, den Verlust eines symbiotischen Miteinanders
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zu kompensieren.20 Winnicott berücksichtigt also, dass Dinge durchaus tiefe, ›wahre‹ Gefühle erzeugen können. Und genau darauf zielt auch de Graffignys Inszenierung der Dinge ab. Damit stellt sie sich quer zur wirkmächtigen platonischen Tradition der Dingkritik, in der irdische Güter als prinzipiell leerer Tand ohne substantiellen Wert disqualifiziert werden. Nun könnte man erneut einwenden, all dies seien »regressive fictions«, in denen de Graffigny einen Wunsch nach der Wiederherstellung früherer kultureller Zustände auslebe.21 Zunächst wird diese Apologie der Dinge nämlich mit ihrer Sakralität legitimiert. Das Gold erscheint deshalb als ein Wert an sich, weil es die Spuren seiner einstigen rituellen Verwendung trägt. Diese Bewertung der Dinge scheint zunächst doch wieder ins platonisch-aristotelische Modell zurückzuführen. Auch dort sind Güter dann legitimiert, wenn sie eine unmittelbare Gebrauchsfunktion erfüllen. Zwei Punkte widersprechen allerdings einer solchen Deutung. Der erste besteht in der positiv gezeichneten, exzessiven Affektivität der Protagonistin, mit der de Graffigny Platons Vorgabe einer strikten Eindämmung starker Affekte sprengt.22 Wichtiger noch scheint mir ein zweites transgressives Moment, die Tatsache nämlich, dass die Erfahrung eines glückshaften Bei-Sich-Seins nun vor allem auf der Privatisierung des Schatzes beruht. Damit widerspricht de Graffigny auch deutlich Platons Ideal einer totalen Kollektivierung aller Werte.23 Wenn de Graffigny in den auf Seite 289 zitierten Passagen das Besitzstreben also zunächst mit dem Argument kritisiert, der Gefühlshaushalt werde dadurch korrumpiert, so führt sie nun die andere Seite der Medaille vor Augen. Sie zeigt (gegen Platon und die durch ihn mitbegründete Tradition der Dingkritik), dass der eigene Besitz durchaus nötig sein kann, und zwar gerade auch, um tiefe Gefühle zu erleben und das eigene Ich zu festigen. Mit den Überlegungen, die Zilia direkt nach der zitierten Passage anstellt, konkretisiert de Graffigny diese Stoßrichtung. Sie setzt sich dort kritisch mit den gedanklichen Grundlagen der sozialen Praxis auseinander, die finanzielle Eigenständigkeit von Frauen zu unterbinden. Zu diesem Zweck führt sie einen weiteren Grund für Zilias starkes Glücksgefühl an: die beglückende Erfahrung, andere zu beschenken: »Je goûtai enfin le plaisir délicieux de donner« (LP, 115). Der neu erworbene, eigene Besitz ermöglicht es Zilia nicht nur, sich in einen imaginären Kokon einzuspinnen, der sie von der Brutalität des Wirklichen abschirmt. Er
20 Vgl. Donald Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett Cotta 1974; bes. Kap. 1. 21 Vgl. zu einer solchen Lektüre etwa Robin Howells: Regressive Fictions, Kap. 1. 22 Vgl. dazu Platon: Politeia III, 40–43. (In: ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ursula Wolf. 4 Bde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994, Bd. 2, S. 195–537; hier: S. 268–300). 23 Vgl. dazu Platon: Politeia V, 73.
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bietet ihr auch die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes soziales Handeln, das nun dezidiert als altruistisch gezeichnet wird und von dort sein Glückspotential gewinnt. Indem de Graffigny das Glück des altruistischen Schenkens in den Vordergrund rückt, spielt sie auf die zeitgenössische Verbindung von Ökonomie und Moralphilosophie an und demontiert ein zentrales misogynes Klischee, das immer wieder angeführt wird, um die Enteignung und Bevormundung der Frauen zu legitimieren: diese seien nicht zu einem eigenverantwortlichen, rational-beherrschten und sozial kompatiblen Umgang mit Geld und Macht in der Lage und bedürften folglich der Lenkung durch einen männlichen Hausvorstand.24 In ihrer Lust am Schenken erweist sich Zilia durchaus als selbständiges moralisches Subjekt. Sie nimmt aktiv am kollektiven Tauschgeschehen teil und ist nicht mehr auf die Rolle des getauschten Objektes eingeschränkt. Die neue Freiheit führt nicht notwendig zum Missbrauch aus Habgier und unkontrollierter Verschwendungssucht, sondern macht in Form der Gabe altruistisches Handeln möglich. Auf diese Weise legt de Graffigny auch die Grundlagen, um die ökonomischen Theorien ihrer männlichen Zeitgenossen insgesamt und jenseits der Geschlechterunterscheidung abzuwandeln. Bereits ihre Zeitgenossen bemühen sich darum, die Affekte in Entgegnung auf die Tradition als einen positiven, notwendigen Faktor in das ökonomische Geschehen zu integrieren. Dabei bleiben sie der – vor allem moralistischen – Tradition allerdings insofern verhaftet, als sie diese nur als eigennütziges Interesse an Gewinnbildung konzipieren. Nur dadurch könne, wie etwa Locke argumentiert, jene Zirkulation von Werten in Gang gehalten werden, die den modernen Staat konstituiere.25 De Graffigny knüpft an diese Positivierungsbestrebungen an und ergänzt die Argumentation, indem sie die Möglichkeit eines uneigennützigen Interesses ins Blickfeld rückt. Anders als die Moralisten postulieren,26 stellt nun auch der Altruismus, die uneigennützige Gabe eine wichtige Grundlage für die Konstitution und das Handeln des (ökonomischen) Subjekts dar. Brief 35 führt diese implizierten Überlegungen fort und prononciert einen weiteren Aspekt, der zuvor nur angedeutet wurde: die Frage (weiblicher) Autorschaft. Bei ihrer neuartigen Verflechtung von Ökonomie und Affektivität berücksichtigt de Graffigny auch die Auswirkungen, die ökonomische Aspekte auf die ästhetische Produktivität haben können. Damit ist sie eine der ersten, die diesen
24 Vgl. Sabine Koloch: Vorüberlegungen und Nachträge, S. 20–22. 25 Vgl. dazu Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 68. 26 Zentral sind hier die Argumentationen von François de La Rochefoucauld und vor allem von Thomas Hobbes.
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Nexus selbstreferentiell auslotet. Die nächste Stufe der Ich-Konstitution erreicht Zilia nämlich durch den Erwerb eines Landhauses, das ihr Déterville von einem Teil ihres Inka-Schatzes kauft. Die Art der Inszenierung macht sinnfällig, dass erst hierdurch für Zilia die Möglichkeit gegeben ist, jene selbstgenügsame, idyllische Schriftsteller- (und Forscher‑)Existenz voll zu entfalten, die sie im Verlauf des Textes mehr und mehr als ihr angestrebtes Ziel, ihre wahre Erfüllung erkennt:27 Te l’avouerai-je, mon cher Aza, tout ce qui s’offrit à mon passage me parut prendre une nouvelle forme; les fleurs me semblaient plus belles, les arbres plus verts, la symétrie des jardins mieux ordonnée. Je trouvai la maison plus riante, les meubles plus riches, les moindres bagatelles m’étaient devenues intéressantes. Je parcourus les appartements dans une ivresse de joie qui ne me permettrait pas de rien examiner. Le seul endroit où je m’arrêtai fut une assez grande chambre entourée d’un grillage d’or, légèrement travaillé, qui renfermait une infinité de livres de toutes couleurs, de toutes formes, et d’une propreté admirable. (LP, 151)
Mit den auffälligen Analogien zu Brief 27 führt de Graffigny die zuvor erprobte neuartige Verbindung von Ökonomie und Affektivität präzise fort. Dabei lenkt sie die Aufmerksamkeit zugleich auf die Frage weiblicher Autorschaft. Die ›Neugeburt‹ des Ichs, die durch die eigene Wohnstatt ermöglicht und im Zustand des Rausches erlebt wird, geht nämlich mit einer Intensivierung der Wahrnehmung einher, die sich am Ende der Passage auf Bücher konzentriert. Alles wird intensiver, reicher, interessanter, und erst in der Bibliothek des Hauses kommt die Protagonistin zur Ruhe. Diese Szenerie macht deutlich, dass nicht nur Besitz im Allgemeinen, sondern vor allem ein »room of one’s own« die Voraussetzung für jenen besonderen Zwischenzustand zwischen Wirklichkeit und Fiktion darstellt, der seinerseits allererst das Fundament für künstlerische Kreativität bildet.28 Indem de Graffigny die finanzielle Eigenständigkeit, unter raffinierter Abwandlung traditioneller Liebeslyrik, als ein Medium der Intensivierung der Wahrnehmung inszeniert, macht sie sichtbar, wie ökonomische Aspekte den gesamten
27 Vgl. etwa Lettres, S. 72, S. 77, S. 99. Zu Zilias Entwicklung zur Schriftstellerin vgl. auch Nancy K. Miller: Subject to Change: Reading Feminist Writing. New York: Columbia University Press 1988, Kap. 6. Mit gutem Recht kann man in Zilia ein Alter Ego der Schriftstellerin selbst sehen. Vgl. dazu etwa Rotraud von Kulessa: Françoise de Graffigny, et la genèse des Lettres d’une Péruvienne: l’écriture comme auto-réflexion. In: Jonathan Mallinson (Hg.): Françoise de Graffigny, femme de lettres. Écriture et réception. Oxford: Voltaire Foundation 2004, S. 63–73; Renate Kroll: La ré-écriture de soi-même, ou exister par écrire: fiction et authenticité fictive chez Françoise de Graffigny. In: ebda., S. 74–83. 28 Ganz ähnlich wird später Virginia Woolf argumentieren. Vgl. Woolf: A Room of One’s Own. In: dies.: A Room of One’s Own and Three Guineas. Herausgegeben von Michèle Barrett. London u. a.: Penguin Books 1993 (1929/1938), S. 4–114; bes. Kap. IV und V.
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Gefühls- und Wahrnehmungshaushalt des (Künstler‑)Ichs affizieren und wie nötig ein eigener Raum ist, damit das (weibliche) Subjekt eine eigene ästhetische Stimme finden kann.29 Es dürfte deutlich geworden sein, dass hier keine Regressionsphantasien der Autorin zum Zuge kommen. Der Text beschreibt vielmehr ein ›glissement‹ des Sinns, bei dem der zu Beginn eingeführte traditionelle Bedeutungszusammenhang mehr und mehr zurückgedrängt und durch innovative und kritische Neu-Modellierungen und subjekttheoretische Re-Definitionen ersetzt wird. Betont wird, welche große Bedeutung der eigene, unveräußerliche Besitz für die innere Unabhängigkeit des weiblichen (Schriftsteller‑)Subjekts hat. Zugleich setzt der Brief die ethisch-moralischen Re-Kodierungen von Brief 27 fort. Indem Zilia darauf aufmerksam macht, dass ihr der Besitz eine »liberté de parler« garantiere (LP, 153), wird deutlich, dass das Schreiben nicht nur der Selbstbeglückung dient, sondern auch der Umwelt zugutekommt. Es geht um ein kritisches, sozial engagiertes Schreiben, das auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam macht und sie damit möglicherweise zu beheben hilft. Konzise entwickelt de Graffigny die Logik der Gabe weiter, die in Brief 27 eine zentrale Rolle spielt. Nun geht es um eine Gabe von Gedanken, die in einem größeren gesellschaftlichen Radius zirkulieren können – um eine sublimierte, entdinglichte Gabe gleichsam. Im Verlauf des Textes verwandelt sich Zilia also zu einem sehr eigenwilligen, für jene Zeit heterodoxen weiblichen Subjekt, was sie selbst auch explizit zur Sprache bringt: »Peut-être la fastueuse décence de votre nation ne permet-elle pas à mon âge l’indépendance et la solitude où je vis; […].« (LP, 165) Im vieldiskutierten Textende finden die vorangehend herausgearbeiteten Neuzuordnungen von Ökonomie, Affektivität und Subjektivität ihre Vollendung. Zilia gelangt nicht zum ersehnten wahren Sein, indem sie auf jeden Besitz verzichtet, wie dies die lange Tradition der Besitzkritik vorsieht. Stattdessen bildet genau der erworbene Privatbesitz, und hier vor allem die eigene Wohnstatt, die Voraussetzung für die Selbstfindung. Erst durch die finanzielle Sicherheit kann Zilia in den Genuss der beglückenden Erfahrung eines ungetrübten Bei-SichSeins kommen, das sie mit den folgenden Worten eindrücklich beschreibt: Le plaisir d’être, ce plaisir oublié, ignoré même de tant d’aveugles humains; cette pensée si douce, ce bonheur si pur, je suis, je vis, j’existe, pourrait seul rendre heureux, si l’on s’en souvenait, si l’on en jouissait, si l’on en connaissait le prix. (LP, 168)
29 De Graffigny weitet diese Argumentation auch auf männliche Autorensubjekte aus. Vgl. hierzu Zilias harsche Kritik an den schlechten Lebensbedingungen der meisten zeitgenössischen Schriftsteller (LP, 90).
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Erst auf diesem Fundament kann das Ich auch endgültig in jenem Raum zwischen Fiktion und Wirklichkeit heimisch werden, in dem die ästhetische Kreativität gedeiht. Zilias vielmals mit Irritation bemerkte Weigerung, Déterville zu heiraten, dient ebenfalls dem Zweck einer Neukartierung des Denkens. Zwar zieht sich die Protagonistin in ihr Landhaus zurück und schließt sich so freiwillig aus den kollektiven Güter- und Körperströmen (in Form von Sexualität und Prokreation) aus. Zunächst scheint sie also die traditionelle Rolle der Frau anzunehmen, die sich fern der öffentlichen Sphäre und ihrer makro-politischen Zirkulationen sozialer Energien ansiedelt. In einer ersten Sinnschicht wird dieser Rückzug zudem mit ihrer Enttäuschung von Azas Untreue erklärt, sodass ihr Handeln zunächst – sehr traditionell – ganz auf den Mann bezogen zu bleiben scheint (LP, 154–162). Bei genauem Besehen birgt das Textende allerdings durchaus utopisch-transgressives Potential. Hier findet die vorangehende Re-Modellierung gängiger Konzepte weiblicher Subjektivität nämlich ihren Kulminationspunkt. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass Zilia ihr neugewonnenes Sein mit Tätigkeiten erfüllt, die den engen Kreis des Handlungsspielraums durchbrechen, der dem weiblichen Geschlecht zu jener Zeit zugemessen wurde: die wissenschaftliche Erforschung des Universums und das (literarisch-kritische) Schreiben (LP, 167). Außerdem wird der Rückzug anders motiviert als durch Azas Handeln. Zilia erfüllt sich damit genau den Wunsch nach einer freien Schriftstellerexistenz, den sie, wie bereits erwähnt, schon sehr viel länger hegt und der unabhängig von Aza gewachsen ist.30 Damit nutzt sie ihre neugewonnene finanzielle Unabhängigkeit, um die traditionell männlich konnotierte Subjektrolle des Junggesellen (also des autonomen Subjekts par excellence) zu usurpieren, der sich ganz den Studien und der Kunst widmet und über die Erzeugnisse seines Geistes durchaus auf die öffentliche Sphäre einwirkt, obwohl er sich ihr scheinbar entzieht. Der Verweis auf die Figur des Parrhesiasten, des kritischen politischen Wahrsprechers, der sich im Wunsch verbirgt, endlich in den Genuss einer »liberté de parler« zu kommen (LP, 153), belegt dies eindrucksvoll. Damit wird die Autofiktion selbst zum Einsatz, zum Wert im kollektiven Tauschgeschehen.31 Dieses subtile Umschreiben traditioneller Geschlechterkonzepte, das durch die finanzielle Unabhängigkeit möglich wird, bestimmt auch Zilias Verhältnis
30 Vgl. dazu nochmals ebda., S. 72, 77, 99, wo Zilia das Schreiben als ihre eigentliche Erfüllung erkennt. 31 De Graffigny knüpft hier an eine lange Tradition proto-feministischer Argumentationen an, wie sie jüngst Margot Brink herausgearbeitet hat. Vgl. dies.: Topoi der EntSagung. Liebes- und Eheverweigerung in der romanischen Literatur der Frühen Neuzeit. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015.
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zu Déterville. So besteht ihre allerletzte Sprechhandlung in der Aufforderung an diesen, ihrem Beispiel zu folgen und achtsam mit den Ressourcen der Natur und des Ichs umzugehen, also letztlich seine weiter oben erwähnten allzu exzessiven Affekte zu zähmen. Wieder scheint der Text in traditionelle Bewertungszusammenhänge einzuschwenken, in diesem Fall in die platonisch-stoizistische Affektökonomie. Bei aller Bestätigung der Tradition verkehrt de Graffigny auch damit auf raffinierte Weise die hergebrachte Rollenzuweisung der Geschlechter. Denn nun ist es die Frau, die den Mann belehrt und überdies die männliche Rolle der Selbstbeherrschung übernimmt. Sowohl die geschlechterspezifische Zuordnung von Rationalität und Affektivität als auch die gängige pädagogische Geschlechterhierarchie werden invertiert. Damit führt de Graffigny vor, dass die vermeintlich biologische und ontologische Unterlegenheit der Frau durch die finanzielle Enteignung allererst produziert wird und verschwindet, wenn gleiche ökonomische Bedingungen herrschen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Entwicklungslinie des Romans nur vordergründig zur anfänglichen Weltabgeschiedenheit zurückkehrt; sie ist, so hat sich gezeigt, nur scheinbar zirkulär und regressiv. Zilia verwandelt sich mehr und mehr zu einem neuen, selbstständigen weiblichen Subjekt, wobei diese Selbstwerdung vor allem als ein Prozess der ›Individuierung‹ gestaltet ist. War sie anfangs Bestandteil einer undifferenzierten Gruppe von Tempel-Jungfrauen, so steht sie am Schluss als unabhängiges Individuum da, das selbst über seinen Geist, seinen Körper und seine Affekte bestimmt. Aus der traditionellen Affektbeherrschung ist eine freie, selbstbestimmte Affektmodellierung geworden. Diese Verwandlung gelingt Zilia, indem sie nach und nach aus allen aufgerufenen sozio-ökonomischen und gedanklichen Ordnungen heraustritt und neue Wege des Denkens beschreitet. Und all dies wird nicht nur durch den Erwerb der französischen Sprache, sondern vor allem auch durch ihre zunehmende finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht.
Fazit De Graffignys Briefroman ist für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ökonomie, Subjektivität, Affektivität und Ästhetik von zentralem Interesse. Aus der marginalisierten Perspektive einer weiblichen Schriftstellerin (und Protagonistin) legt die Autorin Verflechtungen von Denken, Sein, Fühlen und Ökonomie frei, die von ihren männlichen Zeitgenossen noch nicht berücksichtigt wurden und damit auch in der Forschung, die sich lange nur auf männliche Diskurse konzentrierte, bislang unbeachtet geblieben sind. Damit wird es möglich, die
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Geschichte des Zusammenhangs von Literatur und Ökonomie neu zu perspektivieren. Dies gilt zunächst für die Literaturgeschichte. Mit der innovativen Textstruktur, mit der die Autorin wie in einer Versuchsanordnung erforscht, welche Auswirkungen das Ökonomische auf die Ausbildung des (zumal weiblichen, kolonialisierten) Subjekts, seiner Wahrnehmung, seines Gefühlshaushalts und selbst seiner (ästhetischen) Sprache hat, erfindet sie eine originelle Form des Bildungsromans.32 Ebenso innovativ ist der Roman in thematischer Hinsicht. Mit dem Subjektwerdungsprozess der kulturell verpflanzten, kolonialisierten Protagonistin, die durch eine zunehmende finanzielle Unabhängigkeit zur inneren Freiheit findet, kritisiert de Graffigny alle aufgerufenen sozio-ökonomischen Systeme und demontiert die dafür verantwortlichen Geschlechterstereotype. Sie weist auf, dass alle patriarchalischen Ordnungen eine strukturelle Tendenz zur Prekarisierung der Frau haben. Dies gilt sowohl für die traditionelle aristotelische Ökonomik als auch für die zeitgenössischen Zirkulationsmodelle des Merkantilismus und der Physiokraten. Alle drei, so führt der Roman vor, erschweren die Ausbildung einer selbständigen weiblichen Subjektivität, weil sie auf ontologisierend-biologistischen Geschlechterstereotypen aufruhen, in deren Namen die finanzielle Abhängigkeit der Frau als ordnungsgemäßer Zustand zementiert wird. Diese Geschlechterstereotype werden systematisch demontiert, indem Zilias (ökonomisches) Handeln auf neue, bis dato unberücksichtigte Affekte zurückgeführt wird. Vier Aspekte sind hier von Bedeutung: das Glück des Schenkens, die Parrhesia, das Erleben echter, tiefer Gefühle, das erst durch die finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht wird, und schließlich die Freiheit zur Kunst. Auf dieser Grundlage kann de Graffigny auch ein allgemeineres subjekttheoretisches Anliegen verfolgen. Wie ihren Zeitgenossen geht es ihr darum, die Affekte in Entgegnung auf den traditionellen moralphilosophischen Diskurs als einen wichtigen, positiven Faktor in das ökonomische Geschehen zu integrieren. Dabei geht sie allerdings weit über diese hinaus und wird Vielen zum gedanklichen Vorbild. Man denke etwa an den Staatspolitiker und Ökonomen Anne Robert Jacques Turgot, der sich, wie Janet Altman andeutet, bei der Entwicklung seiner ökonomischen Reformideen von de Graffignys Roman leiten lässt.33 Zugleich formuliert sie Einsichten, die für gewöhnlich erst viel späteren Denkern zugeschrieben werden. In frappierender Analogie zu beispielsweise Georg Simmel oder Eva Illouz führen ihre geldphilosophischen Überlegungen den Nachweis,
32 Ihre Zeitgenossen haben de Graffignys literarische Innovationskraft durchaus mit Bewunderung vermerkt. Vgl. dazu Janet Altman: A Woman’s Place in the Enlightenment Sun; bes. S. 261 f. 33 Vgl. Janet Altman: Graffigny’s Epistemology and the Emergence of Third-World Ideology, S. 175; dies.: A Woman’s Place in the Enlightenment Sun, S. 262 und 265 f.
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dass das Ökonomische wahre Emotionen nicht notwendig korrumpieren muss, sondern diese vielfach allererst ermöglicht. Außerdem legt de Graffigny erstmals dar, wie stark ökonomische Bedingungen auch die Imagination und die künstlerische Produktion beeinflussen, was im theoretischen Diskurs ebenfalls erst viel später reflektiert wird, etwa von Marc Shell oder Kurt Heinzelman. Damit fällt ein neues Licht auf den Prozess der modernen Ökonomisierung. Es zeigt sich, dass bereits im 18. Jahrhundert, zu Beginn dieses Prozesses also, alternative Wege des Denkens eingeschlagen werden, die quer zu gängigen Zuordnungen von Ökonomie und Affektivität sowie den dazugehörigen Geschlechterkonnotationen verlaufen. Außerdem konnte der Nachweis erbracht werden, dass diese neuen Denkoptionen aus weiblicher Feder stammen. Dies fordert zu einer generellen Revision der Entwicklungsgeschichte des ökonomischen Menschen auf.
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Das (weibliche) Subjekt zwischen Affektivität und Ökonomisierung
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Vittoria Borsò
Affekt und Gabe zwischen ›dépense‹ und ›dispense‹. Zum ökonomischen Kalkül theoretischer Konstellationen (Georges Bataille, Giorgio Agamben, Jacques Derrida, Roberto Esposito) Zur Verortung der Begriffe Die Etymologie von ›dépense‹ und ›dispense‹ deutet bei beiden auf das Verhältnis zwischen Ausgeben und Nutzen hin. Dépense meint etymologisch seit dem 12. Jahrhundert eine ökonomische Zahlungsbilanz, abgeleitet vom lat. ›dispensare‹ (provenç. ›despensar‹), »administer et partager de l’argent«.1 ›Dépense‹ bezieht sich auf das »argent employé à toutes choses, privées ou publiques, qu’on se procure, qu’on fait ou fait faire«2 und adressiert bis heute das, was man in der Bilanz der Lebenserhaltung ausgibt. Interessanterweise ist ›dépense‹ stets begleitet vom homophonen Begriff ›dispenser‹,3 der wiederum auf das Lateinische ›dispendere‹ im Sinne von »accorder une permission, ce qui est une répartition, distribution; là le sens se partage, et dispenser veut dire tantôt permettre de ne pas faire (par exemple dispenser de jeûner), tantôt permettre de faire«, zurückzuführen ist.4 Bei ›dispenser‹ überwiegt zunehmend der Sinn von »s’extemper de, prendre la permission de ne pas faire«, was eine Immunität bedeutet.5 Mit ›dépense‹ werden die Ausgaben adressiert, die zur Lebenserhaltung nützlich sind. ›Dispense‹ kann sowohl die Befreiung von einer Pflicht als auch umgekehrt die Handlung von ›organiser‹, ›répartir‹ bedeuten. Dieser zweite Begriff impliziert damit zwei entgegengesetzte Formen von Nutzen: einmal betrifft er den individuellen Nutzen, z. B. wenn jemand von einer Pflicht ausgenommen wird und damit eine Art Immunität genießt;6 zum anderen geht es um den Nutzen der Anderen, nämlich im Sinne von Verteilen zugunsten der Gemeinschaft. Beides umfasst Handlungsformen von Subjekten.
1 Emile Littré: Dictionnaire de la langue française. Bd. 2. Paris: Hachette 1874, S. 1068. 2 Ebda., S. 1067. 3 Dispensa ist das Partizip Perfekt beider Verben, nämlich dispensare (›dépenser‹) und dispendere (›dispenser‹). 4 Ebda., S. 1184. 5 ›Dispendere‹ stammt aus dem Präfix dis und pendere ›peser‹ (Ebda., S. 1184). 6 Roberto Esposito: Immunitas. Protezione e negazione della vita. Torino: Einaudi 2002. https://doi.org/10.1515/9783110479638-016
Affekt und Gabe zwischen ›dépense‹ und ›dispense‹
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Das Selbst und die Anderen sind hier ausdifferenzierte Größen, deren Verbindung intentional, moralisch oder rechtlich geregelt ist und der ökonomischen Logik des Profits gehorcht – des Selbst und/oder der Anderen. Wenn wir im Folgenden Affekte adressieren, so öffnen wir die Frage nach Dimensionen einer Subjektivität, die über die Subjektivierungsdynamik in der Analyse des späten Foucault hinausgeht, in der es gerade darum geht, Affekte und Emotionen zu zügeln. Weil Affekte das Subjekt affizieren und damit in seiner Selbsterstarkung gefährden, sollen sie durch die Praktiken der »Sorge um sich« domestiziert werden.7 Hier werden Handlungen erwartet, die das Subjekt von Affekten dispensieren. Affekte sollen entsprechend der Affekt-Theorie des Neoplatonismus in geistige Energie umgewandelt werden; der Cartesianische Rationalismus verlangt ihre Kontrolle nach dem Maschinenmodell. Beides zielt darauf ab, die Affektbewegung nützlich zu machen und in die Ökonomie der Produktion von Werten einfließen zu lassen. So kann die Affektenergie in geistige Kraft oder in Gottesliebe, damit aber auch in Kreativität verwandelt werden, wie es etwa die Mystik oder die sakrale Musik des Mittelalters beeindruckend darstellen. Eben die überbewältigende kulturelle Produktion dieser Techniken des Selbst bestätigt einerseits die Foucault’sche These der Ästhetik der Existenz,8 andererseits aber auch die affektfeindliche Ethik des dominanten Diskurses, der indes im Widerspruch zur materiellen Dimension ästhetischer Erfahrung steht, die wir seit der Liebeslyrik der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit kennen. Petrarcas »affetti dogliosi«, nämlich jenes paradoxale Begehren nach schmerzlichen Affekten, die in der poetischen Dynamik des Sonetts das Ich über die eigenen körperlichen Regungen konstituieren,9 zeigt schon für die Frühe Neuzeit, dass
7 Nach dem Modell der stoischen Askese und der Pastoralpraktiken des Christentums beschreibt Foucault die Sorge um sich als eine Technik des Gebrauchs der Lüste, die eine Ethik des Selbst und der Beziehung zu den anderen etabliert (Michel Foucault: Histoire de la sexualité 3. Le souci de soi. Paris: Gallimard 1984). Diese moralische Praktik ist gegen alle »mouvements contradictoires de l›âme« gerichtet, so Foucault schon in der Einleitung zu L‘usage des plaisirs, dem zweiten Band von Histoire de la sexualité. Vgl. Michel Foucault: Usage des Plaisir et techniques de soi. In: Daniel Defert/François Ewald (Hg.): Dits et Écrits. Bd. 4. Paris: Gallimard 1994, S. 556 (ursprünglich erschienen in Le Dénat 27 (1983), S. 46–72). Diese Ethik, bei der Emotionen und Affekte zu bekämpfen sind, wird von Foucault als zugleich subjektivierend und befreiend analysiert (Michel Foucault: L’éthique du souci de soi comme pratique de la liberté. In: Daniel Defert/François Ewald (Hg.): Dits et Écrits. Bd. 4. Paris: Gallimard 1994, S. 708–729). 8 Michel Foucault: Une esthétique de l’existence. In: Daniel Defert/François Ewald (Hg.): Dits et Écrits. Bd. 4. Paris: Gallimard 1994, S. 730–735; das Interview mit A. Fontana ist erstmalig in Le Monde, 15–16 Juillet 1984, erschienen. 9 Vgl. Stephan Leopold: Die Erotik der Petrarkisten: Poetik, Körperlichkeit und Subjektivität in romanischer Lyrik Früher Neuzeit. München: Fink 2009.
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das ökonomische Kalkül von Affekten im Sinne der Stärkung des Selbst oder der Anderen das Produkt juristischer bzw. moralischer Gebote ist. Affekte konfrontieren das Ich eher mit dem Begehren nach der Selbstaufgabe, also nach der Aufgabe eines selbstidentischen und atomisierten Selbst. Insgesamt wäre auf eine lange Tradition anderer Praktiken des Affekts hinzuweisen, die im Schatten der offiziellen Techniken des Selbst gestanden hat, etwa bei Giordano Bruno,10 der die Affektierung des Körpers als Quelle von Erkenntnis und als Motor für Erinnerungsdynamik ansieht. Affekte wecken die Leidenschaft und damit eine Form von Streben, die körperlich offen und daher empfänglich für die von außen kommende, sensible Information macht. In »De gli eroici furori« (1585) ist derjenige Mensch heroisch, der beim Erkenntnisdrang und bei der Leidenschaft für das Gute und Schöne von seinem Gegenstand affektiert und überwältigt wird. Subjekt-Sein heißt für Bruno Streben und Betroffen-Sein, was die Voraussetzung für soziale Relationen ist – ein Moment der Philosophie Brunos, das Spinozas Rolle des conatus11 angeregt hat. Wir finden also in der gesamten Geistes- und Literaturgeschichte historisch unterschiedliche Manifestationen der Relevanz von Affekterfahrung, die allerdings seit der Moderne programmatisch ins Zentrum gestellt und bei Georges Batailles Lob der ›dépense‹, der Verausgabung, zur Grundlage einer anderen Subjektivität und eines philosophischen Gegendiskurses werden wird. Aber schon an der Schwelle zur Moderne nimmt etwa Diderot derartige Entwicklungen vorweg, wie dies im Zusammenhang mit Le Rêve d’Alembert, der Summa von Diderots Schriften aus den Jahren zwischen 1745–1784, vielfach dargestellt wurde. Im Modus des Traums koppelt Diderot die affektive Erfahrung von sublimierenden
10 Ich spreche von einer ›Renaissance Mineure‹, die ›im Verborgenen‹ gegenüber den Renaissance-Dogmen widerständig war, analog zur ›littérature mineure‹, die Deleuze und Guattari für Kafka vorgeschlagen haben (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Pour une litterature mineure. Paris: Minuit 1975). Es meint ein gewichtiges, heterodoxes Denken, das einen Widerstand gegen das ideologische Zentrum leistet und bei den Philosophen der Immanenz wie Giordano Bruno, Baruk Spinoza, Pierre Gassendi, Friedrich Nietzsche, aber auch für Schellings »geheimen materialistischen Idealismus« wichtig war. So Schelling in der Freiheitsschrift von 1809: »Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib. Nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes«. (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung. Herausgegeben von Manfred Schröter. Bd. 7. München: Beck 1927, S. 357.) 11 Im Sinne des conatus in Baruk Spinozas Ethik (1662–1675): »Insofern alle Affekte, auch die passiven, aus der Begierde abgeleitet sind und die Begierde als conatus das Wesen des Menschen ausmacht, ist der Mensch durch seine Affekte wesentlich bestimmt« (Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotion zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg: Meiner 2008, S. 168).
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Diskursen ab; Affekte werden re-materialisiert, und ein »sujet d’étonnement«, ein staunendes Subjekt, wird inszeniert.12 Die Frage nach der Ökonomie von Affekten zeigt die Notwendigkeit, entgegen der klassischen Philosophie, die die Affekte als eine Vorform von Emotionen betrachtet, Affekt und Emotion voneinander zu unterscheiden. Affekte setzen materiell-körperliche Energien in Bewegung (Bergson/Deleuze), sind nicht durch Bilder repräsentierbar und betreffen nicht primär das Bewusstsein.13 Emotionen differenzieren sich erst nachträglich durch kognitive Prozesse aus. Während also die Emotion eine kulturell kodifizierte Form ist, gilt für den Affekt, dass er »refers to complex, self-referential states of being, rather than to their cultural interpretation as emotions or to their identification as instinctual drives«.14 Emotionen adressieren das Bewusstsein, Affekte dagegen den Körper.15 Eine derartige Ontologie der Affekte, die heute mit den Namen von Gilles Deleuze und seiner Lektüre von Spinoza16 sowie mit Brian Massumi, einem der bedeutenden Weiterdenker von Deleuze, verbunden ist, lässt sich auch etymologisch begründen, wie Bernhard Waldenfels in seiner responsiven Phänomenologie zeigt.17 Affekt kommt aus ›afficere‹ (stimmen, anregen) als Kompositum von ›af–‹ (für ›ad‹ im Sinne von ›zu, hin‹) und ›facere‹ (in Zusammensetzungen ›ficere‹) ›tun, machen‹
12 Darauf deutete auch Leo Spitzer in seiner Studie ›Der Stil Diderots‹ hin. Das Ich ist sich im Traum ex-zentrisch, es befindet sich »hors de lui-même« (Leo Spitzer: The Style of Diderot. Linguistics and Literary Historiy. Essays in Stilistics. Jersey: Princeton UP 1948, S. 151. Ich verweise auf Vittoria Borsò: Vom Leben der Dinge und Staunen der Subjekte. Präsent-Aktion und Visualisierung im 18. Jahrhundert (Diderot). In: Birgit Neumann (Hg.): Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2015, S. 2 80–301. 13 Ähnliches signalisiert Angerer in Bezug auf die Triebe: »Während bei Bergson Gefühle, Vorstellungen und Empfindungen im Bild zusammentreffen, unterscheidet Freud klar zwischen dem Somatischen und seiner Repräsentation und definiert hinsichtlich des Triebs, dass wir diesen immer nur in seiner Repräsentation, nicht jedoch per se erfassen können« (Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/Berlin: diaphanes 2007, S. 63). 14 So Nigel Thrift aus neurologischer Sicht. Nigel Thrift: Understanding the Affective Spaces of Political Performance. In Mick Smith/Joyce Davidson u. a. (Hg.) Emotion, Place and Culture. Farnham: Ashgate 2009, S. 80. 15 Schon Wilhelm Wundt (1832–1920) hat den Affekt nach Qualität, Stärke, Dauer und der zu seiner Zeit messbaren physiologischen Wirkung klassifiziert. Nach seinem Klassifikations-Konzept waren sthenische Affekte durch die Anspannung des Körpers geprägt, asthenische Affekte durch Erschlaffung. Als sthenische Affekte werden Zustände wie Wut, Zorn, Eifer gezählt, während die asthenischen Affekte Angst, Furcht oder Schrecken sind (Wilhelm Wundt: Grundriss der Psychologie. Leipzig: Wilhelm Engelmann 151922, S. 208–219). 16 Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin: Merve 1988. 17 Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 31.
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(›ad-ficere‹). Etwas kommt auf das Subjekt zu und affiziert es körperlich. Deleuze unterscheidet Affektion als Zustand des affizierten Körpers18 und Affekt im Sinne des Übergangs von einem Zustand in einen anderen unter Berücksichtigung der entsprechenden Veränderung des affizierten Körpers.19 Affekte sind Prozesse der Berührung und der sich einstellenden Affektion des berührten Körpers. Dies trifft für humane und nicht-humane Körper sowie Dinge zu.20 Die Affektontologie verlässt damit die Cartesianische Trennung von Körper und Geist und die Frontstellung von ›res cogitans‹ und ›res extensa‹. So sieht Brian Massumi den Affekt als eine dritte Position neben Körper und Bewusstsein an, der mit beiden verbunden – wenn auch nicht vollständig – doch diesem zugehörig ist. Deshalb postuliert er die Notwendigkeit für den Affekt als unbestimmte, sich zwischen Körpern einstellende Intensität, ein spezifisches Vokabular zu entwickeln.21 Als autonome Fähigkeit von Körpern mit anderen Körpern in Kontakt zu kommen, sind sie eine Potentialität, die die Autonomie des Subjektes entkräftet. Dies ist eine Basis sowohl für die (medien-)politische Performativität von Affektion, wie dies die aktuelle Politik des sog. Postfaktischen belegt, als auch für die ästhetische Relevanz von Affekten, die gerade gegen medienpolitische Diskurse widerständig sein und eine andere Form von Sozialität herbeiführen können, stellen doch die sich wie Vibrationen verbreitenden Affektketten autonome Relationen zwischen Körpern her. Darin ist auch eine nicht zu unterschätzende politische Dimension zu sehen22 – dies sowohl als populistische Funktionalisierung wie als ästhetisch gestützte, widerständige Kraft, die eben gegen die Nutzung von Affekten seitens der Medien und der Politik wirkt. Christiane Voss hat in diesem Zusammenhang die Autonomie von Affekten auf das Medium Film bezogen und eine von der Wirkungsforschung abgekoppelte, »autonomieorientierte Medienphilosophie« formuliert.23 Die Behandlung von Affekten konfrontiert schließlich mit der Biomacht über den Körper. Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung mit Scham.24 Die Analyse der Scham wirft ein kritisches Licht auf die Spaltung, die das (rationale) Subjekt
18 Gilles Deleuze: Spinoza, S. 65. 19 Ebda. 20 Deleuze ist beeindruckt von Jacob von Uexkülls Analyse der Zecke, deren Warten auf Warmblütler und sich Fallen-Lassen auf ihre Körper ebenfalls eine Form von Affekt ist (Gilles Deleuze/ Félix Guattari: Mille Plateaux. Paris: Minuit 1980, S. 51). 21 Brian Massumi: The Autonomy of Affect. In: Cultural Critique 31 (1995), S. 88. 22 Brian Massumi: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham: Duke UP 2002. 23 Christiane Voss: Auf dem Weg zu einer Medienphilosophie anthropomedialer Relationen. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2010), S. 174. 24 Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris: Seuil 1980.
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als Bedingung von Selbst-Bewusstsein zwischen sich selbst und seiner Fremdheit vornimmt. Scham setzt diese Spaltung voraus und ist zugleich die Spur der ursprünglichen Einheit mit dem körperlich Abgespalteten. Zahlreiche Beispiele belegen die Potentialität literarischer Texte beim widerständigen und kritischen Einsatz von Affekten. Die körperliche Autonomie von Affekten wird, z. B. in der Literatur, mit biologischen Metaphern dargestellt,25 wie etwa die viel interpretierte Metapher der Paarung von einer Hummel und zweier Orchideen, mit der Proust zu Beginn von Sodome et Gomorrhe die Vereinigung von Jupien-Charlus gleich setzt, der Marcel erstaunt und in voyeuristischer Haltung beiwohnt.26 Schopenhauer hatte bereits das Paar Schmeißfliege (›musca vomitoria‹) und Aronstab zur Darstellung der homosexuellen Liebe verwendet, um den homosexuellen Verstoß gegen die Reproduktion moralisch zu verwerfen. Proust leistet mit der Naturmetapher und dem homosexuellen Paar Widerstand und lässt diese Moral ins Leere laufen;27 dabei führt er die von Baudelaire28 übernommene Feindschaft gegen die Produktions- und Reproduktionsideologie fort. Die Naturmetapher initiiert Marcel in das, was sich während der Episode vollzieht: Der Affekt
25 So etwa bei Proust: »Méduse! Orchidée! Quand je ne suivais que mon instinct, la méduse me répugnait à Balbec; mais si je savais la regarder, comme Michelet, du point de vu de l’histoire naturelle et de l’esthétique, je voyais une délicieuse girandole d’azur. Ne sont-elles pas, avec le velours transparent de leurs pétales, comme les mauves orchidées de la mer?« (Marcel Proust: Sodome et Gomorrhe (II). À la recherche du temps perdu. Paris: Gallimard 1954, S. 626 f.). 26 Gerade deshalb, weil die Wahrnehmung der Homosexualität nur paradoxer und überkreuzter Weise in der Ordnung des Systems lokalisierbar ist, eröffnet sie einen neuen Rahmen, eine andere Ordnung. Am Ende von Sodome et Gomorrhe ist auch die Initiation zu diesem anderen Sehen vollzogen. Zur Analyse dieser Prozesse vgl. Vittoria Borsò (2008): Dazwischen: Marcel Proust, Deleuze und die Medialität der Wahrnehmung. In: Uta Felten/ Volker Roloff (Hg.): Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust. München: Fink 2008, S. 249–268. 27 Für Deleuze und Guattari ist die »anormale« Kommunikation zwischen Hummel und Orchidee eine Operation, die der Vereinigung heterogener Elemente der Reproduktion, als geschlossener Repräsentation von abstrakten, strukturierten Bereichen (Ökonomie, Erotik, Politik, Technik, Verwandtschaft etc.) widerspricht und sie transversal durchkreuzt: »bourdon qui fait communiquer les fleurs, et qui perd sa valeur animale propre, pour n‹être plus par rapport à celles-ci qu’un morceau composé à part, élément disparate dans un appareil de reproduction végétale.« Gilles Deleuze/Félix Guattari: Capitalisme et schizophrénie. L’Anti-Œdipe. Paris: Minuit 2 1973, S. 80–89. 28 So verweist Antoine Compagnon auf Baudelaires La Fanfarlo und auf die Ablehnung der Reproduktion durch Samuel Cramer, Doppelgänger des Dichters: »[il] considérait la reproduction comme un vice de l’amour, la grossesse comme une maladie d’araignée. Il a écrit quelque part: Les anges sont hermaphrodites et stériles« (Charles Baudelaire: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 577, zit. nach: Antoine Compagnon: Proust entre deux siècles. Paris: Seuil 1989, S. 168).
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kommt auf ihn zu wie die Hummel zur Orchidee und transformiert sein Subjekt, öffnet ihm den Blick für ein anderes Sehen – nicht ohne seine körperlichen Affekte dabei zunächst als Scham zu erfahren. Nun hatte Charles Darwin Bewegungen, Gebärden, Laute – also mimische und gestische – sowie auch vegetative Erscheinungen und insgesamt die Beteiligung am System der Botenstoffe und der Hormone bei Menschen und Tieren als für die Fortpflanzung nützliche Affekte und Emotionen beschrieben (»strong emotion«, »excited sensation«).29 Dagegen hat Winfried Menninghaus demonstriert, dass auch bei der tierischen Paarung weniger das ökonomische Kalkül eines Profits hinsichtlich der Fortpflanzung als das reine Spiel mit der Ornamentik und damit das Prinzip der Ästhetik der Motor ist. Ornamentik des Paarungsverhaltens wäre also schon Verausgabung in Natur wie in Kultur.30 Wir müssen festhalten, dass Affekte mit Gabe und Selbstaufgabe konfrontieren, also mit etwas, das Subjekte überschreitet und nicht in das ökonomische Kalkül ihrer Erstarkung und Autorisierung aufgeht. Dies lässt sich auch nicht allein mit der von Foucault gezeigten und von Judith Butler weitergeführten doppelten Dynamik von Subjektivierung und Widerstand fassen. Es gilt, »dem Begehren nach dem Affekt« nachzugehen, wie Marie-Luise Angerer nahelegt.31 Der Einsatz des Körpers und der Affekte steht nicht im Zeichen einer Schließung von Subjekten, die kein Dazwischen mehr zulässt, sondern umgekehrt. Gerade deshalb müssen Affekte ins Denken eingeschlossen werden.32 Affekt als Dazwischen, nämlich zwischen Innen und Außen, zwischen Materialität und Immaterialität, Körper und Geist führt zur Veränderung des Subjektes oder – Massumi entsprechend – gar zu seiner Ausschaltung. Es zeigt sich, dass der Zusammenhang von Affekt und Subjekt ein zentrales Moment der Affektdynamik ist und dass die Gabe dabei eine entscheidende Rolle spielt. Der Frage nach dem Subjekt als Kalkül der Gabe soll deshalb anhand von vier maßgeblichen Theoriekonzepten im Folgenden nachgegangen werden.
29 »Actions, which were at first voluntary, soon became habitual, and at last hereditary, and may then be performed even in opposition to the will.« Charles Darwin: The Expression of Emo tions in Man and Animals. New York: D. Appleton & Company 1899 (postum), S. 411. 30 Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 31 Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt. 32 Ebda., S. 37.
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Georges Batailles ›Dépense und Gabe‹ ›La notion de dépense‹, 1933 in der Zeitschrift La critique sociale vom antistalinistischen Cercle Communiste Démocratique Boris Souvarines publiziert, gehört zu den zahlreichen Texten von Georges Bataille über die Prinzipien einer allgemeinen Ökonomie.33 Bataille transformiert in radikaler Weise den Begriff der ›dépense‹. Er befreit die Bedeutung von ›dépense‹ von der ökonomischen Logik und führt den in der Handlung von Ausgeben enthaltenen Affekt ans Licht. Das Adjektiv von ›dépenser‹, nämlich ›dépensier/ère‹ meint tatsächlich: »Qui aime la dépense, qui dépense excessivement«.34 So ist ›Dépense‹ für Bataille Verausgabung, unproduktive Verausgabung. Nicht also das, was man für den Lebenserhalt ausgibt. In der Folge gerät der Überschuss an Ausgaben und konkret, der Verlust, der Schatten, der die ökonomische Bilanz der Ausgaben begleitet, ins Zentrum seiner Analysen. Diese Umdeutung leitet Bataille aus dem anthropologischen Konzept der ›Gabe‹ ab, in der Marcel Mauss’ in seiner Analyse des Potlatch die Basis sozialer Bindungen in archaischen Gesellschaften ansah. Der Potlatch impliziert bei der Gabe eine Ökonomie des Austauschs von Geschenken, eine Leistung, die nach Mauss mit drei untereinander verbundenen Handlungen zusammenhängt: die Pflicht zu geben, die Gabe anzunehmen und die Verpflichtung zur Rückgabe35 – ein als Prinzip des Sozialen verstandenes Verhalten, das indes sich nicht sehr von den Praktiken des ›homo oeconomicus‹ unterscheidet. Bataille unterscheidet dagegen zwei Formen der Verausgabung und reserviert den Begriff nur für die zweite: a) die produktive Verausgabung, die auch bei archaischen Gesellschaften einen sozialen Nutzen produziert, wie etwa die Sicherung des eigenen sozialen Standes; b) eine anthropologisch radikale Form der Verausgabung, die mit Verlust verbunden ist und ein ›schreckenerregendes‹ Begehren bis an die Grenzen extremer Lebenserfahrungen umfasst –, sprich ein Begehren, das für die Zwecke der Sozialität domestiziert werden muss. Das von Bataille angeführte Beispiel ist die Vatersorge. Der Vater überhört die überschreitenden oder nutzlosen Vorstellungen und Wünsche des Kindes und reduziert diese auf elementare Bedürfnisse wie Kleidung und Lebenserhaltung, womit auch das Potential zur Anarchie des Kindes unterbunden wird.
33 Z. B. Die Grenze des Nützlichen (1942) und Die Aufhebung der Ökonomie (1949). 34 Emile Littré: Dictionnaire de la langue française, S. 1068. 35 Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung. In: Ders. Die Aufhebung der Ökonomie, Hg. Gerd Bergfleth. München/Berlin: Matthes & Seitz 1985, S. 17.
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Anders als Marcel Mauss36 stellt also Bataille zwei Modi des Potlatch dar, nämlich der Gabe: a) Potlatch mit Revanche, was die Konsumtion als Mittel der Produktion zum Nutzen der Gesellschaft und/oder des sich darin erstarkenden Subjekts sieht; b) Potlatch mit Verlust, was der eigentlichen Verausgabung entspricht. Über Mauss hinaus betont Bataille, dass auch die archaischen Praktiken des Austauschs von Geschenken und Gaben eine Verschwendung von Mitteln selbst dann voraussetzen, wenn die Gabe die eigene soziale Position stärken soll. Obwohl die Gabe nützlich ist, geschieht sie im Sinne eines ›freiwillig-obligatorischen‹ Tauschs, wobei neben der impliziten Verpflichtung die materiellen Praktiken der Bindung durchaus auch affektiv sein können. Hier schließt die eigentliche ›Entdeckung‹ Batailles an: Der Verlust-Potlatch begleitet sowohl in sog. zivilisierten als auch sog. archaischen Gesellschaften den die Sozialität fördernden Revanche-Potlatch. Betrachtet man die historischen Formen der Gabe, so findet man zahlreiche Beispiele dafür, dass der Verlust-Potlach sogar ersteren überwiegt. In vorchristlichen bzw. archaischen Gesellschaften sind Massentötung, Zerstörung von Bootsflotten, Tötung von Sklaven oder Niederbrennen von Dörfern37 nicht nur in Zeiten des Krieges eine in der Ordnung der Gesellschaft integrierte Praxis. Es sind archaische Praktiken, wie etwa der Suizid von Sardanapale, historisch Assurbanipal (669–627 v. Chr.), die interessanterweise im 19. Jahrhundert, mitten im ›Nutzdenken‹ des Positivismus, besonders thematisiert werden. Eugène Delacroix malt 1827 ›La mort de Sardanapale‹, Flaubert beschreibt in Salammbô die monströse Grausamkeit der Karthager.38 Verlust-Verausgabung ist tatsächlich auch die Konstante der nachchristlichen Geschichte des Abendlandes. Das Christentum liefere mit dem Opfer des Gottessohnes das größte Beispiel. Betrachtet man all diese Praktiken, welche schreckliche Ereignisse herbeiführen können und herbeigeführt haben (wobei die Poesie nicht davon zu befreien ist), so zeigt sich, dass die Gesellschaft trotz des Anscheins der Produktion, das Streben nach
36 Mauss spricht von Verlust nur in Bezug auf eine Sonderform der Gabe, nämlich des agonalen und antagonistischen Potlatch, der bei der verschwenderischen Zerstörung angehäufter Reichtümer stattfand, mit der die Kontrahenten um das Prestige miteinander konkurrierten (Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 23). 37 Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, S. 18. Gemeint sind hier die Praktiken der von Mauss analysierten Indianern Tlingit, Haida, Tsimshian und Kwakiutl von der amerikanischen Norwestküste. 38 Zu Flauberts Salammbô auch im Zusammenhang mit Delacroix vgl. Vittoria Borsò: Zeitbild – Bildräume. Visualität und Zeitlichkeit in Gustave Flauberts Salammbô. In: Wolfgang Lange u. a. (Hg.): Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewußtseins. Heidelberg: Winter 2004, S. 197–220.
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unproduktiver Verausgabung nicht hat beherrschen können.39 Die Zerstörung persönlichen Lebens durch die Finanzkrisen seit 2008 ist eine extreme Form des Verlust-Potlatch, und man wundert sich über das immer noch bestehende Credo der Ökonomie, nämlich die Rationalität des ›homo oeconomicus‹. Bataille legt also die Aporie der Produktion offen. Sie besteht darin, dass – obwohl die Verlust-Verausgabung dem Prinzip der Nützlichkeit entgegensteht – sie doch im Abendland nicht zu bändigen ist. Feste, Rituale, Sportspiele und agonistische Wettkämpfe, Krieg, Religion, Kunst – all dies gründet auf Verausgabung als Verlust. Das Kalkül des Revanche-Potlatch, den Marcel Mauss für sog. archa ische Gesellschaften analysiert hatte und mit Utopien des Sozialen so konnotiert ist, dass im aktuellen konvivialistischen Manifest mit vornehmlich französischen Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlern als Modell für eine auf Solidarität gründende Gemeinschaft übernommen wurde,40 ist nur eine Maske, die vom anthropologischen Begehren nach Verlust-Verausgabung ablenkt oder diese gar legitimiert. So Bataille: [B]ei pekuniären Interessenkombinationen werden heuchlerisch Ehre und Pflicht angerufen, und, ganz zu schweigen von Gott, muß der Geist dazu herhalten, die intellektuelle Verwirrung derjenigen zu kaschieren, die sich weigern, ein geschlossenes System anzunehmen.41
Die Annahme, dass zu Beginn des Tauschhandels das Leihen auf Zinsen durch den Wucherer, der sich in der Form des obligatorischen Überbietens bei den Operationen des Revanche-Potlatch einstellt, an die Stelle des einfachen Tausches getreten sei, ist Bataille zufolge falsch. In Wirklichkeit vermehrt sich der Reichtum in den Potlatch-Gesellschaften in einer Weise, die an die Kreditinflation des Bankwesens denken lässt. Dennoch tut man heuchlerisch so, als wären Kredite ein Tausch, als würden die Verpflichtungen der ›Beschenkten‹ (Kreditnehmer) den von der Gesamtheit der Schenker besessenen Reichtümern entsprechen. Die Geschichte von Gabe und Verausgabung im Abendland liest sich mit Bataille anders, nämlich als die Aporie eines Profitkalküls entsprechend einer
39 Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, S. 16. 40 Neben einem Kolloquium in Japan mit dem Titel »De la convivialité. Dialogues sur la société conviviale à venir« (2010) gab Alain Caillé »Pour un manifeste du convivialisme« (2011) den Anstoß zur konvivialistischen Debatte (Les Convivialistes: Das Konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Herausgegeben von Frank Adloff/Claus Leggewie. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Bielefeld: transcript, 2014, S. 10. Caillé hat das »Paradigma der Gabe« von Marcel Mauss seinem Konzept zugrundegelegt (ebda., S. 16). 41 Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, S. 10.
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Zahlungsbilanz,42 die das Handeln moralisch, politisch und juristisch reglementiert – dies gilt für christliche wie für säkularisierte, bürgerliche Gesellschaften. Wenn also Ökonomie im Sinne von ›oikonomia‹ die unschuldige Logik des Haushaltes ist, so erhält dieser Begriff die kritikwürdige Komponente der Macht und der Schuld,43 die Foucault und die Biopolitik bearbeiten werden.44 Was Bataille zeigt, ist die zunehmende Kapitalisierung der Gabe – des Potlatch und von dessen politischer Ökonomie. Das religiöse Opfer verbindet sich im Christentum mit der konkreten Zahlungsbilanz des Ablasses, nämlich des päpstlichen Erlassens der Sünden und der zeitlichen Strafe vor Gott. Hier dient die ›dépense‹ der ›dispense‹ von Schuld. Die Kathedrale von St. Peter in Rom ist auf dem Schuldenberg der Ablasszahlungen von Gläubigen gebaut worden. Die Kapitalisierung der Verschwendung wird zum politischen Programm. Das Opferritual wirkt direkt auf die Ökonomie zurück. Darüber hinaus sind Theologie und Ökonomie nicht erst im Protestantismus, wie Max Weber behauptete, sondern seit den Texten der Kirchenväter miteinander verflochten, so Giorgio Agamben.45 Selbst der Luxus wird nicht von dieser Entwicklung verschont. Der Schuldkreislauf und die Kreditinflation stellen sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Bank-Adel ein, den Honoré de Balzac in seinen Romanen so vorzüglich analysiert. Beschrieben werden dabei die Transformation der Rolle der Verschwendung (César Birotteau)46 wie auch die destruktive Rolle der Kreditinflation – etwa anhand der Figur von Gobseck (1830).47 In César Birotteau (1837) aber auch Le Colonel Chabert (1832)48
42 Ebda., S. 13. 43 Ein derartiges Kalkül besteht sowohl bei der Politisierung des Christentums im Laufe von Mittelalter und Renaissance als auch bei monarchischen Regimen, in denen die Bedeutung von Bürgertum und Finanzwesen – wie etwa im Frankreich von Louis XIV – zunimmt. 44 Zu Biopolitik und Ökonomie, die insbesondere in der italienischsprachigen Foucault-Forschung den Bereich der ›Bioökonomie‹, nämlich die Verwaltung des Lebens durch das Kapital, darstellt, vgl. Vittoria Borsò/Michele Cometa (Hg.): Die Kunst, das Leben zu bewirtschaften. Bíos zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik, Bielefeld: transcript 2013, insbesondere die Aufsätze von Christian Marazzi und Laura Bazzicalupo. 45 Giorgio Agamben: Il regno e la gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo. Torino: Bollati Boringhieri 2009. 46 Honoré de Balzac: Grandeur et décadence de César Birotteau. In: Ders.: La comédie humaine. Bd. 6. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard/Bibliothèque de la Pléiade 1977. 47 Honoré de Balzac: Gobseck. In: Ders.: La comédie humaine. Bd. 2. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard/Bibliothèque de la Pléiade 1976. 48 Erstmalig mit dem Titel La Transaction. Honoré de Balzac: Le Colonel Chabert. In: Ders.: La comédie humaine. Bd. 3. Herausgegeben von Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard/Biblio thèque de la Pléiade 1976. Ich verweise auf meine Analyse (Vittoria Borsò: Lazarus und die Latenz des (Un)Möglichen. In: Ursula Hennigfeld (Hg.): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher. Heidelberg: Winter 2016, S. 97–126).
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führt die Stärkung der finanziellen Position des Einzelnen zwangsweise zum Schaden des Anderen. Kommerz, Bank- und Finanzwesen werden im 19. Jahrhundert zur Religion.49 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert Walter Benjamin im Fragment ›Kapitalismus als Religion‹, die strukturelle Grundlage eines finanziell und moralisch verschuldenden Ritus, aus dem es kein Entkommen gibt – eine geradezu prophetische Analyse unserer Gegenwart.50 Ein weiterer Begriff wird von Bataille von vornherein ins Spiel gebracht: die Lust. In der bürgerlichen Ökonomie habe die Lust Geltung nur in »gemäßigter Form, da heftige Lust als pathologisch gilt«51. Gemäßigt heißt, sie »lässt sich reduzieren einerseits auf die Erwerbung (d. h. Produktion) und Erhaltung von Gütern, andererseits auf Fortpflanzung und Erhaltung von Menschenleben«.52 Als Konsumtion transformiert, gehe Lust in der Kapitalisierung der Verschwendung verloren, etwa bei der Fortpflanzung oder im Kontext von Luxus- und Modeartikeln. Luxus als Verschwendung von Zeit und Ornamentik ist dagegen in der aristokratischen Ökonomie, in der Tier- und Menschenpaarung wie auch in der Kunst ein Affekt, der zu materieller und körperlicher Verausgabung als Verlust führt. Diese Art Verausgabung ist der eigentliche Gegenbegriff von Produktion (und Reproduktion im Sinne von Fortpflanzung). Die Verausgabung, die der entfesselten Lust der Erotik gehört, wird von Bataille in L’expérience intérieure als Motor für Prozesse der Überschreitung und Übertretung besprochen. Batailles eigenes Kalkül ist die Anklage einer solchen Gesellschaft, deren Moral auf produktiver Verausgabung und damit auf Schuld basiert. Aber vor allem formuliert er mit der unproduktiven Verausgabung eine Technik der Subjektivität, die der Pathologie der Unterordnung der Gabe unter die Zahlungsbilanz des Nutzens wiedersteht.53 Das Subjekt muss von der produktiven Verausgabung dispensiert
49 Hier ist etwa auf Émile Zolas Le bonheur des Dames (1883) hinzuweisen. Au Bon Marché, das Großwarenhaus im Pariser 7. Arrondissement wird als Tempel säkularisierter Religion dargestellt. Émile Zola: Le bonheur des Dames. Les Rougon-Macquart. Bd. 3. Herausgegeben von Armand Lanoux/Henri Mitterand. Paris: Gallimard/Bibliothèque de la Pléiade 1964. 50 Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Herausgegeben von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 100–103. Zum Zusammenhang von Benjamin und Bataille vgl. Vittoria Borsò: Die Sorgen: eine Geisteskrankheit, die der kapitalistischen Epoche eignet: Auswege – Benjamin mit Bataille gelesen. In: Mauro Ponzi/Sarah Scheibenberger (Hg.): Der Kult des Kapitals, 2017 (im Druck). 51 Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, S. 10. 52 Ebda., S. 9. 53 Georges Bataille: Der Begriff der Verausgabung, S. 13.
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werden; es muss vom Zwang dispensiert werden, sich dem gesellschaftlichen Nutzen zu unterordnen.
Giorgio Agamben – Inoperosità als Potenz Agambens Ziel ist – ähnlich wie bei Bataille – die Befreiung (›dispenser‹) von der Unterordnung von Körper und Subjekt unter dem Politischen. In seinem Homo sacer-Projekt verabsolutiert er aber die Politik als Macht, die den Körper in ihren Bann hält. Die von der Politik und der ökonomischen Theologie hervorgebrachten Lebensformen können bekanntlich jederzeit in homines sacri umkippen. Aber Agambens Projekt richtet sich nicht auf eine Transformation des Subjekts, etwa durch eine Absage an dessen ›empowerment‹ als Begehrenssubjekt. Anders als bei Foucault, sind außerdem in Agambens Denken Politik und Widerstand wechselseitig undurchlässig. Es ist vielmehr die Kunst, die vom Zwang der produktiven Verausgabung befreit werden soll, um Friktionen in der Matrix der Macht produzieren zu können. L’arte come distruzione ist für Agamben seit seiner ersten Essaysammlung über die abendländische Ästhetik das Pharmakon, durch das das Subjekt und der Körper der biopolitischen Macht entrissen werden sollen. Die von Benjamin inspirierte Alchemie dieses Pharmakons ist die Befreiung der Kunst vom zweckgerichteten Gebrauch und die Restitution einer materiellen und allgemeinen Form vom Gebrauch der Dinge mittels Profanierung der vom Sakralen auferlegten Grenzen.54 Als würde Agamben an Batailles Traumphantasien der Zerstörung ansetzen, die den Kindern durch die Vatersorge entrissen werden – Agamben verschweigt aber oft (intentional oder nicht) seine Quellen –, verschiebt er in surrealistischer Manier, gleich zu Beginn von L’uomo senza contenuto (1971), die Ästhetik in Richtung des »divino terrore« (Plato).55 Es ist der kreative Effekt der Imagination und der Grenzerfahrung einer anarchischen Entfesselung, die Agamben in diesem ersten Kapitel anhand von Zitaten von Hölderlin und Rilke, aber auch mit Bezug auf Rimbauds Begegnung mit dem Terror oder auf Artauds ›Le théâtre et la peste‹ vorführt. Und hier zeigt sich sowohl die Rolle vom Affekt, beim dem das Ästhetische ansetzt, als auch die Art des Subjektes, das Agamben vor den Augen hat. Die Melancholie, nämlich das körperlich Betroffensein durch die Verletzung der
54 Agamben leitet das Konzept der Profanierung vom römischen Recht ab: »E se consacrare (sacrere) era il termine che designava l’uscita delle cose dalla sfera del diritto umano, profanare significava per converso restituire al libero uso degli uomini.« Giorgio Agamben: Profanazioni. Roma: Ed. Nottetempo 2005, S. 109. 55 Giorgio Agamben: L’uomo senza contenuto. Macerata: Quodlibet (1970) 2005.
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Welt, ist die Ermöglichungsbedingung von Kunst. Eine Kunst, die sich, weil sie von einem melancholischen Affekt in Bewegung gesetzt wird, Agamben zufolge ›terroristisch‹ verhält, also ›imaginativ‹ zum Zusammenbruch der moralischen, politischen, ökonomischen Ordnung führt. Frenhofer, der fiktive Künstler des 17. Jahrhunderts aus dem Kurzroman von Balzac, Le chef d’œuvre inconnu (1831), sei ein solcher Terrorist. Auch Baudelaire ist ein Terrorist, weil er die ›Maske der Ware‹ aufdeckt, verfremdet und zu Schockerfahrungen führt. Die Resonanzen von Benjamins ›Der destruktive Charakter‹ (1921) und von den dissidenten Surrealisten wie Georges Bataille, Michel Leiris, Jean Cocteau sind unverkennbar.56 In Agambens Projekt spielt das Ereignis der Gabe und dessen Rolle für das Subjekt keine Rolle. Zwar steht Kunst im Zusammenhang mit dem Ereignis im Heidegger’schen Sinne der Temporalisierung des Seins, doch wird das Ereignis messianisch gedeutet. Im Buch über Paulus57 geht es z. B. um die Zeit des Endes (nicht das Ende der Zeit), in der sich der Augenblick zwischen den Zeiten öffnet und damit auch die Zeit als Rest, als Intensität des Kairos, des besonderen Augenblicks hervorgehen kann. Es geht also um die innere Verwandlung der Zeit durch das messianische Ereignis und um die Bedeutung der Dinge als die vorletzten Dinge. Der Affekt des Künstlers als Terrorist ist die Melancholie, eine Melancholie, die wie auch bei Freud, vom Objektverlust stammt. Verloren geht, so Agamben in Stanzen (1978), der Besitz der Wahrheit:58 »Das, wovon die Spaltung zwischen Poesie und Philosophie Zeugnis ablegt, ist die Unmöglichkeit, den Gegenstand der Erkenntnis voll und ganz zu besitzen.«59 Auf diese Weise verbindet sich der Diskurs der Liebe mit der Erkenntnistheorie. Acedia, die Trägheit des Herzens, die Agamben als Vorbehalt und Zurückhaltung deutet, ist die Konsequenz dieses Affektes. Die alte Theorie der Melancholie, nach der die Trägheit zugleich Destruktion und Produktion von Bildern ist, bekommt in Agambens Schriften
56 Ich beziehe mich etwa auf Cocteaus These des Todes des Dichters damit die Dichtung wieder geboren wird, in seinem Theaterstück Orphée (Paris: Stock, Delamain et Boutelleau, 1927). 57 Giorgio Agamben: Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani. Torino: Bollati Boringhieri 2000. Vgl. Auch Dominik Finkelde: Politische Eschatologie nach Paulus. Agamben, Badiou, Zizek, Santner. Wien: Turia-Verlag 2007. 58 In Idee der Prosa behandelt Agamben die Ambivalenz von Produktivität und Destruktivität der Melancholie, nämlich unter der Idee der Wahrheit »Widersprüchlich und spannungsvoll wegen des ›Gesetzes der guten Nachbarschaft› (Warburg), Potenz, Vermögen (Aristoteles). Potentia passiva und Potentia activa. Zwischen Passion und Vollendung. Sphäre der reinen Potenz: Trübsal, die aus dem fortwährenden Aufschub des Aktes entspringt, melancholia philologica.« Giorgio Agamben: Idee der Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 54. Ersterscheinung auf Italienisch bei Feltrinelli 1985. 59 Giorgio Agamben: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur. Zürich/Berlin: Diaphanes 2005, S. 12.
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eine eigene Funktion. Der Rückzug vom Handeln sei Quelle von Potenz, eine Potenz, die an das aristotelische Mögliche anschließt und für Agamben die Freiheit zur Potentialität aller Formen bedeutet. Es ist die absolute Potenz von Melvilles Bartleby, ausgedrückt durch die berühmte Form »I would prefer not to«60. Darüber hinaus schafft die Melancholie als Liebesdiskurs die Präsenz des Anderen und damit die Illusion, es gäbe in der Kunst ein ›Bei-sich-sein-im-Anderen‹ und damit eine durch die Alterität erweiterte Form von Subjektivität. Das begehrte und verlorene Objekt bleibt indes, wie in der cartesianischen Geometrie, ein passives Korrelat des Subjektes und ist höchstens darin aktiv, sich dessen Zugriff zu entziehen. An dieser Stelle zeigt sich deutlich das Kalkül Agambens: es ist ein in sich abgeschlossenes (narzisstisches) Subjekt, das nicht die Selbstaufgabe der Bataille’schen ›dépense‹ anstrebt, sondern sich im Entzug als ein (terroristisches) Dispositiv für die Destitution des Politischen einrichtet. Nicht so sehr L’expérience intérieure von Bataille, sondern das désœuvrement (als Passivität, Unvermögen verstanden), das Agamben von Bataille und Maurice Blanchot übernimmt, ist seine Basis. Indes interpretiert Agamben die ›Entwerkung‹ als Potenz im aristotelischen Sinne, nämlich als ›Nicht-Akt‹, als Verzicht auf das Handeln, auf das Opfern der Potentialität aller Formen.61 Damit verliert das Konzept von désœuvrement die operative Komponente, die Aufforderung zum transgressiven Handeln und zur aktiven Resistenz, die es bei Bataille, Blanchot hatte.62 Die Potenzialität der Kunst ist dann nur das messianische Schicksal, das erst in der Zeit des Endes sichtbar wird.63 Agamben impliziert ein Subjekt, das sich durch die poetische Negation des Handelns gegenüber der Politik souverän konstituiert. Das Kalkül eines terroristischen Subjekts, das durch seinen Entzug die Auflösung des Nutzens des Politischen und des Sozialen herbeiführt, dient auch zur
60 Der Formel Bartlebys, die auf Deleuzes Lob der Kontingenz zurückgeht, hat Agamben die operative Komponente entzogen. Während er diese Formel im Sinne der aristotelischen Potenz als Nicht-Akt ansieht, beschreibt Deleuze in ›Bartleby ou la formule‹ (Critique et Clinique) die Formel ›Je préférerais ne pas‹ als einen modus operandi, der Unbestimmtheiten produziert und die Differenzen in der Hegel’schen Dialektik ins Leere laufen lässt. Die Formel ›ne pas‹ ist »non pas une volonté de néant, mais la croissance du néant de la volonté« (Gilles Deleuze: Bartleby, ou la formule. In: Critique et Clinique. Paris: Minuit 1993, S. 89–114, S. 92). 61 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino: Einaudi 2005, S. 51. 62 Georges Didi-Huberman hat die politische Unbrauchbarkeit und die apokalyptische Färbung von Agambens Deutung französischer Autoren verschiedentlich kritisiert. Georges Didi-Huberman: Puissance de ne pas, ou la politique du désœuvrement. In: Critique 836/837, 1 (2017), S. 14– 30. Vgl. auch Georges Didi-Huberman: Survivance des Lucioles. Paris: Minuit/Paradoxe 2009. 63 »Secondo il principio per cui è solo nella casa in fiamme che diventa visibile per la prima volta il problema architettonico fondamentale, così l’arte, giunta al punto estremo del suo destino, fa diventare visibile il proprio progetto originale«. Agamben: L’uomo senza contenuto, S. 172.
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Selbstkonstitution als souverän.64 Dass dieses Subjekt gerade mittels der Imagination autark (selbstgenügend) ist, erklärt auch den Dissens zwischen Agamben und Deleuze, bei dem ersterer Deleuzes Projekt der ständigen Entsubjektivierung im Fluss der immanenten Kräfte des Lebens kritisiert.65
Jacques Derrida: Die Gabe der Zeit und die Nachträglichkeit des Subjektes Derrida hat das ökonomische Kalkül von Subjekt und Gabe definitiv ins Leere laufen lassen: Ein der Gabe selbst vorausgehendes, in sich souveränes Subjekt stärkt sich selbst durch die Gabe. Derridas Ausgangspunkt ist die Ambivalenz der Gabe, die er aus dem ökonomischen Kalkül des Falschmünzers in La fausse monnaie, dem Prosagedicht von Baudelaire, entnimmt. Im Prosagedicht gibt ein Freund des Ich-Erzählers einem Armen eine falsche Münze und rechnet mit der Ambivalenz der Geldmünze, um mit Gott seine Zahlungsbilanz zu verbessern.66 In der konzentrierten Dichte des Baudelaire’schen poème en prose folgen Reflexionen des Ich-Erzählers zum einen über die Arbitrarität der Sprache wie auch über die radikale Unbestimmtheit der Zeichen in einer von Finanzspekulationen regierten Welt, zum anderen auch über die Arbitrarität von Werten: Ne pouvait-elle [la monnaie] pas se multiplier en pièces vraies? Ne pouvait-elle pas aussi le faire conduire en prison? Un cabaretier, un boulanger, par exemple, allait peut-être le faire arrêter comme faux-monnayeur ou comme propagateur de fausse monnaie. Tout aussi bien la pièce fausse serait peut-être, pour un pauvre petit spéculateur, le germe d’une richesse de quelques jours … Et ainsi ma fantaisie allait son train, prêtant des ailes à l’esprit de mon ami et tirant toutes les déductions possibles de toutes les hypothèses possibles.67
64 Agamben missversteht die Negativität Batailles. Für Bataille, der die Dialektik Hegels über Kojève rezipiert hat, ist das Bewusstsein der Negativität (négativité reconnue) zugleich die Außerkraftsetzung des Bewusstseins, liegt doch die Erkenntnis darin, dass es keinen Nutzen und keinen Einsatz mehr hat: »n’avait plus d’emploi«. Georges Bataille: Lettre A X. In: Denis Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie. Paris: Gallimard 1979, S. 170–77. 65 Gilles Deleuze: Immanence et vie. Herausgegeben von Eric Alliez u. a. Paris: Rue Descartes. Collège International de Philosophie 1998. 66 »Je vis alors clairement qu’il avait voulu faire à la fois la charité et une bonne affaire; gagner quarante sols et le cœur de Dieu; emporter le paradis économiquement«. Charles Baudelaire: La fausse monnaie. Le Spleen de Paris. In: Ders.: Œuvres Complètes. Bd. 1. Herausgegeben von Claude Pichois. Paris: Gallimard/Pléiade 1975, S. 324. 67 Ebda.
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Mit der Ambivalenz der Gabe, die von der Temporalisierung, aber auch von der grundsätzlichen Ambivalenz der Sprache herrührt,68 geht Derrida Werten wie Gerechtigkeit, Gastfreundschaft, Ursprung (Chora) auf den Grund. Das Konzept der Gabe wird dekonstruiert, indem die triadischen Komponenten der Gabe nach Mauss nicht nur konstatiert werden (jemand gibt etwas zu jemand anderem),69 sondern auch das Zeitmodell analysiert wird, auf dem diese triadische Konstellation basiert. Das ökonomische Kalkül der Gegengabe und des Schuldausgleichs muss unterbrochen werden, weil es auf folgenden Voraussetzungen basiert: a) eine teleologische Zeit, b) atomistische, in sich geschlossene Subjekte und c) Objekte, welche passive, tote Gegenstände sind, deren Status mit Heideggers ›Vorhandenheit‹ als Funktion des Bewusstseins beschrieben werden könnte. Genau diese Konstellation setzt aber die Gabe als Gabe außer Kraft. Wenn die Gabe als Austausch gewährt oder bewahrt wird, dann verschwindet die Gabe, sie erscheint nicht mehr: »il n’y a de don, s’il y en a, que dans ce qui interrompt le système [économique] ou aussi bien le symbole, dans une partition sans retour et sans répartition, sans l’être-avec-soi du don-contre-don«.70 Die Gabe ist eine Figur des Unmöglichen; sie kann nur ein Ereignis sein, das auf ein Subjekt zukommt, es depotenziert und die Arretierung der Temporalität auf die Evidenz der Gegenwart unterbricht oder vergessen lässt. Pour qu’il y ait événement (nous ne disons pas acte) de don, il faut que quelque chose arrive, en un instant, un instant qui sans doute n’appartient pas à l’économie du temps, dans un temps sans temps, de telle sorte que l’oubli oublie, qu’il l’oublie, mais que cet oubli, sans être quelque chose de présent, de présentable, de déterminable, de sensé ou de signifiant, ne soit pas rien.71
Gegeben ist nur die Gabe des Seins, die Gabe der Zeit, so Derrida mit explizitem Bezug auf Heidegger.72 Wichtig ist für Derrida aber nicht die Bestimmung
68 »Loin de simplifier les choses, cela effacera ou invaginera toutes les bordures, toutes les limites, et redoublera sans fin non seulement l’ambivalence sémantique dont parle Benveniste, mais aussi l’ambivalence du don comme bon et mauvais, comme cadeau et comme poison (›gift‹Gift)«. Jacques Derrida: Donner le temps 1. La fausse monnaie. Paris: Galilée 1991, S. 107. 69 »Bien que toutes les anthropologies, voire les métaphysiques du don, aient, à juste titre et avec raison, traité ensemble, comme un système, le don et la dette, le don et le cycle de la restitution, le don et l’emprunt, le don et le crédit, le don et le contre-don, nous nous départissons ici, de façon vive et tranchante, de cette tradition.« Ebda., S. 25. 70 Ebda., S. 25–26. 71 Ebda., S. 30. 72 »Ce mot d’Ereignis, qui signifie couramment l’événement, fait signe vers une pensée de l’appropriation ou de la dépropriation qui ne peut pas être sans rapport avec celle du don. Il ne
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des Seins als Ereignis, wie bei Heidegger, sondern die wechselseitige Interaktion von Sein und Zeit im Zusammenhang mit der Gabe. Daraus folgert Derrida die Tatsache, dass die Gabe als Ereignis ihren Ort vor jedem Subjektbezug, vor jedem Selbstbezug des bewussten oder unbewussten Subjektes hat.73 Die Gabe kann nicht darin bestehen, dass ein Subjekt einem anderen Subjekt ein Objekt gibt. Vielmehr sind Subjekt und Objekt stillgelegte Effekte der Gabe.74 Derrida dispensiert also die Gabe von jeder Integration in ein ökonomisches System, innerhalb dessen es gilt, die Unmöglichkeit ihres Erscheinens zu betonen.75 Die Gabe ist der in eine ökonomische Logik nicht integrierbare Rest. Deshalb spricht Derrida vom »coup de don« – Stoß der Gabe, deren Modus die Irruptivität ist.76 Durch ihren Überschuss ist die Gabe nicht mehr vom Tauschsystem einholbar. Mit seiner späteren dezidierten Ablehnung des Begriffs der Marx’schen Arbeit, lehnt Derrida die Theologie des Gebrauchswerts ab, der lediglich eine Variation des Kalküls sei, das im Tauschwert enthalten ist. Mit ›Zeit geben‹ betont er im Gegenzug jene Dimension des »travail journalier«, die auch ein bedeutendes Moment des Geldes
s’agira donc pas désormais de subordonner, par une inversion purement logique, la question de l’être à celle de l’Ereignis mais de les conditionner autrement l’une par l’autre, l’une avec l’autre. Heidegger dit parfois que l’être (das Seyn, dans une orthographe archaïsante qui tente de rappeler le mot à un mode plus pensant, denkerisch) est l’Ereignis. Et c’est au cours de ce mouvement que l’être (Sein), qui n’est pas, qui n’existe pas comme étant présent, s’annonce à partir du don.« Ebda., S. 33–34. 73 »La question du don devrait ainsi chercher son lieu avant tout rapport au sujet, avant tout rapport à soi du sujet, conscient ou inconscient; et c’est bien ce qui se passe avec Heidegger lorsqu’il remonte en deçà des déterminations de l’être comme étant substantiel, sujet ou objet« (ebda., S. 39). Derrida greift auf Heidegger zurück, weil er hinter die Bestimmungen des Seins als eines substantiellen Seienden, damit auch hinter die Opposition von Subjekt und Objekt, zurückgeht. Sprache ist die vorgängige Bedingung der Gabe (mit Bezug auf Heideggers These »es gibt Seyn, es gibt Zeit.« Ebda., S. 35). 74 »Un sujet ne donnera jamais un objet à un autre sujet. Mais le sujet et l’objet sont des effets arrêtés du don: des arrêts du don. A la vitesse nulle ou infinie du cercle.« Ebda. 75 »C’est le système de la générosité calculée et non excessive, du don rentable, du mélange moyen de réalité et d’idéal qui se trouve exposé dans les Conclusions de morale, c’est ce ›paradis économique‹, ce geste qui consiste à emporter le ›paradis économiquement‹ que le narrateur de La fausse monnaie, nous nous en approchons lentement, dit ne pas pouvoir pardonner à son ami.« Ebda., S. 109. 76 »L’événement et le don, l’événement comme don, le don comme événement doivent être irruptifs, immotivés – par exemple désintéressés. Décisifs, ils doivent déchirer la trame, interrompre le continuum d’un récit que pourtant ils appellent, ils doivent perturber l’ordre des causalités: en un instant. Ils doivent, en un instant, d’un seul coup, mettre en rapport la chance, le hasard, l’aléa, la tukhè, avec la liberté du coup de dé, avec le coup de don du donateur ou de la donatrice.« Ebda., S. 157.
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ist: nämlich »économie du temps«: »L’argent est du temps gagné, du temps économisé«.77 Ähnlich wie mit der Schrift und der Spur geschieht mit dem Geld eine Temporalisierung der Zeit: Man muss der Zeit Zeit geben. Dies ist eine Bewegung, die der Logik der von Produktion und Leistung auferzwungenen Zahlungsbilanz konträr ist. Zeit geben ist das Gegenteil von Zeit gewinnen, die Ökonomie der Zeit, die uns Zeit sparen lässt, statt der Zeit Zeit zu geben. Festhalten wollen wir, dass das Ereignis der Gabe für Derrida auch das Ereignis einer Eigenzeit bedeutet, in dem die Arbeit eine ästhetische Erfahrung sein kann. Aus dem Überschuss materieller und affektiver Erfahrung bedeutet das Ereignis der Gabe auch das Ereignis einer anderen Subjektivität. Derrida zeigt also das Nichts im Zentrum der ökonomischen Logik der Gabe und geht insofern weiter als Batailles Umkehrung des Paradigmas. Auch bezüglich des Subjekts ist die Dekonstruktion der Ökonomie der Gabe radikal. Derrida hat ein Paradigma von Fragen eröffnet, wie man im Denken von Subjekt und Körper dem ökonomischen court-circuit von Tausch, Verpflichtung und Schuld entkommen kann.78 Dies gilt auch für das Verhältnis von Affekt und Subjektivität, denn im Ereignis der Gabe, das auf das Subjekt zukommt, spielt der Affekt eine zentrale Rolle. Derridas Rezeption von Emmanuel Levinas führt das Ereignis über die im Denken Heideggers bestehende Funktion für das Sein hinaus.79 Das vom Sein absorbierte Subjekt steht zu Diensten des Systems,80 während das antwortende, verantwortliche Subjekt nicht im Sein aufgeht.81 Die Ethik der Gabe impliziert für Derrida – ausgehend von Levinas – ein depotenziertes Subjekt des Begehrens. Subjekt wird in Autrement qu’être ou au delà de l’essence (1974), Levinas‹ großen Werk nach Totalité et Infinie (1961), als sinnliche Nähe, Kontakt und Affekt rekonfiguriert. Dabei begründet Sinnlichkeit die Signifikanz als Geste, die nicht als Handlung Konsistenz bekommt. Das dritte Kapitel ›Sensibilité et Proximité‹82 macht klar, dass die Beziehung von Subjekt und Objekt nur vom Standpunkt eines totalitären Raums gedacht ist, während die Subjektivität als Beziehung zum Anderen erfasst werden muss, als Antwort auf einen Affekt, der als visage,83 als Antlitz auf das Subjekt zukommt und das Subjekt berührt, wie die elementare Erfahrung des
77 Ebda., S. 60. 78 Jean-Michel Rabaté/Michael Wetzel (Hg.): Ethik der Gabe. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie. Berlin: Akademie-Verlag 1993. 79 Vgl. Derrida: Donner le temps, S. 73. 80 Emmanuel Levinas: Autrement qu’être ou au delà de l’essence. La Haye: Martinus Nijhoff 1974. S. 168. 81 Ebda., S. 172. 82 Ebda., S. 77–125. 83 Ebda., S. 113.
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Hungers. Hunger ist die Erfahrung einer Subjektivität, die keine Koinzidenz mit dem Selbst hat, ist ein Affekt, der die Identität umgeht oder nicht benötigt. Als körperlicher Sinn ist das Subjekt nachträglich. Derridas Verschiebung der Gabe als etwas, das dem Subjekt vorausgeht, bekommt mit Levinas eine deutlichere Kontur im Zusammenhang mit dem Affekt.
Roberto Esposito: Munus – eine operative Konzeption der Affektion Der affektive Turn ist eigentlich von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Mille Plateaux insofern eingeleitet worden, als Affekt nicht mehr mit einem Subjekt verbunden wird, sondern mit einer Fähigkeit humaner und nicht humaner Körper, affektiert zu werden. Affekt ist nach Deleuze/Guattari eine vor-personale Intensität der Erhöhung und Verminderung der Fähigkeit des Körpers zu handeln. Deleuze und Guattari führen den Begriff des affectus auf Spinozas affectio zurück, als Begegnung zwischen einem betroffenen Körper und einem anderen, wobei Körper materielle und immaterielle Dimensionen einschließt.84 Affekt impliziert gerade nicht Subjekte, sondern vielmehr präindividuelle körperliche Energien, jene Partikularität des Körperlichen also, die vor jeder Individuation besteht. Diese Partikularität heißt bei Deleuze haecceitas.85 Nach der Kritik an dem Dis-
84 Deleuze übernimmt die Unterscheidung Spinozas zwischen affectio und affectus. Ersteres ist ein subjektiv erlebtes Gefühl, zweiteres eine körperliche Fähigkeit affektiert zu werden und andere zu affektieren. Der Affekt (affectus, affect) ist somit eine prä-individuelle Intensität, wobei der Übergang von einem Status zum Anderen die Fähigkeit zum Handeln und sich welchselseitig zu alterieren steigert: »Sous son aspect matériel ou machinique un agencement ne nous semble pas renvoyer à une production de biens, mais à un étai précis de mélange de corps dans une société, comprenant toutes les attractions et répulsions, les sympathies et les antipaties, les altérations, les alliages, les pénétrations et expansions qui affectent les corps de toutes sortes les uns par rapport aux autres.« Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux, S. 114; vgl. auch Brian Massumi: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. 85 Der Begriff ecceitas (Diesseitigkeit) stammt von Don Scotus (De principio individuationis) und wurde von Gilbert Simondon im Sinne einer individuierenden Differenz gedeutet (Gilbert Simondon: L’individuation psychique et collective. Paris: Aubier 1989). Deleuze nennt den Begriff heccéité und betont mit haec anstelle von ecce die Nähe gegenüber den »singularités-événements« innerhalb eines ständigen Werdens. So Deleuze und Guattari im Kapitel ›Devenir animal, devenir imperceptible, devenir impersonnel‹: »C’est en ce sens que devenir tout le monde, faire du monde un devenir c’est faire monde, c’est faire un monde, des mondes, c’est-à-dire trouver ses voisinages et ses zones d’indiscernabilité […] éliminer tout ce qui excède le moment mais
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positiv von Person, wie auch an Subjekt und Identität, erkennt Roberto Esposito in der ecceitas den Ort, von dem aus das Ereignis der Gabe seinen Ausgang hat. Ecceitas, jene Singularität, die die der Stimme sein könnte,86 materialisiert sich als Ereignis der Geburt im Fleisch des Körpers.87 Chaire ist tatsächlich im Sinne von Merleau Ponty das, was Körperformen überschreitet; sie ist das Gemeinsame des Singulären und damit auch die Urstiftung der Relationalität des Körperlichen. Sie ist vorgängig gegenüber allen Instanzen, nämlich dem sozialen Subjekt ›moi‹, aber auch der Subjektivität von ›je‹. Diese fleischgewordene ecceitas nennt Esposito das ›Impersonale‹, und das Impersonale ist der Ort, von dem aus sich eine Gemeinschaft konstituieren kann, deren juristische und politische Ordnung nicht mehr auf Besitz bzw. Besitzrecht, Schuld und Schuldenausgleich basiert. Obwohl er das Ziel der mit Jean-Luc Nancy88 begonnenen Reihe von philosophischen Konzepten von Gemeinschaft89 teilt, die das Denken der Gemeinschaft ausgehend von der Aufhebung und Fragmentierung der Entität des Subjektes erneuern wollen, problematisiert Esposito in Communitas (1998) die einfache
mettre tout ce qu’il inclut – et le moment n’est pas l’instantané, c’est l’heccéité, dans laquelle on se glisse, et qui se glisse dans d’autres heccéités par transparence. Être à l’heure du monde. Voilà le lien entre imperceptible, indiscernable et impersonnel.« Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux, S. 343. 86 Esposito spricht von »grana biologica« nicht ohne Resonanz von Roland Barthes’ grain de la voix. Roberto Esposito: Bíos. Biopolitica e filosofia. Torino: Einaudi 2004, S. 212; vgl. Vittoria Borsò: Jenseits von Vitalismus und Dasein. Roberto Espositos epistemologischer Ort in der Philosophie des Lebens, in: Vittoria Borsò (Hg.): Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik. Bielefeld: transcript 2014, S. 158. 87 Esposito bezieht sich auf die Nähe von Geburt in der etymologischen Gemeinsamkeit von Natio/nascor, wie dies von Etienne Balibar analysiert wurde; vgl. Roberto Esposito: Bíos, S. 193. Vgl. Vittoria Borso: Jenseits von Vitalismus und Dasein, ebda. 88 Jean-Luc Nancy: La communauté désœuvrée. Paris: Christian Bourgois 1983. Der Ausgangspunkt von Nancys Vorschlag ist die durch Levinas und Blanchot inspirierte Ausstellung des Selbst gegenüber dem Tod des Anderen, was das Subjekt mit seinem Außen verbindet und ein »être-en-commun« gründet. Etwas wird geteilt, das eine ontologische Immanenz darstellt und zugleich nicht zu einem abgeschlossenen Werk werden kann (désœuvré). 89 Blanchot antwortet auf den Essay von Nancy. Maurice Blanchot: La Communauté inavouable. Paris: Minuit, 1984. Blanchots Konzept von desœuvrement unterscheidet sich grundsätzlich von dem von Nancy. Meint dieser Begriff für Nancy die Unmöglichkeit einer Gemeinschaft, zu sich selbst zu kommen, weil das Ins-Werk-Setzen von Gemeinschaft stets die eigene Zerstörung impliziert, so umfasst Blanchots désœuvrement konkrete Operationen der Entwerkung, die vom Werk selbst kommen, wofür er von Marguerite Duras’ La Maladie de la mort inspiriert wurde. Nancys Bezug auf Bataille fokussiert die Ablehnung des Absoluten als eine Negation der Beziehung zum Anderen. Blanchot schließt dagegen an die Politik der Ästhetik Batailles als eines zwar gescheiterten, aber noch offenen Weges an.
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Umkehrung der ausschließenden Individualität zugunsten des cum, des Gemeinsamen. Espositos etymologische Analyse führt ihn zur Hervorhebung des munus, der Pflicht zur Gabe. Damit zeigt er die Aporie eines Begriffs von communitas, der auf gemeinsamem Besitz gründet (von Identität oder Vermögen). Gemeinsam ist das Nichts.90 Dies meint nicht die Negation von Gemeinschaft, sondern die Entleerung essentialistischer Figuren als ihre Grundlage. Das ›nihil‹ ist die ontologische Leere, die die Gemeinschaft gründet und deshalb nach Operationen der Relationierung und Assoziierung verlangt.91 Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Communitas hatte sich auch Agamben zu Gemeinschaft geäußert, Individualität oder Person als Grundlage verneint, und die ontologische Leere sowie »l’assenza di opera, la singolarità qualunque« als Baustein einer kommenden Gemeinschaft vorgeschlagen.92 Allerdings ist eine »jedwede Singularität« erneut im Sinne der aristotelischen Potenz durch Verzicht auf alle Formen gemeint. Mit der Pflicht zur Gabe wird dagegen die Grundlage des Rechts verschoben, die seit der römischen Rechtsprechung auf dem Schutz des Besitzes des Einzelnen basiert. Der von allen geteilte munus verneint das proprium als Zugehörigkeit sowie als ein Recht des Einzelnen auf proprietà (Besitz). Nur ausgehend von in sich geschlossenen Entitäten ist die Immunität, also die Aufhebung der Pflicht zur Gabe, ein notwendiger Schutz. Denn was die Gemeinschaft zusammenhält, ist nicht das Haben, sondern das Haben-Sollen und damit auch die Schuld, die nur eine Folge der Schließung von Subjekt, Gemeinschaft, Territorium, Nation,
90 Roberto Esposito vollzieht in Bezug auf das Verhältnis von ›nihil‹ und Gemeinschaft eine ähnliche Operation, die Deleuze in Bezug auf Bartlebys Formel durchgeführt hat. Das nihil der Gemeinschaft ist Esposito zufolge nicht ein Mangel und auch nicht die Negation der Essenz der Gemeinschaft, sondern das Gegenteil: Es handelt sich nicht um das Nichts der Sache, sondern um ihr Nichts (»Non è il niente della cosa, ma del suo niente.«). Vgl. Roberto Esposito: Nichilismo e comunità. In: Roberto Esposito u. a.: Nichilismo e politica. Bari: Laterza 2000, S. 25–41, S. 27). Esposito sieht eine ontologische Leere als Basis von Gemeinschaft an und entwickelt daraus einen operativen Begriff. Gemeinschaft kann nur durch Relationierung entstehen, durch die Operation munus. 91 Gegen die Zerstörung der Relation durch die Beziehungslosigkeit des Absoluten (contro »lo scioglimento della relazione nell’assolutezza del senza-rapporto«), schlägt Esposito die Leere oder die Spatialisierung vor, die aus dem Sein-in-Gemeinschaft nicht ein Seiendes, sondern eine Beziehung macht (»la lacuna, o lo spaziamento, che fa dell’essere comune non un ente, ma un rapporto«, ebda.). 92 »Il fatto da cui deve partire ogni discorso sull’etica è che l’uomo non è né ha da essere o da realizzare alcuna essenza, alcuna vocazione storica o spirituale, alcun destino biologico. Solo per questo può esistere: poichè è chiaro che se l’uomo fosse o avesse da essere questa o quella sostanza, questo o quel destino, non vi sarebbe alcuna esperienza possibile – vi sarebbero solo compiti da realizzare« (Giorgio Agamben: La comunità che viene. Torino: Bollati Boringhieri 2001, S. 39).
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Besitz ist.93 Individuelles Leben wird als ›privat‹ geschützt, als das, was nicht gemeinsam ist, weshalb es Immunität benötigt. Es ist diese Angst, die zum Fundamentalismus der Immunität moderner Politik führt, die von Hobbes’ Leviathan eingeleitet wurde. Und nur ausgehend vom Schutz des Eigenen entsteht Schuld als moralische Kategorie, eine Moral, die wie Bataille gezeigt hatte, nur eine Legitimierung der Zahlungsbilanz von Besitz und Produktion ist. Es ist eine merkantile Einfärbung des Rechts – die die Literatur seit Shakespeare The Merchant of Venice brillant analysiert hat. Tatsächlich spielt Bataille auch für Espositos Denken von Gemeinschaft eine entscheidende Rolle. Bataille habe in L’experience intérieure (1954) die Dissolution des Subjektes adressiert. Die erotische Erfahrung sei ein ›non-sapere‹, ein Nicht-Wissen, das aber zur comunitas befähigt, verstanden als ›dono di sé‹, als Gabe des Selbst, als munus: Il non sapere consiste nel tenere aperta l’apertura che già siamo. A non occultare, ma ad esibire, la ferita nella e della nostra esistenza […] Abbiamo visto come l’esperienza, per Bataille, coincida con la comunità in quanto impresentabilità del soggetto a sé stesso. Il soggetto non può presentarsi. Si manca.94
Batailles Aufgabe des Selbst – mit der erotischen Überschreitung und der Verausgabung – repräsentiert für Esposito eine Position, die als Anti-Hobbes definiert werden kann: Se Hobbes è stato fin dall’inizio indicato come il più conseguente sostenitore di una immunizzazione volta a garantire la sopravvivenza individuale; se a questo fine – in nome della paura della morte – egli non ha esitato a teorizzare la distruzione non solo di ogni comunità esistente non coincidente con lo Stato, ma dell’idea stessa di comunità umana; ebbene Bataille ne costituisce il più drammatico oppositore: contro l’ossessione di una conservatio vitae spinta al punto di sacrificare ogni altro bene al proprio conseguimento, egli riconosce il culmine della vita in un eccesso che la conduce continuamente a ridosso della linea della morte.95
Damit verweist Esposito explizit auf die Verausgabung, auf die funktionslose »dépense gratuite […] improductive« aus La notion de dépense aus 1933, dem Jahr, das Bataille »le plus sinistre« genannt hat. Im letzten Kapitel von Communitas sieht Roberto Esposito in Bataille eine Fluchtlinie, die den Umbruch zu einem affirmativen Denken vorbereitet, aber nicht ausführt. Denn Bataille selbst bleibt bei einer Positivierung der Negativität des Todes stehen. Die Negativität
93 Roberto Esposito: Communitas. Origine e destino della comunità: Torino: Einaudi 1998, S. XIII. 94 Ebda., S. 123. 95 Ebda., S. 128–129.
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als Mechanismus des Lebens selbst, als Einbringen eines Bruchs in die Unbestimmtheit und Kontinuität des Todes, begründet die Position Batailles seit L’éro tisme.96 Während aber Bataille dabei immer noch von einem Normativitätsdenken ausgeht und Exzesse des Erotischen nur als Begehren der Überschreitung formulieren kann, was weiterhin eine Transzendenz des Normativen positiviert, nimmt Esposito die Position des Exzesses als biologische Wesensart des Lebens an, die nicht die Negation der anderen Richtung des Lebens, nämlich der Immunisierung als Eindämmung des Exzesses und der Ansteckung, implizieren muss. Die identitäre Struktur des Singulären und die Immunisierung der Singularisierung müssen sich öffnen, wie das Offene sich zum Singulären hin schließen muss. Dies ist die Politik des Lebens: Es ist die Weise, in der das Seiende lebt.97 Der munus ist dabei eine affektive Bewegung, die, wie bei Derrida, Subjektivitäten erst produziert. Die Akteure des munus sind aber nicht Subjekte, sondern Formen von ecceitas, von affektiv bewegten körperlichen Energien, deren Lebensökonomie weder Besitz noch Schuld ist, sondern der Impetus,98 sich im Vollzug der Individuation, vom Kontakt mit dem anderen affizieren, ja kontaminieren zu lassen. Eine solchermaßen von munus her transformierte Immunität würde auch die communitas verändern.
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96 Georges Bataille: L’Érotisme. Paris: Minuit 1957. 97 Roberto Esposito: Bíos, S. 172. 98 Im Sinne des conatus von Spinoza.
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Christine Baron
Les affects sont-ils solubles dans l’économie ? Complices ou résistants aux lois du marché? Les « émotions » désignaient au XVIIe et jusqu’au XVIIIe des soulèvements populaires d’origine rurale qui secouaient sporadiquement les campagnes françaises au gré des disettes ou de la froidure des hivers. Cette désignation condescendante supposait évidemment un retour à la « raison » par les armes ou la lassitude. La raison serait-elle donc réactionnaire ? Cette question provocatrice en ouvre immédiatement une autre : le pouvoir, et par extension le pouvoir économique serait-il totalement du côté de la rationalité ? C’est ce que tendraient à accréditer le modèle théorique de l’économie quantitative, ou les discours publics qui gravitent autour de l’économie comme épistémo-pouvoir dominant des sociétés contemporaines dans l’horizon d’une crise à résorber. La complexité des modèles de la macro-économie moderne renforce cette impression ainsi que la monétarisation croissante des économies qui rend les montages dont dépendent les équilibres économiques de plus en plus complexes, et leur maîtrise de plus en plus dépendante d’une expertise confidentielle. Or, l’économie, loin d’être exclusivement constituée de modélisations mathématiques est elle-même fondée sur une instrumentalisation des affects. Lorsqu’à la fin du XIXe siècle, Walras invente l’économie marginaliste, il sort d’un modèle qui considérait la valeur comme intrinsèque à un objet ou à une monnaie, pour reporter la question de la valeur non pas sur la rareté d’un produit mais sur l’intensité du désir qu’il suscite. Jean-Joseph Goux1 observe qu’à cette même époque naît la peinture impressionniste, qui s’attache subjectivement à l’impression visuelle produite par les couleurs sur le sujet plutôt qu’à leur matérialité objective ; cette convergence épistémologique questionne notre définition même de l’économie. Fonder la valeur sur le désir c’est mettre au centre de la question de la marchandise les affects, le désir de s’approprier un bien peut avoir pour cause la vanité, la colère, le fait de se focaliser sur l’argent lui-même indépendamment de ce qu’il procure (ce qui est une pathologie de l’intérêt qu’on observe chez Balzac par exemple dans Eugénie Grandet; c’est vouloir calculer les affects, les optimi-
1 Jean-Joseph Goux : Frivolité de la valeur. Essai sur l’imaginaire du capitalisme. Paris : Blusson, 2000. https://doi.org/10.1515/9783110479638-017
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ser, les anticiper certes, mais c’est en dernier ressort, parier sur cette composante irrationnelle de la nature humaine, et sur les préférences les plus secrètes des individus. L’économie serait alors à la fois extérieure aux affects et travaillant les affects en fonction de leur utilité. Se pose alors une autre question. Dans les stratégies de recul face à la contrainte économique en situation de crise les affects sont souvent invoqués par la théorie comme le lieu où se jouerait une puissance réfractaire de l’individu aux lois du marché. Dans l’essai de Martha Nussbaum Not for profit, l’éloge auquel elle se livre de la littérature et des humanités repose sur cet argument ; ces études mobiliseraient les affects, contre le cœur froid du calcul économique et constitueraient un noyau de résistance salutaire aux lois du marché ; dans les universités, étudier la littérature c’est, en droit, rendre les juges plus humains, en économie, re-politiser le débat et rendre les citoyens plus responsables et solidaires. Même si l’argument est un peu caricaturé, il semblerait que les affects jouent en faveur d’une forme de participation à la vie publique qui tend à « moraliser » celle-ci ; c’est confondre les affects en tant que tels dans leur diversité avec ce type particulier d’affect qu’on désigne sous le terme d’empathie. Or, pour contrer cette analyse, on peut faire le simple constat qu’il existe aussi des affects égoïstes, qui reposent sur la réalisation de soi-même sans considération de l’intérêt collectif, sur l’enrichissement sans morale. Les affects purement individuels sont a priori distincts de toute considération éthique a priori, même si leur expression ne se fait pas sans médiation sociale, et donc sans une forme de réflexivité. La question est donc complexe et mérite tout d’abord une réflexion terminologique ; on a spontanément tendance à considérer comme équivalents émotions, affects, sentiments. Or, il ne s’agit pas des mêmes notions. Elles concernent, certes, l’individu en tant qu’il est doué de sensibilité, mais à des degrés divers. L’émotion est instantanée, irréfléchie. Elle peut ne pas se traduire dans un comportement (lorsque je suis effrayée par un spectacle, je ne crie pas ni ne fuis si je suis au cinéma, néanmoins j’éprouve bien de la peur) ; c’est un état intérieur. Lorsqu’il écrit l’Esquisse d’une théorie des émotions, Jean-Paul Sartre (dans le fil de Husserl et de la première phénoménologie) distingue la conscience transcendantale, qui donne sens aux phénomènes, de la conscience psychologique qui projette dans la vie matérielle des émotions et est définie comme altération subjective du monde, chute de la conscience dans le magique2. Les affects, quant à eux, s’ils relèvent de la conscience subjective sont tournés vers l’action ; être affecté conduit à affecter en retour. Les affects déterminent par exemple dans la
2 Jean-Paul Sartre : Esquisse d’une théorie des émotions. Préface d’Arnaud Thomès. Paris : Hermann 2010 (11960), p. 62.
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théorie de Freud la qualité de l’émotion. Freud définit la pulsion comme alliance d’un affect et d’une représentation3 qui a pour vocation de se manifester extérieurement dans une conduite. Ces éléments reprécisés, la relation entre affects et comportements apparaît plus clairement ; si les affects, dans leur complexité, déterminent des conduites, ceux-ci peuvent (et pour certains doivent) être orientés. Et le rêve des sociétés néolibérales portant sur une maximisation des profits, il s’agira de manipuler les affects en une direction consumériste ; tous les psychologues connaissent la valeur de consolation de l’achat compulsif, par exemple. Il s’agit en macroéconomie d’agir sur des comportements collectifs (ou plutôt, ce que nous verrons, de les prévoir) pour obtenir que les affects soient canalisés vers des conduites de consommation conformes à ce qu’escompte un état du marché. Formulée ainsi cette demande, ou plutôt cette manipulation des affects (on songe immédiatement à la publicité) paraît machiavélique, et on aurait vite fait de stigmatiser les affects comme ce qui nous rend vulnérables aux lois du marché, et éloigne le citoyen et consommateur de comportements réfléchis et responsables ; or, la société postmoderne a aussi été fréquemment décrite en référence à un assèchement des affects authentiques ; c’est ce paradoxe que nous examinerons dans un second temps. Enfin, les affects peuvent aussi constituer une barrière à la consommation irraisonnée, et comporter une dimension à la fois individuelle et sociale qui se canalise selon des effets de communauté indésirés par les forces dominantes. Cela suppose que les affects soient pensés par eux-mêmes moins en référence à la psychologie que comme des structures de comportement qui peuvent orienter une action rationnelle.
Les affects dans l’économie ; le fondement du libéralisme comme renonciation à la vérité rationnelle au profit des affects Il faut, pour comprendre cette domination de la question des affects dans les discours qu’on pourrait qualifier de réactionnaires ou « contre-critiques », l’importance qu’a pu prendre dans les années 50–80 la critique de la rationalité occidentale par la pensée libérale de Hayek sur le plan économique, et celle de Rorty
3 Sigmund Freud : Lettres à Wilhelm Fliess. Esquisse pour une psychologie scientifique, 1887– 1904. Paris : Presses Universitaires de France 2006.
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sur le plan de la culture. Dans La Constitution de la liberté, Hayek distingue deux formes de rationalisme ; un rationalisme constructiviste et un rationalisme évolutionniste. Le positivisme juridique appartient au constructivisme ; sa croyance en un pouvoir souverain illimité est une erreur. Modeler l’ « avenir du genre humain » s’est avéré lourd de menaces totalitaires qui se sont vérifiées dans l’histoire, selon Hayek et le volontarisme politique est contraire à une évolution « naturelle » un ordre des sociétés qui mettraient en place, suivant la sensibilité du moment, leurs propres structures économiques en même temps que leurs propres valeurs. A l’inverse, le rationalisme constructiviste de Descartes fonde la pensée que l’homme peut réaliser ses desseins à condition que les institutions humaines soient conformes à ceux-ci. Il faut en permanence remodeler les sociétés de façon à ce que les actions soient guidées par des objectifs connus. Selon cette thèse, toutes les institutions bénéfiques viennent de plans préconçus. Hayek attribue cette pensée finaliste à un naïf anthropomorphisme (qui veut que dès que nous voyons une régularité dans les phénomènes, nous l’interprétions comme la marque d’un vouloir). Car pour Descartes seul ce qui est reconnu comme « vrai » et soumis à l’examen peut fonctionner ; d’où mépris pour la tradition, l’autorité. Selon cette pensée, l’action réussie est la résultante d’un choix rationnel. La notion de « contrat social » élaborée par Rousseau et Hobbes dérive de cette « erreur » selon Hayek, de même que le désir de corriger les inégalités selon une théorie de l’égalité démocratique qui risque d’être entrave à la liberté de chacun. Sa vision est que la maturation des sociétés est due à des phénomènes spontanés qui ont accru l’efficacité de l’action individuelle ; ainsi comme dans l’évolution, des conduites adoptées fortuitement mais qui s’avèrent payantes sont gardées sans aucune raison objective par des sociétés parce qu’elles « marchent ». C’est à cette mouvance que se rattache Hayek. Selon lui nous n’avons pas conscience de ce qui guide nos actions, mais nous nous adaptons constamment au monde et à ses contraintes et c’est cette adaptation qui fait le critère de l’action « réussie », adaptation dans laquelle les affects jouent un rôle important. Nous œuvrons dans une opacité qui fait que nos conduites nous échappent en partie, dans la mesure où nous ne maîtrisons pas la compréhension de la totalité du corps social qui obéit à ses propres règles. Des conduites partagées définissent un état de la société ; celles-ci sont fondées sur des affects dont le sens n’est pas à rechercher dans une quelconque métaphysique sociale. C’est le fondement même d’une pensée pragmatique que Rorty reprend à son compte lorsque dans un texte célèbre intitulé Le primat de la démocratie sur la philosophie4 il et l’accent sur l’abandon de la valeur de vérité
4 Richard Rorty : Objectivisme, relativisme et vérité. Paris : PUF 1994.
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dans la pensée comme condition nécessaire d’un débat démocratique qui s’obtient sur d’autres bases ; celles non plus d’un consensus rationnel (Habermas), mais sur celles d’une commune sensibilité fondée sur des affects partagés qui vont cimenter un état social provisoire. L’absence de ce que Rorty nomme un « vocabulaire terminal » crée les conditions de ce consensus non rationnel. Renoncer à la raison ne signifie pourtant pas nécessairement promouvoir les affects ; néanmoins, cette mouvance de la pensée (pensiero debole en Italie, avec Vattimo) crée les conditions d’un aggiornamento antimétaphysique, qui après avoir jeté la théocratie, voit dans la question du fondement de la vérité rationnelle un obstacle sur le chemin du libéralisme absolu. La raison ayant laissé vacante une place, il se trouve que c’est du côté des œuvres d’art, plus que des sciences que ces philosophies, qu’on pourrait qualifier de postmodernes, trouvent un espace de pensée à leur mesure. Fondées dans un horizon qui n’est pas celui de la rationalité, elles constituent cette structure ouvrante qui ne fait pas, comme la raison, table rase des préjugés, de la tradition et de l’autorité. Citation, reprise d’autres œuvres, retour à un pacte de confiance avec le réel après la période structuraliste, renonciation à la notion de modernité au cinéma après la « nouvelle vague » renonciation au « nouveau roman » avec la fascination pour le réalisme magique, l’espace artistique se redéfinit, après une période conflictuelle avec un public hostile aux innovations théoriques dans la perspective d’un partage social possible, au prix de l’abandon d’une forme d’exigence de vérité. Ou bien, ce que Gadamer nomme « vérité » dans Vérité et méthode, est plutôt que la distanciation propre à l’attitude scientifique (la « méthode ») une attitude d’identification, ce que Ricœur nomme « rapport fondamental et primordial qui nous fait appartenir à la réalité que nous prétendons décrire »5. La participation à l’art comme jeu, le fait qu’on ne puisse être un observateur froid et rester « hors jeu » dans le jeu est la caractéristique de cette activité ; une participation affective et non rationnelle, un engagement total de l’être qui ne distingue plus l’observateur de l’observé. Cette pensée de l’art est à dix ans près, il faut le rappeler, contemporaine de la position totalement opposée d’Adorno selon laquelle l’art doit opposer à la société industrielle non pas l’occasion d’une identification affective, mais au contraire la compacité d’une systémique rationnelle, sans compromission affective ou sentimentale. Le fait que l’art exige de nous un effort (et ne soit pas un agréable délassement) va dans la Théorie esthétique contre la division du travail dans les sociétés modernes. Ne pas solliciter les affects mais opposer à une société ration-
5 Paul Ricœur : Essais d’Herméneutique II. Paris : Seuil 1986, p. 101.
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nellement organisée6 une organisation tout aussi compacte de l’œuvre constitue un geste militant, un refus de reddition aux lois du marché. La dialectique propre à cette conception esthétique est celle d’un art traversé de part en part par les contradictions et l’aliénation du travail, dans sa structure même, portant la trace de ce conflit (d’où son aspect dysphorique), un art qui serait antithèse sociale de la société. Du point de vue de la théorie, du moins, le libéralisme semble privilégier une approche intuitive sinon affective du social. C’est dans un ouvrage de 2013 que Frédéric Lordon propose une analyse croisée des affects et de l’économie, et du rôle des affects dans celle-ci. Il part de Spinoza dans La société des affects. Pour un structuralisme de la culture.7 Les affects semblent tout entiers du côté de l’individu et on pense généralement que le système les capte, les oriente et les ordonne à une fin. Contre cette doxa, Frédéric Lordon montre que le capitalisme est de part en part traversé par ces affects, constitué par eux, et qu’il faut penser de manière collective et structurelle la question des passions pour échapper aux pièges du libéralisme. Lordon observe d’abord la méfiance des sciences sociales envers les affects ; le fait de les penser ne signifie pas qu’on y cède, bien au contraire ; laisser au stade de l’impensé une théorie sociologique des affects est lourd d’implications, et a un coût élevé. Tout comme Yves Citton dans son ouvrage Mythocratie. Storytelling et imaginaire de gauche, la référence à Spinoza domine le travail de Lordon et particulièrement cette assertion de l’Ethique : Aussi longtemps que nous ne sommes pas dominés par des affects contraires à notre nature, nous avons le pouvoir [potestas] d’ordonner et d’enchaîner [concatenare] les affections du corps suivant un ordre favorable à l’intellection.8
La passivité que suppose la notion d’affects, le risque de submersion inhérent à un état peuvent être « ordonnés et enchaînés » (comme dans un récit), et le sujet peut réorienter et redistribuer les affects bruts, les frayages affectifs en conduites qui dirigent nos comportements. Encore faut-il que nous ne soyons pas dominés par ceux-ci. Or il semble que ce qu’organise la société marchande soit une orien-
6 Il faut évidemment nuancer cette affirmation, car c’est non la raison mais l’enchantement de la raison qui domine les sociétés capitalistes. Ce mirage peut être vaincu par une rationalité propre à l’œuvre d’art qui irait conter la rationalité inachevée des sociétés modernes qui n’ont gardé de l’idéal des Lumières que l’enveloppe pour promouvoir en réalité un mythe de la rationalité. 7 Frédéric Lordon : La Société des affects. Pour un structuralisme de la culture. Paris : Seuil 2013. 8 Proposition 10 de la cinquième partie de l’Éthique de Spinoza (E, V, 10) ; cité dans : Yves Citton : Mythocratie. Storytelling et imaginaire de gauche. Paris : Éditions Amsterdam 2010, p. 75.
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tation des affects ou une neutralisation de ceux-ci. Dany-Robert Dufour observe dans Le Divin Marché. La Révolution culturelle néolibérale une mutation radicale des comportements. A l’interdiction du plaisir s’oppose aujourd’hui non la permission mais l’injonction de jouir à tout prix, le forçage permanent des percepts et des affects. On pourrait penser que cette injonction individualise le sujet. Bien au contraire c’est d’un ego massifié, dont les désirs peuvent être canalisés par des produits ou des services connus que s’empare le néolibéralisme selon Dufour : cela fait des sujets modernes un point sur une échelle des désirs en fonction du plafond de la carte de crédit. Ce forçage a pour conséquence une frénésie d’affects, ou une fuite hors de soi que décrit David le Breton sur laquelle je reviendrai. Soumis à l’injonction de performance, de bien-être, de bonheur, et même à l’injonction de récit (deviens le héros de ta propre histoire9), saturé de sollicitations affectives, le sujet tenterait de s’absenter de cette quête effrénée d’apparences en se retranchant dans les limbes du moi ; disparaître sans laisser d’adresse, se livrer à des conduites à risques, partir sont des réponses désespérées à ce diktat de plaisir, comblement des affects et consommation qui caractérise le monde d’aujourd’hui. En attestent aussi bien les scénarios de la littérature mainstream (romans de Douglas Kennedy où on trouve des personnages qui abandonnent leur vie et se font passer pour morts) que des récits, que ceux de la littérature qui a une prétention critique à l’égard du monde marchand. L’œuvre de Yannick Haenel est marquée par le désir de rupture avec la contrainte intégrative du travail salarié. Cette dénonciation du forçage des affects n’entre pas seulement en ligne de compte dans les domaines de la consommation, mais dans ceux qui guident les conduites privées. Philippe Forest dénonce la stigmatisation de la tristesse et de la mélancolie dans nos sociétés. Confronté à la perte d’un être cher, il faut faire preuve d’une capacité à la « résilience », oublier, se souvenir mais continuer à vivre « comme avant » ; sans doute un bon consommateur est celui qui développe des affects positifs, mais au-delà de cette considération, la mélancolie est stigmatisée comme un manque à être. Il y aurait ainsi de bons et de mauvais affects, selon leurs retombées sur la sociabilité et les capacités de consommation.
9 Tel est l’un des diktats du storytelling tel que l’envisage Salmon en particulier dans cet article, « Un individu entrepreneur de lui-même » où il constate que le sujet moderne loin d’être encouragé à se taire est sans cesse sollicité tant dans sa vie privée que dans le monde du travail : Christian Salmon : Un individu entrepreneur de lui-même. In : Rue Saint-Guillaume 158 (2010), p. 31–33 (http://www.sciences-po.asso.fr/docs/2012143530_christiansalmon-rsg158.pdf; 2. 1. 2017).
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La neutralisation des affects De fait, dans la ligne de cette remarque on peut observer que l’époque contemporaine dite «postmoderne » a été principalement envisagée par la théorie du capitalisme tardif, en particulier dans l’œuvre de Jameson comme une liquidation des affects au sens où ils sont pensés à partir de la catégorie de l’individu : Le postmodernisme marque sans doute la fin d’un dilemme et le remplace par un nouveau ; la fin du moi bourgeois, ou monade, entraîne certainement avec elle la fin des psychopathologies de ce moi – ce que j’ai appelé le déclin de l’affect. (…) Ce qui ne veut pas dire que les produits culturels de l’ère postmoderne sont totalement dépourvus de sentiments, mais plutôt que ces sentiments – qu’il serait peut-être mieux ou plus précis d’appeler des « intensités », suivant J-F. Lyotard – flottent désormais libres d’attaches et impersonnels et tendent à se voir dominés par un genre particulier d’euphorie.10
Cette euphorie légère repose sur un écrasement temporel qui condamne les œuvres littéraires à la secondarité (imitation, pastiche ou reprise ironique), et notre conception du mythe à son illustration marchandisée ; l’image de Marilyn Monroe dupliquée à l’infini dans les tableaux d’Andy Warhol réalise ce devenir-image de la personne humaine, remplaçant la dialectique de la profondeur par une pensée de la surface et du glissement. Gilles Lipovetsky observe d’ailleurs dans L’Ere du vide11 l’extraordinaire succès remporté au tournant du siècle par les sports de glisse ; skate ou longboard en ville, snowboard, planche à voile, kite surf se partagent le champ des sports les plus plébiscités par les jeunes. Plus encore dans De la légèreté publié très récemment (chez Grasset en 2015) il surenchérit en notant que cet allègement dont rêvent les contemporains ; microinformatique mobile, de plus en plus compacte, régimes pour alléger son corps, liens « faibles » privilégiés dans les relations sociales, tous ces facteurs ont en commun la lourdeur de la contrainte économique, la pesanteur de la société marchande dont ils constituent la contrepartie, et la compensation. C’est l’absence de sujet qui créant une indistinction et invalidant la notion de préférence affective neutralise les affects ; ainsi Houellebecq dans la seconde partie de Plateforme met-il dans la bouche d’un de ses personnages la phrase suivante :
10 Frédéric Jameson : Le postmodernisme, ou la logique culturelle du capitalisme tardif. Paris : Ed. de l’Ecole supérieure des Beaux-Arts de Paris 2011 (12007), p. 55. 11 Gilles Lipovetsky : L’Ere du vide. Paris : Gallimard 1989.
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Il est faux de prétendre que les êtres humains sont uniques, qu’ils portent en eux une singularité irremplaçable ; en ce qui me concerne, en tout cas, je ne percevais aucune trace de cette singularité. C’est en vain, le plus souvent qu’on s’épuise à distinguer des destins individuels, des caractères. En somme, l’unicité de la personne humaine n’est qu’une pompeuse absurdité.12
Ces identités interchangeables découlent du scénario de Plateforme fondé sur la fiction d’un tourisme sexuel mondialisé où les corps jeunes des pays pauvres du Sud sont mis à disposition des riches touristes du Nord affamés de sensations nouvelles ; nouvelle forme du marché mondial, cet echange des corps contre de l'argent est thématisé par le roman où les protagonistes ont cette idee lumineuse comme une « bonne opportunité ». Mais ces identités sont aussi faites soit de la possibilité de cloner les êtres humains (et donc de marchandiser totalement le corps) dans La Possibilité d’une île. En poussant jusque dans ses limites ultimes les logiques de la société de marché néolibérale, Houellebecq produit un individu romanesque sans affects, sans joie et sans tristesse, renvoyé à sa pure matérialité de corps biologique, voire de corps transgénique. Loin de la lourdeur des affects se développe un zapping constant fait d’une relation apaisée à un système mondialisé que personne ne songe véritablement à contester. Cette neutralisation des affects, cette vie de morts-vivants à laquelle condamne la société postindustrielle font l’objet de dénonciations ponctuelles et ambiguës ; le succès planétaire de Mange, prie, aime13 d’Elizabeth Gilbert en atteste. De même, la stupéfaction de Yannick Haenel qui dans Cercle14 raconte sa rupture radicale avec le monde du travail salarié, au profit de l’écriture littéraire, de l’observation poétique, de la lecture et de la rêverie ouvre un nouvel espace à la fois poétique et émotionnel. Le coût de cette rupture est d’ailleurs le plus souvent de nature économique dans ces récits, mais son bénéfice pour filer la métaphore est de nature affective. Retrouver par-delà les habitudes la capacité de désirer et d’aimer, ne plus soumettre son corps à un standard, renouer avec une forme de vie spirituelle occultée par la matérialité omniprésente de la contrainte socio-économique sont les expériences auxquelles donne lieu cette rupture brusque. Il y a certes là l’intuition banale de l’aliénation du sujet économique, mais désormais, la littérature semble avoir renoncé à l’alternative entre engagement et désengagement. La notion d’« infrapolitique » souvent invoquée fait de choix, de conduites
12 Michel Houellebecq : Plateforme. Paris : Flammarion 2001, p. 189. 13 Elizabeth Gilbert : Mange, prie, aime. Paris : Calmann Lévy 2009. 14 Yannick Haenel : Cercle I et II. Paris : Gallimard 2009.
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quotidiennes décrites dans les textes littéraires une forme de protestation contre un ordre, qui est à la fois de l’ordre de l’action et de la représentation. Entre stimulation artificielle des affects et anesthésie de ceux-ci, le sujet postmoderne semble écartelé et surtout dépossédé d’une capacité à ressentir par luimême, à éprouver des affects dont il puisse s’approprier, régir les effets, et les objets. C’est très précisément là qu’intervient à nouveau Frédéric Lordon lorsqu’il évoque la médiation que supposent les affects. Alors que la société marchande les oriente vers la satisfaction immédiate (en les assimilant à des besoins) il s’agit de les mettre à distance de les penser et seul le passage par la simulation ou la distanciation esthétique peut offrir la possibilité de cette médiation et de cette redirection. Dans La société des affects il bat en brèche l’opinion postmoderne selon laquelle nous habiterions un monde déserté par les affects et il montre que seuls les affects en tant que moteurs permettent non seulement la pérennité d’institutions (au sens où nous y « croyons ») que la création de mouvements profonds de société. Dans son article « Pour une lecture spinoziste du Cuirassé Potemkine »15, Lordon défend l’idée d’une balance dans les comportements entre affects obéissants (obsequium, qui résulte d’une balance affective déterminant le sujet à se faire sujet du rapport institutionnel) et le subjectum, qui évalue les avantages et inconvénients de se soumettre ou non. Lordon mesure certes dans cette configuration les déterminismes de position (puissance du rapport salarial, force de la structure sociale), mais il note que l’individu n’est jamais « pour rien » dans ce qui lui arrive sur le plan économique : les institutions sont des agencements d’affects et de puissances qui s’affrontent et rendent vaine, par exemple, la référence à la légitimité d’une autorité (Weber). Il ne s’agit que d’un jeu de forces et de contreforces symboliques.
Les affects et les actions Si les affects sont définis comme variations dans la puissance d’agir à la façon de Spinoza, Lordon fonde son optimisme politique sur ce constat : la puissance du conatus ne peut être que régulée par une autorité (politique et économique) mais jamais éradiquée. L’institution est mortelle et son pouvoir de faire vivre ses sujets sous son joug est limité par la tolérance de ceux-ci. L’efficacité symbolique des
15 Frédéric Lordon : L’Empire des institutions (et leurs crises). In : Revue de la régulation 7 (2010) ; http://journals.openedition.org/regulation/7748 (2. 1. 2017).
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énoncés d’autorité a pour limite la créance que nous leur accordons. Par ailleurs la dyade puissance / affect est fondamentale. Dès lors que la souveraineté n’est que l’émanation de la puissance de la multitude sur laquelle elle s’exerce, les affects déterminent la force ou la faiblesse de cette souveraineté ; nous ne sommes pas dans un modèle contractualiste de l’Etat mais dans un modèle de composition de forces. On peut objecter à cette théorie qu’elle est politique et non économique, mais depuis les travaux de Michel Aglietta et André Orléan et leur essai de 1998 La Monnaie souveraine, la question de la souveraineté ne se pose plus exclusivement en termes d’Etat, et même plus du tout en ces termes peut-on dire aujourd’hui. Ce dont l’Europe monétaire fait l’expérience en ce moment est bien de cet ordre ; les limites d’un « faire autorité » qui ne capte plus l’adhésion individuelle pour produire un affect commun. Les seuils de tolérance envers les affects tristes ont franchi une limite qui crée un rejet des pouvoirs économiques et une véritable crise des autorités institutionnelles en matière économico-politique. C’est dans ce cadre que les récits dominants ont un rôle à jouer dans ce que Lordon développe comme une conséquence directe de nos affects ; les actions auxquelles nous nous livrons. On le sait depuis les travaux de Salmon et de Citton les affects sont déterminés par l’orientation que nous donnons à des récits collectifs ; ce que Lordon décrit comme une « composition mimétique »16 des affects individuels en un affect commun qui déclare licite ou illicite telle situation ont une genèse narrative. L’affect commun définit une position axiologique. Or le moins qu’on puisse dire est que l’affect commun produit par la série de crises que nous expérimentons depuis 2001 (Argentine) et 2007–2008 (USA et Europe) met en difficulté les formes contemporaines de gouvernance liées à la contrainte économique. L’immense succès populaire du film La loi du marché en France, la dramatisation du suicide de la caissière en témoignent. C’est dans cette mesure qu’il convient sans doute de relire les récits postmodernes supposés « libres » d’affects, dénués de sentiments d’une autre manière comme la seule réponse possible à une situation qui fait de l’économie un étau. Lorsque Perec écrit immédiatement après Les Choses Un homme qui dort, il commente cette réorientation de son imaginaire en notant que c’était une période de sa vie où dominait non plus la fascination mais le refus des choses, le refus du monde17. Le personnage cesse de se lever, d’endosser le costume social qu’on attend de lui, de s’intégrer, de répondre docilement à des attentes qu’il n’a plus le désir ni la force de vouloir combler.
16 Frédéric Lordon : La Société des affects, p. 187. 17 Georges Perec : Un homme qui dort. Paris : Gallimard 1990.
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Analysant la question très contemporaine du désinvestissement économique, politique et social, David Le Breton le relie d’abord à la négativité ; ne plus vouloir être ce que l’on est, disparaître. Ce refus s’incarne dans le sommeil, la fatigue, le burn out. Dans une société où l’obligation de performance est constante et où les stimulations sont perpétuelles, c’est une manière de se soustraire sans appel à ce jeu. Dejours décrit dans La panne. Repenser le travail et changer la vie en 201218 la perplexité qui saisit le cadre sommé de mettre à la porte son voisin. Depuis Ressources humaines de Cantet19, c’est cette situation limite que met en scène le cinéma et le roman à substrat économique ; un imaginaire de la sélection qui ravive de bien mauvais souvenirs historiques, sans parler des séquelles psychologiques chez ceux-là mêmes qui semblent l’accepter. Le cadre contraint de licencier ses pairs doit recourir à un système pervers de défense où, écrit Dejours « un homme vraiment viril est celui qui peut infliger la souffrance à autrui […] » au nom de l’efficacité.20 Mais ce faisant il s’expose à la même logique de mépris que celle qu’il exerce, sans parler de l’érosion de la signification et de la valeur du travail que porte une telle situation. Dès lors, on peut tenter de réinterpréter ces œuvres qui témoignent d’une apathie que Jameson mettait au compte de l’insensibilité postmoderne, comme l’expression d’une résistance à l’injonction d’être et de parler. La mise en cause du travail pose certes la question du pouvoir et de la puissance, mais aussi la question du statut du travail artistique lui-même, comme les commentateurs du Bartleby de Melville l’ont parfaitement compris21. Se remémorer le sommeil d’Oblomov comme mode de vie, la paresse opposée à la suractivité, le suicide social, le refus du monde du travail a un sens différent de ce que ces conduites représentaient dans les années 60 à 80. Chez des écrivains comme John Fante ou Calaferte le recul devant le travail salarié signifiait une volonté de se consacrer à la lecture à l’écriture à l’œuvre littéraire à venir nécessairement associée à la pauvreté et à la pénurie, tout confort matériel entraînant un endormissement de l’imaginaire. Dans le récit de fiction contemporain, la perte du moi économique ne comporte aucune compensation symbolique ; geste nihiliste qui n’est plus supporté
18 Christophe Dejours : La panne. Repenser le travail et changer la vie. Paris : Bayard 2012. 19 Laurent Cantet : Ressources humaines, avec Jalil Lespert, 1999. On se souvient que dans ce film, le héros revient au pays comme cadre dans l’entreprise où travaille son père et doit mener un plan de licenciement massif. 20 David Le Breton : Disparaître de soi. Une tentation contemporaine. Paris : Métailié 2015, p. 64. 21 Voir en particulier le commentaire qu’en propose Giorgio Agamben dans Bartleby ou la création. Saulxures: Ed. Circé 2014 (11995).
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par une éthique compensatoire, la « blancheur » moderne touche tous les personnages de roman, tous les âges, toutes les classes. Cette situation est répertoriée par les sociologues américains, et au Japon sous des noms évocateurs ; les NEET (Not in Education, Employment, or Training) ou les nîto au Japon vivent de petits travaux comme les personnages de Murakami, mettant en parenthèse leur moi économique et acceptant de ne pas consommer. Il ne s’agit pas par ce biais de conquérir la gloire littéraire ou de choisir un autre statut ou de se situer dans le temps immobile de l’immortalité future mais d’échapper, négativement, à la pression du dehors. Cela a à voir avec cette réorientation des affects par le storytelling. Dans un article d’Yves Salmon « Un sujet entrepreneur de lui-même », Salmon évoque cette injonction constante à s’exprimer, à dire à être quelqu’un qui est le propre de la dynamique des sociétés contemporaines, sur un modèle entrepreneurial. Y répondre par un refus de réussite et d’intégration et peut-être même par un refus de récit est une des questions propre au roman contemporain, me semblet-il. Alors qu’Yves Citton imagine dans Mythocratie, storytelling et imaginaire de gauche une réorientation des récits dominants en récits de révolte, c’est plutôt vers une stase du récit que nous conduisent ces textes. Cercle de Haenel, est un livre qui tourne sur soi, et en même temps figure inlassablement la sortie du cercle des obligations sociales ; travailler, gagner sa vie, s’intégrer et où le narrateur semble engagé dans une destruction radicale de son moi social, et une invisibilité croissante. Les affects révolutionnaires auraient-ils laissé place à ce glissement vers un néant qui dérange, qui met en défaut toute tentative de récupération marchande par ce que le sujet n’est jamais là où on pourrait l’attendre, parce qu’il n’est nulle part, parce qu’il déçoit même le désir de récit ?
Bibliographie Citton, Yves: Mythocratie. Storytelling et imaginaire de gauche. Paris: Éditions Amsterdam 2010. Dejours, Christophe: La panne. Repenser le travail et changer la vie. Paris: Bayard 2012. Freud, Sigmund : Lettres à Wilhelm Fliess. Esquisse pour une psychologie scientifique, 1887–1904. Paris : Presses Universitaires de France 2006. Gilbert, Elizabeth : Mange, prie, aime. Paris : Calmann Lévy 2009. Gilles Lipovetsky : L’Ere du vide. Paris : Gallimard 1989. Goux, Jean-Joseph : Frivolité de la valeur. Essai sur l’imaginaire du capitalisme. Paris : Blusson, 2000. Haenel, Yannick : Cercle I et II. Paris : Gallimard 2009. Houellebecq, Michel : Plateforme. Paris : Flammarion 2001, p. 189.
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Jameson, Frédéric : Le postmodernisme, ou la logique culturelle du capitalisme tardif. Paris : Ed. de l’Ecole supérieure des Beaux-Arts de Paris 2011 (12007). Le Breton, David: Disparaître de soi. Une tentation contemporaine. Paris: Métailié 2015. Lipovetsky, Gilles : L’Ere du vide. Paris : Gallimard 1989. Lordon, Frédéric : La Société des affects. Pour un structuralisme de la culture. Paris : Seuil 2013. —: L’Empire des institutions (et leurs crises). In : Revue de la régulation 7 (2010) ; http:// journals.openedition.org/regulation/7748 (2. 1. 2017). Perec, Georges : Un homme qui dort. Paris: Gallimard 1990. Ricœur, Paul : Essais d’Herméneutique II. Paris : Seuil 1986. Rorty, Richard : Objectivisme, relativisme et vérité. Paris : PUF 1994. Salmon, Christian : Un individu entrepreneur de lui-même. In : Rue Saint-Guillaume 158 (2010), p. 31–33 (http://www.sciences-po.asso.fr/docs/2012143530_christiansalmon-rsg158.pdf ; 2. 1. 2017). Sartre, Jean-Paul : Esquisse d’une théorie des émotions. Préface d’Arnaud Thomès. Paris : Hermann 2010 (11960).
Personen- und Werkregister Adert, Laurent 115, 119 Adorno, Theodor W. 13, 49, 57, 284, 302, 334 Agamben, Giorgio 292, 304, 314, 316–320, 325, 327, 341 Aglietta, Michel 340 Aimé-Martin, Louis 204 Ajello, Epifanio 121, 135 Akerlof, George A. 284, 302 Alfieri, Vittorio 225–246 ––Abèle 10, 11, 225–246 ––Mirra 226, 229, 230, 232, 237, 238, 241, 246 ––Saul 226, 229, 230, 237, 238, 241, 246 Alikavazovic, Jakuta 119 Alter, Robert 141, 152 Altman, Janet 285, 301, 302 Amberson Deborah 148, 152 Angerer, Marie-Luise 307, 310, 327 Antonioni, Michelangelo 185, 186 ––L’avventura 172 ––Il deserto rosso 172 ––L’eclisse 7, 8, 9, 170–186 ––La notte 172 Aragon, Louis ––Le paysan de Paris 133 Ariost 40 Aristoteles 40, 243, 290, 291, 302, 317 ––Poetik 128, 129, 135, 225, 246 ––Politik 291, 302 Artaud, Antonin ––Le théâtre de la peste 316 Astbury, Katherine 192, 212, 221 Auerbach, Erich 4, 39, 43, 57 Austen, Jane 2 Balke, Friedrich 12, 14 Balot, Ryan K. 38, 39, 41, 57 Balzac, Honoré de 2, 9, 38, 52, 53, 61, 105, 129, 148, 259, 314, 327 ––César Birotteau 314 ––Le Chef d’œuvre inconnu 317 ––Le Colonel Chabert 314 ––La Comédie humaine 5, 61, 47, 50, 53, 56, 63, 64, 67, 82
––Le Contrat de mariage / La fleur des pois 64 ––Le Dernier Chouan 66 ––Une double famille 64 ––Eugénie Grandet 5, 39, 49–51, 54 f., 56–58, 330 ––La fille aux yeux d’or 48, 53, 56 ––Gobseck 56 ––Illusions perdus 249 ––Pathologie de la vie sociale 67, 69 ––La peau de chagrin 49 ––Le père Goriot 123 ––Petites misères de la vie conjugale 64 f., 67, 72, 75–77 ––Physiologie du mariage 5, 61–82 ––La Physiologie pré-originale 66 ––Splendeurs et misères des courtisanes 9, 248–258 ––Traité des excitants modernes 67 f. Barbéris, Pierre 56, 58 Baron, Christine 330 Barthes, Roland 98, 100, 121, 181, 186, 187, 324 Basset, Nathalie 65, 83 Bataille, Georges 13, 195, 221, 283, 302, 304, 306, 310, 312–314, 317, 318, 322, 324, 326, 327 Bateson, Gregory 20, 37 Baubeau, Patrice 49, 53, 56, 58 Baudelaire, Charles 218, 221, 309, 317, 319, 327 ––La Fanfarlo 309 ––Tableaux parisiens 133 Baudrillard, Jean 21, 37, 179, 187, 283, 302 Baumann, Zygmut 106, 119 Bazzicalupo, Laura 314 Beasley-Murray, Jon 193, 221 Beauharnais, Joséphine de (Kaiserin der Franzosen) 207 Behrens, Rudolf 156, 164, 166, 168 Bender, Niklas 130, 135, 154, 317 Benjamin, Walter 66, 83, 315, 327 Benveniste, Émile 180, 187 Bergson, Henri 307
Personen- und Werkregister
Berman, Carolyn Vellenga 194, 195, 197, 198, 221 Bernardin de Saint-Pierre, Jacques Henri 194–198, 202–206, 208, 209, 216, 218, 219, 221 ––Paul et Virginie 9, 191–206, 208, 217, 218 ––Vœux d’un solitaire 198 ––Voyage à l’île de France 194 Bernheimer, Charles 255, 258, 259 Bersezio, Vittorio 143 ––Le Miserie d’ monssù Travet 143 Biasi, Pierre-Marc de 2, 14, 118, 119 Bies, Michael 62 Binet, Alfred 154 Blanchot, Maurice 13, 88–90, 100, 318, 324, 327 Blaschke, Bernd 1, 14, 84, 87, 156, 160, 168, 293, 302 Blumenberg, Hans 47, 48, 58, 92, 93, 100, 175, 179, 187 Bolz, Norbert 180, 187 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 63, 69 Bonaparte, Joseph 203 Bonaparte, Louis 203 Bonaparte, Napoleon 75, 80 f., 197, 203, 208 Borges, Jorge Luis 139, 152 Borsò, Vittoria 304, 307, 309, 312, 314, 315, 324, 327 Brillat-Savarin, Jean Anthelme ––Physiologie du goût 66, 67, 70 Brink, Margot 299, 302 Briosi, Sandro 156, 168 Brizé, Stéphane ––La loi du marché 13, 340 Brooks, Peter 61, 83, 211, 216, 221, 253, 258, 259 Bruno, Giordano 306 ––De gli eroici furori 306 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 63 Burch, Laura J. 290, 302 Butler, Judith 310 Cabanis, Pierre-Jean-Georges 69 Caillé, Alain 313 Calderón de la Barca, Pedro 40 Calè, Luisa 213, 221 Calzabigi, Ranieri de 226
345
Camerino, Giuseppe Antonio 165, 168 Cameroni, Felice 127 Cammarano, Salvatore 112 Cantet, Laurent ––Ressources humaines 13, 341 Capuana, Luigi 132, 134 Carré, Michel 193, 213, 218, 220 ––Paul et Virginie, opéra en trois actes & six tableaux (Libretto) 193, 213, 218 Castex, Pierre-Georges 50, 51, 58 Castellana, Riccardo 148, 152 Cavour, Camillo Benso von 144 Celeyrette-Pietri, Nicole 95, 99, 100 Céline, Louis Ferdinand 132–135, 219 f., 221 ––Voyou Paul. Brave Virginie. Ballet mime 220 Cervantes Saavedra, Miguel de ––El celoso extremeño 41, 46 ––El casamiento engañoso 41 Champonnois, Cécile 207, 222 Charara, Youmna 193, 222 Charlton, David 207, 222 Charpentier, Georges 67 f. Chatman, Seymour 172, 179, 182, 185–187 Chlendowski, Adam 64, 65, 76 Christen, Carole 56, 58 Cioran, Émile M. 92 Citton, Yves 335, 340, 342 Cobb, James 212 f., 215, 222 ––Paul and Virginia: A Musical Drama in Two Acts, as Performed at the Theatre-Royal, Covent Garden 213 Cocteau, Jean 317 ––Orphée 317 Le Code civil des Français 71, 83 Colet, Louise 116, 118, 172, 174 Cometa, Michele 314, 327 Compagnon, Antoine 309, 327 Cook, Malcom C. 200, 222 Corneille, Pierre 31, 36, 243 ––Cinna 4, 22–24, 37 ––Œdipe 244 Cramer, Samuel 309 Cruickshank, John 100 Cuillé, Tili Boon 212, 222 Daumard, Adeline 114, 119 Darlow, Mark 206, 216, 222
346
Personen- und Werkregister
Darwin, Charles 310, 327 DeJean, Joan 285 Dejours, Christophe 341, 342 Delacroix, Eugène 312 Deleuze, Gilles 172, 245, 246, 270–272, 280, 306–309, 318, 319, 323–325, 327 Delitz, Heike 174, 187 Dentith, Simon 152, 153 Derrida, Jacques 93, 95, 96, 100, 181, 187, 304, 319, 320–322, 327, 328 Descartes, René 85, 92 Destutt de Tracy, Antoine 69 Diaz, José-Luis 159, 250, 251 Dickens, Charles 146 Diderot, Denis 285, 306 ––Le Rêve d’Alembert 306 Diderot, Denis/d’Alembert, Jean le Rond ––Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 47, 58 Didi-Huberman, Georges 318, 329 Dimock, Wai Chee 221, 222 Doetsch, Hermann 133, 135 Dombrowski, Robert 168 Donizetti, Gaetano ––Lucia di Lammermoor 112, 115 Donnard, Jean-Hervé 48, 55, 58, 80, 83 Douglas, Kenneth N. 87, 88, 100 Douglas, Michael 38 Dubreuil, Alphonse 207–209, 217, 222 ––Paulin et Virginie ou Le Triomphe de la vertu 193, 207–209, 211, 212 Dufort, Philippe 55, 58 Dufour, Dany-Robert 336 Dumas, Alexandre ––Le comte de Monte-Christo 51 Dünne, Jörg 220, 222 Duras, Marguerite ––La maladie de la mort 324 –– Ecker, Gisela 54, 56, 58 Eggers, Michael 62, 69, 79, 83 Elias, Norbert 1, 51, 52, 58 Ellis, Markman 195, 215, 222 Eschkötter, Daniel 62, 83 Esposito, Roberto 2, 13, 304, 323–327, 329
Fabre, Jean 202, 222 Felski, Rita 219, 222 Ferguson, Niall 55, 58 Ferrari, Luigi 139, 153 Finkelde, Dominik 317, 329 Flaubert, Gustave 7, 8, 97, 98, 105–119, 129, 130, 132, 133, 135, 146, 171, 172, 174, 183, 222 ––Madame Bovary 5, 6, 7, 11, 105–119, 131, 205 ––L’Éducation sentimentale 117 ––Salammbô 312 Föcking, Marc 69, 83, 118, 120, 205, 222 Fogazzaro, Antonio 146 Fontaine, Florence 50, 55, 58 Fontane, Theodor 130 Forest, Philippe 336 Foucault, Michel 41, 45, 58, 73, 112, 113, 120, 305, 310, 314, 316, 329 Fox-Genovese, Elizabeth 199, 222 Frenzel, Elisabeth 232, 246 Freud, Sigmund 170, 245, 264, 280, 317, 332, 342 Frevert, Ute 136, 153 Fulda, Daniel 39–46, 58 Gadamer, Hans-Georg 334 Gadda, Emilio 148 Galle, Roland 45, 58, 162, 168 Galvez, María Rosa ––La familia a la moda 47 Gamper, Michael 62 Gantrel, Martine 276, 277 Gassendi, Pierre 306 Gatt-Rutter, John 166, 168 Genette, Gérard 127, 173, 187 Geyer, Paul 167, 168 Ghidetti, Enrico 127, 131, 133–135, 155, 166, 169 Gilbert, Elizabeth 13, 338 ––Mange, prie, aime 13, 338, 343 Girard, Marc 109, 120 Godard, Jean Luc 180, 187 Goethe, Johann Wolfgang 21 ––Wilhelm Meisters Lehrjahre 29, 37 ––Die Leiden des jungen Werther 204
Personen- und Werkregister
Gogol, Nicolai 146 Goldoni, Carlo 146 Goulemot, Jean-Marie 204, 213, 222 Gournay, B.C.G. 210 ––Paul et Virginie, drame en cinq actes et en prose 210 Goux, Jean-Joseph 330, 342 Gracián 40 Graeber, David 18, 21, 34 Graffigny, Françoise de 12, 283–302, 302 ––Lettres d’une Péruvienne 4, 12, 283–302, 302 Le grand Robert de la langue française 105, 120 Greber, Erika 117 Grempler, Martina 233, 246 Greve, Jens 177, 187 Guattari, Félix 245, 246, 270, 280, 306, 308, 309, 323, 324, 328 Guthmüller, Marie 160, 166 Habermas, Jürgen 334 Haenel, Yannick 13, 336, 338 ––Cercle 13, 336, 338, 342 Hagen, Kirsten von 105, 111, 120 Hamon, Philippe 109, 120 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 319 Heidegger, Martin 263, 264, 280, 317, 320–322 Heine, Heinrich 55, 58 Heinzelman, Kurt 302 Hempfer, Klaus W. 171, 187 Henderson, Ian 215, 222 Hindemith, Gesine 105, 219, 225 Hirschman, Albert O. 47 Hobbes, Thomas 326 ––Leviathan 326 Hochschild, Arlie Russell 148, 153 Hogan, Patrick Colm 136, 153 Holl, Hans Günter 37 Hölderlin, Friedrich 316 Hörisch, Jochen 1, 14, 39, 42, 58, 114, 116, 117, 120, 302 Houellebecq, Michel 13, 337, 338 ––La carte et le territoire 13 ––Extension du domaine de la lutte 13, 14
347
––Les particules élémentaires 13 ––Plateforme 13, 337, 338 ––La possibilité d’une île 13, 338 ––Soumission 13 Howells, Robin 291, 295, 303 Hübner, Hans 329 Hunt, Lynn 210, 212, 222 Huss, Bernhard 225–228, 246 Hytier, Paul 84 Illouz, Eva 284, 301, 303 Iser, Wolfgang 174, 187 Jakobson, Roman 181, 187 James, Henry 61 Jameson, Fredric 137 f., 153, 193, 222, 232, 234, 238, 246 Jauss, Hans-Robert 41, 43, 44, 59 Jeffries Miceli, Giovanna 156, 158, 169 Joyce, James ––Ulysses 133 Kästner, Erich 170, 187 Kahneman, Daniel 284 Kafka, Franz 139, 306 ––Der Prozess 141 Kaiser, Gerhard R. 62, 64, 83 Kant, Immanuel 136 Kehlmann, Daniel 118, 120 Kennedy, Douglas 336 Kierkegaard, Søren 179 Kieserling, André 20 Kilian, Sven Thorsten 121 Kircher, Athanasius 120 ––Musurgia universalis sive Ars magna consoni et dissoni 111 Kleeberg, Ingrid 62 Klein, David 170 Klettke, Cornelia 95, 100 Kohlmann, Benjamin 222 Koloch, Sabine 296, 303 Koppenfels, Martin von 2, 3, 14, 97, 98, 100, 112, 116, 120, 132, 136, 170, 171, 188, 277, 280 Köhler, Erich 33, 37 Koschorke, Albrecht 283, 288, 290, 303 Krämer, Jörg 1, 14
348
Personen- und Werkregister
Kreutzer, Rodolphe 207 ––Paul et Virginie, comédie mêlée d’ariettes 214 Kristeva, Julia 308, 329 Kroll, Renate 297, 303 Küpper, Joachim 4, 14, 123, 135 Kulessa, Rotraud von 297, 303 Labio, Catherine 197, 232 La Bruyère 43 Lacépèdes, Bernard Germain de 212 ––Poétique de la musique 212 Lacchini, Angelo 145, 153 Larrère, Catherine 201, 223 Lascar, Alex 64, 83 Laplanche, Jean 165, 169 Lavagetto, Mario 150, 153 Le Breton, David 336, 341, 343 ––Disparaître de soi 341 Leclercq, Jules 204, 223 Le Corbusier 173, 174, 182, 187 Lehnert, Gertrud 106, 115, 120 Leiris, Michel 317 Leiris, Michel 31 Le Men, Ségolène 65, 83 Leopold, Stephan 180, 187, 305, 329 Le Sueur, Jean-François 207, 208, 212, 217, 223 ––Paulin et Virginie ou Le Triomphe de la vertu 193, 207, 208 ––Exposé d’une musique une, imitative, et particulière à chaque solemnité 212 Levavasseur, Alphonse 67 Levi, Moritz 41, 59 Levinas, Emmanuel 322, 323, 329 Lévi-Strauss, Claude 3 Leys, Ruth 136, 153 Lichtenthal, Pietro 120 Lindenberger, Herbert 111, 115 f., 120 Linné, Carl von 79 Lionnet, Françoise 194, 223 Lipovetsky, Gilles 337, 343 Littré, Emile ––Dictionnaire de la langue française 304, 311, 329 Locke, John 288, 296 Longinus, (Pseudo-) 227, 234, 239, 246
Lordon, Frédéric 3, 14, 335, 339, 340, 343 Lotman, Juri M. 40, 59, 183, 187 Louis XIV 314 Luhmann, Niklas 4, 20, 37, 45, 47, 59, 176, 178, 187 Maffei, Scipione 226 Mahler, Andreas 175, 181, 182, 187 Mallarmé, Stéphane 90 Manzoni, Alessandro 145 Marazzi, Christian 314 Marchi, Emilio de 7, 8, 146, 151, 152 ––Capello del Prete 146 ––Demetrio Pianelli 6, 138, 140–147 Maria Theresia von Österreich 226 Martin, Timothy 111, 120 Marx, Karl 321 Mascagni, Pietro 146 Masiello, Vitilio 133, 135 Massé, Victor 193, 213, 216, 218, 220, 232 ––Paul et Virginie, opéra en trois actes & six tableaux 193, 213, 215, 216, 218 Massumi, Brian 307, 308, 329 Matzat, Wolfgang 52, 53, 59 Mauss, Marcel 18, 37, 311, 312, 320, 329 Mayer, C.A. 45, 59 Maza, Sarah C. 223 Mazzacurati, Giancarlo, 121, 135 Mazzoni, Guido 147, 151, 153 Medici, Lorenzino de ––L’Aridosia 41 Mehltretter, Florian 162, 166, 169 Melville, Herman ––Bartleby 318 Mendelsohn, Moses 110, 120 Menke, Bettine 62, 83, 206, 223 Menninghaus, Winfried 310, 329 Merleau-Ponty, Maurice 324 Metastasio, Pietro 225, 226, 228, 246 ––La morte d’Abel 225, 239 f. Michel, Arlette 64, 70, 83 Miller, Christopher L. 223 Miller, Nancy K. 285, 297, 303 Mirabeau, Victor Riqueti de 199 Molière 38, 41, 46, 52, 55, 57, 59 ––L’Avare 5, 39, 41–43, 46, 47, 50, 51, 54, 57
Personen- und Werkregister
349
––La Critique de l’École des femmes 43 ––Le Misanthrope 43 Montgrédien, Jean 207, 208, 223 Monroe, Marilyn 337 Moretti, Franco 6, 12, 14 Morris, Charles William 173, 187 Mukařovský, Jan 181, 187
Portalis, Jean-Étienne-Marie de 69 Pouillon, Jean 162, 169 Prasad, Pratima 223 Pratt, Mary Louise 193, 194, 223 Prendergast, Christopher 248–250, 257, 259 Proust, Marcel 132, 309, 329 ––Sodome et Gomorrhe 309
Nakano, Shigeru 107–110, 114, 115, 117, 120 Nancy, Jean-Luc 93, 324, 329 Naumann, Walter 62 Nesci, Catherine 62, 73 f., 83 Newhauser, Richard 38, 59 Newmark, Catherine 2, 14, 306 Ngendahimana, Anastase 198, 202, 223 Nietzsche, Friedrich 243, 306 Novalis 21 Nussbaum, Martha 331
Rabaté, Jean-Michel 322, 329 Rabelais, François 71 ––Le Tiers Livre 70 Raisson, Horace 66 Rancière, Jacques 2, 11, 12, 14, 243, 244, 247 Racine, Jean 21, 30–33, 43, 52, 226–228, 244 ––Andromaque 4, 17, 24–29, 35, 37 ––Bérénice 35 ––Phèdre 36, 229 Racault, Jean-Michel 201, 223 Rautzenberg, Markus 4, 14 Reddy, William 191–193, 218 Reichardt, Rolf 43, 59 Reid, Roddey 197, 203, 210, 223 Rey, Jean Michel 92, 95, 101 Richelieu, Cardinal de Ricœur, Paul 219, 334, 343 Rilke, Rainer Maria 316 Rimbaud, Arthur 316 Risi, Clemens 110, 120 Rivière, Marc Serge 197, 208, 210, 223 Robespierre, Maximilien de 191 Robic-de Baecque, Sylvie 223 Robinson, Judith 85, 101 Rodriguez, Antonio G. 87, 101 Rössner, Michael 165, 166, 169 Rötzer, Hans Gerd 62 Rorty, Richard 333, 343 Rosa, Giovanni 140 f., 153 Rosa, Hartmut 186 Rosenwein, Barbara H. 136, 152, 153 Rosiello, Isabella Zanni 140, 141, 143, 144, 147, 153 Rousseau, Jean-Jacques 21, 57, 191, 202, 285 ––Les Confessions 4, 29 f., 37 ––Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes 40, 59 ––Julie ou La Nouvelle Héloïse 4, 26, 31–35, 37, 73, 204
Orléan, André 340 Oster, Angela 232, 247 Oster, Patricia 31, 37 Osterhammel, Jürgen 138, 153 Overton, Bill 105, 120 Palmieri, Giovanni 156, 163, 169 Pankow, Edgar 62, 75, 82 f. Parsons, Talcott 175, 176, 178 Pascal, Blaise 85, 87–91 ––Pensées 87, 90–92, 100 Peraud, Alexandre 48–50, 55, 56, 59 Perec, Georges 340 ––Les choses 340 ––Un homme qui dort 340, 343 Peters, Karin 96 f., 101, 191, 194, 223 Petrarca, Francesco 305 Pfeiffer, Helmut 43, 81, 83 Piketty, Thomas 2, 14 Pirandello, Luigi 134 ––L’umorismo 154 Platon 290, 295, 303, 316 ––Politeia 290, 295, 303 Plautus 41 Poe, Edgar Allen 90 Pohrt, Wolfgang 53, 59 Pontalis, Jean-Bertrand 165, 169 Port, Ulrich 110, 111, 120
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Personen- und Werkregister
Saccone, Eduardo 167, 169 Sacy, Samuel S. de 73 Saint-Aubin, Alexandrine 214 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 116, 120 Salmon, Christian 336, 342, 343 Sand, George 117 Sartre, Jean-Paul 331, 343 Say, Jean Baptiste 106 Scarron, Paul ––Le châtiment de l’avarice 41 Schahadat, Schamma 135, 153 Schäfer, Armin 62, 83 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 306, 329 Schmitt, Carl 270, 280 Schnell, Rebekka 248 Schomacher, Esther 40, 59 Schröder, Achim 106, 120 Schuchardt, Beatrice 40, 47 Schwanitz, Dietrich 173, 187 Scott, Walter 112, 113 ––The Bride of Lammermoor 112 Sellier, Philippe 87, 101 Serrano Poncela, Segundo 41, 59 Shakespeare, William ––The Merchant of Venice 326 ––Romeo and Juliet 112, 251 Shell, Marc 283, 284, 302, 303 Shiller, Robert J. 284, 302 Sick, Franziska 17, 18, 31, 37, 43, 44, 59 Sigler, David 200, 224 Simmel, Georg 48, 59, 283, 284, 301, 303 Simondon, Gilbert 323, 329 Singer, Ben 143, 153 Smith, Adam 106 Sohns, Hanna 84 Sophokles ––König Ödipus 243, 245 Souvarine, Boris 311 Spinoza, Baruch de 306, 307, 327, 335, 339 Spitzer, Leo 126, 135, 307, 329 Stach, Reiner 139, 153 Stackelberg, Jürgen von 41 Staël, Germain de 201, 224 Starobinski, Jean 84, 86, 94, 101 Steigerwald, Jörn 217, 224 Stendhal
––Le Rouge et le Noir 149 Stenzel, Hartmut 44, 59 Stierle, Karlheinz 31, 37, 45 Stöber, Thomas 49, 53, 59 Stöferle, Dagmar 61, 69, 83, 105, 219 Stone, Oliver 38 Sturzen-Becker, Oscar Patric 204 Svevo, Italo 7, 139, 148, 151, 152, 154, 169 ––La coscienza di Zeno 7, 8, 154–168 ––Una vita 138, 147–152, 153 Theophrast ––Charaktere 43 Thibaudet, Albert 116, 120 Thomire, Pierre-Philippe 197 Thrift, Nigel 307, 329 Tozzi, Federigo 148 Treves, Emilio 131, 133 Tschilschke, Christian von 47, 59 Turgot, Anne Robert Jacques 301 Turner, Bryan S. 175, 188 Turner, Victor 286, 294, 303 Tversky, Amos 284 Uexküll, Jacob von 308 Undank, Jack 291, 303 Ungelenk, Johannes 260, 261 Urban, Urs 39, 40, 47, 59 Valéry, Paul 5, 6, 84–101 ––Cahiers 5, 84–101 ––Faust 93 ––La Pythie 97 Vandelli, Luciano 138, 143, 146, 153 Vattimo, Gianni 334 Vaughan, Megan 200, 224 Ventarola, Barbara 283, 290, 303 Verga, Giovanni 132–134, 140, 146 ––Ciclo dei Vinti 128, 131 ––I Malavoglia 6, 8, 121–135 ––Mastro-don-Gesualdo 130, 132, 134 Veyrenc, Marie-Thérèse 196, 224 Villiers de l’Isle-Adam, Auguste de 220, 224 ––Contes cruels 218 ––Virginie et Paul 218 Vincent-Buffault, Anne 200, 204, 224 Vinci, Leonardo da 90
Personen- und Werkregister
Vinken, Barbara 2, 116, 120, 268, 274, 280 Vogel, Juliane 256, 259 Vogl, Joseph 1, 2, 14, 17–19, 21, 31, 37, 41, 59, 61, 83, 193, 219, 224, 248, 259, 288, 290, 303 Voltaire 47–50, 243, 244, 285 Voss, Christiane 308, 329 Wadsworth, Philip A. 41, 59 Waldenfels, Bernhard 307, 329 Walz, Herbert 62 Warburg, Aby 255, 317 Warhol, Andy 337 Warning, Rainer 2, 14, 48, 59, 174, 188, 260, 264, 280 Weber, Max 6, 14, 38, 47, 284, 314 Wehr, Christian 81, 83 Weiand, Christof 156, 169 Weinrich, Harald 27, 37 Weiß, Dieter 178, 188 Welge, Jobst 136, 147, 150, 153 Wetzel, Michael 322 Wilde, Oscar 257, 259 Williams, Helen Maria 192, 204, 224 Williams, Raymond 136 f., 138, 153 Winkler, Daniel 226–228, 231, 247 Winnicott, Donald 294, 295, 303
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Witthaus, Jan-Henrik 38, 40, 59 Wlassics, Tibor 126 Woolf, Virginia 303 ––A Room of One’s Own 297, 303 Wunderlich, Mary 47, 59 Wundt, Wilhelm 307, 329 Xenophon 41 Zarzosa, Augustin 216, 217, 224 Zayas y Sotomayor, María de ––El castigo de a miseria 41 Ziolkowski, Saskia 139, 153 Zola, Émile 11, 130, 133, 329 ––L’Argent 130, 262, 265–268, 270, 271, 273–275, 278 ––L’Argent dans la littérature 275–278, 280 ––Au Bonheur des Dames 114, 268, 270, 315 ––La Curée 10, 262–267, 269–271, 273, 278 ––La Débâcle 271, 274, 275 ––Germinal 271 ––Nana 271 ––Les Rougon-Macquart 260–262, 265, 271, 272, 274, 275, 277, 279, 280 Zollinger, Edi 117 Zumbusch, Cornelia 2, 136