Klimageschichte der Neuzeit: Herausgegeben:Brodersen, Kai; Kintzinger, Martin; Puschner, Uwe;Mitarbeit:Demel, Walter; Rose, Andreas; Lachenicht, Susanne; Botsch, Gideon; Bergmann, Werner; Marcowitz, Reiner; Freiberger, Thomas; Jesse 3534210247, 9783534210244

Heute fürchten wir, das Klima durch Menschwerk irreversibel zum Schlechten zu ändern. Jahrhundertelang aber war das Klim

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Geschichte kompakt
Einleitung
I. Klimatologische Grundlagen
1. Durchschnittliches Wetter und Klimavariabilitӓt
Wetter und Klima
Klimavariabilitӓt
2. Klimasystem
3. Antriebsfaktoren für Klimawandel
Sonnenaktivitӓt
Verӓnderungen der Erdbahnparameter
Vulkanismus
II. Historische Klimatologie heute
1. Was ist Historische Klimatologie?
Klimadaten aus Schriftzeugnissen
Forschungsfelder
2. Zur Geschichte der Historischen Klimatologie
Die Überwindung des Klimadeterminismus
Historisierung des Klimas
Schriftliche Quellen und das Klima der letzten 1000 Jahre
3. Ein schwieriges Verhӓltnis: Historische Klimatologie und Geschichtswissenschaft
Umweltgeschichte und Historische Klimatologie
Die Kleine Eiszeit in der Frühneuzeitforschung
Sozialgeschichte, Historische Anthropologie und Cultural Turn
III. Klimarekonstruktion: Quellen und Methoden der „Wetternachhersage″
1. Das Spektrum der Daten
Daten für die Palӓoklimatologie
Daten aus den Archiven der Gesellschaft
2. Das Spektrum der Zeugnisse
Chroniken, Annalen und andere Quellen
Wetterjournale
Logbücher als klimahistorische Quellen
3. Instrumentelle Messungen
4. Methoden: Von den Proxydaten zur Rekonstruktion
Regressionsanalyse
„Pfister-Indizes“
Rekonstruktionen in räumlicher Auflösung
5. Ausblick
IV. Das rekonstruierte Klima 1500–1900
1. Gletscher auf dem Vormarsch
2. Das europäische Klima von 1500 bis 1900 im Überblick
Datenbasis
Klimaschwankungen über die Jahrhunderte
Jahreszeitliche Schwankungen
3. Antriebsfaktoren
Sonnenaktivität
Vulkane
Resümee
V. Zur Sozioökonomie der Kleinen Eiszeit
1. Agrarwirtschaft und biophysikalische „Impacts“
2. Die Spur des Klimas in der Preisgeschichte
Klima, Ernte- und Preisschwankungen
Preisrevolution
3. Hungersnöte
Hunger durch Nahrungsknappheit
Hunger als Problem der Verteilung
Hunger und soziale Verwundbarkeit
VI. Natürliche Ressourcen und sozialer Konflikt
1. Bauernrevolten
2. Globale Krise im 17. Jahrhundert
3. Wetterzauber und Hexenverfolgung
Überblick: Hexenverfolgung in Europa
Diskussion der „Behringer-These“
VII. Klimawandel und „Naturkatastrophen“
1. Katastrophen als „kurzfristige Schocks“
2. Ansätze und Bedeutung der historischen Katastrophenforschung
3. Historische Hydrologie
4. Stadtbrände
VIII. Ausblick
Wichtige Abkürzungen
Glossar
Literatur
Namensregister
Geographisches Register
Sachregister
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Klimageschichte der Neuzeit: Herausgegeben:Brodersen, Kai; Kintzinger, Martin; Puschner, Uwe;Mitarbeit:Demel, Walter; Rose, Andreas; Lachenicht, Susanne; Botsch, Gideon; Bergmann, Werner; Marcowitz, Reiner; Freiberger, Thomas; Jesse
 3534210247, 9783534210244

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Geschichte kompakt Herausgegeben von Kai Brodersen , Martin Kintzinger, Uwe Puschner, Volker Reinhardt Herausgeber für den Bereich 79./20. Jahrhundert: Uwe Puschner Berater für den Bereich 79./20. Jahrhundert: Walter Demei, Merith Niehuss, Hagen Schulze

Franz Mauelshagen

Klimageschichte der Neuzeit 1500-1900

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Redaktion: Kristine Althöhn, Mainz Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-21024-4

Inhaltsverzeichnis VII

Geschichte kompakt Einleitung ..... . I Klimatologische Grundlagen

6

1. Durchschnittliches Wetter und Klimavariabilität

Wetter und Klima

6

Klimavariabilität . . . . . . . . . . 2. Klimasystem

6

9

...........

10

3. Antriebsfaktoren für Klimawandel .

12

Sonnenaktivität ..........

13

Veränderungen der Erdbahnparameter

14

Vulkanismus . . . . . . . . .

14

11. Historische Klimatologie heute .

16

1. Was ist Historische Klimatologie?

16

Klimadaten aus Schriftzeugnissen

16

Forschungsfelder . . . . . . . . .

19

2. Zur Geschichte der Historischen Klimatologie

20

Die Überwindung des Klimadeterminismus

21

Historisierung des Klimas ...........

23

Schriftliche Quellen und das Klima der letzten 1000 Jahre

26

3. Ein schwieriges Verhältnis: Historische Klimatologie und

Geschichtswissenschaft . . . . . .

. . . . . . .

28

Umweltgeschichte und Historische Klimatologie.

28

Die Kleine Eiszeit in der Frühneuzeitforschung . .

29

Sozialgeschichte, Historische Anthropologie und

Cultural Turn . ...................

32

111. Klimarekonstruktion:

Quellen und Methoden der "Wetternachhersage"

36

1. Das Spektrum der Daten. .....

36

..

Daten für die Paläoklimatologie .....

36

Daten aus den Archiven der Gesellschaft

40

2. Das Spektrum der Zeugnisse.......

42

Chroniken, Annalen und andere Quellen

42

Wetterjournale ...........

45

..

Logbücher als klimahistorische Quellen 3. Instrumentelle Messungen.....

..

4. Methoden: Von den Proxydaten zur Rekonstruktion

48 49 52

Regressionsanalyse ............

53

"Pfister-Indizes" ............. .

55

Rekonstruktionen in räumlicher Auflösung

57

5. Ausblick

............ .

IV. Das rekonstruierte Klima 1500-1900 1. Gletscher auf dem Vormarsch ...

58 60 61

v

In ha Itsverze ichn is

2. Das europäischeKlima von1500 bis1900 im Überblick

63

Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Klimaschwankungen über dieJahrhunderte.

65

JahreszeitlicheSchwankungen

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3. Antriebsfaktoren

76

Sonnenaktivität .

78

V ulkane. . . . .

81

Resümee . . . .

84

V. ZurSozioökonomie der KleinenEiszeit.

85

1. Agrarwirtschaft und biophysikalische"I mpacts"

85

2. DieSpur des Klimas in der Preisgeschichte

88

Klima, Ernte- undPreisschwankungen

89

Preisrevolution . . . . . . . . . . .

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3. Hungersnöte . . . . . . . . . . . .

92

Hunger durchNahrungsknappheit

92

Hunger alsProblem derV erteilung

95

Hunger und sozialeV erwundbarkeit

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VI. NatürlicheRessourcen und sozialerKonflikt .

98 98

1. Bauernrevolten . . . . . . . . . . . . 2. GlobaleKrise im17. Jahrhundert . . .

101

3. Wetterzauber undHexenverfolgung

.

105

Überblick: Hexenverfolgung in Europa

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Diskussion der"Behringer-These" . . .

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.

114

1. Katastrophen als" kurzfristigeSchocks"

114

VII. Klimawandel und"Naturkatastrophen"

2. Ansätze undBedeutung der historischen

VI

Katastrophenforschung

116

3. HistorischeHydrologie

119

4. Stadtbrände

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VIII. Ausblick . . . . . .

131

WichtigeAbkürzungen .

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Glossar .

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Literatur .

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Namensregister .

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Geographisches Register

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Sachregister . . . . . . .

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Geschichte kompakt In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch) Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. His­ torische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zu­ spruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Ge­ schichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretatio­ nen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, über­ sichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe "Ge­ schichte kompakt" bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kennt­ nisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Stu­ diums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Ein­ zelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Lite­ ratur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand um­ fassend vertraut zu machen. "Geschichte kompakt" ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wis­ senschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen ge­ meinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe "Geschichte kompakt" soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen histori­ schen Arbeit erweitert werden. Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt

VII

Einleitung Die Klimageschichte ist für Fachhistoriker eine Herausforderung, vielleicht

Trennung von Natur

sogar immer noch eine Provokation. Um Wissenschaft zu werden, hat sich

und Geschichte

die Geschichte im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Naturgeschichte getrennt. Zwar haben Urväter der modernen Geschichtswissenschaft wie Jules Michelet (1798-1874) und Universalhistoriker wie Arnold J. Toynbee (1889-1975) natürlichen, gesellschaftsexternen Faktoren wie dem Klima in ihren Darstellungen der Menschheitsentwicklung immer wieder eine gewisse Beachtung geschenkt. Die Neuprofilierung der Geschichte als historischer Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert ging jedoch mit einer nahezu vollständigen Eliminierung solcher Faktoren einher. Gegenläufige Trends, vor allem in der Umweltgeschichte, stoßen auf Widerstand, der es den Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft an der Grenze zwischen Sozialund Naturwissenschaften schwer macht, sich zu etablieren. Die Skepsis ist selbst historisch durch die Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft zu erklären, die sich auf die Unterscheidung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Ursachenmodellen für sozialen Wandel einerseits und natürliche Prozesse andererseits festgelegt hat. Die

Pioniere der

Historischen Klimatologie,

Hubert

Horace

Lamb

(1913-1997), Emmanuel Le Roy Ladurie (*1929) und Christian Pfister (*1944), waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorrangig mit der

Aktualität der Frage nach Klima und Geschichte

Rekonstruktion des Klimas der letzten tausend Jahre befasst. Ihre Ergebnisse mussten sie vor allem auf dem Feld der Paläoklimatologie behaupten, das von naturwissenschaftlichen Methoden dominiert wird. Seitdem zuverlässige Rekonstruktionen vorliegen, die ältere Mutmaßungen über ein wärmeres Klima im Mittelalter und ein vergleichsweise kühleres in der frühen Neuzeit bestätigen und präzisieren konnten, d. h. etwa seit Beginn der 1990er Jahre, kehrt die Frage nach dem Verhältnis von Klima und Geschichte zurück auf die Tagesordnung. Sie ist durch die globale Klimaerwärmung zu einer drängenden Gegenwartsfrage geworden. Historiker sollten ihre Beantwortung nicht länger anderen Disziplinen überlassen, weil sie qua ihrer Profession Adressaten der Frage sind. Historiker generieren Wissen über die politische, soziale und wirtschaftliche Geschichte und machen dieses Wissen für andere verfügbar. Bei ihnen liegt es daher, die historische Bedeutung von Klimawandel mit der notwendigen Komplexität zu untersuchen. Dies aber erfordert letztlich eine neue Methodendebatte innerhalb der Geschichtswissenschaft, die auf eine Theorie der Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und natürlicher Umwelt (darunter des Klimas) hinauslaufen muss. In jedem Falle bedarf es operationalisierbarer Verfahren, die zu empirisch fundierten Aussagen führen. Dieses Buch möchte dafür Denkanstöße geben und versteht sich keines-

die Kleine Eiszeit

wegs nur als Überblick über die Klimageschichte zwischen 1500 und 1900. Für die Wahl des Zeitraums sprechen verschiedene Gründe: Es handelt sich um die Hochphase der Kleinen Eiszeit, die durch historische Zeugnisse sehr gut dokumentiert ist. Für sie liegen heute ausgezeichnete Klimarekonstruktionen vor. Und Historiker der frühen Neuzeit haben bereitwilliger als Ver-

1

Einleitung treter anderer historischer Epochen Ergebnisse der Klimageschichte in ihre Überlegungen einbezogen. Die Frühneuzeitforschung hat innerhalb der Ge­ schichtswissenschaft noch die meisten Erfahrungen im Umgang mit der Kli­ mageschichte gesammelt. Die Historische Klimatologie ihrerseits erkannte zu Recht in der frühen Neuzeit die Epoche der vorinstrumentellen Periode, die aufgrund der Dichte der schriftlichen Überlieferung die besten Aussich­ ten für eine erfolgreiche Rekonstruktion der Klimageschichte versprach. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Methoden der Historischen Klimatologie aus der Arbeit mit frühneuzeitlichen Quellen entwickelt wur­ den. Zeitlicher Rahmen

Wie gerade bemerkt, fällt die Zeit zwischen 1500 und 1900 in die soge­

der Abhandlung

nannte Kleine Eiszeit. Diese Epoche der Klimageschichte wird heute mit den Rahmendaten 1300 bis 1900 verbunden. Die Datierung überschreitet an beiden Enden gewöhnliche Epocheneinteilungen der Geschichtswissen­ schaft, einerseits die Grenze zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, andererseits die zwischen früher Neuzeit und neuerer Geschichte. Wenn für dieses Buch der Zeitraum 1500 bis 1900 gewählt wurde, so hat dies mit pragmatischen Entscheidungen zu tun. Die Klimageschichte des Mittelalters ist weniger gut erforscht als ihr Verlauf seit dem 16. Jahrhundert. Der Beginn lässt sich weiter dadurch rechtfertigen, dass die Kleine Eiszeit keine Periode konstant sinkender oder (im Vergleich zum 20. Jahrhundert) niedrigerer Temperaturen war. Vielmehr schwankte das Klima zwischen wärmeren und kälteren Perioden. Kurz nach 1550 setzte eine besonders prägnante Kalt­ phase ein, nachdem vor allem im späten 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mildere Verhältnisse vorgeherrscht hatten. Die anschlie­

ßend einsetzende Verschlechterung entging der Wahrnehmung der Zeitge­ nossen nicht. Sie hat viele Spuren in schriftlichen Zeugnissen hinterlassen und die demographisch wie räumlich (Kolonialismus) expandierenden Agrargesellschaften Europas, die gleichzeitig in religiöse und zahlreiche mi­ litärische Auseinandersetzungen verwickelt waren, vor besondere Heraus­ forderungen gestellt. Epochenschwelle:

Die Jahreszahl 1900 stimmt mit dem Ende der Kleinen Eiszeit und dem

Industrialisierung als

Beginn des "warmen 20. Jahrhunderts" überein. Gesellschaftsgeschichtlich

Klimaantrieb

macht eine Epochengrenze ,,1900" freilich wenig Sinn, weil die Industriali­ sierung in Europa zu so grundlegenden ökonomischen und sozialen Verän­ derungen führte, dass seitdem das Verhältnis von Gesellschaft und Klima eine neue Qualität angenommen hat. Das hat unter anderem mit der rapide sinkenden Bedeutung des Agrarsektors in den europäischen Wirtschaftssys­ temen und dessen gleichzeitiger Revolutionierung zu tun. Aber noch in an­ derer Hinsicht bedeutet die Industrialisierung einen epochalen Einschnitt im Verhältnis von Menschen- und Klimageschichte: Angetrieben von Bevöl­ kerungs- und Wirtschaftswachstum hat der exorbitant gestiegene Energiebe­ darf und dessen Deckung durch Verbrennung fossiler Brennstoffe (Kohle, Erdöl, Erdgas) die industrialisierte Gesellschaft zum Antriebsfaktor im Kli­ masystem gemacht. Die anthropogene Emission von Treibhausgasen, insbe­ sondere (02, hat heute solche Ausmaße angenommen, dass bei Fortset­ zung des industriellen Energieparadigmas zum Ende des 21. Jahrhunderts mit einem Anstieg der Temperaturen um 3,4°( oder mehr im Vergleich zu den Durchschnittswerten für 1980-1999 zu rechnen ist. Die Erwärmung im

2

Einleitung 20. Jahrhundert ist mit großer Gewissheit bereits Folge der Industrialisie­ rung. Pointiert könnte man sagen, der Mensch habe die Kleine Eiszeit been­ det und, freilich ohne dies zu beabsichtigen, ein neues Klimaregime "instal­ liert". Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, hat Paul J. Crutzen vor einigen Jahren den Begriff Anthropozän vorgeschlagen und den Beginn dieser neuen Epoche der Klima- wie überhaupt der Erdgeschichte im 19. Jahrhun­ dert angesetzt (Crutzen u. a. 2000). Ich halte diesen Vorschlag auch umwelt­ historisch für tragfähig und bin der Meinung, dass eine Darstellung, die nicht nur die klimatischen Veränderungen der Kleinen Eiszeit, sondern auch ihre Auswirkungen auf die Gesellschaften Europas im Blick hat, dieser Zäsur Rechnung tragen sollte. Damit ist dieses Buch zugleich von einer umfassen­ den und komplexen Darstellung des industriellen Paradigmas und seiner Folgen entlastet. Sie bleibt der bisher ungeschriebenen Klimageschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vorbehalten. Das Enddatum 1900 betrifft also in erster Linie die Rekonstruktion des Klimas der Kleinen Eiszeit. Einige As­ pekte der Klimafolgen im kalten 19. Jahrhundert werden in den späteren Ka­ piteln des Buches dann noch berührt, jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt des epochalen Einschnitts der Industrialisierung. Es handelt sich entweder um Beispiele oder Fallstudien ("Jahr ohne Sommer" 1816) aus einer Über­ gangsphase oder um Vergleiche. Das 19. Jahrhundert wird hier aber nicht in seinem Eigencharakter zur parallelen Klimageschichte ins Verhältnis ge­ setzt. Der Aufbau dieses Buches geht von der Definition der Historischen Kli­ matologie und ihrer Untersuchungsgebiete aus: der Klimarekonstruktion, der Klimafolgenforschung und der Wissensgeschichte des Klimas. Die Wis­ sensgeschichte kann dabei nicht systematisch abgehandelt werden. Viel­ mehr fließen einige ihrer Aspekte in verschiedene Kapitel der Darstellung ein. Definition und Geschichte der Historischen Klimatologie werden im zweiten Kapitel diskutiert. Hier ist auch der Ort, die Historische Klimatolo­ gie ins weitere Spektrum der Paläoklimatologie einzuordnen, ihre ge­ schichtliche Entwicklung und ihre eher marginale Rolle innerhalb der Ge­ schichtswissenschaft nachzuzeichnen. Hier wie im gesamten Buch werden sowohl der interdisziplinäre Kontext wie die fachhistorische Seite berück­ sichtigt. Das erste Kapitel bietet eine Einführung in Grundlagen der Klimatologie. Dort werden Begriffe wie "Wetter" und "Klima" erläutert, mögliche Ursa­ chen für Klimawandel angesprochen und das Klimasystem knapp darge­ stellt. Funktion dieses Kapitels ist es, Historiker mit Denkweisen der syste­ mischen Klimatologie wenigstens ansatzweise vertraut zu machen. Das dritte Kapitel widmet sich der Klimarekonstruktion auf der Basis schriftlicher und bildlicher Quellen. Eine kritische Diskussion über den In­ formationswert bestimmter P roxydaten, indirekte Hinweise auf die histo­ rische Klimaentwicklung wie Baumringe oder Eisbohrkerne also, die sich in diesen Zeugnissen finden, ist Ausgangspunkt für eine kurze Quellenkunde. Es folgt ein Überblick über grundlegende Methoden der Verarbeitung von Klimaproxydaten, deren Ziel es ist, Temperatur- und Niederschlagswerte zu rekonstruieren und eine kartographische Darstellung ihrer räumlichen Ver­ teilung zu ermöglichen. Die Quellen- und Methodenlehre dieses Kapitels

"Anthropozän"

Aufbau der Darstellung Kapitel 11

Kapitell

Kapitel 111

3

Einleitung ist alleine auf die Klimarekonstruktion ausgerichtet. Das entspricht bisheri­ gen Gepflogenheiten. Die Frage, ob für die historische Klimafolgenfor­ schung und für die Wissensgeschichte des Klimas nicht eine je eigene Quel­ lenkunde nötig wäre, ist naheliegend und berechtigt. Bisher hat man sich mit einer Art Standardantwort zufriedengegeben: Demnach sind für beide Bereiche die allgemeine Quellen- und Methodenlehre der Geschichtswis­ senschaft bzw. die bestimmter Teildisziplinen hinreichend. Für die Erfor­ schung wirtschaftlicher Impacts etwa genügen Kenntnisse aus dem Bereich der Wirtschaftsgeschichte. Die Wissensgeschichte des Klimas arbeitet mit ähnlichen Quellen wie die heutige Wissenschaftsgeschichte. Es spricht gleichwohl vieles dafür, dass in Zukunft, wenn die historische Klimafolgen­ forschung und die Wissensgeschichte des Klimas einen anderen Stand er­ reicht haben werden als heute, eine Darstellung der Historischen Klimato­ logie nicht mehr auf eine eigene Quellen- und Methodenlehre für diese For­ schungsgebiete verzichten kann. Kapitel IV-VII

Das rekonstruierte Klima der Kleinen Eiszeit ist Gegenstand des vierten Kapitels. Mit dem fünften Kapitel geht dieses Buch zur historischen Klima­ folgenforschung über, wobei zunächst die sozioökonomischen Aspekte im Mittelpunkt stehen. Schon dort wird es um Fragen der Ressourcenknappheit gehen. "Natürliche Ressourcen und sozialer Konflikt" ist das Thema des sechsten Kapitels. Die frühneuzeitliche Konfliktforschung hat bisher nur seI­ ten den Klimawandel der Kleinen Eiszeit in ihre Überlegungen einbezogen. Das Kapitel betritt insofern Neuland und möchte Anstoß für weitere Unter­ suchungen dazu geben. In Kapitel sieben schließlich wird auf "Klimawandel und

,Naturkatastrophen'"

eingegangen.

Klimatisch-meteorologisch

be­

dingte Katastrophen werden heute allgemein zu den wichtigsten Auswir­ kungen der globalen Klimaerwärmung gerechnet. Die Historische Klimato­ logie hat sich diesem Problem ebenfalls in den letzten Jahren verstärkt zuge­ wandt. Aus der neueren historischen Katastrophenforschung sind wichtige Impulse dazugekommen. Vieles von dem, was in den letzten drei Kapiteln zur historischen Klima­ folgenforschung gesagt wird, hat programmatischen Charakter. Empirische Studien zur Epoche der Kleinen Eiszeit liegen für die dort angesprochenen Aspekte zwar vor, stehen aber zum Teil erst am Anfang und geben ein uneinheitliches Bild. Das völlig neu formierte und sich weiter neu formie­ rende Feld der historischen Klimafolgenforschung steht überdies in engem Zusammenhang mit der Frage nach den Folgen des aktuellen Klimawandels. Diese Verbindung sichtbar zu machen war ein zentrales Anliegen. Die Re­ levanz historischer Arbeiten sollte dadurch aufgezeigt werden, auch wenn auf diese Weise eher ein Entwurf möglicher Zukunft als ein Bild des gegen­ wärtigen Forschungsstandes entstanden ist. Historische

Die Historische Klimatologie hat bis heute Mühe, sich als Teildisziplin

Klimatologie und

oder Spezialisierung im Fach Geschichte an Universitäten oder Forschungs­

Geschichts­ wissenschaft

einrichtungen zu etablieren. Das hat viele Gründe, auf die in Kapitel zwei im Zusammenhang der Forschungsgeschichte eingegangen wird. Vor sol­ chem Hintergrund ist dieses Buch, das in einer Reihe erscheinen kann, die in erster Linie Historiker und solche Leser anspricht, die an Geschichte in­ teressiert sind, vielleicht Zeichen für eine Trendwende. Den Reihenheraus­ gebern und dem Verlag gebührt Dank für Offenheit und Mut. Jürg Luterba-

4

Einleitung cher, Professor am Institut für Geographie der Universität Gießen, hat dem Verfasser die rekonstruierten Temperatur- und Niederschlagsdaten für die Darstellung des Klimas der Kleinen Eiszeit in Kapitel IV zur Verfügung ge­ steilt. Auch dafür sei an dieser Stelle gedankt. Es wäre zu wünschen, dass die Historische Klimatologie einen festen Platz innerhalb der Geschichts­ wissenschaft findet und in Zukunft mehr Fachhistoriker als bisher bereit sind, sich auf dieses anspruchsvolle Feld einzulassen. Auch die Geschichts­ wissenschaft als Disziplin könnte davon profitieren - mindestens ebenso, wie die an der Erforschung des Klimas beteiligten Disziplinen davon profi­ tieren könnten, wenn Historiker mehr als bisher ihr Wissen, ihre Fragestel­ lungen und ihre Ansätze einbringen. Das Feld ist, wie dieses Buch hoffent­ lich zu zeigen vermag, wahrlich breit genug, um solche Hoffnungen zu schüren. Die institutionelle Zukunft der Historischen Klimatologie innerhalb der Geschichtswissenschaft hängt unter anderem von der Anerkennung ihrer

institutionelle Stellung

Leistungen während der letzten 30 Jahre ab, in denen die Rekonstruktion der Klimaverhältnisse des letzten Jahrtausends im Vordergrund stand und enorme Fortschritte gemacht hat. Die Zukunft der Historischen Klimatologie an den heutigen Universitäten und Forschungseinrichtungen liegt im Rah­ men fächerübergreifender Forschungs- und Studienprogramme. Solche Stu­ dienprogramme existieren bereits im Bereich der Umweltwissenschaften. Interdisziplinäre Climate-Studies-Programme befinden sich an verschiede­ nen Universitäten des deutschsprachigen Raumes im Aufbau. Es ist zu hof­ fen, dass die Klimageschichte der letzten 1000 bis 2000 Jahre dabei die ihr gebührende Beachtung findet und dass sie von Wissenschaftlern gelehrt wird, die mit Methoden und Fragestellungen der Geschichtswissenschaft vertraut sind. Historiker, die sich auf das Wagnis einer interdisziplinären Ko­ operation einlassen, die auch die Grenze zu den Naturwissenschaften über­ schreitet, können in Zukunft dazu beitragen, dass die Sozial- und Kulturwis­ senschaften in der Forschung zu Ursachen und Folgen des aktuellen Klima­ wandels anders wahrgenommen werden als bisher. Die herausragende Bedeutung weit in die Vergangenheit zurückreichender Klimadaten für die Klimatologie ist seit Langem unbestritten. Unser Wissen über die Zukunft des Klimas und die Folgen des Klimawandels stützt sich auf unser Wissen über seine Vergangenheit. Es ist darum auch nur so gut wie dieses Wissen.

5

I. Klimatologische Grundlagen Klimawissenschaft

Die heutige Klimawissenschaft ist eine interdisziplinäre Synthese unzähliger

heute

wissenschaftlicher Ergebnisse, die über einen langen Zeitraum zusammen­ getragen und falsifiziert oder verifiziert wurden. Klimaforschung wird heute von einer ganzen Reihe naturwissenschaftlicher Disziplinen und Teildiszip­ linen betrieben. An erster Stelle sind Klimatologie und Meteorologie, im Weiteren aber vor allem die Geographie zu nennen. Die Geographie steht mit vielen ihrer Fragestellungen an der Nahtstelle zwischen Natur- und So­ zialwissenschaften.

Klimageschichte und

Innerhalb des weiten Spektrums der Klimaforschung bildet die Untersu­

Klimamodelle

chung historischer Klimaverhältnisse ein Spezialgebiet mit immer noch wachsender Bedeutung. Fragen kurz- und mittelfristigen Klimawandels und seiner Folgen für Flora und Fauna, für Gesellschaften und ihre natürliche Umwelt lassen sich nur beantworten, wenn es gelingt, zuverlässiges Wissen über die Vergangenheit des Klimas zu gewinnen. Möglichst weit zurückrei­ chende Datenreihen werden für die Kalibrierung von Klimamodellen benö­ tigt, mit deren Hilfe heute Aussagen über die Folgen der gegenwärtigen weltweiten Klimaerwärmung gemacht werden. Und Klimamodelle werden heute unter anderem daran geprüft, wie gut sie vergangene Klimaverhält­ nisse abbilden können. Wir werden in Kapitel drei sehen, auf welchem Weg man zu quantitati­ ven Daten für eine historische Epoche - die frühe Neuzeit - gelangen kann, in der keine oder nur wenige zuverlässige Temperatur- und Niederschlags­ messungen durchgeführt wurden. Hier ist es zunächst wichtig zu verstehen, an welchem Begriff des Klimas sich Klimahistoriker lange Zeit orientiert ha­ ben, und zu reflektieren, dass dieser Begriff inzwischen einen signifikanten Wandel durchgemacht hat.

1. Durchschnittliches Wetter und Klimavariabilität Wetter und Klima Wetter und Klima

Grundlegend für den Begriff des Klimas ist zunächst die Unterscheidung von Wetter und Klima. Wetter ist der "augenblickliche [00.] Zustand der At­ mosphäre an einem bestimmten Ort" (Häckel 2005, S. 315). Sonnenschein, Bewölkung, Niederschlag, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Wind (Richtung und Geschwindigkeit) sind wichtige meteorologische Größen, die das Wetter bestimmen. Das Wetter ändert sich täglich, oft sogar stünd­ lich - vom heißen Sommertag zum Gewitter- und Hagelsturm. Wer nur das Wetter im Blick hat, kann jedoch kaum Aussagen über typische oder durch­ schnittliche meteorologische Verhältnisse an einem Ort machen. Solche Aussagen erfordern einen längeren Beobachtungszeitraum.

Klima ist dasjenige Konzept, das Antwort auf solche Fragen verspricht: Aus der Wettervielfalt an einem Ort wird mit statistischen Mitteln eine be-

6

Durchschnittliches Wetter und Klimavariabilität -------

stimmte Menge an Kenngrößen ermittelt, die dann zu den typischen Merk­ malen des KI imas an einem bestimmten Ort gehören: mittlere Temperaturen und Niederschlagswerte, Standardabweichungen, Maxima und Minima, Häufigkeitsverteilungen, mittlere und extreme Tages- und Jahresabläufe usw. Eine klassische Handbuchdefinition des Klimas lautet: "Unter Klima verstehen wir die Gesamtheit der meteorologischen Erscheinungen, die den mittleren Zustand der Atmosphäre an irgend einer Stelle der Erdoberfläche kennzeichnen." (Hann 1883, S. 1) Klima

Das Wort Klima stammt aus dem Griechischen. Es wurde bereits von Eudoxos von Knidos (5./4. Jh. v. Chr.) verwendet. "klima" bedeutet "Neigung". Gemeint

E

war damit der je unterschiedliche Einfallswinkel der Sonnenstrahlung an ver­ schiedenen Stellen der Erdoberfläche. Dieser Winkel variiert mit der geographi­ schen Breite. Die Griechen unterschieden eine Reihe von Klimazonen, wobei sie die Bedeutung der Kugelgestalt der Erde und die heliozentrische Ordnung unse­ res Sonnensystems noch nicht erkannt hatten. Die griechischen Naturphiloso­ phen und Aristoteles entwickelten ein weitgehend statisches Verständnis des Kli­ mas, das vor allem geographisch variierte. Zeitlich kannte man nur periodische Schwankungen, die Jahreszeiten.

Die Unterscheidung von Wetter und Klima lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Eine Spätfrostnacht, durch die die Obstblüte erfriert, ist ein Wit­ terungsphänomen. Wenn aber in der betreffenden Gegend in 80% aller Jahre während der Blüte ein solches Spätfrostereignis auftritt, so ist dies ein Charakteristikum des Klimas, das offenkundig für den Obstanbau wenig ge­ eignet ist. Mit Klimawandel ändern sich Wachstumsbedingungen und Wirt­ schaftlichkeit bestimmter Nutzpflanzen. Ein gutes Beispiel bietet der Wein­ bau in der Kleinen Eiszeit: Im Vergleich zur mittelalterlichen Warmperiode verschob sich, wesentlich bedingt durch eine Klimaabkühlung, die Wein­ baugrenze in Europa deutlich nach Süden. Klima kann als das durchschnittliche Wetter definiert werden. Damit ist bereits eine Beziehung zwischen Wetter und Klima hergestellt, die etwa er­ warten lässt, dass Klimawandel auch eine Änderung des Wetters mit sich bringt. Ein beim Klimawandel beobachteter Trend, z. B. eine Abkühlung der durchschnittlichen Bodentemperaturen an einem bestimmten Ort, muss aber keineswegs auf der Ebene des täglichen, monatlichen oder jahreszeit­ lichen Wetters erfahrbar sein. Die Unterschiede können so fein sein, dass sie sich, ohne Unterstützung von Messinstrumenten, der Wahrnehmung entziehen. Oder sie können so extrem sein, dass die Volatilität (die statisti­ sche Schwankungsbreite) des Klimas verwirrt. Langfristige Veränderungen des Klimas verlaufen nie kontinuierlich. Dies aber ist eine Quelle verbreite­ ter Missverständnisse. Eine durchschnittliche Klimaabkühlung über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten wie während der Kleinen Eiszeit (ca. 1300-1900) bedeutete nicht, dass es in dieser Epoche keine außergewöhn­ lich warmen Sommer oder Winter gab. Bezeichnend für das Klima der Klei­ nen Eiszeit war jedoch eine Zunahme der monatlichen oder jahreszeitli­ chen Kaltanomalien, im Vergleich zur mittelalterlichen Warmzeit oder zum Klima des 20. Jahrhunderts, und ihr Übergewicht im Verhältnis zu den Warmanomalien. Einzelne Hitzesommer sprechen also nicht gegen die

Witterungsschwan­ kungen und Klimaänderung

7

I

.

I

Klimatologische Grundlagen "

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These einer Kleinen Eiszeit - so wenig, wie ein einzelner kalter Winter (wie 2008/09 in Europa) heute als Evidenz gegen die globale Klimaerwärmung gelten kann. Dennoch werden Extreme in der Öffentlichkeit häufig so wahrgenommen. Der natürlichen Variabilität des Wetters werden klimati­ sche Ursachen unterlegt. Indikatoren für Klimawandel sind aber nicht ein­ zelne Extreme, sondern ihre Häufigkeit oder Frequenz. Hier kommt ein wichtiger Unterschied zwischen Klima und Wetter zur Geltung, der in der Weise ihrer empirischen Ermittlung wurzelt: Das Wetter wird gemessen, das Klima hingegen statistisch errechnet. Hans von Storch, Stefan Güss und Martin Heimann haben das Klima pointiert als "Statistik des Wetters" be­ zeichnet (Storch u.a. 1999, S. 4). Nach einer Festlegung der WeItorganisa­ tion für Meteorologie müssen meteorologische Faktoren mindestens über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg durch regelmäßige Messungen er­ fasst worden sein, um auf dieser Basis Klimaeigenschaften ableiten zu kön­ nen. Wetter- und

Ein anderes verbreitetes Missverständnis betrifft die Vorhersagbarkeit von

Klimavorhersage

Wetter und Klima. Zweifel an der Vorhersagbarkeit des Klimawandels wer­ den manchmal mit dem Argument genährt, Meteorologen gelinge es ja nicht einmal, das Wetter für mehr als einige wenige Tage zuverlässig vor­ herzusagen. Tatsächlich ist das Wetter aufgrund seines chaotischen Charak­ ters längerfristig schwer absehbar. Das liegt an bestimmten dynamischen Ei­ genschaften der Atmosphäre, die als Schmetterlingseffekt bezeichnet und mit den mathematischen Methoden der Chaostheorie untersucht werden. Seit den 1960er Jahren sind sich Meteorologen bewusst, dass schon mini­ male Abweichungen von den ursprünglichen (oder angenommenen) atmo­ sphärischen Bedingungen zu völlig anderen Vorhersagen führen. Die Be­ dingungen, die dieses sensible System beeinflussen, sind zudem niemals vollständig bekannt. Dagegen ist die Diagnose eines Klimawandels auf­ grund von Änderungen in der Zusammensetzung der Atmosphäre (z. B. durch Zunahme von Treibhausgasen) oder anderer Faktoren sehr viel eher zu bewerkstelligen, weil dabei von Mittelwerten ausgegangen werden kann. Die Unterschiede in der Vorhersagbarkeit von Wetter- und Klimawan­ del lassen sich an einem analogen Beispiel illustrieren: Während sich statis­ tisch die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern in Industrienatio­ nen ziemlich genau mit 75 Jahren angeben lässt, kann das Alter, in dem ein bestimmtes männliches Mitglied dieser Gesellschaften verstirbt, auf dieser Basis nicht vorhergesagt werden. Weiter gleicht die Vorhersage zukünftiger Klimaentwicklung dem Versuch, aufgrund bestimmter demographischer und sozialer Strukturen mögliche Veränderungen im Durchschnittsalter einer Bevölkerung zu prognostizieren.

von der deskriptiven

Die Vorhersage eines Klimawandels lässt sich nicht alleine mit der Ermitt­

zur kausalen

lung durchschnittlicher Temperatur- und Niederschlagswerte bewerkstelli­

Klimaforschung

gen. Solche Daten können Evidenz für eine Feststellung von Klimawandel bieten oder ihn beschreiben. Eine zuverlässige Prognose hingegen benötigt Kausalmodelle, die den Klimawandel erklären. Hier liegt die Wurzel für einen Wandel des Klimabegriffs, der sich im Wesentlichen während der letzten 30 Jahre vollzogen hat: vom durchschnittlichen Wetter zum Klima­ system. Treibende Kraft war und ist die immer stärker ausgeweitete und

8

Durchschnittliches Wetter und Klimavariabilität -------

politisch an Bedeutung zunehmende Debatte um die Klimaerwärmung, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung. KlimavariabiI ität Der Begriff des Klimas, von dem bisher die Rede war, ist im Grunde genom­ men traditionell meteorologisch. Er beschränkt sich im Wesentlichen auf die Beschreibung atmosphärischer Vorgänge aus Messwerten für Tempera­ tur, Niederschlag, Wind und Luftdruck in Bodennähe auf der Basis lokaler Mittelwerte und charakteristischer Abweichungen. Dies entspricht der de­ skriptiven KI imatographie traditioneller Lehrbücher. Als Klimatologen begannen historische Schriftzeugnisse auszuwerten, gingen auch sie von einem relativ statischen meteorologischen Klimabegriff aus. Oberste Prämisse war die Ermittlung von Werten, die den normalen

frühere Ausrichtung der Klimageschichte auf Mittelwerte

Witterungsverlauf an einem Ort repräsentierten. Diese Zielsetzung wirkte sich auf die Auswahl der Schriftquellen aus. Ein gutes Beispiel bietet Her­ mann Flohn (1912-1997), einer der bedeutendsten Klimatologen des 20. Jahrhunderts. In einer frühen Auswertung des berühmten Witterungstage­ buchs von Wolfgang Haller (1525-1601) schrieb er 1949, wenn man sich "ein Bild vom Klima und Witterungsablauf vergangener Zeiten machen" wolle, so interessiere "zunächst der normale Verlauf, erst in zweiter Linie die Abnormitäten, die in den Chroniken allein erscheinen. Was wir brau­ chen, sind regelmässig durchgeführte Beobachtungen, die uns auch dann vieles sagen, wenn sie völlig ohne Instrumente, nur ganz nüchtern die Wit­ terung jedes Tages aufzeichnen, z.B. ,kühl und regnerisch', oder ,Frühnebel, dann heiter und warm'" (Flohn 1949, S. 29). Aus dem zugrunde gelegten Klimabegriff ergaben sich also bestimmte Präferenzen bei den Informations­ quellen der Klimarekonstruktion, mit Folgen für Datenerhebung und -ver­ waltung in Datenbanken wie für die Quellenkunde der Historischen Klima­ tologie, auf die im dritten Kapitel dieses Buches eingegangen wird. Serielle Quellen mit regelmäßigen Beobachtungen und daraus abgeleitete Mittel­ werte genossen Vorrang vor Dokumenten, in denen nur die "Ausnahmen", Extreme und Katastrophen festgehalten worden waren. Die Forderung nach einem dynamischeren Klimaverständnis in der Kli­ matologie wurde schon 1930 von dem schwedischen Meteorologen Tor

Neuausrichtung Klimadynamik

Bergeron (1891-1977) erhoben (Bergeron 1930). Die Akzente haben sich aber erst seit den 1990er Jahren deutlich in Richtung auf die Erforschung von Klimavariabilität verschoben, was sich auch in Definitionen des Klimas niederschlägt. Neben den Mittelwerten der Klimaelemente werden zuneh­ mend Parameter einbezogen, die das Klima als Prozess beschreiben: Streu­ maße, Extremwerte, Verteilungsfunktionen usw. (Hupfer u.a. 2005, S. 237; Malberg 2007, S. 272). Die neue Aufmerksamkeit für Klimadynamik liegt klar im Trend einer For­ schung, deren primäres Interesse das Verständnis des gegenwärtigen Klima­

Variabi I ität: Anoma­ lien und Extreme

wandels und seines weiteren Verlaufs in der Zukunft ist. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich immer deutlicher abgezeichnet, dass der Treib­ hauseffekt langfristig nicht nur Mittelwerte, sondern auch die Schwankungs­ breite von Anomalien und die Häufigkeit von Extremereignissen verändert. Es ist anzunehmen, dass sich Veränderungen in diesem Bereich auch in frü­ heren Epochen des Klimawandels wie der Kleinen Eiszeit beobachten lassen.

9

I

.

I

Klimatologische Grundlagen "

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Damit rücken Anomalien, insbesondere bei Temperatur und Niederschlag, und Extremereignisse verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Program­ matisch haben Richard W. Katz und Barbara G. Brown in einem Aufsatz be­ reits 1992 schon im Titel formuliert, Variabilität sei wichtiger als Durch­ schnitte. Die Variabilität klimatischer Größen ist seitdem verstärkt in den Mit­ telpunkt

gerückt.

Solche

Neuausrichtungen

der

Forschung

haben

weitreichende Folgen, auch für die Historische Klimatologie. Untersuchun­ gen zum Zusammenhang zwischen Klimawandel und dem Auftreten von Anomalien und Extremen, deren Amplitude und Frequenz, versprechen Auf­ klärung über die lange umstrittene Frage, ob der Klimawandel auch eine Zu­ nahme hydro-meteorologischer Naturgefahren erwarten lässt, die Katastro­ phen auslösen können. Heute spricht Vieles dafür. Damit haben sich auch für die historische Klimaforschung neue Perspektiven ergeben bei der Bestim­ mung des Verhältnisses von Klima und Geschichte in den letzten 3000 Jahren und darüber hinaus. Die sich seit etwa einem Jahrzehnt abzeichnende Neu­ ausrichtung der historischen Klimafolgenforschung gegenüber den 1970er und 1980er Jahren kann sich unter anderem auf die gewachsene Bedeutung von VariabiI ität und Extremen in der KI imatologie der Gegenwart stützen.

2.

Klimasystem Auch der durch den Faktor Variabilität ergänzte Klimabegriff ist noch weit­ gehend deskriptiv, obwohl er freilich nahezu von selbst die Frage nach ihren Ursachen aufwirft. Die Ursachen für Klimawandel zu erklären ist eine Auf­ gabe, die andere Denkweisen erfordert. Ein kausales Modell bietet sich erst mit dem Klimasystem. Zwar hat Hermann Flohn mit Recht darauf hingewie­ sen, dass der Grundriss eines Klimasystem-Models bereits von Alexander von Humboldt (1769-1859) und anderen entworfen wurde (Flohn 1985, S. 1). Das Verständnis der chemischen, physikalischen und biologischen Prozesse, die sich auf den Wärmehaushalt der Erde auswirken, hat sich im Laufe der letzten 30 Jahre jedoch entscheidend erweitert. Wärmehaushalt

Grundlage des Klimasystems ist die Thermodynamik. Das System wird

der Erde

also unter dem Gesichtspunkt des Energieaustauschs und seiner Bedeutung für den Wärmehaushalt der Erde beschrieben. Dieses thermodynamische Modell umfasst "alle für die Genese, Erhaltung und Variabilität des Klimas wichtigen Geosysteme" (Hupfer u. a. 2005, S. 238). Das sind folgende Sub­ oder Teilsysteme: die Atmosphäre, die Hydrosphäre (Ozeane, Binnenseen und Fließgewässer), die Kryosphäre (alle Eisoberflächen vom arktischen In­ landeis zu den Gletschern), die Pedosphäre (Erdboden, der auf den Fest­ landoberflächen liegt), die Lithosphäre (die im Erdboden liegenden Ge­ steine), die Geosphäre (Erdkörper mit tektonischen Vorgängen) und die Bio­

sphäre (Gesamtheit der Lebewesen). Diese Teilsysteme stehen durch Wasser- und Kohlenstoffaustausch sowie durch Wärme- und Impulsaus­ tausch miteinander in Wechselwirkung. "Der Systemcharakter bedeutet da­ bei, dass das Zusammenwirken der Einzelkomponenten ein qualitativ ande­ res Verhalten ergibt, als in der bloßen Summe der Teile denkbar wäre."

10

Klimasystem

I.

(Storch u.a. 1999, S. 5) Im Hinblick auf den Wärmeaustausch hat man es mit einem geschlossenen System zu tun.

Veränderungen in der Atmosphäre:

Veränderungen

Zusammensetzung & Zirkulation

des Wasserkreislaufs

� I"�"'''"

\

Luft-Eis-Wechsel­ wirkung

Il

��

N"O"Ar,

/ 1// / / / / / // / / / , / / / / / I

Vulkanische Aktivität

H,O, C02,CH4, N20, 03' etc.

I

Aerosole

Niederschlag! Verdunstung terrestrische Strahlung

Kryosphäre: Meereis, Eisdecke Gletscher Veränderungen der Erdoberfläche: Orographie, Landnutzung, Vegetation, Ökosysteme

Schematische Darstellung der Komponenten des Klimasystems aus dem 3. Assess­ ment-Report des Intergovernmental Panel on Climate Change (verändert).

Das Klimasystem erfährt allerdings seinen wichtigsten Energie-Input von au­

externer Input:

ßen, durch die Sonneneinstrahlung, die nicht Teil des Erdsystems ist. Zwar

Sonneneinstrahlung

wird die Sonneneinstrahlung durch die Wolkenbedeckung beeinflusst. Aber die von der Sonne ausgehende Strahlung selbst liegt jenseits der thermodyna­ mischen Wechselwirkungen des Klimasystems. Auch Vulkanismus und menschliche Eingriffe werden als externe Klimafaktoren eingestuft, weil es sich um kein Wechselwirkungsverhältnis handelt. Vulkanismus und mensch­ liche Evolution sind nicht aufThermodynamik zu reduzieren. Das weite Spektrum der Komponenten des Klimasystems und ihre Integ­ ration in ein Modell lässt sich auch als Herausforderung an wissenschaftli­

Klimasystem und Interdisziplinarität

che Kooperation beschreiben. Beiträge werden aus einer Vielzahl wissen­ schaftlicher Disziplinen und Teildisziplinen eingespeist (Geographie, Gla­ ziologie, Ozeanologie, Geologie, Biologie, Physik, Chemie usw.). Seitdem die Klimaforschung derart breit angelegt ist, hat sie den traditionellen Rah­ men der Meteorologie verlassen und ist zur fachübergreifenden Disziplin geworden, die nicht mehr nur beschreibend vorgeht, sondern primär an kausalen Zusammenhängen interessiert ist. Was kann die Historische Kli­ matologie zum Verständnis des Klimasystems und den aktuellen Vorgängen darin beitragen?

11

I

Klimatologische Grundlagen "

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Relevanz der

Grundsätzlich kann man sagen, dass historisches Wissen über den Wan­

Kli mageschichte

del aller Komponenten des Klimasystems von mitentscheidender Bedeutung für die Einschätzung der Stärke, des Tempos, der Ursachen und der Wirkun­ gen des aktuellen Klimawandels ist. Die Klimageschichte leistet, indem sie Informationen über den Wandel des Klimasystems (und nicht nur des Kli­ mas) in der Vergangenheit sammelt und kombiniert, einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis aktueller Prozesse und für die Prognose der globa­ len Erwärmung. Zwar können sich vergangene Klimaverhältnisse nur dann exakt wiederholen, wenn auch die Rahmenbedingungen, etwa die Land-, Meer- und Eisverteilung, exakt gleich sind. Nun sind diese Rahmenbedin­ gungen zwar nicht konstant, sie ändern sich jedoch nur langsam. "So kann die

Klimageschichte in erster Näherung als Modell dienen für mögliche Ent­

wicklungen der Zukunft [ . . ]. Was schon einmal geschehen ist, kann wieder .

geschehen." (Flohn

1985, 5. 7 ) Überdies ermöglicht die Klimageschichte

durch einen Vergleich zwischen industrieller und vorindustrieller Epoche auch eine Einschätzung des anthropogenen Faktors für die aktuelle Klima­ erwärmung. Mit einem Wort: Unser Wissen über den Zustand des Klima­ systems in der Vergangenheit besitzt unmittelbar Relevanz für die Gegen­ wart und die Vorhersage der Zukunft. Klimavorhersage, bemerkte wiederum Flohn bereits vor mehr als

20 Jahren, sei "heute kein akademisches Problem

im Elfenbeinturm mehr: sie greift unmittelbar ein in grundlegende Fragen der (nahen) Zukunft des Menschen und seiner Wirtschaft: Energiepolitik, Umweltproblem, Desertifikation." (Flohn

1985, 5.6) Das Wissen über die

Vergangenheit des Klimas und frühere Erfahrungen mit Klimawandel haben mindestens indirekte Bedeutung für alle praktischen Maßnahmen, die jetzt und in Zukunft getroffen werden müssen, um die Klimaerwärmung einzu­ praktische Bedeutung

dämmen (Mitigation) und die Gesellschaft auf deren (wahrscheinlichen) Folgen vorzubereiten (Adaption).

3. Antriebsfaktoren für Klimawandel Antrieb und

Kennt man die für das Klimasystem relevanten Größen, so lässt sich sein

Zeitskalen

thermodynamischer Zustand mit physikalischen Methoden beschreiben. Alle Klimamodelle, die überwiegend zu dem Zweck entwickelt werden, den weiteren Verlauf des anthropogenen Klimawandels in den nächsten

100 Jahren vorhersagen zu können, beruhen letztlich auf diesem Modell. Um Klimawandel in der Zukunft oder in der Geschichte, selbstverständlich auch in der weiter zurückliegenden Erdgeschichte, erklären zu können, müssen die Wechselwirkungen zwischen den Teilsystemen erfasst und die den Wandel antreibenden Faktoren

(c/imate forcing) bestimmt und gewich­

tet werden. Auch der Klimawandel während der Kleinen Eiszeit lässt sich nur erklären, wenn man in den für die letzten

700 Jahre verfügbaren Daten

die Antriebsfaktoren identifiziert. Die Auswahl der infrage kommenden Fak­ toren hängt entscheidend von der Zeitskala ab, auf der sich Klimawandel abspielt. Betrachtet man ihn auf Zeitskalen von mehreren Hunderttausend Jahren oder Jahrmillionen, was für Geologen nicht außergewöhnlich ist,

12

Antriebsfaktoren für den Klimawandel -------

stellt er sich anders dar als in Zeiträumen von Jahrtausenden oder Jahrhun­ derten, mit denen sich Historiker befassen. (Bei noch kurzfristigeren Ände­ rungen innerhalb von Jahrzehnten spricht man von Schwankungen, nicht mehr von Wandel des Klimas.) Je nach Zeitskala gewinnen langfristig, mit­ telfristig oder kurzfristig wirkende Antriebsfaktoren an Gewicht. Klimaänderungen sind die Folge von Änderungen in der Energiebilanz der Erde. Antriebsfaktoren sind Ursachen dieser Änderung. Es hat sich be­ währt, das climate forcing an ihrem Einfluss auf die Bilanz von eingehender und ausgehender Strahlung (Strahlungsbilanz) zu messen. Man spricht da­ her auch vom Strahlungsantrieb (GraßI 2007, S. 14).

I

Strahlungsantrieb "Der Strahlungsantrieb ist ein Maß für den Einfluss eines Klimafaktors auf die Ba­ lance zwischen einfallender und abgestrahlter Energie des Erd-/Atmosphäre-Sys­

E

tems. Er ist ein Hinweis auf die Bedeutung eines bestimmten Faktors als poten­ zieller Mechanismus zu Klimaänderungen."

Es folgt ein knapper Überblick, der besonders auf die für die Kleine Eiszeit relevanten Faktoren ausgerichtet ist: Sonnenaktivität, Milankovic-Forcing und Vulkanismus.

Sonnenaktivität Die Sonne ist durch ihre elektromagnetische Strahlung die Hauptenergie­ quelle der Erde, die ohne Sonneneinstrahlung kalt und leblos wäre. Die Sonneneinstrahlung ist für die Klimatologie der Ausgangspunkt, um die wei­ teren thermodynamischen Vorgänge nach Eintritt der Strahlung in die Erdat­ mosphäre zu beschreiben und künftige oder vergangene Veränderungen im Klimasystem zu modellieren. Die Sonnenstrahlung breitet sich mit Lichtge­ schwindigkeit radial, also in Form einer Kugelwelle aus. Mit zunehmender Entfernung von der Strahlungsquelle nimmt die Dichte der Strahlung ab. Schon im 19. Jahrhundert wurde der Versuch unternommen, die mittlere Sonneneinstrahlung auf die Erde vor Eintritt in die Atmosphäre zu bestim­ men. Der Wert wurde aufgrund von Berechnungen 1982 von der WeItorga­ nisation für Meteorologie auf 1368 W/m2 (Watt pro Quadratmeter) festge­ legt. Dieser Wert wird als Solarkonstante bezeichnet, und viele Klimamo­ delle haben seitdem mit dieser Konstante gearbeitet. Nun ist aber die von der Sonne ausgehende elektromagnetische Strahlung nicht konstant. Sie variiert, noch bevor sie auf den FiIter der Atmosphäre trifft. Ursache für diese Schwankungen ist die Sonnenaktivität, die an ver­ schiedenen Phänomenen festgemacht und beobachtet wird, insbesondere an Sonnenflecken, solaren Magnetfeldern, chromosphärischen Fackeln und Eruptionen. Solare Winde hinterlassen Spuren der Sonnenaktivität im ge­ samten Sonnensystem und beeinflussen das Magnetfeld der Erde. Über die Bedeutung für das Klima der Erde ist viel spekuliert worden. Sonnenstrah­ lung (irradiance) und Sonnenflecken korrelieren positiv. Sonnenstrahlung nimmt also mit der Zahl der Sonnenflecken leicht zu. Für die Sonnenaktivität sind in der Solarphysik und -astronomie verschie­ dene Zyklen diskutiert worden, in denen sie schwankt. Der Zyklus, der sich am deutlichsten in Beobachtungen von Sonnenflecken und in Satelliten­ messungen (seit 1978) abzeichnet, ist ein elfjähriger Zyklus, innerhalb des-

Solarkonstante

Sonnenflecken­ zyklen

13

I

.

I

"

Klimatologische Grundlagen ------sen aber die gemessene Irradianz lediglich um 0,1 % schwankt. Es gibt Hin­ weise darauf, dass die Sonnenaktivität seit dem 1 8. Jahrhundert insgesamt leicht zugenommen hat. Die Hoffnung einiger Solarphysiker, die Klimaer­ wärmung des 20. Jahrhunderts damit erklären zu können, ist nach neuesten Berechnungen hinfällig geworden. Der 4. Sachstandbericht des Intergovern­ mental Panel on Climate Change (lPCC) schätzt den Strahlungsantrieb durch Änderungen der Sonnenstrahlung seit 1 750 auf nur 0,1 2 W/m2 (bei einer Schwankungsbreite zwischen 0,6 und 0,3 W/m2). Im Vergleich dazu wird der Anteil des CO2 mit 1 ,66 W/m2 angegeben. Etwa ab der zweiten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts gab es jedoch eine Phase deutlich verminderter Son­ nenaktivität, die in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr als Erklärung für eine signifikante globale Abkühlung angenommen wurde. Ähnliche, aber kürzere Phasen machen Schwankungen der Sonnenstrahlung zum wohl be­ deutendsten Antriebsfaktor der Kleinen Eiszeit (vgl. Kap. IV, 3).

Milankovic-Forcing

Veränderungen der Erdbahnparameter Veränderungen der Umlaufbahn der Erde um die Sonne (sog. Exzentrizität), Veränderungen in der Neigung der Erdachse (sog. Obliquität, schwankend zwischen Winkeln von 21 ,S und 24,S ) sowie in der kreisförmigen Bewe­ gung der Rotationsachse um eine zur Erdachse senkrechte Linie (sog. Präzes­ sion) wirken sich auf die Strahlungsbilanz des Klimasystems aus. Das Klima­ signal, das der serbische Mathematiker Milutin Milankovic (1 879-1 958) nachweisen konnte, folgt den Zyklen dieser Veränderungen: 1 9.000 und 23.000 Jahre für die Präzession, 41 .000 Jahre für die Obliquität und 400.000 bzw. 1 00.000 Jahre für die Exzentrizität. Man spricht von Milanko­ vic-Zyklen oder auch vom Milankovic-Forcing. Diese langfristig wirkenden Faktoren können für Klimawandel auf einer Zeitskala von Jahrtausenden durchaus eine wichtige Rolle spielen. Das ist für den Zeitraum des Holozän der Fall. Das Strahlungsangebot war bis etwa 5000 Jahre vor der Gegenwart auf der Südhalbkugel größer als im Norden. Danach kehrte sich das Verhältnis um - mit Folgen für das Klimasystem: "Sowohl aus [ . . ] Pollen, Sedimenten, Eisbohrkernen, Baumringen, Stalag­ miten, usw. als auch aus Modellrechnungen von globalen Klimamodellen können wir ableiten, dass diese Umverteilung des Energieangebots zu einer Verschiebung der Zirkulationssysteme und zu Veränderungen des Wärme­ und Feuchteregimes geführt haben", schreibt Heinz Wanner (in Endlicher u. a. 2007, S. 28). Wanner hat den Wandel vom mittleren (vor ca. 6000 Jah­ ren) zum späten Holozän (kurz vor Beginn der Industrialisierung) modell­ haft-schematisch kartiert. Wichtig ist für uns seine Feststellung: "Mit diesen auf langer Zeitskala betrachteten Strukturen und Prozessen des mittel- bis spätholozänen Klimawandels wurde sozusagen der Hintergrund oder die Kulisse für den Klimawandel auf der höher-frequenten Zeitskala von Deka­ den bis Jahrhunderten geschaffen." (ebd., S. 30) Das Milankovic-Forcing spielt insofern eine "historische" Rolle auch für die Kleine Eiszeit, und zwar als längerfristig in dieser Zeit weiterwirkender Faktor. °

Bedeutung für Klimawandel im Holozän

0

.

Vulkanismus Aufgrund der besonderen Bedeutung des Vulkanismus in der Kleinen Eiszeit wird er schon hier in einem eigenen Abschnitt thematisiert, der die physika14

Antriebsfaktoren für den Klimawandel -------

lischen Zusammenhänge im Grundriss erläutert, bevor in Kapitel IV auf die konkreten Ereignisse während der Kleinen Eiszeit eingegangen wird. Vulka­ nismus ist wie Sonnenaktivität ein externer Klimafaktor, der nicht durch die thermodynamischen Wechselwirkungen des Klimasystems beeinflusst wird, sondern diese einseitig beeinflusst. Vulkanausbrüche können durch teils riesige, von ihnen in die Atmo­ sphäre ausgestoßene Mengen an feinen Aschepartikeln und Gasen die

kurzfristige Auswirkungen

Strahlungsbilanz verändern. Das führt zu kurzfristigen Klimaschwankungen in Zeiträumen von maximal zwei bis drei Jahren, meist aber in kürzeren Zeiträumen. Nur eine Aufeinanderfolge solcher Ereignisse in kurzen Zeitab­ ständen kann klimatische Folgen für Jahrzehnte oder mehrere Jahrzehnte haben. Früher nahm man an, dass vor allem Aschepartikel Ursache für eine Abkühlung wären. Das gilt jedoch allenfalls lokal oder regional, denn Aschepartikel sind vergleichsweise schwer, sie erreichen nur die Tropo­ sphäre (bis ca. 10 km Höhe), sinken schon innerhalb weniger Wochen auf­ grund ihres Gewichts und vertikaler Luftbewegungen in dieser Schicht schnell wieder auf den Boden ab oder werden durch Regen ausgewaschen. Neben Lava- und Aschepartikeln setzen Vulkane schwefelhaltige Gase

Schwefelaerosole

frei, die durch Oxidation in der Atmosphäre zu Schwefeldioxidbildung füh­ ren und dann weiter in sulphathaltige Staubteilchen umgewandelt werden. Bei schweren Ausbrüchen werden diese Teilchen bis in die Stratosphäre transportiert (vor allem in Höhen zwischen 20 und 25 km). Da hier die ver­ tikalen Luftbewegungen geringer und die Schwefelteilchen leichter sind, bilden sich durch die atmosphärische Bewegung rasch Staubschleier (Aero­ sole), die sich über größere Gebiete der Erde ausbreiten können. Insbeson­ dere schwere tropische Vulkanausbrüche haben in der Vergangenheit glo­ bale Wirkungen gezeitigt. Eine Klimawirkung kommt dadurch zustande, dass die stratosphärischen Aerosole die eingehende Sonnenstrahlung absorbieren oder streuen, was

klimatische Auswirkungen

die Einstrahlung der Sonne auf die Erdoberfläche verringert und die boden­ nahe Luft abkühlt, während sich die Stratosphäre aufheizt. Die Dinge ver­ halten sich aber noch komplexer: Der gerade beschriebene Abkühlungspro­ zess in Bodennähe ist vor allem im Sommer wirksam. In mittleren Breiten der nördlichen Hemisphäre ist im Winter jedoch in der Regel eine Erwär­ mung zu beobachten, weil die Erwärmung der Stratosphäre eine Verände­ rung der Luftzirkulation bewirkt: Über dem Atlantik und Europa werden die oberflächennahen West- und Südwestströmungen verstärkt und dadurch mildere Luftmassen zugeführt.

15

I

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11. Historische Klimatologie heute 1824

Baron Ehrenheim erklärt den Untergang der Grönlandwikinger mit einer Klimaabkühlung an der Wende zur Neuzeit

1836/7 1935

Durchbruch in der Theorie der Eiszeiten WMO bestimmt Messperiode 1901-1930 als "klimatische Normalperiode"

1939 1955 1965 1967

F. Matthes prägt den Begriff "Iittle ice age" G. Utterström löst Debatte über wirtschaftliche Folgen des Klimawandels im 16./17. Jh. aus H. H. Lamb prägt den Begriff der mittelalterlichen Warmzeit

(Medieval Warm Period) E. Le Roy Ladurie veröffentlicht seine "Histoire du dimat depuis I'an mil"

1978

erste Definition der Historischen Klimatologie in einem Beitrag der Zeitschrift "Nature"

1985

ehr. Pfister veröffentlicht "KIimageschichte der Schweiz"

In diesem Kapitel wird das Forschungsfeld der Historischen Klimatologie vorgestellt, und zwar ausgehend von inzwischen gängigen Definitionen die­ ser "Disziplin" (1.). Für einige weitere Kapitel dieses Buches, in denen die Entwicklung teils sehr disparater Forschungen nachgezeichnet werden soll, ist es wichtig, den definitorischen Rahmen durch zwei Entwicklungsper­ spektiven zu ergänzen: Zum einen soll die immanente Entwicklung der Hi­ storischen Klimatologie kurz skizziert werden (2.). Zum anderen wird es darum gehen, ihre schwierige Randsteilung innerhalb der Geschichtswis­ senschaft im Rückblick auf Trends in dieser Disziplin zu diskutieren (3.).

1. Was ist Historische Klimatologie? Klimadaten aus Schriftzeugnissen früheste Definition

In der Forschungsliteratur existieren verschiedene, teils konkurrierende De­

von Ingram u.a.

finitionen von Historischer Klimatologie. Der erste Versuch, sie genauer zu

(1978)

bestimmen, wurde 1978 in einem Beitrag der Zeitschrift "Nature" von In­ gram, Underhill und Wigley vorgelegt. Die Verfasser gingen dabei vom breiten Spektrum klimahistorischer Evidenz und der Vielfalt wissenschaft­ licher Kompetenzen aus, die eine Auswertung dieser Evidenz erfordert. Die Historische Klimatologie bestimmten sie als diejenige klimatologische Sub­ disziplin, die sich der Auswertung schriftlicher Zeugnisse über Klimaver­ hältnisse der Vergangenheit widmet. Moderne, standardisierte Aufzeich­ nungen instrumenteller Messungen schlossen sie von diesem Arbeitsgebiet aus. Dahinter stand die Vorstellung, dass instrumentelle Messungen verbale Wetterbeschreibungen überflüssig machen.

16

Was ist Historische Klimatologie? ------

Mit diesem Fokus liegt das genuine Arbeitsfeld der Historischen Klimato­ logie unmittelbar im Kompetenzbereich von Historikern, die sich mit jenen Epochen der Menschheitsgeschichte befassen, aus denen schriftliche Zeug­ nisse überliefert sind. Das ergibt einen Zeitraum, der im Wesentlichen mit den traditionellen historischen Epochen übereinstimmt: Antike, Mittelalter und Neuzeit. Das Kriterium der Schriftlichkeit ist dabei flexibel und führt zu einer variablen zeitlichen Tiefe historisch-klimatologischer Forschungen für verschiedene geographisch-kulturelle Regionen unseres Globus. Für das alte Ägypten reichen in Stein gehauene Inschriften mit Angaben zur Höhe der jährlichen Nilüberschwemmung bis 3000 Jahre v. Chr. zurück. Sie er­ lauben Rückschlüsse auf die Niederschlagsmengen der ostafrikanischen Sommermonsune in dieser Zeit. In China gibt es Inschriften aus der Zeit der Shang Dynastie (ca. 16. bis 11. Jh. v. Chr.), die Klimainformationen enthal­ ten. Systematische Aufzeichnungen beginnen aber erst später, in der Zeit der Quin-Dynastie (um 221 v. Chr.). Die Klimageschichte des südlichen Eu­ ropa, vor allem des antiken Griechenland und Roms, kann sich bis 500 v. Chr. auf Schriftliches stützen. Im Norden Europas liegt die Grenze um das Jahr Null, in Japan im frühen 6. Jahrhundert, in Island um das Jahr 1000. Arabische Chroniken bieten sporadisch klimahistorisch relevante Angaben, meist über Regen im Mittleren Osten (Irak, Syrien, Palästina), bis ins 9. Jahr­ hundert zurückreichend. Die meisten Gebiete der "Neuen Welt" erscheinen erst mit der europäischen Expansion seit dem 16. Jahrhundert auf der Land­ karte der Historischen Klimatologie, Australien sogar nicht vor 1800. Rudolf Brazdil hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der von Ingram, Underhill und Wigley vorgeschlagenen Definition ein Verständnis des His­ torischen zugrunde I iege, das nur Perioden berücksichtigt, für die schrift­ liche Zeugnisse überliefert sind (Brazdil 2000, S. 101). Dieses Verständnis wurzelt in europäischen Denktraditionen, die für die Einteilung des univer­ sitären Fächerkanons im 19. Jahrhundert prägend wurden. Es liegt auch der Bezeichnung der Ur- und Frühgeschichte als Vorgeschichte oder Prähistorie zugrunde. Obwohl international weiterhin gebräuchlich (eng!. prehistory, frz. pn§histoire etc.), sind diese Bezeichnungen längst als fragwürdig kriti­ siert worden. In globalgeschichtlicher Perspektive stört vor allem, dass die Vergangenheit von Völkern oder Kulturen, die erst spät oder nie über Schrift verfügten, gleichsam aus dem Kanon der Historie gestrichen wird. Schrift­ lichkeit als Errungenschaft einer Kultur oder Zivilisation zum allgemein gül­ tigen Maßstab des Historischen zu erklären, ist aus dieser Sicht zutiefst eu­ rozentrisch und dem kolonialen Diskurs verhaftet. Dieser Kritik ungeachtet, vermag der Fokus auf Schriftzeugnissen doch das spezifische Arbeitsfeld der Historischen Klimatologie präzise zu um­ schreiben: die Gewinnung klimatologisch relevanter Informationen aus Schriftzeugnissen der Vergangenheit. Dieses Spezifische entspringt nicht einem exklusiv-europäischen Selbstverständnis, sondern dient der rein pragmatischen Abgrenzung von anderen Subdisziplinen der Klimatologie. Geographisch kann die Historische Klimatologie eine gewisse Eurozentrie­ rung ihrer Untersuchungen allerdings kaum vermeiden: Die Datenmengen, die aus der schriftlichen Überlieferung gezogen werden können, sind allen­

zeitliche Tiefe

Problematisierung des Schriftlichkeits­ kriteriums

falls in China, Japan oder im arabischen Raum ähnlich dicht und zeitlich so tief wie in Europa. 17

11

.

11

Historische Klimatologie heute "

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Eine andere Kritik an der von Ingram und seinen Mitautoren formulierten Definition lautet, dass die Einschränkung des Arbeitsgebietes der Histori­ schen Klimatologie auf beschreibende Schriftquellen zu eng sei (vgl. Brazdil

2000, S. 101). Historische Klimatologen müssten darüber hinaus mit Daten operieren, die mithilfe dendrochronologischer, paläobotanischer oder sedi­ mentanalytischer Methoden gewonnen werden. Damit ist ihre praktische Arbeit sicher treffend beschrieben. Wenn historische Klimatologen mit Da­ ten aus anderen Informationsquellen als schriftlichen Zeugnissen der Ver­ gangenheit arbeiten, so heißt dies jedoch nicht, dass sie selbst diese Daten

erheben. Das Missverständnis, dem die Kritik hier aufliegt, besteht in einer Verwechslung zwischen ganz verschieden gelagerten Anforderungen an die Fähigkeiten des historischen Klimatologen: Der Umgang mit allen Daten, die mithilfe grundlegend verschiedener Methoden im weiten Spektrum der Paläoklimatologie gewonnen werden können, sollte nicht mit dem Beherr­

schen dieser Methoden selbst verwechselt werden. Anders gesagt: Die ver­ gleichende Datenverarbeitung oder -weiterverarbeitung ist etwas anderes als Datengewinnung. Bei letzterer endet die methodische Kompetenz histo­ rischer Klimatologen, die sich auf schriftliche Quellen verstehen, aber nicht auf Baumringe, Seesedimente, Pollen oder Gletschereis. Natürlich aber müssen sie ihre Ergebnisse mit Klimadaten anderer Herkunft abgleichen, z. B. denen der Dendroklimatologie. Historisierung des

Die Definition von Ingram, Underhill und Wigley erscheint gleichwohl in

gemessenen Klimas

anderer Hinsicht zu eng, und zwar bei der Begrenzung des Untersuchungs­ feldes auf standardisierte meteorologische Messungen. Damit begeht sie einen für den Wissenschaftspositivismus typischen Denkfehler. Messungen und Messmethoden sind dem historischen Wandel keineswegs enthoben, und ihre Überlieferung hängt von Schriftsystemen, ihrer Speicherung und oft auch ihrer Homogenisierung ab. Das historische Wissen über den Wan­ del von Praxis und Technik des Messens sowie von Datenaufzeichnung und -speicherung ist unentbehrlich bei der Beurteilung überlieferter Messdaten und ihrer angemessenen Homogenisierung beim Zusammenschluss mit den jeweils aktuellen Daten zu langen Messreihen. Mit Kenntnissen über die Verwaltung von Zahlen in elektronischen Speichermedien ist es nicht getan. Über die puren Messzahlen hinaus sind Informationen zu den verwendeten Instrumenten und den Praktiken des Messens aus schriftlichen Aufzeichnun­ gen, etwa Instruktionen an Messstationen, unentbehrlich. Standards wan­ deln sich, und Standardisierung ist folglich ein historischer Prozess, der nicht irgendwann im 19. Jahrhundert mit der Einführung staatlicher Mess­ netze abgeschlossen wurde, sondern sich dauernd fortsetzt. Die Homoge­ nisierung von Messdaten ist darum ein permanenter Vorgang, bei dem auch die quellen kritische Basiskompetenz von Historikern gefragt bleibt.

Zwischenergebnis

Ein erstes Zwischenergebnis unserer Überlegungen lässt sich nun formu­ lieren: Bei der Definition der Historischen Klimatologie sollte an einem An­ satz festgehalten werden, der von der (Paläo-)Klimatologie als "Interdiszip­ lin" ausgeht und ihre Teildisziplinen durch die verschiedenen darin ange­ wandten Methoden der klimatologischen Datenerhebung unterscheidet. Legt man diesen Maßstab zugrunde, dann ist Historische Klimatologie die­ jenige Teildisziplin, die klimahistorische Informationen aus der Interpreta­

tion schriftlicher Zeugnisse der Vergangenheit ableitet. Das schließt verbale 18

Was ist Historische Klimatologie? ------

Witterungsbeschreibungen ebenso ein wie die Aufzeichnung und Speiche­ rung instrumenteller Messdaten. Eine offensichtliche Gefahr der zeitlichen Begrenzung der Historischen Klimatologie "nach vorne" hin mit der Einfüh­ rung staatlicher Messnetze besteht in einer Enthistorisierung von Messdaten. Eine weitere Gefahr liegt in der impliziten Verkürzung des Klimabegriffs auf das ältere meteorologische Verständnis, von dem Ingram, Underhill und Wigley wie selbstverständlich ausgingen, das aber heute nicht mehr zeitge­ mäß ist. Geht man vom heute aktuellen Kausalmodell des Klimasystems aus, dann sind alle Informationen über dieses System mit seinen Teilsyste­ men und ihrem Wandel von Bedeutung. Da für Kommunikation und Über­ lieferung dieser Informationen nach wie vor Schriftsysteme grundlegend sind, kann man die "historische Epoche" für die Klimatologie nicht mit dem 19. oder 20. Jahrhundert als abgeschlossen betrachten. Auch die Geschichte der Messungen geht weiter. In der Meteorologie etwa werden seit den 1980er Jahren neue, räumlich auflösende Radargeräte für die Erfassung von Hagelzellen eingesetzt. Die entstandenen Messreihen bedeuten eine Zäsur, die aus der Zeit vor ihrem Beginn eine Art paläoklimatologische Phase ma­ chen. Eine obere zeitliche Begrenzung durch die Entstehung meteorologi­ scher Messnetze ist schließlich auch darum nicht sinnvoll, weil dieses Krite­ rium nur für ein Teilgebiet der Historischen Klimatologie gilt: die Rekon­ struktion vergangener Klimaverhältnisse und ihres Wandels. Forschungsfelder Die Ziele der Historischen Klimatologie werden heute jedoch sehr viel wei­

Ziele der

ter gefasst. Christian Pfister zufolge besteht ihre Aufgabe zwar einerseits da­

Historischen

rin, "Witterungsverläufe, Klimaparameter (Temperatur, Niederschlag) und Großwetterlagen [ . . ] zu rekonstruieren". Darüber hinaus aber geht es ihr .

Klimatologie nach Pfister

darum, "die Belastbarkeit von Gesellschaften für Klimavariationen und Na­ turkatastrophen zu untersuchen und den wechselnden sozialen Repräsenta­ tionen von klimatischen Phänomenen nachzugehen". (Pfister 2001, S. 7) Diese Beschreibung repräsentiert den Forschungsstand der Historischen KI i­ matologie nach der Wende zum 21. Jahrhundert. 30 Jahre vorher, als Ing­ ram und seine Mitautoren die Definition vorlegten, von der wir im letzten Abschnitt ausgegangen sind, stand eindeutig die Rekonstruktion vergange­

ner Klimate im Vordergrund. Seitdem diese jedoch für die Epoche der Klei­ nen Eiszeit einen zuverlässigen, wenn auch keineswegs abgeschlossenen Stand erreicht hat, nimmt die Bedeutung der historischen Klimawirkungsfor­

schung zu: die Untersuchung soziokultureller und ökonomischer Verwund­ barkeit gegenüber Klimavariationen, Extremwitterung und klimatisch indu­ zierten Naturkatastrophen. Auch das, was man als Wissensgeschichte des

Klimas zusammenfassen könnte (Pfisters "soziale Repräsentationen" des Kli­ mas), hat neuen Auftrieb bekommen. Diese Verbreiterung der Forschungsziele der Historischen Klimatologie hat Folgen, die bisher nicht deutlich genug ausformuliert wurden. Die histo­ rische Klimawirkungsforschung bietet, im Vergleich zur Klimarekonstruk­ tion, ein neues Feld interdisziplinärer Kooperation sowie neue Anschluss­

gewachsene Bedeutung der Klimawirkungs­ forschung

möglichkeiten innerhalb der Geschichtswissenschaft. Darüber hinaus erge­ ben sich aber auch Konsequenzen für die Definition der Historischen Klimatologie, genauer gesagt: für den ihr zugeordneten historischen Zeit-

19

11

.

11

Historische Klimatologie heute "

------

raum. Seine Begrenzung durch instrumentelle Messungen, genauer gesagt: die Errichtung flächendeckender Messnetze, ist auf dem Feld der Klimawir­ kungsforschung noch weniger akzeptabel als auf dem der Klimarekonstruk­ tion. Hier wie dort behalten Schriftzeugnisse, sei es in handschriftlicher, ge­ druckter oder digital isierter Form, auch für das 20. oder 21. Jahrhundert ihre Bedeutung als Quellen. Vor allem aus ihnen gewinnen wir Informationen über die wirtschaftlichen, soziokulturellen und politischen Folgen von Kli­ mawandel. Von selbst versteht sich, dass (vor allem) Schriftquellen auch der Ideen- und Kulturgeschichte von Klima und Klimawandel zugrunde liegen. Definition der Histo­

Die vorangegangenen Überlegungen lassen sich abschließend in einer ge­

rischen Klimatologie

genüber früheren Versuchen modifizierten Definition zusammenfassen: Die Historische Klimatologie ist ein Grenzgebiet zwischen Geschichtswissen­ schaft und Klimatologie, das aus der Interpretation schriftlicher Zeugnisse zu Aussagen über vergangene KI imaverhältnisse sowie über die Interaktion zwi­ schen Klima und Gesellschaft kommt. Der Zeitraum, für den sie Klimadaten erhebt, ist an das Vorhandensein schriftlicher Zeugnisse gebunden und variiert mit deren regional sehr unterschiedlichen Überlieferung. Die wich­ tigsten Aufgabengebiete sind: Klimarekonstruktion, Klimawirkungsforschung und Wissensgeschichte des Klimas. 1. Für die

Rekonstruktion vergangener Klimaverhältnisse sammelt die Histo­

rische Klimatologie aus schriftlichen Dokumenten P roxyinformationen, die Rückschlüsse auf Klimaelemente (Temperatur, Niederschlag, Boden­ luftdruck, Luftströmungen, Wind, Sturm, Sonnenaktivität, Vulkanismus, Treibhausgaskonzentration usw.) gestatten. Die Daten werden in der Regel mit statistischen Methoden aufbereitet und sollten mit den Ergeb­ nissen anderer Teilgebiete der Paläoklimatologie (z. B. Dendroklimatolo­ gie) abgeglichen werden. 2. Die

historische Klimafolgenforschung stellt die Frage nach der Relation

zwischen dem System der Gesellschaft einerseits und verschiedenen Zu­ ständen des Klimasystems, Klimawandel, Klimaschwankungen und Extre­ men andererseits in einem bestimmten Zeitraum. Die Klimainformatio­ nen, die in Rekonstruktionen verdichtet werden, müssen nicht nur zu einer angemessenen Beschreibung vergangener Klimaverhältnisse führen; ihre Aufbereitung muss auch auf die Anforderungen der Klimafolgenfor­ schung ausgerichtet sein. 3. Die

Wissensgeschichte des Klimas umfasst die Wissenschaftsgeschichte

der Klimatologie und die Erforschung ihrer langen geistesgeschichtlichen Traditionen; sie umfasst weiter die Wahrnehmungsgeschichte des Klimas (Bauernregeln usw.) als Grundlage zu einem besseren Verständnis histori­ scher Interaktionsformen an der Schnittstelle zwischen menschlicher Ge­ sellschaft und natürlicher Umwelt.

2.

Zur Geschichte der Historischen Klimatologie Die Geschichte der Historischen Klimatologie ist ein nahezu ungeschriebe­ nes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Auch hier ist nur ein kleiner Bei-

20

Zur Geschichte der Historischen Klimatologie

11.

trag dazu möglich. Im Vergleich zu einer umfassenden Geschichte der Kli­ matologie oder des Klimabegriffs, die im Grunde die gesamte meteorologi­ sche und geographische Tradition seit der Antike aufbereiten müsste, kann sich die Geschichte der Historischen Klimatologie dem spezifischen Cha­ rakter dieser Teildisziplin gemäß beschränken. Andererseits wäre sie um­ fangreich genug, um ein eigenes Buch zu füllen. Im Folgenden wird ein stark systematisierender Ansatz gewählt, um Grundprobleme und -konstel­ lationen zu betonen, die für die Entwicklung der Historischen Klimatologie von entscheidender Bedeutung waren. Die Überwindung des Klimadeterminismus Der Klimadeterminismus ist tief verwurzelt in der Tradition des europä­

Renaissance des

ischen Denkens seit der Antike - und er ist keineswegs überwunden. Nico

KI imadeterminismus

Stehr und Hans von Storch haben vor nicht allzu langer Zeit von einer "Re­ naissance" gesprochen und festgestellt: "Ideengeschichtlich gesehen ist ein großer Teil der heutigen Klimafolgenforschung unverfälschter Klimadetermi­ nismus." (Stehr u. a. 2000, S. 187) Klimadeterminismus Unter Klimadeterminismus sind Deutungen und Modelle des Verhältnisses zwi­ schen Mensch (Individuum und Gesellschaft) und Klima zu verstehen, in denen

E

die äußerst komplexen Wirkungsbeziehungen einseitig auf die Wirkrichtung von klimatischen Verhältnissen auf den Menschen vereinfacht wird. Die biologische Evolution des Menschen oder die Evolution sozialer Systeme werden in solchen Modellen lediglich als Reaktionen biologischer oder gesellschaftlicher Systeme auf Veränderungen des Klimasystems erklärt. Ausgeblendet bleiben andere Um­ weltfaktoren oder andere gesellschaftliche Elemente; ausgeblendet bleibt auch die aktive Rolle des Menschen in der Interaktion mit der natürlichen Umwelt. Zu den Annahmen des Klimadeterminismus zählen Nico Stehr und Hans von Storch "die Stabilität von Klima und sozialem Verhalten sowie den angeblichen ,Egalita­ rismus' des Klimas". (Stehr u.a.

2000, S. 191) Gemeint ist damit die Gleichheit

der Wirkung gleicher Klimaverhältnisse auch über Zeit und Raum hinweg, eine Denkfigur, die vielen Argumentationen mit Klima heute noch anhaftet. Die Wurzeln des Klimadeterminismus reichen in die Antike zurück. Aristoteles

(384-322 v. Chr.) begründete die Überlegenheit der Griechen gegenüber den Barbarenvölkern unter anderem mit dem "mittleren" Klima Griechenlands. Diese Denkfigur hat zahlreiche Nachfolger in der politischen Philosophie Europas ge­

(1689-1755) for­ 1748 erschienenen Werk Vom Geist der Gesetze: "Wenn es

funden. Der französische Philosoph Marquis de Montesquieu mulierte in seinem

wahr ist, dass der Charakter des Geistes und die Leidenschaften des Herzens in den verschiedenen Klimaten außerordentlich verschieden sind, dann müssen die Gesetze auf die Unterschiedlichkeit dieser Charaktere Bezug haben."

Als der französische Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie in den 1960er

Klima als Universal­

jahren einige klimahistorische Beiträge und schließlich 1967 sein Buch

erklärung:

"Klimageschichte seit dem jahre 1 000" veröffentlichte, hatte er ebenfalls

E. Huntington

eine vergleichsweise junge Ausprägung klimadeterministischen Denkens vor Augen, die gerade, um die Mitte des 20. jahrhunderts, zum Ende ge­ kommen war. Ihr wohl bekanntester Vertreter war der amerikanische Geo­ graph Ellsworth Huntington (1876-1947) mit seinem Hauptwerk Civiliza­

tion and Climate (1915). Optimale klimatische Bedingungen bestimmen 21

11

Historische Klimatologie heute "

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nach Huntington die wirtschaftliche Leistung einer Gesellschaft und die Ge­ sundheit der Bürger. Jede Abweichung vom klimatischen Optimum hat eine Verminderung von Wohlbefinden und Leistung zur Folge. Ändert sich das Klima, so ändert sich auch die physische und kognitive Leistung und die Gesundheit der Menschen." (Stehr u.a. 1999, S.49) Das Klima wurde in einer solchen Sicht zur universalen Welterklärung: z. B. für so weitreichende Phänomene und Probleme wie die Lebenserwartung, Kriminalitäts- und Selbstmordraten oder für Arbeitsproduktivität. Im Falle der Arbeitsprodukti­ vität argumentierte Huntington mit Produktionszahlen von Akkordarbeitern im amerikanischen Osten zwischen 1910 und 1913. Die Schwankungen der Tagesproduktion korrelierte er mit den täglichen Temperaturschwankun­ gen, was zu Einschätzungen auch im Hinblick auf die Bedeutung jahreszeit­ licher Schwankungen führte. Als vermeintlich ideal erwies sich in dieser Rechnung eine Außentemperatur von 15 oe. Im Jahresverlauf stieg die Pro­ duktivität bis zum Juni, sank im Laufe des Sommers und erreichte im Okto­ ber/November neue Höhen. Huntington erstellte weiter eine Weltkarte der "klimatischen Energie", wobei er Temperaturmessungen von mehr als 1000 Stationen verwendete, und rechnete seine Ergebnisse in globalem Maßstab hoch. So wurden klimatische Differenzen in Abhängigkeit von mehr oder weniger fixen Klimazonen zum Schlüssel für Leistungsunterschiede - und weiter für kulturell-zivilisatorische Differenzen überhaupt. "Klimatische Be­ dingungen konstituieren ein eindeutiges Optimum (und umgekehrt: eine Gegenseite ) und mit ihm variiert der Fortschritt der Zivilisation und die Qualität der Menschen." (zit. nach Stehr u.a. 2000, S. 189; Übers. v. Verf.) Das hatte natürlich rassistische Implikationen. Allerdings war Huntington mit solchen Analysen nicht allein. Es genügt aber, ihn hier als famosen Re­ präsentanten einer Denkrichtung zu präsentieren, die in den 1950er und 1960er Jahren noch lebendig in Erinnerung war. E. Le Roy Laduries Kritik

Le Roy Ladurie lehnte vor diesem Hintergrund jede Verbindung von Klima und Geschichte ab: Alle Versuche, Klimaschwankungen und Men­ schengeschichte zu verbinden, sollten suspendiert werden. Das galt auch für das besonders in den Wirtschaftswissenschaften und unter einigen Wirt­ schaftshistorikern verbreitete zyklische Denken, das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert besonders verbreitet war. Auch Eduard Brückner (1862-1927), der als einer der Ersten den Wert schriftlicher Zeugnisse als Quelle für die vorinstrumentelle Geschichte des Klimas erkannte, war die­ ser Denkrichtung verpflichtet. Le Roy Ladurie bezeichnete die Fixierung auf zyklische Klimaschwankungen als "zyklen-versessen". Ein Forscher gehe sogar so weit, den Wasserstand der Seine für das Jahr 2000 vorherzusagen. "Solche Forscher verhalten sich zur realen Geschichte des Klimas wie der Stein der Weisen zu Sauerstoff." (Le Roy Ladurie 1972, S. 11; Übers. v. Verf.)

E

Emmanuel Le Roy Ladurie wurde 1929 in Les Moutiers-en-Cinglais geboren. Sein Vater war Landwirtschaftsminister des Vichy-Regimes unter Marschall petain. Emmanuel Le Roy Ladurie trat

1945 "aus Opposition gegen den Vater" der Kom­ 1963 wieder verließ. Er schloss

munistischen Partei Frankreichs bei, die er erst

sein Studium der Geschichte an der französischen Elitehochschule, der Ecole nor­ male superieure, ab und wurde an der Universität Paris promoviert. Die Disserta­ tion "Die Bauern des Longuedoc" ("Les paysans de Languedoc",

22

1966) wurde in

Zur Geschichte der Historischen Klimatologie ------

I

mehrere Sprachen übersetzt. Le Roy Ladurie wurde nach verschiedenen Zwi­ schenstationen Professor am College de France. 1967 veröffentlichte er die kli­ mageschichtliche Pionierstudie "Histoire du climat depuis I'an mil", 2004 dann einen Zweibänder zum gleichen Thema mit dem Titel "Histoire humaine et com­ paree du climat".

Die Absage an jeden Determinismus war für Le Roy Ladurie Voraussetzung

Klimageschichte als

für die einzige mögliche Form der Klimageschichte: eine "Geschichte ohne

"Geschichte ohne

Menschen". Die historische Klimaforschung sollte sich darauf beschränken,

Menschen"

aus den Archiven der Gesellschaft Daten zu sammeln, indirekte Informatio­ nen über das Wetter für die Zeit vor Errichtung der Messnetze in Europa, die dann im günstigsten Fall zu einer Klimageschichte verbunden werden konn­ ten. Der Klimadeterminismus hatte freilich nicht nur die historische Klimafol­ genforschung diskreditiert. Forscher wie Charles E. P. Brooks hatten z. B. aus

Bereinigung histori­ scher Klimaproxys

Migrationsdaten auf Klimabedingungen während der Völkerwanderungszeit geschlossen, was offensichtlich ein umgekehrter Determinismus ist. Für Le Roy Ladurie und andere galt es daher, die Klimageschichte im restriktiven Sinne der bloßen Rekonstruktion früherer Klimaverhältnisse auch davon zu befreien. Indirekte Klimainformationen (proxydaten) mussten kritisch darauf geprüft werden, wie zuverlässig sie über welche Klimagrößen (Temperatur, Niederschlag usw.) Auskunft zu geben vermochten. Datenquellen mit ho­ hem gesellschaftlichen "Störfaktor" waren unbrauchbar. Historisierung des Klimas "Das Klima hängt von der Zeit ab. Es variiert; es ist Gegenstand der Verän­ derung; es hat eine Geschichte." (Le Roy Ladurie 1972, S. 7; Übers. v. Verf.) Diese prononcierte Feststellung erscheint heute selbstverständlich, ja banal. Damals aber war die Idee der Wandelbarkeit des Klimas in historischer Zeit gerade erst etabliert. Ideengeschichtlich setzt die Historische Klimatologie eine radikale Historisierung des Weltklimas voraus, genauer gesagt den Be­ griff der Klimaänderung (Klimawandel). Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich diese Idee in der Klimatologie Raum verschafft. Die Theorie der Eis­ zeiten von Jean Louis Agassiz (1807-1873) und anderen war Teil eines neuen geologischen Zeitverständnisses, das alle biblisch geprägten Zeitvor­ stellungen von Geschichte, die die Wissenschaft noch im 18. Jahrhundert weitgehend beherrscht hatten, sprengte. Die Entdeckung der Eiszeiten war

Entdeckung der

ein erster Schritt dahin, das Klima nicht mehr als Konstante zu betrachten.

Eiszeiten

Vom Klimawandel in einer Dimension von mehreren Tausend, Zehntausend oder Hunderttausend Jahren zur Akzeptanz der Idee eines solchen Wandels in kürzeren Zeiträumen von mehreren Jahrzehnten oder Jahrhunderten war es jedoch ein weiter Weg. Natürlich gab es Einzelne, die auch für historische Zeiten Klimaschwan­ kungen annahmen. Eine der ältesten bekannten Studien, die einen Klima­ wandel durch Entwaldung diagnostizierte und seine Auswirkungen auf die

lokale Klimaände­ rung durch Entwaldung

menschliche Zivilisation diskutierte, stammt aus der Feder von Hugh Wil­ liamson (1735-1819), einem der Unterzeichner der amerikanischen Verfas­ sung. Williamson veröffentlichte 1770 einen Vortrag, in dem er den angeb­ lich in einigen Kolonien Nordamerikas zu beobachtenden Klimawandel

23

11

.

11

Historische Klimatologie heute "

------

(i.O. change of climate) zu erklären versuchte. Gestützt auf Observationen in Pennsylvania erklärte er sich die Tatsache durchschnittlich milderer Win­ ter und wärmerer Sommer mit der Kultivierung, insbesondere der Entwal­ dung des Landes. Dahinter stand im Wesentlichen die These, dass eine Ver­ größerung der glatten Erdoberflächen durch Reflexion der Sonneneinstrah­ lung zu einer Erwärmung der Luft führe. (Heute nimmt man für diese Veränderung der Albedo das Gegenteil an.) Der letztlich anthropogene Kli­ mawandel, so mutmaßte Williamson, würde vor allem den Anbau von Nutzpflanzen verändern, also Auswirkungen auf die Agrikultur haben. Da­ rüber hinaus erwartete er positive Wirkungen auf die menschliche Gesund­ heit, insbesondere durch das Verschwinden von Sümpfen. Im Ganzen schätzte er den Wandel positiv ein. Wald-Klima-Debatte

Die Idee, dass Waldrodung eine Veränderung lokaler Klimate bewirken

im 19.jh.

könne, hat ihre Wurzeln in der antiken Meteorologie bei Theophrastos (371/0-287/6 v. Chr.), einem Aristoteles-Schüler. Der Diskurs über Wald, landwirtschaftliche Bearbeitung und Klima erhielt neuen Antrieb mit der eu­ ropäischen Kolonisierung Amerikas. Alexander von Humboldts Studien zum Valencia-See in Venezuela entfalteten dabei eine nachhaltige Wir­ kung. Auch Jean Baptiste Boussingaults (1802-1887) Economie rurale (1843) trug dazu bei, dass die Debatte für einige Jahrzehnte am Leben ge­ halten wurde. In Nordamerika war George Perkins Marshs (1801-1882) Buch Man and Nature (1864) von besonderer Bedeutung für eine breite Rezeption der europäischen Wissenschaftler. Im dritten Kapitel über die Wälder erörterte er umfassend deren klimatisch-regulativen Eigenschaften und ihre Schutzfunktion. Von Williamsons optimistischer Einschätzung der Entwaldung war wenig übrig geblieben. Marshs Buch war ein Plädoyer für den Wald und damit indirekt für eine Rückkehr der Wildnis. Solche Auffas­ sungen stehen dann auch hinter den Visionen von der Bewaldung des ame­ rikanischen Westens und seiner Wüsten. Der Wald sollte bei der Besiedlung der Great Plains zum Regenspender werden. Verschiedene Gutachten der US-Regierung belegen dies. Die Zusammenhänge sind vor allem von ameri­ kanischen Umwelthistorikern untersucht worden. Der Fokus lag dabei je­ doch auf der Waldgeschichte, weniger auf dem Problem des Klimawandels und seiner anthropogenen Faktoren. Die Klima-Wald-Debatte wurde pa­ rallel auch in Europa geführt.

"Brücknerische

Ein anderer Ansatz zur Frage des Klimawandels war Eduard Brückners

Perioden"

Theorie 35-jähriger Klimaperioden (sog. Brücknersche Perioden). Weitere wichtige Werke, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Klimawandel und seine historische Bedeutung betrachteten, stammen von dem Briten Charles Ernest Pelham Brooks (1888-1957) und dem Deutschen Wilhelm R. Eckardt (1879-1930). Für die USA sind Werke von Andrew Ellicott Douglass (1867-1962), der die Untersuchung von Baumringen auf eine neue Stufe brachte, und Arthur Philemon Coleman (1852-1939) zu nennen. Die impo­ santesten Figuren dürften jedoch Robert DeCourcy Ward (1867-1931) und der bereits erwähnte Ellsworth Huntington sein. Wie Huntington waren viele der genannten Klimaforscher Deterministen, wenn es um soziokultu­ relle oder historische Fragen ging. Trotz der genannten Ideen des Klimawandels blieb in der Meteorologie weitgehende Klimakonstanz bis ins 20. Jahrhundert die leitende Annahme.

24

Zur Geschichte der Historischen Klimatologie ------

Zwar war der Wechsel von Warm- und Kaltzeiten im Pleistozän inzwischen eine wissenschaftlich anerkannte Tatsache. Beim historischen Klima wäh­ rend des Holozän, insbesondere aber seit der Antike, gingen Forscher wei­

Meteorologie: Normalperioden und Klimakonstanz

terhin von konstanten Verhältnissen aus. Das gemessene Klima im 19. Jahr­ hundert - in einigen Städten Europas und Nordamerikas gab es bereits Messreihen von mehr als 100 Jahren - deutete in den Augen der Meteorolo­ gen offenbar nicht auf signifikante Veränderungen hin. Es schien keinen Grund zu geben, Klima anders als durch Mittelwerte zu beschreiben. "So­ mit wurde die Klimatologie im Grunde zur Buchhaltung der Meteorologie", schrieb Lamb (Lamb 1989, S. 26). Diese Auffassung blieb offenbar noch bis in die 1960er Jahre tonangebend, obwohl ausreichende Evidenz vorhanden war, um sie anzuzweifeln. Die Konferenz der Internationalen Organisation für Meteorologie (WMO) definierte 1935 die Periode zwischen 1901 und 1930 als "klimatische Normalperiode". "Heute", so Lamb weiter, gelte diese Zeit "als eine überaus anormale Periode, obwohl sie von den folgen­ den 30 Jahren (1931 bis 1960) übertroffen wurde, die ihrerseits den ersten Zeitabschnitt als ,neue Normalperiode' ablösten". Vermutungen historischen Klimawandels waren freilich sehr viel älter.

Skandinavische und

Der Niedergang der Grönlandwikinger wurde schon 1824 von dem schwe­

isländische Debatte

dischen Baron Ehrenheim (1753-1828) mit einem Klimawechsel im späten Mittelalter erklärt: Die Temperaturen in Nordeuropa hätten im 11. Jahrhun­

um Klimawandel im Spätmittelalter

dert einen Höhepunkt, im 15. einen Tiefpunkt erreicht (Ehrenheim 1824). Ob diese Theorie als erste Andeutung der später akzeptierten Unterschei­ dung zwischen Mittelalterlicher Warmperiode (MWP) und Kleiner Eiszeit gelten darf, sei dahingestellt. Sicher ist, dass sie von Otto Pettersson (1848-1941) und Edvard Bull (1881-1931) aufgenommen und weiterent­ wickelt wurde (pettersson 1914; Bull 1915; Johnsen 1939, S. 132). Es gibt etwa parallel auch eine isländische Tradition: Hier dominierte der Unifor­ mitarist Porvaldur Thoroddsen (1855-1921), der die Idee eines Klimawan­ dels ablehnte. Die Auffassungen von Bull und Pettersson fanden bei Oscar Albert Johnsen Resonanz und in der Folge Eingang in die schwedische und norwegische Wirtschaftsgeschichte. Diese Debatten liegen etwas früher als der Vorschlag des amerikanischen Glaziologen Fran