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German Pages 112 [114] Year 2013
Dietmar Schenk
Kleine Theorie des Archivs
Geschichte Franz Steiner Verlag
Dietmar Schenk Kleine Theorie des Archivs
Dietmar Schenk
Kleine Theorie des Archivs
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Handschrift aus dem 19. Jahrhundert (Joseph Joachim, Violinist und Hochschuldirektor, 1871, Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. 2., überarbeitete Auflage, 2014 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008 Druck: SDL, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10644-3
Dem Andenken meines Vaters
INHALT Vorwort zur Neuauflage...................................................................................... 9 Vorwort................................................................................................................ 11 I. Ausgangspunkte............................................................................................. 13 1. Zum Thema............................................................................................... 13 2. Die Banalität der Informationstheorie.......................................................15 3. Archiv und Geschichte.............................................................................. 19 II. Alltag und geschichtliche Erfahrung............................................................. 24 1. Veränderlichkeit: der Strom des Geschehens........................................... 26 2. Unverfügbarkeit oder Das Kleine und das Große……............................. 29 3. Der Blick ins Weite: Lebenserfahrung und historische Bildung.............. 33 III. Gedächtnis und Archiv................................................................................. 36 1. Individuelles und kollektives Gedächtnis......................:.......................... 36 2. Schrift, Registratur, Archiv....................................................................... 39 3. Distanz zur Vergangenheit: die kritische Einstellung der Historiker....... 41 IV. Das historische Material............................................................................... 45 1. Die Fremdheit der Spuren......................................................................... 45 2. Quellen, Überreste und historische Fragen............................................... 47 3. Wie ergiebig sind die Quellen?................................................................. 51 V. Was ist ein Archiv?....................................................................................... 57 1. Die Archivlandschaft – Mitte und Peripherie........................................... 57 2. Wer benutzt Archive?............................................................................... 60 3. Das Archiv als Struktur. Zur Definition archivalischer Bestände............ 63 VI. Der Beruf des Archivars............................................................................... 67 1. Staub und verborgene Schätze.................................................................. 67 2. Die Tradition der Berufswissenschaft....................................................... 70 3. Historiker-Archivare................................................................................. 72 VII. Normen der Archivierung..........................................:................................. 76 1. Ordnung im Archiv: das Provenienzprinzip............................................. 77 2. Was wird archiviert? Bewertung und Überlieferungsbildung.................. 82 3. Hüten, Übersetzen, Gestalten…………………........................................ 87
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Inhalt
VIII. Ein Bericht aus der Werkstatt..................................................................... 90 1. Anfänge eines Archivs.....................................................:........................ 91 2. Infragestellung.......................................................................................... 95 3. Archivisches Sammeln.............................................................................. 97 IX. Der Beitrag der Archive zur Erinnerungskultur........................................... 100 1. Wozu Archive?......................................................................................... 100 2. Die Archive im gesellschaftlich-kulturellen Wandel ............................... 101 3. Ausblick: Zum archivarischen Ethos........................................................ 106 Personenregister...................................................................................................111
VORWORT ZUR NEUAUFLAGE Die Kleine Theorie des Archivs wendet sich fünf Jahre nach ihrem Erscheinen von neuem an interessierte Leserinnen und Leser. Natürlich ist es für den Autor eine erfreuliche Nachricht, dass das Buch vergriffen ist, aber nach wie vor gebraucht wird. Einer Neuauflage habe ich auch deshalb gern zugestimmt, weil mir die Gelegenheit willkommen ist, am Manuskript kleine Änderungen vorzunehmen. Der Zeitpunkt ist günstig: Seit Juli dieses Jahres liegt unter dem Titel „Aufheben, was nicht vergessen werden darf“ eine Problemgeschichte des Archivierens vor, die ich im Anschluss an die Kleine Theorie des Archivs erarbeitet habe. 1 Die frühere Schrift fast gleichzeitig in einer überarbeiteten Fassung vorlegen zu können, ist ein glücklicher Umstand. 2 Das Buch trägt, wie es nicht anders sein kann, die Spur seiner Entstehung vor einem halben Jahrzehnt an sich. Größere Eingriffe schienen mir aber nicht nötig zu sein; das Plädoyer zugunsten des historischen Archivs bleibt geboten. So ging es darum, den Text durchzusehen, an einzelnen Stellen zu verbessern und zu aktualisieren. Die gute Resonanz, die das Buch erfahren hat, stand mir bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit ihm vor Augen. In zwei Punkten liegt mir daran, zur Rezeption mit wenigen Worten Stellung zu nehmen. Zunächst eine Bemerkung zum Titel: Mit dem Begriff „Theorie“ verbinden sich offenbar nach wie vor zwiespältige Erwartungen. Ich hoffe, dass der Leser im Folgenden gerade nicht auf eine abgehobene Themenlage, unverständliche Gedankenführung und verquaste Sprache trifft, wie sie für schlechte Theorie kennzeichnend sind. Mir liegt viel an einer ‚Erdung‘ aller Überlegungen in der Praxis des Archivierens. Wenn mit Blick auf die erzählerischen Züge des Buches geschrieben wurde, dass ich kein eigentlicher Theoretiker sei, so ist die Ausrichtung zutreffend erfasst. Allerdings glaube ich, dass für dieses Vorhaben der Begriff der Theorie sehr wohl reklamiert werden kann. theoria bedeutet ja ursprünglich nichts anderes als „Betrachtung“, „Anschauung“. Eine Archivtheorie, wie sie mir vorschwebt, ist weder esoterisch noch extravagant; sie steht mitten in der Archivarbeit, sofern sich diese auf Gründe und Argumente zu stützen sucht, und das ist gewiss weithin der Fall. Und zweitens: Erfreulicherweise reicht die Rezeption des Buches – in Übereinstimmung mit seiner Zielsetzung – über Archivarskreise hinaus. In der weite1 2
Dietmar Schenk: „Aufheben, was nicht vergessen werden darf.“ Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt. Stuttgart: Franz Steiner, 2013. Darüber hinaus liegt jetzt ein Sammelband vor, den ich gemeinsam mit Rainer Hering herausgegeben habe: Wie mächtig sind Archive? Perspektiven der Archivwissenschaft. Hamburg 2013. Er geht auf eine Tagung Macht und Ohnmacht der Archive. Archivarische Praxis, Archivtheorie und Kulturwissenschaft zurück, die am 27. Oktober 2011 in Berlin stattfand.
Vorwort zur Neuauflage
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ren Öffentlichkeit werde ich zu Recht als professioneller Archivar wahrgenommen; in dieser Eigenschaft melde ich mich ja in diesen Zeilen engagiert zu Wort. Die Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung etwa bezeichnet mich als „Archivar ‚alter Schule‘“.3 Mit dieser Charakterisierung bin ich gern einverstanden, doch ist mir daran gelegen, nicht als bloßer Traditionalist wahrgenommen zu werden. Denn im Folgenden geht es nicht um Tradierung, sondern um kritische Prüfung. Diese ist allerdings nur in Kenntnis der Tradition möglich. Wir sollten auf die von unseren Vorgängern gewonnenen Einsichten nicht verzichten, und auch aus ihren Fehlern und Schwächen können wir lernen; wenn wir ihr Vermächtnis klug nutzen, stehen wir, wie ein Wissenschaftshistoriker im Anschluss an Isaac Newton sagt, auf der Schulter von Riesen. 4 Berlin, im Oktober 2013
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Dietmar Schenk
„Archiv und Geschichte“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 5. Juli 2008. Robert K. Merton: „Auf den Schultern von Riesen“. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt/M. 1980 (engl.: On the Shoulder of Giants, 1965).
VORWORT Vom Archiv ist im intellektuellen Gespräch heute oft die Rede. Wäre dies ein Indikator für die Befindlichkeit des Archivwesens, so ginge es ihm gut. In den Kulturwissenschaften ist der Archivbegriff ebenso beliebt wie in der Informationstechnik. Doch kommt die Intensität des Diskurses auch der Sache des Archivs zugute? Näher besehen, stellt sich die gegenwärtige Situation als ambivalent dar: Zwar ist die Aufmerksamkeit für vieles, was mit Archiven zu tun hat, gewachsen, doch stehen manche Gesichtspunkte, die aus archivarischer Sicht wesentlich sind, eher im Hintergrund. Deshalb ist es nicht überflüssig, im Lichte der heutigen Debatten einmal den Blick auf die Grundlagen der Archivarbeit zu richten und den Versuch zu unternehmen, das historische Archiv gedanklich zu fassen. Unter einem Archiv versteht man einen Ort der fachkundigen Bewahrung alter Urkunden, Akten und anderer Dokumente, die vornehmlich als Geschichtsquellen von Interesse sind. Der institutionelle Typus des historischen Archivs hat sich in Europa seit dem 19. Jahrhundert zusammen mit der modernen Geschichtswissenschaft entfaltet. Die professionellen Verfahrensweisen, mit Archivalien umzugehen, sind in einer eigenen Disziplin, der Archivwissenschaft, festgelegt. Die über die Fachwelt hinausweisenden Resultate dieser Berufswissenschaft sind aber viel zu wenig bekannt und fließen in die allgemeinen Debatten kaum ein. Dieses Defizit ein Stückweit zu beheben und Brücken zu schlagen, ist ein Ziel des vorliegenden kleinen Buches. In dieser Absicht soll, zumindest im Umriss, eine Theorie des Archivs vorgelegt werden. Der Versuch, das Archiv zu denken, fügt sich den vielfältigen Bemühungen, Geschichte zu denken, hinzu. Der Zusammenhang von Archiv und Geschichte kann beim Nachdenken über das Archiv nicht übergangen werden, denn das Fundament jeglicher Archivarbeit liegt im kritischen Geist der Historie: des historischen Denkens und der Geschichtswissenschaften. Der Leser wird rasch bemerken, dass dieses Buch von einem Archivar geschrieben ist, von jemandem, der den Beruf tatsächlich ausübt. Ich habe die Archivschule Marburg absolviert, jene Ausbildungsstätte, die im Nachkriegs-Deutschland dank des Fast-Monopols, das sie innehatte, so etwas wie eine Orthodoxie der Archivwissenschaft formte. Nach der Ausbildung wurde mir die Aufgabe übertragen, das Archiv der Berliner Universität der Künste aufzubauen. Diese Tätigkeit ist an einer Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst, Museum, Bibliothek und Archiv angesiedelt. So war es möglich, Einblick in benachbarte Arbeitsgebiete zu nehmen. Darüber hinaus lernte ich die Gefährdungen archivarischer Arbeit und die aktuelle Notwendigkeit, sie zu rechtfertigen, kennen – in Sparzeiten und angesichts schwieriger kultureller wie politischer Rahmenbedingungen. Praktische Erfahrungen fließen also in die Reflexion mit ein. Sie nimmt von der Profession des
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Vorwort
Archivars, wie sie sich im Berufsalltag bewährt, ihren Ausgang. Ferner stützt sie sich auf die methodischen Kenntnisse und das Ethos eines Historikers, der mit Quellen umzugehen weiß. Um als Archivar und Historiker das eigene Metier besser verstehen zu können, muss man sich freilich auch in den einschlägigen Geschichtstheorien umsehen. Zwar mag ein grenzgängerisches Unternehmen, wie es hier begonnen wird, Risiken in sich bergen, doch gibt es namhafte Referenzen. Nicht zuletzt kann ich mich auf das Vorbild meines Lehrers Karl-Georg Faber berufen. In seiner Theorie der Geschichtswissenschaft, in der er nicht umhin konnte, sich auf Wissenschaftstheorie und Geschichtsphilosophie einzulassen, steht zu lesen: „Der Historiker, der sich in diese Diskussionen einschaltet und eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen sucht, hat es (...) nicht leicht“. Denn er ist in Gefahr, sich zwischen alle Stühle zu setzen: „von dem Philosophen“ wird er „als naiv“ und „von dem Fachkollegen als zu theoretisch eingestuft“. 1 Die Lage, in der ich mich befinde, ist wohl ähnlich. Doch vielleicht gibt es eine bestimmte Art, Fragen der Archivtheorie aufzugreifen, die speziell einem Archivar möglich und für Nicht-Archivare eine Bereicherung ist. Manches, was in diesem Buch behandelt wird, konnte ich im Laufe der Jahre mit meinen Kollegen im Archiv der Universität der Künste Berlin besprechen; davon habe ich vielfältig profitiert. Karen Krukowski hat sich darüber hinaus die Mühe gemacht, den Text in einem frühen Stadium durchzusehen, wofür ich ihr dankbar bin. Ganz besonders danke ich Beatrix Himmelmann, University of Illinois at Urbana-Champaign, deren kritische Lektüre des Manuskripts mir unerlässlich war. Berlin und Tecklenburg, im Oktober 2007
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Dietmar Schenk
Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft, 3., erw. Aufl. München 1974, S. 17.
I. AUSGANGSPUNKTE 1. Zum Thema Der Begriff des Archivs wird heute erstaunlich weit gefasst und schillert in vielen Farben. Der Gebrauch des Wortes wirft deshalb die Frage auf, wo die Mitte des begrifflichen Feldes zu finden ist. Hierzu einige Beobachtungen. Als vor einigen Jahren Walter Benjamins Archive in einer Berliner Ausstellung thematisiert wurden, ging es um eine Façon individuellen Erinnerns, den Umgang eines Einzelnen mit seiner Vergangenheit und deren Spuren, um das Sammeln als persönliche Vorliebe und um die Materialien philosophischen wie literarischen Schaffens. 1 Ein Behördenarchiv, in dem sich eine arbeitsteilige Geschäftstätigkeit niederschlägt, ist demgegenüber etwas ganz anderes. Doch ist die Ausweitung des Begriffs, die anhand des Modells der Literaturarchive vorgenommen wird, noch maßvoll, verglichen mit manchen anderen Verwendungen. Um ein fast absurdes Beispiel heranzuziehen: Was ist von einem „Archiv des verbrauchten Lebens“ 2 zu halten, das entsteht, wenn jemand nichts wegwerfen kann und selbst Dinge der täglichen Lebensführung aufhebt, etwa benutzte Joghurtbecher? Derartige Archive sind von einer Rumpelkammer oder einem Schuttabladeplatz kaum zu unterscheiden. Dass der Begriff eine gewisse Bandbreite aufweist, ist freilich nicht ausschließlich ein Phänomen jüngeren Datums. Seit langem taucht er als Bestandteil des Namens für Zeitschriften auf, die über die Jahre hinweg eine stattliche Sammlung von Beiträgen über ihr Fachgebiet zusammentragen; so bietet sich Archiv für Begriffsgeschichte oder Archiv für Kulturgeschichte als angemessener Titel an. Bei einem Archiv kann es sich – paradoxerweise – auch um eine bestimmte Art von Bibliothek handeln, etwa eine Archivbibliothek wie die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig und Frankfurt/Main, in der die vorhandenen „Medieneinheiten“ wie Monographien, Zeitschriften, Tonträger nicht etwa nach wenigen Jahren ausgesondert werden, wenn sie veraltet, zerfleddert oder in anderer Weise abgenutzt sind. Oder ist das Archiv heute in erster Linie eine Speicher- beziehungsweise Ablagefunktion in Systemen elektronischer Datenverarbeitung (elektronisches Archiv)? Die Belege eines ausfransenden Sprachgebrauchs ließen sich vermehren. Die Begriffe des Archivs und der Archivierung sind ungeschützt und werden an1 2
Vgl. Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, hg. v. Walter Benjamin Archiv. Frankfurt/M. 2006. Das Buch erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin, 3. Oktober – 19. November 2006. So Anton Thuswaldner in seiner Rezension von Evelyn Grill: Der Sammler. Salzburg 2006, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. September 2006, S. 34.
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I. Ausgangspunkte
gesichts wachsender Beliebtheit und modischer Präferenzen immer diffuser; das zeigen manche der erwähnten Beispiele. Angesichts der Vielfalt der Verwendungen fehlt es dem Begriff an Randschärfe. Doch nicht damit befasst sich das vorliegende Buch. Im Folgenden wird vielmehr ein bestimmter abgrenzbarer Typus von Archiv thematisiert, das historische Archiv. Trotz aller Eskapaden und Merkwürdigkeiten, die sich in der heutigen Sprachpraxis zeigen, ist nicht zu übersehen, dass diese Variante von Archiv, geschichtlich gesehen, in der Mitte des semantischen Feldes steht. Historische Archive sind heute ein unverzichtbarer Teil der Geschichts- und Erinnerungskultur. Zu einem großen Teil sind sie „öffentliche Archive“ im Sinne der Archivgesetzgebung: Einrichtungen der öffentlichen Hand, die für Nutzer zugänglich sind. 3 Die Gruppe dieser Archive ist ihrerseits vielfältig gegliedert. Ihr gehören Staats-, Stadt-, Kirchen-, Wirtschafts- und Hochschularchive an; sie beherbergen einen großen Teil der mehr als tausendjährigen Überlieferung schriftlicher Geschichtsquellen, die der mitteleuropäische Raum aufweist. Im MinervaHandbuch sind zahlreiche dieser Archive nachgewiesen: von A, beginnend mit dem Stadtarchiv, dem Bischöflichen Diözesanarchiv und dem Domarchiv Aachen bis Z, endend mit dem Archiv des Zisterzienserklosters Zwettl, Niederösterreich, und dem Stadtarchiv Zwickau. 4 Die historischen Archive haben sich seit dem 19. Jahrhundert als Institutionen der Forschung und Recherche ausgebildet. Ihr Aufstieg begleitete die Entfaltung des modernen historischen Denkens, und mit ihnen entwickelte sich ein eigenes Fachgebiet, die Archivwissenschaft, die gelegentlich auch als Archivkunde oder Archivistik bezeichnet wird. 5 Im Weiteren soll der Zusammenhang von Archiv und Geschichte allerdings nicht historisch, sondern als Phänomen unserer Gegenwart aufgefasst werden. Aber ist es überhaupt nötig, eine funktionierende und als professionell anerkannte Praxis wie diejenige der Archivare, die doch den fachgerechten Betrieb der Archive ohne Weiteres garantiert, einer Reflexion ihrer Grundlagen und Voraussetzungen zu unterziehen? Praktiker, die nicht über den Tellerrand schauen wollen, werden diese Frage verneinen. Für eine bejahende Antwort sprechen aber sowohl theoretische als auch praktische Gründe: – Es ist sinnvoll, dass sich die Archivare um ein hohes Maß an vernünftiger Durchdringung ihres eigenen Metiers bemühen; Reflexivität ist eines der Kennzeichen aufgeklärten und wissenschaftlichen Denkens. – Angesichts der Ausdehnung des Archivbegriffs ins beinahe Beliebige ist es angebracht, die Besonderheit der historischen Archive herauszustellen. 3 4 5
Vgl. z.B. Archivgesetz des Landes Berlin – ArchGB – vom 29. Nov. 1993, § 10. Archive im deutschsprachigen Raum (Minerva-Handbücher. Archive). 2. Aufl., 2 Bde. Berlin 1974. – Auf die Frage, was ein historisches Archiv ausmacht, wird im Folgenden immer wieder zurückzukommen sein (vgl. vor allem Kap. III, 2 und das gesamte Kap. V). Im Folgenden soll zwischen Archivwissenschaft und Archivistik unterschieden werden: Wenn der Aspekt der angewandten Berufswissenschaft im Vordergrund steht, soll von Archivwissenschaft gesprochen werden; von Archivistik dagegen, insoweit die Ebene einer Theorie des Archivs mit umschlossen ist oder zumindest in den Blick rückt.
1. Zum Thema
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Und aufgrund des tiefgreifenden Wandels aller Lebensverhältnisse im beginnenden 21. Jahrhundert, dem „Zeitalter der Ökonomisierung“6 und der digitalen Revolution, muss sich auch die archivarische Praxis auf neue Gegebenheiten einstellen. Damit dies gelingt, ist die Wissenschaft vom Archiv darauf angewiesen, sich die Fundamente der Archivarbeit vor Augen zu führen; nur so kann sie sich zeitgemäß positionieren. Im heutigen Diskurs sind die Archivare weit davon entfernt, die Deutungshoheit über den Leitbegriff ihrer Tätigkeit zu besitzen. Das kann ganz praktische Folgen haben: Ist es nicht konsequent, die Funktionen eines herkömmlichen Archivs zwischen Rechenzentrum und kulturwissenschaftlichem Institut aufzuteilen, wenn sich Informationstechnik und Kulturwissenschaft den Begriff angeeignet haben und für die Belange von Archiven eine gewisse Zuständigkeit reklamieren? Allein aufgrund dieser heiklen Frage ist es angebracht, die Argumente, die für Idee und Institution des historischen Archivs sprechen, zusammenzutragen und auszuformulieren. Die Archive verändern sich im Sog der Geschichte. Ohne ein fundiertes Urteil darüber, was an der heutigen Praxis des Archivierens wesentlich und für die Zukunft tragfähig ist, werden sie jedoch nicht erneuert werden können. Sie wären dann den Tendenzen der Zeit haltlos ausgeliefert. So ist es ein Erfordernis, Archivarbeit – durchaus im Interesse einer vernünftigen Selbstbehauptung – auf ihre Grundsätze und Voraussetzungen hin zu befragen. Ein solches Nachdenken dient der Orientierung im weitesten Sinn, aber letztlich auch der Legitimität der Institution. Innerhalb des nachfolgenden Gedankengangs wird aber auch die Praxis des Archivierens in ihren Elementen sichtbar; diese zu benennen, ist ein weiteres Ziel der Archivtheorie, die hier vorgelegt wird. Im Zuge der Erörterung soll schließlich deutlich werden, dass es ein Kontinuum der Archivarbeit gibt, das die Nutzer der Archive und die berufstätigen Archivare umgreift. Das Archiv ist in gewisser Weise ihr gemeinsames, also: unser Anliegen. 2. Die Banalität der Informationstheorie „Archivkunde“ war mit den Geschichtswissenschaften stets eng verbunden. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die Einheit von Archiv und Geschichte als Selbstverständlichkeit und wurde kaum reflektiert. Archivare verstanden sich als Historiker und verkörperten in ihrem Wirken eine als sinnvoll vorausgesetzte Verbindung historischen Wissens und archivarischer Befähigung. 7 Dieser Zusammenhang war so vertraut, dass wohl gerade deshalb die Frage einer näheren Begrün6 7
Vgl. Otfried Höffe: „Vom Nutzen des Nutzlosen. Zur Bedeutung der Philosophie im Zeitalter der Ökonomisierung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005), H. 5, S. 667–678. Programmatisch artikuliert etwa im Titel der Festschrift für Heinrich Otto Meisner, einen der Pioniere der Archivistik: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Berlin (-Ost) 1956.
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I. Ausgangspunkte
dung nicht aufkam. Heute dagegen ist die Berufung auf das Ideal des HistorikerArchivars seltener geworden und manchmal nur ein Lippenbekenntnis. In der letzten Generation entfernten sich die Archivare aus verschiedenen Gründen von der Geschichtswissenschaft; die Verbindung mit ihren traditionellen Domänen in diesem Feld wie den historischen Hilfswissenschaften lockerte sich.8 Die Archivwissenschaft war zugleich bemüht, sich als eigenständige Disziplin zu beweisen. Diese Ambition muss nicht unbedingt dazu führen, dass die fruchtbare Verbindung mit den historischen Kulturwissenschaften ein Ende findet. Doch genau diese Gefahr besteht heute – woran übrigens beide Seiten, Historiker und Archivare, ihren Anteil haben. Vor anderthalb Jahrzehnten wurde im archivwissenschaftlichen Fachdiskurs besonders deutlich, dass die Disziplin nach einem neuen Selbstverständnis Ausschau hielt. Die Nähe zu nicht-historischen Disziplinen wurde nun herausgestellt: zum einen zur Informationswissenschaft, der Berufswissenschaft der Bibliothekare, zum anderen zur Verwaltungswissenschaft. 9 Beide Wahlverwandtschaften bestehen heute fort, auch wenn programmatische Äußerungen derzeit eher rar gesät sind. 10 Die grundlegende Frage, welchen Weg die Archivwissenschaft nehmen wird, taucht allerdings unvermeidlicherweise auf, wenn die Herausforderungen der digitalen Welt thematisiert werden. 11 Aber ist die – oft floskelhafte – Zuordnung des historischen Archivs zur Sphäre der Information überhaupt hilfreich? Oder anders ausgedrückt: Wie aussagekräftig oder banal ist der Begriff der Information mit Blick auf die Archivistik? Ein typisches Beispiel für die Anwendung einer informationstheoretischen Denkfigur, mit deren Hilfe der informationswissenschaftliche Ansatz in der Archivwissenschaft untermauert werden sollte, sei angeführt. Es wurde vorgeschlagen, das Sender-Empfänger-Schema als erkenntnistheoretisches Modell zu übernehmen; in der Informationstheorie ist es bekanntlich gängig. Ein Vorgang der Information wird etwa wie folgt beschrieben: „ausgehend von einem Sender (gelangt) eine Nachricht über einen Übertragungskanal an einen Empfänger.“ 12 Zum Verständnis 8
Es gibt aber auch Archivare wie Eckart Henning, die als Gegenbeispiele zu nennen wären. Vgl. ders.: Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. Köln 2000. 9 Vgl. Volker Schockenhoff: „Nur ‚zölibatäre Vereinsamung‘? Zur Situation der Archivwissenschaft in der Bundesrepublik 1946–1996“, in: 50 Jahre Verein deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland. Referate des 67. Deutschen Archivtags 1996 in Darmstadt. Siegburg 1997, S. 163–175, und Angelika Menne-Haritz: „Umrisse einer zukünftigen Archivwissenschaft,“ in: ebd., S. 177–185. 10 Nicht eigentlich programmatisch, wohl aber grundlegend ist ein lesenswerter Aufsatz von Robert Kretzschmar, der den Stand der Archivwissenschaft resümiert: „Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert: Archivische Bewertung, Records Management, Aktenkunde und Archivwissenschaft“, in: Archivar, 63. Jg., Heft 2 (Mai 2010), S. 144-150. 11 Vgl. hierzu besonders Christian Keitel: „Archivwissenschaft zwischen Marginalisierung und Neubeginn“, in: Archivar, 64. Jg., Heft 1 (Februar 2011), S. 33-37. 12 Brigitta Nimz: Die Erschließung im Archiv- und Bibliothekswesen unter besonderer Berücksichtigung elektronischer Informationsträger. Ein Vergleich im Interesse der Professionalisierung und Harmonisierung. Münster 2002, S. 24.
2. Die Banalität der Informationstheorie
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von Archivarbeit trägt diese Vorstellung nun allerdings rein gar nichts bei. Das Theorem hängt in gewisser Weise in der Luft, weil sich mit ihm nicht fassen lässt, was die Besonderheit gerade jener Information ausmacht, die in Archivalien verborgen ist. Es wird ein Sprachbild ins Spiel gebracht, das in einer Nachbardisziplin verbreitet ist, und stillschweigend angenommen, dass gedanklich mehr nicht geleistet werden müsse. Karlfried Gründer, ein Philosoph, hat das Nötige zu dieser Art von rudimentärem Theoretisieren gesagt: „Die Informationstheorien (...) orientieren sich durchweg an der ebenso arroganten wie hilflosen Metapher von Sender und Empfänger; mit ihr ist die Reziprozität ausgeschlossen, der Monolog fixiert.“ Gründer weist darauf hin, dass man mit diesem allzu simplen Modell der Suggestion eines Bildes aufsitzt, das beliebig gewählt ist. Es sei verräterisch, schreibt er, „mit welcher Unbedenklichkeit die Metaphernwahl eine ganz kurze Phase der Technikgeschichte herausschneidet“. Die „Vorstellung vom Rollenwechsel des Senders und Empfängers“ sei in der Metaphorik „sekundär“; sie „schlägt nicht aufs Bild durch“. Im Gegensatz dazu steht „im Spektrum des Kommunikationsbegriffs“ der Dialog. 13 Wenn an späterer Stelle dieses Buches von Begegnungen berichtet wird, so findet das Moment des Dialogischen, in Übereinstimmung mit diesem Hinweis, Berücksichtigung. 14 Von Informationswissenschaft zu sprechen, dient heute als Vehikel, um die unerlässliche Verbindung von Archiv und Geschichte, von Archivwissenschaft und historischer Kulturwissenschaft zurückzudrängen. Man glaubt offenkundig, mit der heraufkommenden Informationsgesellschaft verbündet zu sein und wendet sich von der Archivistik ab. 15 Diese Position ist wenig überzeugend. Denn schauen wir in die Praxis: Im archivarischen Aufgabengebiet gibt es sicherlich Problemlösungen, die in einer Art von Pragmatik des Umgangs mit Information und Informationsträgern auf der Basis des jeweiligen Stands der Informationstechnik wurzeln. Die Frage zum Beispiel, ob im Personenregister digitaler Inventare die Personennamendatei (PND), eine bibliothekarische Normdatei, zu benutzen ist, lässt sich gewiss zum Teil auf der Ebene einer formalen Betrachtung von Informationsprozessen behandeln. Und welche Archivkartons am besten für die Lagerung von Akten geeignet sind, kann auf der Basis von Erfahrungswissen, mit Hilfe eines im weitesten Sinne technischen Sachverstands, ermittelt werden. Aber schon wenn zu überlegen ist, ob ein Archivar in der Verzeichnung von Akten den Titel entsprechend dem ursprünglichen Verwaltungszweck bilden oder den content eher aus heutiger Sicht dokumentarisch erfassen sollte, stößt man auf 13 Karlfried Gründer: „Erfahrung der Geschichte“, in: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte. Göttingen 1982, S. 118–136, hier: S. 127f. 14 Vgl. Kap. VIII. 15 Diese Bemerkungen beziehen sich in besonderem Maße auf den Fachbereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam. Als eine von nur drei Ausbildungsstätten für Archivare in Deutschland ist er einflussreich. – Für die Neuauflage dieses Buches 2013 hätte ich gern auf aktuelle Beiträge zurückgegriffen, die aus archivarischer Sicht den informationswissenschaftlichen Ansatz vertreten und begründen. Leider liegen keine einschlägigen Veröffentlichungen vor.
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I. Ausgangspunkte
die Geschichtlichkeit der Archivalien. Man trifft auf ein Wesensmerkmal des Archivs, das nur im Horizont der Geschichte verstanden werden kann: Archivalien hatten früher bestimmte geschäftliche Zwecke, zu denen das Interesse späterer Archivnutzer sozusagen quer steht. Der Wandel von der Verwaltungsakte zur geschichtlichen Quelle, der für das Archivale grundlegend ist, stellt einen geschichtlichen Prozess dar. Zum Verständnis des Inhalts der Unterlagen ist die Kenntnis des Ursprungszwecks – also ein historisches Wissen – erforderlich, weil nur so der Kontext erschlossen und die enthaltene Aussage adäquat verstanden werden kann. Diese Konstellation ist übrigens für Unterlagen aus der „Epoche des Papiers“ 16 genauso gegeben wie für digitale Dokumente. Die Propagierung eines Berufsbildes, in dem die Verbindung von Archiv und Geschichte zu kurz kommt, wird den Anforderungen der Arbeit in einem historischen Archiv nicht gerecht; ein HTML-Kurs kann die Vertrautheit mit dem Provenienzprinzip, das auch auf digitale Daten anzuwenden ist, nicht ersetzen; dieser genuin historische Grundsatz ist und bleibt für die Archivarbeit konstitutiv. 17 Die verantwortungsvollste archivarische Aufgabe, nämlich die Überlieferungsbildung – das heißt die Auswahl dessen, was ins Archiv aufgenommen werden soll – nimmt der Archivar zwar nicht aufgrund von Geschichtsinteressen wahr, wohl aber in Kenntnis der Geschichtlichkeit der Welt, in der Archivalien einen veränderlichen Wert besitzen. 18 Die Einsicht, dass die Archivistik zu den Wissenschaften der Geschichtskultur gehört, kann durch theoretisierende Fehlgriffe, wie dargelegt, verstellt sein. Hinter dem skizzierten Irrweg steht die handfeste Frage, welchen Weg die Archivwissenschaft einschlägt und wie Lehrplan und Berufsbild der Archivare künftig aussehen. Der bloße Informationswissenschaftler, der den Historiker-Archivar ablösen würde, besäße gewiss technisch-formalen Sachverstand. Man müsste aber befürchten, dass er für die Betreuung eines Archivs kaum besser befähigt wäre als zur Verwaltung eines Ersatzteillagers, sei es für Waschmaschinen oder Rasenmäher. Auch dort geht es um eine bestimmte Logistik: um das Auffinden, Entnehmen, Verbuchen, Auffüllen. Die mit dem Handling von Gegenständen verbundenen Probleme, also die rein logistischen Herausforderungen, würden bewältigt werden; die Eigenart des Archivischen ist damit aber noch überhaupt nicht berührt. Sie rückt erst in den Blickpunkt, wenn die Archive in ihrer Beziehung zur Geschichte thematisiert werden. Andernfalls bleiben die alten, mit dunkler Tinte befleckten Schriftstücke, für die Archivare zuständig sind, bloße physische Objekte. Als etwas Les- und Deutbares sind sie dann unverständlich; die durch sie gegebene Möglichkeit, sich vergangenem menschlichen Dasein zu nähern, ist ausgeklammert. Ein Ansatz, der die Dimension der Geschichte in der Archivarbeit zurückdrängt, greift zu kurz; der Reichtum und die Fremdheit des Archivs lassen sich so nicht einmal erahnen. 16 Vgl. Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. München 2012. 17 Vgl. Kap. VII, 1. 18 Vgl. Kap. VII, 2.
2. Die Banalität der Informationstheorie
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Das Leitbild des Historiker-Archivars mag in seiner überkommenen Ausprägung veraltet sein, weil sich das sozial-kulturelle Umfeld, in dem es sich bewähren muss, stark gewandelt hat. Deshalb ist es umso dringlicher, die Idee des historischen Archivs, der heutigen Problemlage entsprechend und angepasst an eine demokratische, pluralistische Gesellschaft, aufzugreifen und neu auszufüllen – jenseits des Elfenbeinturms! 3. Archiv und Geschichte Die Übergänge vom Nachdenken über das Archiv zum Nachdenken über Geschichte sind fließend. Konzepte der Archivistik sollen deshalb im Folgenden in den Kontext von Phänomenen der Geschichtlichkeit gestellt werden, wobei das Anliegen, die Eigenart des Archivischen herauszuarbeiten, im Mittelpunkt steht. Nehmen wir einführend das Gebiet der Archiv- und Geschichtstheorien als Ganzes in den Blick. Angesichts des beobachteten diffusen Sprachgebrauchs verwundert es nicht, dass auch die Theorieansätze vielgestaltig sind. Die unterschiedlichen Konzepte überschneiden sich zwar, doch sind sie deutlich voneinander getrennt. Um einen ersten Überblick zu bekommen, sollen drei Stränge, die neben der Schuldisziplin der Archivare, der Archivwissenschaft, stehen, unterschieden werden: – die philosophischen und kulturwissenschaftlichen Adaptionen des Archivbegriffs, für die Michel Foucault und Jacques Derrida wichtige Anstöße gaben, – die Theorie der Geschichtswissenschaft, die seit den Zeiten von Johann Gustav Droysen als Historik bezeichnet wird, und schließlich – die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, wie sie etwa Jan und Aleida Assmann vorgetragen haben. Sie ist mit der weitgreifenden Annahme verknüpft, dass sich „um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut“. 19 Im zuerst genannten Ansatz steht der Begriff des Archivs im Mittelpunkt, ohne dass sich die zugrunde liegenden Konzepte mit denen der Archivistik decken. Neben dem Begriff des historischen Archivs, das die Archivistik entfaltet, hat sich der des kulturellen Archivs, wie ihn etwa Boris Groys einführt, immer mehr etabliert. Dieser ist wesentlich weiter gefasst als jener; mit ihm wird eine Gesamtheit von Dokumenten oder ein Kanon von Kulturgütern in Anschlag gebracht, wie er in anderer Weise als in historischen Archiven etwa auch in Bibliotheken und Museen vorzufinden ist. Archiv in diesem Sinne ist ein Oberbegriff für historische Archive, Bibliotheken und Museen. 20 Von Foucault geht die Konjunktur eines metaphorischen Gebrauchs des Wortes „Archiv“ aus. Er zeigt nunmehr seit vielen Jahren immer neue, andersartige 19 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999 (11997), S. 11. – Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003 (11999). 20 Vgl. u.a. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München, Wien 1992.
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I. Ausgangspunkte
Facetten. Beginnend mit der Archäologie des Wissens, reichen seine Wandlungen bis zu Derridas Mal d’Archive und Agambens Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. 21 Unterschiedliche Aspekte des Archivs werden aufgegriffen, wobei die Tendenz zu beobachten ist, einzelne Merkmale zu isolieren und dadurch absolut zu setzen. Sie verselbständigen sich dann: zum Beispiel der technische und der mediale Charakter des Archivs, seine Staatsnähe und seine Rolle als Instrument politischer Herrschaft und sozialer Macht, die materielle Gegebenheit eines Zusammenhangs von Dokumenten. Dabei bezieht man sich auf eine Realität des Archivwesens, die auch die Vorgänger der historischen Archive, von der griechischen Antike bis zum Ancien Régime des 18. Jahrhunderts, mit einschließt. Viele von ihnen waren in der Tat in anderer Weise Agenturen der Macht, als es heutige historische Archive sind, zumindest aber sein sollten. Das Changierende des Archivbegriffs, das sich hier geltend macht, geht übrigens zum Teil auf den Sprachgebrauch der Archivare selbst zurück; oft wird zwischen Registratur und Archiv, vor-historischem und historischem Archiv nicht streng unterschieden. 22 So freizügig der kulturwissenschaftliche Umgang mit dem Wort „Archiv“ ist, so unverkennbar er einen starken Eigensinn aufweist – er gibt Impulse und weckt Interesse. Aber wohin führt es, wenn alles das, was im engeren Sinn Archiv zu heißen verdient, nur noch als Hintergrundmetaphorik präsent ist? Es liegt eine Chance in der gewachsenen Aufmerksamkeit, aber es besteht auch die Gefahr, dass der Begriff des historischen Archivs verdrängt wird. Eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen den neuen, übrigens oft undurchsichtigen Konzepten des Archivs und der Archivwissenschaft kommt nur mühsam in Gang. Zwischen ihr und dem kulturwissenschaftlichen Diskurs über das Archiv besteht eine gewisse Sprachlosigkeit. 23 Kulturwissenschaftler dagegen füllen das Vakuum aus: Sie nutzen Begriff und Metapher des Archivs, ohne in erster Linie an Idee und Institution des historischen Archivs interessiert zu sein. Ein Fachgespräch, das in sich gekehrt ist, und eine florierende, nicht immer luzide, überdies zwischen Wissenschaft und Feuilleton oszillierende Debatte stehen sich beinahe unvermittelt gegenüber. Praxis und Theorie, archivarische Berufsausübung und hehre Spekulation liegen häufig weit auseinander. Lässt sich diese Differenz auf den Gegensatz von preußisch-deutscher Archivkunde und französischer Philosophie, von bürokratischem Geist und weltläufigem, funkeln21 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (frz.: L’archéologie du savoir, 1969). Frankfurt/M. 1981. – Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin 1997 (frz.: Mal d’archive, 1995). – Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt/M. 2003 (ital.: Quel que resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, 1998). 22 Einige Schlüsseltexte der zurückliegenden Archivdebatten in den Kulturwissenschaften liegen jetzt in einem Sammelband vor: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, hg. v. Knut Ebeling und Stephan Günzel. Berlin 2009. – Im angelsächsischen Sprachraum ist die Situation ein wenig anders, weil einige Archivwissenschaftler postmodernes Gedankengut aufgegriffen haben. Vgl. etwa John Ridener: From Polders to Postmodernism: A Concise History of Archival Theory. Duluth, Minnesota 2009. 23 Sie ein Stückweit zu überwinden, habe ich mich, zusammen mit Rainer Hering, bemüht. Vgl. den 2013 erschienenen Band Wie mächtig sind Archive?, a.a.O.
3. Archiv und Geschichte
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dem, aber ein wenig leichtfertigem esprit bringen? 24 Eine solche bloß aufs Atmosphärische eingehende Gegenüberstellung folgt allzu bereitwillig gängigen Stereotypen. Doch die ganze Konstellation zeigt uns: Die historischen Archive sind in den Kulturwissenschaften zumindest indirekt gegenwärtig – aber in einer Weise, mit der die Archivwissenschaft offenkundig wenig anzufangen weiß. Der Befund ist zwiespältig: Die Grundgedanken der Archivistik fehlen gerade in kulturwissenschaftlichen Debatten; heute sind sie nicht einmal mehr Historikern präsent und könnten doch wichtig sein. Dieser Befund steht in einer erstaunlichen Diskrepanz zur Beachtung, die metaphorischen Konzepten namens „Archiv“ heute geschenkt wird. 25 Für die beiden, in der obigen Aufstellung zuletzt genannten Ansätze, die Geschichtstheorie, hier im engeren Sinn verstanden als Theorie der Geschichtswissenschaft, und die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, ist das Archiv nur ein Neben- und Randthema. Doch auch diese Diskurse hat die Archivistik, abgesehen von der verbreiteten, aber kaum je präzise gefassten Rede vom Archiv als „Gedächtnis der Verwaltung“ oder „Gedächtnis der Stadt“ beziehungsweise „des Landes“ weithin unbeachtet gelassen. In der älteren geschichtstheoretischen Literatur wird wenig vom Archiv gesprochen, selbst wenn die Quellen geschichtlicher Kenntnis thematisiert werden. Jacob Burckhardt gehört zu denen, die der Quellenkunde Beachtung schenken, ohne dabei das Archiv eigens zu thematisieren: „Unsere Sache ist: Charakteristik der Quellen, und Anleitung zu ihrer Ausbeutung“, heißt es bei ihm; 26 dass die Quellen zu einem großen Teil Archivalien sind, wird aber nicht weiter berücksichtigt. Bei einem prominenten Geschichtstheoretiker der Gegenwart findet sich sogar eine Bekundung von Desinteresse. Hayden White beschränkt sich in seiner einflussreichen Untersuchung zur Tiefenstruktur historischer Einbildungskraft erklärtermaßen auf „historiographische Schriften“, „deren Horizont umfassender als der des Archivberichts oder der Monographie ist“ („all historical works that are more comprehensive in scope than the monograph or archival report“). Wer von vornherein eine Differenz zwischen Archivarbeit und eigentlicher Historie ansetzt und die Relevanz archivischer Exaktheit gering veranschlagt, gelangt natürlich zu einem Geschichtsbegriff, der letztlich in der Tradition der Rhetorik stehen bleibt oder gar sich in den Gefilden geschichtsphilosophischer Konstruktion verliert. 27 24 So Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002, S. 8. 25 In jüngster Zeit deutet sich an, dass die beschriebene Blockade durch eine bessere Verknüpfung archivtheoretischer und archivgeschichtlicher Fragestellungen allmählich überwunden werden könnte. Vgl. hierzu den Literaturbericht von Annika Wellmann: „Theorien der Archive – Archive der Macht. Aktuelle Tendenzen der Archivgeschichte“, in: Neue Politische Literatur, 57. Jg. (2012), Heft 3, S. 385-401. 26 Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, ed. Peter Ganz. München 1982, S. 84. 27 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M. 1991, S. 9 (engl.: Metahistory. The Historical Imagination in NineteenthCentury Europe. Baltimore, London 1973).
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I. Ausgangspunkte
Gegen den voreiligen Verdacht, archivnahe Historie hätte es bloß mit ‚Faktenhuberei‘ zu tun und sei uninteressant, erhob Foucault mit der Kraft seines Denkens und seiner Wertschätzung der Archive Einspruch. An genau der Stelle, an der er seine Archiv-Metaphorik in der Archäologie des Wissens einführt, ist ihm „das große mythische Buch der Geschichte“ ein mit Polemik bedachtes Gegenbild. Seiner Ansicht nach „muß die Geschichte auf die Konstruktion großer Synthesen verzichten und sich im Gegenteil an der Fragmentarisierung der Wissensformen beteiligen“. 28 Das dürfte nur im Rückgriff auf Archive möglich sein. Zentrale Aspekte der Theorie der Geschichtswissenschaft wie der Theorie des kulturellen Gedächtnisses sind in einer äußerst umfangreichen Literatur und auf die vielfältigste Weise behandelt worden. 29 In der Geschichtswissenschaft wie in den historischen Kulturwissenschaften insgesamt findet eine Reflexion ihrer Voraussetzungen seit langem statt. Für das historische Archiv ist Vergleichbares noch zu leisten. Ein Einfallstor in dieses Terrain lässt sich identifizieren. Es findet sich im heute ausgeweiteten Themenfeld geschichtstheoretischer Reflexion, die nicht mehr nur die Historie als Wissenschaft, sondern auch die Historie als Kultur umgreift. Arbeit an der Geschichte wird viel umfassender als früher in ihrer Einbettung in Kulturen des Gedächtnisses und des Erinnerns thematisiert. In diesem Rahmen lässt sich eine Theorie des Archivs in das Gebiet der Geschichtstheorie einfügen; Archivistik und Historik können sich hier begegnen. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, das so ins Blickfeld gerückte Terrain zu erkunden. Dabei werden zunächst Phänomene der Geschichtlichkeit angesprochen, die wohl jedem Menschen, der im beginnenden 21. Jahrhundert in Mitteleuropa lebt, einsichtig und nachvollziehbar sind; vor diesem Hintergrund lässt sich dann beschreiben, was ein historisches Archiv eigentlich ist, welche Leistungen es in Kultur und Gesellschaft zu erbringen vermag und welchen Nutzen es für einzelne Menschen wie für Gemeinschaften besitzt. In einem ersten Schritt werden Aspekte der Geschichtlichkeit innerhalb der menschlichen Erfahrung skizziert, die in einer Theorie des Archivs berücksichtigt werden müssen: die Gegenwärtigkeit der geschichtlichen Dimension im Alltag (Kap. II) und die Vergangenheitsbezüge, die wir auf unterschiedliche Weise dank Gedächtnis und Archiv besitzen und herstellen (Kap. III). Darauf aufbauend, werden Idee und Institution des historischen Archivs näher beschrieben. Die Ausführungen gehen auf die archivalischen Quellen (Kap. IV), auf das Archiv als Institution, Praxisfeld und Bestand von Archivalien (Kap. V), auf den Beruf des Archi28 M. Foucault: Archäologie des Wissens, a.a.O., S. 186. – F. Dosse: Foucault face à l’histoire. Espaces/Temps, Nr. 30, Mai/Juni 1985. Zit. n. François Ewald, Arlette Farge, Michelle Perrot: „Eine Praktik der Wahrheit“, in: Michel Foucault. Eine Geschichte der Wahrheit. München 1987, S. 9–59, hier: S. 40. 29 Bereits vor mehr als dreißig Jahren füllte allein die Liste der einschlägigen Literatur zur Geschichtstheorie ein ganzes Buch. Vgl. Helmut Berding: Bibliographie zur Geschichtstheorie. Göttingen 1977. Heute dagegen blühen ganz besonders die Cultural Memory Studies. Vgl. etwa Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2008.
3. Archiv und Geschichte
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vars und die Archivwissenschaft als Disziplin (Kap. VI) sowie auf die Normen des Archivierens vom Provenienzprinzip bis zur Bewertungsdiskussion (Kap. VII) ein. Ein Praxisbericht rundet das Bild ab (Kap. VIII). Die Überlegungen laufen auf ein Plädoyer für das historische Archiv hinaus, zu dem abschließend einige resümierende Gesichtspunkte beigetragen werden (Kap. IX). Natürlich kann im Folgenden nicht allen Fragen nachgegangen werden, die sich im Horizont des komplexen Gefüges der Geschichts- und Archivtheorien stellen. Die Überlegungen konzentrieren sich vielmehr auf einen einzigen Punkt: die Beziehungen des historischen Archivs zur Geschichte im weitesten Sinne. Dieser Zusammenhang ist neu zu entdecken. Dabei wird sich zeigen, wie tief die Lehrsätze der Archivwissenschaft und die Handlungsweise der Archivare in Logik und Ethos historischer Arbeit eingebunden sind. Ohne sie zu berücksichtigen, ist das Archiv un-denkbar.
II. ALLTAG UND GESCHICHTLICHE ERFAHRUNG Dass es Vergangenes gibt, das nicht vergehen will, 1 ist eine einfache Formel für die Macht der Geschichte. Sie zeigt an, dass sich Vergangenheit nicht ohne Weiteres übergehen lässt. Darüber hinaus legt sie nahe, dass ohne Berücksichtigung und in Unkenntnis des Vorausliegenden die Gegenwart nicht zu begreifen, die Zukunft nicht zu gestalten ist. Wie man zu einer bestimmten Vergangenheit steht, welche Einstellung man zu ihr hat, ob man das, was sich von ihr lebendig hält oder in ihrer Kontinuität liegt, bewahren, fortentwickeln, überwinden oder zerstören will, ist ganz unabhängig von der Erfahrungstatsache, dass in einer jeden Gegenwart Wirkungslinien aus dem Vergangenen her unhintergehbar sind. Man muss die konkrete Geschichte erst einmal kennen, um sich mit ihr – wie auch immer – auseinandersetzen zu können. Die Hüllen des kulturellen Gedächtnisses, insoweit dieses in der Sache unzureichend ist, müssen abgeworfen, die Punkte der Irritation, die in ihm enthalten sind, zum Anstoß für ein genaues, von Illusionen und Parteilichkeit möglichst freies Studium genommen werden. Das sind Postulate der historischen Aufklärung, eines rationalen, um Wahrheit bemühten Umgangs mit Vergangenheit. Aber wie kann man historische Erkenntnis gewinnen? Im deutschsprachigen Raum hat Johann Gustav Droysen, an Wilhelm von Humboldt anknüpfend, Grundzüge einer „Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“ umrissen und unter dem Titel einer Historik zusammengefasst. 2 Das Nachdenken darüber, wie geschichtliche Kenntnisse gewonnen werden, begleitete die Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaft. Jacob Burckhardt entwarf seinen Beitrag zu dieser Reflexion in Weltgeschichtlichen Betrachtungen, die Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen anzusprechen vermögen. Die zugrundeliegenden Vorlesungen wollten nichts anderes sein als Einführungen und hießen schlicht „Über das Studium der Geschichte“. 3 Damit ist angedeutet: Die schwierigsten Fragen, die sich dem Historiker stellen, wenn er seine eigene Arbeit überdenkt, sind zugleich die elementaren. Mit der Zeit verkümmerte der enzyklopädische Teil des Unternehmens, weil er sich von bloßer geschichtsphilosophischer Konstruktion, das heißt von schlecht belegten, spekulativen Erwägungen nicht freihalten ließ. Die Lehrbücher der historischen Methode von Bernheim bis heute setzen dagegen in den Grenzen ihres 1 2 3
Vgl. Ernst Nolte, „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, in: „Historiker-Streit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, S. 39–47. Johann Gustav Droysen: Historik. Textausgabe von Peter Leyh. Stuttgart, Bad Cannstatt 1977. – Droysen hielt diese Vorlesungen zwischen 1857 und 1882/83. J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, a.a.O. Weltgeschichtliche Betrachtungen ist bekanntlich der postum gewählte Titel der – 1905 erstmals erschienenen – Edition dieser Vorlesungen, durch die sie bekannt und berühmt wurden.
II. Alltag und geschichtliche Erfahrung
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Gebiets den einmal eingeschlagenen Weg fort. 4 Sie konzentrieren sich meist auf die handfest praktischen Bedürfnisse der Studenten und Forscher; dabei tritt das Element der Reflexion zurück. In aktuellen Debatten erscheinen manche alten Probleme in neuem Licht, und bisher unbeachtete Fragestellungen tauchen auf. Eine durchgängige Tendenz ist heute wohl darin zu sehen, dass nicht mehr nur die als wissenschaftlich zu bezeichnenden Formen historischer Arbeit in den Blick genommen werden; vielmehr untersucht man die ganze Breite menschlicher Bezugnahme auf Vergangenes: die Formen des kollektiven wie individuellen Erinnerns, die Art der Wahrnehmung geschichtlicher Sachverhalte und Zusammenhänge. Man wendet sich den Konstruktionen, Fiktionen und Einbildungen, den Mythen und Stereotypen im Feld des Geschichtlichen zu; die politischen Kämpfe um Geschichtsbilder und die Strategien der Durchsetzung bestimmter Sichtweisen rücken unter dem Stichwort Vergangenheitspolitik in den Blickpunkt. 5 Das Konzept des kollektiven (und kulturellen) Gedächtnisses, mit dem zugleich das subjektive Moment jeglichen Vergangenheitsverhältnisses hervorgehoben wird, lässt sich diesen Bestrebungen ebenfalls zuordnen. 6 Mit Blick auf eine Theorie des Archivs stellt sich die Aufgabe, diese Wendung von der Theorie der Geschichte als Wissenschaft zu einer Betrachtung unterschiedlichster Phänomene der geschichtlichen Welt mitzuvollziehen. Wie bereits bemerkt: Archive im modernen Sinne, also historische Archive, sind Institutionen der Geschichts- und Erinnerungskultur; die Praxis des Archivierens lässt sich nur verstehen, wenn man weiß, was geschichtliche Erfahrung ist. Die Historiker fügen ihr den Geist einer methodisch geübten Kritik hinzu. Die Archive sind in diesem gesellschaftlich-kulturellen Feld angesiedelt. Wenn das weite Gebiet geschichtlicher Erfahrung keine Aufmerksamkeit erfährt und die historisch-kritische Einstellung im Umgang mit Vergangenheit keine Geltung besitzt, sind historische Archive überflüssig. Unzählige Stufen zwischen den denkbaren Extremen der Negation des Archivgedankens und der größtmöglichen Akzeptanz sind ins Auge zu fassen – auch der Fall, dass das Archiv, gemessen an den Ideen, Normen und Kriterien, die im Fortgang dieser Studie darzulegen sind, missbraucht wird. Dann existiert das Archiv zwar dem Namen nach, tatsächlich aber kommt es seinen Aufgaben nur eingeschränkt nach. 7 Zunächst muss das Phänomen geschichtlicher Erfahrung ein wenig genauer in Augenschein genommen werden. 4 5 6 7
Noch immer beachtenswert ist Ernst Bernheims grundlegendes Lehrbuch der historischen Methode. New York 1970 (Nachdruck der 5./6. Aufl. Leipzig 1908, zuerst 1889). Vgl. zum Beispiel Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996. Vgl. hierzu das nachfolgende Kapitel III. Wie die Archive in der Zeit des Nationalsozialismus. Vgl. Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, hg. v. Verband deutscher Archivarinnen und Archivare. Essen 2007 und Torsten Musial: Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland, 1933–1945. Potsdam 1996.
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II. Alltag und geschichtliche Erfahrung
1. Veränderlichkeit: der Strom des Geschehens Geschichte hat es mit den Veränderungen des Menschen und seiner Welt zu tun. Wilhelm Bauer spricht in einer oft zitierten Bestimmung des Gegenstands der Geschichtswissenschaft von den „Erscheinungen des Lebens, soweit es sich um Veränderungen handelt“. Dieser Aspekt einer Definition sei an dieser Stelle herausgegriffen. 8 Unsere Alltagswelt erweist sich in der Tat als geschichtliche Welt, insoweit sie – trotz mancher Stabilitäten und der Unumstößlichkeit vieler Verhältnisse zum jeweils gegebenen Zeitpunkt – im Ganzen dem „Zahn der Zeit“, also dem Wandel unterworfen ist. Dass sich allerorten und jederzeit vieles ändert, ist eine Allerwelts-Weisheit. Wie weit dieser Wandel reicht, ob er das Wesentliche unseres Menschseins und unserer Welt betrifft, in welchem Maße er unsere Gewissheiten und Gewohnheiten, Werte und Gesinnungen, Lebensverhältnisse und Beziehungen zu anderen Menschen berührt und deshalb näher studiert werden sollte, darüber lässt sich streiten. Die Haltungen in Bezug auf diese Fragen, wie sie sich im menschlichen Alltag vorfinden lassen, sind in Mentalitäten und Kulturen verwurzelt. Historisches Denken und eine ihm entsprechende Einstellung zur Vergangenheit weisen sich dadurch aus, dass sie die Welt unter dem Aspekt ihrer Veränderlichkeit begreifen, beobachten und beschreiben. So entsteht Vergangenheit, verstanden als vergangene Zeit: Vergangenes weist in bestimmten räumlichen und zeitlichen Grenzen einen Zusammenhang auf; schließlich lassen sich Epochen und Epochenlagen bestimmen, die mit Jahreszahlen grob abgrenzbar sind; Historiker sprechen von Periodisierung. Weil es früher – zumindest potenziell – anders zuging als heute, ist Vergangenes wissenswert. Die Vergangenheit gewinnt nur im Gegenüber und im Kontrast zum Jetzt und zum Morgen Kontur, und Gegenwärtigkeit ist ein Begriff, der an den emphatischen Begriff der Vergangenheit, also an die Differenz geschichtlicher Zeiten, gekoppelt ist; als aktuell kann gelten, was in diesem Sinne nicht überholt ist. Das Phänomen der Veränderlichkeit soll etwas näher beschrieben werden. Wir leben stets im Strom des Wandels, auch wenn wir uns dies nicht ständig vor Augen führen. Es mag zutreffen, dass sich, wie Reinhart Koselleck darlegt, die Veränderungsprozesse, die zu beobachten sind, seit dem 18. Jahrhundert beschleunigt haben; sie wurden zur Signatur jener Epoche, die wir die Moderne nennen. Gute Gründe sprechen überdies dafür, dass sich der heute zu beobachtende umfassende Wandel erst aufgrund der Beschleunigung, die er erfuhr, unserer Wahrnehmung aufdrängte. 9 Dass es Veränderungen in einem sehr allgemeinen Sinne immer gab, daran ändert diese Genealogie nichts. Nicht das Faktum der 8 9
Wilhelm Bauer: Einführung in das Studium der Geschichte. Tübingen 1921, S. 17. Vgl. auch Paul Kirn: Einführung in die Geschichtswissenschaft. 5. Auflage, bearb. u. erg. v. Joachim Leuschner. Berlin 1968 (zuerst 1947), S. 7. Vgl. die einschlägigen Texte bei Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979 und ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2000.
1. Veränderlichkeit: der Strom des Geschehens
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Veränderlichkeit unserer Welt als solches, sondern Art und Intensität, in der wir auf sie stoßen, sie deuten und reflektieren, stellt sich je nach geschichtlicher Lage unterschiedlich dar. Die Sensibilität hierfür mag in den letzten zwei, drei Jahrhunderten gewachsen sein. Was dank ihrer sichtbar wird, ist freilich keine Erfindung, sondern eine beschreibbare Realität. Betrachten wir die uns umgebende Welt in ihrer Alltäglichkeit. Zu denken ist an Erfahrungen des Wandels, von denen ein jeder berichten kann. Zum Beispiel: An jedem Werktag fahre ich morgens mit der S-Bahn zur Arbeit. Im Vorbeigehen und beim Warten sehe ich manchmal in der Bewegung anonymer Menschenmassen bestimmte Personen zum wiederholten Mal. Je pünktlicher ich bin, umso gleichförmiger stellt sich die Wiederkehr mancher Einzelheiten von Tag zu Tag dar. Langsam, im Laufe von Wochen oder Monaten, treten Änderungen auf; ein bestimmter Passant begegnet mir nicht mehr. Ich nehme dies zunächst kaum wahr; das Moment der Veränderung liegt ganz an der Peripherie meiner Aufmerksamkeit. Die Abwesenheit eines gelegentlich begegnenden, unbekannt bleibenden Mitreisenden geht mir vielleicht erst auf, wenn er nach einer Weile plötzlich wieder da ist. Ich bemerke rückblickend, dass er in letzter Zeit gefehlt hat. Die Wahrnehmung kleiner und kleinster Veränderungen bedarf oft erst eines Anstoßes. Oder ein anderes Beispiel: Ich kaufe mein Brot jetzt in einer anderen Bäckerei als bisher, einer neu eröffneten. Und ich lege mir eine Erklärung dafür zurecht, warum sich dieses neue Ladengeschäft etablieren kann. Seine Existenz, so denke ich, ist ein Begleitumstand größerer ökonomischer Veränderungen. Der Blumenladen, der früher an dieser Stelle stand, hat geschlossen, weil er nicht mehr rentabel war. Die neuerdings eingerichtete Filiale einer Bäckereikette kann sich offenkundig besser halten. Mit dieser Einschätzung, die eine beobachtete Veränderung in meiner Alltagswelt deutet, überschreite ich den Gesichtskreis dessen, was meinen Sinnen unmittelbar gegeben ist. Ich trete in jene unendlich vielgestaltige Welt der Vermittlung und Kommunikation ein, in der Interpretationen und Tatsachen bis in die Sprache – und damit bis in die Wahrnehmung – hinein eine niemals gänzlich aufzulösende Verbindung eingehen. 10 Genaugenommen trete ich in dieses Feld des Sozialen und Kulturellen nicht erst ein, sondern befinde mich stets schon in ihm, durch die angelernten Muster und Dispositionen meiner Wahrnehmung. Es gibt keine Unmittelbarkeit der Erfahrung. Unsere Eindrücke lassen sich vom Ganzen des Bildes, das wir von uns und unserer Welt besitzen, nicht trennen, auch wenn es ein Mehr oder Weniger an Authentizität geben mag. Meine Welt besteht aus unzähligen Dingen, Begebenheiten, Verhaltensweisen. Eine Änderung im eigentlichen Sinne tritt erst ein, wenn Erwartungen in einem wichtigen Punkt durchbrochen werden oder wenn etwas Bedeutsames umgestoßen wird oder geschieht. Es gibt Abstufungen der Tragweite von Veränderungen: Geringfügige Änderungen am Rand unserer alltäglichen Erfahrungen haben 10 Auf den Begriff des historischen Faktums braucht dennoch nicht verzichtet werden. Vgl. etwa K.-G. Fabers instruktive Ausführungen in: Theorie der Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 62– 65.
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II. Alltag und geschichtliche Erfahrung
wir uns beispielhaft angesehen. Es gibt aber auch das überraschende Eindringen des ganz Anderen in den Alltag, ja in die Mitte der persönlichen Existenz. Als in Berlin im November 1918 die Revolution ausbrach, war das öffentliche Leben zeitweilig merkwürdig gespalten. Während in der einen Straße Barrikaden errichtet wurden und Schüsse fielen, waren wenige hundert Meter weiter, an einem anderen Platz, die Cafés noch geöffnet; das friedliche bürgerliche Leben ging dort scheinbar unberührt weiter. Eine ganz neue Welt taucht auf, die alte besteht aber einen Straßenzug entfernt noch fort – vielleicht nur für eine sehr kurze Zeitspanne. In seinen Beobachtungen über den Spartakus-Aufstand benennt Ernst Troeltsch dieses merkwürdige Nebeneinander: „Im übrigen ging während aller Greuel das Großstadtleben seinen Weg weiter. (...) Die Theater spielen weiter und versammeln ihr an Gewehrschüssen vorbeieilendes Publikum in gewohnter Masse“. 11 Manès Sperber hat als Jugendlicher einen Fall starker Erschütterung einer Identität aufgrund der abrupten Veränderung alltäglicher Machtverhältnisse beobachtet; obwohl er nur ein Zuschauer war, hat ihn das Geschehen tief geprägt. Was er sah, war eine Umkehr der Dinge im wörtlichen Sinn, als die sich eine Revolution im Alltag erweisen kann. Die äußere Stellung eines k.u.k. Offiziers geht augenblicklich verloren, als dieser, von der Front zurückkehrend, am 1. oder 2. November 1918 auf dem Wiener Nordbahnhof auf eine Gruppe meuternder Soldaten trifft. Sein eigener Diener, bis dahin ein verächtlicher „Putzfleck“, ein bloßer Befehlsempfänger und scheinbar willenloses Geschöpf, wirft das schwere Gepäck seines Herrn, das er wie immer schleppen musste, ab und verpasst ihm zwei schallende Ohrfeigen. 12 Die plötzliche Veränderung der Welt, nämlich die Revolte des Untergebenen, hat ein Ausmaß angenommen, dass sie selbst für einen Betrachter die Stabilität der Welt in Frage stellt. Im Strom der Veränderungen, die nicht in einen Kreis von Wiederholungen eingeschlossen sind, im steten Wechsel, der etwas Neues entstehen lässt, einen Aspekt der Form der Geschichte zu erkennen, ist eine abstrakte Überlegung. Wie gezeigt, lässt sie sich aber auf Beobachtungen stützen. Es gibt so etwas wie die Erfahrung der Veränderung an sich. Wie sich die Welt wandelt, sieht man besonders gut mit einigem zeitlichen Abstand, wenn viele kleine und vielleicht einige große Veränderungen sich aufgetürmt haben. Wenn man nach Jahren dorthin zurückkommt, wo man früher wohnte, so hat sich oft schon äußerlich vieles geändert: in der Straße, die man so genau kannte, ist gebaut worden; der „TanteEmma-Laden“, den es einst noch gab, ist verschwunden, und so weiter. Beim Eintritt in eine früher vertraute Umgebung überkommt einen leicht das Gefühl der Fremdheit. Die Gegend, ja die ganze Stadt, die ich verlassen habe, treffe ich bei späterer Rückkehr verwandelt an. Vielleicht empfinde ich sogar einen Verlust der 11 Vgl. Ernst Troeltschs Spektator-Briefe, hg. unter dem Titel Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922. Frankfurt/M. 1994, S. 15. 12 Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen ging auf dieses Beispiel an exponierter Stelle ein. Vgl. ders.: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994, S. 16, und Manès Sperber: Sieben Fragen zur Gewalt. Leben in dieser Zeit. München 1978, S. 9f.
1. Veränderlichkeit: der Strom des Geschehens
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Zugehörigkeit: das ist nicht mehr „meine Straße“, „meine Stadt“. Man sucht den Eindruck des Bekannten und Vertrauten selbst an Ort und Stelle vergeblich. Wenn diese Erfahrung überhand nimmt, sagen ältere Menschen, dies sei nicht mehr „ihre Zeit“. Was sie in dieser Entfremdung erfahren, ist in gewisser Weise die Geschichte selbst. Für den Richtungssinn des Geschichtsverlaufs und die Stellung der in ihn verwickelten Menschen gibt es Globaldeutungen, welche die Veränderungen im Ganzen interpretieren: etwa als Fortschritt oder aber als Dekadenz und Niedergang. Bertolt Brechts Lied von der Moldau kündigt angesichts des melancholisch stimmenden Anblicks der Kaiser-Gräber in Prag in der Art eines Merkspruchs eine bessere Zukunft an: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“ Die Geschichte wird eindrucksvoll mit dem Wechsel von Tag und Nacht verglichen. Und andersherum, nicht nach vorn in die Zukunft blickend, sondern vom imaginären Ende her zurück in die Vergangenheit, dichtet Gottfried Benn über Berlin mit völlig entgegengesetztem Tenor: „wenn die Mauern niederbrechen, / werden noch die Trümmer sprechen / von dem grossen Abendland.“ 13 Um Geschichtsoptimismus und -pessimismus, wie sie sich in diesen Metaphern und Sinnbildern aussprechen, kümmern wir uns an dieser Stelle nicht. Nur auf jene grundlegende Schicht der puren Veränderung in der Welt, die einen jeden Menschen umgibt, sollte aufmerksam gemacht werden. 2. Unverfügbarkeit oder Das Kleine und das Große . Mit der Veränderlichkeit hängt ein weiteres Phänomen zusammen, ohne dass beide identisch wären: die Unabänderlichkeit vieler Geschehnisse und Umstände. Im Alltag mit seinen teils fließenden, teils abrupt eintretenden Veränderungen, den Aufschwüngen und Niedergängen, Glücksmomenten und Unglücksfällen, waltet, pathetisch gesprochen, das Schicksal. Diese überindividuelle Macht berührt sich oft mit der Dimension des Geschichtlichen. Man kann als Einzelner und im Augenblick dann nichts Entscheidendes am Lauf der Dinge ändern; es besteht günstigenfalls die Chance, sich mit anderen zusammenzutun, um Einfluss zu nehmen. Die eigene Biographie ist ein Stück Geschichte im Kleinen, aber als Geschichte im engeren Sinn wird gewöhnlich erst jenes Geschehen angesprochen, dessen Reichweite über den Einzelnen hinausgeht; es sind die Verhältnisse, die ihn oft klein und ohnmächtig erscheinen lassen und die überdies – mitten im Strom oder auch Strudel der Veränderungen – dem Bezirk des Veränderlichen zugleich eine Grenze setzen. Mit Größe ist, das sei zur Vermeidung von Missverständnissen betont, in diesem Zusammenhang nichts gemeint, was Bewunderung 13 Bertolt Brecht: „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“, in: Stücke 5 (Gesammelte Werke, hg. v. Suhrkamp Verlag, Bd. 5). Frankfurt/M. 1990, S. 1913–1997, hier: S. 1968. – Gottfried Benn: „Berlin“, in: Gedichte (Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand). Frankfurt/M. 1990 (11982), S. 354.
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II. Alltag und geschichtliche Erfahrung
verdient, nichts Erhabenes oder Großartiges; es sei allein durch das Merkmal der Wirkungsmacht bestimmt Geschichte ist nicht verfügbar, auch wenn es Situationen gibt, die es einzelnen Menschen erlauben, Einfluss von großer Tragweite auszuüben. Man kann darüber diskutieren, ob Napoleon oder auch der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl in den Monaten der deutschen Einigung einen solchen Handlungsspielraum besaßen. 14 Doch Konstellationen dieser Art sind allemal selten, das Handeln in ihnen muss auf einen engen Zeitkorridor Rücksicht nehmen. Personen, die in die Lage kommen, in diesem Sinne Geschichte machen zu können, sind die große Ausnahme. Die Abhängigkeit vom Lauf der Dinge betrifft dagegen jeden Einzelnen von uns, aber auch Gruppen und Gemeinschaften. Wir alle sind den Tendenzen und Mächten der Geschichte ausgesetzt, zum Teil sogar ausgeliefert, auch wenn man auf sie durch ein wohlüberlegtes Handeln Einfluss nehmen oder ihnen entgehen kann. Die Diskrepanz der kleinen Welt des Individuums und der großen der Geschichte ist aber in jedem Fall ein grundlegender Aspekt der geschichtlichen Welt. Groß kann man sich fühlen, wenn man sich mit den siegreichen Kräften der Geschichte vereint. Es ist eine erborgte Größe! Kinder halten gern zu der jeweils erfolgreichen Fußballmannschaft, was eher Ausdruck ihrer Ohnmacht als ihrer Souveränität ist. Aber wer ist schon in der hier fraglichen Hinsicht souverän? Das Leben des Individuums wie seine Alltagswelt sind eingebettet in die Verläufe und Gliederungen der Geschichte. Die Geburt ist der erste, bestimmende Zufall, der einen Menschen in geschichtliche Verhältnisse wirft, ihm einen Platz gibt, ohne dass er vorher gefragt worden wäre. Erziehung und Sozialisation sorgen dafür, dass man sich auf die zufälligen Gegebenheiten einzulassen vermag, und meist entsteht sogar, mit Nietzsche zu sprechen, so etwas wie ein amor fati; 15 letztlich liebt man das eigene Leben, so wie es ist. Man mag diese Kontingenz als ungerecht empfinden, doch lässt sie sich nicht überwinden. Uns ist, bildlich gesprochen, ein Ort zugewiesen, den wir zwar verlassen können, der aber als Ausgangspunkt durch das begrenzte Maß möglicher Schritte sich doch immer geltend macht. Der Beginn unseres Weges ist fixiert, und erreichbare Ziele liegen naturgemäß innerhalb eines wie auch immer abgesteckten Radius’; das Gelände, auf dem die gehbaren Wege verlaufen, ist samt Berg und Tal vorgegeben. Durch die Geburt sind bereits Schicksale vorgezeichnet: Der eine von uns wächst in einer festgefügten, wohl geordneten Familie in angenehmer Umgebung auf, der andere mitten in Umbrüchen und Wirrnissen; der eine ist arm, der andere von Wohlstand umgeben. Wer im 18. Jahrhundert gelebt hat, konnte nie mit einem Düsenjet fliegen. Der eine geht zur Waffen-SS wie Günter Grass, ein anderer 14 Solschenizyns Darstellung von Lenins Zürcher Aufenthalt zum Beispiel lebt von der bevorstehenden Koinzidenz von kleiner und großer Welt im Augenblick der bolschewistischen Revolution. Vgl. Alexander Solschenizyn: Lenin in Zürich (russ.: Lenin w Zuriche, 1975). München 1984. 15 Vgl. u.a. Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft (1882/1887), Aphorismus 276 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 3. München 1988, S. 521).
2. Unverfügbarkeit oder Das Kleine und das Große
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hat einen Vater, der ihn vom Mitmachen abhält wie Joachim Fest, 16 einem Dritten wird, was dies betrifft, die Gnade der späten Geburt zuteil. Es macht einen Unterschied, wo und in welchem Jahr jemand beispielsweise in Berlin sechs Jahre alt ist: im „Kohlrüben-Winter“ 1916/17, also mitten im Ersten Weltkrieg, in dem es kaum etwas zu essen gab, oder in besseren Wohnvierteln heute. In den alltäglichen Handlungen und Verhaltensweisen der Einzelnen spiegelt sich der Geschichtsprozess; sie können ein Anzeichen geschichtlicher Veränderung sein. Um an das soziale Problem der Knappheit von Lebens- und Genussmitteln anzuknüpfen: Ich erinnere mich an das Jahr, in dem ich erstmals sah, dass ein Mann auf dem Bahnhof Zigarettenkippen aufhob. Durch einen Zeitungsbericht, der auf die Wiederkehr einer Gewohnheit der Nachkriegszeit hinwies, wurde ich zusätzlich aufmerksam. Auch dies ist ein Stück Geschichte im Alltag, ein Exempel für das Ineinandergreifen meiner eigenen Erfahrungen mit den größeren Verläufen. Es kann der Fall eintreten, dass sich das, was ein wenig altmodisch die Geschichte heißt, mit der Welt des Individuums trifft. Große Ereignisse drängen sich dem Einzelnen von einem Tag auf den anderen auf, überfallen ihn oder scheuchen ihn auf, berühren ihn nur vage oder reißen ihn aus seinem Winkel: durch den Einberufungsbefehl in eine Armee, die in den Krieg zieht; durch die Begegnung mit der Öffnung einer Grenze wie beim Fall der Berliner Mauer (9. November 1989), die man auf einmal besteigen konnte, um auf ihr zu feiern, während noch wenige Tage zuvor beim Betreten der Sperranlagen geschossen worden wäre; durch den Austausch der Währung, die zum täglichen Einkauf benutzt wird, etwa vom Taler zur Mark oder von der Mark zum Euro. Mit dem unerwarteten Anblick der „Trabis“ im Westen, an den Abfahrten der Autobahnen aus dem Osten, ließ sich nach dem Wegfall der innerdeutschen Barrieren ein Zipfel der Geschichte ergreifen, etwa dort, wo im Hessischen ein Zubringer der Autobahn ausläuft, die nach Eisenach führt. Durch die plötzliche Entlassung aus dem Unternehmen, in dem er angestellt war, stürzt jemand in die Arbeitslosigkeit, nachdem ein Investor die Firma aufgekauft hat; er lernt am eigenen Leib kennen, was die Stichworte Globalisierung, Flexibilisierung der Märkte, Finanzkrise und so weiter, über die in der Zeitung oft leichthin geschrieben wird, bedeuten können. Die Sphäre des Geschichtlichen beruht auf dem Zusammenspiel unendlich vielfältiger Geschehnisse; die Netze des Einflusses und der Wechselwirkung sind über die ganze Welt gespannt. Mit den Konsequenzen aber ist jeder Einzelne konfrontiert; es ist nicht leicht und oft unmöglich, ein Refugium zu finden. Und doch sind solche polaren Gegenüberstellungen des Individuums und der Geschichte, des Kleinen und des Großen in mancher Hinsicht einseitig und vordergründig. Der Einzelne sieht sich nur allzu gern der Geschichte als einer fremden, inkommensurablen Macht gegenüber. Dieser Blickwinkel ist nicht ganz 16 Vgl. die beiden gegensätzlichen Autobiographien, die in der Zeit erschienen, als dieses Kapitel geschrieben wurde: Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006, und Joachim Fest: Ich nicht. Reinbek bei Hamburg 2006.
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II. Alltag und geschichtliche Erfahrung
falsch. Die einfachste, personalisierende Variante eines solchen Denkmusters besagt, dass es „die da oben“ sind, gegen die man sich nicht wehren kann und die einem – ganz überwiegend – das Leben schwer machen. Doch ist auch daran zu erinnern, dass jeder von uns an dem vermeintlich selbstläufigen Größeren teilnimmt, wenn auch meist nur als einer von vielen, als Rädchen – aber, wenn man es so will, auch als Sand im Getriebe. Der Alltag, wie überhaupt die Sphäre des Individuums mit seinem Tun und Erleiden, gehört aus heutiger Sicht zum Feld des Geschichtlichen im Sinne dessen, was Historiker mit Gewinn beschäftigt und was sie darstellen, hinzu. Geschichte lässt sich nicht auf „Haupt- und Staatsaktionen“ wie politische und militärische Ereignisse oder auf das Handeln der sogenannten großen Persönlichkeiten, etwa der Staatsmänner und Feldherren, begrenzen. Es gibt auch die Gleichförmigkeit der vielen kleinen Umstände und Verhaltensmuster, die, zusammengenommen, ebenfalls groß sind. Aber wie immer Geschichte – oder auch eine der zahlreicher werdenden ‚Teilgeschichten‘ – gefasst ist, etwa als Alltags-, Kultur-, Geschlechter- oder Mediengeschichte, auf lokaler, regionaler, nationaler, europäischer oder globaler Ebene, stets handelt es sich um eine Sphäre, die über das Individuum hinausgeht. Das Detail und die Einzelheit zählen im Rahmen der Geschichtsschreibung, wenn sie von hervorgehobener oder exemplarischer Bedeutung sind. Emanuel LeRoy Laduries berühmte Studie über das alltägliche Leben in dem kleinen Pyrenäendorf Montaillou verdankt seine Existenz und Rechtfertigung einer außergewöhnlichen Quellenlage, welche den besonderen Fall zum Beispiel einer ganzen Epoche werden lässt. Dasselbe gilt für Carlo Ginzburgs Beschreibung der Gedankenwelt des Müllers Domenico Scandella, genannt Menocchio, aus dem Friaul, die uns aus Akten bekannt ist, weil er der Inquisition zum Opfer fiel. 17 Was Leser wie Forscher kennenlernen wollen, ist die Volkskultur im alten Europa, nicht dieses Dorf oder jenen Müller. Sie stehen vielmehr pars pro toto. Aber wir sind auch so frei, uns für den bloßen Einzelfall, das Menschliche an ihm, interessieren zu können. Ein wesentlicher Aspekt des Unterschieds zwischen „klein“ und „groß“ im hier angedeuteten Sinne ist schließlich die Kluft zwischen Lebens- und Geschichtszeit. Beide fallen weit auseinander. Die Geschichte ist neben Ereignissen durch Strukturen und Prozesse gekennzeichnet, auch durch Phänomene von langer Dauer (longue durée) und große zeitliche Erstreckungen: Es gibt dreißig- und hundertjährige Kriege, und relativ dauerhafte Formen des Wirtschaftens wie die Dreifelderwirtschaft; gewisse Mentalitäten sind noch viel langlebiger. Das Menschenleben aber „wehret siebenzig Jahr, wens hoch kompt achtzig jar“, wie es in Luthers Bibel-Übersetzung heißt; 18 es zerfällt in die Perioden von Kindheit und 17 Emmanuel LeRoy Ladurie: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 bis 1324 (frz.: Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, 1975). Frankfurt/M., Berlin 1989. – Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 (ital.: Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del ’500, 1970). Berlin 1993. 18 Psalm 90, 10.
2. Unverfügbarkeit oder Das Kleine und das Große
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Jugend, Reife und Alter. Die geschichtlichen Zeitläufte kennen dagegen die Maßeinheit des Jahrhunderts (Säkulum) und des Jahrtausends (Millenium). Eschatologische Vorstellungen mit ihrer Naherwartung des Weltendes schmeicheln dem Menschen, der sich gern in der Mitte des Geschehens sieht. Hans Blumenberg hat Hitlers wahnhafte Kriegs- und Vernichtungspolitik, der es gelang, fast die ganze Welt in ihren Bann zu ziehen, als einen Versuch gedeutet, den Lauf der Geschichte in die eigene Lebenszeit zu zwingen: ein gigantisches, verbrecherisches Zerstörungswerk, Endzeit herstellen zu wollen, weil das Ende der eigenen Lebensfrist bevorsteht. 19 Und nur um uns die langen Zeitstrecken vorstellbar zu machen, um sie auf das Maß unserer Erfahrung zu bringen, nutzen wir Bilder aus dem Jahreslauf; Johan Huizinga etwa spricht im Titel seines berühmten Hauptwerkes vom Herbst des Mittelalters. 20 3. Der Blick ins Weite: Lebenserfahrung und historische Bildung An der Geschichte, jenem Strom von Veränderungen mit überindividueller Macht und einer die Dauer des einzelnen Menschenlebens weit übersteigenden Zeitdimension, haben wir alle unfreiwillig Anteil. Gewiss, der geschichtliche Wandel überschreitet den Erfahrungsraum des Einzelnen, aber gerade in Kenntnis seiner Form ist er für uns dennoch – wie die Spitze eines Eisbergs – in der Alltagswelt wahrnehmbar. Wir sind ihm ausgesetzt und machen uns deshalb eine Vorstellung von ihm. Geschichtliche Erfahrung, 21 die das Wissen um ein Früher einbezieht, kann alle Aspekte konkreter Berührung mit dem Geschichtsprozess meinen; wenn sie unmittelbar ist, gehört sie zu unserer Lebenserfahrung. Der darüber hinausgehende Erfahrungsschatz, den die Geschichte jenseits des eigenen Erlebens bereithält und dem Individuum gleichsam anbietet, ist äußerst umfangreich; historische Bildung führt uns ins Weite. Sie kann in eine Reflexion der Geschichte als Form, des Geschichtsprozesses in der Art seines Verlaufs, münden und beinhaltet, wie gesehen, nicht zuletzt die Einsicht in das Phänomen der Geschichte als des Wandels der Zeit: der Abfolge von Epochen mit Epochenschwellen an den Nahtstellen.22 Es ist demnach sinnvoll, verschiedene Ebenen des Eindringens in die Geschichte zu unterscheiden. Zunächst gibt es das ureigene Erleben, mit dem wir, je nach Position und Einfluss, Geschichte sogar mitbestimmen, zumindest aber an ihr teilhaben, wenn man so will: an die Geschichte stoßen. Dann gibt es die mehr oder weniger komplex vermittelten Erfahrungen, die in Räume und Zeiten außer19 Hans Blumenberg spricht von der „Kongruenz von Lebenszeit und Weltzeit als Wahn“. Vgl. ders.: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt/M. 1986, S. 80–84. 20 Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters (ndl.: Herfsttij der middeleeuwen, 1919). Stuttgart 1975. 21 Auf die Tautologie in der ursprünglichen Bedeutung dieser Wortkombination kann nicht eingegangen werden: historia meint ja im Griechischen nichts anderes als Erfahrung. 22 Vgl. den ersten Abschnitt dieses Kapitels (Kap. II, 1).
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II. Alltag und geschichtliche Erfahrung
halb unseres unmittelbaren Gesichtskreises ausgreifen und mit denen wir die gegebene Reichweite unserer Sinne überschreiten. Die Tradierung geschichtlicher Erfahrung kommt hier ebenfalls ins Spiel. Im Nachkriegs-Deutschland gab es Menschen, die in die Verweigerung des Kriegsdienstes gewissermaßen hineinwuchsen. Die Erfahrung der Eltern mit dem Krieg – wenn zum Beispiel die Mutter den Bombenangriff auf Dresden überlebt hatte – wird an die Kinder weitergegeben; sie überträgt sich gleichsam. Ich entsinne mich, dass mich das Heulen der Sirenen während der Probe des Atomalarms, wie er in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs üblich war, immer wieder erschaudern ließ. Historische Bildung führt uns in ein anderes Gebiet geschichtlicher Erfahrung, über das eigene Erleben und mündliche Tradierung hinaus. Man lernt nicht nur vieles bis dahin Unbekannte kennen, sondern mit zunehmender Vertiefung auch die Standortgebundenheit der individuellen Erlebnisse einzuschätzen. Besonders instruktiv ist es, die andersartige Erfahrung von Menschen kennenzulernen, die den eigenen Gefühlsregungen entgegengesetzt ist: etwa die Erleichterung und Freude angesichts der Bombardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, die Juden empfanden, welche sich im nationalsozialistischen Deutschland versteckt hielten; so schrecklich sie waren, sie zeigten zugleich an, dass die Befreiung näher rückte. Es ist ein Vorteil derer, die Geschichte näher studiert haben, dass sie sich in der Weite der Zeit vielfältig auskennen und leidlich zurechtfinden. Goethe münzt diesen Zugewinn im Westöstlichen Divan in eine Bildungsnorm, ein Wissenspostulat um: „Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben“ (1819). 23 Doch ist es nicht leicht, Tatsachen und Umstände der Vergangenheit in ihrer Komplexität zu erfassen, sich in eine geschichtliche Welt gleichsam einzuleben. Oft irrt man wie ein Fremder herum. Zwar ist es einfach, dürre Daten auswendig zu lernen. Ein Geschichtswissen jedoch, das sich nur aus ihnen speist, bleibt an der Oberfläche haften. So etwas wie ein Gespür für andere Zeiten zu entwickeln, ist nicht das geringste Vermögen des versierten Historikers. Chronologische Nähe verträgt sich an der Schwelle von Epochen mit ausgeprägten Erfahrungen der Differenz: Wenige Jahre liegen zwischen der Mitte der Weimarer Republik (1924-1929) und der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ (1933). Diese sollte ein tausendjähriges Reich heraufführen und währte ganze zwölf Jahre. So kurze Zeit und so wirkungsmächtige, weitreichende Geschehnisse! Vor fast genau einem Jahrtausend, an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert folgte auf Kaiser Otto III. (983-1002) Heinrich II. (1002-1024); aber natürlich haben die wenigsten heute ein Gespür für den Wandel in diesen Jahren. Zwischen Kultur und Mode der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts können wir dagegen mühelos, scheinbar intuitiv unterscheiden. Selbst unter der Voraussetzung einer vielseitigen, zur Universalität tendierenden historischen Bildung macht sich ein vorgegebener Blickwinkel verzer23 Johann Wolfgang von Goethe: Werke (Hamburger Ausgabe), hg. v. Erich Trunz. 15. Aufl. München 1994. Bd. 2, S. 49 (im „Buch des Unmuts“).
3. Der Blick ins Weite: Lebenserfahrung und historische Bildung
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rend geltend; Nähe und Ferne sind vom jeweiligen Standort abhängig. Auf der mittelalterlichen Weltkarte, die im Benediktinerkloster Ebstorf bei Hannover wohl um 1300 entstand, 24 wird dies gut sichtbar: Neben Jerusalem, dem Mittelpunkt der damaligen Welt, ist das Gebiet, das dem Urheber der Karte unmittelbar benachbart war, überproportional deutlich eingezeichnet. Je tiefer wir in geschichtliche Welten eindringen, umso weiter entfernt sich unser Wissen von unserer individuellen Lebenserfahrung. Es besteht die Gefahr, dass zwischen den verschiedenen Ebenen Spannungen auftreten; Bildungswissen und Alltagswelt können auseinander treten. So hat man die Diskrepanz zwischen dem allgemeinen und dem familiären Geschichtsbild der Deutschen erforscht. „Opa war kein Nazi“, glaubt mancher mit zweifelhafter Berechtigung und sieht sein persönliches Umfeld frei von Schuld, obwohl er sich der Lasten der deutschen Geschichte im Allgemeinen durchaus bewusst ist. Aus seiner nächsten Umgebung hält er sie fern. 25 Es gibt, bewusst oder unbewusst, psychologisch verständliche Strategien der Abwehr von unliebsamen geschichtlichen Tatsachen, die sich zum Beispiel darin geltend machen, dass ein nicht ganz wahrhaftiges Arrangement mit ihnen auf der ganz persönlichen Ebene stattfindet. Die Untersuchung des Phänomens geschichtlicher Erfahrung muss an dieser Stelle abgebrochen werden. Doch wir ahnen bereits: das Archiv ist der Ort, wo der Einzelne seine eigenen, höchst persönlichen Erfahrungen mit allgemeinen historisch-politischen Aussagen abgleichen kann, wo er dem Allgemeinen des Geschichtsprozesses mit dem Anspruch der Erfahrungssättigung begegnet. Es gibt keine andere Stelle, an der dies so verlässlich geschehen kann.
24 Leider 1943 zerstört. Ehem. Museum des Historischen Vereins für Niedersachsen, Hannover. Vgl. Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe, hg. v. Hartmut Kugler. 2 Bde. Berlin 2007. 25 Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnagg: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M. 2002.
III. GEDÄCHTNIS UND ARCHIV 1. Individuelles und kollektives Gedächtnis „...im großen Hof meines Gedächtnisses, daselbst sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig...“ Diese Worte des Kirchenvaters Augustin aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert stellt Peter Huchel seinem 1963 erschienenen Gedichtband Chausseen Chausseen voran, der persönliche Erinnerungen des Krieges, des Zweiten Weltkrieges im Osten Europas, dichterisch aufgreift. 1 Es kommt an dieser Stelle nicht auf die Erfahrungen als solche an, mit denen sich Huchel auseinandersetzt. Vielmehr geht es um die Art des Vergangenheitsbezugs, den er, an Augustins Confessiones anknüpfend, mit seinem Zitat in Anspruch nimmt. Lange bevor die derzeitige Konjunktur des Gedächtnisbegriffs einsetzte, berief sich Huchel, gestützt auf die Weisheit eines sehr alten Textes, auf die innere Gegenwärtigkeit des einmal Gesehenen. Die Elemente einer gleichbleibenden Natur, die bei Augustin angesprochen sind, heben den Gehalt der Erinnerung beinahe über die Bezirke des Geschichtlichen, also des Vergänglichen, hinaus. Aber Natur und Geschichte lassen sich in der konkreten Erfahrung „stürzender Zeit“ 2, wie sie Huchel evoziert, nicht voneinander trennen. In der Art, wie Augustin durch einen Dichter des 20. Jahrhunderts aufgegriffen wird, zeigt sich ein großes Vertrauen in die eigene Subjektivität, in die Aussagekraft des selbst Erlebten, Erlittenen und die Verlässlichkeit der persönlichen Erinnerung daran. Das Empfinden liegt zugrunde, dass die Vergangenheit aufgrund ihrer Gegenwärtigkeit im Gedächtnis nah ist. Huchel greift auf Geschehnisse zurück, die sich vor seinen Augen ereigneten, auf alles das, was er an Schrecklichem gesehen und wohl auch durchgemacht hat; es hat sich seinem Gedächtnis eingebrannt. Er beruft sich auf nichts anderes als den begrenzten Horizont eines Einzelnen mit seiner – womöglich parteilichen, jedenfalls einseitigen – Perspektive, einen schon durch Ort und Zeit begrenzten Erfahrungsraum und eingeschränkte Möglichkeiten des wahrheitsgetreuen Erinnerns. Huchel nimmt einen Standpunkt der Innerlichkeit ein: Er findet in sich, was er mit Bezug auf das Grauen des Zeitgeschehens zum Ausdruck bringen will. Das individuelle Erleben wird erinnernd fixiert. Im Gedicht gelingt es ihm, seine privaten Wahrnehmungen und Erfahrungen exemplarisch werden zu lassen, sie auf die Ebene des Allgemeinen zu heben. Dieser Anspruch jedenfalls deutet sich mit dem Augustin-Zitat an. Huchel beruft sich auf sein Gedächtnis. Nun ist das individuelle Gedächtnis nicht nur für Schriftsteller ein „großer Hof“; wir wissen dies auch aus der Beobachtung unserer selbst. Das Erinnerungsvermögen eröffnet der menschlichen 1 2
Peter Huchel: Chausseen, Chausseen. Gedichte. Frankfurt/M. 1963 (8.–9. Tsd., 1975). Ebd., S. 59.
1. Individuelles und kollektives Gedächtnis
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Existenz erst die ihm eigentümliche Bewusstheit mit ihrer erstaunlichen Weite und Differenziertheit, Farbigkeit und Ambivalenz. Das Individuum kann lernen, mit ihr umzugehen, sie zu entfalten und zu kultivieren. Das Gedächtnis ist gleichsam ein Organ, das über enorme Fähigkeiten der Vergegenwärtigung verfügt; es sorgt für die emotionale Präsenz des vergangenen gelebten Lebens. Es schafft die Möglichkeit, die ureigene Erfahrung – Freude und Schmerz, Glück und Unglück – in Verwahrung zu nehmen und, soweit sie verschüttet ist, wiederzufinden. Doch hat die Psychoanalyse Freuds aufgedeckt, dass im Laufe der Zeit und im Prozess des Erinnerns erstaunliche Umformungen der erinnerten Bewusstseinsinhalte stattfinden; vieles wird ins Unbewusste geschoben und verdrängt. 3 Nietzsche preist die Fähigkeit des Vergessens, die den Handelnden um der zu gewinnenden Zukunft willen von den Zwängen der Vergangenheit befreit, ihm das Gesichtsfeld gleichsam leer räumt. 4 Es kann ein Zuviel der Erinnerung geben. Doch auch eine Apologie des Gedächtnisses, des Erinnerns ist angebracht. Erörterungen dieses Spannungsfeldes münden in eine Ethik der Erinnerung. 5 Das Gedächtnis ist jedem einzelnen Menschen in je spezifischer Weise zu eigen und insofern individuell, obwohl es zugleich in hohem Maße gesellschaftlich und kulturell bestimmt ist. Es besitzt „soziale Rahmen“. 6 Nicht zuletzt in der Vergegenwärtigung von Vergangenem hat das Individuum Anteil am kollektiven Gedächtnis der Gruppen und Gemeinschaften, denen es zugehört; unter kulturellem Aspekt wird analog von kulturellem Gedächtnis gesprochen. Familien, Generationen, soziale Klassen, politische Parteien und Bewegungen, Nationen, Religionsgemeinschaften – sie alle bilden ein jeweils besonderes Gemeinschaftsgedächtnis aus und befestigen es oft mit erheblichem Aufwand. Es gibt verschiedenste Rituale, um bestimmte Gedächtnisinhalte, die als wertvoll erachtet werden, zu konsolidieren. Im Schulunterricht wird die Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen erzwungen. Der Erfolg von solchen Anstrengungen der Vermittlung ist manchmal fraglich. Denkmäler sind, mit einem Wort Lenins, für Tauben interessanter als für die meist gleichgültigen menschlichen Passanten. Heute wird das kollektive Gedächtnis oft als primär im Verhältnis zum individuellen Gedächtnis angesetzt. Sieht man genauer hin, stellt sich aber heraus, dass jede Vorstellung von einem Gemeinschaftsgedächtnis auf einer Abstraktion beruht. Was als kollektives Gedächtnis bezeichnet wird, ist – als empirisch fassbare Größe – nichts anderes als die Gemeinsamkeit zwischen dem individuellen Gedächtnis vieler Einzelner. Gerade in pluralistischen Gesellschaften ist offenkun3 4 5 6
Vgl. zum Beispiel Sigmund Freud: Psychologie des Unbewussten (Studienausgabe, Bd. 3). Frankfurt/M. 2000. Friedrich Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ (1873) (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1. München 1988) Vgl. etwa Avishai Margalit: Ethik der Erinnerung. Frankfurt/M. 2000. Der französische Titel des zuerst 1925 erschienen Buches von Maurice Halbwachs lautet: Les cadres sociaux de la mémoire. Vgl. ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M. 1985. Ferner: ders.: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M. 1985.
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III. Gedächtnis und Archiv
dig, dass auch in puncto Gedächtnis das Individuum an erster Stelle zu stehen hat; der je individuelle Akt des Erinnerns muss in den Blick genommen werden. Das Individuum gehört stets mehreren Gruppen an, und komplexe Identitäten sind, wie Jost Hermand einmal anmerkte, 7 gerade die interessanten. Unter kollektivem Gedächtnis ist also die Schnittmenge einer Vielzahl individueller Gedächtnisinhalte zu verstehen, die bei Mitgliedern einer Gruppe zum Teil miteinander übereinstimmen. Bei aller gesellschaftlichen Prägung des Individuums: Im „großen Hof“ seines Gedächtnisses hat jeder Mensch seine eigene gelebte Geschichte, die er mit sich ins Grab trägt. In Gesprächen mit alten Menschen, in denen die Tore zur Vergangenheit aufgehen, kann man viel von der Unerschöpflichkeit des Erinnerns erfahren und lernen. Man könnte meinen, dass der Grenzfall eines ganz und gar totalitären Staatswesens eine Situation anzeigt, in der das individuelle Gedächtnis der Bürger weitgehend in Übereinstimmung gebracht worden ist; in dieser extremen Lage scheint es tatsächlich so etwas wie ein zwischen den Angehörigen eines Kollektivs identisches Gedächtnis geben zu können. Ein derartiger Staat, so könnte man denken, müsste eine Machtfülle besitzen, die jegliche Individualität erdrückt, und eine Gewalt ausüben, die alles vereinnahmt; dann wäre er in der Lage, nicht nur das Verhalten, sondern die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Menschen bis in die Tiefen ihrer Persönlichkeit hinein einander anzugleichen. Das würde eine Gleichschaltung selbst intimster Lebenssphären einschließen. Mit brutaler Gewalt ließe sich ein kollektives Gedächtnis im strikten Sinne annähernd erzwingen. Doch selbst eine solche radikale Gleichschaltung hätte wohl Grenzen: Gerade die Ausübung der Macht, die etwa im Falle von Bestrafungen Einzelne trifft, würde sich ins individuelle Gedächtnis eingraben und die Angleichung letztlich verhindern. Die Gedanken sind eben doch – aber in einer Weise, die nicht zum Triumphieren Anlass gibt – frei. Insgesamt lässt sich festhalten: Es kann ein berechtigtes politisches oder soziales Anliegen sein, Gemeinsamkeiten zu betonen, die es zwischen den jeweils individuellen Gedächtnisinhalten der Bürger oder einer bestimmten Gruppe von Menschen gibt oder geben sollte; das Gedächtnis des Einzelnen geht ihnen aber, unbeschadet aller kommunikativen Vermittlungen, de facto voraus. Mit unserem individuellen Gedächtnis sind uns zugleich unsere ureigenen Erfahrungen, unsere Freuden und Verletzungen, einverleibt. Das Wissen von Vergangenem, das über die Lebenszeit des Einzelnen hinausreicht und das sich mit Deutungsmustern verwebt, kommt allerdings hinzu; es ist in ganz besonderem Maße vorgeprägt. Unsere eigenen Erfahrungen sind mit Wissensbeständen, insbesondere den mitgeteilten Erfahrungen unserer Mitmenschen und früherer Generationen aufs Engste verzahnt. Der Erfahrungserwerb als lebensgeschichtlicher Vorgang steht keineswegs außerhalb des sozialen Zusammenhangs. Sowohl die Gegenstände des individuellen Erlebens als auch die Umformungen, die dank der Dynamik des Gedächtnisses im Laufe der Zeit eintreten, sind gesellschaftlich und
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In einem Vortrag über Heinrich Heine in Marburg/Lahn (1990/91).
1. Individuelles und kollektives Gedächtnis
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kulturell bedingt. Sie sind vielfältig beeinflusst, ohne allerdings in Bedingtheiten aufzugehen. Das Individuum hat seine Erinnerungen, das Potenzial seines Gedächtnisses. Das bedeutet aber nicht, dass der Einzelne das, was er erinnert, selbst erfinden kann. Das Erinnern ist weithin unverfügbar; man entrinnt der Vergangenheit schon im eigenen Innern oft nicht. Es geschieht einfach, dass Vergangenes bis hin zur Bedrängung, ja traumatischen Überwältigung seine Gegenwärtigkeit behauptet. 8 Jean Améry wie Primo Levi, beide Opfer und Überlebende des Holocaust, die ihr Zeugnis als bedeutende Beiträge zu einem möglichen kollektiven Gedächtnis der Menschheit abgelegt haben,9 nahmen sich in der Folge unauslöschlicher, im Bewusstsein untilgbarer Gewalterfahrung schließlich das Leben. Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. 2. Schrift, Registratur, Archiv Doch hat das menschliche Gedächtnis bei all seinem Reichtum andererseits auch enge Grenzen. Zwar ist es in seiner Einbettung in die individuelle Psyche erfüllt von einer Vielfalt kognitiver und emotionaler Bezüge. Man mag sich fragen, ob sie in ihren Nuancen überhaupt sprachlich fassbar, das heißt beschreib- und mitteilbar sind. Dichter der Moderne wie Marcel Proust oder James Joyce sind den Strömen des Bewusstseins in ihrer Komplexität wohl näher gerückt, als es in vorausgegangenen Epochen der Fall war. 10 Das Gedächtnis verfügt über ebenso prägnante wie authentische Eindrücke früheren Erlebens, versagt aber an ganz einfachen Aufgaben, etwa der chronologischen Zuordnung. Das zeigt sich zum Beispiel vor Gericht: Jeder Richter, der mit der meist gar nicht beabsichtigten Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen vertraut ist, weiß um diese Mängel und stellt sie in Rechnung. Das individuelle Gedächtnis ist also ein großartiges, aber in mancher Hinsicht auch ein versagendes, hilfloses Organ. Es reicht für bestimmte, oft durchaus einfache Zwecke des gesellschaftlichen Verkehrs nicht aus; bestimmte Dinge merkt man sich einfach nicht genau genug. Deshalb bedarf es der Gedächtnisstützen, insbesondere der Schrift. Diese ist darüber hinaus ein Mittel des für andere zugänglichen Beweises, ein Instrument, um aus der Befangenheit in einer inneren Welt herauszutreten. Solche Hilfsmittel sind uns modernen Menschen völlig 8
Vgl. den Titel von Saul Friedländers Autobiographie: Wenn die Erinnerung kommt. Stuttgart 1978 (frz.: Quand vient le souvenir, 1978). 9 Vgl. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1966. – Primo Levi: Ist das ein Mensch? (ital.: Se questo è un uomo). München u.a. 1978. 10 Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–1922 und postum, hier benutzt in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens). Frankfurt/M. 1967. Siehe hierzu zum Beispiel Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „A la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt/M. 1986 (EA 1955). – James Joyce: Ulysses, übertragen von Hans Wollschläger (engl.: Ulysses, 1922). Frankfurt/M. 1975.
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III. Gedächtnis und Archiv
selbstverständlich: Es gibt unzählige Aufzeichnungen zur Auffrischung der Erinnerung an eigenes Erleben wie auch Mitteilungen, die schriftlich festgehalten werden: Notizen, Tagebücher, Briefe, autobiographische Texte, Protokolle und Verträge, Medienberichte, heute auch Blogs, SMS und e-Mails. Schriftlichkeit ist im Geschäftsverkehr, in der privaten Korrespondenz wie in der Publizistik, ja im gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Leben unverzichtbar. Die Technik und das Medium der Schrift mit allen Weiterungen bis hin zur bildlichen und akustischen Aufzeichnung und Wiedergabe – Buch, Zeitung, Zeitschrift, Bibliothek, Photographie, Rundfunk, Fernsehen, Internet – kommen zu den Formen individuellen Erinnerns und mündlicher Mitteilung hinzu und bilden einen kaum überschaubaren Zusammenhang. Die Art der Fixierung von Zeichen und des Transports des so Fixierten, also das Medium der Kommunikation, lässt dabei die Inhalte nicht unberührt.11 Die Schrift ist ein Mittel, Einzelheiten präzise, unmissverständlich und kontrollierbar über den Augenblick hinaus festzuhalten. Eine große Menge an Information vollständig und bis ins kleinste Detail hinein unverändert zu behalten, überfordert das menschliche Gedächtnis, selbst wenn es mnemotechnisch geschult wurde. Die als Ersatz für die Mängel der ‚Speicherung‘ im Gedächtnis angelegten Dokumente müssen aber, wenn sie über längere Zeit hinweg und in größerem Umfang nutzbar sein sollen, aufbewahrt und geordnet werden. So entstehen Registraturen. Der Übergang zu dieser Art von geordneter Schriftlichkeit vollzog sich schon in den altorientalischen Hochkulturen. 12 Die Registraturen, die oft auch Archive genannt werden, sind zunächst nichts anderes als Speicher für Dokumente mit einer bestimmten vorgegebenen Nutzung. Irgendwann verlieren sie ihren Ursprungszweck und bleiben, wenn es der Zufall will, einfach übrig. Was, wie man sagt, schwarz auf weiß geschrieben steht, hat nämlich die Eigenschaft, relativ unabhängig von der Dauer des Aufzeichnungsbedarfs zu existieren – die Schriftzeichen und der Schriftträger können, gemessen am Zweck der Niederschrift, zu kurz oder auch viel länger als nötig existent sein. Wenn Arsenale von Überresten als Quellen der Geschichte, als historische Zeugnisse wahrgenommen werden, wird aus der Registratur ein historisches Archiv. In welcher Art auch immer dieses oder jenes schriftlich fixiert wird, durch die Nutzung der Schrift, einer der elementaren Kulturtechniken des Menschen, erweitern sich die abrufbaren Bestände an Information ungeheuer. Außerdem entstehen, wie angedeutet, ganz eigene Ablage-Ordnungen. Die in ihnen enthaltenen Informationsmengen überschreiten das Maß des individuell Fassbaren, geschweige denn des Erlebbaren bei weitem. Eine ganze Sparte kulturkritischer Betrachtung widmet sich der Entfremdung, welche die Überflutung des Individuums mit In11 Gemäß Marshall McLuhans berühmt gewordener Formel „the medium is the message“, die allerdings, wörtlich genommen, zu weit geht: Das Medium bestimmt die Botschaft nicht, sondern beeinflusst sie allenfalls. Vgl. ders.: Understanding Media. The Extensions of Man. New York 1964. 12 Vgl. Ernst Posner: Archives in the Ancient World. Cambridge/Mass. 1972.
2. Schrift, Registratur, Archiv
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formation, die nicht mehr auf eigenem Erleben fußt, bewirkt oder bewirken kann. 13 In aller Kürze wurde der Weg von der Schrift über die Registratur zum Archiv idealtypisch dargestellt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass drei Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit von einem historischen Archiv gesprochen werden kann: – Es müssen Aufzeichnungen vorliegen: Die erste Voraussetzung ist Schriftlichkeit als eine materielle Gegebenheit. – Die Schriften müssen zudem in halbwegs organisierter und geordneter Form aufbewahrt worden sein: Die zweite Voraussetzung ist das Vorhandensein einer Registratur oder eines ähnlich gearteten Zusammenhangs. – Das Material an Aufzeichnungen in seiner jeweiligen Organisationsform muss schließlich ein geschichtliches Interesse auf sich ziehen. Die dritte Voraussetzung besteht also darin, dass die Dokumente – zumindest potenziell – als Quellen zur Kenntnis der Vergangenheit angesehen, das heißt als historisch bedeutsam bewertet werden. Meist hat eine Registratur in dem Augenblick, in dem sich ein geschichtliches Interesse geltend macht und sie dadurch zu einem historischen Archiv wird, ihren ursprünglichen Zweck bereits ganz oder zu einem großen Teil verloren; das Archiv ist ein Relikt. Trotzdem wird es aber aus sekundären, eben historischen Gründen bewahrt. An die Stelle des primären Zwecks tritt ein neuer; eine Registratur wird als Überrest zu einem Archiv, dessen Wert eben nur noch historisch bemessen werden kann. Die zuletzt genannte differentia specifica – das Merkmal, historisch interessant zu sein, das von außen an die Archivalien herangetragen wird – muss nun noch näher ins Auge gefasst werden. Es ist zu klären, was das Adjektiv „historisch“ in unserem Zusammenhang eigentlich genau besagt. 3. Distanz zur Vergangenheit: die kritische Einstellung der Historiker Erinnern wir uns noch einmal an den Anfang des Kapitels, an das Augustin-Zitat des Lyrikers Huchel. Die Haltung des Dichters, der sich ganz auf das eigene Gedächtnis verlässt, steht in deutlichem Kontrast zu jener ganz anderen Art des Zugangs zur Vergangenheit, die im Folgenden thematisiert werden soll: der Suche nach Belegen, die sich der vorhandenen Spuren des Vergangenen bedient und deren bevorzugter Ort das Archiv ist. Auf diese Weise wenden sich speziell Historiker der Vergangenheit zu. Sie bedienen sich dabei der historischen Kritik als Methode; dabei sind sie auf Zeugnisse der Vergangenheit und häufig auch auf die Institution des historischen 13 Bereits Jean-Jacques Rousseau sieht hier „Vorurteile“ wirksam und spielt ein Erziehungsmodell der Abschirmung – einer pädagogischen Provinz – gedanklich durch. Vgl. Emile oder Über die Erziehung, übers. v. Martin Rang. Stuttgart 1976 (frz. Orig.: Emile ou de l’éducation , 1762).
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III. Gedächtnis und Archiv
Archivs angewiesen. Gerade im Rückgriff auf Archive kann sich eine Haltung kritischer Distanz zur Vergangenheit bewähren und entfalten. Umgekehrt wirkt sich die kritische Einstellung, die Historiker ausgebildet haben, auf die Archivarbeit aus, ja sie ist für diese bis heute eine unerlässliche Voraussetzung. Historiker, die den indirekten, auf der Untersuchung von Spuren beruhenden Weg der Erkenntnis gehen, pflegen eine solide methodische Skepsis. Heute haben sie die Möglichkeit, sich am kritischen Geist ganzer Forschergenerationen, die vor ihnen tätig waren, zu schulen; die Verfahren der Prüfung, auf die zurückgegriffen werden kann, sind aufgrund von früher erzielten Resultaten als praktikabel erwiesen und anerkannt; so ist man in der günstigen Lage, diese nutzen, aber auch weiterentwickeln zu können. Die historisch-kritische Arbeit steht in einem deutlichen Gegensatz zur inneren Evidenz des Gedächtnisses, denn Geschichtsforscher stützen sich bei ihren Recherchen auf materielle, mit Zeichen behaftete Spuren, wie zum Beispiel Urkunden und Akten. Diese werden in ihrer Eigenschaft, der Historie zu dienen, mit einem romantischen Bild als Quellen bezeichnet. Wenn Historiker das Vergangene erkunden, verlassen sie sich nicht auf den jeweils gegebenen Forschungsstand oder gar auf ein Geschichtsbild, das im kollektiven Gedächtnis gegenwärtig ist. Um es noch genauer und besser zu wissen, suchen sie die Archive auf: die Depots aussagefähiger schriftlicher Aufzeichnungen, die als Reste längst vergangener Gegenwart überlebt haben. Wie Marc Bloch betont, ist der spezifisch historische Zweifel nicht rigoristisch. Er verlangt lediglich, den Gehalt und die Tragfähigkeit einer Annahme genau zu prüfen – nicht aber, sie von vornherein als unzureichend zu verwerfen. 14 Letztlich sind Historiker bereit, sich mit Aussagen zufrieden zu geben, die auf Wahrscheinlichkeit beruhen; von diesen kann also nicht behauptet werden, dass sie mit absoluter Sicherheit zutreffen. Geschichtsforscher bewegen sich in einem Gelände der mehr oder weniger abgesicherten Erkenntnisse, nicht der Gewissheiten; deshalb sind sie Pragmatiker in der Ermittlung der Wahrheit, besser: in der Annäherung an sie. Ihre kritische Einstellung, die sich auf die Inhalte einer erarbeiteten Geschichtsdarstellung ebenso wie – im Sinne von Quellenkritik – auf die zu Rate gezogenen Belege bezieht, lässt sie gerade deshalb nicht zur Ruhe kommen. Es gibt keine endgültige, abgeschlossene Erkenntnis. Heutzutage wird beinahe alles, was dem Gedächtnis behilflich ist, mit ihm identifiziert. Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses wird zu einem Paradigma der Gegenwärtigkeit von Vergangenem. Die Vorstellung von einem gleichsam ausgelagerten Gedächtnis ist geläufig geworden. Sie beansprucht, mehr als bloß eine Metapher zu sein: Jan Assmann etwa spricht von der „Außendimension des menschlichen Gedächtnisses“. 15 Die Archive werden zusammen mit den Museen und Bibliotheken schlicht als „Gedächtnisorganisationen“ bezeichnet, weil sie Funktionen der Aufbewahrung von Kulturgut, auf Dauer oder für einige Zeit, erfüllen. Aber sind die zahlreichen, oft überflüssigerweise angefertigten, weil unge14 Marc Bloch: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers (zuerst 1949 in frz. Spr.: Apologie pour l’histoire ou Métier d’historien). München 1985, S. 66. 15 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 19.
3. Distanz zur Vergangenheit: die kritische Einstellung der Historiker
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lesen bleibenden Xerokopien, die sich jemand anfertigt und hortet, etwa eine Außendimension des Wissens? Eher stellen sie ein stillschweigendes Eingeständnis der Unwissenheit dar. Aus den angedeuteten Gründen ist es angebracht, das Spannungsverhältnis zwischen dem lebendigen Gedächtnis und der Instanz des Archivs, die der Kritik einen Rückhalt gibt, zu betonen. Auf der einen Seite stehen kognitive, aber auch emotionale Prozesse, von denen Einzelne oder ganze Gruppen erfasst sind, auf der anderen befindet sich die Materialität von bloßen Dokumenten. Zwischen diesen Polen muss unterschieden werden – es gibt, pointiert ausgedrückt, einen markanten Gegensatz zwischen der Erinnerung, die uns nah ist, und den materiellen Spuren der Vergangenheit, die uns fern gerückt sind. Die kritische Forschung, die auf Archivalien zurückgreift, gehört zu den vielfältigen Kulturen des Erinnerns, setzt jedoch einen Kontrapunkt zur Dominanz der gleichsam naturwüchsigen psychischen und sozialen Vorgänge der Vergegenwärtigung von Vergangenem. Der Historiker vollzieht in gewisser Weise, wenn auch stets in begrenztem Rahmen, einen Bruch mit der Welt, die ihn umgibt, indem er sich auf die Vergangenheit anhand ihrer – höchst fragmentarischen – Überbleibsel, insbesondere archivischer Natur, einlässt. Niemand hat dies anschaulicher beschrieben als Siegfried Kracauer. Die Historiker verlassen in der Hinwendung zu ihrem Gegenstand, der Geschichte, nicht grundsätzlich die Sphäre der Alltagswelt, in der jeder Mensch lebt und die er um sich hat. Doch finden sie das Gewohnte in der untersuchten Vergangenheit in einer anderen, modifizierten Gestalt vor. Sie geraten in fremde Umgebung. Kracauer bedient sich der Metapher von der Reise in die Vergangenheit, um diese Situation anzudeuten, und er vergleicht den Historiker mit einem Emigranten, der er selbst ist. In Frankfurt am Main aufgewachsen und mit dem Berlin der zwanziger Jahre vertraut, schrieb Kracauer in New York über die Situation des Exulanten, der seine Heimat verlassen musste. Die „Loyalitäten, Erwartungen und Hoffnungen, die einen großen Teil seines Seins umschließen“, sind „automatisch von ihren Wurzeln abgeschnitten. Seine Lebensgeschichte ist zerrissen, sein ‚natürliches‘ Ich in den Hintergrund seines Geistes verwiesen.“ Exulanten wollen und müssen sich anpassen, und doch gelingt ihnen dies nur zum Teil; sie behalten die Kälte des distanzierten Blicks und betrachten noch die größten Selbstverständlichkeiten des Lebensvollzugs wie aus der Ferne. Ihnen fällt manches auf, über das diejenigen, die sich in vertrauter Umwelt befinden, gewöhnlich hinwegsehen; anderes aber verstehen sie nicht. Auch die Historiker begeben sich als Beobachter in die Fremde, und es ist, Kracauer zufolge, nicht zufällig, dass sich unter ihnen bedeutende Emigranten befinden. Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Kriegs, der neben Herodot als Begründer der Geschichtsschreibung gilt, ist für ihn ein exemplarischer Fall. Er vertrat die Auffassung, dass ihn gerade sein langes Exil befähigt habe, die Dinge von zwei Seiten zu sehen. 16 „Nur in diesem Zustand der (...) Heimatlosig16 Kracauer bezieht sich auf Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, V 26.
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III. Gedächtnis und Archiv
keit“, konstatiert Kracauer, „kann der Historiker mit dem ihn betreffenden Material kommunizieren. (...) Als Fremder in der von Quellen evozierten Welt sieht er sich vor die Aufgabe gestellt – die Pflicht des Exils –, ihre Oberflächenerscheinungen zu durchdringen, um zu lernen, jene Welt (...) zu verstehen.“ 17 Welcher Gegensatz zwischen der Selbstgewissheit des individuellen Gedächtnisses und den prekären, unablässig in Frage gestellten, fragmentarischen Kenntnissen, welche die Archive hergeben! Die vorigen knappen Hinweise auf die großen Unterschiede zwischen Gedächtnis und Archiv mögen an dieser Stelle genügen. Sie zeigen uns: Der vom individuellen Gedächtnis aufgespannte Horizont, jener „große Hof“, ist ein Bereich der Nähe. Die Inhalte der Archive sind demgegenüber ein fremdes Terrain. Das im Archiv forschend und recherchierend zu gewinnende Wissen bringt uns aber gerade deshalb viel Neues. Mit seiner Hilfe besteht die Möglichkeit, auf dem Feld der Geschichte das Gedächtnis zu überschreiten und es auf diese Weise zu ergänzen, zu korrigieren und zu bereichern.
17 Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen (engl.: History. The Last Things before the Last, 1969). Frankfurt/M. 1973, S. 61, 63 und 71. – Seit 2009 liegt als Band 4 der Werke in neun Bänden im Suhrkamp-Verlag eine kommentierte Ausgabe, hg. v. Ingrid Belke, vor.
IV. DAS HISTORISCHE MATERIAL 1. Die Fremdheit der Spuren Es kann passieren, dass uns Dinge selbst aus unserem engsten Umkreis mit der Zeit fernrücken. Immer ist es etwas in die Augen Springendes, unsere Sinne Berührendes, an dem wir uns stoßen, ein Stück Wirklichkeit, das den Erwartungen zuwiderläuft, das unser Bewusstsein aufstört, so dass uns ein Gefühl der Fremdheit beschleicht. Davon war schon die Rede. Auch im Umgang mit den schriftlichen Spuren des Vergangenen, bei ihrer Entzifferung und Deutung, berührt uns diese Fremdheit, die schon allein in der Diskrepanz zwischen der Spur und dem, wovon sie herrührt, begründet ist. Ein Liebesbrief, der von einer vergangenen Liebe, einem besonders lebhaften Empfinden also, übrig geblieben ist, stimmt uns nachdenklich, weil er mit seinem Überdauern als bloßer Rest die Vergänglichkeit dessen, wovon er spricht, geradezu verkörpert. Was der Brief bedeutet, wissen oder ahnen wir, aber die Wirklichkeit, aus der er stammt und die er bezeugt, existiert nicht mehr. Wir halten das Papier fest, um etwas noch dinglich zu bewahren, in der Art einer Reliquie, oder wir verbrennen die Briefe, weil wir die Geringfügigkeit des Übriggebliebenen nicht ertragen können oder weil wir gar nicht daran erinnert werden wollen. Das Vernichten von privaten Briefen und der Tod scheinen in einer merkwürdigen Affinität zueinander zu stehen: In Rilkes Malte, in der die Grenzerfahrung des Todes thematisch ist, wird eine Verbrennung von „Briefschaften“ in verstörender Weise beschrieben. 1 Als Historiker tappen wir auch deshalb oft im Dunkeln, weil unsere Spurenlese einfach aufgrund der Materiallage schwierig ist. Daraus resultiert NichtWissen, eine ganz eigene Ferne dessen, was wir gern kennenlernen würden. Die schriftlichen Reste bleiben hinter der persönlichen Erinnerung oft zurück. Das kann sich bei der Begegnung mit einem Zeitzeugen eindrucksvoll zeigen. Hierfür ein Beispiel: In meinen Studien zur Geschichte der Berliner Hochschule für Musik spielte immer wieder die Aufnahme von Studierenden eine Rolle, die damals, in den zwanziger Jahren, ähnlich wie heute aufgrund einer schweren, geradezu gefürchteten künstlerischen Prüfung erfolgte. Als archivische Quellen liegen vor: Schülerverzeichnisse und, lückenhaft, kurze Protokolle der Aufnahmeprüfung. 2 In ihnen sind die vorgetragenen Werke und eine Beurteilung 1 2
Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/M. (Insel) 1982 (EA 1910), S. 129f. Das Spektrum dieser Quellen ist aber immerhin so groß, dass es sich lohnte, es in einem Aufsatz darzustellen. Vgl. Verf.: „Kunst und Musik in Berlin studieren... Personengeschichtliche Quellen im Archiv der Universität der Künste Berlin“, in: Der Herold. Vierteljahrsschrift für
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IV. Das historische Material
durch die Prüfungskommission in unterschiedlichen Rubriken stichwortartig vermerkt. „Spricht nicht deutsch“, heißt es beinahe maliziös in der Notiz zur Prüfung von Dora Diamant, Kafkas letzter Freundin, die sich um Zulassung an der staatlichen Schauspielschule bewarb. 3 Bei denjenigen Kandidaten, die angenommen wurden, kommt ein Vermerk hinzu, welchem Hauptfachlehrer der Betreffende zugewiesen ist; an künstlerischen Hochschulen wird in Klassen unterrichtet. Viele Fragen bleiben offen: Wer entschied über die Zuordnung zu einer Klasse? Durfte der angehende Student einen Wunsch äußern? War die Zuweisung definitiv oder konnte sich gerade in den ersten Wochen noch etwas ändern? Wie steht es mit den Nebenfächern und wie wurde der Studienplan festgelegt? Dies sind nur einige der Fragen, die in Dutzenden von Fällen zu traktieren waren, etwa bei dem Versuch, die Klasse Franz Schrekers, eines hervorragenden Kompositionslehrers, zu rekonstruieren. 4 Gerade die gründliche Auseinandersetzung mit den Quellen erwies, wie unbekannt uns Verhältnisse bleiben müssen, deren fast einzige Spur behördliche Unterlagen sind. Auch aufgrund dieser Vorgeschichte ist mir der Besuch des 95-jährigen israelischen Komponisten Josef Tal unvergesslich, der 1929 genau die fragliche Prüfung bestand. Ein gebrechlicher, in sich zusammengesunkener alter Mann, begleitet und gestützt von seinem Sohn, begann nach einigem Zögern mit einer so facettenreichen, detaillierten, spannenden und bewegenden Erzählung, dass alles plötzlich zum Leben erwachte, was sich dem Bedürfnis nach historischer Imagination angesichts spröder Listen und dürrer Protokollnotizen lange entzogen hatte. Im Fortgang der Begegnung führte ich ihm die erwähnten spärlichen Belege vor. Er sagte, dass sie ihn interessierten, aber er sei auch ein wenig amüsiert. 5 Diese Worte klingen in meinem Ohr nach, denn sie erscheinen wie ein Verdikt über das Schicksal der Archivforschung. Die Quellen, auf die sie sich stützt, mögen blass sein, doch gibt es häufig keine besseren. Sinnliche Wahrnehmungen, die mit vergangenen Erfahrungen zusammenpassen, und sei es nur assoziativ, fördern die Erinnerung und konturieren die Leistungen unseres Gedächtnisses. Dieses ist auf Anstöße, die von außen kommen, geradezu angewiesen. Proust beschreibt in berühmten Passagen ganz am Anfang seiner Suche nach der verlorenen Zeit, wie ihn der Geschmack eines kleinen Gebäckstücks, einer Madeleine, eine vergangene Zeit evozieren half. 6 Das Bewusstsein lässt sich von dem vorgefundenen Eindruck anregen; dieser ruft einen ver-
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Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften, N.F. Bd. 18, Jg. 53 (2010), Heft 1-2, S. 1–24. Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv, Bestand 1, Nr. 2974 (Aufnahmeprüfungen an der Staatlichen Schauspielschule, Wintersemester 1925/26), Protokollnotiz 20 und 133. Vgl. Franz Schrekers Schüler in Berlin. Biographische Beiträge und Dokumente (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin, Bd. 8). Berlin 2005. Vgl. Josef Tal: Der Sohn des Rabbiners. Ein Weg von Berlin nach Jerusalem. Berlin 1985. Diese ältere Fassung der Autobiographie ziehe ich der 2005 in Berlin unter dem Titel Tonspur. Auf der Suche nach dem Klang des Lebens erschienenen Neuausgabe vor. Vgl. die ersten Seiten von Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a.a.O. („In Swanns Welt“, 1. Teil: „Combray“).
1. Die Fremdheit der Spuren
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schütteten Gedächtnisinhalt gleichsam hervor. Kracauer weist nun darauf hin, dass auch Proust das Phänomen der Fremdheit des Übriggebliebenen bedenkt. Er kommentiert eine Stelle, an der Proust beschreibt, wie er als Kind in einem Augenblick der Ernüchterung auf Züge seiner geliebten Großmutter durch ein Foto gestoßen wird, die ihm bisher in seiner unachtsamen Sympathie unbemerkt geblieben waren. Was er auf dem technisch erzeugten Bild sieht, dringt nun in ihn ein; die bisher als gültig erachtete Vorstellung erleidet eine Niederlage: „Sein inneres Bild unterliegt der Photographie genau in dem Moment, in dem er als liebende Person zu einem Fremden schrumpft.“ 7 Der Bezug zu einem Stück spurenbehafteter Materie, das eine Botschaft des Vergangenen an sich trägt und manchmal befremdlich wirkt, kann unterschiedlich sein: spontan und naiv, aber auch insistierend, mit einem Forschungs- und Rechercheanliegen verknüpft. In diesem Fall geht es um Beweise, zumindest um Anhaltspunkte in einem Verfahren der Annäherung an die Wirklichkeit. Wenn diese Art des Zugangs gewählt wird, wollen wir das Material unseres Bemühens als Quelle oder Zeugnis bezeichnen. 8 Durch eine bestimmte Perspektive erschaffen wir sie in gewisser Weise erst; was in dem Dokument latent war, wird aktualisiert. 2. Quellen, Überreste und historische Fragen Jegliche Historie im aufgeklärten Verständnis des Wortes, insbesondere jede wissenschaftliche Geschichtsforschung, bedarf einer empirischen Basis. Es muss in der jeweiligen Gegenwart noch etwas existieren und aufgefunden werden, was Rückschlüsse auf die Vergangenheit zulässt. Historische Aussagen müssen durch Belege abgestützt, durch Zeugnisse verbürgt sein. Es muss Spuren geben, die heute noch vorhanden sind und über Vergangenes Auskunft geben. Diese Beweismittel werden für Zwecke der Geschichtsforschung und historische Recherchen herangezogen. Längst nicht alle Quellen sind Archivalien; man denke etwa an Münzen, Schmuck oder Waffen, die bei archäologischen Grabungen zutage gefördert werden. Umgekehrt gilt aber, dass Archivalien in erster Linie der Historie dienen, also – zumindest potenziell – Quellen sind. Definitionen des Begriffs der Quelle finden sich in allen gängigen Einführungen in die Geschichtswissenschaft. Droysen sprach von „geschichtlichem Material“. 9 Quellen nennt man alle „Texte, Gegenstände oder Tatsachen“, sagt Paul Kirn, „aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“. 10 Die Art der Materialien ist also keineswegs eingeschränkt. Es mag sich um ein Tondokument, ein Zeitungsblatt, ein Aktenschriftstück ebenso wie um eine Schlossanlage 7 8
S. Kracauer: Geschichte vor den letzten Dingen, a.a.O., S. 102. Vom Wortsinn her gedacht, ist es überzeugender, von einem Zeugnis als von einer Quelle zu sprechen. Da jedoch der Terminus Quelle allgemein gebräuchlich ist, wird er ihm auch hier der Vorzug eingeräumt. 9 J.G. Droysen: Historik, a.a.O., S. 11 passim. 10 P. Kirn: Einführung in die Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 29.
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IV. Das historische Material
oder eine Tonscherbe handeln; alles dies kann unter Umständen eine Quelle sein. Es gibt Schrift-, Bild- und Tonquellen sowie Gegenstände, die als Zeugnisse fungieren. Marc Bloch etwa denkt auch an die Landschaft in Nordfrankreich: „Wer ist nicht überrascht, wenn er bei der Fahrt durch unsere nördlichen Landschaften das sonderbare Muster der Felder betrachtet. (...) der Anblick dieser überaus langen und schmalen Bänder, die das Ackerland in eine Unmenge von Parzellen zerteilen, (ist ...) dazu angetan, den Agronomen zu verwirren.“ Der Historiker hat eine Erklärung: Das merkwürdige Landschaftsbild geht „auf entlegene Ursprünge“ zurück, an denen die bäuerliche Mentalität festhielt.11 So interpretiert und erkannt, erweist es sich als Geschichtsquelle. Die historischen Archive enthalten überwiegend Dokumente jener Gattung von Quellen, der in der allgemeinen Quellenkunde von alters her eine besondere Authentizität zugesprochen wird: die sogenannten Überreste. Es handelt sich um Zeugnisse, die nicht für die Unterrichtung der Nachwelt gedacht waren; das bedeutet, dass sie mit Blick auf Menschen aus einer späteren Zeit ganz unabsichtlich entstanden sind. Die vorhandenen Intentionen, etwa der Mitteilung, erschöpften sich in einer inzwischen vergangenen Gegenwart oder einer seinerzeit nahen, jedenfalls genau bestimmbaren und heute ebenfalls vergangenen Zukunft; im Laufe der Zeit verloren die Dokumente ihren ursprünglichen Zweck. Die Nachwelt als solche ist kein gewollter Adressat, oft nicht einmal ein in Rechnung gestellter Mitwisser oder Beobachter. Zur Erläuterung: Gewiss entsteht zum Beispiel eine Steuererklärung absichtlich; ich komme meinen Pflichten gegenüber dem Finanzamt nach und bemühe mich, all die vorgesehenen Formulare für den Lohnsteuerjahresausgleich ordnungsgemäß auszufüllen und fristgerecht einzureichen. Wenn sie mit den Unterlagen der Steuerverwaltung in ein Archiv gelangen, geschieht dies allerdings ohne meine Zustimmung als Betroffener und schon gar nicht aufgrund einer Absicht, die ich selbst verfolgen würde. Es sind Informationen enthalten, die ich, mein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmend, nicht mitgeteilt hätte, wenn ich nicht dazu gezwungen gewesen wäre. Schon gar nicht wünsche ich deren Publikation. Vielleicht würde ich mich direkt dagegen verwahren. Ich habe mein Exemplar der Unterlagen, die Durchschläge oder die Datei, längst vernichtet oder gelöscht, weil der Steuerbescheid inzwischen unanfechtbar geworden ist. Die Archivgesetze berücksichtigen diese Umstände, indem sie Schutzfristen für personenbezogene Unterlagen vorsehen; nach dem Tod der Betroffenen sind sie noch für zehn beziehungsweise dreißig Jahre geschlossen. 12 Überreste sind nicht immer so farbig und passgenau in Bezug auf historische Erkenntniswünsche wie eine zeitgenössische Erzählung, die mit dem Ziel geschaffen wurde, Nachgeborene zu unterrichten; sie unterbreitet bereits ein Angebot für ein kohärentes, einprägsames Gesamtbild. Deshalb wird sie relativ leicht ver11 M. Bloch: Apologie der Geschichte, a.a.O., S. 35. 12 Die Fristen sind je nach Gesetz unterschiedlich. Vgl. z. B. Berliner Archivgesetz, a.a.O., § 8, Abs. 3, und Bundesarchivgesetz (Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes vom 6. Januar 1988), § 5, Abs. 2.
2. Quellen, Überreste und historische Fragen
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ständlich sein, denn sie genügt in der Auswahl und Disposition des Stoffs einem Erinnerungsbedarf. Huizinga greift in seiner schon erwähnten, sehr plastischen Darstellung der höfischen Kultur Burgunds im 14. und 15. Jahrhundert gern auf den Hofhistoriographen Georges Chastellain zurück und entnimmt seiner Geschichtsschreibung atmosphärische Werte, die ein Aktenschriftstück kaum zu bieten vermöchte.13 Auch die mémoires von Politikern sind als eine Quellengattung zu nennen, die einnehmend sein kann, aber gelegentlich auch irreführend ist; in solcher Literatur ist aus der persönlichen Sicht und Ambition des Verfassers eine Scheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem vorgenommen worden. Quellen vom Typus der Überreste sind in gewisser Hinsicht verlässlicher und unbestechlicher, aber oft auch sperriger, unzugänglicher und fremder als Texte, die den geschichtlichen Stoff mit Blick auf die Nachwelt bereits aufbereitet haben; jene sind – in ihrer Relation zur Zukunft – frei von Absichten der Stilisierung, ja der Beschönigung, Ablenkung oder des Verschweigens, weil überhaupt nicht daran gedacht war, der Nachwelt etwas mitzuteilen oder vorzuenthalten. Es handelt sich um ein sprödes Material, das gegen den Strich gelesen werden muss. Historie, verstanden als ein kritisches Geschäft, ist aber auf sie angewiesen. 14 Den Einsichten Droysens folgend, lässt sich festhalten: Immer ist es eine Frage, die der historischen Arbeit vorausgeht; zumindest gibt es einen Ausgangspunkt in der Gegenwart, und selbst wenn jemandem ein Zeugnis als Zufallsfund sozusagen fraglos ins Auge springt, so verleiht er ihm im Augenblick der Wahrnehmung eine Bedeutung. Erst wenn der Prozess des Forschens und Recherchierens bereits begonnen hat, wird ein Material, das die Spur des Vergangenen trägt und im Lichte einer bestimmten Fragestellung nun herangezogen wird, zu einer Quelle. 15 Sie wird ausgewertet, weil sie möglicherweise eine Antwort – oder wenigstens eine Teilantwort – auf die jeweils gestellte Frage bereithält; dieser Akt der Identifizierung macht etwas erst zu einer Quelle. In einem zweiten Schritt muss der Historiker dann jedoch die Ausgangsfrage zurückstellen und sich die Quelle in ihrer Eigenart erst einmal näher ansehen. Insbesondere gilt es, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich dem Verständnis entgegenstellen. Kontexte müssen untersucht und Einzelheiten geklärt werden. Der Historiker lässt sich in einem Akt der epochē (das heißt wörtlich: der Ausschaltung), wie Henri-Irenée Marrou mit einem Terminus der Phänomenologie sagt, 16 auf die Quellen ein, studiert sie, vertieft sich in sie und versucht sie in ihrer Fremdheit zu durchdringen. Dadurch wird er mit ihnen halbwegs vertraut, wobei er die Motive, um derentwillen er auf sie stieß, für eine Weile ausklammert. Er 13 Huizinga ist auch von der Gegenwärtigkeit der flämischen Kunst, vor allem der Malerei, beeinflusst, die ein Gesamtbild jener Zeit vermittelt. Vgl. Francis Haskell: Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit. München 1995, S. 458–524 14 Über die unterschiedlichen Quellengattungen ließe sich noch vieles sagen. Vgl. hierzu auch Friedrich Beck, Eckart Henning: Die archivalischen Quellen. 5., überarb. Aufl. Köln 2012. 15 Vgl. J. G. Droysen: Historik, a.a.O., S. 58 passim. 16 Henri-Irénée Marrou: Über die historische Erkenntnis (frz.: De la connaissance historique, 1954). Freiburg, München 1973, S. 106 passim.
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IV. Das historische Material
verändert unter dem Eindruck dieser Bemühungen seine Fragestellung – und auf die Dauer sich selbst. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewinnt er ein Urteil über den Wert der Quelle. Dieser bleibt aber von den Fragen abhängig, die der Historiker an sie heranträgt. Der Quellen-Status der Archivalien wird gemeinhin antizipiert, und man sagt pauschal, Archivalien seien Geschichtsquellen. Doch diese Redeweise ist ungenau. In historischen Archiven werden Dokumente um der Möglichkeit willen, eine Geschichtsquelle zu sein, aufgehoben; der Archivar kann die Realisierung des Potenzials nicht vorwegnehmen, und dieser Begrenztheit seines Einschätzungsvermögens muss er sich stets bewusst sein. Indem wir Quellen heranziehen, begeben wir uns in eine Distanz zur Vergangenheit, die der historischen Einstellung eigentümlich ist. Die alltagsweltliche Erfahrung, dass uns die Spuren des Vergangenen, zumindest vorübergehend, fremd sind, wird in die kritische Haltung des Historikers überführt und wirkt in ihr fort. Ein Empfinden motiviert also ein Nachdenken, aus dem wiederum ein methodischer Ansatz erwächst. Die historische Arbeit rückt von der Selbstgewissheit unseres Gedächtnisses, das sich auf die eigene Erinnerungsfähigkeit und die Zuverlässigkeit von Gewährsleuten verlässt, deutlich ab. Es ist üblich, das zurückliegende Geschehen (res gesta) und den Bericht, die „Kunde“ beziehungsweise die Erzählung, die jenes zum Gegenstand hat (historia rerum gestarum), terminologisch auseinanderzuhalten. Für letzteres wird oft das Wort Historie reserviert, ersteres heißt Geschichte. Mit dieser sprachlichen Feinheit, die sich allerdings außerhalb der Fachkreise nicht durchgesetzt hat, wird eine folgenreiche Trennung vollzogen. Die kritische Einstellung, die sich in dieser Unterscheidung ausspricht, hebt den wie selbstverständlichen Besitz der Wahrheit über Vergangenes auf. In unserem vermeintlichen Wissen werden Bruchstellen bemerkbar; es fallen uns Inkonsistenzen auf, die unsere Vorstellung von der Vergangenheit aus der Sphäre des Unbefragten heraustreten lassen. Was eben noch nicht hinterfragt war, ist nun der Kritik ausgesetzt. Dann sucht man Zeugnisse, um mit ihrer Hilfe eine Überprüfung vornehmen zu können. Eine endgültige, abschließende Kenntnis der Vergangenheit gibt es angesichts dieser Umstände nicht; wir müssen uns bestenfalls mit Fortschritten begnügen. Aus dem beschriebenen Wechsel der Einstellung, den die Bewegung der Kritik hervorbringt, ergibt sich eine Spaltung: Den unterschiedlichen, gesellschaftlich jeweils vorgefundenen Geschichtserzählungen und -bildern, den Stereotypen und Mythen, steht die unbekannte Realität der Geschichte als Grenzbegriff eines – der Möglichkeit nach: unendlichen – Erkenntnisprozesses gegenüber. Die Repräsentationen des Vergangenen, die wir uns schaffen, zielen auf einen Gegenstand, eben die Geschichte in ihren niemals auszuschöpfenden Aspekten; indem dieses Objekt als getrennt von der historia gedacht wird, entsteht eine Spannung, die der historischen Arbeit eigentümlich ist und sie vorantreibt. Forschung und Recherche drängen über den jeweils vorgefundenen Stand des Gedächtnisses und des Wissens hinaus und widerlegen ihn ständig, einmal mehr und ein anderes Mal weniger. So bildet sich ein starkes, sachliches Korrektiv des kulturellen wie des individuellen Gedächtnisses.
2. Quellen, Überreste und historische Fragen
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Unter den Institutionen der Geschichts- und Erinnerungskultur verkörpert nur das Archiv seiner Idee nach diesen Geist der Kritik. Wenn Archivarbeit ihm gerecht wird, kann es ihr vielleicht gelingen, selbst mächtigen Geschichtsinteressen gegenüber Neutralität zu wahren, ja ihnen Paroli zu bieten. Unvoreingenommenheit ist ein wesentliches archivisches Anliegen. Andere Institutionen wie etwa Gedenkstätten haben einen konkreten Auftrag, bestimmte Themen in den Vordergrund zu stellen und Inhalte, die als wichtig gelten, zu vermitteln. Und die Geschichtswissenschaft, die das Spannungsverhältnis zwischen Forschung und Darstellung aushalten muss, trägt sozusagen zwei Seelen in ihrer Brust. Archivarbeit dagegen ist dem Anspruch einer möglichst unbeschadeten dokumentarischen Authentizität verpflichtet. 3. Wie ergiebig sind die Quellen? Sind die geschichtlichen Quellen, die uns jeweils vorliegen, ergiebig oder dürftig, reichhaltig oder armselig? Welchen Stellenwert hat der Umgang mit ihnen in den Geschichtswissenschaften, den Kulturen des Erinnerns wie in der Gesellschaft insgesamt? Was zu diesen Fragen gesagt werden kann, hat Einfluss auf die Geltung der Archive. Bündige Antworten wird es nicht geben; der Frage wollen wir aber nicht ausweichen. In den Archiven werden schwer zu entziffernde Spuren des längst Vergangenen in unüberschaubar großer Zahl bewahrt. Oft führen sie ein Schattendasein, manchmal erfahren sie Aufmerksamkeit, selten erregen sie Aufsehen. Letzteres kann vorkommen, wenn als wichtig eingeschätzte Dokumente völlig überraschend auftauchen, wenn also ein echter Fund gemacht wird. Es gibt eine typische Frage, die einem Archivar gestellt zu werden pflegt, sobald er seinen Beruf verrät: ob er schon einmal etwas Wertvolles oder Vermisstes gefunden hat. Wie aber sind solche überraschenden Entdeckungen von Quellen im Kontext historischer Arbeit einzuschätzen? In gewisser Weise wird diese stets durch den Gewinn einer Vielzahl von neuen Erkenntnissen belohnt, die aber nicht auf neuen Quellen beruhen müssen. Können einzelne Dokumente angesichts der Komplexität von Geschichtsbildern überhaupt von Belang sein? Die spektakulären Funde sind selten, doch es gibt sie, etwa im Feld der Archäologie: So ist die Himmelsscheibe von Nebra, eine Metallplatte mit Goldapplikationen aus der Bronzezeit, die den Sternenhimmel darstellt, erst 1999 gefunden worden. 17 Oft geht vermeintlichen Entdeckungen aber eine Umwertung voraus, eine neue Wertschätzung bestimmter Inhalte oder Quellengattungen. Dann handelt es sich, je nach den Umständen, nicht um einen echten Fund. Als gutes Beispiel kann die Photographie genommen werden, die in den Künsten lange nur als ein Hilfsmittel für Malerei und Bildhauerei galt, inzwischen 17 Vgl. Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren, hg. v. Harald Meller (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle). Stuttgart 2004.
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IV. Das historische Material
als künstlerisches Medium aber anerkannt und hoch geschätzt ist. Es lässt sich kaum nachvollziehen, dass mehr als sechshundert Vintage prints Karl Blossfeldts, die heute zu den begehrtesten und teuersten künstlerischen Photographien aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gehören, von der Nachkriegszeit bis in die achtziger Jahre hinein unbeachtet in Kellerräumen einer Institution lagerten, die ihre Relevanz hätte kennen müssen. Genaugenommen waren sie freilich nicht eigentlich verschollen, sondern wohl nur unbeachtet. Zwar hatte man sie niemals wieder gesichtet, aber sie gehörten zur Lehrmittelsammlung einer Hochschule. Erst 1984, nach einem längst überfälligen Akt der Wiederentdeckung, hat sie die Galerie Taube, Berlin, ausgestellt. Die Aufwertung der Photographie als eines künstlerischen Mediums hatte den Stellenwert dieser Werke in der Zeit ihres Vergessenseins grundlegend verändert. Es dauerte noch eine Weile, bis sie bemerkt wurden – und als dies geschah, war unverständlich, warum sie je aus dem Gesichtskreis verschwunden waren. 18 Freilich handelt es sich hier um Kunstwerke, auch wenn sie die Witwe nach dem Tod des Photographen 1932 noch eher als Zeugnisse des Unterrichts abgegeben hatte. Jene unterliegen anderen Wertkriterien als Archivalien, bei denen ja ein Schauwert nicht immer hervorsticht. Prozesse der Umwertung betreffen diese aber genauso. In Archiven etwas zu entdecken, bedeutet also häufig nichts anderes, als die Erkenntnis zu gewinnen, dass bestimmte, als solche zumindest grob bekannte Quellen in Bezug auf bestimmte historische Fragen ergiebig sind. Man muss erst einmal auf die Idee kommen oder darauf stoßen, dass die Kneipengespräche von Arbeitern im Kaiserreich von Polizeispitzeln belauscht worden sein könnten; dann gelingt es einem vielleicht, Protokolle darüber zu finden, die sich in Polizei- und Justizakten erhalten haben. Im Staatsarchiv Hamburg trägt eine Aktenreihe mit sogenannten „Wirtschaftsvigilanzberichten“ den nichtssagenden Titel „Berichte ohne Wert“; in den Augen von Richard J. Evans, eines Historikers, erfuhren sie eine erstaunliche Umwertung. 19 Jede Auswertung von Archivalien, das heißt jede wissenschaftliche, literarische oder journalistische Nutzung hebt den Quellenwert der benutzten, als wertvoll erachteten Dokumente hervor, genauer: macht ihn erkennbar, arbeitet ihn heraus, ja konstituiert ihn. Eine geschichtliche Darstellung rückt mit dem gewählten Thema auch die herangezogenen Quellen in ein neues Licht; es gelingt dann, ihnen die Fremdartigkeit in bestimmter Hinsicht abzustreifen, sie der Gegenwart gefügig zu machen; nicht zuletzt dank dieser Leistung zeigt sich der Wert eines geschichtlichen Zeugnisses. Gegen manche Hochnäsigkeit von literarisch ambitionierten oder von ihren Hypothesen eingenommenen Historikern, die das Eigentliche der historischen Erkenntnis außerhalb der Ermittlung von Belegen anhand von Quellen festmachen wollen, ist allerdings auf die zahlreichen und wichtigen Fälle in historischen Er18 Vgl. Verf.: „Karl Blossfeldt im Archiv der Berliner Hochschule der Künste.“ In: Konstruktionen von Natur, hg. von der Akademie der Künste Berlin, zusammengestellt von Angela Lammert. Amsterdam, Dresden 2001, S. 117–139. 19 Vgl. Kneipengespräche im Kaiserreich. Die Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892–1914, hg. v. Richard J. Evans. Reinbek 1989.
3. Wie ergiebig sind die Quellen?
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kenntnisprozessen und Diskursen hinzuweisen, in denen der schlichte Quellenbeweis ausschlaggebend ist. Hierfür ein brisantes Beispiel. Der Leiter des Anne Frank Zentrums in Berlin – und nicht nur er – war vor einigen Jahren sehr erleichtert, als das Bundeskriminalamt auf der Basis naturwissenschaftlicher Analysen von Papier und Tinte die Echtheit der Tagebücher von Anne Frank bestätigen konnte. Das jüdische Mädchen lebte bekanntlich monatelang im besetzten Amsterdam in einem Hinterhaus-Versteck; die nationalsozialistischen Okkupanten fassten sie; sie starb im März 1945 in Bergen-Belsen. Ihr weit verbreitetes Tagebuch, das der Vater 1947 veröffentlichte, ist ein menschlich anrührendes Dokument nationalsozialistischer Verfolgung. 20 Nachdem Rechtsradikale ein Exemplar des Buchs in einem sachsen-anhaltinischen Dorf verbrannt hatten, war eine öffentliche Klarstellung der Authentizität hilfreich. Auch gibt es handfeste Beweise der Unechtheit von Quellen, des Nachweises von Fälschungen, so der vermeintlichen „Hitler-Tagebücher“, die 1982 die Öffentlichkeit erregten, 21 und des frei erfundenen Holocaust-Berichts von Benjamin Wilkomirski, der schlicht fingierte, ein Überlebender zu sein.22 Ein weiteres Beispiel aus ganz anderen Zusammenhängen sei angeführt: Es ist eine bleibende Leistung der Geschichtsforschung seit der Renaissance, das Lügengebäude der zahlreichen Urkundenfälschungen des Mittelalters abgetragen zu haben. Was die berühmte Konstantinische Schenkung angeht, so gelang der Nachweis der Fälschung bereits um 1440. Ihr zufolge soll der römische Kaiser Konstantin I. nach der Heilung seiner Lepra-Erkrankung dem römischen Bischof, also dem Papst, den Vorrang über die anderen Patriarchate und einen dem Kaiser vergleichbaren Rang eingeräumt haben. Der italienische Humanist Lorenzo Valla vermochte zu zeigen, dass das Latein der Urkunde nicht aus dem frühen 4. Jahrhundert, der vermeintlichen Entstehungszeit, stammen kann. 23 Die Authentizität der Quellen, die mit den Mitteln der inneren und äußeren Kritik zu prüfen ist, stellt eine wichtige Voraussetzung historischer Erkenntnis dar. Die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Selbstkritik zeigt sich nicht zuletzt daran, ob sie willens und in der Lage ist, historische Beweise anzuerkennen, die mit Hilfe von archivalischen Zeugnissen erbracht werden. Menschen besitzen einen Hang zur Spekulation, zur weltanschaulichen Überhöhung ihrer Auffassungen, vor allem aber zur Beschönigung und Verdrängung. Er verträgt sich nicht gut mit der Akribie historisch-kritischer Arbeit. Gerade in einer um Aufklärung bemühten 20 Vgl. den Newsletter des Anne Frank Zentrums, Ausgabe 08/2006 vom 2. Aug. 2006. Siehe ferner die neue Edition des Tagebuches: Anne Frank Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler. Erg. Ausg. Frankfurt/M. 2001. 21 Vgl. Josef Henke: „Die sogenannten Hitler-Tagebücher und der Nachweis ihrer Fälschung. Eine archivkundliche Nachbetrachtung“, in: Aus der Arbeit der Archive. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms, hg. v. Friedrich P. Kahlenberg. Boppard am Rhein 1989, S. 287–317. 22 Vgl. Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, hg. v. Irene Diekmann und Julius H. Schoeps. Zürich u.a. 2002. 23 Vgl. insbesondere Carlo Ginzburg: „Lorenzo Valla über die Konstantinische Schenkung“, in: ders.: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis. Berlin 2001 (ital. Orig.: Rapporti di forza. Storia, retorica, prova, 2000), S. 63-79.
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IV. Das historische Material
politischen Öffentlichkeit kann aber auf die Kultur der Beweise, die im Archiv wurzelt, nicht verzichtet werden. Sie braucht Anwälte, und wer könnte diese Aufgabe besser wahrnehmen als ein Archivar? 24 Schon im 19. Jahrhundert wurden Dokumente, die Auskunft über Vergangenes geben, mit einem romantischen Bild als Quelle bezeichnet. Aus ihnen „fließt“ historische Erkenntnis, so will es die Metapher. Aber speisen die Quellen wirklich einen Fluss, oder bilden sie nicht eher ein dünnes Rinnsal? Für Letzteres sprechen ganz äußerliche Gründe. Wie erwähnt, bevorzugt Droysen den Begriff des Materials und betont zu Recht die Körperlichkeit dessen, woraus historische Kenntnis empirisch gewonnen werden kann: Es muss physische, sinnlich wahrnehmbare Spuren geben; was über die Vergangenheit Auskunft gibt, ist selbst gegenwärtig. Daraus resultiert aber die – ebenfalls elementare – Möglichkeit von Verlusten. Dass ein Dokumente noch vorhanden ist, beruht auf Zufällen, ja ist von Einflüssen abhängig, die mit dem Anliegen historischer Erkenntnis im Widerstreit stehen können. So ist der Umfang der Quellen von vornherein reduziert. Es gibt einen großen Bereich des Nicht-Wissbaren allein aufgrund fehlender Quellen. Marc Bloch führt einige weiße Flecken auf der Landkarte des historischen Wissens an: „Wir werden die Mentalität der Menschen im Europa des 11. Jahrhunderts nie in dem Maße ergründen können wie z.B. die Mentalität der Zeitgenossen Pascals oder Voltaires, da sie uns keine privaten Briefe oder ‚Bekenntnisse‘ hinterlassen haben. (...) Wegen dieser Lücke wirkt ein ganzer Abschnitt unserer Geschichte blutleer, wie eine Welt ohne Individuen.“ 25 Geschichtliche Zeugnisse als Quellen zu bezeichnen, beruht also auf einem Bild, das bei aller Prägnanz ausblendet, dass die Ergiebigkeit des Materials, so wie es nun einmal vorliegt, keineswegs garantiert ist. Die Quellen sprudeln nicht immer, und die Archive sind in mehr als einer Hinsicht eher Oasen in einer Wüste unbekannter Vergangenheit als Meere der Information. Heute gibt es Archive beinahe im Übermaß, wie es scheint, und doch sind selbst einfache Lebensdaten von nicht gerade belanglosen Menschen schon wenige Jahre nach ihrem Tod oft nicht mehr greifbar. Das weiß jeder, der einmal an einem Friedhofsführer mitgearbeitet hat, in dem ja nur die für wichtig erachteten Gräber beschrieben und vorgestellt werden. Historische Erkenntnis ist nicht zuletzt von der Überlieferungslage abhängig. Für manche Sachverhalte gibt es keine Spuren; man denke nicht zuletzt an vorschriftliche Kulturen, für die nur archäologische Quellen vorliegen. Unserem Eindringen in sie sind enge Grenzen gesetzt. Aber auch für andere, durchaus jüngere Aspekte der Geschichte fehlt es an Zeugnissen, etwa weil bewusste Aktenvernichtungen stattfanden; so beseitigte zum Beispiel die Geheime Staatspolizei (Gestapo) in der Zeit des Nationalsozialismus Akten, als das Ende des Regimes absehbar 24 Im Laufe meines Geschichtsstudiums in Münster sagte der israelische Historiker Shlomo Na’aman (nach meiner Erinnerung), dass er sich keinen Historiker vorstellen könne, der nicht bewusst einen historischen Mythos verteidige. Dieser Gedanke ist mir bis heute sehr fremd. 25 M. Bloch: Apologie der Geschichte, a.a.O., S. 50.
3. Wie ergiebig sind die Quellen?
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wurde. Im Februar 1945 befahl Goebbels, alle geheimen und heiklen Dokumente systematisch zu vernichten. 26 Auch wirkt sich die Beschaffenheit des Trägermaterials von Schrift auf die Überlieferungschancen ganz handfest aus. Tontafeln aus Mesopotamien, die schon seit dem 5. Jahrtausend vor Christus in Gebrauch waren, haben sich erhalten, in nördlicheren Gefilden kaum jedoch Papyri. Erst seit dem Aufkommen des Pergaments als Beschreibstoff hat sich im mitteleuropäischen Raum eine einigermaßen dichte Überlieferung gebildet. Die älteste textlich erhaltene Urkunde des Rheinlandes, das sogenannte GrimoTestament, ist auf den 30. Dezember 634 datiert; es war ursprünglich auf Papyrus geschrieben, ist heute aber nur in einer Abschrift auf Pergament aus dem 10. Jahrhundert vorhanden. 27 Doch die schlechte Haltbarkeit der Schrift ist kein Phänomen einer lange zurückliegenden Zeit. Verfallendes Papier, schnell vergehende Farben und digitale Informationsträger, die auf kurzlebige Abspielgeräte und Datenformate angewiesen sind – die Flüchtigkeit der modernen technischen Medien ist ein Signum unserer Epoche, die uns in diesen Belangen in überwunden geglaubte Zustände zurückzuversetzen droht. Indem Überreste in Archiven dauernd bewahrt werden, soll der Lauf der Zeit in gewisser Weise ausgesetzt werden: Archivierung verfolgt eine Zielsetzung, die, wenn man so will, den natürlichen Gang der Dinge aufzuhalten bestrebt ist. Sie will Vergänglichkeit durch eine Kunst des Bewahrens ein Stückweit überwinden, dem Vergehen Einhalt gebieten. Archivierung ist in diesem Sinne eine Kulturtechnik, welche die Geschichte selbst – den Wandel alles Zeitlichen – in Bezug auf die Zeugnisse, also in genau definierten, engen Grenzen, außer Kraft setzt. Denn unsere Versuche, die Geschichte zu erkennen, werden durchkreuzt vom Skandal des Verlusts der Spuren, und genau dagegen setzen die Menschen ihre Archive. Die äußeren Eigenschaften des historischen Materials, von denen seine Haltbarkeit abhängt, stimmen häufig nicht mit der Bedeutung als Geschichtsquelle überein; die Tätigkeit der Archivare ist dazu gedacht, dieses Manko teilweise auszugleichen. Als Archivar erlebt man immer wieder, wie diametral entgegengesetzt die Erwartungen der Benutzer sind. Der eine freut sich über jeden kleinen Eintrag, auf den er in mühseligem Aktenstudium stößt; der andere ist über die Qualität der Zeugnisse, die bei archivischen Recherchen überhaupt nur zur Verfügung stehen, schlicht entsetzt. Wie zur Probe formuliert Droysen einmal: „Wie dürftig (...) ist (...) die Geschichte, die wir ja nur als eine Projektion aus der Gegenwart in die Vergangenheit kennen.“ Was die Beziehung zwischen der Quellenlage und den Möglichkeiten der Geschichtsschreibung angeht, gibt es aber auch andersartige Konstellationen. Bei Themen aus der jüngeren Vergangenheit ist es oft schwierig, mit einer kaum überschaubaren Fülle von Quellen zurechtzukommen. Im Verhältnis zur großen Menge an Zeugnissen, die es zu manchen zeitgeschichtlichen Fra26 Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Frankfurt/M. 2009, S. 22 (engl.: Sources of Holocaust Research. An Analysis). 27 Landeshauptarchiv Koblenz Best. 1 A Nr. 1. Vgl. Zeugnisse rheinischer Geschichte. Urkunden, Akten und Bilder. Eine Festschrift zum 150. Jahrestag der Einrichtung der staatlichen Archive in Düsseldorf und Koblenz. Neuss 1982, S. 9f.
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IV. Das historische Material
gestellungen gibt, ist in der Geschichte der antiken Welt, etwa Griechenlands und Roms, alles viel übersichtlicher und einfacher. Es müssen relativ wenige Zeugnisse berücksichtigt werden, so dass viel Zeit für ihre gründliche Lektüre und Interpretation bleibt. Für Droysen aber ist der Gesichtspunkt des Informationsverlusts, der durch den Verlust des Materials eintreten kann, letztlich nicht ausschlaggebend. Er betont, dass in seinen Augen schon das „unermesslich viel“ ist, was aus dem Übriggebliebenen bisher erschlossen wurde. Er bezieht in seine Bilanz des historischen Erkenntnisfortschritts alle Inhalte und Medien öffentlicher Kommunikation, die sich auf Vergangenes beziehen, ein; das heißt, er denkt gewissermaßen an das ganze kulturelle Archiv. Dieses entfaltet sich mit der Blüte der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts, dem Fortschritt der Geschichtswissenschaften und ihrer Popularisierung; der Umfang der Kenntnisse über die Geschichte nahm damals gewaltig zu. Gegen die unüberschaubaren, dank Forschung aufgehäuften Wissensvorräte machte Nietzsche wenig später das Kriterium des Nutzens für das Leben geltend. Droysen aber schrieb voller Optimismus: „Mit jedem Jahr (wächst) die Masse dessen, was bis dahin latent war und erst durch die schärfere Forschung (…) für das Bewusstsein, damit für die lebendige Gegenwart gewonnen (wird), und eine unübersehbare literarische und journalistische Produktion der gebildeten Völker sorgt dafür, dies Bewusstsein sozusagen in jedem Augenblick zu fixieren und zu verbreiten.“ 28 Man muss nicht Droysens beinahe euphorische Einschätzung teilen, um ihm beizupflichten, dass der Wissensraum der Geschichte riesig geworden ist. Er hat uns eine ungeheure Vermehrung und Bereicherung unserer Kenntnisse und mittelbaren Erfahrungen gebracht. Das ist nicht das geringste Erbe des Historismus, das nur verachtet, wem es an theoretischer Neugierde und Phantasie fehlt. Doch trotz des Umfangs unserer historischen Wissensbestände – die Archive sind nicht ausgeschöpft, ja es ist unmöglich, sie jemals vollständig auszuwerten. Denn es handelt sich bei ihnen zwar um Speicher, aber genau genommen eben nicht um Wissensspeicher; das historische Wissen entsteht erst im Zuge der Auswertung der Archivalien. Was sie alles enthalten und in welcher Perspektive der jeweilige Inhalt einmal in den Blick rücken wird, weiß letztlich keiner, kann niemand voraussagen. Weder eine Inventarliste noch ein Findbuch, nicht einmal die Digitalisierung eines ganzen Archivs oder seine Faksimilierung verrät, was ein findiger, ideenreicher Forscher, vielleicht erst in hundert Jahren, einmal aus den Quellen erarbeiten, in ihnen entdecken und aus ihnen herauslesen wird. Die Erkenntnisinteressen werden sich vielleicht in einer merkwürdigen, uns überraschenden Weise verändern und die Historiker zu Kombinationen führen, von denen wir heute nichts ahnen. Wir sollten nicht so resigniert oder einfallslos sein, dies auszuschließen.
28 J.G. Droysen: Historik, a.a.O., S. 67f.
V. WAS IST EIN ARCHIV? 1. Die Archivlandschaft – Mitte und Peripherie Arlette Farge beschreibt die Atmosphäre der großzügigen Altbauten, in denen sich die Forschungssäle von Bibliotheken und Archiven befinden, mit ihrem Gestus der Repräsentation, der jeden Besucher gefangen nimmt. Man betritt ein mächtiges Bauwerk; hinter dem hohen Portal öffnet sich eine Vorhalle, am Fuß einer weitläufigen Treppe steht die Büste eines ehrwürdigen Gelehrten und vormaligen Direktors. So wird der Ankömmling auf Kulturgut eingestimmt. Im Lesesaal angekommen, hat der Besucher penible Formalitäten zu erledigen. Er muss die Umständlichkeiten der Bestellung und Ausgabe der Archivalien über sich ergehen lassen; sobald sie ausgehändigt sind, fügt man sich, als einer unter vielen, in die Stille des Lesesaals ein, in dem die Forscher über ihre Papiere gebeugt sind. 1 Derartige Säle haben durch ihre Distanz zum Alltag etwas von einem Tempel an sich. Darin gleichen sich Archive, Bibliotheken und Museen. Archive, die dank der Bedeutung und des Umfangs ihrer Bestände in der Mitte der Archivlandschaft angesiedelt sind, wie etwa das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, demonstrieren ihren Besuchern nicht nur täglich die Strenge archivischer Verfahrensweisen, die Sorgfalt, die erforderlich ist, wenn man mit Unikaten umgeht. Ihr gediegenes Ambiente wie die Routinen und Rituale der Bewahrung inszenieren darüber hinaus die Geltung der Archive in der Geschichtskultur. Die unvermeidlichen Prozeduren der Archivierung führen zu einer strikten Absonderung des Archivguts: zur Magazinierung in Zweckbauten oder zumindest in zweckmäßig hergerichteten Depots. Insofern ist die charakteristische Archiv-Atmosphäre Sachzwängen geschuldet. Andererseits entsteht so etwas wie eine Aura. Die artifizielle Welt der großen Archive reicht aber nicht überall hin, wo Archivalien liegen. Für das Archivwesen im Ganzen sind die wohletablierten, baulich und archivtechnisch gut ausgestatteten Einrichtungen nicht charakteristischer als diejenigen, die eher an der Peripherie liegen. Sie befinden sich allzu oft in einer anderen Situation: Archivalien und archivwürdige Unterlagen verbleiben in größerer Nähe der Lebenszusammenhänge, aus denen sie hervorgingen. Provisorische Unterbringung und notdürftige Betreuung sind häufig die Begleitumstände. Zu denken ist an Dachböden und Kellerräume als Lagerorte – sowie, damit zusammenhängend, an undichte Decken und Wasserschäden durch geborstene Rohre. Schließlich wird man sich die Archivkisten und sonstigen Behältnisse vor Augen führen müssen, die irgendwo abgestellt und dann vergessen worden sind, so 1
Vgl. Arlette Farge: Le goût de l’archive. Paris 1989, S. 27–32 (dt. Übers.: Der Geschmack des Archivs, 2011).
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V. Was ist ein Archiv?
der Koffer mit Manuskripten von Else Lasker-Schüler, der 1939 in Zürich zurückblieb, als die Dichterin mangels Einreiseerlaubnis aus Palästina nicht zurückkehren konnte. Er tauchte erst 1995 wieder auf. 2 Die Peripherie des Archivwesens sollte in einer Beschreibung des kulturellen Feldes, das die historischen Archive ausfüllen, Beachtung finden, obwohl die angedeuteten Zustände, fachlich betrachtet, teils als vor-archivisch zu charakterisieren sind. Ihnen widmet sich die Archivpflege. Darunter versteht man professionelle Bemühungen um Archivgut, das nicht in Archiven mit eigenem Fachpersonal untergebracht ist. Die fachliche Anleitung und Unterstützung der Betreuer solcher Archive ist eine Aufgabe, die sich dem Archivwesen insgesamt stellt. Dass es den Fachausdruck der Archivpflege überhaupt gibt, zeigt an, wie gängig die Verhältnisse einer gleichsam semi-archivischen Verwahrung sind. Ein Beispiel finden wir in den Adelsarchiven, die sich etwa noch in den Mauern einer alten Wasserburg in Privatbesitz befinden – so im Haus Marck bei Tecklenburg. Um die ganze Bandbreite der Kultur des Archivierens, soweit sie nicht von der öffentlichen Hand getragen ist, zu übersehen, kann man allerdings nicht bei der Aristokratie stehen bleiben. Man muss sich auch in Privatwohnungen etwa des Bürgertums begeben. Wie viele von uns haben nicht einen Schrank oder eine Truhe, einen Karton oder eine Mappe mit alten Familienpapieren, vergilbten Briefen und Photographien in dem charakteristischen Braunton des gealterten Albuminpapiers, 3 das bereits Jahrzehnte überdauert hat. Zu diesen Dokumenten mag ein Bericht des Urgroßvaters über eine Visite des Kaisers an seinem Wohnort gehören, ferner alte Schulhefte, geschrieben in kindlich ungelenker sogenannter „SütterlinSchrift“, 4 die heute nur noch wenige fließend lesen können. Briefe von Familienangehörigen, die im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert sind oder Feldpostbriefe aus den beiden Weltkriegen können ebenso dazu gehören wie die anrührenden Schilderungen eines Dienstmädchens, die den heutigen Leser mit harten Lebensumständen bekannt machen. Auch eine Bibel mit alten Besitzvermerken und Einlagen kann sich in einem solchen Familiendepot befinden. Obwohl sich all diese Dinge erhalten haben, ist es wenig im Verhältnis zu der Fülle des Lebens, das sich hinter diesen Spuren verbirgt und das man nur erahnen kann. Individuen, die in einer genealogischen Tafel aufgeführt sind, treten mit ihren Wesenszügen oder ihrem persönlichen Schicksal nicht hervor. Man kennt kaum mehr als den Namen und die Lebensdaten, also Geburts- und Sterbejahr und 2 3 4
Der Koffer war 1995 u.a. im Zürcher Museum Strauhof zu sehen. Vgl. Else Lasker-Schüler, 1869–1945, bearb. v. Erika Klüsener u. Friedrich Pfäfflin (Marbacher Magazin 71/1995). 2. durchges. u. erg. Aufl. Marbach 1995. Vgl. zum Beispiel Verfahren der Fotografie. Bilder der Fotografischen Sammlung im Folkwang-Museum Essen. Essen 1989 (Katalog zur Ausstellung vom 7. Mai bis 16. Juli 1989), S. 15. Der Graphiker Ludwig Sütterlin (1865–1917) gestaltete, genau genommen, eine bestimmte Variante der älteren in Deutschland gebräuchlichen Schrift. Die von ihm entworfene Typographie war freilich verbreitet, weil sie seit 1915 an den Schulen gelehrt wurde. Es ist umgangssprachlich üblich, die deutsche Schreibschrift, die erst Hitler abschaffte, insgesamt nach ihm zu benennen.
1. Die Archivlandschaft – Mitte und Peripherie
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-ort. Was aber sagen uns diese Daten über die Menschen? Sie geben uns zum Beispiel Auskunft über die hohe Kindersterblichkeit noch im 19. Jahrhundert. Manchmal erfährt man darüber hinaus den Beruf; von jemand anderem liegt ein Portraitfoto vor. Doch im Gesichtsausdruck, in der Kleidung und Pose überwiegt das Zeitkolorit und verstellt die Individualität des Dargestellten, jedenfalls auf den ersten Blick. Ist die schemenhafte Gegenwärtigkeit, die uns hier begegnet, nicht bloß ein Symbol für den Lauf der Zeiten, nichts anderes als ein Memento mori? Ob man über ein solches Familienarchiv verfügt, hängt von Zufällen der Überlieferung ab. Mancher mag nur über wenige Kopien verfügen, weil die Originale ärgerlicherweise einem anderen Zweig der Familie zugefallen sind, der womöglich viel weniger Interesse zeigt. Andere Familienarchive sind aus Unachtsamkeit oder durch äußere Einflüsse wie Brand oder Wassereinbruch, auch durch Wohnungswechsel, Exil und Emigration, infolge von Flucht oder Vertreibung, verlustig gegangen. Ein Dritter hat sich von Tagebüchern getrennt und sie zum Beispiel, der Aufforderung einer Kleinanzeige Folge leistend, dem Schriftsteller Walter Kempowski übergeben, der ein umfangreiches Archiv von Lebensdokumenten zusammentrug. 5 Vielleicht hat jemand aus dem Verwandtenkreis vor zwei oder drei Generationen die Familiengeschichte erkundet; eine minutiöse Ahnentafel ist dem Privatarchiv beigefügt worden. Bekanntlich gab es in Deutschland höchst fragwürdige biologistische und rassistische Beweggründe für derartige Forschungen. Das Thema Familienforschung ist übrigens nicht passé, sondern immer einmal wieder angesagt. 6 Durch private Recherchen könnte der Angehörige einer thüringischen Familie die Vorfahren bis zum 30-jährigen Krieg, in dem die Überlieferung der Kirchenbücher in seiner Region abbricht, zurückverfolgt haben. In Priavtbesitz wie im Bereich des Staates und der Kommunen gibt es durchaus noch Unterlagen, deren Status mit den mehr oder weniger sorgfältig betreuten Familienarchiven in dem einen Punkt übereinstimmt, dass sie den Weg in ein Endarchiv noch nicht gefunden haben. Es sei wiederum ein Beispiel aus der Berufspraxis des Autors angeführt: Vor ungefähr zwanzig Jahren befanden sich die Akten der ‚alten‘ Berliner Hochschule für Musik, dem ersten staatlichen Konservatorium Preußens, das internationales Renommee besaß, in der Obhut der Verwaltung des Rechtsnachfolgers. Sie lagerten in einem Sekretariat. Dieser nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit stehende Zustand band eine Vergangenheit, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, in die Verwaltungspraxis der Gegenwart ein, als ob die inzwischen historisch gewordenen Papiere noch vorrangig dem Zweck hätten dienen sollen, laufende Geschäfte zu begleiten.
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Das riesige Kempowski-Archiv, das eine kaum überschaubare Zahl alltagsgeschichtlicher Zeugnisse umfasst, befindet sich heute im Archiv der Akademie der Künste in Berlin, die es 2007 in der Ausstellung Kempowskis Lebensläufe vorstellte. Vgl. die begleitende, gleichnamige Publikation von Dirk Hempel. Vgl. zum Beispiel „Voll die Ahnung“, in: zitty, Heft 3/2006, S. 32f. Im Untertitel schreibt das Berliner Stadtmagazin: „Von wegen angestaubt: Das Hobby Ahnenforschung feiert ein Comeback, auch unter jungen Leuten“.
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V. Was ist ein Archiv?
Wie aber sah eine solche behördliche Altregistratur aus? In einem hohen Raum befanden sich an drei Seiten bis zur Decke reichende Holzregale; nur die Fensterseite blieb ausgespart. Mit Hilfe einer an die Holzstreben angelegten Leiter waren die oberen Fächer zu erreichen, in denen die uralten Dokumente Unterbringung gefunden hatten – dem Tagesgeschehen denn doch ein wenig enthoben. Die einzelnen Akten, wie sie da gestapelt lagen, sahen wie unförmige Klumpen aus. Sie waren arg verstaubt; an der Innenseite der Aktendeckel und an einzelnen überstehenden Lagen hatte sich eine tiefschwarze, fettige Schmutzschicht gebildet. Die Fadenheftung, welche die Schriftstücke zusammenhielt, war das untrügliche Zeichen für ihre Herkunft aus älterer Zeit, als es den Staat Preußen noch gab. Diese Art der Aktenführung stellte die Büroreform der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Frage. Mit ihr wurden während der Weimarer Republik effiziente Verfahrensweisen aus der Verwaltung privater Unternehmen, so der Stehordner, in die Arbeitsweise staatlicher Behörden übernommen. Der moderne Aktenordner vom Typ Leitz löste die beschriebene mühselige Formierung der Schriftstücke ab. 7 Und wie fand man sich in der beschriebenen Altregistratur zurecht? Ein knappes Stichwortverzeichnis ordnete bestimmte Sachthemen – zum Beispiel „Angelegenheiten der Eleven und Elevinnen“, „Organisation des Unterrichts“, „Musikinstrumente“ oder „Musikinstitut für Ausländer“ – einem der Holzfächer zu, etwa dem Fach „26 B“. Von der Leiter aus musste der sehr verdreckte Aktenstoß bei Bedarf durchgesehen werden. Es gab also eine Art von Register, aber kein Aktenverzeichnis. Das Entnehmen einer Akte war der Bediensteten in der Registratur vorbehalten. Einige wenige Unterlagen von besonderem historischem Rang hatte ein hochschulgeschichtlich interessierter Professor in der Schreibtisch-Schublade seines Dienstzimmers in Verwahrung genommen. Ein Archivar könnte mit einem seiner Fachausdrücke von einem Selekt sprechen, das in diesem Fall ein Wissenschaftler bildete. Er tat dies mit dem ihm eigenen Sachverstand, aber wohl wissend, dass er die Überlieferung kaum überschaute. Eine solche Lagerung und Handhabung, gleichsam an der Schwelle zum Archiv, ist gewiss kein Einzelfall. Es bot sich an, diesen Zustand etwas ausführlicher zu beschreiben, weil er zugleich die Anschauung von einer alten Registratur gibt: vom Musterfall einer vorarchivischen Ordnung, die durch Archive grundsätzlich bewahrt zu werden verdient. 8 2. Wer benutzt Archive? So wie sich die Archive und ihre Bestände in eine Art Koordinatensystem einordnen ließen, so kann man auch die Nutzung der Archivalien typisierend beschreiben. Wie sieht also die Bandbreite der Archivnutzungen aus? Was sind das für Menschen, die sich in die Archive begeben und sich nicht abhalten lassen, sie auf7 8
Vgl. zum Beispiel Rudolf Schatz: Behördenschriftgut. Aktenbildung, Aktenverwaltung, Archivierung. Boppard 1961, S. 1-13 passim. Vgl. auch Kap. II, 2 und Kap. VII, 1.
2. Wer benutzt Archive?
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zusuchen, selbst wenn das Betreten eines Lesesaals heutzutage in manchen Archiven sogar Eintritt kostet? Das Interesse des mit der eigenen Geschichte befassten Individuums wie überhaupt der Horizont seiner Erfahrungen erschöpft sich nicht in den familiären Verhältnissen und in der Tätigkeit als eigener Hausarchivar. Die geschichtlichen Umstände fügen uns in unterschiedliche Kreise der Zugehörigkeit, nach Herkunft und Wahl, ein. Als Arbeiter oder Bürger, Katholik, Protestant, Jude oder Muslim, als Angehöriger des Roten Kreuzes, der örtlichen freiwilligen Feuerwehr oder eines Sportvereins, als Mitglied einer politischen Partei, einer Gewerkschaft oder eines Verbandes, als Leser einer Zeitung oder Zeitschrift, besitzen wir vielfältige, sich überlagernde, zum Teil gar einander widerstreitende Identitäten, Loyalitäten und Positionen, die Bezüge zur Vergangenheit aufweisen. Sie mögen sich auch in historischen Interessen niederschlagen, wobei wir die betreffenden Archivalien – weil sie ganze Gruppen von Menschen angehen – natürlich in der Regel nicht selbst oder gar allein besitzen (im Gegensatz zum oben angeführten Beispiel eines Familienarchivs). Mancher Pfarrer hütet das Archiv seiner Kirchengemeinde, das oft bis ins Mittelalter zurückreicht. Aber vielleicht interessieren wir uns weniger für das Eigene als für etwas ganz anderes? Zum Beispiel für die Geschichte der Hexenverfolgung oder des Karnevals? Anhand der Bestände zentraler Archive werden häufig, aber nicht ausschließlich Themen von einer gewissen allgemeinen Relevanz aufgegriffen, die viele angehen. Je kleiner die Gruppe der von einer Vergangenheit Betroffenen ist, desto unwahrscheinlicher ist es natürlich, dass sie bereits aufgearbeitet wurde; der einzelne Interessent hat die Chance, dies selbst zu tun, oder es bringt in eher in Verlegenheit, ganz auf sich allein gestellt zu sein.9 Geschichtsdarstellungen, die nur mit großem Aufwand erarbeitet werden können, bevorzugen weit gefasste Themen, wenn nicht ein Gegenstand der micro-histoire, eingedeutscht: der Mikrohistorie, gewählt wird, der von exemplarischem Interesse ist. Die Nationalgeschichte der Deutschen etwa wird immer von neuem geschrieben und dargestellt; die wenigsten Leser oder Fernsehzuschauer befassen sich mit ihr anhand von archivalischen Quellen, deren es – angesichts des Themenumfangs – ausufernd viele gibt. In der Rezeption spielen die breit angelegten Gesamtdeutungen eine große Rolle. Jede Generation schreibt die Geschichte, wie man sagt, neu; heutige nationalgeschichtlichen Entwürfe unterscheiden sich deutlich etwa vom Nationalismus eines Heinrich von Treitschke, 10 und der Blick wendet sich stärker zur europäischen oder gar zur Globalgeschichte. Die gleichsam mundgerechte, für den Bücherschrank passende Geschichtspräsentation nimmt dem Interessenten in der Regel den Gang in die Archive ab; so vergisst man beinahe, dass auch die ‚Meister-Erzählungen‘ auf Archivstudien angewiesen sind; sie greifen auf zahlreiche Vorarbeiten wie Dissertationen und andere Spezialuntersuchungen zurück, die auf Archivforschungen beruhen und ganze Bibliotheken füllen. 9
Vgl. hierzu Individualisierung von Geschichte. Neue Chancen für Archive?, hg. v. Peter Müller. Stuttgart 2008. 10 Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Leipzig 1879-1894.
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V. Was ist ein Archiv?
Doch gibt es neben der großen Geschichte auch die unzähligen kleinen Geschichten. Sie werden, zumindest teilweise, durch die Vielzahl der Archive gewissermaßen abgedeckt. Die Archivlandschaft in Deutschland ist ungeheuer dicht. Als Beispiel sei das Archivportal für den Südwesten genommen, das im Internet aufrufbar ist; es betrifft nur Rheinland-Pfalz und das Saarland und zeigt doch, von Kreis zu Kreis, den man jeweils auf einer Landkarte anklicken kann, eine geradezu überwältigende, kaum zu überblickende Fülle von Archiven. 11 Die Art der Nutzung der historischen Archive ist außerordentlich vielfältig. Die Dienstleistungen der Archive richten sich an Geschichtsforscher unterschiedlichster Ausrichtung, vom Kunst- bis zum Militärhistoriker, vom Doktoranden bis zum Hobby-Historiker oder Gelegenheitsforscher. Zum Beispiel möchte jemand die Heiratsanzeige der Großeltern in alten Jahrgängen der örtlichen Tageszeitung anlässlich der Goldenen Hochzeit suchen. Ein Architekturbüro arbeitet an einem Gutachten für die Restaurierung eines historischen Bauwerks; Photographien, Pläne und schriftlich niedergelegte Angaben zu architektonischen Details sind aufschlussreich. Ein Liebhaber alter Fahrräder hat ein Hochrad kaufen können, dessen Vorbesitzer als „Violinvirtuose“ bezeichnet wird; nun ist dessen Biographie von Interesse. 12 Oder ein Journalist recherchiert für ein Rundfunkfeature; für ihn sind nicht nur die Archivalien eine Quelle; auch der Archivar selbst kann zu einer solchen werden, wenn ein Interview mit ihm im „O-Ton“ gesendet wird. Das Quellenstudium wird von denen, die an archivischen Auskünften interessiert sind, manchmal delegiert: ein Büro für historische Recherche leistet eine Auftragsarbeit in einer Erbangelegenheit. Oder die Jewish Claims Conference versucht ein nationalsozialistisches Unrecht zu belegen, das nach Amerika oder Israel emigrierten Menschen widerfahren ist. Oder die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte fragt nach Studienzeit und -dauer eines früheren Studierenden, dessen künftige Rente verbindlich berechnet werden muss. Oder eine Behörde sucht in einem Verfahren zur beruflichen Rehabilitation eines Geschädigten der SEDDiktatur um Amtshilfe nach. Festzuhalten bleibt: Zum Raum des Archivs gehört neben der Routine der Archivare auch der Fleiß der Benutzer. Die Tätigkeit des Recherchierens und Exzerpierens, der sich die Nutzer der Archive mit manchmal ermüdender Einseitigkeit hingeben, ist dennoch attraktiv, weil Archivalien und ihre Inhalte Herz und Verstand gleichermaßen berühren; für Archivarbeit sind wenn nicht alle, so doch viele Menschen ansprechbar. Das Interesse am Archiv nimmt durch die Einflüsse von Kultur, Bildung und Lebenserfahrung ein jeweils besonderes Gepräge an; bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen verbindet es doch die Archivare mit den Archivnutzern. Der weite, im Einzelnen durchaus heterogene kulturelle Raum, in dem die Archive angesiedelt sind, erstreckt sich bis in die Alltagswelt zahlreicher Menschen. 11 Viele Bundesländer besitzen eigene Archivportale; ein Archivportal für ganz Deutschland (Archivportal-D) befindet sich im Aufbau. 12 Dies ist ein Beispiel aus der Archivpraxis, nicht etwa eine Erfindung.
3. Das Archiv als Struktur. Zur Definition archivalischer Bestände
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3. Das Archiv als Struktur. Zur Definition archivalischer Bestände Heinrich Otto Meisner, ein „Klassiker“ der Archivistik, hat festgehalten, dass mit dem Wort „Archiv“ dreierlei gemeint sein kann: – eine Institution (Körperschaft) beziehungsweise eine Organisationseinheit innerhalb einer Institution, zum Beispiel das Stadtarchiv Göttingen, – ein Gebäude, so das „Präsidentenhaus“ am Kramerplatz, in dem das Stadtarchiv Naumburg untergebracht ist, oder – ein Bestand, das heißt eine bestimmte zusammengehörige Gruppe von Archivalien, etwa das Hausarchiv der Hohenzollern im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, das Hermann-Hesse-Archiv im Literaturarchiv Marbach oder das erwähnte Archiv der Hochschule für Musik im Universitätsarchiv der Universität der Künste Berlin. 13 Darüber hinaus bezeichnet das Archiv – diese drei Aspekte umgreifend, sie aber auch überschreitend – einen Bereich menschlicher Praxis, in dem sich, wie gezeigt, keineswegs nur professionelle Archivare und Historiker tummeln, auch wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung dazu führt, dass Archivarbeit zu einem nicht geringen Teil von Spezialisten ausgeführt wird. Diese kulturelle Sphäre wurde, auch an den Rändern, im Vorigen skizziert. Bereits eingangs fand Erwähnung: Das Wort „Archiv“ ist weit verbreitet; es ist kein geschütztes Markenzeichen, sondern ein umgangssprachlicher Ausdruck. Erst in zweiter Linie handelt es sich um einen Terminus technicus der Archivwissenschaft. Der Sprachgebrauch ist oft ungenau. Mancher Archivar würde gern Definitionsmacht besitzen, doch ist ihm versagt, sie zu erlangen. Dennoch bemüht sich die Fachwelt um gültige Sprachregelungen, die zumindest in ihrem Umkreis beachtet werden sollen. 14 Die Umschreibung eines kulturellen Raums des Archivs, wie sie im Vorigen versucht wurde, reicht aus archivwissenschaftlicher Sicht nicht aus, um präzise zu benennen, was ein Archiv ist und wie die Grenzen zu ziehen sind. Eine Definition des archivfachlichen Terminus „Archiv“ ist erforderlich; sie geht traditionell von den Beständen aus, also dem dritten und letzten Punkt in Meisners Aufzählung. Was also ist ein Archiv im strengen Sinne? In Brockhaus’ Konversationslexikon von 1908 findet sich folgende Bestimmung des Begriffs: „Archiv (von grch. archeion), Sammlung schriftlicher Urkunden, welche sich auf Geschichte oder rechtliche Verhältnisse von Staaten, Städten, Korporationen, Familien etc. beziehen.“ Vom Begriff des Archivs als eines Ensembles von Dokumenten wird der 13 Vgl. Adolf Brenneke: Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, bearb. u. erg. v. Wolfgang Leesch. Leipzig 1953, S. 7, wo auf Thesen Meisners zur archivarischen Berufssprache zurückgegriffen wird. – Noch immer lesenswert: Heinrich Otto Meisner: Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Göttingen 1969. 14 Die Anstrengungen auf dem Gebiet der Terminologie sind traditionell groß. Vgl. Angelika Menne-Haritz: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie: Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 20), Marburg 1992, sowie das Werk Terminologie der Archivwissenschaft, das die Archivschule Marburg auf ihrer Website online gestellt hat.
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V. Was ist ein Archiv?
Beruf derer abgeleitet, die Archive betreuen, die Inhalte des Archivs sowie das hierauf bezogene Fachgebiet: „Archivar, wissenschaftlicher Archivbeamter. Archivalien, die in einem A(rchiv) aufbewahrten Urkunden, Akten. Die Grundsätze über die zweckmäßigste Einrichtung und Verwaltung der A(rchive) behandelt die Archivwissenschaft.“ 15 Obwohl anfangs nur von Urkunden die Rede ist, gehen in die lexikalische Erläuterung doch die beiden wichtigsten Quellengattungen ein, an denen sich Epochen zu trennen scheinen: das Mittelalter wird – allerdings nicht völlig zu Recht – als „Urkunden-Zeitalter“ apostrophiert, die Neuzeit als „Akten-Zeitalter“. 16 Mit zunehmender Schriftlichkeit veränderte sich die Produktion von Schriftgut; neben Urkunden entstanden nun Akten. Nicht nur abgeschlossene Rechtsgeschäfte wurden in Urkunden festgehalten, sondern man notierte auch vorbereitende Schritte auf einer Vielzahl von Schriftstücken, die in eine sogenannte „Akte“ (lateinisch: acta = die Handlungen) eingingen. Ganz andere Akzente setzt eine moderne Definition: Eckart G. Franz beginnt in seiner Einführung in die Archivkunde wie der alte Brockhaus mit einer Bestimmung dessen, was ins Archiv gelangt, also des Archivguts. Die Archive übernehmen administrative Unterlagen, für die sie die Zuständigkeit besitzen. Ein Stadtarchiv ist für die Dokumente, die im Zuge der Verwaltungstätigkeit der städtischen Dienststellen angefallen sind, zuständig. Die „einstmalige Beschränkung“ auf scripturae publicae, „auf Gerichts- und Verwaltungsschriftgut mit öffentlichen Glauben“, wird aber längst nicht mehr aufrechterhalten, stellt Franz fest. Das „gesamte Schrift-, Bild- und Tongut, das als dokumentarischer Niederschlag der Tätigkeit staatlicher oder nichtstaatlicher Dienststellen, aber auch sonstiger Einrichtungen, Verbände, Betriebe und Einzelpersonen erwächst“, wird in Archive übernommen. 17 Der funktionale beziehungsweise strukturale Archivbegriff, der sich hier abzeichnet, hebt nicht auf das einzelne Archivale ab und verzichtet zunächst einmal darauf, es wie auch immer, etwa in Abgrenzung von Medien, die in Bibliotheken gehören, zu kennzeichnen. Stattdessen richtet sich mit ihm das Augenmerk zum einen auf die Entstehung der Unterlagen, das heißt auf ihre Funktion, zum anderen auf „de(n) besondere(n) (…) Zusammenhang des organisch gewachsenen Archivguts“, so Franz, also auf die Struktur. 18 Diese Definition hat sich heute weithin durchgesetzt. Was den Aspekt der Struktur angeht, so ist die Unterscheidung zwischen einem Archiv und einer Sammlung grundlegend. Betrachten wir vergleichend bei beiden den Zusammenhang zwischen Teil und Ganzem: Das einzelne Archivale fügt sich in die Registratur ein wie ein Buch in eine Bibliothek. Doch findet der 15 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. 5., vollständig neubearb. Aufl. Leipzig 1906. Bd. 1, S. 92. 16 Vgl. z.B. Ahasver von Brandt: Das Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. 13. Aufl. Stuttgart u.a. 1992 (11958), S. 81. 17 Eckart Franz: Einführung in die Archivkunde. 3., grundlegend überarb. Aufl., Darmstadt 1990, S. 2. Vgl. auch ebd., S. 42–71. 18 Ebd., S. 2.
3. Das Archiv als Struktur. Zur Definition archivalischer Bestände
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Archivar den Zusammenhang der Registratur stets schon vor; dieser ist mit den Akten entstanden. Der Bibliothekar oder auch der Museologe dagegen stellt durch seine Sammeltätigkeit den Zusammenhang erst her. Die Einzelstücke stehen in ganz anderer Weise für sich allein als ein Archivale. Stellen wir uns eine kleine Behörde des 19. Jahrhunderts vor, die nach einem Aktenplan sogenannte Sachakten bildete. Wie die zugehörige Registratur ungefähr ausgesehen hat, lernten wir schon kennen. 19 Die Schriftstücke, die täglich ein- oder ausgingen, aber auch der sogenannte Innenlauf wie Vermerke, Protokolle, Notizen wurden nach Sachbetreffen geordnet und gemäß Aktenplan auf Stöße gelegt, die man von Zeit zu Zeit zu Bänden heftete. Die Tätigkeit der Behörde teilt sich mit der Aktenbildung zwar in gewisser Weise in einzelne Sachthemen auf, ist aber in ihrer Gesamtheit im Ganzen der Registratur greifbar. Aktenschriftstücke sind über die einzelne Sachakte hinaus meist durch laufend geführte Nachweise miteinander verzahnt: über ein Geschäftstagebuch (Journal). In dieses wurden sämtliche ein- und ausgehenden Schreiben eingetragen, und auch die Zuordnung zu den Sachbetreffen gemäß Aktenplan, die für jeden einzelnen Vorgang erfolgen musste, wird dort angegeben. Die Registratur ist also kein Werk, das ein Einzelner als sein Urheber geschaffen hat. Sie ist ein Niederschlag von Verwaltungshandeln, dem eine gewisse Anonymität zueigen ist, und deshalb hat sie die Archivwissenschaft etwas hochtrabend als „prozessgeneriert“ bezeichnet. 20 Die administrativen Handlungen, die schriftlich gefasst werden, sind freilich keine rein mechanischen Abläufe, keine Automatismen; sie in Algorithmen darzustellen, würde auf einer Abstraktion beruhen, die der Realität nicht ganz gerecht wird. Meist sind mehrere Bedienstete mit einer Angelegenheit befasst, und sie arbeiten innerhalb eines engen Rahmens von Verwaltungsvorschriften und Konventionen; ihr Handlungsspielraum ist klein, was selbst für die Ablage der Schriftstücke in Akten und deren Einfügung in die Registratur gilt. Dennoch besteht die Verwaltungstätigkeit, die den Akten zugrunde liegt, auf dem niemals ganz kalkulierbaren Tun und Lassen von Menschen; in einem strengen Sinne kann es nicht berechnet werden. Was sich in den alten Papieren findet, ist immer für eine Überraschung gut. Die archivwissenschaftliche Analyse von Funktionen und Strukturen des Schriftguts nahm von der behördlichen Sachaktenregistratur ihren Ausgang; wenn der Blick jedoch über diese hinausgelangt, kann sie als Muster dienen. An ihr lassen sich Strukturmerkmale ablesen, die auch in anderen, analogen Kontexten auftauchen können. Die konstitutive Unterscheidung zwischen Archiv und Sammlung ist insofern unabhängig von der Art oder Gattung des archivierten oder gesammelten Materials; zum Beispiel ist sie auch auf Nachlässe anwendbar. Nach älterer Auffassung gehörten lediglich die Nachlässe von Staatsmännern und Feldherren in die Staatsarchive, weil sie thematisch dorthin passten, während die Werkmanuskripte und Briefe, die Dichter und Gelehrte hinterlassen, in den Hand19 Vgl. den ersten Abschnitt dieses Kapitels (Kap. V, 1) 20 So Angelika Menne-Haritz im archivwissenschaftlichen Unterricht an der Archivschule Marburg, 1990/91. Vgl. dies.: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie, a.a.O., S. 24.
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V. Was ist ein Archiv?
schriftenabteilungen der Bibliotheken einen Platz finden sollten. Gemäß der strukturalen Definition des Archivs besitzen aber sämtliche Nachlässe, auch die von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern die Form eines Archivs und können deshalb ohne Einschränkung in Archiven einen Platz finden. Es soll nicht geleugnet werden, dass eine strikte Definition des Archivbegriffs, wie sie eben vorgestellt wurde, zu dem weiten, deskriptiven Konzept eines kulturellen Raums, den Archive ausfüllen und wie er im Vorigen grob umrissen wurde, in einem gewissen Spannungsverhältnis steht. Nicht alle Bezirke des Archivischen, die genannt wurden, fügen sich der klaren begrifflichen Bestimmung des Archivs, wie sie eben gegeben wurde, vollständig ein. Doch muss in Rechnung gestellt werden, dass in den verschiedenen Erinnerungskulturen, die es heute gibt, genuin archivische Gesichtspunkte oft mit anderen vermischt sind. Der Begriff des Archivs, wie immer man ihn akzentuiert, ist ein Idealtypus; mit der Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit müssen und können wir leben. Wichtig ist ein grundlegender Sachverhalt, der sich im Ergebnis unserer definitorischen Bemühungen aufdrängt: Das historisch-kritische Denken hat den Wert der Authentizität von Quellen, aus denen historische Erkenntnis gewonnen werden kann, herausgearbeitet. Der Archivbegriff, der soeben vorgestellt wurde, knüpft hier an. Er beruht auf der Einsicht, dass es auch eine Authentizität des geschichtlich entstandenen Zusammenhangs von Dokumenten gibt, der zu bewahren ist – genauso wie das einzelne Archivale erhalten werden soll. Die Art und Weise der Zusammengehörigkeit von Archivgut ist ihrerseits eine Spur, die über die Vergangenheit Auskunft geben kann, und wenn sie als solche erkannt und beachtet wird, gewinnt sie selbst den Status einer Quelle. Ein archivalischer Bestand ist nichts anderes als eine solche Struktur. In jeder historischen Quellenkunde sollte der Begriff des Archivs an prominenter Stelle vorkommen.
VI. DER BERUF DES ARCHIVARS 1. Staub und verborgene Schätze Das Bild, das man sich gewöhnlich von einem Archiv und seinen Hütern, den Archivaren, macht, hat zwei Seiten: Alte Akten sind oft verstaubt, wenn nicht schmutzig. Das Archiv steht in Gefahr, als der Inbegriff des Verstaubten, Altmodischen und Entlegenen zu gelten. Archivare sind von Stauballergien bedroht, 1 und ein Waschbecken in Magazinnähe gehört zu den hygienischen Anforderungen einer zweckmäßigen Archiveinrichtung. Andererseits sind Archivare, so glaubt man, Entdecker, die verborgene Schätze heben. Beide Metaphern, die des Staubs und die des Schatzgräbers, ergänzen einander: die Schätze können unter Staub verborgen sein. Jeweils für sich betrachtet, übertragen die Sprachbilder einen Ausschnitt aus der Tätigkeit der Archivare und des Zustands der Archive auf das Ganze. Die einseitige, auf eine Formel reduzierte Wahrnehmung des Berufs ist aber ein Klischee, auch wenn es das berühmte Körnchen Wahrheit enthält. Wir müssen also etwas näher hinsehen. Als Erstes sei einer der Vorzüge des Berufs gepriesen: Die Aura des Alten oder gar Uralten macht sich gerade in unserer Zeit der technischen Reproduzierbarkeit geltend. Mit Archivalien unmittelbaren Umgang zu pflegen, wiegt für den, der den Reizen des Antiquarischen gegenüber empfänglich ist, die Belastung durch Staub und Dreck bei weitem auf. Arlette Farge hebt die schmucklosen Justizakten des 18. Jahrhunderts, die sie erforscht, von illuminierten Handschriften des Mittelalters ab. 2 Doch kommt es in dieser Beziehung auf Pracht und Glanz nicht vorrangig an; auch unscheinbare historische Schriften sind oft auf eigentümliche Weise schön. Den Dokumenten aus lange vergangener Zeit körperlich nahe zu sein, sie ohne ein trennendes Vitrinenglas ansehen und (wenn nötig, mit Handschuhen) anfassen zu können, ist unbeschadet des ästhetischen Gefälles zwischen Durchschnittsakte und einer Kostbarkeit der Buchmalerei bewegend. Es sei erlaubt, ein persönliches Erlebnis anzuführen: Ich erinnere mich gern an den Schuhkarton, in dem am Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf 3 am ersten Tag der Ausbildung gefaltete Pergamenturkunden des Stiftes Sankt Cassius zu Bonn zur Transkription ausgehändigt wurden – einfach so! Die wohl seit vielen Menschenaltern gefalteten Pergamente passten gut in das provisorische Behältnis, sperrten sich aber dagegen, geöffnet und plan gelegt zu 1
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Vgl. zum Beispiel „Gesundheitsvorsorge in Archiven. Zur Gefährdung durch SchimmelpilzKontamination im Archivgut“, in: Der Archivar, Jg. 47, H. 1 (Febr. 1994), Sp. 120–128 und Hanns Peter Neuheuser: „Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit mikrobiell kontaminiertem Archivgut“, in: ebd., Jg. 57, H. 3 (Juli 2004), S. 217–225. A. Farge: Le goût de l’archive, a.a.O., S. 8. Heute: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland.
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VI. Der Beruf des Archivars
werden, was erforderlich war, um sie lesen zu können; man durfte gar nicht einmal allzu zart mit diesen mittelalterlichen Preziosen umgehen. Die große zeitliche Distanz zu ihrer Entstehung im 13. Jahrhundert scheint ein Stückweit überwunden zu sein, wenn man sie in die Hand nimmt. Es ist, als ob eine weit zurückliegende Epoche unmittelbar erreichbar wird; immerhin lassen sich Spuren von ihr regelrecht ergreifen. Der unmittelbare Umgang mit den Originalen ist ein Privileg in unseren Tagen der immer umfangreicheren technischen Sicherung und schützenden Absperrung der Kulturgüter. Archivbenutzer müssen sich heute bei der Einsichtnahme oft mit Vervielfältigungsstücken begnügen; sie bekommen nur Reproduktionen, etwa Mikrofilme oder Digitalisate, vorgelegt. Trotz der Vorzüge ihres Berufs suchen die Archivare seit einigen Jahrzehnten unverkennbar nach einem Selbstverständnis, mit dem sie sich von einem als altmodisch empfundenen Berufsbild abgrenzen wollen. Eckart Franz wendet sich gegen das Vorurteil, der Archivar sei ein „spitzweghafter Sonderling“. 4 Der biedermeierlichen Idylle (oder Skurrilität) stellt er das Selbstbild des Verwaltungsfachmanns gegenüber. Um dem Geruch der Weltfremdheit zu entgehen, bringt er das Image des effizienten Administrators mit Managerqualitäten ins Spiel. Dieses Leitbild, das den Archivar zeitgemäß als einen „Macher“ vorstellt, wurde schon in den technikgläubigen, geschichtsvergessenen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert. Aber ist es heute, in Zeiten des Bürokratieabbaus und der – teils berechtigten – Kritik an der überbordenden, in mancher Hinsicht problematisch gewordenen Aufgabenvielfalt der öffentlichen Hand, ratsam, wenn Archivare in der allgemeinen Verwaltung gleichsam unterschlüpfen wollen? Ein anderer, letztlich verwandter Weg besteht darin, die Orientierung an den technischen Innovationen der Informationsgesellschaft zu suchen; die Archive werden dann, zugespitzt ausgedrückt, als eine Art Logistik-Unternehmen aufgefasst, das mit seinen informationstechnischen Ressourcen steht und fällt. 5 Diese Option mag auf den ersten Blick erfolgversprechend sein, doch muss bei näherem Hinsehen eingeräumt werden, dass die Archive nicht prädestiniert sind, zur informationstechnischen Avantgarde zu gehören. Öffentliche und – in geringerem Maße – auch wissenschaftliche Bibliotheken können sich vielleicht als bloße Instanzen des Informationstransfers begreifen, wenn sie sich vom Postulat eines Bildungsauftrags und von den Ansprüchen eines Bildungskanons lösen; dann unterstützen und gewährleisten sie nichts anderes als Informationsflüsse. Pointiert gesagt: Wenn Goethe nicht mehr gefragt ist, kann auf moderne Sachbücher und notfalls auf Computerspiele ausgewichen werden. Archive dagegen sind, ob sie es wollen oder nicht, durch die Art ihrer Bestände in Kulturen des Erinnerns und in Prozesse der Geschichtsforschung eingebunden und somit festgelegt. Sie müssen die neuen Standards und Medien der Information nutzen, doch geben ihnen diese keine Legitimität, die sie im Rahmen der Geschichtskultur nicht schon besitzen. 4 5
E. Franz: Einführung in die Archivkunde, a.a.O., S. 1. Vgl. Kap. I, 2.
1. Staub und verborgene Schätze
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Gewiss: Es lässt sich nicht leugnen, dass historische Archive etwas Abgelegenes an sich haben – oft im wörtlichen Sinn. Der Büroraum des Autors befand sich eine Zeitlang in einem beengten Zwischengeschoss, das in einem riesigen, 1880 fertiggestellten Altbau nur aufgrund der repräsentativen Erfordernisse des Vestibüls (in Verbindung mit einer Arkadenhalle) entstanden und zu nichts Wichtigem zu gebrauchen war. Der Zugang über einige Stufen in der dunklen, seitlichen Ecke eines Flurs, beim Treppenhaus, ließ sich schwer finden. Als ein Professor aus New Mexico die niedrigen Räume betrat, bemerkte er trocken, eine solche Platzierung sei das Schicksal der Archive „all over the world“. 6 Auch im übertragenen Sinne gibt es so etwas wie die Entlegenheit des Archivs: es befindet sich am Rande, was die Kriterien der Aktualität angeht. „Alle echte Überlieferung“ ist, wie Jacob Burckhardt bemerkt, „auf den ersten Anblick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist“. 7 An den Lebensnerv der jeweiligen Gegenwart scheinen die in den Akten verhandelten Stoffe oft nicht unmittelbar zu rühren. Und konkret auf das Archiv bezogen: Es ist ja das Auffangbecken für Dokumente, die „nicht mehr benötigt“ werden, 8 ein Depot für das – in einem vordergründigen Sinne – überflüssig und nutzlos Gewordene. Kein Wunder, dass die Kulturwissenschaft die Vorstellung des Abfalls, des Mülls und des Recyclings in Anschlag bringt, um zu beschreiben, was mit der Archivierung vor sich geht. 9 Schaut man aber näher hin, so entdeckt man rasch den Charme des Abseitigen. Ungewohnte alte Schriftzüge sieht man oft einfach gern an; ihre ästhetische Qualität mag – unzulässigerweise – in den Augen romantisch gestimmter Gemüter manchmal sogar auf die geschichtlichen Inhalte abfärben. Das scheinbar Veraltete, das uns in Archivalien begegnet, ist fremd, kann aber sachlicher angeschaut werden als die emotional besetzten Themen und Probleme der Gegenwart. In Bezug auf die Vergangenheit fällt es leichter, eine Perspektive einzunehmen, die von den Lebenslügen, Leidenschaften und mächtigen Ideologien der Gegenwart halbwegs frei bleibt. Phänomenen der Vergangenheit vermögen wir mit größerer Unbefangenheit zu begegnen als denen des Augenblicks. Der Beruf des Archivars besitzt, neben dem Geruch des Verstaubten, eben auch eine beachtliche Ausstrahlungskraft, die daher rührt, dass er dank seiner Tätigkeit Distanz zu den Bedrängnissen der Zeitgenossenschaft gewinnt; diese Seite der Medaille komplettiert erst das Bild. Der Vergangenheit kann man sich eher als der Gegenwart sine ira et studio zuwenden, und das ist zweifellos ein Vorteil. Der Archivar hat das Glück, den Archivalien nahe zu sein. Unbeschadet aller Monotonie, die wohl jede Berufsausübung mit sich bringt, trotz der Akribie und Pedanterie, die ihm abverlangt wird, hat er eine anregende und abwechslungsreiche Aufgabe. Ihre Wirkung auf die Mitmenschen ist eine andere, auf den ersten Blick geringere, als die von Ärzten oder Ingenieuren. Aber ich vergesse nicht, 6 7 8 9
Dieser Historiker war Charles E. McClelland. Er arbeitete damals an seinem Buch Prophets, Paupers, or Professionals? A Social History of Everyday Visual Artists in modern Germany, 1850 – Present. Oxford u.a. 2003. J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, a.a.O., S. 250. Archivgesetz des Landes Berlin, § 4, Abs. 1. Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 383–407.
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VI. Der Beruf des Archivars
dass mir eine Persönlichkeit mit weitreichenden Führungsaufgaben kurze Zeit nach einem außergewöhnlichen Erfolg sagte, dass sie mich um mein Arbeitsgebiet ein wenig beneide. Die Äußerung war bestimmt ehrlich gemeint, nicht nur ein höfliches, aber nichtssagendes Kompliment. 2. Die Tradition der Berufswissenschaft Die Tätigkeit der Archivare wird durch eine berufsbezogene, angewandte Disziplin, die Archivwissenschaft, angeleitet; diese hat eine lange Tradition. Schon seit dem 16. Jahrhundert gibt es Fachliteratur für Registratoren. 1571 erschien in Heidelberg die Schrift Von der Registratur und jren Gebäuwen und Regimenten. 10 Verfasst hat sie ein gewisser Jacob von Rammingen. Dieser Pionierarbeit folgten viele weitere. Der Straßburger Archivar Jacob Wencker hat einige in einem Sammelwerk Collecta archivi et cancellariae jura, das 1715 in Straßburg erschien, nochmals abgedruckt. Auch das 18. Jahrhundert brachte eine reiche Literatur hervor, in der die angemessene Arbeitsweise der Registratoren erläutert wird. Die Archivlehre, die in diesen Schriften nachzulesen ist, weist über das Handwerkszeug der Archivare bereits hinaus, weil sie das erfahrungsgesättigte Wissen, das die Archivare in der Ausübung des Berufs erworben hatten, nicht nur artikuliert und schriftlich niederlegt, sondern systematisiert und ergänzt. Nach Ratgebern verlangte es die Registratoren schon vor Jahrhunderten. Georgius Aebbtlin schrieb 1669, dass ihm „trotz sonderbahre(r) Lust und Neigung zur Registratur“ anfangs „an dem Methodo gemangelt“, was „mir die Sach manchmalen so schwer und saur gemacht, daß ich an Vollbringung derselben zum offtern desperirt habe“. Dann stieß er auf die Schrift des Jacob von Rammingen und fand in ihr einen guten „Behelff“. Dessen „Methodum“ konnte er „abmercken und denselben (zwar nicht ohne grosse so Tags so Nachts angewendte Mühe und Arbeit) mit der Praxi vereinbahren“. 11 Theorie und Praxis in Einklang zu bringen und von Berufskollegen unter Zuhilfenahme eines Lehrbuchs zu lernen, war dieser Auskunft zufolge zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Mit dem engen Bezug zur Berufspraxis hängt zusammen, dass die Fachliteratur der Archivare eine gewisse Hermetik aufweist; manche archivkundliche Abhandlung ist genauso schwer zu lesen wie eine Gebrauchsanweisung für technische Geräte. Die archivische Ordnungslehre zum Beispiel, wie sie Johannes Papritz entwickelte, hat eine eigentümliche Unzugänglichkeit für Außenstehende an sich. Die Anschauung, die man in der Berufspraxis gewinnt, ist in ihr stillschweigend vorausgesetzt; es kann wohl auch nicht anders sein. Zumindest wird das Verständnis durch eine vorausgegangene Tätigkeit in einem Archiv sehr erleichtert. Als ich Papritz’ vierbändige Archivwissenschaft, die ich mir vor der Beginn 10 Mit „Gebäuwen“ sind Gebäude gemeint. 11 „Georgij Aebbtlins Tractation de Archivis atque Registraturis, vulgo Anführung zur Registratur-Kunst (...)“, in: Jacob Wencker: Apparatus & Instructus Archivorum es usu nostri temporis, vulgo Von Registratur und Renovatur (...). Straßburg 1713, S. 1–14, hier: S. 4f.
2. Die Tradition der Berufswissenschaft
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der Ausbildung über den Buchhandel bestellt hatte, zu lesen begann, war ich enttäuscht: Die barock anmutenden Ausführungen waren schwer verständlich. Liest man die archivkundliche Literatur genau, so stößt man immer wieder auf eine bestimmte Insider-Rhetorik: Experten sprechen miteinander, im Bewusstsein ihres Erfahrungsvorsprungs. In der Festschrift zu Ehren eines ausscheidenden Direktors des Bundesarchivs in Koblenz wird zum Beispiel betont, dass die gewählte Fragestellung „nicht in der akademischen Studierstube entstanden“ sei, sondern „am Arbeitsplatz eines Archivars“. 12 Das Problem einer solchen Fachliteratur besteht aber darin, dass die Archivare in ihr ganz unter sich sind. Doch kommt es gerade heute nicht nur auf die Binnenkommunikation der Fachleute an, sondern auf eine breite gesellschaftliche Zustimmung zur Praxis der Archive. Sie ist nur zu erreichen, wenn man über die Zirkel der Eingeweihten hinaus gesprächsbereit ist. Es ist deshalb erforderlich, der Archivistik eine Perspektive zu eröffnen, die über die Welt der Spezialisten hinausreicht und die ihr – das ist das Mindeste – eine Anschlussfähigkeit in den historischen Kulturwissenschaften verleiht. Für die archivarische Praxis ist ein die einschlägigen Kenntnisse und Fertigkeiten zusammenfassendes Fach, also die Archivwissenschaft als angewandte Disziplin, natürlich unerlässlich. Die archivische Ordnungslehre zum Beispiel verbindet die praktische Anleitung, den Zusammenhang verordneter Akten und verrutschter Papiere schnell zu erkennen und wiederherzustellen, mit der subtilen Erörterung der historisch vorzufindenden Formen der Schriftgutablage, wie sie der erwähnte Johannes Papritz in seinem opus magnum dem Leser vor Augen führt. Eine solche historische Formenkunde verrät uns, wie Schriftstücke in den Kanzleien und Behörden im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedlicher Weise zu Registraturen zusammengefügt wurden; deren Ordnung kann im Einzelnen nur beachtet oder gar vorsichtig rekonstruiert werden, wenn man die entsprechende allgemeine Formengeschichte kennt. Von der Archivwissenschaft als einer streng berufsbezogenen, angewandten Disziplin 13 ist jene Theorie des Archivs abzuheben, die uns in diesem Buch beschäftigt. In ihr geht es um ein Nachdenken, das nicht unmittelbar auf die Bewältigung einzelner Alltagsprobleme im Archiv, sondern auf eine Begründung des gesamten Unterfangens abzielt. Aber auch diese Perspektive kann sich auf die Praxis auswirken; sie muss für sie nicht folgenlos sein. Den Archivaren geht es 12 Siegfried Büttner: „Ressortprinzip und Überlieferungsbildung“, in: Aus der Arbeit der Archive. Festschrift für Hans Booms, a.a.O., S. 153–161, hier: S. 153. 13 Papritz’ vierbändige Archivwissenschaft erschien zuerst 1976. Leider gibt es keine neuere integrative Darstellung der Archivwissenschaft, die dem Stand der heutigen Fachdiskussion entspricht. Nur wenige Bücher liegen vor, die wie Eckart Franz’ Einführung in die Archivkunde oder das von Friedrich Beck und Eckart Henning zusammengestellte Kompendium Die Archivalischen Quellen über die Fachkreise der Archivare hinaus ein Publikum erreichen. Erwähnenswert ist außerdem Michael Hochedlingers Aktenkunde, die sich an Archivare und Historiker gleichermaßen wendet. – Vgl. Johannes Papritz: Archivwissenschaft. 2. durchges. Aufl. 4 Bde. Marburg 1983. – E. Franz: Einführung in die Archivkunde, a.a.O. – F. Beck, E. Henning: Die archivischen Quellen, a.a.O. – Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkundenund Aktenlehre der Neuzeit. Wien, München 2009.
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VI. Der Beruf des Archivars
nämlich gewiss wie manchen anderen, die im Einerlei einer praktischen Tätigkeit wie verloren sind: Ohne ein gelegentliches grundsätzliches Nachdenken über sich selbst und das eigene Tun und Lassen kann es passieren, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. In einer solchen Reflexion stößt man nun auf die Zugehörigkeit der Archivarbeit zur Geschichts- und Erinnerungskultur und – dementsprechend – auf die Einbindung des Archivberufs in das Feld historischer Kompetenzen. 3. Historiker-Archivare Das in der frühen Neuzeit tätige Personal war juristisch vorgebildet; erst nach den Umwälzungen im Gefolge der Französischen Revolution verlor ein beträchtlicher Teil des älteren Schriftguts, das sich in den Archiven befand, seinen unmittelbaren Nutzen für Recht und Verwaltung. Dagegen war „unter dem Einfluß der Romantik die Liebe zur Heimatgeschichte erwacht. Zünftige Gelehrte und Dilettanten begannen nun an die Pforten der Archive zu klopfen.“ Mit diesen Formulierungen fasst Adolf Brenneke in seiner Archivkunde den epochalen Umbruch zusammen, der mit der Wende zum 19. Jahrhundert eingeleitet wurde und der die moderne Verbindung von Archiv und Geschichte herbeiführte. 14 Mit der allmählichen Herausbildung der historischen Archive löste der geschichtswissenschaftlich ausgebildete Archivar den Juristen, der letztlich ein Registrator blieb, ab. Es bildete sich ein eigenes Schulwesen aus: 1821 wurde in Paris die École des Chartes gegründet und in Bayern der Archivunterricht aufgenommen; es folgte 1854 das Institut für österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien, das vergleichbare Aufgaben erfüllt. Seit 1894 entstanden auch in Preußen Archivschulen, zunächst in Marburg, dann in Berlin-Dahlem. Schon in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts fällt der Versuch, ein einschlägiges Periodikum zu begründen. Von 1834 bis 1836 erschien in Hamburg die Zeitschrift für Archivkunde, Diplomatik und Geschichte, die bereits im Titel die damalige enge Verbindung von Archivpraxis und Geschichtsforschung erkennen lässt – und auch die Nähe der Archivkunde zur Lehre von den mittelalterlichen Urkunden: der Diplomatik. Die Geschichte des Archivarsberufs ist von Doppel-Identitäten geprägt, die anzeigen, dass die Berufsausübung jeweils nur zur einen Hälfte spezifisch archivkundliche Kenntnisse verlangte. Im Alten Reich, bis zur Epoche der Französischen Revolution, gab es den Typus des Juristen-Archivars; ihm folgte der Historiker-Archivar des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Pariser École des Chartes brachte den archiviste-paléographe mit einer streng mediävistischen Ausrichtung hervor. 14 A. Brenneke: Archivkunde, a.a.O., S. 53 – Im Nachdruck des Saur-Verlages ist die – inzwischen veraltete – Bibliographie weggelassen worden. Freilich zitiert Brenneke anhand der Ziffern dieser Bibliographie, die man nun in der gekürzten Fassung nicht mehr auflösen kann. So ist die Originalausgabe vorzuziehen.
3. Historiker-Archivare
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Der Ausdruck Archivwissenschaft besaß, damit zusammenhängend, ebenfalls eine doppelte Bedeutung. Zum einen umfasste er alle Fächer der Archivschule, zu denen insbesondere auch die historischen Hilfswissenschaften gehörten: vor allem Paläographie, aber etwa auch Heraldik (Wappenkunde), Sphragistik (Siegelkunde) und Numismatik (Münzkunde). Daneben waren für die Archivare landesgeschichtliche Kenntnisse unentbehrlich. Nach Papritz umfasst Archivwissenschaft in diesem weiten Sinn alles, was der Archivar für seine Berufsausübung braucht. Archivwissenschaft im engeren Verständnis dagegen thematisiert das, was nicht in anderen Disziplinen, insbesondere der Geschichtswissenschaft, vorkommt. Vor allem die Lehre von den Organisationsformen des Schriftguts in Kanzlei und Registratur ist hier zu nennen. 15 Als sich der Schwerpunkt der archivarischen Tätigkeit allmählich von mittelalterlichen Urkunden zu neuzeitlichen Akten verlagerte, gewann die Archivwissenschaft im zuletzt genannten Sinne an Kontur. Betrachten wir nun, wie das Leitbild des Historiker-Archivars, das im beginnenden 20. Jahrhundert eine feste Gestalt angenommen hatte, in der Berufspraxis aussah. Die Zentralstelle für Berufsberatung der Akademiker in Berlin gab 1919 in der Reihe Die akademischen Berufe einen Führer Der Philologe heraus, der auch den Beruf des Archivars in aller Kürze beschrieb. Das Ausbildungsniveau der Archivare wird als respekteinflößend vorgestellt. Einer Zeitungsnotiz zufolge, so wird ausgeführt, sei der bayerische Archivarsabschluss „das zweitschwerste Examen der Welt“, „lediglich dem chinesischen Mandarinenexamen nachstehend“. Das ist ein zweischneidiger und darüber hinaus – hoffentlich – nicht ganz ernst gemeinter Vergleich! 16 Die Prüfungsanforderungen lauteten übrigens ähnlich wie noch vor einigen Jahren an der Archivschule Marburg. In schriftlichen Klausuren galt es, „zwei mittelalterliche Urkunden, eine lateinische und eine deutsche, und zwei Aktenstücke aus der neueren Zeit, eines in deutscher und eines in französischer Sprache, abzuschreiben und zu bearbeiten“. Die Notwendigkeit ausgedehnter Sprachkenntnisse wird betont. Neben dem Lateinischen und Französischen sollte sich der Kandidat auch Kenntnisse „in einer der Sprachen (...) verschaffen, deren Gebiete an das preußische Staatsgebiet angrenzen, des Holländischen oder des Dänischen oder des Schwedischen, des Russischen oder des Tschechischen“. Das Polnische, das zu erlernen ebenfalls empfohlen wurde, wird an dieser Stelle nicht aufgeführt, wäre aber ergänzend zu nennen. Dass der Archivar ein exzellenter Historiker sein müsse, wird als eine Selbstverständlichkeit angesehen: „Wie dem Archivar die ursprünglichsten und sichersten Niederschläge geschichtlichen Lebens zur Erhaltung, Ordnung und Aufbewahrung anvertraut sind, so muß er in erster Linie Historiker sein, der es versteht, alle Äußerungen der Geschichte auf den verschiedenen Gebieten menschli15 J. Papritz: Archivwissenschaft, a.a.O., Bd 1, S. 1–40, bes. S. 1 und 14f. 16 Ernst Müsebeck: „Der Archivar“, in: Die akademischen Berufe, Bd. III: Der Philologe. Berlin 1919, S. 85–98, hier: S. 89. – Vgl. die inzwischen klassisch gewordene Kritik am deutschen Bildungsbürgertum von Fritz K. Ringer: The Decline of the German Mandarins. Cambridge, Mass. 1969 (dt.: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine. Stuttgart 1983).
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VI. Der Beruf des Archivars
cher Tätigkeit nachzuempfinden, mitzuerleben.“ 17 Er muss erkennen können, wo eigene und fremde „kritische Arbeit“ einzusetzen hat, wo sich „Orts- und Territorialgeschichte mit der allgemeinen verbindet, wo die Forschungen beider befruchtend ineinander zu greifen haben“. Nur so kann der Archivar seinen Auftrag erfüllen, „der Vertrauensmann seines Archivsprengels in allen historischen Fragen“ zu sein. Dann werde er „selbstforschend tätig sein können und andere zur Forschung anzuregen vermögen“. Was die Berufspflichten angeht, wird erläuternd hinzugefügt: „Die eigentliche, selbständige wissenschaftliche Forschung und Arbeit gehört jedoch nicht zu den Obliegenheiten während des Dienstes. Die Dienststunden gehören anderer Arbeit“. Aber von jedem Archivar, der seine Aufgaben ernst nimmt, werde erwartet, „daß er sich in seiner dienstfreien Zeit selbst wissenschaftlich betätigt, daß er den Drang in sich verspürt, selbstforschend auf dem weiten Felde der Historie in irgendeiner Form zu arbeiten.“ Diese rundum positive Selbstbeschreibung des Archivarsberufs kann über manche berufsständische Eitelkeit, national-konservative Borniertheit und Verstrickungen in die nationalsozialistische Herrschaft, die zu konstatieren sind, nicht hinwegtäuschen. 18 Doch ist es aus heutiger Sicht als Vorteil zu werten, dass Archivare – anders als universitäre Wissenschaftler – stets von dem Selbstverständnis geprägt waren, dass sie Dienstleistungen erbringen. In der berufskundlichen Schrift, aus der zitiert wurde, findet sich dies recht pathetisch ausgedrückt. Der Archivar müsse sich „ganz in den Dienst der Wissenschaft für einen anderen (...) stellen.“ Das sei „eine Aufgabe, die oft viel Entsagung, immer aber große Mühe und eingehende Arbeit bedeutet.“ 19 Dieses traditionelle Leitbild des Archivberufs wirkt zwar fort, hat in den letzten Jahrzehnten aber Risse bekommen. 20 Das Einströmen moderner Aktenmassen in die Archive führte dazu, dass sich immer weniger Archivare mit den inzwischen recht gut erschlossenen älteren Beständen befassen konnten; die allgemeinen Verwaltungsaufgaben nahmen zu und die Spezialisierung, gerade auch auf archivtechnischem Gebiet, schritt fort. Aber lassen diese Tendenzen die überkommene Vorstellung vom Historiker-Archivar gänzlich verblassen? Eckart Franz postulierte, dass der Archivar „auch künftig neben und in Verbindung mit seiner eigentlichen archivarischen Arbeit als forschender Historiker an der wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung des ihm anvertrauten Archivgutes mitwirken (will und soll)“. Nur auf diese Weise könne er „die so notwendigen Voraussetzungen für die in der Archivarbeit unerläßliche Verknüpfung von Verwaltungs- und Forschungsinteressen“ erwerben. 21 Diesen Aussagen 17 Hervorhebung vom Verf. 18 Die kritische Aufarbeitung der Geschichte der Archive in der Zeit des Nationalsozialismus stand im Mittelpunkt des 75. Deutschen Archivtags in Stuttgart 2005. Vgl. Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus, a.a.O. – Vgl. auch die exemplarische Studie von Stefan Lehr: Ein fast vergessener „Osteinsatz“. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine. Düsseldorf 2007 19 E. Müsebeck: Der Archivar, a.a.O., 92–95. Hervorhebung vom Verf. 20 Vgl. hierzu auch Kap. I, 2. 21 E. Franz: Einführung in die Archivkunde, a.a.O., S. 73.
3. Historiker-Archivare
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ist im Prinzip zuzustimmen, denn es lassen sich in der Tat gute Gründe anführen, weshalb der Archivar nach wie vor über profunde historische Kompetenzen verfügen sollte: Bei der Bewertung administrativer Unterlagen wie beim Sammeln ergänzender Dokumente muss er die Sichtweise eines Historikers einnehmen können. Was Ordnung und Verzeichnung betrifft, so geht er von der geschichtlich entstandenen Struktur des zu bearbeitenden Schriftguts aus. Im weiten Überschneidungsbereich zwischen Erschließung und Auswertung verbinden sich die Kompetenzen von Archivar und Historiker ebenfalls; sie befruchten einander, so zum Beispiel bei der Edition archivalischer Quellen. Die Erfahrung zeigt: Es sind nach wie vor gerade praktische Anforderungen des Berufs, die den Archivaren neben ihrer spezifisch archivwissenschaftlichen Befähigung eine historische abverlangen. Diese sollte sich nicht nur auf diejenigen Gebiete beziehen, die – wie Verwaltungsgeschichte und die historischen Hilfswissenschaften – an die Archivwissenschaft angrenzen, sondern auch den geschichtlichen Umkreis des jeweiligen Archivs mit einschließen. Das gilt heutzutage vielleicht sogar mehr denn je: Der Stadtarchivar muss die Geschichte seiner Stadt besser kennen als jeder andere, der Wirtschaftsarchivar die Vergangenheit seines Unternehmens, der Archivar in einem Spezialarchiv der Literatur die Schriftsteller, deren Nachlässe er betreut. Aufgrund der unerlässlichen Vertiefung in die Geschichte, die mit der Betreuung eines Archivs verknüpft ist, kann der Archivar nicht so leicht seinen Schreibtisch wechseln wie mancher andere Berufstätige. Denn er vermag zwar seine archivwissenschaftliche Kompetenz auf einem anderen Arbeitsplatz von neuem anzuwenden, meist jedoch nicht die vielen historischen Detailkenntnisse, die an ein einzelnes Archiv oder einen bestimmten Archivsprengel gebunden sind. Und nebenbei bemerkt: Archivare haben den Historikern auf dem Gebiet der Geschichtsforschung in mancher Hinsicht sogar Einiges voraus. Sie besitzen eine besondere Qualifikation für den Umgang mit den Quellen, vor allem eine Vertrautheit mit ihnen, die sich nicht überbieten lässt. Dank der täglichen Auseinandersetzung mit originalen Dokumenten fällt es Archivaren, verglichen mit manchen anderen Forschern, spielend leicht, unaufbereitete Quellen zu entziffern und auch zu verstehen. Sie kennen in besonderem Maße ansonsten eher unbekannte Bestände an Archivalien. Durch den Kontakt mit Benutzern wie mit anderen Besuchern und Gästen des Archivs bekommen sie zahlreiche Hinweise und Anregungen. Schließlich gewinnen sie eine ‚Längsschnitterfahrung‘ über die Epochen hinweg und Kenntnisse quer zu gebräuchlichen synchronen Unterteilungen der Geschichte; ihre historische Kompetenz ist, aufs Ganze gesehen, relativ unabhängig von einengenden Fragestellungen, freilich konzentriert auf begrenzte archivalische Fonds. So sind sie nicht nur Historiker-Archivare, sondern sozusagen auch ArchivarHistoriker.
VII. NORMEN DER ARCHIVIERUNG Die Archivwissenschaft ist eine angewandte Disziplin. Ihr ist abverlangt, die archivarische Tätigkeit anzuleiten, denn die im Berufsleben stehenden Archivare müssen wissen, wie sie sich angesichts der Probleme, mit denen sie tag-täglich in ihrer Arbeit konfrontiert sind, verhalten sollen. Der nachfolgende Blick auf die Normen der Archivierung ist kursorisch und behandelt nur wenige, allerdings grundlegende Aspekte. Aus dem Gebäude archivwissenschaftlicher Aussagen sollen zwei Bereiche herausgegriffen werden, die von herausragender Bedeutung sind: – die Lehre von den Entstehungszusammenhängen des Archivguts, an denen sich die Ordnung des Archivs gemäß Provenienzprinzip orientiert, und – die Diskussion über Bewertung und Überlieferungsbildung, das heißt über die Frage, was ins Archiv gelangen soll und was nicht. Diese beiden Themenkreise unterscheiden sich, auf den ersten Blick besehen, im Grad der Konsolidierung der jeweils einschlägigen archivfachlichen Positionen. Beim ersteren kommt mit dem Provenienzprinzip ein weithin akzeptiertes Theorem ins Spiel, während der letztere nach wie vor Gegenstand einer vielschichtigen, manchmal auch kontroversen Diskussion ist. Der pragmatische Konsens, den es wohl auch hier gibt, lässt sich nicht so leicht auf einen Begriff, jedenfalls nicht auf eine Formel bringen. Der bevorstehende tour d’horizon durch das Gebiet der Archivierungsnormen ist äußerst begrenzt. Ein großes Aufgabengebiet, nämlich die Erschließung – also die Verzeichnung der Archivalien in Form von Findmitteln und ihr sonstiger Nachweis – wird kaum berücksichtigt. Dafür gibt es allerdings einen guten Grund. Bei der Übernahme von Archivgut wie bei der ergänzenden Sammlungstätigkeit und auch bei der Herstellung oder Bewahrung einer angemessenen Ordnung geht es um die Substanz der Überlieferung. Hier entsteht ein Verlust unverzichtbarer Information, wenn es zu Fehlentscheidungen kommt. Indem Archivare bewerten und ordnen, das heißt Dokumente zur Vernichtung freigeben oder zur Aufbewahrung bestimmen und den Zusammenhang von Unterlagen bewahren oder wiederherstellen, greifen sie in das Material künftiger historischer Arbeit ein. Bei der Erschließung geht es um eine Verbesserung der Zugänglichkeit, wenn man so will: um Transparenz. Auch diese ist wichtig – es gibt den Merksatz, dass so gut wie nicht existiert, was nicht nachgewiesen ist. Doch das ist eine Übertreibung: Was verborgen ist, scheint nur inexistent zu sein, und dieser Anschein lässt sich zerstreuen. Die Verzeichnung kann nachgeholt werden; Fehlgriffe und Irrtümer, die in ihr unterlaufen sein mögen, lassen sich notfalls nachträglich korrigieren. Bei Entscheidungen auf dem Gebiet der Bewertung dagegen fehlt jede Möglichkeit, sie im Nachhinein zu ändern, und Eingriffe in den Ordnungszustand sind, wenn überhaupt, nur mit größter Mühe rückgängig zu machen. Wie wichtig aber
VII. Normen der Archivierung
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das Kriterium der Reversibilität zu nehmen ist, lehren uns die Restauratoren, die wie die Archivare eine subtile Kunst des Bewahrens pflegen und ausüben. 1 Sie müssen – etwa laut Blaubeurener Empfehlungen – gewährleisten, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen rückgängig gemacht werden können. 2 Der Analogie folgend, müssen diejenigen Normen der Archivierung besonders ernst genommen und mit größter Vorsicht implementiert werden, die zu irreversiblen Eingriffen führen. 1. Ordnung im Archiv: das Provenienzprinzip Das sogenannte Provenienzprinzip ist heute allseits anerkannt und gilt geradezu als Fundament der Archivistik. Allenfalls der Umfang seiner Geltung wird unterschiedlich umschrieben. Was aber besagt es? Provenienz meint die Herkunft eines Dokuments oder Gegenstands; Kunsthistoriker betreiben Provenienzforschung, wenn sie die Besitzverhältnisse von Werken, zum Beispiel eines Gemäldes, zurückverfolgen. 3 Das kann sich auf die rechtliche und moralische Beurteilung von Eigentumsfragen auswirken. Im Archivwesen kommt der Gesichtspunkt der Provenienz in anderer Weise ins Spiel: Beim Provenienzprinzip handelt es sich um eine Maxime, die verlangt, dass historisch entstandene Zusammenhänge innerhalb des Archivguts respektiert werden. Die Bewahrung oder Wiederherstellung einer vorgefundenen oder noch erkennbaren ‚alten‘ Struktur wird der Vorrang gegenüber jedem Ansatz einer systematisierenden Um- oder Neuordnung der Archivalien eingeräumt. Ganz schematisch gefasst: Geschichte kommt vor System. Das Gebot der Achtung vorarchivischer Ordnung lässt Eingriffe mit dem bloßen Ziel der Gliederung des Materials in der Art einer bibliothekarischen Systematik nicht zu. Wenn man den Herkunftszusammenhang bewahren oder gar wiederherstellen will, muss man ihn aber zuvor erkennen. Der intuitive Fehler aller archivwissenschaftlich unbedarften Forscher, die Archive ordnen wollen, besteht darin, dass sie eine selbst gewählte Ordnung ge1 2 3
Vgl. etwa „Marmor, Stein und Eisen bricht. Die Kunst zu bewahren. Restaurierung in den preußischen Schlössern und Gärten (Katalog zur Ausstellung in Potsdam, Orangerie im Neuen Garten). Leipzig 2006. Blaubeurener Empfehlungen, Punkt 1.3, Regel c). Abgedr. in: Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken, hg. v. Hartmut Weber. Stuttgart 1992, S. 157–170, hier: S. 161. Provenienzforschung hat einen hohen Stellenwert bei der Aufklärung unrechtmäßiger Besitzveränderungen, die gerade in Kriegen und unter Gewaltherrschaft entstanden sind. Im Zusammenhang mit der Suche nach Kulturgut, das den Eigentümern in der Zeit des Nationalsozialismus im Zuge politisch oder rassistisch motivierter Verfolgung entzogen wurden, sind solche Forschungen wichtig und können die Restitution etwa von jüdischem Eigentum nach sich ziehen. Als Beispiel sei die – allerdings noch ein Jahr danach umstrittene – Rückgabe des Gemäldes „Berliner Straßenszene“ (1913) von Ernst-Ludwig Kirchner aus dem Berliner Brücke-Museum im August 2006 angeführt. – Vgl. z.B. Kulturgutverluste, Provenienzforschung, Restitution. Sammlungsgut mit belasteter Herkunft in Museen, Bibliotheken und Archiven. München, Berlin 2007.
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VII. Normen der Archivierung
mäß einer von außen herangetragenen Systematik anstreben. Je kenntnisreicher jemand im jeweiligen Sachgebiet ist, umso leichter fällt es ihm, ein plausibles Schema aufzustellen, in das die Materialien seinem Verständnis zufolge eingefügt werden sollten – und um so schwerer ist es dann, die Vorgaben, die er dadurch an die Archivalien in naiver Weise heranträgt, als unberechtigt zu erkennen. Gerade bei der Bearbeitung von Nachlässen, deren innerer Zusammenhang nicht immer sofort hervorsticht, wird dieser inadäquate Ansatz nicht selten verfolgt. Einer systematisierenden Vorgehensweise beim Ordnen von Archivalien, der Anwendung von Schemata, die von außen herangetragen werden, widersetzt sich also der Fachmann. Er lässt insbesondere die von einem Bestandsbildner herrührenden Unterlagen beieinander. Genau dieses Vorgehen entspricht dem Provenienzprinzip. Hierfür ein Beispiel: War ein Wissenschaftler Mitglied mehrerer Akademien oder Gesellschaften, so belässt der Archivar die getrennt entstandenen personenbezogenen Unterlagen herkunftsgemäß dort, wo sie entstanden sind, nämlich bei der Überlieferung der jeweiligen Akademie oder Gesellschaft, also bei ihrer Provenienz. Ein Lehrer am Berliner Institut für Kirchenmusik mag später an die Hochschule für Musik gegangen sein; diese Schulen sind Vorgänger der heutigen Universität der Künste, in deren Archiv die Registraturen beider Einrichtungen einen jeweils eigenen Bestand bilden. Wenn die Personalakte nicht, wie es bei Beamten in der Regel der Fall ist, zur neuen Stelle ‚mitwanderte‘, liegen zwei Akten in unterschiedlichen Beständen vor. Der Benutzer wird meist beide Akten sehen wollen; was die archivische Ordnung betrifft, kümmern sich die Archivare – gemäß Provenienzprinzip – nicht darum. Es gibt allerdings Fälle einer vorarchivischen Umordnung, die im Archiv so belassen wird. Die US-amerikanische Besatzungsmacht hat nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin ein Sammellager beschlagnahmter Dokumente unterschiedlicher Provenienz für den Zweck der Verfolgung von Kriegsverbrechen und für die „Entnazifizierung“ zusammengestellt; die requirierten Dokumente gingen ins Berlin Document Center (BDC) ein, das 1994 dem Bundesarchiv übergeben wurde. 4 Sieht man die von den Amerikanern gebildeten Dossiers durch, so mag man sich zwar über die Bündelung der Unterlagen freuen, sofern man ein personenbezogenes Interesse verfolgt; durch die Bildung von sogenannten Pertinenzen – in diesem Fall: nach dem Personenbetreff – kann jedoch im Einzelnen ein Informationsverlust eintreten, falls der ursprüngliche Zusammenhang nicht mehr erkennbar ist. Ein weiteres Beispiel sei angeführt, von dem mir ein Kollege berichtete; es betrifft nicht die Bestandsbildung, sondern die innere Ordnung eines Bestandes, 5 und zwar die Feinordnung eines Nachlasses: Ein Regisseur bewahrte seine persönlichen Unterlagen, nach Inszenierungen geordnet, in einzelnen Mappen oder 4 5
Heute befinden sie sich im Standort Berlin-Lichterfelde des Bundesarchivs. Das Gebot, auch innerhalb eines nach Provenienz gebildeten Bestandes die vorarchivische Ordnung beizubehalten beziehungsweise wiederherzustellen, wird als Registraturprinzip bezeichnet. Brenneke begreift das Registraturprinzip als eine rigide Variante des Provenienzprinzips (vgl. A. Brenneke: Archivkunde, a.a.O., S. 68).
1. Ordnung im Archiv: das Provenienzprinzip
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Bündeln auf. Er besaß die Gewohnheit, während der Proben und Aufführungen Notizen anzufertigen, ja kleine Kärtchen mit Anweisungen, Lob und Tadel oder Ähnlichem zu schreiben, die er den Schauspielern noch während des Auftritts zur Kenntnis gab. Diese Karten sind natürlich nicht adressiert und stichwortartig abgefasst; wer angesprochen und was gemeint ist, lässt sich nur aus dem ganzen Konvolut erschließen, mit dessen Hilfe die fragliche Inszenierung insgesamt studiert werden kann. Isoliert man diese Notizen, etwa weil „Korrespondenzen“ und „Sammlungen“ systematisch getrennt werden sollen, so zerstört man, eh man sich versieht, den ursprünglichen hochinformativen Zusammenhang. Ohne ihn sind die Aufzeichnungen nur mit großem interpretatorischen Spürsinn oder überhaupt nicht zu verstehen. Eine derartige Sachgliederung nach Gattungen schematisch anzuwenden, widerspricht der Herangehensweise von Archivaren. 6 Ein Archiv ist eben keine Summe von Einzelstücken, sondern ein Herkunftszusammenhang im skizzierten Sinne – eine Ganzheit, die ohne Zutun des Archivars besteht. Die geradezu schroffe Gegenüberstellung von Archiv und Sammlung, letztere verstanden als ein vom Sammler und damit gewissermaßen willkürlich geschaffener Zusammenhang, besaß unter Archivaren einen deutlichen Wertakzent; für sie war das Wort „Sammlung“ negativ besetzt. Die Betonung dieses Gegensatzes lässt sich auf die angedeutete fundamentale Einsicht zurückführen, dass vorgefundene Strukturen des Schriftguts schutzwürdig sind. Wollte man eine Geschichte des Provenienzprinzips schreiben, so müsste das Augenmerk auf die Frage gerichtet sein, inwieweit diese Norm aufgrund praktischer Erfahrungen, die leidgeprüfte Archivare in ihrer Berufstätigkeit machen mussten, also induktiv, gewonnen worden ist. Andererseits könnten Prämissen und Wertvorgaben aus der Geschichtskultur und dem historischen Denken eingeflossen sein. Es muss davon ausgegangen werden, dass beide Faktoren wirksam waren. Praktische Erfahrungen spielten eine Rolle: Es führte eben zu unbefriedigenden Ergebnissen, wenn Fonds unterschiedlicher Herkunft ineinander geordnet oder der eine dem anderen eingefügt wurde. Das Provenienzprinzip ist ein Grundsatz, der sich arbeitsökonomisch rechtfertigen lässt. Aber die Geschichtskultur übte darüber hinaus zweifellos einen nicht geringen Einfluss aus. Eine vorgefundene Ordnung alter Dokumente zu belassen, kann ein Akt romantischer Pietät oder historisch-kritischer Einsicht sein. Adolf Brenneke stellt den genuin historischen Charakter des Provenienzgedankens heraus. Die durch ihn ermöglichte „neue Theorie über die innere Ordnung der Archive“ wurzelt seiner Einschätzung nach „im historischen Denken“. Brenneke bestimmt den Provenienzgedanken als einen Grundsatz, der vorschreibt, dass „Archivkörper als etwas historisch Gewordenes in ihrer alten Ordnung erhalten werden müßten“. 6
Die Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen RNA (Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut, 1997), die für DFG-geförderte Vorhaben verbindlich sind, schlagen für die Ordnung von Nachlässen vor, die Gruppen „Werkmanuskripte“, „Korrespondenzen“, „Lebensdokumente“ und „Sammlungen“ zu bilden, sofern „keine oder keine befriedigende Ordnung vor(liegt)“ (S. 9). Die genannte Einschränkung bei der empfohlenen Anwendung wird leider manchmal übersehen, was angesichts der unverbindlichen Formulierung auch nicht überrascht.
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VII. Normen der Archivierung
Das „Provenienzprinzip“ ist ein „Regulativ für die innere Ordnung des Archivs“, aber auch für die Abgrenzung der Zuständigkeit der Archive in ihrem Verhältnis zueinander. 7 Die klassische, in weitläufige archivgeschichtliche Betrachtungen eingelassene Darstellung des Provenienzprinzips, die Brenneke gibt, ist nach wie vor lesenswert. Der 1875 geborene Archivar bildungsbürgerlicher Prägung hielt Vorlesungen am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in Berlin-Dahlem. Sie sind durch die überarbeitete Fassung einer Nachschrift aus dem Ausbildungsjahrgang 1937/39 bekannt geworden, die 1953 zur Publikation gelangte. Von den drei Zuhörern, welche die Vorlesung schriftlich ausarbeiteten, überlebte nur einer den Krieg: Wolfgang Leesch; er ist der Herausgeber. Johannes Papritz’ monumentale Archivwissenschaft baut auf Brennekes Überlegungen auf. 8 Den naserümpfenden Kritikern ist im Einzelnen oft Recht zu geben; keiner von ihnen hat jedoch bislang einen Entwurf der Archivwissenschaft vorgelegt, der an gedanklicher Weite und Durchdringung des Stoffes mit Brenneke, dem gern gescholtenen Vorgänger, mithält. Es soll keineswegs behauptet werden, dass Brennekes Ansatz heute noch hinreichend ist. Ihm kann aber das Verdienst nicht abgesprochen werden, in einer gedanklich anspruchsvollen „Archivkunde“ wie kein anderer deutschsprachiger Archivwissenschaftler die Dimension der Archivgeschichte in die Archivistik eingebracht und ihr damit einen weiten Horizont gegeben zu haben. 9 Dass sein Verständnis von Geschichte heute obsolet ist, steht auf einem anderen Blatt. In seiner Vorliebe für den Entwicklungsgedanken stimmt er mit Friedrich Meinecke überein, dessen Schriften er genau studierte; soeben, 1936, hatte dieser sein grundlegendes Werk zur Entstehung des Historismus vorgelegt. Auch Droysen und Jacob Burckhardt rezipierte Brenneke. 10 Aufgabe der historischen Archivkunde ist Brenneke zufolge nicht etwa, die Bestände der einzelnen Archive und ihre Vermehrung oder Verminderung einfach aufzuzählen. Vielmehr habe die Archivistik in historischer Perspektive, aber allgemein zu untersuchen, auf welche Weise einzelne Dokumente „in den verschiedenen Zeiten zu einem Ganzen, zum Archiv, zusammengefügt worden sind“. Das Ziel einer „Morphologie der Archive“ greift ein Goethe’sches Motiv auf. Brenneke entfaltet, bezogen auf die Verhältnisse im mitteleuropäischen Raum, eine Typologie der „inneren Archivordnung“, der es gelingt, die unterschiedliche Formierung von Archiven aus der Entwicklung der Schriftgutablage nachzuvollziehen. Diese wiederum hängt von der Organisation der Verwaltung ab, etwa der Gliederung in Referate, Abteilungen und ganze Behörden. Derartige Zusammenhänge verfolgt Brenneke unter Berücksichtigung zahlreicher regionaler Besonderheiten 7 8 9
A. Brenneke: Archivkunde, a.a.O., S. 61 und 88. Wie Papritz selbst einräumt. Vgl. ders.: Archivwissenschaft, a.a.O., Bd. 1, S. 20f. Vgl. hierzu Verf.: „Brennekes ‚Archivkunde‘ in ihrer Zeit“, in: Archivar, 63 Jg., Heft 4 (November 2010), S. 392-400. 10 Vgl. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus (Werke, Bd. 3). Stuttgart 1959. – Zu Brennekes Lektüre siehe Wolfgang Leesch: „Adolf Brenneke“, in: A. Brenneke: Archivkunde, a.a.O., S. IX–XVII, hier: S. XV.
1. Ordnung im Archiv: das Provenienzprinzip
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durch die einzelnen Epochen hindurch vom Mittelalter an bis zu seiner Gegenwart. 11 Was ihn angreifbar macht, ist nicht zuletzt die organologische Metaphorik, derer er sich gern bedient. Sie ist bekanntlich ein markantes Stück deutscher Ideologie, aber, nebenbei bemerkt, auch eine Vorliebe der Moderne. 12 Das vermeintlich organische Wachstum des behördlichen Schriftguts wird dem mechanischen Prinzip gegenübergestellt und dieses mit dem Vernunftbegriff des 18. Jahrhunderts identifiziert. Eine Kritik der Aufklärung aus klassisch-romantischem Geist, der sich auf Herder und Goethe beruft, deutet sich an. Bei Brenneke ist die Idee des Organischen aber nicht biologistisch gefasst; darin stimmt er mit Meinecke überein. Die Bildsprache ist beinahe exzessiv. Archive werden nicht nur als „Körper“ bezeichnet, sondern als „Zellen eines lebendigen Körpers (...), die alle von der gleichen Lebenskraft durchpulst sind“. Wie ein übergroßes Kleidungsstück liegt die Metaphorik des Organischen als ein Zeichen des Lebendigen über genau jenen Papieren, die doch in gewisser Weise als Hinterlassenschaft vergangenen menschlichen Lebens Vergänglichkeit und Tod anzeigen. Sie stimmen auch melancholisch weil sie als bloße Relikte über das menschliche Leben hinaus fortbestehen, wenn dieses selbst ein Ende gefunden hat. Das eigentliche Leben, von dem sie zeugen, können sie – aller Beschwörung zum Trotz – nicht ersetzen. Ein zweiter Punkt, der aus heutiger Sicht problematisch ist, kommt hinzu: Brennekes anti-individualistischer Etatismus. Er konzentriert sich ganz auf die Sphäre des Staates, deren Wichtigkeit mit Hilfe der genannten Metaphern betont wird. Ein Archiv – als Niederschlag des Handelns einer Behörde – wird als ein „aus Entschluß und Tat erwachsene(r), lebendig fortschreitende(r) Prozess“ beschrieben. 13 Brenneke betont den kollektiven Charakter staatlichen Handelns in Form des Verwaltungshandels und spricht ihm einen eigenen Willen zu, der an Rousseaus volonté générale gemahnt; an deren Formierung ist aber nicht das Volk, sondern nur die Bürokratie beteiligt. Und dennoch: Allein der Umstand, dass Brenneke in der Lage ist, Fragen des Archivs in historischer und geschichtstheoretischer Perspektive zu reflektieren, zeichnet ihn aus. Aber wie weit reicht der Provenienzgedanke? Welche Arbeitsgebiete der Archivare lassen sich unter seinem Vorzeichen normieren? Dass sich die Bestandsbildung nach diesem Prinzip zu richten hat, ist unbestritten, und dass auch für die innere Ordnung der Bestände die Herkunftszusammenhänge (einschließlich der vorarchivisch gebildeten Sachordnung) zumindest starke Anhaltspunkte bilden, resultiert aus dem bereits Gesagten. Gibt es aber Kriterien der Bewertung, die an der Provenienz orientiert sind, und wenn ja, reichen sie als Anleitung für Bewertungsentscheidungen aus? Diese Fragen gilt es näher zu untersuchen. 11 A. Brenneke: Archivkunde, a.a.O., S. 2, 4 und 20 passim. 12 Vgl. Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne, hg. v. Hartmut Eggert, Erhard Schütz und Peter Sprengel. München 1995. 13 A. Brenneke: Archivkunde, a.a.O., S. 22 und 23.
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VII. Normen der Archivierung
2. Was wird archiviert? Bewertung und Überlieferungsbildung Die Debatte um Kriterien der Bewertung, also um die Bestimmung dessen, was ein Archiv aufnehmen soll, ist jünger und lebhafter als die Erörterung des Provenienzgedankens in der archivischen Ordnungslehre, den heute wohl niemand ernstlich in Abrede stellt. 14 Die Bewertungsdiskussion ist zudem komplexer. In ihrem Rahmen stellt sich allerdings ebenfalls die Frage, inwieweit eine Analyse der Entstehung und, damit verbunden, der Zusammenhänge von Registraturgut zu Bewertungsentscheidungen beiträgt; erneut wird der Blick darauf gelenkt, wie einzelne Dokumente zu einem größeren Ganzen zusammengefügt – Archivare sagen gelegentlich: komponiert – worden sind. Zunächst eine Bemerkung zur Terminologie: Überlieferungsbildung, Bewertung und Kassation bezeichnen unterschiedliche Seiten desselben Vorgangs. Akten und andere Unterlagen, die nicht archivwürdig sind, müssen kassiert werden, das heißt sie sind zu vernichten. Die zu treffende Auswahl des Aufbewahrenswerten, die nicht die aktenführende Stelle selbst vornehmen darf und die somit den Archiven zufällt, 15 beruht auf einer Ermittlung des archivischen Werts: eben der Bewertung. Auf diese Weise entscheiden Archivare darüber, welche Unterlagen ins Archiv gelangen; sie betreiben, ins Positive gewendet, Überlieferungsbildung. Das ist ein durchaus anspruchsvolles Vorhaben. Es liegt auf der Hand, dass die Bewertung die langfristig folgenreichste Tätigkeit des Archivars ist; aus ihr resultieren die größten Eingriffe in die Materialität der Überlieferung, welche seitens der Archive vorgenommen werden. Die Frage der Kassation ist in der archivfachlichen Diskussion dennoch viel später gestellt worden als die Frage nach der rechten Ordnung; jene gewann erst an Brisanz, als die Archive von großen Mengen moderner Akten regelrecht überflutet wurden. Die Bewertungsdiskussion setzte aufgrund des Massenproblems ein; die Archive müssen ja das ihnen zufallende Verwaltungsschrifttum schlicht aus Platzgründen minimieren. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat einen Prozentsatz definiert: Laut Kabinettsbeschluss dürfen nicht mehr als ein Prozent der entstandenen Akten aufbewahrt werden; das sind immerhin 2.200 laufende Meter jährlich. Es werden also jedes Jahr 2.200 Regalböden von ein Meter Länge zusätzlich benötigt – schon das ist eine beträchtliche Quantität. 16 Das „PapierZeitalter“ verabschiedet sich mit Rekordzahlen.
14 Einen Überblick der Bewertungsdiskussion bietet Matthias Buchholz: Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität. 2., überarb. Aufl. 2011. Vgl. darüber hinaus den lesenswerten Beitrag von Bodo Uhl: „Die Geschichte der Bewertungsdiskussion: Wann gab es neue Fragestellungen und warum?“, in: Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung, hg. v. Andrea Wettmann (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 21). Marburg 1994, S. 11–35. 15 Vgl. z.B. Archivgesetz des Landes Berlin, a.a.O., § 4 (Anbietungspflicht) und § 6 (Übernahme von Archivgut). 16 Vgl. Martina Wiech: „Steuerung der Überlieferungsbildung mit Archivierungsmodellen. Ein archivfachliches Konzept des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen“, in: Der Archivar 58. Jg., H. 2 (Mai 2005), S. 94–100, hier: S. 99.
2. Was wird archiviert? Bewertung und Überlieferungsbildung
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Eine Faustregel der Archivare besagt übrigens, dass die Entscheidung, ob etwas „archivwürdig“ ist, einmal, und zwar endgültig, zu treffen ist. Dieser Grundsatz beruht auf einem einfachen ökonomischen Kalkül: Man sollte sich nicht immer wieder mit derselben Sache befassen, sondern sie ein für alle Mal erledigen. Es kommt hinzu, dass bereits benutzte Archivalien zur Überprüfung der aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse verfügbar bleiben müssen. Heute stehen uns aber die Schwierigkeiten deutlich vor Augen, industriell gefertigte Papiere, wie sie seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts genutzt werden, dauerhaft zu erhalten. Auch die Malaise der Bestandserhaltung zwingt also zu Realismus im Hinblick auf die langfristigen Überlieferungschancen des einmal ausgewählten Archivguts: Die Wirksamkeit von Bewertungsentscheidungen ist natürlich in Frage gestellt, wenn die Papiere, die „ewig“ erhalten werden sollen, in den Archiven zerbröseln. Maßnahmen, die sich auf die Haltbarkeit positiv auswirken, etwa zur Entsäuerung des Papiers, müssen eingeleitet werden, und die einfache Regel, stets originale Dokumente aufzubewahren, ist in Frage gestellt. Deshalb wird der intrinsische Wert (intrinsic value) des Archivsguts untersucht; das heißt, es ist nicht mehr selbstverständlich, dass sämtliche Dokumente in ihrer ursprünglichen materiellen (physischen) Form bewahrt und erhalten werden; in bestimmten Fällen muss erwogen werden, ob die originale Überlieferung nicht durch eine Konvertierung in andere Medien, etwa durch Reproduktion auf Mikrofilm, ersetzt werden kann. 17 Wie aber wissen die Archivare, was künftig einmal unter den erdrückend zahlreichen und vielfältigen Unterlagen, die sie übernehmen und sammeln könnten, interessant erscheint? Es hat etwas Erfrischendes an sich, wenn ein Historiker in einer Art von Gedankenexperiment das reine Zufallsprinzip ins Spiel bringt. 18 So würde den Archivaren die Entscheidung leicht gemacht; komplizierte Bewertungsmodelle und Dokumentationsprofile müssten nicht erarbeitet, bedacht und zur Diskussion gestellt werden. Dieser Gedankenblitz besitzt vordergründig eine gewisse Plausibilität, weil er die Archivare daran erinnert, dass es ja ihre ureigene Absicht ist, sich zwar nicht gleich überflüssig zu machen, aber doch vor den Inhalten des Archivs zurückzutreten. Praxisfern ist die Zufallsoption freilich deshalb, weil es offenkundig ist, dass es gerade heute, im Zeitalter der Fotokopien und der Computerausdrucke, tatsächlich langweilige, informationsarme und uninteressante Akten ebenso wie unzählige Redundanzen gibt. Wie ist eine Reduktion der Fülle des Stoffes nun aber möglich, ohne dass man inhaltlich in unangemessener Weise eingreift? Einige Regeln und Verfahrensweisen genießen breite Akzeptanz. So ist es zum Beispiel nicht immer nötig, be17 Vgl. Angelika Menne-Haritz, Nils Brübach: Der intrinsische Wert von Archiv- und Bibliotheksgut. Kriterienkatalog zur bildlichen und textlichen Konversion bei der Bestandserhaltung. Ergebnisse eines DFG-Projekts (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 26). Marburg 1997. 18 So der Bielefelder Historiker Willibald Steinmetz in einer Gesprächsrunde. Vgl. Thomas Schwabach: „Die Geschichtswissenschaft und die Archive. Perspektiven einer Kooperation. Bericht über einen DFG-Workshop am 5. Okt. 2004 in Münster“, in: H-Soz-u-Kult, 3. Dezember 2004, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id= 610).
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VII. Normen der Archivierung
stimmte Sachbetreffe, mit denen verschiedene Behörden oder Abteilungen eines Ministeriums befasst sind, an allen beteiligten oder hinzugezogenen Stellen oder Instanzen aufzubewahren. Es reicht unter Umständen die Berücksichtigung einer dieser Provenienzen aus. Dem Bundesarchiv gelingt es, im Schriftgut der obersten Bundesbehörden mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Federführungs- und Mitwirkungsakten einen großen Teil der ihm jährlich angebotenen 70 bis 90.000 Aktenbände zur Vernichtung freizugeben. 19 Doch reichen Maßnahmen wie diese rein quantitativ nicht aus, um das Massenproblem zu bewältigen. Mit Hilfe von Grundsätzen, die „auf provenienzbezogener Analyse“ 20 aufbauen, lässt sich das Problem der Überlieferungsbildung nicht vollständig lösen. Der amerikanische Archivwissenschaftler Theodore R. Schellenberg hat für behördliches Schriftgut eine Bewertungstheorie vorgelegt, die gerade in Deutschland einflussreich war. 21 Im Rahmen seiner Untersuchung verdeutlicht er, dass Bewertungsentscheidungen stets auf der Basis von Provenienzforschungen getroffen werden sollten. Der Archivar muss einen Überblick über Schriftgutkomplexe gewinnen und ihre Entstehungszusammenhänge durchschauen, um etwa beurteilen zu können, ob die in bestimmten Unterlagen enthaltene Information nur einmal vorhanden ist. Die Einmaligkeit des Informationsgehalts 22 ist ein wichtiges Kriterium im Hinblick auf die Bewertung, die im Übrigen nur in Kenntnis eines ganzen Bestandes erfolgen kann. Darüber hinaus muss jedoch, wie Schellenberg betont, eine inhaltliche Einschätzung des Quellenwerts erfolgen. Das heißt, „provenienzbezogene“ Argumente zur Begründung von Bewertungsentscheidungen sind zwar notwendig, aber nicht immer hinreichend. Auf das schiere Massenproblem, das sich den Archivaren heute stellt, wurde bereits hingewiesen. Umgekehrt besteht trotz der ungeheuren Menge behördlicher Dokumente manchmal der Verdacht, dass in ihnen wichtige Inhalte fehlen. Hierfür ein Beispiel: An der Berliner Universität der Künste schlagen sich die Turbulenzen der Studentenunruhen von 1968 in den behördlichen Akten kaum nieder; es ist aber schon aufgrund der Aussage von Zeitzeugen offenkundig, dass die Studentenbewegung die Hochschule zutiefst erschütterte und für die Folgezeit prägte. 23 So fragt man sich, wie diesem Defizit begegnet werden kann. Es ist erforderlich, sich um zusätzliche Unterlagen zu bemühen, welche die vermissten Themen und Materialarten abdecken; Archivare sprechen von Ergänzungsdokumentation. 19 Vgl. Hans-Dieter Kreikamp: „Das Bewertungsmodell des Bundesarchivs – Federführung als Bewertungskriterium“, in: Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung, a.a.O., S. 83–87. 20 So B. Uhl: Die Geschichte der Bewertungsdiskussion, a.a.O., S. 32. 21 Vgl. Theodore R. Schellenberg: Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts. Marburg 1990 (zuerst 1956 in engl. Spr.) und ders.: Akten- und Archivwesen in der Gegenwart. Theorie und Praxis. München o.J. (zuerst in englischer Sprache 1956/57). 22 Wohlgemerkt: An dieser Stelle ist die inhaltliche Einmaligkeit, also die Singularität der Information, nicht des archivischen Dokuments an sich gemeint. Beim weitaus größten Teil aller Archivalien handelt es sich um Unikate im zuletzt genannten, formalen Verständnis; damit darf der hier angesprochene inhaltliche Aspekt nicht verwechselt werden. 23 Das zeigte sich im Rahmen der mündlichen Befragung von Zeitzeugen. – Zur Quellenlage vgl. auch Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer – Chronik – Bibliographie, hg. v. Thomas Becker und Ute Schröder. Köln, Weimar, Wien 2000.
2. Was wird archiviert? Bewertung und Überlieferungsbildung
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Deshalb legen Archive seit langem zur Komplettierung ihrer Bestände Sammlungen an, etwa von Flugblättern, Flugschriften, Plakaten und Zeitungsausschnitten. Diese Unterlagen gehen oft nicht in Akten ein; sie sind jedoch – schon aufgrund ihrer vom Verwaltungsschriftgut abweichenden formalen Qualität – wertvoll. Dass ihr Quellenwert auch in Zukunft hoch eingeschätzt sein wird, ist absehbar; diese Aussage ist trotz aller Skepsis in Bezug auf Prognosen wohl möglich. Die skizzierte Sachlage zeigt aber an: Es kommt vor, dass sich der Archivar Desiderate der Überlieferung vor Augen stellt; er denkt an ein Ideal dokumentarischer Vollständigkeit. Die daraus abgeleiteten Ziele gehen in der einen oder anderen Weise über das hinaus, was durch die bloße Zuständigkeit für bestimmte Behörden oder sonstige Stellen ins Archiv gelangt – sei es, dass sich ein bestimmter Gegenstand als unzweifelhaft wichtig aufdrängt, sei es, dass eine bestimmte Gattung archivalischer Quellen in der Überlieferung vertreten sein soll. Mit der beschriebenen Vorgehensweise bewegt sich der Archivar einen Schritt weit in Richtung Dokumentation. Was aber heißt das? Wir müssen ein wenig ausholen: Von einer Dokumentation kann man nur sprechen, wenn es zugleich etwas gibt, das dokumentiert werden soll. Dieses „etwas“, der Gegenstand, kann im Falle des Archivs nur die Geschichte selbst sein, genauer: der jeweils relevante Ausschnitt von ihr. Archivare sind aber, ganz gleich wie er aussieht, nur ganz unzulänglich in der Lage, historisches Wissen zu antizipieren, denn Geschichtsforschung kann erst einsetzen, wenn sie ihre Arbeit getan haben. Deshalb ist bei der Formulierung von Dokumentationszielen größte Vorsicht geboten. Blicken wir doch in die Vergangenheit! Im 19. Jahrhundert sind beklagenswerte Überlieferungslücken aufgrund der zeitbedingten Enge des geschichtlichen Blickfeldes entstanden. Wirtschafts- und Sozialgeschichte hatten noch keinen festen Platz im Geschichtsbewusstsein. Das führte zu „Fehlleistungen in der Auswahl des archivwürdigen Schriftgutes“, wie Eckart Franz bündig urteilt.24 Dieser Befund ist ein Menetekel über der archivarischen Tätigkeit des Bewertens, das uns begleiten muss. Eine Theorie der Überlieferungsbildung ist per se äußerst anspruchsvoll; sie muss sozusagen an der Ewigkeit orientiert sein. Archivarisches Handeln ist in dem Bemühen, Überlieferung herzustellen und zu sichern, weit in die Zukunft hinein gerichtet. Die Archivalien, die der Archivar hütet, sollen „auf Dauer“ bewahrt werden, wie es in der Fachsprache und in Gesetzestexten heißt.25 Mit der angesprochenen Zeitdimension sind Jahrhunderte gemeint; die Zeitstrecke der heutigentags vorliegenden archivischen Überlieferung, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht, wird sozusagen an der Achse der Gegenwart in künftige Zeiten projiziert. So ergibt sich der Rahmen eines Jahrtausends, also von mehr als dreißig Generationen. Sich dieser Zeitdimension zu stellen, ist unvermeidlich und dennoch ambitioniert. Die Arbeit des Archivars untersteht, wie an dieser Stelle zu erkennen ist, einem hohen Maßstab, denn Archivalien sollen unbegrenzt lange erhalten werden. 24 E. Franz: Einführung in die Archivkunde, a.a.O., S. 72. 25 Vgl. z.B. Archivgesetz de Landes Berlin, a.a.O., § 2, Abs. 1.
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VII. Normen der Archivierung
Erkenntnistheoretisch ergibt sich die Aporie, dass die archivische Bewertungslehre – wie alle menschlichen Dinge – nicht von der jeweiligen Zeit unabhängig ist; sie steht unweigerlich unter dem Einfluss der Epoche, in der sie formuliert wurde. Archivare müssen aber das Ziel haben, eine unverfälschte Basis für die künftige Erkenntnis ihrer Gegenwart zu schaffen. Die Authentizität der Überlieferung darf aufgrund standortgebundener Wertungen, die mit der Zeit überholt sein könnten, möglichst keine Einschränkungen erfahren. An der Maxime, mit Blick auf die Zukunft neutral zu sein, muss festgehalten werden, obschon sie eine Utopie, ein unerfüllbarer Wunsch ist. Relativisten berufen sich gern darauf, dass Objektivität unerreichbar sei, und stellen diejenigen, die sozusagen redlich nach Wahrheit streben, als blauäugig hin. Mit diesem Argument können sie sich leicht von der Anstrengung, dem Ideal wenigstens näher zu kommen, verabschieden. Historiker sind aber, wie schon bemerkt, keine Rigoristen, sondern Pragmatiker; ihnen genügt ein Mehr oder Weniger, auch im Streben nach Objektivität. Diese kann übrigens mit Blick auf Fragen archivischer Bewertung natürlich nicht auf Intersubjektivität im Rahmen der jeweiligen Gegenwart, auf einen Konsens der Lebenden, reduziert werden: Sie könnten sich einig sein, etwas verschweigen zu wollen. Wem bewusst ist, wie sensibel bei jedem Versuch, den Quellenwert von Archivalien vorherzusehen, vorgegangen werden muss, besitzt Sympathien für diejenigen, die das Provenienzprinzip in der Bewertungsdiskussion stark machen wollen. Es ist allerdings aussichtslos, nur diesem Grundsatz als dem eigentlich „archivischen“ folgen zu wollen; nicht alle Bewertungsentscheidungen lassen sich aus ihm ableiten. Die Archivare können also nicht umhin, sich ein Stückweit als Historiker der Zukunft zu gerieren – und sie wissen doch, dass sie in diese Rolle nur widerwillig schlüpfen dürfen. Diese paradoxe Aussage beschreibt die Notwendigkeit einer Balance. Zum hier vorgetragenen Plädoyer für Zurückhaltung bei archivarischen Interventionen ist eine Gegenposition formuliert worden. Der Potsdamer Archivwissenschaftler Volker Schockenhoff wies den Archivaren, anknüpfend an Hans Booms, prononciert eine aktive, gestaltende Rolle beim Bestandsaufbau zu. Er empfahl, Dokumentationspläne aufzustellen, so dass im Archiv ein „gesellschaftliches Abbild“ gewonnen wird. 26 Aber wer – vom lieben Gott abgesehen – weiß über die Gesellschaft in ihrer Totalität so gut Bescheid, dass er ihr „Abbild“ ohne größere Mühe konstruieren könnte? Niemand! Und dieser klaren Feststellung darf hinzugefügt werden: Weder Archivare noch andere vermeintliche Sachverständige sind befugt, in dieser Hinsicht allgemeine Vorgaben zu machen. Wenn schon Einschätzungen über den zukünftigen Quellenwert von Dokumenten getroffen werden müssen, so sollten sich die Archivare auf eng umgrenzte Inhalte be26 Volker Schockenhoff: „‚AD, Du schöne neue Welt?‘ Dokumentationsstrategien und -methoden im Archiv, in: Archive im zusammenwachsenden Europa. Referate des 69. Deutschen Archivtages in Münster 1998 (Der Archivar, Beiband 4). Siegburg 2000, S. 481–496, hier: S. 488. – Mit „AD“ ist schlagwortartig „Archiv-Dokumentation“ gemeint. – Vgl. Hans Booms: „Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik archivarischer Quellenbewertung“, in: Archivalische Zeitschrift 68 (1972), S. 3-40.
2. Was wird archiviert? Bewertung und Überlieferungsbildung
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schränken. Unsere Erkenntnis der Geschichte ist und bleibt fragmentarisch; sie darf sich nicht in wolkige Spekulationen verlieren oder gar handfesten Ideologien aufsitzen. Es liegt ein Zirkelschluss vor, wenn die Dokumente, aus denen ein ‚Bild‘ der Verhältnisse durch Forschung erst noch gewonnen werden muss, nach einem vorgängigen ‚Bild‘ genau dieser Verhältnisse auswählt werden. Von der Warte einer Geschichtsphilosophie, die ihren Adepten einen archimedischen Punkt der Betrachtung außerhalb des Geschichtsprozesses zubilligt, mag es leicht fallen, eine gesellschaftliche Totalität zu konstruieren und danach abzuleiten, was in einem Archiv zu dokumentieren ist. Dem kritischen Geist, wie er sich in dieser Studie herauskristallisiert, stehen derartige Erwägungen fern. 3. Hüten, Übersetzen, Gestalten Die Aufgabe der Archivare ist es, Hüter des Archivs zu sein: eines authentischen Zusammenhangs von authentischem historischen Material, das bewahrt werden soll. Anders als Sammler dürfen sie sich nicht die Freiheit nehmen, die in ihre Obhut gelangenden Unterlagen und Gegenstände nach Kriterien, die sie selbst setzen, zusammenzustellen. Ihr Auftrag ist es, schon Bestehendes zu erhalten; das Provenienzprinzip sagt uns, dass dieses Vorgegebene und zu Bewahrende nicht nur als Agglomerat zusammenhangsloser Einzelheiten zu begreifen ist. Bei Archivalien handelt es sich nicht um isolierte Atome in beliebiger Zusammenfügung, sondern um Ganzheiten in einer jeweils vorgefundenen Ordnung (oder Unordnung). Bestandserhaltung – ein Terminus technicus für die Maßnahmen der Konservierung und Restaurierung, also des physischen Erhalts und der physischen Wiederherstellung, etwa von mittelalterlichen Siegeln, angesichts drohender oder schon eingetretener mechanischer, chemischer oder mikrobiologischer Schäden 27 kann im übertragenen Sinne auch die Überschrift für einen sehr viel weiteren Bereich archivarischer Tätigkeit sein, in den die Operationen der Übernahme und Ordnung eingeschlossen sind. Das Ethos der Archivare besteht nicht zuletzt darin, gegenüber dem mit Bedeutungen behafteten, deshalb wertvollen historischen Material, das sie zu betreuen haben, gleichsam zurückzutreten. In Kenntnis der Fremdheit der Spuren und vom Erfordernis kritischer Distanz zur Vergangenheit ausgehend, ist zu betonen, dass die Inhalte des Archivs undurchdringlich und unerschöpflich sind. Aus der Einsicht, dass archivalische Quellen in gewisser Weise zugeknöpft sind,28 ergeben sich ganz praktische Konsequenzen: Kein Archivar darf sich einbilden, das Archiv als „Aussagensystem“, wie Foucault sagt, 29 schon zu kennen; deshalb muss er es zunächst einmal in seiner Materialität hinnehmen und schlicht aufheben. Je27 Vgl. zum Beispiel Verwahren, sichern, erhalten. Handreichungen zur Bestandserhaltung in Archiven, hg. v. Mario Glauert u. Sabine Ruhnau. Potsdam 2005. 28 Vgl. hierzu Kap. IV. 29 M. Foucault: Die Archäologie des Wissens, a.a.O., S. 186f.
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VII. Normen der Archivierung
de Maßnahme, die von diesem Grundsatz abrückt, bedarf der sorgfältigen Begründung. Im Einzelnen gibt es für solche Abweichungen manche plausiblen Argumente; die Archivwissenschaft hat es in dieser Hinsicht in allen ihren Verästelungen mit dem Entwurf pragmatischer Problemlösungen zu tun, bei denen es nicht um ein Maximum des Aufhebens geht. Doch darf das Fundament aller Überlegungen durch die Beschränkungen, die aus praktischen und oft ökonomischen Gründen sinnvoll sind, nicht verdeckt werden. Ein anderer Aspekt ist die Vermittlung, die zwischen Archivalien und Nutzern zu leisten ist. Dass diese an den Spuren des Vergangenen zum Teil gerade wegen ihrer faszinierenden und zugleich irritierenden Fremdheit interessiert sind, ändert nichts daran, dass ihnen der Zugang ermöglicht und erleichtert werden muss. Eine gute Erschließung der Archive ist unerlässlich. Auf der einen Seite sind Archivare die Hüter des historischen Materials; auf einer ganz anderen befinden sie sich in ihrer Eigenschaft als Übersetzer und Vermittler dessen, was sich manchmal mehr verbirgt als zeigt. Beide Pole ihres beruflichen Auftrags müssen sie ausfüllen; das Spannungsverhältnis, das zwischen ihnen besteht, zwingt sie aber nicht zu faulen Kompromissen. Die beiden unterschiedlichen Aspekte lassen sich nämlich gewissermaßen sektoral voneinander trennen: Auf dem Gebiet der Bewertung und Ordnung sind Archivare Hüter; in der Erschließung und der Betreuung von Benutzern in gewissen Grenzen Übersetzer und Vermittler. Dieser doppelten Aufgabe müssen sie gerecht werden. So sehr der Aspekt des Hütens im Vordergrund steht – indem sie bewerten, gestalten Archivare doch auch. Die Geschichtstheorie ist bis heute nicht aufmerksam genug für die tiefgreifenden Interventionen, die Archivare durch die Bewertung der an sie herangetragenen Dokumente vornehmen. 30 Sie konservieren eben nicht die Vergangenheit im Verhältnis eins zu eins, obwohl sie das vielleicht gern wollten. Vielmehr nehmen sie wohl oder übel massive Eingriffe vor, die begründet sein müssen. Das Wort von der Überlieferungsbildung artikuliert diesen gestalterischen Aspekt in einer beinahe allzu wohlklingenden Form; der Beitrag des Archivs zur Geschichtskultur besteht nicht zuletzt in der Einflussnahme auf die Materialbasis möglicher historischer Erkenntnisse. In seinem gedankenreichen, aus der Werkstatt des Historikers hervorgegangenen Buch Über die historische Erkenntnis gibt Henri-Irenée Marrou zu erkennen, wie wenig er denen zutraut, die bestimmen, was aufbewahrt wird. Er geht auf das Dilemma des Mangels an Zeugnissen ein, mit dem der Historiker, wenn er Pech hat, konfrontiert ist; nicht ganz ohne Ironie schreibt er: „Selbst wenn die Helden der Vergangenheit auf ihre künftigen Historiker Rücksicht genommen haben (wenn Dareios oder Schapur ihre Toten- und Triumphreliefs auf die Felsen von Naks-i-Rustem haben meißeln lassen, wenn die modernen Staaten ihre Archive organisieren und unterhalten), so bleibt die prästabilierte Harmonie unvollkommen: Sie haben uns nicht immer über das informiert, was wir von ihnen wissen wollen.“ Und verallgemeinernd fügt Marrou hinzu: „Die auf uns gekommenen 30 Vgl. aber Ludolf Herbst: Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte. München 2004, bes. S. 32-39.
3. Hüten, Übersetzen, Gestalten
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Quellen sind nicht immer (erfahrungsgemäß fast niemals) die, die wir möchten, das, was sie sein müssten.“ 31 Dieses Zitat bezeugt eine gewisse Gleichgültigkeit der Historiker gegenüber den Archivaren. In der Tat besteht ja ein Dilemma: Der Althistoriker Marrou kann in puncto Überlieferungsbildung natürlich nicht auf seine Kollegen in den heutigen Archiven bauen. Was sein Fachgebiet angeht, ist ja alles längst zu spät, und es lohnt sich für ihn nicht, auf Archivare zuzugehen. Die Historiker, die Themen jenseits der Zeitgeschichte bearbeiten, haben es mit Formen der Schriftlichkeit, aber auch der Archivierung von früher zu tun. Deren Fehler müssen sie gewissermaßen ausbaden. Für die Fragen, die sie bewegen, ist die Quellenlage unabänderlich; oft ist sie durch Entscheidungen von Archivaren mit verursacht worden, und was vor einer oder mehreren Generationen vernichtet wurde, ist unwiederbringlich verloren. Während die Historiker den Blick in die Vergangenheit richten, schaffen die Archivare, gleichsam im Nebenzimmer, für die Zukunft Fakten.
31 H.-I. Marrou: Über die historische Erkenntnis, a.a.O., S. 85.
VIII. EIN BERICHT AUS DER WERKSTATT Zwar ist das Archivwesen im Allgemeinen, wenn man so will: die Universalie „Archiv“, Gegenstand unserer Überlegungen, doch kann es nicht falsch sein, beispielhaft ein einzelnes Archiv zu betrachten, schon um der Anschaulichkeit willen. Den Gedankengang auf diese Weise zu begleiten, ist auch deshalb sinnvoll, weil man heutzutage über „das Archiv“ im bedeutungsschweren Singular vieles liest, was gewissermaßen in einem Schwebezustand der Andeutungen verharrt: schön zu lesen, aber schwerlich auf eine Realität namens Archiv zu beziehen. Sie soll nun in dieser Studie so genau wie möglich beschrieben werden. Ausgehend von alltäglichen Beobachtungen, die jedem von uns möglich sind, gelangte der Gedankengang zu Grundproblemen der Archivistik. Sie befassen sich mit der Praxis der Archivare, denen ein bestimmter Alltag der Berufsausübung korreliert: es geht sehr handfest um eine bestimmte Realität, einschließlich ihrer Niederungen. Dieser Alltag soll nun am Beispiel eines einzelnen Archivs noch einmal eigens thematisiert werden. Normalerweise ist ein Archiv bereits institutionalisiert, wenn es ein Archivar von seinem Vorgänger in diesem Amt übernimmt. Somit ist es eine besondere, eher seltene Erfahrung, einen halbwegs stabilen Status quo nicht vorzufinden. Von einer solchen Situation soll berichtet werden: Da geht es, um ein derzeit beliebtes Vokabular variierend aufzugreifen, zwar „kundenorientiert“, aber nicht „standardisiert“ und erst auf den zweiten Blick „effizient“ zu. 1 Vieles bedarf der erstmaligen Regelung, zum Beispiel die kontinuierliche Übernahme von jüngeren Verwaltungsunterlagen, die Einlagerung aller Archivalien in einem Magazin, die Erschließung der Inhalte in elektronischer Form auf dem neuesten Stand der Technik, die Bereitstellung für Forscher und andere Interessenten in einem Lesesaal, also die Routinen der Benutzerbetreuung, die bei Leihgaben für Ausstellungen zu beachtenden Geschäftsgänge und anderes mehr. Doch vor allem steht neben der Etablierung von Verwaltungsregeln der Grenzfall des Scheiterns ganz praktisch vor Augen: die Institution als solche, mit ihren Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten, ist noch nicht fest etabliert. Sie muss als ein auf Dauer angelegtes Gebilde erst noch geschaffen und durchgesetzt werden – in einer bestimmten Formation von Geschichtsinteressen und unter sonstigen, teils ungünstigen Rahmenbedingungen. Die Phase des Aufbaus eines Archivs bis hin zu einer zumindest vorläufigen Konsolidierung ist von Natur aus prekär. Darüber soll in einem Werkstattbericht gesprochen werden. In ihm wird sich zeigen, wie die unterschiedlichen Aspekte der Archivarbeit, vom Bestandsaufbau über die Betreuung von Nutzern bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit ineinandergreifen. 1
Vgl. Burkhard Nolte: „Kundenorientiert, standardisiert, effizient. Vorfeldarbeit im Sächsischen Staatsarchiv“, in: Archivar, 64. Jg., Heft 3 (Juli 2011), S. 288-291.
1. Anfänge eines Archivs
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1. Anfänge eines Archivs Im Vorigen wurde bereits beschrieben, wie die Akten der ‚alten‘ Berliner Hochschule für Musik zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufgefasst wurden: nämlich noch als Registraturgut. 2 Obwohl zum Teil mehr als hundert Jahre alt, wurden sie als „Altakten“ angesehen; so lautet die Bezeichnung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Verwaltung (GGO I). Innerhalb ihres Lebenszyklus (life cycle), wie Archivare sagen, befanden sie sich noch vor der Übergabe an ein Archiv. Der Inhalt dieser Registratur bildet heute einen von vielen Beständen im Endarchiv. Ein notdürftiger Zugriff war bei der früheren Art der Verwahrung gewährleistet. Doch konnte man nicht sicher sein, dass alles jeweils Einschlägige gefunden wurde. Einen besonderen Schutz vor unbefugter Entnahme, Diebstahl oder Brand gab es nicht, wenn auch das Sekretariat, in dessen Obhut sich die Unterlagen befanden, sorgfältig arbeitete. Die Existenz dieses umfangreichen Bestandes war in den quellenkundlichen Hilfsmitteln der geschichtlichen Forschung natürlich nicht nachgewiesen, so dass nur geduldig recherchierende Wissenschaftler auf ihn stießen. Das Interieur dieses Sekretariats, untergebracht in einem Gebäude von wilhelminischer Statur und sachgerecht als Registratur bezeichnet, schien die Zeitläufte spurlos überstanden zu haben; man hätte es vor dem Abtransport der Archivalien noch einmal photographieren sollen. Die Verhältnisse von 1902, als das Haus fertiggestellt worden war, schienen fortzubestehen. Trotz der äußerst bewegten, diskontinuierlichen Geschichte des 20. Jahrhunderts – mit Brüchen und Katastrophen in der kleinen Welt dieser Hochschule genauso wie bekanntermaßen in der großen – ging der Verwaltungsbetrieb in stoischer Gelassenheit seinen Gang. Dieses merkwürdige Missverhältnis offenbart eindrucksvoll das Beharrungsvermögen, das bürokratischen Strukturen eigen sein kann; selbst die Neuerungssucht der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts war hier an Grenzen gestoßen. Was die mit Staub beladenen Aktenstöße angeht, handelte es sich um einen Zustand, für den man eine gewisse Nostalgie hegen mochte, der aber anachronistisch geworden war. Die Verwaltungskontinuität, die den Akten ihren stillen Verbleib ermöglichte, ist dennoch als ein günstiger Umstand anzusehen; jedenfalls war sie nicht die schlechteste Lösung für eine Übergangszeit. Immerhin wurde dafür gesorgt, dass die Unterlagen überdauerten – dazu hatten sie in einer fortbestehenden Registratur erfahrungsgemäß eine bessere Chance, als sie im Fall einer ausgedehnten vorarchivischen Nutzung durch Historiker wohl bestanden hätte. Aus archivarischer und besonders aus konservatorischer Sicht gibt es so etwas wie schädliche Aufmerksamkeit. Verluste sind gerade dann zu befürchten, wenn die wissenschaftli2
Vgl. Kap. V, 1. – Einen solchen Bestand nicht nur zu verzeichnen, sondern auch die Geschichte der Institution in einer Monographie zu erarbeiten, ist eine typische Aufgabe, die sich Archivare stellen. Vgl. Verf.: Die Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik. Stuttgart 2004.
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VIII. Ein Bericht aus der Werkstatt
che Auswertung eines Quellenfonds der archivischen Sicherung – im umfassenden Sinne verstanden – vorausgeht. Manchmal sind dann ausgerechnet die wichtigsten Dokumente, mit denen jemand umgeht, schließlich verschwunden. Es ist eben unerlässlich, dass Archivalien durch archivarische Behutsamkeit und Pedanterie geschützt sind, bevor sie zur Nutzung freigegeben werden. Vergangenheitspolitische Konstellationen machen sich auch im kleinen Rahmen geltend: in einer Stadt oder – im hier betrachteten Fall – einer Hochschule. Den Zweiten Weltkrieg hatte die Registratur der Berliner Hochschule für Musik weitgehend unbeschadet überstanden. Anders als die wertvollsten Buch- und Notenbestände der Bibliothek sowie die Sammlung der Musikinstrumente gehörte sie nicht zu jenen Kulturgütern, die ausgelagert worden waren; es handelte sich ja lediglich um Verwaltungsunterlagen. Doch überlebten die Akten – anders als das Archiv der benachbarten Technischen Hochschule – dank günstiger Zufälle die Bombenangriffe und 1945 den „Kampf um Berlin“, obwohl ein Teil des Hochschulgebäudes, nämlich der Konzertsaal, zerstört wurde. Auch fanden Plünderungen statt. Dass die alten Dokumente dann jahrzehntelang kaum beachtet wurden, war anfangs der Not geschuldet. In der ersten Nachkriegszeit gab es Wichtigeres zu tun. Dass der Dornröschenschlaf aber die Jahre des „Wiederaufbaus“ und des „Wirtschaftswunders“ lange überdauerte, ist wohl eher auf ein Wegsehen als ein Vergessen zurückzuführen. Man könnte es geradezu als ein Versäumnis einstufen, dass sie nicht irgendwann dem Landesarchiv Berlin als zuständigem Staatsarchiv zur Übernahme angeboten wurden. Die Hinwendung zur Geschichte verzögerte sich bis in die achtziger Jahre und stand dann – mit gutem Grund – im Zeichen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sowie seiner Vorund Nachgeschichte. In Verbindung mit dieser „Aufarbeitung“ entstand der Plan, ein Archiv einzurichten. Die verstaubten alten Akten lagerten, wie gesagt, noch zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Registratur. Wie bewältigte man als neu hinzugekommener Archivar einen solchen Zustand, wie konnten die praktischen Aufgaben, die sich stellten, angegangen werden? Die Provisorien mussten abgeschafft, die unvermeidlicherweise kostspieligeren fachlichen Standards des Archivwesens in Sparzeiten etabliert werden. Die Überführung der Archivalien in ein adäquates Magazin ist nur ein Aspekt dessen, was zu leisten war. Aber beileibe kein selbstverständlicher: Da im Zuge der Schaffung der Personalstellen eine angemessene Lösung des Problems der Unterbringung nicht gefunden worden war, nahm es eine beträchtliche Anzahl von Jahren in Anspruch, ein geeignetes Depot zu finden. Kaum etwas ist schwerer, als adäquate Räume für ein umfangreiches Archiv zu erlangen und deren bauliche Herrichtung durchzusetzen. Magazine sind, worauf die kulturwissenschaftliche Analyse hingewiesen hat, in gewisser Weise Nicht-Orte. Die dort deponierten Unterlagen haben ihre ursprüngliche physische Umgebung – in unserem Fall die beschriebene Registratur – verloren und gelangten in eine namen- und gesichtslose Umgebung. Andererseits besitzen sie einen Standort im denkbar handfesten Sinne: sie liegen in relativer Immobilität an einer bestimmten Stelle; ein Umzug ist teuer, das Archiv schon
1. Anfänge eines Archivs
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deshalb an seinen jeweiligen Fleck beinahe gefesselt. Und es hat eine Adresse, eine stadträumliche Lage: Es mag günstig sein, wenn es einen Platz in der Innenstadt bewahren kann und gewissermaßen ein Schaufenster besitzt, obwohl die Kosten für ein Gebäude am Stadtrand eventuell niedriger sind. Wie aber stand es um die Benutzung? Als von auswärts kommender Archivar brachte ich das Handicap mit, die örtlichen Verhältnisse, sprich: die einschlägige Geschichte, nicht näher zu kennen. So war ich einem Lernprozess durch die Betreuung der ersten, zufällig eintreffenden Besucher ausgesetzt, deren Anliegen ich mich intensiv widmete. Ich begann, vielfältige Fäden persönlicher Kontakte aufzunehmen, die zu einem Netzwerk zusammenwuchsen und die für den Archivaufbau, ohne dass dies zu erahnen war, wichtig werden sollten. Erst sehr viel später stellte sich heraus, dass hier die ersten Anknüpfungspunkte für eine Art von Strategie lagen, die sich im Laufe der Jahre allmählich herauskristallisierte. Einige Begegnungen seien genannt – schon deshalb, weil diese Dimension archivarischer Tätigkeit, nämlich die Pflege des Dialogs, in der Archivpraxis einfach wichtig ist. Gespräche zu führen, ist nicht nur die Erledigung einer lästigen Pflicht gegenüber aufdringlichen Benutzern, nicht nur ein Relikt aus der Zeit vor der Erfindung von e-Mail und Online-Findmitteln, sondern befruchtend für die gesamte Archivarbeit. Wenige Tage oder Wochen nach dem ersten Archivumzug – fadengeheftete Akten lagen in Stapeln offen in den Regalen, die bestellten Kartons, die sie bergen sollten, waren aufgrund unglücklicher Umstände noch nicht geliefert worden – tauchte eine Forscherin auf, die sich für eine jüdische Studierende interessierte. Wir fanden nach langem Suchen ein Aufnahmeprotokoll: Charlotte Schlesinger war 1925 im Alter von nur fünfzehn Jahren als Kompositionsstudentin an der Hochschule zugelassen worden. Die Wissenschaftlerin recherchierte ein ganzes Jahrzehnt lang weltweit in Archiven nach dieser Musikerin; sie hatte emigrieren müssen und damals, als ihre Entdeckerin erstmals die Dokumente aus der Studienzeit einsehen konnte, war über sie so gut wie nichts bekannt. Erst mit der Zeit ließ sich rekonstruieren, dass Charlotte Schlesinger über Prag, Wien, Kiew, Moskau und London in die USA gelangt war, wo sie unter anderem am berühmten Black Mountain College unterrichtete. Ihr Weg führte dann zurück nach London. Ein Buch über dieses Lebensschicksal ist inzwischen erschienen. 3 In den ersten Jahren nach Überwindung der Teilung des Kontinents kamen manche osteuropäische Gäste, um an verschüttete Beziehungen anzuknüpfen. Eine Ukrainerin suchte nach Spuren des Konservatoriumsgründers ihrer Heimatstadt. Er hatte zuvor am Stern’schen Konservatorium der Musik in Berlin, einem angesehenen Privatkonservatorium, gelehrt. Was Archivalien zu ihrem Interessengebiet betrifft, musste leider ein fast vollständiger Verlust diagnostiziert werden: tabula rasa in der kriegszerstörten Stadt Berlin. Wie kann sich ein Archivar in dieser Situation helfen? Eine schlechte Quellenlage droht auf das Verhältnis des Benutzers zum Archivar abzufärben. Ähnlich geht es ja dem Postboten, der bei 3
Anna-Christine Rhode-Jüchtern: Schrekers ungleiche Töchter. Grete von Zieritz und Charlotte Schlesinger in NS-Zeit und Exil. Sinzig 2008.
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VIII. Ein Bericht aus der Werkstatt
Überbringung unerfreulicher Briefe nur allzu leicht den Unwillen des Empfängers zu spüren bekommt. Auf diese Eventualität muss sich der kluge Archivar einstellen; oft lässt sich dem Besucher dennoch etwas bieten. Immerhin war es möglich, die Anschrift des Musikers zu ermitteln; die Forscherin konnte also die Straße, in der sich die Wohnung befand, aufsuchen – und stand vor Neubauten der Nachkriegszeit, in einem Stadtquartier, das keinerlei Altbausubstanz mehr besaß. Aber das Auffinden des bloßen Ortes war ihr wichtig. Wir betrieben einen beträchtlichen Aufwand – für wenig, wie es schien; doch ihr war das Ergebnis viel wert. Wie lässt sich eine solche Dienstleistung bemessen? Fiel sie überhaupt noch in die Zuständigkeit des Universitätsarchivs, denn Adressbücher lagen woanders? Im Hinblick auf eine mit langem Atem anzugehende Verständigung der Völker ist die Unterstützung, die hier geboten wurde, gewiss nicht ganz entbehrlich. Aber reicht das als Rechtfertigung aus? Einer russischen Besucherin konnte schon sehr geholfen werden, indem ihr das Mietshaus genannt wurde, in dem Marina Zwetajewa gewohnt hatte; eine Gedenktafel, die ich zufällig gesehen hatte, weist darauf hin. Diese Auskunft hatte rein gar nichts mit den Archivbeständen und wenig mit den Forschungsinteressen der Besucherin zu tun, entsprach aber in der gegebenen Lage ihren Wünschen und erfüllte, wie mir schien, ihre Erwartungen. Nicht alle Begegnungen fanden mit Gästen des Archivs statt; gelegentlich wurde der Archivar selbst zum Besucher. Ein Zeitungsartikel wies im August 2000 auf die Existenz eines Teilnachlasses von Franz Schreker hin, den zwei argentinische Bewunderer und Erben des Komponisten gerettet hatten. Schreker war in der Zeit der Weimarer Republik Direktor der erwähnten Musikhochschule. Ich reiste privat nach Paris, wo die beiden wohnten und sich die Dokumente befanden, die ich gern einmal sehen wollte. In der Folge fanden verschiedene Treffen mit Schreker-Forschern und -Freunden statt, die daran erinnerten, dass ein Schreker-Jubiläum bevorstand. Es gelang, eine internationale Tagung anzuregen. Sie hatte für das Archiv ein gänzlich unerwartetes Ergebnis: Zwar gelangte der erwähnte Teilnachlass bisher nicht nach Berlin; stattdessen übergab uns eine Freundin der Witwe des Komponisten – überraschenderweise – Schrekers Bibliothek, die sie jahrzehntelang bewahrt hatte. So kann es kommen. 4 Eine Zielgruppe archivarischer Arbeit an einer Universität sind ältere Hochschulangehörige. Durch Begegnungen im Archiv bildete sich eine vertraute Runde, ein Kreis der „Freunde des Archivs“, wie wir nicht frei von Selbstironie sagten; er traktierte ernste, aber auch heitere Themen. Die Gespräche wandten sich oft den 68er Jahren zu und ließen auch die legendären Zinnoberfeste, bei denen die Hochschule in den fünfziger Jahren Kopf stand, in Gedanken wieder aufleben. Wie bemessen die menschliche Lebenszeit ist, wird daran erkennbar, dass inzwi4
Vgl. Franz Schrekers Bibliothek / The Schreker Library, hg. v. Verf. Mit einem Essay von Christopher Hailey (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin, Bd. 9). Berlin 2005 und den aus der Tagung hervorgegangenen Band „Wohin geht der Flug? Zur Jugend“. Franz Schreker und seine Schüler in Berlin, hg. v. Markus Böggemann und dem Verf. Hildesheim 2009.
1. Anfänge eines Archivs
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schen mehrere Mitglieder verstorben sind, darunter der Initiator, der Architekturhistoriker Jonas Geist. 5 Die sehr persönliche Betreuung, in deren Genuss insbesondere die frühen Besucher des Archivs gelangten, war aufwändig. Eine statistische Erhebung, in der die verwendete Arbeitszeit in Relation zur Quantität der Benutzungen gesetzt worden wäre, hätte wohl ein schlechtes Resultat ergeben. Zweifellos handelte es sich um eine Ausnahmesituation, die dem Anfang geschuldet war. Der große Zeitaufwand ersetzte die noch fehlenden Findmittel und gehörte zur Erstinvestition des Archivars, der sich benutzerorientiert einarbeitete. Damals wäre es falsch gewesen, Forscher aufgrund des schlechten Standes der Erschließung der Archivalien abzuweisen, was an sich bei unbearbeiteten Beständen üblich ist. Dann hätte sich die Existenz des Archivs nicht herumgesprochen. Im Normalfall ist ein Vorgehen, wie es hier unter besonderen Bedingungen gewählt wurde, kaum vertretbar. Doch ist die individuelle Betreuung, etwa auch durch schriftliche Auskünfte zur Quellenlage, eine gute, auch heute gepflegte Tradition des Archivarsberufs. Allein aus ihr ergibt sich die dialogische Natur des Metiers, die Archivare entfalten können – hin zu einer engen Verknüpfung des Archivs mit seiner gesamten Umgebung. 2. Infragestellung Der gerade erst begonnene Aufbau des Archivs stand bald in Frage, weil der Archivträger, die Universität der Künste, 6 ab Mitte der neunziger Jahre ungefähr ein Drittel ihrer Etatmittel und des Personals in mehreren, kurz aufeinanderfolgenden Spar-Runden verlor. Es entstand eine akute existenzielle Gefährdung der jungen Institution. Warum sollte in der Not etwas aufrechterhalten werden, worauf man bis vor kurzem noch hatte verzichten können? Das Archivwesen ist im beginnenden 21. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht institutionell garantiert: durch das Archivrecht und durch die – in einem Fachdiskurs verankerten – „anerkannten Grundsätze des Archivwesens“, auf die sich die Archivgesetze beziehen. Diese generellen Vorschriften schützen aber viele kleinere Archive nicht unmittelbar. Laut Berliner Archivgesetz kann das Landesarchiv an die Stelle eines Universitätsarchivs treten, denn die „landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts“ sind berechtigt, aber nicht verpflichtet, ein Archiv zu unterhalten. 7 Ebenso können Gemeinden und Städte ihre zu archivierenden Unterlagen, die sie nicht mehr bei sich behalten wollen, als Depositum (Dauerleihgabe) in die Verantwortung von Staatsarchiven geben. Die Rechtslage lässt einen weiten Spielraum zwischen zentraler und dezentraler Archivierung zu. 5 6 7
Vgl. die auch als Hommage zu verstehende Bibliografie Johann Friedrich (Jonas) Geist 1965–2005. Berlin 2011 (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin, Band 16). Damals noch (bis November 2001): Hochschule der Künste. Vgl. z.B. Archivgesetz des Landes Berlin, § 1, Abs. 4.
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VIII. Ein Bericht aus der Werkstatt
Die Unterschiede zwischen den Alternativen, die sich theoretisch abzeichnen, nämlich zwischen dem einen großen und den vielen kleinen Archiven, liegen in der Intensität der Betreuung der Archivalien sowie in der Einbindung in die soziale, politische und kulturelle Umwelt mit ihrer Erinnerungskultur, auch im Pluralismus der Standpunkte, Maßnahmen und Chancen bei der Überlieferungsbildung. Archive ‚vor Ort‘ haben in besonderem Maße die Gelegenheit und den Auftrag, an Projekten historisch-politischer Bildung mitzuwirken. Was mit der vielfältigen, dichten Archivlandschaft, die es in manchen deutschen Regionen gibt, verloren ginge, wiegt schwer; es ist die Eingebundenheit der Archivarbeit in den lokalen und regionalen Kontext. Und das fatale Gesetz lautet: Was einmal abgewickelt wurde, lässt sich nur schwer wieder einrichten; es ist leicht und geht schnell, etwas zu zerstören, aber meist erweist es sich als unendlich schwierig, das Verlorene wieder zurückzugewinnen. Der Leser wird bereits gemerkt haben, dass dieses Buch nicht zuletzt ein Plädoyer für kleine, jedenfalls nicht allzu große Archive ist. In einer differenzierten Geschichtskultur sind sie unerlässlich. 8 Letztlich ausschlaggebend für die Existenz eines Archivs sind oft nicht Gesetze und Rechtsvorschriften; es ist vielmehr die Akzeptanz innerhalb der Staaten, Städte, Kirchen, Wirtschaftsunternehmen, Hochschulen und anderen Körperschaften, von denen es getragen und für die es zuständig ist. Zur Stabilisierung und Entwicklung des Archivs als Institution gehört, dass Sinn und Nutzen der Einrichtung dem Archivträger und der Öffentlichkeit im Wettbewerb um knappe Ressourcen immer wieder verständlich dargelegt und vor allem praktisch demonstriert werden. Daraus ergeben sich Prioritäten, die in eine Strategie der Archivarbeit einfließen müssen. Wie unscheinbar ist die Arbeit von Archivaren, die eine unübersehbare Fülle von alten Dokumenten, von denen niemand genau wissen kann, wann und in welchem Umfang später einmal auf sie zurückgegriffen wird, eins nach dem anderen verzeichnen! Sie werden leicht übersehen, wenn definiert wird, was wichtig und unverzichtbar ist. Die Prioritäten, die ein Archiv in der Wahrnehmung seiner Aufgaben setzt, dürfen deshalb nicht ausschließlich vom Gedanken einer vollständigen und gleichmäßigen Verbuchung der vorhandenen Bestände hergeleitet werden, wie es früher einmal üblich war; sie müssen auch den Bedürfnissen der Benutzung und einer vorausschauenden Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit des Archivs Rechnung tragen, ohne dass diese Belange in der Archivarbeit ein Übergewicht gewinnen dürfen. Die Schilderung der Wechselfälle, die sich in der Gefährdungssituation ergaben, sei dem Leser erspart. Jedenfalls überlebte das Archiv, von dem hier exemplarisch die Rede ist. Es war gerade genug Zeit geblieben, um es publik zu machen und ihm ein wenig Gewicht zu geben. Pures Glück mag auch eine Rolle gespielt haben.
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Dass kleine Archive ihre eigenen Probleme haben, ist andererseits nicht zu leugnen. Darauf kann im Rahmen dieser Studie aber nicht eingegangen werden.
3. Archivisches Sammeln
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3. Archivisches Sammeln Das Archiv in eine Art von Geschichtsforum zu verwandeln, gehörte in der angedeuteten Situation der Infragestellung zu einer Strategie der Selbstbehauptung. Im Zusammenhang einer Reflexion archivarischer Praxis ist nun die Beobachtung wichtig, dass die geschilderte Offenheit archivarischer Arbeit letztlich nicht zu einer Zersplitterung führte, sondern auf mittlere Sicht, das heißt ungefähr innerhalb eines Jahrzehnts, eine Konsolidierung und Abrundung sogar der Bestände bewirkte. Erst in einem zweiten Schritt zeigte sich, ganz unerwartet, dass der Weg des Dialogs und der Präsenz in der archivnahen Öffentlichkeit – also ein Engagement, das über die Wahrnehmung der sogenannten Kernaufgaben der Übernahme, Erschließung und Benutzerbetreuung hinausgeht – gerade auf den Bestandsaufbau stark zurückwirkte. So schließt sich im günstigen Falle ein Kreis. Das Ansehen des Archivs ließ sich dadurch befördern, dass Vorhaben, die der Aufarbeitung geschichtlicher Themen dienten, vom Archiv angestoßen und betrieben wurden. Das trug schließlich den Gewinn wertvoller neuer Dokumente ein. Hierfür ein Beispiel: Die Übergabe von Nachlässen vollzieht sich oft in mehreren Schritten über Jahre hinweg, bis diejenigen Dinge, von denen sich der Geber am schwersten trennt, eintreffen; für das Archiv bildet der Vertrauensgewinn, der hierfür die Voraussetzung ist, den krönenden Abschluss seiner Bemühungen. Auf dem Weg liegen zahlreiche Aktivitäten. Im Fall des Nachlasses des – nach nur zweijähriger Tätigkeit als Professor 1933 entlassenen – Geigers und Violinpädagogen Max Rostal, der dem Archiv der Universität der Künste zufiel, ist die Publikation des Briefwechsels mit seinem Lehrer Carl Flesch und der Autobiographie Violin-Schlüssel-Erlebnisse zu erwähnen. 9 Eines Tages kam ein Anruf der in Bern lebenden Witwe mit der Frage, ob wir einen Schreibtisch und einen Bücherschrank, original aus den zwanziger Jahren, gebrauchen könnten. Meine spontane Antwort lautete: „Ja“. Ich gab sie mit einem unmerklichen Zögern, um ein plumpes „Nein“ zu vermeiden, das sich oft als unwiderruflich erweist und Entwicklungen verhindert; auch eine ausweichende Antwort wäre mir in diesem Augenblick als unhöflich erschienen. Im März 2006 nahmen wir dann, sozusagen als Beigabe zum Mobiliar, neben Graphiken und Teilen von Rostals Privatbibliothek auch Zimelien – also besonders wertvolle Dokumente – in Empfang: Briefe von Béla Bartók, Pablo Casals, Ralph Vaughan Williams, George Enescu und anderen. Erwähnt sei ein ausführliches Schreiben Bartóks aus dem Jahre 1931 über sein erstes Streichquartett (1908), in dem er ältere Metronomangaben widerruft. Ferner gehören Autographe dazu, die Rostal selbst gesammelt hat, etwa von Paganini und Debussy. Den Hauptteil des Archivs – Manuskripte, Korrespondenzen, Photographien, Tonaufnahmen, Musikalien – besaßen wir bereits seit mehreren Jahren. 9
Carl Flesch und Max Rostal. Aspekte der Berliner Streichertradition. Berlin 2002 (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin, Band 4). – Max Rostal: Violin-SchlüsselErlebnisse. Erinnerungen. Mit einem autobiographischen Text von Leo Rostal, hg. v. Verf. und Antje Kalcher. Berlin: Ries & Erler, 2007.
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VIII. Ein Bericht aus der Werkstatt
Dies ist ein Beispiel dafür, wie auf dem Gebiet des Erwerbs von Nachlässen agiert werden kann; im Fall von Vorlässen, wie man die von Lebenden übergebenen Archive nennt, ist die Situation nicht anders. Derartige Zugänge stellten sich im Archiv der Universität der Künste an einem bestimmten Punkt der Entwicklung plötzlich ein. Dass sie möglich wurden, ist nicht zuletzt auf den skizzierten dialogischen Ansatz der Archivarbeit zurückzuführen. Die persönlichen Unterlagen von Künstlern, die an der Universität gelehrt haben, sind für deren Archiv selbstverständlich von Interesse, da durch sie die künstlerische Lehre in inhaltsreicher Perspektive in den Blick rückt, so dass sie die behördlichen Dokumente sinnvoll ergänzen. Sie enthalten vieles, was in Hochschulakten naturgemäß fehlt. Manche Eigentümer von archivwürdigen Dokumenten entscheiden sich aufgrund ihres Verständnisses vom Profil eines Universitätsarchivs für eine themenbezogene Abgabe und vertrauen ihm jene Teile an, die sich auf den Unterricht beziehen. Die Teilung von Nachlässen empfehlen Archivare freilich nicht. In anderen Fällen sieht der Geber die ungeteilte Übertragung des gesamten persönlichen Archivs vor – so der Architekt, Stadtplaner und Hochschullehrer Hardt-Waltherr Hämer, der sich durch das Konzept der behutsamen Stadterneuerung einen großen Namen erwarb. Inhaltlich reicht sein Archiv weit über den Umkreis der Universität hinaus. Für diese ergab sich aber die Möglichkeit, mit seiner Hilfe die Beteiligung an einem zentralen Aspekt der Stadtentwicklung Berlins herauszustellen: ein von Hämer initiierter universitärer Forschungsschwerpunkt Stadterneuerung ging der Sanierung ganzer Stadtquartiere in Kreuzberg, im Rahmen der Internationalen Bauausstellung („IBA-Alt“, 1984-1987), voraus. 10 Solche Zugänge führten dazu, dass sich das inhaltliche Profil des Archivs erweiterte, ohne dass dies vorab geplant, vorausgesehen oder auch nur in Erwägung gezogen worden war. Zum Zeitpunkt, da das hier als Beispiel dienende Archiv eingerichtet wurde, konnte nicht angenommen werden, dass der Bereich der Nachlässe und Sammlungen binnen weniger Jahre ein wesentliches Aufgabengebiet sein würde. Es gab ja, wie beschrieben, einen gänzlich unbearbeiteten, umfangreichen Altbestand aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, dessen archivische Sicherung und Erschließung vorrangig sein musste. So fehlte schlicht die Zeit, die Einwerbung von Vor- und Nachlässen direkt zu betreiben. Die Künstler-Archive, die das Archiv der Universität der Künste gewonnen hat, sind gewissermaßen zufällig dank eines Netzwerks persönlicher Kontakte zu uns gekommen. Diese waren anfangs bescheiden, wuchsen aber rasch. Als ausschlaggebend stellte sich heraus, dass auf die Gesprächsfähigkeit und Sichtbarkeit des Archivs rechtzeitig und gezielt hingearbeitet wurde: durch Mitwirkung an 10 Hämers architektonisches und stadtplanerisches Werk wurde in einer dreibändigen Dokumentation anhand des persönlichen Archivs festgehalten: Hämer. Architekt HBK (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin, Bd. 11 bis 13). Berlin 2006-2009. Der erste Band widmet sich dem Theaterbau, der zweite trägt den Titel Behutsame Stadterneuerung, der dritte umfasst sonstige Bauten und Planungen. Außerdem wurden besonders wichtige Manuskripte aus dem Archiv, nämlich Tagebücher des Vaters, ediert: Walter Hämer: Tagebücher der Russlandjahre / Kunstgeschichtliches (Schriften aus dem Archiv der Universität der Künste Berlin, Bd. 14). Berlin 2010.
3. Archivisches Sammeln
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Projekten und Veranstaltungen, durch Editionen, Ausstellungen, Vorträge, Führungen, also durch alles das, was über eine enge Auffassung des Archivarsberufs hinausgeht und historische Kompetenz in besonderem Maße verlangt. 11 Das Moment des persönlichen Vertrauens ist für potenzielle Geber von Belang. Dieser Faktor kommt zu dem Ansehen, das ein Archiv als Institution und durch die Institution des Archivträgers besitzt, hinzu. Und schließlich konnte der Eindruck vermittelt werden, dass das Archiv nicht im schlechten Sinne museal ist: Die Tochter und Erbin des Komponisten Justus Hermann Wetzel, dessen Nachlass sich hier befindet, Madame Ruth Ruiz-Pipó, Paris, bezeichnete das von ihr gewünschte Archiv als einen Ort, an dem historische Dokumente eben nicht „wie begraben“ sind. 12 Kein Pantheon also, sondern eine Werkstatt! Doch halten wir selbstkritisch inne: Erfahrungsberichte von Archivaren sind manchmal – mehr oder weniger verkappte, im Einzelnen schwer überprüfbare – Erfolgsgeschichten. Der aufmerksame Leser stellt fest, dass soeben ein vorzügliches Beispiel dieses Genres abgeliefert wurde. Ist der Bericht glaubwürdig? Das Urteil steht den Lesern zu. Im Rahmen des Gedankengangs, der in diesem Buch entfaltet wird, ist es aber nicht unbedingt nötig, die Gewissheit zu haben, dass die Darstellung des Einzelfalls nicht ein wenig zu positiv ausgefallen ist. Wie verlässlich der Bericht auch immer ausgefallen sein mag, in jedem Fall benennt er, was in bestimmten konkreten Situationen, in die ein Archiv geraten kann, anzustreben oder zu befürchten ist; das reicht an dieser Stelle völlig aus.
11 Vgl. hierzu vom Verf.: „Künstler-Archive – ein Sammlungsziel? Zur Strategie des Archivs der Universität der Künste Berlin“, in: Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen, hg. v. Wolfgang Müller. Saarbrücken 2007, S. 93–106. 12 So formuliert in einem privaten Brief anlässlich der Archivübergabe.
IX. DER BEITRAG DER ARCHIVE ZUR ERINNERUNGSKULTUR 1. Wozu Archive? Die grundlegende, an Selbstverständlichkeiten rührende Frage: Wozu Archive? stellt sich im Alltag eher selten und kaum jemals unmittelbar. Mancher, der nicht historisch tätig oder geschult ist, mag verwundert darüber sein, welch großer Aufwand betrieben wird, um alte Papiere aufzubewahren. Er kümmert sich in der Regel nicht weiter darum. Und ein Archivar legt sich die aufgeworfene Sinnfrage wohl nur dann vor, wenn es ihm persönlich schlecht geht oder wenn seine Tätigkeit in Frage gestellt wird – wenn er also am Sinn seines Tuns zweifelt oder andere diesen Zweifel aufbringen. Es kann passieren, dass die Stelle des Archivars im Zuge von Sparmaßnahmen zur Disposition gestellt wird. Aber auch in diesen Fällen geht es nur mittelbar um die Archive insgesamt und zunächst einmal ganz allein um ein Archiv. Das Archivwesen ist in der Bundesrepublik Deutschland in hohem Maße institutionalisiert. Statt 226 Personen im Jahr 1951 weist der Verband der Archivarinnen und Archivare heute vierstellige Mitgliederzahlen auf, und das Verzeichnis der Archive ist, eng gedruckt, mehr als zweihundert Seiten stark. 1 Trotzdem ist die Situation des Archivwesens natürlich nicht problemlos. Auf theoretischer Ebene hat die gestellte Fundamentalfrage einen methodischen Zweck. Sie benennt die größte denkbare Beweislast. Diese vollständig einzulösen, ist vielleicht gar nicht möglich und mit Blick auf die Praxis auch nicht nötig, doch ist ein Grenzwert des Begründungsanspruchs damit angegeben. Die Ausnahmesituation der Infragestellung zeigt an, was die Anstrengung einer Rechtfertigung leisten muss, und diese wird virulent, sobald der Blick auf die künftige Entwicklung des Archivwesens fällt, das sich dem rasanten gesellschaftlichkulturellen Wandel im beginnenden 21. Jahrhundert nicht entziehen kann. Auf die gegenwärtige Situation muss schon deshalb eingegangen werden, weil sich die drängende Frage stellt, wie die Archive auf die aktuellen Veränderungen ihres Umfelds reagieren sollen. Stets geht es auch darum, die Archivträger – und das heißt letztlich das Gemeinwesen – vom Nutzen der Archive zu überzeugen. Das geschieht, wohlgemerkt, konkret. Doch ist es auch für den Einzelfall hilfreich, sich allgemeine Gesichtspunkte, die Beachtung verdienen, vor Augen zu führen. Es sind vielfältige Einwände gegen den Nutzen der Archive denkbar, denen begegnet werden muss: Sind nicht Museen sinnfälliger und im wahrsten Sinne des Wortes spektakulärer für das Publikum als ein Archiv mit seiner „Flachware“? 1
Vgl. Verein deutscher Archivare: Mitgliederverzeichnis. Münster 1997, S. 323, und Archive in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Adressenverzeichnis 2013/14. 22. Aufl. Münster 2013.
1. Wozu Archive?
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Sind nicht die in Bibliotheken gesammelten Medien viel leichter verständlich als Archivalien und deshalb eher zur Lektüre zu empfehlen? Was ist von handgeschriebenen Dokumenten zu halten, die schon aufgrund der Ungeläufigkeit alter Buchstabenformen heute kaum jemand mühelos entziffern kann? Und weitergehend: Ist nicht Geschichte in einer Welt, die sich der Modernität verschrieben hat, als solche überflüssig? Von einem Benutzer, dem ich via e-mail eine Auskunft gegeben und den ich – da meine Möglichkeiten, ihn durch schriftliche Erläuterungen zu unterstützen, erschöpft waren – höflich zu eigener Forschung einlud, erhielt ich die herablassende Antwort: er treibe lieber Sport und beschäftige sich mit gymnastischen Übungen. Diese Worte sind arrogant, aber hat er nicht doch eigentlich recht? Allerorten spürt man die Zeichen eines gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, von dem die Archive, gerade als öffentlich subventionierte Einrichtungen, nicht ausgenommen sein können. Die Archive insgesamt wie auch die Tätigkeitsfelder der Archivare befinden sich heute im Umbruch. Deshalb ist es sinnvoll, in praktischer Absicht zu bedenken, wo die Archive im 21. Jahrhundert stehen. 2. Die Archive im gesellschaftlich-kulturellen Wandel In den letzten Jahren sind die Herausforderungen, denen sich die Archive in der heraufkommenden digitalen Welt stellen müssen, immer wieder praxisorientiert ausgelotet worden. 2 In der Tat: Die digitale Revolution betrifft die Archive fundamental, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dass die Erschließung der Archivalien, also die Buchführung über die Inhalte des Archivs, die den Nutzer an das Reservoir der Quellen heranführt, heute nicht mehr mit Hilfe von Findbüchern und Karteien, sondern in Datenbanken geschieht, ist längst nichts Neues mehr. Damit tun sich bis dahin unbekannte Darstellungs- und Recherchemöglichkeiten auf; die Transparenz der Inhalte des Archivs lässt sich erhöhen, in mancher Hinsicht überhaupt erst herstellen. Während gerade in Deutschland selbst die Findmittel noch lange der Sphäre staatlicher Geheimhaltung, dem Arkanum, nahestanden, ist heute der Bedarf unabweisbar, dass viele von ihnen weltweit, im World Wide Web, eingesehen werden können. Ja, die Bestände selbst können zumindest teilweise digitalisiert und in elektronischer Form veröffentlicht werden. Den gesamten Nachlass Arnold Schönbergs stellt das Arnold Schoenberg Center in Wien in Absprache mit den Erben des Komponisten frei zugänglich ins Netz. Die Technische Universität Berlin schuf in aufwändiger Weise eine bildliche Dokumentation von 70.000 Objekten ihrer Plansammlung, des Architekturmuseums der Technischen Universität; 2
Vgl. z.B. Die Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung, Erschließung, Präsentation. 79. Deutscher Archivtag 2009 in Regensburg (Tagungsdokumentation zum Deutschen Archivtag, hg. v. Verband deutscher Archivarinnen und Archivare). Fulda 2010.
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IX. Der Beitrag der Archive zur Erinnerungskultur
dank der Digitalisate erübrigt es sich in der Regel, den Nutzern Originale vorzulegen. Aber dieser Wandel des Mediums der Inventarisierung und die Fortschritte der digitalen Reprographie und Publikation sind nicht einmal die schwerwiegendsten Faktoren in der Revolution, die sich heute ereignet. Mit Büroautomation und e-government verändern sich die Informationsträger, die ins Archiv zu übernehmen sind. Sie bestehen nicht mehr nur aus Papier, sondern zunehmend aus Dateien, deren langfristiger Erhalt große Anstrengungen verlangt. Die Lesbarkeit digitaler Daten ist von Soft- und Hardware abhängig, die in schneller Abfolge wechselt und veraltet; die schlechte physische Haltbarkeit digitaler Datenträger kommt hinzu. In ihrer zum Archaischen neigenden Denkweise hegen Archivare seit langem eine besondere Sympathie für den Mikrofilm als Speichermedium. Er hat den Vorzug, dass er voraussichtlich tausend Jahre hält und mit einer Kerze und einem Vergrößerungsglas lesbar ist. Dieser Haltbarkeiterwartung gemäß, werden in einem Stollen in Oberried bei Freiburg im Breisgau Kopien wichtiger Bestände aus deutschen Archiven auf Mikrofilm eingelagert, die selbst größte Katastrophen wie einen Atomkrieg überdauern sollen. Doch diese Sicherungsmaßnahmen wurden für die Überlieferung aus Pergament und Papier geplant. Wie aber lassen sich digitale Daten als solche bewahren? In der Sprache der elektronischen Archive ausgedrückt, stellt sich das Problem der Langzeitarchivierung; übersetzt in die Terminologie der historischen Archive, betrifft es die Möglichkeit der Archivierung an sich, denn diese ist per se auf eine unbestimmte, jedenfalls nicht begrenzte Dauer hin angelegt. Die Archivare befassen sich seit Längerem mit diesem Problem, suchen Lösungen und versichern, dass „das ‚digitale Desaster‘ vermieden werden kann“. 3 Digitale Archive befinden sich im Aufbau. Das Szenario der digitalen Revolution ist aber auch an diesem Punkt noch nicht vollständig beschrieben. Die technisch-medialen Veränderungen, insbesondere in der Verwaltung, die sich auf das zu archivierende Material auswirken, ist nämlich in einen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel eingebettet, der noch nicht völlig zu überschauen, aber tiefgreifend ist. Die Zukunftserwartungen der Auguren widersprechen einander in vieler Hinsicht. Es gibt, grob gesagt, zwei Tendenzen: Die einen sagen voraus, dass es Datenverluste kaum mehr geben wird. Die erlösende Informationsreduktion falle aus; wir werden in der Menge der vorhandenen Daten ersticken. Andere dagegen befürchten eine gigantische Informationsvernichtung, weil die Abruf- und Speichertechniken nicht haltbar genug seien; was auf gängigen Datenträgern notiert wurde, sei in relativ kurzer Frist nicht mehr abrufbar. So stehe gesellschaftlich und kulturell eine regelrechte Amnesie bevor. Es ist kennzeichnend für die Aufgeregtheit der Diskussion, dass diese 3
Vgl. Thekla Kluttig: „10 Jahre Arbeitskreis ‚Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen‘. Bilanz und Ausblick“, in: Der Archivar, Jg. 60, H. 1 (Febr. 2007), S. 51–53, hier: S. 53. – Zur Problematik insgesamt vgl. etwa Rainer Hering: „Archive und Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 120. Bd., Teilbd. 1 (2012), S. 116-138.
2. Die Archive im gesellschaftlich-kulturellen Wandel
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extremen Einschätzungen einander schroff gegenüberstehen. Die Realität der nahen Zukunft wird vermutlich, wie so oft, dazwischen liegen: irgendwo in der Mitte. Für die zu führende Debatte ist es freilich wichtig, der Suggestion der neuen Technik und dem Einfluss der hinter ihr stehenden Mächte, von global agierenden Konzernen bis hin zu Geheimdiensten, nicht zu erliegen. Es ist die These aufgestellt worden, dass die digitale Revolution das kulturelle Muster der endgültigen Ablage von Information, wenn man so will: das Prinzip der Archivierung selbst, in Frage stellt. Das Internet, so wird argumentiert, sei ein Medium der permanenten Transformation, das die Erstarrung der Information in Gestalt eines herkömmlichen Archivs nicht begünstigt. Ein Prozess ständiger, nicht endender Fluktuation werde in Gang gesetzt, der die Aussonderung veralteter Daten erschwere, wenn nicht gar verhindere, diese aber andererseits nicht unverändert lasse. Es gebe keine irgendwie dauerhaften Fixierungen und damit keine Stabilität der Archivierung mehr; was als Informationsmüll aussortiert wird, kann im nächsten Augenblick ein Recycling erfahren. Jeglicher Zusammenhang von Information ist unablässig in Fluss. Diese Prognose eines radikalen Wandels im Umgang mit Daten ist ernst zu nehmen. Die Annahme geht von der Eigengesetzlichkeit technischer Medien aus, die zweifellos in gewissen Grenzen zu konstatieren ist. Doch verkennt sie letztlich die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach informationeller Sicherheit, die sich durchsetzen werden, indem sie sich einen Weg, und sei es auf Umwegen, bahnen. Die skizzierte Vision ist aber ein Indiz dafür, wie weit der mediale Wandel unserer Tage reicht. Das Schicksal der Archive ist nun allerdings nicht allein durch Entwicklungen auf dem Gebiet der Informationstechnik bestimmt. Denn „das Archiv“ ist ja, wie im Vorigen dargelegt, nicht bloß ein technisches Medium und lässt sich als Inbegriff „infrastruktureller Konfigurationen“ nicht begreifen. 4 Idee und Institution des historischen Archivs besitzen gesellschaftlich-kulturelle Prägungen und Funktionen, die nicht einfach hinfällig werden; sie definieren, wie im Vorigen gezeigt, einen ganz eigenen Raum menschlicher Praxis. So versteht es sich von selbst, dass sich die historischen Archive der digitalen Welt zuwenden, doch werden sie dabei nur erfolgreich sein, wenn sie sich ihrer unhintergehbaren Eigenart bewusst sind. Was dies betrifft, so ist zu bedenken, dass Archive zu den Kulturen des Erinnerns und der Geschichte gehören, die sich im europäisch-atlantischen Raum seit Jahrhunderten entfaltet haben. Gerade heute besteht Anlass, in diesen Kontexten eine wichtige Position zu reklamieren. Zum einen: Auch die Archive profitieren von der neuerlichen Konjunktur des Erinnerns und der Aufmerksamkeit für Geschichte, wie sie nun seit mehreren Jahrzehnten zu beobachten ist. Während Reinhart Koselleck auf dem Deutschen Historikertag 1970 seine berühmte Rede Wozu noch Historie? hielt, markierte bereits die Staufer-Ausstellung 1977 einen Wendepunkt. Seitdem richtete sich das 4
Hier wird die Wortwahl des Medientheoretikers Wolfgang Ernst aufgegriffen. Vgl. ders.: Im Namen von Geschichte. sammeln – speichern – er/zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses. München 2003.
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IX. Der Beitrag der Archive zur Erinnerungskultur
öffentliche Interesse auf die Geschichte selbst weit zurückliegender Epochen. Besonders intensiv ist die Erinnerung an das 20. Jahrhundert, das aufgrund seiner Katastrophen und Verbrechen ein „Zeitalter der Extreme“ war. 5 Aus der Sicht der Archive ist interessant, dass heute Phänomene einer gewissen Historisierung der Gegenwart zu beobachten sind, eines Umgangs der Individuen und Gruppen mit ihrer Lebensgeschichte und darüber hinaus mit der Zeitgeschichte im Lichte eines Bewusstseins, das die Verfahrensweisen des historischen Arbeitens kennt und sie, gewissermaßen vorausgreifend, auf die Gegenwart anwendet. In der Figur des Zeitzeugen ist diese Entwicklung vielleicht am besten fassbar. Bezeichnend ist die Aufforderung des emigrierten Schriftstellers Hans Sahl: „Fragt uns aus, wir sind die Letzten.“ 6 Sie weist uns zugleich auf die enorme Bedeutung hin, welche die retrospektive Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren Folgen heute besitzt. Der skizzierte Trend berührt die Archive unmittelbar, denn jede historische und biographische Aufarbeitung zeitgeschichtlicher Themen erzeugt, zum Beispiel in der oral history, ihrerseits geschichtliche Belege und kann andererseits helfen, dass vorhandene Zeugnisse rechtzeitig beachtet, archivisch gesichert und bewahrt werden. Diese Tendenzen aufgreifend, sind Archive heute stärker als früher sammelnde und auch dokumentierende Einrichtungen, wobei sie an dem Grundgedanken, Überreste zu bewahren, grundsätzlich festhalten müssen. Das heißt, das Anliegen und der Anspruch, keine dominanten eigenen dokumentarischen Intentionen einzubringen und in Bezug auf Themen und Perspektiven des zu übernehmenden Archivguts neutral zu sein, sind nicht überholt. Wer Paradoxe liebt, könnte von einer Absicht der Unabsichtlichkeit sprechen. Beinahe an allen Ecken und Enden entstehen Projekte und Einrichtungen, die sich – gewiss oft entgegen der älteren, engeren Terminologie – des Namens Archiv bedienen, zum Beispiel die zahlreichen „freien Archive“, die sich um die Geschichte von unten kümmern. 7 Sie sind oft schlecht ausgestattet und selten institutionell konsolidiert; in ihnen äußern sich aber vitale und berechtigte archivische Interessen außerhalb der herkömmlichen Archivwelt. Diese Entwicklungen sind für das Archivwesen, aufs Ganze gesehen, gewiss günstig; der Gefahr des „Verlust(s) der Geschichte“, die Alfred Heuß vor einem halben Jahrhundert fürchtete, 8 stehen derzeit also bemerkenswerte Kräfte einer Hinwendung zur Geschichte entgegen. Diese Konstellation wirkt sich auf das Archivwesen aus. Deshalb ging es in diesem Buch auch nicht vorrangig darum, den Nutzen von Geschichts- und Er5
6 7 8
Reinhart Koselleck: „Wozu noch Historie?“ (Vortrag auf dem Deutschen Historikertag in Köln am 4. April 1970), in: Historische Zeitschrift, Bd. 212 (1971), abgedr. in: Über das Studium der Geschichte, hg. von Wolfgang Hardtwig. München 1990, S. 347–365. – Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur, hg. v. Reiner Haussherr u.a. 5 Bde. Stuttgart 1977– 1979. – Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 10. Aufl. München 2010 (engl.: Age of Extremes, 1914-1991. The Short Twentieth Century, 1994). Vgl. Hans Sahl: Wir sind die Letzten. Gedichte. Heidelberg 1976. Vgl. Jürgen Bacia, Cornelia Wenzel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten. Berlin 2013. Vgl. Alfred Heuß: Verlust der Geschichte. Göttingen 1959.
2. Die Archive im gesellschaftlich-kulturellen Wandel
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innerungskultur an sich aufzuweisen. Vielmehr sollte die Besonderheit – und damit auch der spezifische Nutzen – der Archive in diesem Kontext aufgezeigt werden. Zum anderen: Was die Stellung der Archive in den Kulturen des Erinnerns angeht, so ist ein solides Selbstbewusstsein angebracht. Heutigentags, da die Deutungshoheit monolithischer Geschichtsbilder schwindet und Geschichte individualisiert wird, 9 stehen die Archive mehr denn je im Mittelpunkt der Kommunikation über Vergangenheit. Zumindest sollten sie eine solche Stellung als Knotenpunkt anstreben, denn sie haben gute Chancen, diese tatsächlich zu erreichen. Früher, als die Archive erst „von der Doktorarbeit an“ zu Rate gezogen wurden, befanden sie sich gleichsam im Rücken – und damit auch im Schatten – der Geschichtsschreibung; diese bot der gebildeten Öffentlichkeit autorisierte Geschichtsbilder an. Wäre dies heute noch in ähnlicher Weise der Fall, so würden die Archive hinter der Fertigware wissenschaftlich sanktionierter oder auch medial lancierter Geschichtskonstruktionen zurücktreten. Doch die Darstellungen und Inszenierungen, die in der öffentlichen Kommunikation heute im Verkehr sind, unterliegen einem schnellen Wandel, und angesichts der beinahe chaotischen Vielfalt von Angeboten, die sich inzwischen auf diesem Gebiet aufgetan hat, verringert sich zwangsläufig die Geltungsmacht der einzelnen historischen Deutung. In der so entstehenden Meinungs- und Themenvielfalt, die im Übrigen einer pluralistischen Gesellschaft gemäß ist, betreiben immer mehr Akteure selbständig historische Recherchen und bedienen sich damit der Archive unmittelbar. Diese Entwicklung zu begleiten und sogar zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe. Im Interesse einer fundierten historisch-politischen Bildung ist zu hoffen, dass Forschen und Recherchieren immer mehr zu einem Allgemeingut werden und dass sich immer mehr Menschen die erforderlichen methodischen Kenntnisse zumindest ein Stückweit aneignen. 10 Wie im Vorigen ausgeführt, haben die Verfahrensweisen der historischen Kritik, die sich über Jahrhunderte hinweg immer weiter verfeinerten, ihre Wurzeln in der conditio humana. Aufgrund der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung steht uns das freilich nicht ständig vor Augen. Gerade deshalb muss es auf der Ebene der Theorie vergegenwärtigt werden. Heute verbreitet es sich immer mehr, dass historische Studien jedweder Art anhand originaler Quellen betrieben werden; Schüler und Studenten, Journalisten und Publizisten, Privatforscher, auch ältere Menschen, die sich die erforderliche Zeit nehmen können, kommen in die Archive. Diese sind immer enger in ein weites Netz alltäglicher, medialer und wissenschaftlicher Kommunikation eingebun9
Vgl. hierzu etwa Rosmarie Beier-de Haan: Erinnerte Geschichte – inszenierte Geschichte. Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne. Frankfurt/M. 2005, S. 16–47. 10 Es ist zu begrüßen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung Fragen der Quellenkritik speziell in Bezug auf Photographie und Film in einer Wanderausstellung aufgegriffen hat. Die begleitende Publikation besteht aus einem „Lügen-ABC“ der Bildmanipulation. Vgl. Bilder, die lügen, hg. v. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 3. Aufl. Bonn 2003 (zuerst 1998).
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IX. Der Beitrag der Archive zur Erinnerungskultur
den, während jeglicher Kanon des historischen Wissens an Verbindlichkeit einbüßt. 11 In dieser Situation ist das Archiv mehr denn je ein Ort historischer Arbeit, ein „Haus der Geschichte“. Es offeriert keine wohlfeilen Deutungen, sondern steht für die methodische Errungenschaft des sorgfältigen Prüfens und des immer weiter geführten, selbständigen Wissenserwerbs in Sachen der Geschichte. 3. Ausblick: Zum archivarischen Ethos Welche Möglichkeiten bieten sich den Archivaren in der skizzierten Situation unserer Zeit? Welche Grenzen müssen sie bei der erforderlichen Anpassung an die Zeitläufte beachten? Auf diese Fragen kann eine Antwort nur sehr bedingt in allgemeiner Form gefunden werden, denn archivarisches Handeln ist stets konkret. Einerseits ist so etwas wie eine Politik des Archivs vonnöten – eine Strategie, mit deren Hilfe unter gegebenen Bedingungen um Erfolge gekämpft wird. Andererseits ist es unerlässlich, eine archivarische Ethik auszuformulieren; sie benennt Prinzipien archivarischen Handelns, die ohne Abstriche eingehalten werden müssen. 12 Eine zielführende Strategie kann natürlich nur unter Berücksichtigung der jeweils besonderen Umstände formuliert werden; das Eingehen auf die jeweilige Lage zeichnet strategisches Denken ja gerade aus. Der Begriff hat bekanntlich militärische Konnotationen; der ältere Moltke schrieb: „Die Strategie ist ein System von Aushülfen. Sie ist mehr als Wissenschaft, ist die Uebertragung des Wissens auf das praktische Leben, die Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den sich ändernden Verhältnissen, ist die Kunst des Handels unter dem Druck der schwierigsten Bedingungen.“ 13 Mit komplexen Problemlagen haben auch Archivare, wie der vorige Werkstattbericht andeutete, auf ihre Weise zu tun. Man tut gut daran, nicht mit dem Glücksfall zu rechnen, in festgefügte, entwicklungsfähige Verhältnisse zu geraten. Auch institutionelle Stabilität kann sich, mittelfristig gesehen, als trügerisch erweisen: das Beharrungsvermögen einer Organisation verbraucht sich mit der Zeit, wenn sie nicht in ihrem Umkreis ausdrücklich gutgeheißen und in ihrer Existenzberechtigung immer wieder bestätigt wird; ein jedes Archiv muss sich immer von neuem Anerkennung und Respekt erwerben. Sofern das unterbleibt, wird es vielleicht sang- und klanglos geschlossen, wenn der dort tätige Archivar in Pension geht. 11 Vgl. hierzu auch Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002, S. 71–73 (mit Bezug auf Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M. 1992). 12 Grundlegend hierfür ist die Studie der Archivarin Elena S. Danielson: The Ethical Archivist. Chicago 2010. 13 (Helmuth Graf von) Moltke. Vom Kabinettskrieg zum Volkskrieg. Eine Werkauswahl, hg. v. Stig Förster. Bonn 1992, S. 632. Es handelt sich um den Schlusspassus des Aufsatzes „Über Strategie“ aus dem Jahr 1871.
3. Ausblick: Zum archivarischen Ethos
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Was ethische Normen angeht, so liegt ein Kodex vor, den der Internationale Archivrat aufgestellt hat. Einige Konfliktfälle, in denen der Archivar verpflichtet ist, seine persönlichen Interessen zurückzustellen oder sozialem und politischem Druck zu widerstehen, seien herausgegriffen. Als ein elementares Gebot ist festzuhalten, dass Archivare „Beweismaterial“ nicht „zur Verschleierung oder Verdrehung von Tatsachen manipulieren“ dürfen. Diese Regel zielt auf die Bewahrung dokumentarischer Authentizität. Und ein anderer wichtiger Punkt: Archivare müssen gegenüber allen Benutzern „unparteiisch“ sein. 14 Es ist ein Grundzug der hier vorgelegten Theorie des Archivs, in Übereinstimmung mit dieser Maxime nicht darauf zu setzen, dass die Archive bei der Formierung historischer Identitäten behilflich sind; eine solche Zweckbindung kann leicht Einseitigkeit begünstigen. Die Öffnung der Archive, die seit dem 19. Jahrhundert erreicht wurde, zielt genau in die umgekehrte Richtung demokratischer Partizipation: des gleichberechtigten Zugangs für alle. Geht man über die Aufzählung typischer Konfliktfälle hinaus und versucht das archivarische Ethos zu beschreiben, so stößt man auf die Verantwortung des Archivars für die Zukunft. Archivarbeit muss auf Dauer angelegt und an der Dimension der Geschichtszeit ausgerichtet sein. Archivarisches Tun ist in beträchtlichem Umfang eine Investition in die Zukunft, die sich erst später, oft erst nach Generationen, auszahlt. Heute besteht zweifellos die Tendenz, jegliche langfristig angelegte Kulturarbeit in einem Aktionismus, der auf bloße Events abzielt, aufzulösen. Die Wahrnehmung von Zukunftsaufgaben ist in einer selbstverliebten Gegenwart nur allzu leicht gefährdet, weil diese nicht genügend erkannt, geschätzt und honoriert werden. Einem solchen Trend kann nur dadurch begegnet werden, dass der Nutzen des Archivs im Horizont der Geschichts- und Erinnerungskultur immer von neuem aufgezeigt und begründet wird. Die unscheinbaren Aspekte archivischer Arbeit müssen mit allem, was eine größere Sichtbarkeit erzeugt, verknüpft werden, und es sollte in aller Öffentlichkeit ein stetes Nachdenken über die Grundlagen der Archivistik stattfinden. Wie das Archiv genutzt wird und wer es nutzt, das müsste Archivare schon aufgrund einer legitimen theoretischen Neugierde interessieren. Sicherlich werden unterschiedliche Zwecke des Gebrauchs von Geschichte zu beobachten sein: Traditionsstiftung und Bewahrung, Verteidigung von angestammten Verhältnissen, aber auch Identitätssuche, Kritik des Überkommenen und inhaltliche Überprüfung dessen, was über die Vergangenheit ausgesagt worden ist. Oder mit Nietzsche zu sprechen: es gibt eine „monumentalische“, eine „antiquarische“ und eine „kritische“ Richtung des Geschichtsinteresses. 15 Das Archiv steht mit allen Interessenten im Dialog; es befindet sich an einem Kreuzungspunkt in den Auseinandersetzungen der Menschen mit ihrer Vergangenheit, aber auch mitten in den politischen und kulturellen Konflikten, die sich daraus ergeben. 14 Internationaler Archivrat: „Kodex ethischer Grundsätze für Archivare“ (übers. v. Reimer Witt). Abgedr. in: Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medienund Informationsdienste, Fachrichtung Archiv. Münster 2004, S. 353f. 15 F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, a.a.O., S. 258.
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IX. Der Beitrag der Archive zur Erinnerungskultur
Dabei dürfen Archive – als eine gewissermaßen treuhänderische Einrichtung des Gemeinwesens – nicht Partei ergreifen. 16 Unter demokratischen Verhältnissen darf es nicht geschehen, dass sie sich auf die Seite der Mächtigen schlagen. Genau dies unterstellte Kurt Tucholsksy dem Reichsarchiv in der Weimarer Republik: „Wir haben ein Reichsarchiv“, schrieb er 1928 in der Weltbühne voller Empörung, „bezahlt vom Gelde der Allgemeinheit, das lügt, lügt, lügt“. In seiner Polemik wendet er sich an einen fiktiven „Herrn Professor“, der im damals weit in der Zukunft liegenden Jahr 1991 Geschichtsforschung betreibt. Ihm ruft er die Quintessenz seiner politischen Erfahrung seit der Revolution vom November 1918 zu: „Allein wichtig ist, (...) was Sie im ganzen Archiv niemals finden werden: die Klagen und die Tränen eines unterdrückten Volkes, dessen guter Wille zu groß und dessen revolutionäre Kraft immer zu klein gewesen ist“.17 Diesem Appell muss man schlicht entgegnen: Tucholsky hat ein Archiv vor Augen, das mit den in diesem Buch vorgetragenen Ideen nicht übereinstimmt; das Reichsarchiv betrieb Kriegsgeschichtsschreibung mit Nähe zum Militär, und Tucholsky nahm es zurecht als parteilich wahr. 18 So ist die Empörung des Pazifisten verständlich, doch auch seine Einschätzung der Quellenlage ist falsch. Was Tucholsky zu vermissen glaubt, kann man nämlich in Archiven auffinden, und sofern es in den Dokumenten nicht ausdrücklich gesagt ist, so besteht die Möglichkeit, zwischen den Zeilen zu lesen; vieles lässt sich erschließen. Archivare müssen sich aber auch – und sogar in besonderem Maße – um Zeugnisse bemühen, die, um im Bilde zu bleiben, mit den Tränen jener Menschen benetzt sind, an die Tucholsky denkt. Ebenso wenig wie das Archiv ein Parteigänger der Herrschenden sein darf, wird es sich aber als eine oppositionelle Kraft gerieren, die Gegenmacht ausüben oder aufbauen will – doch kann es passieren, dass der Geist historischer Kritik, die Suche nach Belegen selbst als widersetzlich verstanden wird. Es kommt vor, dass die ‚Wühlarbeit‘ der historischen Kritik von denen, die etwas zu befürchten haben, als destruktiv wahrgenommen wird. Gewiss: In bestimmten Grenzen dient jedes Archiv auch der Traditionspflege und dem Image des Archivträgers, doch ist dies nicht seine erste und wesentliche Aufgabe. Die historische Arbeit besitzt eine Eigendynamik, die ihren Antrieb aus der Neugierde, aber auch der Wahrheitsliebe der Menschen bezieht. Mit dieser Motivation setzt sie, den jeweils erreichten Stand der Kenntnisse verwerfend, immer von neuem an. Ihr sind Archivare ganz elementar verpflichtet. Ein Ethos der Detailtreue und der Sinn für Nuancen resultieren aus dieser kritisch fragenden Einstellung und entsprechen ihr. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis zur gedanklichen Konstruktion von Geschichte als eines festen, unumstößlichen Gebäudes oder einer bloß gewinnenden, vielleicht gefälligen, manchmal verführerischen, letztlich aber wirklichkeitsfernen Erzählung. Das Archiv 16 Eine Ausnahme ist allerdings gegeben, wenn die Archivarbeit in ihrer Integrität selbst in Frage gestellt wird. 17 Kurt Tucholsky: „Wie war es –? So war es –!“ In: Gesammelte Werke, Bd. 6: 1928, S. 285– 289, hier: S. 286. 18 Vgl. Markus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914–1956. Paderborn 2002.
3. Ausblick: Zum archivarischen Ethos
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steht gerade für das Widerständige vergangener Realität, das nicht in fertigen, statischen Bildern und geschlossenen Erzählungen aufgeht, das sich gegen einfache Deutungen sperrt. Deshalb sind Archivare skeptisch – gegenüber Ideologien, Dogmen und Narrativen sowie gegenüber Gewissheitsansprüchen und Vereinfachungen jeglicher Art. Sie gehören nicht zu den Generalisten im historischen Diskurs und lassen sich auf Einzelheiten ein – sowie auf Dinge, die sie (noch) nicht verstehen. Und sie halten sich an das, was belegbar ist. Diese Einstellung ist nicht von der Geschichtsschreibung, also von den Anforderungen der historischen Interpretation und Darstellung, geprägt, sondern von der Logik der Recherche; ihr Geist wirkt aber in jene Sphäre weit hinein. Archivare sind Anwälte und Gewährsleute eines Umgangs mit der Vergangenheit, der den Quellen historischer Erkenntnis nahe ist und die Kritik der Quellen kenntnisreich betreibt. So rücken sie mit der Hinwendung zur Vergangenheit ein Stück weit von der Gegenwart ab und sehen sie, zu ihr zurückkehrend, mit anderen Augen. Das Studium der Geschichte, so wie es im Archiv möglich ist, erweist sich als ein probates Mittel, Distanz zu gewinnen vor der allzu großen Nähe des Gegenwärtigen, ohne dass man sich dabei ins Allgemeine und Ungefähre verliert. Was man auf diese Weise gewinnt, wirkt in die Gegenwart zurück. Und etwas Weiteres kommt hinzu: Die Archivare sind dem Menschlichen in der Vergangenheit, dem sie begegnen, zugetan – und auch den Verstorbenen gegenüber besitzen wir eine Verpflichtung, selbst wenn die Fristen des Datenschutzes abgelaufen und einklagbare Persönlichkeitsrechte erloschen sind. Hans Blumenberg sprach einmal von einem officium nobile, das sich daraus ergibt, „daß wir Theorie als Einstellung, als Wahrnehmungsfähigkeit überhaupt haben“. Daraus folgt, dass alle Menschen beanspruchen dürfen, „nicht nur am Leben gelassen zu werden“, sondern nach dem Tode „theoretisch“, das heißt in der historischen Vergegenwärtigung, „nicht vergessen zu werden“. Der „Anteil an der Menschheit in ihrer Person“ muss „gewürdigt und bewahrt“ werden. 19 Wer geschichtlicher Wirklichkeit mit Liebe zum Detail nachspürt, neigt dazu, die großen Linien historischer Deutung zu durchkreuzen. Er ist auf Archive angewiesen. Dort findet sich ein riesiger Kosmos von Schriften, Bildern und Gegenständen, die als Geschichtsquellen in Betracht kommen; sie werden von Archivaren betreut. Die Archivalien formal wie inhaltlich genau zu kennen, aber der Annahme zu widerstehen, in den Erkenntnismöglichkeiten allzu weit über ihnen zu stehen – darauf beruht der Beitrag archivnaher Forscher wie der Archivare zur Kultur historischer Arbeit, eingedenk der prägnanten Feststellung Jacob Burckhardts: „In der originalen Diction der Quellen liegt ihre Schwierigkeit, ihr Reiz und ihr Werth“. 20
19 Hans Blumenberg: „Ernst Cassirers gedenkend“. Rede bei Entgegennahme des Kuno-FischerPreises der Universität Heidelberg 1974, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 163–172, hier: S. 170f. 20 J. Burckhardt: Über das Studium der Geschichte, a.a.O., S. 172.
PERSONENREGISTER In dieses Register sind auch Personen, die allein in den Fußnoten genannt sind, aufgenommen worden. Dies geschah aber nur dann, wenn auf die Betreffenden im Text ohne Namensnennung eingegangen wird oder wenn sie als Autoren beziehungsweise Herausgeber der angeführten Literatur für den Gedankengang dieses Buches wichtig sind. Andere in bibliographischen Angaben enthaltene Personennamen wurden übergangen. Aebbtlin, Georgius 70 Agamben, Giorgio 20 Améry, Jean 39 Assmann, Aleida 19, 69 Assmann, Jan 19, 42 Augustin 36, 41 Bacia, Jürgen 104 Bartók, Béla 97 Bauer, Wilhelm 26 Beck, Friedrich 49, 71 Becker, Thomas 84 Benjamin, Walter 13 Benn, Gottfried 29 Beier-de Haan, Rosmarie 105 Berding, Helmut 22 Bernheim, Ernst 24f Bloch, Marc 42, 48, 54 Blossfeldt, Karl 51f Blumenberg, Hans 33, 109 Booms, Hans 53, 71, 86 Brachmann, Botho 17 Brandt, Ahasver von 64 Brecht, Bertolt 29 Brenneke, Adolf 63, 69, 72, 78-81 Brübach, Nils 83 Buchholz, Matthias 82 Burckhardt, Jacob 21, 24, 69, 81, 109 Büttner, Siegfried 71 Casals, Pablo 97 Cassirer, Ernst 109 Chastellain, Georges 49 Danielson, Elena S. 106 Dareios I. (persischer König) 89 Debussy, Claude 97 Derrida, Jacques 20, 64 Diamant, Dora 46 Droysen, Johann Gustav 19, 24, 47, 49, 54f, 81 Ebeling, Knut 20 Eggert, Hartmut 81 Enescu, George 97 Erll, Astrid 22
Ernst, Wolfgang 21, 103 Evans, Richard J. 52 Ewald, François 22 Faber, Karl-Georg 12, 27 Farge, Arlette 23, 57, 67 Fest, Joachim 31 Flesch, Carl 97 Foucault, Michel 19-22, 87 Frank, Anne 53 Franz, Eckart G. 20, 64, 68, 71, 74f, 85 Frei, Norbert 25 Freud, Sigmund 37 Friedländer, Saul 39 Fuhrmann, Manfred 106 Geist, Jonas (Johann Friedrich) 95 Ginzburg, Carlo 32, 53 Glauert, Mario 87 Goethe, Johann Wolfgang von 34, 68, 80f Grass, Günter 30f Grimo, Adalgisel 55 Groys, Boris 19 Gründer, Karlfried 17 Günzel, Stephan 20 Hailey, Christopher 94 Halbwachs, Maurice 37 Hämer, Hardt-Waltherr 98 Hämer, Walter 98 Haskell, Francis 49 Heine, Heinrich 38 Heinrich II. (röm. Kaiser u. dt. Kg.) 34 Henke, Josef 53 Henning, Eckart 16, 49, 70 Herder, Johann Gottfried 81 Hering, Rainer 9, 20, 102 Hermand, Jost 38 Herodot 43 Hesse, Hermann 63 Heuß, Alfred 104 Himmelmann, Beatrix 12 Hilberg, Raul 55 Hitler, Adolf 33, 53 Hobsbawm, Eric 104
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Personenregister
Hochedlinger, Michael 71 Höffe, Otfried 15 Huchel, Peter 36, 41 Humboldt, Wilhelm von 24 Huizinga, Johan 33, 49 Jauß, Hans-Robert 39 Joachim, Joseph 6 Joyce, James 39 Kafka, Franz 46 Keitel, Christian 16 Kempowski, Walter 59 Kirchner, Ernst-Ludwig 77 Kirn, Paul 26, 47 Kluttig, Thekla 102 Kohl, Helmut 30 Konstantin I. (römischer Kaiser) 53 Koselleck, Reinhart 26, 103f Kracauer, Siegfried 43f, 46 Kreikamp, Hans-Dieter 84 Kretzschmar, Robert 16 Lasker-Schüler, Else 58 Leesch, Wolfgang 73, 80 Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) 30, 37 LeRoy Ladurie, Emmanuel 32 Lethen, Helmut 28 Levi, Primo 39 Luther, Martin 32 Margalit, Arvishai 37 Marrou, Henri-Irenée 49, 88 McClelland, Charles E. 69 McLuhan, Marshall 40 Meinecke, Friedrich 80 Meisner, Heinrich Otto 15, 63, 69 Menne-Haritz, Angelika 16, 63, 65, 83 Merton, Robert K. 10 Moller, Sabine 35 Moltke, Helmuth Graf von 106 Müller, Peter 61 Müller, Wolfgang 99 Müsebeck, Ernst 73f Musial, Torsten 25 Na’aman, Shlomo 55 Napoleon Bonaparte (Napoleon I.) 30 Neuheuser, Hanns Peter 67 Newton, Isaac 10 Nietzsche, Friedrich 30, 37, 55, 107 Nimz, Brigitta 17 Nolte, Burkhard 90 Nolte, Ernst 24 Otto III. (röm. Kaiser u. dt. Kg.) 34
Paganini, Niccolò 97 Papritz, Johannes 70f, 73, 80 Pascal, Blaise 54 Pöhlmann, Markus 108 Posner, Ernst 40 Proust, Marcel 39, 46f Rammingen, Jacob von 70 Rhode-Jüchtern, Anna-Christine 93 Ridener, John 20 Rilke, Rainer-Maria 45 Ringer, Fritz K. 73 Rostal, Max 97 Rousseau, Jean-Jacques 41, 81 Ruiz-Pipó, Ruth 99 Sahl, Hans 104 Scandella, Domenico, gen. Menocchio 32 Schapur I. (persischer König) 89 Schellenberg, Theodore R. 84 Schlesinger, Charlotte 93 Schockenhoff, Volker 16, 86 Schönberg, Arnold 101 Schreker, Franz 46, 94 Schröder, Ute 84 Schulze, Gerhard 107 Schütz, Erhard 82 Solschenizyn, Alexander 30 Sperber, Manès 28 Sprengel, Peter 81 Steinmetz, Willibald 83 Sütterlin, Ludwig 58 Tal, Josef 46 Thukydides 43 Treitschke, Heinrich von 61f Troeltsch, Ernst 28 Tschuggnagg, Karoline 35 Tucholsky, Kurt 108 Uhl, Bodo 82, 84 Valla, Lorenzo 53 Vaughan Williams, Ralph 97 Voltaire, François-Marie (Arouet) 54 Wellmann, Annika 21 Welzer, Harald 35 Wencker, Jacob 70 Wenzel, Cornelia 104 Wetzel, Justus Hermann 99 White, Hayden 21 Wiech, Martina 82 Wilkomirski, Benjamin 53 Zwetajewa, Marina 94
Vom „Archiv“ ist in Wissenschaft und Öffentlichkeit heute oft die Rede; in Kulturtheorien wie in der Informationstechnik ist das Wort beliebt. Wie aber lassen sich die historischen Archive gedanklich fassen und welcher Platz gebührt ihnen im Diskurs um Gedächtnis und Geschichte? Die Kleine Theorie des Archivs, die hier in überarbeiteter und aktualisierter Form vorgelegt wird, greift diese Fragen auf und schlägt eine Brücke zwischen Archivwissenschaft und Geschichtstheorie. Archivarbeit versteht sie als Aspekt der Erinnerungskultur. Selbst als Archivar tätig, bezieht der Verfasser seine praktischen Erfahrungen in die Reflexion ein.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10644-3