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German Pages 318 Year 2001
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 848
Kirchenasyl im Rechtsstaat: Christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik Kirchenrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung zum sogenannten Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland
Von
Jochen Grefen
Duncker & Humblot · Berlin
JOCHEN GREFEN
Kirchenasyl im Rechtsstaat: Christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 848
Kirchenasyl im Rechtsstaat: Christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik Kirchenrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung zum sogenannten Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland
Von
Jochen Grefen
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Grefen, Jochen: Kirchenasyl im Rechtsstaat : christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik : kirchenrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung zum sogenannten Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland / Jochen Grefen. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 848) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09834-X
Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09834-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreie09718-lm) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort
Diese Arbeit wurde von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln im Sommersemester 1998 als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt zunächst Herrn Prof. Dr. Rüfner. Er hat die Arbeit betreut und zentrale Anregungen gegeben. Herrn Prof. Dr. Brunner danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens, Herrn wiss. Assistent Dr. Tillmanns für seine Kritik, seinen Rat und sein nie nachlassendes Interesse. Dem Ev. Studienwerk e.V. Villigst danke ich für die Aufnahme in die Promotionsförderung. Besonders danke ich meiner Frau, die in unermüdlicher Kleinarbeit das Druckbild erstellt hat. Schließlich danke ich meinen Eltern. Ihnen ist die Arbeit gewidmet. Mönchengladbach, im Dezember 2000
Jochen Grefen
Inhaltsverzeichnis
Α. Einleitung
21
I. Problemübersicht
21
Π. Der Gang der Untersuchung
22
B. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
24
I. Das Asylwesen als religiöses Schutzprinzip
24
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
25
1. Vorläufer des kirchlichen Asylrechts
25
a) Das Asylwesen in Altisrael
25
b) Die griechische Asylie
26
c) Römisches Reich
28
2. Die Entstehung des Kirchenasyls in der Spätantike
28
a) Das Kirchenasyl im spätantiken Kirchenrecht
28
aa) Das Konzil von Sardica (a.343) und die Bischofspflicht zur Interzession 29 bb) Die Begründung des Asyls als Kirchenrecht im Asylrechtskanon des Konzils von Orange (a. 441) 30 ( 1 ) Die loci reverentia (2) Die intercessio
31 31
(3) Das Zusammenwachsen beider Aspekte in der Konzilsformel von Orange 33 b) Das Kirchenasyl im spätantiken weltlichen Recht
34
aa) Die Asylkonstitutionen des Codex Theodosianus (a. 438): "De his, qui ad ecclesias confugiunt" bb) Die Asylrechtsreform Kaiser Leos (a. 466) 3. Die Entwicklung im byzantinischen Reich
34 37 38
a) Die Asylrechtsbestimmungen im Codex Iustinianus (a. 535)
38
b) Das Asylrecht in der nachjustinianischen Gesetzgebung
39
8
Inhaltsverzeichnis 4. Die Entwicklung im weströmischen Reich und seinen Nachfolgestaaten.40 a) Der Durchbruch des Asylgedankens im Frühmittelalter
41
b) Die klassische Ausprägung des kirchlichen Asylrechts durch die mittelalterliche Kanonistik 43 5. Der Niedergang des kirchlichen Asylrechts und seine Gründe
46
a) Die Problematik der Immunitätsprivilegien
47
b) Der Einfluß der Reformation
47
c) Die Degeneration des Kirchenasyls zur schlichten Machtfrage zwischen Staat und Kirche
48
d) Die Souveränitätsdoktrin des aufgeklärten Vernunftstaates
49
6. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert ΙΠ. Zusammenfassung
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland I. Kirchenasyl und kirchliche Ausländerarbeit
50 50
52 52
1. Umfrageergebnisse zum Kirchenasyl und seinen Adressaten
52
2. Exkurs: Kirchenasyl für Bürger des eigenen Staates in Diktaturen
53
3. Kirchenasyl für Bürger fremder Staaten in Demokratien
54
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls 1. Praxisbeispiele zum modernen Kirchenasyl
56 56
a) Aufnahme einer algerischen Familie in der Ev. Kirchengemeinde Dortmund-Brackel
56
b) Aufnahme einer kurdischen Familie in der kath. Kirchengemeinde St. Sebastian in Gilching
63
2. Typische Erscheinungsmerkmale des Kirchenasyls
67
a) Aufnahme ausländischer Flüchtlinge in den räumlich-gegenständlichen Bereich einer Kirchengemeinde
69
b) Mitwirkung eines kirchlichen Leitungsorgans
69
c) Abwendung einer drohenden Abschiebung
70
3. Einzelne Erscheinungsformen des Kirchenasyls
73
a) Akutes und präventives Kirchenasyl
74
b) Lautes und stilles Kirchenasyl
75
c) Offenes, halboffenes und verstecktes Kirchenasyl
79
d) Sonstige Erscheinungsformen 4. Abgrenzung des Kirchenasyls von ähnlichen Phänomenen
81 83
Inhaltsverzeichnis a) Privatasyl
83
b) Kirchenbesetzung
85
c) Unterbringung in kirchlichen Räumen aufgrund behördlichen Ersuchens
87
5. Behördliche Reaktionen auf kirchliche Asylgewährungsakte
88
a) Gewaltsame Räumung
88
b) Die Bilanz der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche
90
aa) Erledigungszahlen für 1995
90
bb) Die empirische Untersuchung "Zufluchtsort Kirche" (1990-1995).91 cc) Kritische Anmerkungen dazu c) Besonderheiten in einzelnen Bundesländern; das Clearingverfahren "Kirchenasyl" in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ΙΠ. Die Kirchenasylbewegung 1. Entstehung und Entwicklung der Kirchenasylbewegung 2. Die Organisationsstruktur der Kirchenasylbewegung a) Kirchenasyl vereine und lokale Netzwerke
93 94 97 97 100 100
b) Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" ..102 c) Die Stiftung INLIA 3. Folgen für die Praxis: Vereinheitlichung durch Vernetzung IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik 1. Das Grundrecht auf Asyl und die staatliche Flüchtlingspolitik a) Die Altregelung des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F
103 104 105 106 106
b) Die Neuregelung des Art. 16 a GG und ihre Auswirkungen im Asylverfahrensrecht 110 2. Die Kritik der Kirchen an der staatlichen Asylpolitik a) Kirchliche Äußerungen vor der Neuregelung des Asylrechts
114 115
aa) Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 25.9.1986 "Unsere Verantwortung für Flüchtlinge"
116
bb) Stellungnahme des Rats der EKD zur Aufnahme von Asylsuchenden vom 28.7.1986
116
cc) Bericht der Kommission der EKD für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten "Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land" (1986) 117 dd) Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der deutschen Bischofskonferenz zur Aufnahme von Flüchtlingen und zum Asylrecht vom 26.11.1992 118 b) Die Kritik der Kirchen an den Auswirkungen des neuen Asylrechts, insbesondere des mangelnden Abschiebeschutzes 120
10
Inhaltsverzeichnis V. Zusammenfassung
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
125
127
I. Die kirchenrechtliche Fragestellung
127
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
127
1. Die reverenda loci und das Heiligtumsasyl a) Das Heiligtumsasyl im katholischen Kirchenrecht aa) Die Rechtslage nach dem CIC von 1983
128 128 128
(1 ) Die im Schrifttum vertretene These von der Fortgeltung des Heiligtumsasyls des can. 1179 CIC/1917 im neuen Kodex
128
(2) Can. 1213 CIC/1983 als Auffangtatbestand?
130
(a) Das klassische Asylrecht als Ausfluß der immunitas ecclesiarum localis
130
(b) Der Regelungsgehalt des can. 1213 CIC/1983 und die Reichweite seines Immunitätsgedankens
131
(c) Die Anwendbarkeit des can. 1213 CIC/1983 auf die Kirchenasylpraxis 133 (aa) Die Reformgeschichte des can. 1213 CIC/1983
134
(bb) Das Selbstverständnis der Kirchenasylbewegung
135
(cc) Ergebnis
136
(d) Anspruch auf schonende Durchsetzung staatlicher Maßnahmen am heiligen Ort bb) Das Heiligtumsasyl als Gewohnheitsrecht
136 137
(1) Die Grundsätze des Lib. I Tit. Π CIC/1983 für die Geltung von Gewohnheitsrecht (2) Anwendung dieser Grundsätze und Ergebnis cc) Das Heiligtumsasyl im Staatskirchenvertragsrecht
137 138 139
(1) Die Materien des deutschen Staatskirchenvertragsrechts
139
(2) Exkurs: Ausländische Staatskirchenverträge
140
dd) Das Heiligtumsasyl im Partikularrecht
141
ee) Ergebnis
141
b) Das Heiligtumsasyl im evangelischen Kirchenrecht aa) Der Ausschluß heiliger Orte nach evangelischem Kirchenverständnis
141 142
bb) Terminologische Kritik am Begriff "Kirchenasyl" im Bereich der evangelischen Kirche
143
cc) Ergebnis
144
Inhaltsverzeichnis 2. Die intercessio und das Interzessionsasyl a) Das Interzessionsasyl im evangelischen Kirchenrecht aa) Die Interzession als Aufgabe der Kirche
144 144 144
(1) Diakonie und Seelsorge als Aufgaben der Kirche in den Landeskirchenordnungen und -Verfassungen 145 (2) Die Interzession als diakonische und seelsorgerliche Aufgabe der Kirche in kirchlichen Verlautbarungen
145
(a) Die zehn Thesen des Rates der EKD vom 10.9.1994
146
(b) Stellungnahmen aus dem Bereich der Landeskirchen
147
(c) Gutachten der theologischen Fakultät Zürich
148
(d) Zusammenfassung 148 bb) Die Unterbringung erfolgloser Asylbewerber als Ausprägung der Beistandspflicht 149 (1) Die Thesen der EKD: Unterkunft ohne Bruch staatlichen Rechts
149
(2) Die landeskirchliche Sicht: Unterkunft trotz Bruch staatlichen Rechts
150
(3) Der Grundsatz der ultima ratio und seine Konkretisierung in Handlungsanleitungen zum Kirchenasyl
152
cc) Der Adressat der Beistandspflicht bei möglicher Regelverletzung durch Kirchenasyl 154 (1) Die individualistische Position des Rates der EKD: Beistand als Pflicht des einzelnen Christen 155 (2) Die kollektivistische Position der Landeskirchen: Beistand als Pflicht auch der Kirchengemeinde
156
(3) Diakonie und Seelsorge durch Interzession als Dienst der Gemeinde
157
(4) Interzession in Verantwortung der Kirchengemeinde durch Ausübung des Hausrechts und weitere Handlungen
157
dd) Die Rechtmäßigkeit asylgewährender Kirchenvorstandsbeschlüsse am Beispiel des Rechts der Evangelischen Kirche im Rheinland 158 (1) Formelle Rechtmäßigkeit
159
(a) Verbandszuständigkeit der Gemeinde gemäß Art. 5 und 7 KORh; Organzuständigkeit des Presbyteriums gemäß Art. 104 KORh 159 (b) Mitwirkung des Superintendenten gemäß Art. 20 Abs. 3 KORh; Verfahren und Form gemäß Art. 117 ff. KORh (2) Materielle Rechtmäßigkeit
161 161
(a) Die sich aus dem Sinn und Zweck der Interzession ergebenden Beschränkungen 161
12
Inhaltsverzeichnis (aa) Vorratsbeschlüsse
162
(bb) Konkrete Asylgewährungsbeschlüsse
162
(aaa) Beschlüsse betreffend das öffentliche Kirchenasyl. 162 (bbb) Beschlüsse betreffend das versteckte Kirchenasyl. 162 (ccc) Beschlüsse betreffend das halboffene Kirchenasyl.. 163 (ddd) Sonstige Asylbeschlüsse
163
(b) Die aus dem Grundsatz der ultima ratio folgenden Beschränkungen
163
(c) Beschränkungen aus dem Staatskirchenvertragsrecht, insbesondere aus den Freundschaftsklauseln
164
(d) Beschränkungen aus dem Grundsatz der Überparteilichkeit.. 166 (aa) Überparteilichkeit und Mäßigung als Rechtsgrundsätze kirchlichen Wirkens; insbesondere im Pfarrerdienstrecht 166 (bb) Kirchenasyl als Ausdruck politischen Wirkens
168
(cc) Kirchenasyl als Wahrnehmung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags
169
(dd) Zwischenergebnis
175
(e) Keine Beschränkungen durch das staatliche Recht mit Wirkung im kirchlichen Recht ee) Ergebnis b) Das Interzessionsasyl im katholischen Kirchenrecht aa) Die Interzession als Aufgabe der Kirche
176 178 178 179
(1) Beistand als sittliche Pflicht in den Aussagen des Π. Vaticanums zum Wirken der Kirche in der Welt und der katholischen Soziallehre
179
(2) Die Konkretisierung der Beistandspflicht im kanonischen Gesetzbuch
181
(a) Can. 222 § 2 CIC: Die Einstandspflicht aller Christgläubigen für soziale Gerechtigkeit
181
(b) Can. 383 § 4 CIC: Die Einstandspflicht der Diözesanbischöfe fìir Caritas und Diakonie
181
(c) Can. 529 § 1 CIC: Die Einstandspflicht der Pfarrer für die Seelsorge an den Heimatvertriebenen
182
(d) Can. 747 § 2 CIC: Die Einstandspflicht der Kirche für die Grundrechte der menschlichen Person und das Heil der Seelen
182
(3) Ergebnis bb) Die Unterbringung erfolgloser Asylbewerber als zulässige Ausprägung der Beistandspflicht
183 183
Inhaltsverzeichnis (1) Bischof Karl Lehmann
183
(2) Kardinal Georg Sterzinsky
184
(3) Eizbischof Friedrich Kardinal Wetter
184
(4) Bischof Josef Dammertz
185
(5) Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Asyl- und Flüchtlingspolitik vom 9.3.1995
185
(6) Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht (1997)
185
(7) Würdigung und Ergebnis
186
cc) Die Pfarrgemeinde als Adressat der Beistandspflicht
186
dd) Erzwingbarkeit des Interzessionsasyls
187
ee) Die Rechtmäßigkeitsanforderungen an asylgewährende kirchliche Rechtsakte 187 ( 1 ) Formelle Rechtmäßigkeit (a) Verbandskompetenz der Pfarrgemeinde gemäß cann. 515 §3, 518 CIC
188 188
(b) Die Organkompetenz des Pfarrers gemäß cann. 515 § 1, 519 CIC (c) Die Mitwirkung anderer Organe der Pfarrgemeinde (aa) Pfarrgemeinderat (bb) Vermögensverwaltungsorgan (d) Oberhirtliche Genehmigungserfordernisse (2) Materielle Rechtmäßigkeit
188 189 189 191 193 194
(a) Beschränkungen aus dem Sinn und Zweck der Interzession 194 (b) Keine Ausschlußgründe im Staatskirchenvertragsrecht (c) Kein Verstoß gegen das Überparteilichkeits-, Unabhängigkeits- und Mäßigungsgebot ff) Ergebnis 3. Kirchliches Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam a) Widerstandsrecht aa) Widerstand im Recht der katholischen Kirche
195 195 195 195 196 196
bb) Widerstand im Recht der evangelischen Kirche
197
cc) Politisches Wächteramt der Kirchen
197
dd) Kirchenasyl und Widerstand
198
b) Ziviler Ungehorsam
199
aa) Begriff des zivilen Ungehorsams
199
bb) Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam
201
14
Inhaltsverzeichnis ΠΙ. Ergebnis
202
£. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls I. Interzessionsasyl als Aufgabe der Kirche 1. Die Kirchengemeinde als Anspruchsteller
203 203 203
2. Verfahrensbeteiligung und Nichtintervention als Anspruchsbegehren.... 204 Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
205
1. Grundrechtsbindung der Kirchen als möglicher Verpflichtungsgrund zur treuhänderischen Mitwirkung im staatlichen Asylverfahren
205
a) Verpflichtung kraft ihres Körperschaftsstatus
206
b) Verpflichtung kraft ihrer öffentlichen Gewalt
207
c) Verpflichtung kraft ihrer hoheitlichen Gewalt
208
d) Verpflichtung kraft ihrer sozialen Mächtigkeit
209
e) Ergebnis
209
2. Das Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV
210
a) Eigenständige Bedeutung neben Art. 4GG
210
b) Der Gewährleistungsbereich des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV aa) Persönlicher Gewährleistungsbereich: Die Kirchengemeinde als Rechtsträger bb) Sachlicher Gewährleistungsbereich: Interzessionsasyl als
212 212
Rechtsgegenstand
213
(1) "Ordnen" und "Verwalten"
213
(2) "Eigene Angelegenheiten"
214
(a) Objektive Betrachtungsweise
214
(aa) Gerhard Anschütz
214
(bb) Godehard Josef Ebers
215
(cc) Joachim Wieland
215
(dd) Ergebnis: Das Asylwesen als objektiv staatliche Angelegenheit
216
(b) Subjektive Betrachtungsweise
216
(aa) Bundesverfassungsgericht
216
(bb) Martin Heckel
217
(cc) Konrad Hesse
217
(dd) Axel Frhr. von Campenhausen
218
Inhaltsverzeichnis (ee) Ergebnis: Das Asylwesen als Angelegenheit der Kirchen
218
(c) Stellungnahme: Die Auslegungsrelevanz des kirchlichen Selbstverständnisses 219 (aa) Die historische Aufgabenscheidung
219
(bb) Deren Versagen bei neuen Aufgaben
219
(cc) Das Bekenntnisargument
220
(dd) Das Säkularitätsargument
220
(ee) Vergleich mit Art. 28 Abs. 2 GG
221
(ff) Die staatliche Souveränität
221
(gg) Das Kirchenrechtsverständnis
223
(d) Schlußfolgerungen für das Kirchenasyl
224
(aa) Das Interzessionsasyl
225
(bb) Das Verstecken von Asylbewerbern
225
cc) Der Gewährleistungsbereich des Selbstbestimmungsrechts: Abwehr- oder auch Leistungs- bzw. Teilhaberecht?
226
(1) Die klassische Statuslehre nach Georg Jellinek: status negativus, status positivus, status activus
227
(2) Leistungsrechte im Normbereich von Freiheitsrechten
228
(a) Rechtsprechung und Schrifttum
228
(b) Die Unterscheidung von Teilhabe- und Leistungsrechten..230 (3) Die Teilhabefunktion des Selbstbestimmungsrechts: Interzessionsasyl und Verfahrensteilhabe
231
(4) Politische Teilhabe?
232
(5) Anspruch auf finanzielle Unterstützung?
233
(6) Ergebnis
233
dd) Verfassungsimmanente Grenzen des Schutzbereichs
234
(1) Die Konzeption verfassungsimmanenter Grenzen
234
(2) Das staatliche Gewaltmonopol als Grenze
234
(3) Kirchenasyl und staatliches Gewaltmonopol
236
(4) Verfassungstreue und Gesetzesgehorsam
236
(5) Ergebnis
237
c) Die Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch staatliche Eingriffe...237 aa) Nichtbeteiligung der Kirchengemeinde am Asyl verfahren
238
bb) Polizeiliche Räumung
238
cc) Strafverfolgung
239
16
Inhaltsverzeichnis d) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: Das für alle geltende Gesetz i.S.d. Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV als Schranke des Schutzbereichs 239 aa) Das Asylverfahrensrecht als Schrankengesetz für den Sachbereich des Interzessionsasyls
240
bb) Der Begriff des "für alle geltenden Gesetzes"
240
(1) Die Definition Johannes Heckeis von 1932 und ihre heutige Bedeutung 241 (2) Die Wechselwirkungslehre des Bundesverfassungsgerichts ...243 (3) Die Bereichsscheidungslehre
245
(4) Die Zuordnungs- bzw. Abwägungslehre
246
(5) Stellungnahme: Die Entbehrlichkeit einer Abwägung bei möglicher Bereichsscheidung
247
(a) Bereichsscheidung und Selbstbestimmung
247
(b) Keine konsequente Bereichsscheidung ohne Mißachtung des kirchlichen Auftrags 248 (c) Die Notwendigkeit einer Abwägung
248
cc) Die Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Schrankenzweck: Interzessionsasyl und staatliches Asylrecht 249 (1) Das staatliche Asylrecht als für "alle geltendes Gesetz"
250
(2) Die Güterabwägung
251
(a) Konkret-individuelle oder abstrakt-typologische Betrachtungsweise
251
(b) Die abzuwägenden Güter und Interessen
252
(aa) Der Zweck des staatlichen Asylrechts (bb) Der Zweck des Interzessionsasyls (c) Die Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung (aa) Geeignetheit und Erforderlichkeit des staatlichen Asylrechts
253 253 254 254
(bb) Angemessenheit des staatlichen Asylrechts im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht 254 (aaa) Der staatliche Zweck in Gestalt eines allgemeinen Gesetzes
255
(bbb) Die Nähe des geregelten Sachgebiets zum kirchlichen Bekenntnis 255 (ccc) Die Rückkopplung von Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV an Art. 4 GG; das Problem der Schrankendivergenz 256 (ddd) Die Rückkopplung des staatlichen Asylrechts an Verfassungsbelange, insbesondere an Art. 16 a GG 258
Inhaltsverzeichnis (eee) Das Prinzip der Freundschaflsklauseln
262
(ff!) Kein Widerspruch zum Gleichheitssatz
263
e) Ergebnis
263
3. Die Glaubens-, Bekenntnis- und Glaubensausübungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1,2 GG 264 a) Der Schutzbereich
264
b) Kein Anspruch auf einen weitergehenden Schutz des Asylbewerbers durch eine bestimmte Behördenentscheidung 264 c) Kein Eingriff durch das staatliche Asylrecht in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit
265
4. Die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG als Recht der Kirchengemeinde?
266
5. Exkurs: Verfahrensteilhabe auch für Private?
267
a) Die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 2. Alt. GG als Recht des einzelnen 267 aa) Die psychische Integrität als Schutzgut der Gewissensfreiheit ...267 bb) Verweigerungs- oder auch Aktionsrecht?
267
cc) Das Wohlwollensgebot und die Schranken der Gewissensfreiheit; Abwehr-, aber kein Teilhaberecht 268 dd) Das Wohlwollengebot im Strafrecht; schuldmindernde, aber nicht rechtfertigende Wirkung einer Gewissensentscheidung ....269 b) Glaubensausübungsfreiheit, Art. 4 Abs. 2 GG 6. Sonstige verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinde
271
a) Art. 13 GG (Schutz der Wohnung)
271
b) Art. 17 GG (Petitionsrecht)
273
c) Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit)
274
d) Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht)
274
e) Grundrecht auf Ungehorsam?
275
f) Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit)
276
ΙΠ. Rückschlüsse für das einfache Recht
2 Grefen
270
276
1. Das Prinzip verfassungskonformer Auslegung
276
2. Ausgewählte Bestimmungen des einfachen Rechts
277
a) § 71 AsylVfG i.V.m. § 51 VwVfG (Asylfolgeverfahren)
277
b) § 55 AuslG (Duldung)
278
c) § 57 AuslG (Abschiebehaft)
280
d) § 92 AuslG, §§ 84 - 86 AuslVfG, §§ 257 f. StGB (strafrechtliche Verantwortlichlichkeit)
283
18
Inhaltsverzeichnis
F. Zusammenfassung
284
I. Zur Geschichte des kirchlichen Asylrechts
284
Π. Zur Praxis des modernen Kirchenasyls
285
ΙΠ. Zur kirchenrechtlichen Einordnung des Kirchenasyls
286
IV. Zur verfassungsrechtlichen Einordnung des Kirchenasyls
287
Literaturverzeichnis
290
Sachverzeichnis
316
Abkürzungsverzeichnis
AfkKR
Archiv für katholisches Kirchenrecht
BAF1
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
BÄK
Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche
can.
canon
cann.
canones
EKD
Evangelische Kirche in Deutschland
EKiR
Evangelische Kirche im Rheinland
EKL
Evangelisches Kirchenlexikon
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
epd
Evangelischer Pressedienst
EssGespr
Essener Gespräche über Staat und Kirche
ev.
evangelische
EvStL
Evangelisches Staatslexikon
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FR
Frankfurter Rundschau
GFK
Genfer Flüchtlingskonvetion
GS
Gaudium et Spes
HbdStKirchR
Handbuch des Staatskirchenrechts
HK
Herder Korrespondenz
HRG
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte
Jh.
Jahrhundert
kath.
katholische
KLD
Katholischer Lager Dienst
KNA
Katholische Nachrichtenagentur
KORh
Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland
KSL
Katholisches Soziallexikon
KStA
Kölner Stadtanzeiger
KuR
Kirche und Recht
Abkürzungsverzeichnis
20 KVerf
Kirchenverfassung
LThK
Lexikon für Theologie und Kirche
luth.
lutherische
ND
Neues Deutschland
RAC
Reallexikon für Antike und Christentum
SZ
Süddeutsche Zeitung
ThPr
Theologia Practica
TRE
Theoligische Realenzyklopädie
TrThZ
Trierer Theologische Zeitschrift
WAZ
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
ZevKR
Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
Für die übrigen Abkürzungen wird verwiesen auf Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl., Berlin, 1993.
Α. Einleitung I. Problemübersicht Seit einigen Jahren nehmen evangelische und katholische Kirchengemeinden ausländische Flüchtlinge in kirchlichen Räumen auf 1. Bei den Personen handelt es sich vornehmlich um Asylbewerber, deren Asylgesuche durch die staatlichen Behörden und Gerichte abgelehnt wurden und die nach geltendem Asyl- und Ausländerrecht zur Ausreise verpflichtet sind. Die Kirchengemeinden versuchen mit ihrer Vorgehensweise eine drohende Abschiebung zumindest zeitweilig abzuwenden. Sie sehen sich zu einem Eingreifen verpflichtet, weil nach ihrer Meinung das staatliche Recht und seine Anwendung Flüchtlinge nicht zuverlässig vor einer Abschiebung in lebensbedrohliche Situationen schützt. Mit der Aufnahme von Flüchtlingen verbinden sie die Erwartung, daß die staatlichen Behörden den Kirchenraum nicht antasten und die Anwendung von Zwangsmitteln unterlassen. Kirchliche Gemeinden und Gruppen bezeichnen ihr Handeln mit dem Begriff "Kirchenasyl". Damit knüpfen sie bewußt an ein historisches Rechtsinstitut des kirchlichen Rechts an. Zugleich wird von kirchlicher Seite betont, daß das altkirchliche Asylrecht damit nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, gemeint sei2. Gleichwohl ist die rechtfertigende Absicht der Redeweise vom "Kirchenasyl" unübersehbar. In den Medien und im wissenschaftlichen Schrifttum verfestigte sich schließlich der Begriff "Kirchenasyl" zu einem Schlagwort, unter dem der genannte Sachverhalt mit ungewöhnlicher Heftigkeit diskutiert wird 3. Als anti-rechtsstaatliches Handeln4, gar als Anstachelung
1 Vgl. vorläufig nur Just, Konflikt mit dem Staat im Dienste der Humanität, in: Asyl von unten, S. 117 f., der als Ergebnis einer quantitativen Befragung von 1993 mindestens 1900 Fälle anführen kann; s.a. v. Münch, "Kirchenasyl", NJW 1995, S. 565 sowie unten S. 90 ff. 2
Vgl. unten S. 143 Vgl. aus dem Schrifttum zuletzt etwa Peißl, "Kirchenasyl" - gelebter Grundrechtsschutz oder Affront gegen den Rechtsstaat?, BayVBl. 1999 S. 137 ff, Fessier , Kirchenasyl im Rechtsstaat, NWVB1. 12/99, S. 449 ff, M. H. Müller, Rechtsprobleme beim "Kirchenasyl", Baden-Baden 1999 sowie die folgenden Nachweise. 3
4
So v. Münch, "Kirchenasyl", NJW 1995, S. 566; ähnlicher Tenor bei Scholz, "Kirchenasyl" ist rechtswidrig, in: Auflehnung gegen Unmenschlichkeit (aus: Weltbild Nr.
22
Α. Einleitung
zum Widerstand5 kritisiert oder als subsidiärer Menschenrechtsschutz6 postuliert, ist das Kirchenasyl seit dem Jahre 1994 Gegenstand einer innerkirchlichen und öffentlichen Auseinandersetzung. Im Verlauf der Debatte bildete sich eine weitgehend einheitliche kirchliche Position aus7. Die Kirchen rekurrierten auf eine christliche Beistandspflicht, welche es auch im demokratischen Rechtsstaat gebiete, notfalls gegen staatliches Recht zu handeln und Kirchenasyl zu gewähren8. Um so schärfer trat die grundlegende Differenz zur staatlichen Sicht hervor. Der Staat berief sich auf sein Asylgewährungsmonopol, welches der Kirche und ihren Vertretern abverlange, eine ablehnende staatliche Asylentscheidung als letztgültig zu akzeptieren. Die Kirchen haben in besonderer Weise den Beistand für Flüchtlinge zu ihrer Aufgabe gemacht, weil Christus selbst ein Fremder und Flüchtling war, wovon die Evangelien Zeugnis ablegen9. Sie treffen mit ihrem Anliegen auf einen Staat, der in einem langandauernden Prozeß der Säkularisierung seinen Leitungsvorrang in der Gesellschaft erst durchsetzen mußte. Das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Kirchen in seiner rechtlichen Verfassung wird an der Problematik des Kirchenasyls besonders greifbar: Hat der Staat einen räumlich-gegenständlichen oder materiell-geistlichen Kirchenraum als einen Glaubens- und Bekenntnisraum zu akzeptieren, welcher sich dem staatlichen Zugriff entzieht (wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Konsequenzen?) oder maßt sich die Kirche eine Kompetenz an, die im religiös-neutralen Staat keinen Bestand haben kann?
I I . Der Gang der Untersuchung Das Thema "Kirchenasyl im Rechtsstaat" berührt Fragen verschiedener Rechtsbereiche, aber auch Grundsatzfragen rechtsphilosophischer, theologi-
13 v. 9.6.1995), S. 55; Bell/Skibitzki, "Kirchenasyl" - Affront gegen den Rechtsstaat?, S. 5\,Peißl, "Kirchenasyl", BayVBl. 1999, S. 139. 5 So v. Westphalen, 11.7.1997, S. 5.
Gewissen contra Rechtsstaat, in: Rheinischer Merkur v.
6
So Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 97.
7
Dazu unten S. 144 ff. (ev. Kirche) und S. 178 fT. (kath. Kirche).
8
Die öffentliche Debatte findet sich zusammengefaßt bei Just, "Kirchenasyl - wer trägt die Verantwortung?", in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 3 f. sowie ders., Die Kirchenasylbewegung in Deutschland, in: Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, Dokumentation, S. 9 f. 9 Matthäus 2, 13 ff.; aus dem AT nur: 2. Mose 22, 20; 23, 9; 5. Mose 10, 18; 27, 19; Psalm 146, 9; Jeremia 7, 6; Sachaija 7,10.
Π. Der Gang der Untersuchung
23
scher sowie ethischer Natur. Diese Untersuchung beschränkt sich auf die kirchenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Probleme im Hinblick auf eine mögliche Rechtfertigung dieser kirchlichen Handlungsform. Das staatliche Asyl- und Ausländerrecht wird nur behandelt, soweit es zum Verständnis bzw. zur Vollständigkeit der Darstellung unerläßlich ist. Ethisch-theologische Bewertungen sowie Fragen der Legitimität und Moralität kirchlichen Handelns bleiben weitgehend ausgeklammert. Sie werden nur dort berücksichtigt, wo die rechtliche Untersuchung einen Blick auf die Motive kirchlicher Asylgewähr erfordert. Die Darstellung beginnt mit einem historischen Überblick, der Ursprung, Ausprägung und Bedeutung des Asylrechts der christlichen Kirche in der abendländischen Rechtsentwicklung aufzeigt. Damit ist die Grundlage für die Erörterung des "modernen Kirchenasyls" gelegt, welches begrifflich an das historisch überkommene kirchliche Asylrechtsinstitut anknüpft (B.). Der anschließende Teil sucht zu klären, was heute unter "Kirchenasyl" in tatsächlicher Hinsicht zu verstehen ist. Dabei ist eine Untergliederung des Begriffs sowie seine Abgrenzung zu ähnlichen Phänomenen erforderlich. Die Handlungsform des Kirchenasyls ist in den Kontext des übergeordneten Konflikts zwischen Staat und Kirchen um eine humane Ausländer- und Flüchtlingspolitik zu stellen, der sich an der Reform des Asylgrundrechts im Sommer 1993 erneut entzündet hat (C.). Ausgehend vom faktischen Kirchenasyl ist dann zu untersuchen, ob das geltende Kirchenrecht beider Großkirchen für dieses Phänomen eine Grundlage bietet. Dabei ist an das historische Asylrecht der Kirche anzuknüpfen und nach Kontinuitäten und Brüchen zu fragen (D.). Schließlich ist das Ergebnis der kirchenrechtlichen Untersuchung am geltenden Verfassungsrecht zu messen und zu fragen, ob den Kirchen aufgrund der verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien ein Anspruch auf Achtung des Kirchenasyls und des damit verfolgten Begehrens zusteht (E.).
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls L Das Asylwesen als religiöses Schutzprinzip Allgemein kann unter Asyl1 die Praxis einer Rechtsgemeinschaft verstanden werden, bestimmten Personen, Orten oder Zeiträumen das Privileg zuzuerkennen, solchen Menschen, welche den Rechtsschutz dieser Gemeinschaft jedenfalls teilweise entbehren, dauernd oder für gewisse Zeit einen besonderen Schutz zu gewähren2. Derartige Asylformen begegnen uns bereits auf einer Stufe der Kulturentwicklung, auf der eine ausgeprägte Trennung religiöser und politischer Institutionen noch ausstand3. Das Asylwesen gehört damit zu den Einrichtungen, die bei allen Völkern vor der Ausbildung staatlicher Gemeinwesen hervortraten 4. Seine Ursprünge lagen in einer natürlichen, sakralmagischen Scheu des Menschen vor dem Heiligen5. Dahinter stand die religiöse Vorstellung eines Bereichs, der allein dem Zugriff des Göttlichen vorbehalten und von der menschlichen Sphäre geschieden war6. So galt bei den Papuas auf Neuguinea jeder Mann, der in den Tempel flüchtete, als vollständig sicher, weil dem Frevler, der es wagen würde, in der Geisterhalle einen Speer
1
Zum griechischen Begriff siehe unten S. 26.
2
Vgl. Hellwig, Das Asylrecht der Naturvölker, S. 1; Siebold, Asylrechr d. röm. Kirchen, S. 3; Η emslers, Formen des Asylrechts, S. 10. 3 Henssler, Formen des Asylrechts, S. 14; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 3. Dabei kann die Tradition des Asylwesens auch in Gesellschaften ohne starke institutionelle Autoritäten dem Bereich des Rechtlichen zugeordnet werden. Vgl. zu diesem Zustand der Ungeschiedenheit der Nonnkomplexe Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen, Bd. 5, S. 5. 4
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 3. Henssler, Formen des Asylrechts, S. 8, weist darauf hin, daß diese Erkenntnis erst der ethnologischen Jurisprudenz der Jahrhundertwende (etwa H. Post, Grundriß der etnologischen Jurisprudenz, 1894; ders., Afrikanische Jurisprudenz, 1887; J. Köhler, Zur Lehre von der Blutrache, 1885; A. Hellwig, Das Asylrecht der Naturvölker, 1903) zu verdanken ist. 5
3. 6
Vgl. Henssler, Formen des Asylrechts, S. 14; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. Dazu näher unten S. 27.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
25
zu werfen, die Arme und Beine einschrumpfen würden (örtliches Asyl)7. Bei den afrikanischen Bambaras war derjenige fortan unverletzlich, der es schaffte, den heiligen Häuptling anzuspucken (persönliches Asyl)8. Die norwegischen Germanenstämme kannten bestimmte heilige Fluchtfristen, die es verboten, einen Mörder vor Ablauf eines Zeitraums von einem Tag zu verfolgen (zeitliches Asyl)9. Vor diesem Hintergrund wird die kulturgeschichtliche Bedeutung des Instituts für die Ausbildung eines geordneten Rechtswesens erkennbar: In archaischen Rechtsordnungen eröffnete das Asyl dem Verfolgten einen Schutzraum vor seinem Verfolger. Dieser war in Ermangelung einer institutionalisierten Rechtspflege darauf angewiesen, seine Rechte im Wege der Selbsthilfe durchzusetzen. Dabei kam es vielfach zu blindwütiger Vergeltung und willkürlicher Anspruchsdurchsetzung, als deren Gegeninstrument das Asylwesen wirkte. Die Ruhezeit des Asyls ermöglichte dem Verfolger, den Fall erneut zu überdenken, mit dem Verfolgten in Verhandlungen zu treten und den Rechtsstreit, häufig unter Aushandlung einer Buße, ohne Blutvergießen beizulegen10.
II. Das Asylrecht der Kirche in Europa 1. Vorläufer des kirchlichen Asylrechts Das Asylrecht der christlichen Kirche, wie es im Mittelalter zur klassischen Ausprägung gelangte, hatte seine Vorbilder in der Antike und wurde später mit genuin christlichen Vorstellungen verknüpft. Vorläufer waren das durch die Bibel überlieferte israelitische Asylrecht sowie die griechische Asylie.
a) Das Asylwesen in Altisrael In Altisrael bezweckte das Asylwesen eine Privilegierung des unvorsätzlich handelnden Totschlägers. Seine Rechtswohltat bestand darin, den Fahrlässig-
7
Bei Henssler, Formen des Asylrechts, S. 14 (nach Chalmers/Gill, Neu-Guinea, 1886, S. 156). 8
Hellwig, Das Asylrecht der Naturvölker, S. 81.
9
Henssler, Formen des Asylrechts, S. 126.
10
Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen, Bd. 5, S. 131.
26
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
keitstäter der weiterhin als legitim empfundenen Blutrache zu entziehen11. Das sog. Bundesbuch regelte den Asylschutz durch Annäherung an den Altar im Tempel Jachwes (2. Mose 21, 13 f.) 12 . Die deuteronomistische Gesetzgebung, welche die Zerstörung aller Tempel mit Ausnahme des Tempels von Jerusalem anordnete, ersetzte das Tempelasyl durch einen Schutz in sog. Asylstädten, der ausfuhrlich und zweckrational geregelt war (vgl. 4. Mose 35, 9 ff.; 5. Mose 4, 41 ff.) 13 .
b) Die griechische Asylie In Griechenland war das Asylwesen weit verbreitet 14. Schon der griechische Begriff des ασυλος τοπος, welcher in seiner latinisierten Kurzform "Asyl" bis in die Gegenwart gebräuchlich ist, deutet auf den besonderen Einfluß des griechischen Vorbildes hin 15 . Das hellenistische Recht kannte ein Sylerecht als Recht zur gewaltsamen Durchsetzung von Ansprüchen (συλαν = "wegführen") 16. Demgegenüber bezeichnete der Begriff ασυλος τοπος den Ort und Rechtszustand, an und in dem die eigenmächtige Zwangsvollstreckung verboten war 17. Der Zustand der Asylie war damit ein Sylanverbot, welches das allgemeine Sylerecht ein-
11 Vgl. 5. Mose 19, 4 - 6 sowie Crüsemann, Gottesvolk, in: Asyl von unten, S. 60; Falk, Art. Asylrecht, Π. Altes Testament, TRE, Bd. 4, S. 318, Z. 15 ff; Gutheil, Kirchenasyl, RKZ 1993, S. 113; Henssler, Formen des Asylrechts, S. 31.; Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 50; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 15. Zum Ganzen Bader, Asyl im Alten Testament, in: Kirchenasyl, S. 18 ff. sowie ausführlich Lohr, Das Asylwesen im Alten Testament. 12
Näher Crüsemann, Gottesvolk, in: Asyl von unten, S. 57 f; ders., Tora, S. 132 ff u. 205 ff; Becker-Hinrichs, Asyl im Gotteshaus, ThPr 1989, S. 105; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 11 f.; Falk, Art. Asylrecht, Π. Altes Testament, TRE, Bd. 4, S. 318. Zum Bundesbuch Wanke, Art. Bundesbuch, TRE, Bd. 7, S. 412ff; SchwienhorstSchönberger, Art. Bundesbuch, LThK 2 , Bd. 2, S. 793. 13 Crüsemann, Gottesvolk, in: Asyl von unten, S. 59 f.; Becker-Hinrichs, Asyl im Gotteshaus, ThPr 1989, S. 105; zum Verfahren Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 19. Zum Hintergrund der Kultreform Spiekermann, Art. Josia, TRE, Bd. 17, S. 265. 14 Vgl. zum Folgenden insbesondere die detaillierte Untersuchung Schlesingers, Die griechische Asylie (1933). 15
Vgl. Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 48.
16
Dazu ausführlich Schlesinger, Griechische Asylie, insbesondere S. 6 ff, 16,22.
17
Schlesinger, Griechische Asylie, S. 27; Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 48; Gutheil, Kirchenasyl, RKZ 1993, S. 112 f.; Wißmann, Art. Asylrecht, I. Religionsgeschichtlich, TRE, Bd. 4, S. 315 (Z. 46).
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
27
schränkte. Begründet war dies in der griechischen Auffassung von der Trennung der Wirklichkeit in Profanes und Sakrales18. Diese Trennung wurde nicht metaphysisch, sondern räumlich-territorial verstanden19. Der Bezirk des Sakralen war den Göttern vorbehalten und ihrem Regiment unterstellt, der Bereich des Profanen war Ort menschlichen Regierens20. So bedurfte ein jedes Heiligtum der Kenntlichmachung seiner Grenzen, die in Griechenland durch Steine erfolgte, wo natürliche Grenzen nicht ausreichten21. Innerhalb dieser Grenzen befand sich der Mensch auf heiligem Boden, welcher ihm eine besondere Ehrfurcht abverlangte, wollte er nicht den Zorn der hier verehrten Gottheit herausfordern 22. Bestimmte alltägliche Handlungen waren von vornherein ausgeschlossen, etwa das Weiden von Vieh auf heiligem Boden oder das Schlagen von Holz im heiligen Hain23. Nach griechischer Auffassung war es daher selbstverständlich, daß die Furcht vor dem Zorn der Götter ein Zurückschrecken vor jeder Gewalttätigkeit an dieser Stätte forderte 24. Deshalb bewahrte man in Tempeln die Staatsschätze auf und häufig deponierten auch Privatleute dort ihr Vermögen25. Aus diesem räumlichen Trennungsdenken folgte, daß das allgemeine Gewohnheitsrecht der selbst geübten Zwangsvollstreckung, vollzogen am heiligen Ort, zum Sakralfrevel wurde26. Durch seine Anwesenheit im Tempel hatte der Asylflüchtling Anteil an der Sphäre des Göttlichen und war, ohne Rücksicht auf seine Schuld, dem Zugriff seiner Verfolger entzogen27. Eine Asylverletzung wurde als eine Mißachtung des dort verehrten Gottes angesehen, weil der Angriff auf seinen Schützling als Über-
18 Wißmann, Art. Asylrecht, I. Religionsgeschichtlich, TRE, Bd. 4, S. 315 (Z. 51); vgl. Wenger, Art. Asylrecht, Π. Griechich-hellenistisch, RAC, Bd. 1, Sp. 837; Schlesinger, Griechische Asylie, S. 29. 19 Riedel-Spangenberger, S. 130.
Der Rechtsschutz des Asyl im Kirchenrecht, TrThZ 1991,
20
Riedel-Spangenberger, a.a.O.; vgl. Wißmann, Art. Asylrecht, I. Religionsgeschichtlich, TRE, Bd. 4, S. 316 (Z. 3). 21
Schlesinger, Griechische Asylie, S. 29.
22
Siebold, Asylrecht der röm. Kirche, S. 23 f.
23
Ebd.
24
Schlesinger, Griechische Asylie, S. 29; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 23.
25
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 23 f.
26
Schlesinger, Griechische Asylie, S. 30; Wenger, Art. Asylrecht, Π. Griechischhellenistisch, RAC, Bd. 1, Sp. 837. 27
Schlesinger, Griechische Asylie, S. 33; ausführlich zur Anteilnahme am Göttlichen durch Berührung des Heiligen kulturübergreifend Henssler, Formen des Asylrechts, S. 16 ff.
28
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
hebung galt, die mit Todesstrafe oder Verbannung geahndet wurde28. Aufgrund dieser weitgehenden Schutzwirkung nahm die Asylie in Griechenland ein solches Ausmaß an, daß die Tempel und heiligen Bezirke häufig mit Flüchtlingen, vor allem Sklaven, Fremden, säumigen Schuldnern und Verbrechern, überfüllt waren29.
c) Römisches Reich Das Römische Reich, in dem sich vor der Kaiserzeit keine eigenen Asylvorstellungen ausgebildet hatten, spielte eine Mittlerfunktion. Hier konnten sich überkommene religiöse Vorstellungen der Antike, christliches Gedankengut der entstehenden Kirche und römisches Rechtsdenken in der Spätantike zu einem spezifisch christlichen Asylrecht bilden30.
2. Die Entstehung des Kirchenasyls in der Spätantike Die Ausprägung des Asylwesens zu einem kirchlichen Rechtsinstitut erfolgte, nachdem das Christentum im Jahre 380 römische Staatsreligion geworden war 31. Auch im weltlichen Recht wurde es bald Gegenstand umfangreicher Regelungen32.
a) Das Kirchenasyl im spätantiken Kirchenrecht Für seine Entstehung als kirchliches Recht waren die Beschlüsse des Konzils von Sardica (a. 343) sowie die Kanones des Konzils von Orange (a. 441) grundlegend.
28
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 24.
29
Widder, Kirchliches und weltliches Asylrecht, AfkKR 78, S. 26; vgl. zum mit dem Asylwesen eng verknüpften Institut des Schutzflehens (Hiketeia) Schlesinger, Griechische Asylie, S. 32 ff. 30
Vgl. Landau, Traditionen, in: Asyl am heiligen Ort, S. 49 f.
31
Bindschedler, Asylrecht, S. 7; Bulmerincq, Asylrecht, S. 74 f; Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3; Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR 113 (1988), S. 33. 32 Vgl. zum Folgenden die ausführliche Quellendurchsicht von Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 139 ff.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
29
aa) Das Konzil von Sardica (a. 343) und die Bischofspflicht zur Interzession Das im Jahre 343 in Sardica tagende Konzil 33 bezog sich in seinen Beschlüssen auf die bis dahin schon geübte Praxis der Bischöfe, für Verfolgte bei der kaiserlichen Gewalt Fürsprache zu halten34. Diese sogenannte Interzession bestätigte das Konzil, indem es den Bischöfen erlaubte, unter Wahrung ihrer Residenzpflicht, ihre Fürbitte für Verfolgte und Bedrängte durch einen Diakon an den Kaiser zu richten35. Darüber hinaus verpflichtete es die Bischöfe auch formlich, sich für Hilfesuchende einzusetzen, die sich in die Barmherzigkeit der Kirche geflüchtet hatten36. Diese Interzessionspflicht beinhaltete die Aufgabe der Geistlichkeit, zwischen die staatliche Gewalt und den der weltlichen Gerichtsbarkeit Verfallenen zu treten. Ziel war, eine Begnadigung oder Strafmilderung zu erwirken 37. Zur Beschreibung der Zufluchtsuchenden verwendete der Konzilsbeschluß den Terminus "ad misericordiam ecclesiae confugiant"38. Im älteren Schrifttum sah man darin die erste überlieferte Rechtsgrundlage des Kirchenasyls im Sinne eines Heiligtumsasyls39. Neuere Untersuchungen arbeiteten jedoch unter Verweis auf die im Römischen Reich gebräuchlichen Parallelbegriffe "ad militam confugere, ad patrocina confugere" heraus, daß sich der Terminus nicht auf die sakrale Örtlichkeit bezog, sondern
33
Dazu Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, § 24 1.
34
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 381, insbes. Fn. 2; vgl. aus jüngerer Zeit Ducloux, Naissance du droit d'asile, S. 26 ff. (Le concile de Sardique). 35
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 381, Fn. 2.
36
Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 156; Loening, Kirchnrecht, Bd. 1, S. 319; Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3 f.; Landau, Art. Asylrecht, m. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 320 (Z. 10); kritisch Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 381, Fn. 2. 37
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 35; Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 156; Robbers, S. 32 f.; Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 320 (Z. 10). 38
Concilium Serdicensis c. 5 (ed. C.H. Turner, Ecclesiae occidentalis monumenta iuris antiquissima, 1899-1939, 1. Bd., S. 464), abgedruckt bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 156 und Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 4,Fn. 1. 39 Etwa Bulmerincq, Asylrecht, S. 74 f. und Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37, S. 3; dies erschien zunächst schlüssig, weil auch der Codex Theodosianus, der sich in seiner vierten Konstitution des 45. Titels unstreitig auf das kirchliche Asylrecht bezieht, in der Titelüberschrift die Worte "ad ecclesiae confiigiunt" verwendet.
30
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
auf die Kirche als Institution40. Daher war, wer sich in die Barmherzigkeit der Kirche flüchtete, nicht kraft einer besonderen Qualität eines heiligen Ortes geschützt, sondern durch die Interzession, die bischöfliche Fürbitte, die er dort erwarten durfte 41. Weil das religiöse Asyl nach dem überkommenen Verständnis dieser Zeit jedoch Heiligtumsasyl war, kann in den Konzilsbeschlüssen von Sardica noch keine rechtliche Regelung der kirchlichen Asylie gesehen werden42. Erst das Konzil von Orange verband den Interzessionsgedanken mit dem Prinzip des Heiligtumsasyls zum kirchlichen Asylrecht.
bb) Die Begründung des Asyls als Kirchenrecht im Asylrechtskanon des Konzils von Orange (a. 441) Der erste überlieferte kirchliche Rechtssatz, der eine Asylgewährungspflicht der Kleriker und damit ein Asylrecht der Kirche regelte, war ein vom Konzil von Orange im Jahre 441 erlassener Kanon43. Er bestimmte, daß diejenigen, welche sich zur Kirche geflüchtet hatten, nicht ausgeliefert werden durften, sondern aufgrund der Ehrwürdigkeit der Stätte (loci reverentia) und der Beistandspflicht (intercessio) zu verteidigen waren44. Die Norm war bald in verschiedenen Kanonessammlungen verbreitet und wurde schließlich in das Dekret Gratians aufgenommen 45. Die Begründungen, auf die sich das Konzil stützte, die loci reverentia und die intercessio, sind zunächst streng voneinander zu trennen. Beide Institute entspringen unterschiedlichen ideengeschichtlichen Zusammenhängen46.
40
So für die gleichlautenden Termini im Codex Theodosianus Langenfeld, Christianisierungspolitik, S. 158; ihm folgend Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 271. 41
Ähnlich schon Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 381, Fn. 2.
42
Vgl. Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 320 (Z. 15) und Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 156. 43 Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z. 17); Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 158. 44 Orange (a. 441), c. 5: "Eos qui ad ecclesiam confugerint tradi not oportere, sed loci reverentia et intercessione defendi" (Concilia Galliae a. 314 - a. 506, ed. C. Munier, 1963, S. 79, zitiert nach Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieakker, S. 158). 45
Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 158, m. w. Quellennachw. 46
Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 55.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
31
(1) Die loci reverentia Der Gedanke der Ehrwürdigkeit heiliger Stätten wurzelte in der hellenistischen Begründung des Asylrechts als Schutz des Sakralen. Das Konzil griff den Sakralgedanken wie selbstverständlich auf und knüpfte damit an das heidnische Tempelasyl an. Der religiöse Sonderfriede der geweihten Stätte verbot die Gewaltanwendung als profane Handlung, die dem Zweck der Stätte widerstrebte. Den Schutz, der vormals für eine Vielzahl heidnischer Heiligtümer durch das Asylprivileg rechtlich gesichert war, beanspruchte die etablierte Kirche jetzt auch für ihre Bauten47.
(2) Die intercessio Demgegenüber beruhte die bischöfliche Fürbitte auf den christlichen Fundamentaltugenden der Nächstenliebe und Barmherzigkeit 48. Sie konnte sich damit auf eine eigene Tradition berufen, welche ursprünglich nichts mit dem überlieferten Heiligtumsasyl gemein hatte49. Diente die Zurückhaltung profaner Gewalt vom Ort des Heiligen der Ehrung der Gottheit und kam nur mittelbar dem Flüchtling zugute, so galt die intercessio dem Flüchtling selbst. Bei ihr stand die Unterstützung des notleidendenden Menschen im Vordergrund und sie war prinzipiell nicht an einen bestimmten Ort gebunden50. Die Wirksamkeit der Beistandspflicht hing allein davon ab, ob und inwieweit sich der Bischof für den Verfolgten verwendete51. Ihr Zweck bestand darin, daß der Bischof vermittelnd tätig werden mußte, um im Wege der Verhandlung mit der staatlichen Gewalt oder dem privaten Verfolger einen Kompromiß auszuhandeln, der der kirchlichen Grundsatzforderung nach Milde Rechnung trug 52. Dabei war belanglos, ob der Betreffende zu Recht oder zu Unrecht verfolgt wurde oder ob bereits ein Strafurteil gegen ihn ergangen war. Angesichts der Grausamkeit der Strafen jener Zeit machte die Kirche es sich in jedem Fall zur Pflicht, Fürsprache zu halten und Barmherzigkeit zu erflehen 53. Führende Kle47
Ebd.
48
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, 43; vgl. zu diesen Tugenden Matthäus 5, 38.43; Römer 12,19; 1. Petrus 3, 9. 49
Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 55.
50
Vgl. Gutheil, RKZ 1993, S.112,113.
51
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 381.
52
Ebd.
53
Vgl. Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 56; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 45.
32
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
riker schritten auf diese Weise vor allem gegen die Todesstrafe ein54. So schrieb etwa Augustinus an Macedonius, den kaiserlichen Statthalter von Afrika, daß, da die moralische Besserung nur in diesem Leben möglich sei, es der Nächstenliebe entspreche, für den Verbrecher zu interzedieren 55. Aber auch andere Personengruppen konnten sich der kirchlichen Fürsprache sicher sein. Häufig waren es Sklaven, die, von ihren Herren als seelenloses Eigentum mißhandelt, in die Kirchen flohen 56. Die Bischöfe bemühten sich in solchen Fällen, auf die jeweiligen Eigentümer einzuwirken, ihre Sklaven nicht drakonisch abzustrafen. Bei säumigen Schuldnern genügte häufig schon, den Gläubiger zu einer Stundungsabrede zu bewegen. War dies nicht möglich, kam es vor, daß Kirchenmänner die Schulden der Bittsteller tilgten57. Das Rechtsinstitut der Interzession, das "Dazwischen-treten" der Kirchenvertreter, bezweckte nicht, die Rechtspflege des spätantiken Staates außer Kraft zu setzen. Die Kirche konnte sich im Gegenteil auf eine Eigentümlichkeit des römischen Strafprozeßrechts berufen, die auch Dritten gestattete, zugunsten des Angeklagten zu intervenieren 58. Ziel der Kirche war, den Herrschenden beharrlich die Botschaft des Evangeliums von der Barmherzigkeit seines Stifters in Erinnerung zu rufen und damit die Härten des spätantiken Zwangsstaates zu mildern 59. Dabei wurden weder die Zulässigkeit staatlichen Strafens 60 noch die herrschende Eigentumsordnung oder die Rechtmäßigkeit der Sklaverei grundsätzlich in Frage gestellt61.
54 Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 321 (Z. 45); näher zur Bekämpfung der Todesstrafe durch die frühe Kirche Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 35 ff 55
36.
Augustinus, ep. 54 (alias 153), zitiert nach Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S.
56
Wie die Regelung im Codex Theodosianus IX, 45, 3 u. 5 zeigt, vgl. unten S. 36.
57
Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 4 mit Beispiel.
58
Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 296 ff.; Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S.36. 59 "Das Asylrecht war der Kampf der Menschlichkeit gegen die Barbarei, der Kampf des christlichen Bewußtseins der Gnade und der Versöhnung mit der Rohheit und Rachsucht einer ungebildeten und harten Zeit" (so Berner, Wirkungskreis des Strafgesetzes, Berlin 1853, S. 177 f, zitiert nach Widder, Kirchliches und weltliches Asylrecht, AfkKR 78, S. 29). 60 61
Vgl. dazu Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S.33 f.; s. a Römer 13,1-4.
Vgl. Widder, Kirchliches und welÜiches Asylrecht, AfkKR 78, S. 29 und Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 283.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
(3) Das Zusammenwachsen beider Aspekte in der Konzilsformel
33
von Orange
Dennoch konnte die Kirche mit ihrem Interzessionsanliegen nicht auf unbedingte Nachgiebigkeit des Staates hoffen. Das Interesse an einem ungeschmälerten und unverzögerten Steueraufkommen und die wirtschaftlichen Belange einer staatstragenden Oberschicht sahen sich durch die kirchliche Intervention gefährdet 62. Darum signalisierte die kaiserliche Gesetzgebung der Jahre 391 und 398, daß eine kirchliche Fürbitte für Steuerschuldner, Sklaven und sonstige mit öffentlichen Pflichten belegte Personen nicht auf Erfolg rechnen konnte63. Für die Kirche hingegen war es nur konsequent, im fortdauernden Ringen mit dem Staat mehr und mehr auch die Heiligkeit des Kirchenbaus zu betonen. Die Berufung auf die Tradition des heiligen Ortes mußte als wirksames Argument gegenüber einem Staat dienen, welcher sich durch die Übernahme des Christentums als Staatsreligion selbst für die Kirchen und ihre Bauten verantwortlich sah. Begünstigend wirkte das aus dem römischen Sachenrecht überkommene Institut der res sacrae64. Danach schied etwa ein Tempel mit seiner Weihe aus dem weltlichen Eigentumsverband aus und wurde zu Divinaleigentum65. Die Lehre der res sacrae ließ es nicht als systemwidrig erscheinen, die Kirche einer anderen Rechtshoheit zuzuordnen und ihre Bauten von profanen Zugriffen freizustellen 66, wie es die kaiserliche Gesetzgebung des fünften Jahrhunderts zeigt67. Der Staat setzte sich fortan einem erheblichen Rechtfertigungsdruck gegenüber der stärker werdenden Kirche aus, wenn er die Grenzen des Heiligen überschreiten wollte. Die reverentia loci erschien als die bewährte Form, dem neuen Gedanken der Interzession Raum und Geltung zu verschaffen. Im Vordergrund stand nicht mehr der heilige Ort, sondern die Fürsprache der Gemeinde, vertreten durch den Bischof 68. Der Schutzraum des Heiligen eröffnete dabei eine Ruhezone, in der sich die bischöfliche Fürsprache erst entfalten konnte und gegen vorzeitige Erfolglosigkeit abgesichert war 69. So wuchsen schließlich beide In62
Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 272.
63
Dazu unten S. 34.
64
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 38 m.w.N.
65
Ebd.
66
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 39.
67
Vgl. unten S. 34 ff.
68
W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 415
69
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 381.
3 Grefen
34
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
stitute zu einem eigenständigen kirchlichen Asylrecht zusammen und wurden durch das Konzil von Orange auf eine einheitliche Formel gebracht70.
b) Das Kirchenasyl im spätantiken weltlichen Recht Auch im weltlichen Recht des fünften Jahrhunderts finden sich erste Regelungen über ein Asylrecht der Kirche. Bedeutsam sind die Kaisergesetze über das Kirchenasyl im Codex Theodosianus (a. 438) und ein Reformgesetz Kaiser Leos aus dem Jahre 466.
aa) Die Asylkonstitutionen des Codex Theodosianus (a. 438): "De his, qui ad ecclesias confugiunt" Der Codex Theodosianus, die im Jahre 438 vollendete Sammlung des spätrömischen Kaiserrechts 71, beinhaltet in seinem neunten Buch unter dem 45. Titel "De his, qui ad ecclesias confugiunt" fünf Konstitutionen, deren älteste im Jahre 392 und deren jüngste im Jahre 432 erlassen worden ist 72 . In der einleitenden Konstitution aus dem Jahre 392 bestimmte Kaiser Thedosianus I., daß öffentliche Schuldner (publicos debitores), die Zuflucht bei den Kirchen genommen hatten, aus den Verstecken herausgeholt werden sollten73. Kleriker, die ihnen dennoch Schutz gewährten, waren für die Schulden ihrer Schützlinge haftbar zu machen74. Die zweite Konstitution des Kaisers Arcadius von 397 ordnete an, daß Juden, die, von Strafklage oder Schulden bedrängt, zum Schein zur christlichen Kirche übertreten wollten, nicht eingelassen und aufgenommen werden durften, bis sie ihre Schulden beglichen oder ihre Unschuld bewiesen hatten75. Die dritte Konstitution des Kaisers Arcadius 70
Siebold, Asylrecht d. röm. Kirche, S. 40; vgl. Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z.22). 71
Näher Peter, Art. Codex Theodosianus, HRG, Bd. 1, Sp. 627 f.
72
Codex Theodosianus IX, 45, 1-5, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. I, 2., S. 519 ff.; dazu eingehend Herrmann , De his qui ad ecclesias confugiunt, in: ConradGedächnisschrift, S. 271 ff. und Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37, S. 5 ff. 73
Codex Theodosianus IX, 45, 1, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. 1,2, S. 519.
74
Ebd.; dazu Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: ConradGedächnisschrift, S. 272; Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 142 und Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 5. 75 Codex Theodosianus IX, 45, 2, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. I, 2, S. 519; dazu Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 273 und Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 6.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
35
aus dem Jahre 398 ging in ihren Einschränkungen noch weiter. Nach ihr war jeder, der öffentlich oder privat Rechnung zu legen hatte (Sklaven, Curialen, Staatsschuldner, Prokuratoren oder Purpurschneckensammler 76) und sich zur Kirche flüchtete, Kleriker wurde oder von Klerikern verteidigt wurde, in seinen früheren Stand zurückzuversetzen77. Enthielten die bisher genannten Bestimmungen keine Bestätigung, sondern allenfalls Beschränkungen eines kirchlichen Asylrechts, erkannte Kaiser Theodosius II. es im Jahre 431 in der vierten Konstitution ausdrücklich an78. Danach79 sollten "die Tempel des höchsten Gottes" den Bedrängten oflfenstehen. Für einer Verletzung des Asyls durch gewaltsame Entfernung des Flüchtlings aus dem Kirchenbau wurde die Todesstrafe angeordnet. Der Schutzbereich umfaßte die Kirche selbst sowie die angrenzenden Baulichkeiten (Zellen, Häuser, Gärten, Bäder, Höfe und Säulengänge) bis zu den äußersten Toren. Die Ausweitung des Schutzbereichs über den eigentlichen Kirchenbau hinaus sollte vermeiden, daß die Flüchtigen "an den heiligen Altären sich zum Essen niederlassen oder daselbst übernachten, was die Geistlichen aus ehrfurchtsvoller Rücksicht zu verbieten, die Flüchtlinge aus Frömmigkeit zu unterlassen haben"80. Der Asylschutz kam nur dem Unbewaffneten zugute. Wer mit Waffen erschien, sollte ermahnt werden, diese abzulegen. Weigerte er sich, so war er aus der Asylstätte gewaltsam zu entfernen. In diesem Falle, so die Konstitution, haben "wir (...) dann vor Gott und vor dem Bischof unsere Milde hinlänglich dargetan"81. Die Entfernung durfte allerdings nur aufgrund kaiserlichen Befehls oder richterlicher Verfügung nach vorheriger Unterrichtung des Bischofs erfolgen.
76
Die Purpurschneckensammler (murileguli) waren mit zahlreichen öffentlichen Lasten belegt, weil der Purpurmuschelfang ein Monopol des Kaisers war; vgl. Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 273, Fn. 8. 77
Codex Theodosianus IX, 45, 3, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. I, 2, S. 519; dazu Herrmann , De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 273 und Grashof,\ Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 6. 78
Codex Theodosianus IX, 45, 4, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. I, 2, S. 520 f.; Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 274. 79 Dt. Übersetzung bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 8 f.; vgl. auch Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 275. 80
So die Konstitution selbst; s. Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 8 f. 81
Bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 9.
36
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
Bereits im Folgejahr 432 wurde diese großzügige Regelung, welche weder eine zeitliche Begrenzung noch eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Schutzsuchender enthielt, für Sklaven eingeschränkt82. So bestimmte die fünfte Konstitution 8 3 , daß ein entflohener Sklave nicht länger als einen Tag an der Asylstätte verweilen durfte. In dieser Zeit sollte der zuständige Kleriker den Eigentümer benachrichtigen und auf Verzeihung der Sklavenverfehlung durch den Herren hinwirken. War dieser zur Nachsicht bereit, durfte er den Sklaven "ohne jeglichen Groll im Herzen" aus der Kirche abführen. Bewaffneten Sklaven hingegen sollte der Asylschutz nicht zugute kommen. Die ausfuhrliche Regelung der Kirchenflucht in einem eigenen Titel des Kodex verdeutlicht, daß sich die weltliche Obrigkeit bereits einer ausgedehnten Praxis kirchlicher Fürsprache und der Asylsuche in kirchlichen Bauten gegenübersah, welche sie zu einer intensiven gesetzgeberischen Auseinandersetzung mit Asylfragen veranlaßte84 Dabei bezogen sich die ersten drei Konstitutionen wohl ursprünglich nicht auf die Asylie am heiligen Ort, sondern auf die kirchliche Interzession im Wege der Fürbitte für Personengruppen, die dem Staat gegenüber vor allem infiskalischer Hinsicht besonders verpflichtet waren85. Die Anerkennung des Kirchenasyls durch weltliches Recht erfolgte für das oströmische Reich erst durch die Konstitution des Jahres 431, die dem räumlich-gegenständlichen Bereich der Kirche einen Schutz zubilligte, der nicht unmittelbar von der bischöflichen Fürsprache abhing86. In ähnlicher Weise hatte für das weströmische Reich bereits ein Gesetz von 419 die Kirchenbauten mit einem Umkreis von 50 Schritten geschützt und einen Verstoß
82
Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 143.
83
Codex Theodosianus IX, 45, 5, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. I, 2, S. 526; dazu Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 276; Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 10. 84
Vgl. Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 52 f.
85
So die These Langenfelds, Christianisierungspolitik, S. 158 ff. und Herrmanns, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 271 (zusammenfassend S. 282), die das "confugere ad ecclesias" in den genannten Konstititionen als Flucht zur Institution Kirche verstehen; siehe dazu schon oben S. 30; offengelassen bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 142. 86 Langenfeld, Christianisierungspolitik, S. 138; Herrmann, De his qui ad ecclesias confugiunt, in: Conrad-Gedächnisschrift, S. 276. Ein Gesetz von 409, das im Theodosianus thematisch an anderer Stelle eingeordnet ist (Codex Theodosianus XVI, 8, 19) und ein Wegführen von Flüchtlingen verbietet, ist in der entscheidenden Passage unklar und bezieht sich wohl nicht auf eine Asylgewährung; vgl. dazu näher Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 143 m.w.N.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
37
dagegen als crimen sacrilegii eingestuft 87. Diese Regelung wurde jedoch nicht in den Kodex aufgenommen und fand daher keine große Verbreitung 88.
bb) Die Asylrechtsreform Kaiser Leos (a. 466) Im Jahre 466 erließ Kaiser Leo ein Reformgesetz, das um einen Ausgleich der Interessen zwischen Staat und Kirche bemüht war 89. Zunächst bestätigte er das geltende Asylrecht der Kirche und sicherte es durch die Androhung der Todesstrafe für den Asylbruch ab. Zugleich schaffte er die bislang geltende Haftung der Kirche für die Schulden der Flüchtlinge ab. An ihre Stelle trat ein System der Schuldenregulierung, wonach der Flüchtling im Asyl Auskunft über seine Schulden zu geben hatte. Für deren Regulierung haftete er mit seinem außerhalb wie innerhalb der Kirche befindlichen Vermögen. Die kirchlichen Ökonomen und Defensoren waren verpflichtet, den Flüchtling und seine Schuldenangelegenheiten unverzüglich zu untersuchen. Über das Ergebnis mußten sie die weltlichen Richter und sonstigen Betroffenen informieren. Sklaven sollten ihren Herren nach eidlich versprochener Verzeihung zurückgegeben werden90. Die Sanktion der gesetzlichen Schuldenübertragung, die den Klerus von einer Asylgewährung in diesen Fällen abhalten sollte, wurde ersetzt durch ein System, das die Kirche in das Verfahren der Schuldbeitreibung einband. Ihr kam nunmehr die Rolle einer am neutralen Ort im Allgemeininteresse tätigen Untersuchungs- und Vollstreckungsbehörde zu, die dem weltlichen Richter zur Seite stand91. Die Regelung bezweckte vor allem, das Kirchenasyl für den sensiblen Bereich der Steuerflucht zu entschärfen. Zugleich begann der Staat das Asylinstitut in seiner Funktion des Ausgleichs und der Beruhigung zu erkennen, welche eine geordnete Schuldenregulierung erst ermöglichten92.
87 Vgl. Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 143; ausführlich zum Gesetz von 419 Ducloux, Naissance du droit d'asile, S. 207 ff. 88
Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 143; das Gesetz ist enthalten in den Constitutiones Sirmondianae, ed. Th. Mommsen, Theodosiani, Bd. I, 2, S. 917. 89 Codex Justinianus I, 12, 5 (ed. P. Krüger/Th. Mommsen, Corpus Iuris Civilis, Bd. I); dazu Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 144. 90
Die wiedergegebene Norm fmdet sich in dt. Übersetzung bei Grashof, Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 11. 91
So Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 144.
92
Vgl. Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 144.
38
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
Damit ist die Durchsetzung des Kirchenasyls zu einem Rechtsinstitut der Spätantike aufgezeigt. Soweit es durch staatliches Gesetz geregelt war, suspendierte es im Interesse der Heiligkeit kirchlicher Gebäude das Recht der öffentlichen Gewalt, bestimmte Personen zwangsweise aus kirchlichen Räumen zu entfernen. Die weltliche Garantie des Kirchenasyls wirkte dabei wie ein staatliches Vollstreckungshindernis. Für die Dauer des Asyls war es der weltlichen Gewalt untersagt, Kirchenflüchtlinge zur Bestrafung zu ziehen oder sie durch Zwang zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen anzuhalten. Ein Recht auf Straflosigkeit oder Befreiung von seinen Verbindlichkeiten erlangte der Flüchtling dagegen nicht. In seiner kirchenrechtlichen Ausgestaltung erscheint das Kirchenasyl als ein die kirchlichen Beamten verpflichtendes vorläufiges Auslieferungsveibot. Seine innere Zielsetzung war darauf gerichtet, interzedierend tätig zu werden, um dem Flüchtling Erleichterung seiner Lage oder Milderung der ihm drohenden Strafe zu verschaffen. So kann das kirchliche Asylrecht in seiner ursprünglichen Gestalt nicht im Sinne eines dauerhaften Zustands aufgefaßt werden, sondern als ein Verfahren zur Durchsetzung kirchlicher Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen im weltlichen Bereich.
3. Die Entwicklung im byzantinischen Reich Im Oströmischen Reich prägte das byzantinische Staatskirchentum die weitere Entwicklung des Kirchenasyls. Hier nahm der Staat, anders als in Westeuropa, die Rolle der maßgeblichen Ordnungsmacht auch in religiösen Dingen ein 93 . Das kirchliche Asylrecht war bald Gegenstand der staatlichen Gesetzgebung, während kirchliche Rechtssätze hierzu fehlten 94.
a) Die Asylrechtsbestimmungen
im Codex Iustinianus (a. 535)
Der Codex Justinianus regelte das Asylrecht nach dem Vorbild des Codex Theodosianus in einem eigenen Titel "De his qui ad ecclesias confugiunt vel ibi exclamant" (Lib. I., Tit. 12). Darin wurde die Konzeption des Theodosius erheblich eingeschränkt95. Mörder, Ehebrecher und Jungfrauenräuber waren
93
Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Byzanz und zum byzantinischen Cäsaropapismus siehe Meyendorff, Art. Byzanz, TRE, Bd. 7, S. 501 f., Nr. 1.2. (Z. 33). 94 95
Landau, Art. Asylrecht, m. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 321 (Z.35).
Siehe zu den einzelnen Bestimmungen im Vergleich zum Codex Thedosianus Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 151 f.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
39
als Schwerverbrecher von den Vergünstigungen des Asyls ausgenommen96. Gleiches galt für Schuldner öffentlicher Abgaben97 und Steuereintreiber, die solche Abgaben veruntreuten 98. Erneut angeordnet wurde die persönliche Haftung der Kleriker, welche diese Personen in ihren Kirchen duldeten99. Darüber hinaus drohte ihnen als Strafe die Entfernung aus ihren kirchlichen Ämtern 100. Für Privatschuldner wurde der Asylschutz zwar nicht ausgeschlossen. Eine Vorführung vor Gericht unter Wahrung ihres Rechts auf Rückkehr in das Asyl und die Vollstreckung des Urteils sollte jedoch möglich sein101. Die Vertreter der Provinzen wurden angewiesen, in derartigen Angelegenheiten das Kirchenasyl nicht länger als dreißig Tage zu dulden. Zur Begründung wurde angeführt, daß anderenfalls die Streitigkeiten der Untertanen sich unendlich verlängerten 102. Insgesamt bezweckte die justinianische Gesetzgebung, den Interessenwiderstreit zwischen religiös motivierter Intervention und ungehinderter staatlicher Rechtsverfolgung durch persönliche Asylunfahigkeitsgründe und zeitliche Befristungen zu mildern und sich so der staatlichen Hoheit über den Bereich des Sakralen zu versichern.
b) Das Asylrecht in der nachjustinianischen Gesetzgebung In der Folgezeit wurde das Asylprivileg wieder ausgeweitet. Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (913-959) gewährte es auch bei Mord. Der asylsuchende Mörder sollte nur mit Verbannung und in besonders schweren Fällen 96 Diese und weitere (s. u.) Einschränkungen finden sich in den kaiserlichen Instruktionen, die den Vorstehern der Provinzen in der Novelle XVII "de mandatis principum" erteilt wurden: Nov. Just. 17, c. 7, abgedruckt bei Grashof,\ Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3 u. S. 18. 97 Nov. Just. 17 (a. 535), c. 7, § 1, bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3, 12 f.; s. a. Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 383. 98
Nov. Just. 128 (a. 535), c. 13, abgedruckt bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3 u. S. 13. 99 Edict. Just. X, c. 1, bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3 u. 13 f. 100
u. 14. 101
u. 17. 102
Edict. Just. X, c. 1, bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3 Nov. Just. 17, c. 6, bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3
Nov. Just. 17, c. 6, bei Grashof Gesetze der röm. Kaiser, AfkKR 37 (1873), S. 3 u. 17. Zum Asylrecht Justinians auch Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 383, m.w.N. zur kaiserlichen Gesetzgebung.
40
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
mit zwangsweisem Eintritt in ein Kloster bestraft werden 103. Im 11. Jahrhundert gab man das bisher geltende Prinzip auf, wonach der Flüchtling nach Verlassen des Schutzortes wieder voll der weltlichen Gerichtsbarkeit unterstand. Nunmehr sollten Körperstrafen nicht mehr gegen denjenigen verhängt werden, der im Asyl Kirchenbuße geleistet hatte104. Die Regelung zeigt, wie sehr Staat und Kirche auch in der Frage des Asylrechts miteinander verknüpft waren. Der Staat war bereit, die Buße im Kirchenasyl zur Abgeltung seines Strafanspruchs zu akzeptieren, eine Vorstellung, die in Westeuropa nur die Kirche vortrug 105. Das kirchliche Asylrecht konnte sich in Byzanz als ein staatliches Privileg bis zur Zerstörung des oströmischen Reiches unangefochten halten106.
4. Die Entwicklung im weströmischen Reich und seinen Nachfolgestaaten In Westeuropa trat allein die Kirche als Institution unbeschadet aus der Zeit der Völkerwanderungen heraus. In ihr lebte die römische Rechtskultur fort. Ihre Amtsträger vermittelten Autorität, Bildung, Rechtsprechung und die Technik der Beurkundung und Aktenführung 107. Erst allmählich bildeten sich in den Nachfolgestaaten Westroms Staatsgewalten aus, die der Kirche allenfalls auf der Ebene der Gleichordnung, keinesfalls der Überordnung, begegneten108. Die hier angelegte Dualistik zwischen Kirche und Staat, die die westeuropäische Geschichte weithin geprägt hat 109 , war für die Entwicklung des kirchlichen Asylrechts bestimmend. Es markierte die Grenze zwischen der von der Kirche theologisch begründeten Gerechtigkeit und dem jeweiligen weltlichen Rechtsempfinden 110. Am Ort des Heiligen erhob sich ganz praktisch die Frage nach der Reichweite der Staatsgewalt und ihrer Beschränkung durch die 103
Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z. 3).
104
Landau, Art. Asylrecht, ΠΙ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z.
10). 105
Vgl. Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 54.
106
Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z.
13). 107
Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 28.
108
So Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 55; vgl. Wieacker, rechtsgeschichte, S. 30 f. 109 110
Privat-
Dazu nur M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Hb., S. 480 f.
Riedel-Spangenberger, S. 129.
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1994,
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
41
Kirchengewalt. Sie mußte um so drängender werden, je mehr der Staat an Kontur gewann und die Anerkennung eines Gewaltmonopols forderte. So wurde gerade das Kirchenasyl zu einem maßgeblichen Indikator für das Kräfteverhältnis zwischen Kirche und Staat111. Dabei betrachtete die Kirche dieses Rechtsinstitut von Anfang an als ihre Domäne, gestaltete es durch kirchliche Rechtssätze aus und hielt an seiner grundsätzlichen Fortgeltung bis ins 20. Jahrhundert fest 112.
a) Der Durchbruch des Asylgedankens im Frühmittelalter Bereits das Konzil von Orange (a. 441) hatte das Kirchenasyl als Kirchenrecht statuiert 113 und mit einer Kirchenstrafe abgesichert: Derjenige, welcher sich zur Freipressung seines in das Asyl geflohenen Sklaven eines Sklaven der Kirche bemächtigte, sollte schwerster Kirchenstrafe (districtissima damnatio) unterfallen 114. Die Strafe wurde wenig später in einer gallischen kanonistischen Rechtssammlung115 konkretisiert und in verschiedenen Briefen des Papstes Gelasius I. (a. 492 - 496) erwähnt: Der Asylbrecher sollte der Exkommunikation verfallen, die Absolution konnte nur der Papst erteilen. 116 Die Exkommunikation war die schärfste Maßnahme der kirchlichen Strafgewalt und bewirkte den umfassenden Entzug der kirchlichen Gliedschaftsrechte 117. Die Schwere dieser Sanktion zeigt, welche Bedeutung die frühmittelalterliche Kirche dem Asylrecht beimaß. Sie bemühte sich mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln, dieses junge Rechtsinstitut in den ungeordneten Verhältnissen dieser Zeit durchzusetzen. Es gelang ihr bald, das Asylrecht in allen Nachfol-
111 Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1994, S. 129.; vgl. Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 394. 112
Vgl. Riedel-Spangenberger, 1994, S. 129. 113
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ
Oben S. 30 ff.
114
Orange (a.441), c. 6 (Concilia Galliae a. 314 - a. 506, ed. C. Munier, 1963, S. 79), abgedruckt bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 158. 115
Die Sammlung des sog. Π. Konzils von Arles, welche der 2. Hälfte des 5. Jhs. zugewiesen wird (iSiems, Entwicklung des Kirchenayls, in: Symposium Wieacker, S. 158). 116
Arles Π, c. 30 (Collectio canonica concilium Arelatense secundum nuncupata, c. 30, ed. C. Munier, Concilia Galliae a. 314 - a. 506, 1963, S. 120), wiedergegeben bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 158. 117
Rees, Strafgewalt der Kirche, S. 130 f.
42
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
gestaaten des römischen Reichs faktisch wie rechtlich zur Anerkennung zu bringen 118. Die häufige Erwähnung des Asylrechts in den germanischen Leges und Konzilskanones119 zeugt von einer vitalen Asylpraxis dieser Zeit, die von der starken Stellung der Kirche bestimmt war 120 . Die verschiedenen Regelungen zeigen eine deutliche Tendenz zur Ausweitung des Asylschutzes gegenüber der justinianischen Gesetzgebung121. Das große fränkische Reichskonzil von Orléans (a. 511) nannte Mörder, Ehebrecher und Diebe als Asylberechtigte und hob sie so bewußt hervor 122. Allerdings sollte die Inanspruchnahme des Asyls nicht zur Straflosigkeit führen, wenn der Schutzsuchende ein Verbrechen begangen hatte. Die Kirche beschränkte sich darauf, die eidliche Verpflichtung des Verfolgers auf Verzicht zur Vollstreckung von Leibesstrafen zu erwirken. Im Gegenzug sollte der flüchtige Schädiger eine Geldbuße zahlen. Konnte er sich nicht freikaufen, sollte nur die Verknechtung, nicht aber die Todesstrafe zulässig sein. In diesem Fall war der Flüchtling gegen eidliche Verzichtserklärung des Verfolgers auszuliefern. Brach er seinen Eid, traf ihn die Strafe der Exkommunikation.123 In ähnlicher Weise war der Asylschutz für Sklaven geregelt. Ihre Auslieferung war grundsätzlich nicht ausgeschlossen,
118 Bindschedler, Asylrecht, S. 12. Für germanische Asylvorstellungen in vorchristlicher Zeit gibt es keine sicheren Anhaltspunkte; vgl. Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z. 51). Zu Beginn des Jahrhunderts war die Frage nach dem Einfluß des Germanischen auf die Entwicklung des Asylrechts ein Teilausschnitt aus dem grundlegenden Streit zwischen "Germanisten" und "Romanisten" um den Anteil des Germanischen oder des Romanischen an der (deutschen) Rechtsentwicklung, vgl. dazu allgemein Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 403 ff. Ein Vertreter der "Germanisten" ist etwa Siebold (Asylrecht d. röm. Kirche, s. dort die Einleitung, S. 1 f.) dessen Werk teilweise problematisch ist, weil die wissenschaftliche Arbeit beider Lager nicht frei von ideologischen Voraussetzungen war; vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 407. 119
Siehe dazu für die einzelnen Germanenrechte die detaillierte Quellenübersicht bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 160 - 176; vgl. Bindschedler, Asylrecht, S. 10-16. 120
Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 166; Landau, Art. Asylrecht, m. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 322 (Z. 50). 121
25). 122 123
Landau, Art. Asylrecht, EL Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 323 (Z. Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 168.
Orléans (a. 511), c. 1 (MGH Concilia I, ed. F. Maassen, 1893, S. 2 f.), abgedruckt bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 168 u. Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 385, Fn. 1.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
43
durfte aber nur erfolgen, wenn sich der Eigentümer eidlich verpflichtete, den Sklaven nicht mit Leibesstrafen zu belegen124. Die Ausdehnung des Schutzbereichs auf Verbrecher erklärt sich damit, daß die westliche Kirche der Frühzeit nicht mit einem funktionierenden, dem altrömischen Rechtswesen vergleichbaren, Justizsystem konfrontiert war 125 . Vor allem die Blutrache wurde auch auf germanischem Boden noch lange Zeit gewohnheitsrechtlich praktiziert und war traditionell von großer Bedeutung126. Das Asyl war oft die einzige Hoffnung für den eines Verbrechens Bezichtigten auf Schutz vor ungehemmter Selbstjustiz und Vergeltung127. Es eröffnete dem Verbrecher ein Minimum an Rechtsschutz128. Mit dem Erstarken der staatlichen Hoheitsgewalt und ihrer Rechtspflege in der Karolingerzeit garantierte dann der Staat das kirchliche Asylrecht. Allerdings sollte es für Kapitalverbrecher, die ein Todesurteil zu erwarten hatten129, sowie für bereits Verurteilte nicht mehr gelten130. Der Staat nahm damit erstmals die Kompetenz in Anspruch, Ausnahmefälle unabhängig von der Kirche zu regeln. Im Spätmittelalter wurde dann die Frage nach den Ausnahmen zu einem wesentlichen Streitpunkt zwischen Kirche und Staat131.
b) Die klassische Ausprägung des kirchlichen Asylrechts durch die mittelalterliche Kanonistik Zu seiner klassischen Ausprägung gelangte das Asylrecht der Kirche im wesentlichen durch die kanonistische Doktrin. Nur gelegentlich ergänzten es 124
Orléans (a. 511), c.3, bei Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 385, Fn. 2. Zum Ganzen siehe Landau, Art. Asylrecht, m. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 323 (Z. 25); Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 169 und Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 385. 125
So Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 56; vgl. Widder, weltl. Asylrecht, AfkKR 78 (1898), S. 24, 29. 126 127
Kirchl. u.
Preiser, Art. Blutrache, HRGI, Sp. 460.
Vgl. Bulmerincq, Asylrecht, S. 7 u. Widder, (1898), S. 24, 29.
Kirchl. u. weltl. Asylrecht, AfkKR 78
128
Landau, Traditionen, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 56; Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 162. 129 Capitulare Heristallense (a. 779), c. 8, bei Siems, Entwicklung des Kirchenasyls, in: Symposium Wieacker, S. 176, Fn. 173. 130
Lex Saxonum, c. 24, bei Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 386, Fn. 5.
131
Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z.
51).
44
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
konziliare oder päpstliche Rechtssätze132. Vor dem Hintergrund des Investiturstreits wurde es Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses und geriet zum Maßstab kirchlicher Selbstbestimmung gegenüber weltlicher Gewalt133. Bereits Gratian stellte das Asylrecht in seinem Decretum (um 1140)134 als Vorrecht der Kirche heraus, dessen Verletzung er systematisch der Entfremdung von Kirchengütern zuordnete135. Den Geltungsgrund des Asyls sah er, der altkirchlichen Tradition folgend, in der Verpflichtung der Kirche, Unglückliche vor Verfolgung zu schützen136. Die kanonistische Lehre nach Gratian bemühte sich, aufgrund des im Decretum Gratiani und den Dekretalsammlungen enthaltenen Quellenmaterials die Theorie vom Asylrecht näher auszubilden137. Danach besaßen die Asylfahigkeit alle Kirchenbauten, und zwar schon vor der Konsekration, nebst einem Umkreis von 40 Schritten um größere und 30 Schritten um kleinere Kirchen, ebenso Klöster, Hospitäler und Friedhöfe 138. Der Asylant war in seiner Person und in seinem Vermögen geschützt139. Für Unterbringung und Verpflegung hatte die Kirche zu sorgen, oft wurden besondere Asylunterkünfte innerhalb des Schutzbereichs errichtet 140. Festgehalten wurde an dem Grundsatz, daß eine Auslieferung zulässig sei, wenn der zuständige Richter Verschonung von Leibes- und Lebensstrafen zusicherte141. Jede Verletzung des Asyls durch private oder hoheitliche Gewalt wurde als Sakrileg mit der excommunicato latae
132
Vgl. dazu und zum Einfluß der Gottesfriedensbewegung im 11. Jh. auf die Gesetzgebungstätigkeit zum Asylrecht Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 324 (Z. 50 u. 25) mit Quellennachweisen. 133
34).
Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 324 (Z.
134 Zum gratianischen Dekret und seiner Datierung sowie zu Gratian siehe nur Landau, Art. Gratian, TRE, Bd. 14, S. 124 f. 135
Gratian, Decretum Gratiani, C. 17, q. 4; s. dazu Timbal Duclaux de Martin, Le droit d'asile, S. 178 ff 136
Gratian, Decretum Gratiani, D. 87, c. 6.
131
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 387.
138
Bindschedler, Asylrecht, S. 21 f.; Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 388.
139
Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z.
12). 140
27).
Landau, Art. Asylrecht, m. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z.
141 Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z. 16); Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 392.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
45
sententiae142 und bei kollektivem Handeln, etwa einer Stadtgemeinde, mit dem Interdikt 143 geahndet144. Als Asylbruch galt schon das Absperren der Kirche, um die Insassen auszuhungern145. Bevor die Absolution erteilt werden konnte, mußte der aus dem Asyl Geraubte dorthin zurück verbracht werden146. Alle Rechtshandlungen, vor allem prozessuale Akte, die der Staat unter Verletzung der genannten Bestimmungen vornahm, betrachtete die Kirche als ungültig147. Der Asylschutz galt nicht nur für Christen, sondern auch für Juden, Heiden und Häretiker 148. Allerdings kannte die hochmittelalterliche Doktrin drei persönliche Asylunwürdigkeitsgründe, nämlich für Räuber, nächtliche Ackerverwüster und Mörder 149. Diese Ausnahmen für Schwerverbrecher entsprachen der weltlichen Forderung nach Beschränkung des Asylrechts, die sich in solchen Fällen praktisch durch seine gewaltsame Mißachtung äußerte150. Der Druck der weltlichen Gewalt zwang die Päpste zunehmend, von ihrer bisherigen Auffassung abzurücken, wonach das Asyl jedermann offenstehe. Bei der Regelung von Ausnahmen beharrte die Kirche jedoch strikt auf dem von ihr beanspruchten Vorrang ihrer Gerichtsbarkeit 151. Wurde ein Ausnahmefall behauptet, oblag seine Feststellung allein dem kirchlichen Gericht. Es hatte dann, unter Mitwirkung des Bischofs, über die Auslieferung zu entscheiden152.
142 Das ist die ohne weiteren Rechtsakt, von selbst eintretende Exkommunikation, s. Rees, Strafgewalt der Kirche, S. 139. 143
Das lokale Interdikt als Kirchenstrafe ist das Verbot der Vornahme gottesdienstlicher Handlungen an einem Ort, näher Rees, Strafgewalt der Kirche, S. 132. 144 Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 390; Landau, Art. Asylrecht, ΠΙ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z. 20). 145
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 391 f.
146
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 393.
147
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 392.
148
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 389 zählt auf: Laien, selbst wenn interzediert oder exkommuniziert, Kleriker und Mönche, Ungetaufle und Ketzer, sofern sie nicht gerade wegen Ketzerei verfolgt waren; vgl. Timbal Duclaux de Martin, Le droit d'asile, S. 219. 149 Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 390; Landau, Art. Asylrecht, HL Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z. 39). 150
Vor allem die erstarkenden Städte waren immer weniger bereit, das Asylrecht zu akzeptieren, vgl. Bindschedler, S. 29 ff., mit Beispielen für Asylkonflikte aus den Stadtgeschichten von Rothenburg ob der Tauber, Freiburg und Zürich. 151
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 392.
152
Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 392.
46
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
Im Hochmittelalter gingen einzelne Kirchengemeinden und Klöster dazu über, sich die Asylfähigkeit zusätzlich als kaiserliches Immunitätsprivileg verleihen zu lassen153. Dieses weltliche Privileg stellte eine bestimmte Örtlichkeit von der eigentlich zuständigen kaiserlichen Gerichtsbarkeit frei 154 . Zahlreiche rein weltliche Freiungen, etwa Städte oder Fronhöfe, besaßen ein solches Immunitätsprivileg 155. Für Kirchenbauten bedeutete es eine zusätzliche Absicherung ihrer kirchenrechtlichen Asylfahigkeit. Mit der Verleihung der immunitas localis des weltlichen Rechts war ein Rechtszustand erreicht, der, vergleichbar mit den Gegebenheiten der Spätantike, das Kirchenasyl zweifach absicherte: Die Verletzung des kirchenrechtlichen Asylrechts war ein Sakralverbrechen, die Verletzung des kaiserlichen Immunitätsprivilegs zugleich ein Majestätsverbrechen156. In dieser Form erfreute sich das Kirchenasyl vor allem im 13. und 14. Jahrhundert weitgehender praktischer Anerkennung 157.
5. Der Niedergang des kirchlichen Asylrechts und seine Gründe Der Niedergang des kirchlichen Asylrechts begann im Spätmittelalter und setzte sich bis in die späte Neuzeit fort. Als Hauptgründe lassen sich zunächst die gedankliche Vermischung von kirchlichem Asylrecht und weltlichem Immunitätsprivileg, dann der Einfluß der Reformation, später die Zuspitzung der Asylfrage zur schlichten Machtfrage und schließlich die Souveränitätsdoktrin der Aufklärung aufzählen.
153 Etwa die Chorherren der Kirche zu Gosslar 1188 von Friedrich I. oder das Schottenkloster in Nürnberg 1225 von Heinrich VIL; vgl. Bindschedler, Asylrecht, S. 27; Hinschius, Kirchenrecht, Bd. 4, S. 393. 154 Dazu näher Volk, Art. Immunität, TRE, Bd. 16, allgemein S. 84 f. und zum Mittelalter S. 88 f. 155
Bindschedler, Asylrecht, S. 28.
156
Dazu näher Gröll, Die Elemente des kirchlichen Freiungsrechts, S. 148 ff; Hirsch, Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit, S. 6 ff. und S. 210 ff. sowie Hofmann, Die engere Immunität in deutschen Bischofstädten, S. 19 ff, insbes. S. 26 ff. u. 29. 157
30).
Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325 (Z.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
47
a) Die Problematik der Immunitätsprivilegien Das kirchliche Bemühen um die Verleihung von Immunitätsprivilegien führte dazu, daß die weltliche Gewalt immer weniger geneigt war, das Asylrecht der Kirche als eigenständiges Rechtsinstitut anzuerkennen. Es setzte sich die Auffassung durch, daß das Asylrecht als ein rein staatliches Privileg mit dem staatlichen Interesse an einer ungehinderten Rechtsverfolgung konkurriere und nachrangig sei158. Daher suchten die Legisten im Verlaufe der Rezeption des römischen Rechts die weitgehenden Einschränkungen des Asylrechts durch den Codex Justinianus auf das geltende Recht zu übertragen und damit staatliche Eingriffe zu legitimieren. Auch die kirchliche Dogmatik vermischte zum Teil die Begrifflichkeiten des originären kirchlichen Asylrechts und der derivativen Immunität, wenngleich die herrschende kirchliche Lehre an der gratianischen Doktrin vom Asyl als Vorrecht der Kirche festhielt 159.
b) Der Einfluß der Reformation Die Reformation hatte besonderen Einfluß auf die Entwicklung in Deutschland und der Schweiz. Sie stellte zwar das Asylrecht der Kirche nicht unmittelbar in Frage 160, jedoch trugen ihre theologischen Prämissen sowie weltlich-praktischen Verhältnisse wesentlich zur Auflösung bisheriger Begründungsmuster bei 161 . Die reformatorische Theologie anerkannte weder die Heiligkeit des Priesters 162 noch die Heiligkeit kirchlicher Gebäude163. Der Gottesdienstraum war nur noch ein Ort ohne besondere Weihe und Würde, an dem erst die Versammlung der Gläubigen zur Gegenwart Gottes führte 164. Da-
158
Ebd.
159
Landau, Art. Asylrecht, ΠΙ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 324 (Z. 8).
160
So wird Luther ein Traktat v. 1517 über das Asylrecht zugeschrieben, welches allerdings keinen reformatorischen Bezug aufweist. Es findet sich hrsg. v. Emme, Martin Luther, Traktat über das kirchliche Asylrecht. 161
Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR 113 (1988), S. 36.
162
Vgl. Luther, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, in: ders., Von christlicher Freiheit, S. 487 (Von der Priesterweihe). 163
Die Confessio Augustana interpretiert den Begriff "communio sanctorum" im Sinne von "congregatio sanctorum", vgl. CA 7, in: Graue, Die Confessio Augustana, S. 70 ff. 164 Graue, ebd., sowie O. Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2, S. 594; Röhls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, S. 198 ff. sowie unten S.141 ff. (m.w.N.).
48
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
her schied eine Berufung auf die loci reverentia als Rechtfertigung aus165. Allerdings verblieb es auch für die protestantischen Kirchen uneingeschränkt bei der Pflicht, für Bedrängte und Verfolgte Fürsprache zu halten. Jedoch führte die Entwicklung eines weltlichen Kirchenregiments der Landesfürsten und ihres ius reformandi 166 dazu, daß der bisherige Gegensatz zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtspflege aufgehoben war. Die Kirchen, nunmehr faktisch zu Staatsanstalten geworden, verfügten nicht mehr über eine Position, die sie als selbständige Verhandlungspartner der Interzession erscheinen ließ.
c) Die Degeneration des Kirchenasyls zur schlichten Machtfrage zwischen Staat und Kirche Die katholische Kirche verfuhr nach dem Prinzip, auf einmal geltend gemachte Ansprüche nicht zu verzichten. So erhielt sich das kirchliche Asylrecht dem Titel nach noch in can. 1179 des CIC von 1917. In der Praxis konnte jedoch auch die römische Kirche ihr Asylrecht gegenüber dem erstarkenden modernen Staat nicht wirksam aufrechterhalten. Bereits im Jahre 1539 setzte in Frankreich eine asylrechtsfeindliche Gesetzgebung ein. Durch die Ordonanz von Villet-Cotterez (§ 66) wurde den staatlichen Behörden die Befugnis erteilt, einen Asylflüchtling aus dem Kirchenbau herauszuholen, bis durch ein staatliches Gericht dessen Asylwürdigkeit festgestellt war 167 . Diese Regelung hob zwar das Asylrecht nicht formell auf, machte es aber wirkungslos, da den kirchlichen Gerichten ihre bis dahin anerkannte Zuständigkeit für den Feststellungsprozeß genommen war 168 . Damit war der Staat endgültig dazu übergegangen, den Vorrang der kirchlichen Gerichtsbarkeit in Asylfragen zu verneinen. Das Asylrecht erwies sich für die Ausbildung eines rationalen Strafrechts als hinderlich. Es geriet in die Gefahr, Unsicherheit und Willkür in die Ordnungsprinzipien des Rechts zu bringen. Zugleich stellte es den Letztendscheidungsanspruch des modernen Staates in Frage. Ihm mußte das kirchliche Asylwesen zunehmend als Widerstand er-
165
Nur sofern sich evangelische Kirchen in katholischen Gebieten befanden, wurde kraft gemeinen Kirchenrechts vermutet, daß ihnen das Asylrecht ebenso zukam wie den katholischen Kirchenbauten; vgl. Schnaubert, Grundsätze des Kirchenrechts (1806), S. 355. 166
Näher Wallmann, Kirchengeschichte, S. 71 ff.
167
Landau, Art. Asylrecht, DL Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 326 (Z. 35
ff.) 168
Ebd.
Π. Das Asylrecht der Kirche in Europa
49
scheinen. Daher beanspruchte er bald die uneingeschränkte Verfahrensherrschaft und Endscheidungskompetenz seiner Organe. Die Kirche reagierte auf diesen Konflikt, indem sie das Asylrecht zur Prinzipien· und Machtfrage erhob und dabei den Grundgedanken der Interzession aus den Augen verlor. In seiner Konstitution "cum alias" regelte Papst Gregor XIV. im Jahre 1591 das Asylrecht erneut und erklärte gemäß den Anschauungen seiner Zeit eine Vielzahl von Verbrechen für asylunwürdig. Zugleich Schloß er eine Zusammenarbeit mit der staatlichen Justiz aus169. Damit war das Kirchenasyl endgültig zum Gegenstand eines Kräftemessens zwischen Kirche und Staat geworden und seiner eigentlichen Funktion beraubt. Die Suche nach Kompromissen im Streben nach Gerechtigkeit erschien zunehmend aussichtlos. Immer mehr Länder unterwarfen daraufhin das kirchliche Asylrecht kraft weltlichen Rechts den verschiedensten Beschränkungen.
d) Die Souveränitätsdoktrin
des aufgeklärten
Vernunftstaates
Die Aufklärung begegnete dem religiösen Wirken der Kirchen mit grundsätzlichem Mißtrauen. Sie betrachtete den Menschen als Vernunftwesen. Die Kirchen hingegen sahen sich einer Wahrheit verpflichtet, die nicht in der Vernunft des Menschen gründete. Daher schieden sie als Kooperationspartner für den neuzeitlichen Vernunftstaat aus. Er betonte ihnen gegenüber seine uneingeschränkte Souveränität in allen politischen Belangen. Der Asylgedanke wurde als säkulares Asylrecht Regelungsgegenstand des Völker- und Staatsrechts 170. Das kirchliche Asylrecht empfand man dagegen als Fremdkörper, welcher der Souveränitäsdoktrin widersprach. Darum gingen die aufgeklärten Staaten seit dem 18. Jahrhundert dazu über, es durch weltliches Recht als für die staatliche Gewalt unbeachtlich zu erklären. So bestimmte etwa das Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 über die Kirchenbauten im II. Teil, 11. Titel, § 175 II: "Sie sollen zu keinen Freystätten für Verbrecher dienen, sondern die weltliche Obrigkeit ist berechtigt, diejenigen, welche sich dahin geflüchtet haben, herauszuholen und ins Gefängnis bringen zu lassen"171. Im 19. Jahrhundert erklärten alle europäischen Staaten das kirchliche Asylrecht durch staatliches Gesetz für nichtgültig. Im Gegenzug ordnete 1869
169
Vgl. Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR 113 (1988), S. 35.
170
Vgl. zur Entwicklung des völkerrechtlichen Asyls nur Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 215 ff. sowie ideengeschichtlich Reuter, Kirchenasyl und staatliches Asylrecht, in: Das Recht der Kirchen, Bd. ΙΠ, S. 584 ff. 171 Hattenhauer (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, S. 548. 4 Grefen
50
Β. Historische Entwicklung des Kirchenasyls
Papst Pius IX. in der Konstitution " Apostolicae Sedis Moderationis" erneut die Strafe der Exkommunikation für den Asylbruch an 172 .
6. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert Auch im 20. Jahrhundert hielt die katholische Kirche an ihrem grundsätzlichen Anspruch auf ein kirchliches Asylrecht zunächst fest. Allerdings erkannte es der Staat nicht mehr an. Gleichwohl blieb die Problematik aktuell. Besonders die Verfolgung zahlreicher Menschen während der Nazizeit führte dazu, daß Teile der Kirchen sich des Asylgedankens erinnerten und flüchtige Juden und politisch Verfolgte heimlich aufnahmen und versteckten.173 Im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes schien es, als habe sich der kirchliche Asylgedanke überlebt. Die katholische Kirche gab im CIC von 1983, auch auf Anraten der Deutschen Bischofskonferenz, ihre alte Asylregelung des can. 1179 CIC/1917 auf 474 . Jedoch kam es im gleichen Jahr in der Bunderepublik zu ersten als Kirchenasyl bezeichneten Aktionen. In Berlin nahm die Ev. Heilig-Geist-Gemeinde eine Gruppe ausreisepflichtiger Palästinenser auf, in Gelsenkirchen-Hassel konnte die örtliche ev. Kirchengemeinde die Abschiebung einer türkischen Familie verhindern. Auch aus katholischen Pfarrgemeinden wurden bald Kirchenasylaktionen gemeldet.175
I I I . Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Asylrecht der Kirche in seiner ursprünglichen Gestalt nicht im Sinne eines dauerhaften Zustandes aufzufassen ist. Es versteht sich vielmehr als ein Verfahren zur Durchsetzung christlicher Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen im weltlichen Bereich. Von beiden Wurzeln des Asylrechts, der intercessio und der reverentia loci, bestimmte erstere den Inhalt und letztere die altbewährte Form, in welcher sich Beistand entfalten konnte. Der Verhandlungsmechanismus konnte nur funktionieren, solange Kirche und Staat voneinander geschieden und kooperativ aufeinander bezogen waren. Als beides nicht mehr gegeben war, mußte das kirchliche Asylrecht im Verlaufe von Reformation, Absolutismus und Aufklärung mehr und mehr als überlebt erscheinen. Aus dem ius reformandi 172
A.S.S., Vol. VI (1870), S. 433; Hinschius, Kirchenrecht IV, S. 388, Fn. 1.
173
Vgl. unten S. 53 f..
174
Vgl. unten S. 128 f..
175
Ausführlich unten S. 52 ff.
ΠΙ. Zusammenfassung
51
folgte ein landesherrliches Kirchenregiment, welches die Kirchen faktisch zu Staatsanstalten degradierte. Zugleich betonte die Aufklärung einen, aus der Staatsräson begründeten, autonomen Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsanspruch des Staates, der keinerlei Rücksicht auf die vermeintliche Irrationaltät ldrchlich-christlicher Motive zu nehmen bereit war.
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland Das kirchliche Asylrecht der Vergangenheit war als Institut des kirchlichen und zeitweise des weltlichen Rechts abgesichert1. Demgegenüber ist die rechtliche Relevanz des Kirchenasyls in der Gegenwart umstritten. Es erscheint zunächst als ein Faktum. Seine Ausgestaltung erfolgte in der Praxis. Im folgenden sind die Sachverhalte aufzuzeigen, die als "Kirchenasyl" bezeichnet werden.
I. Kirchenasyl und kirchliche Ausländerarbeit 1. Umfrageergebnisse zum Kirchenasyl und seinen Adressaten Nach einer Befragung der Landeskirchenämter und Caritasverbände durch die Ev. Akademie Mülheim/Ruhr waren den Befragten im März/April 1993 insgesamt 28 evangelische und 5 katholische Kirchengemeinden bekannt, die Kirchenasyl gewährten. Über weitere 78 evangelische und 17 katholische Gemeinden wurde mitgeteilt, daß sie in der Vergangenheit mindestens einmal Kirchenasyl gewährt hatten2. Von 1985 bis 1993 befanden sich danach rund 1900 Personen im Kirchenasyl3. Im Jahre 1996 ereigneten sich rund 50 neue
1
Hierzu oben S. 28 ff.
2
Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr, Kirchenasylinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland, Ergebnisse einer Befragung in Landeskirchenämtern und Caritasverband-Diözesen, in: Asyl von unten, S. 215 (Fragebogen) und S. 216 f. (Auswertungsbogen für die Ev. Landeskirchen) sowie S. 218 f. (Auswertungsbogen für die Caritasverband Diözesen). Die wesentlichen Fragen lauteten: 1. Wie viele Gemeinden und Gruppen in ihrer Kirche/Diözese gewähren derzeit Kirchenasyl? 2. Wie viele haben dies schätzungsweise in der Vergangenheit getan? 3. Wie viele Gemeinden sind - nach Ihrer Information - grundsätzlich bereit, Kirchenasyl zu gewähren? 4. Wie groß ist schätzungsweise die Zahl der Personen, denen in den letzten 8 Jahren Kirchenasyl gewährt wurde? 5. Welchen Nationalitäten gehörte die Mehrzahl der aufgenommenen Flüchtlinge an? 6. Wie schätzen Sie Erfolg und Mißerfolg der bisherigen Kirchenasylinitiativen ein? Zu Umfrageergebnissen näher unten S. 91 ff. 3
Ebd., S. 216 bis 219, Summe aus Spalte 4 (zu Frage 4) der Auswertungsbogen.
I. Kirchenasyl und kirchliche Ausländerarbeit
53
Kirchenasylaktionen mit insgesamt 294 aufgenommenen Personen4. Alle Personen waren Ausländer5. In der Regel handelte es sich um erfolglose Asylbewerber, denen die Abschiebung drohte6. Dieses Ergebnis bestätigt eine Untersuchung der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BÄK)7 für den Zeitraum von 1990 bis 1995. Darin sind 124 Fälle des Kirchenasyls mit insgesamt 560 aufgenommenen Personen ausgewertet. Auch hierbei handelte es sich um ausländische Flüchtlinge8. In der Bundesrepublik Deutschland wurde kein Fall bekannt, in dem ein von Verfolgung bedrohter Inländer Kirchenasyl erhalten oder auch nur beansprucht hätte9.
2. Exkurs: Kirchenasyl für Bürger des eigenen Staates in Diktaturen Kirchenasyl für Bürger des eigenen Staates findet sich nahezu auschließlich in Diktaturen 10. Menschen mit oppositionellen Überzeugungen drängen als Folge politischer Repression in die Kirchen. Dabei werden die kirchlichen Instanzen als Mittler in Anspruch genommen. Der Kirchenraum dient als Versteck oder als Versammlungsort. Die Übergänge zwischen Kirchenasyl, anderen Formen kirchlicher Hilfeleistung und Kirchenbesetzung sind fließend 11. In der ehemaligen DDR standen Kirchenbauten als Freiräume für Friedensandachten und Informationsveranstaltungen offen, zugleich kam es zu Versuchen von Ausreisewilligen, ihr Ziel mit Hausbesetzungen zu erreichen 12. Zum
4 Nach Angabe der Bundesarbeitsgemeinschafl Asyl in der Kirche, bei Schmiedenkorf ,; Ohne Papiere, ohne Schutz, in: SZ vom 22./23.03.1997, S. 9. 5
Ebd., Spalte 5 (zu Frage 5).
6
Was die Fragestellung unter Nr. 6 (Konnte in der Mehrzahl der Fälle eine Abschiebung verhindert werden?) allerdings impliziert. 7
Dazu unten S. 102.
8
Näher unten S. 90; vgl. auch die frühe Recherche bei Tocha/Drobinski, PublikForum Materialmappe Kirchenasyl, S. 19 f., aus dem Jahre 1990, deren 50 erfaßte Fälle ausschließlich Ausländer betreffen; siehe auch die Berichte unten S. 56 ff. über Einzelfälle des Kirchenasyls, die eine Beschränkung auf Ausländer bestätigen. 9
In den siebziger Jahren kam es vor allem in Berlin im Rahmen von Jugendprotesten zu Kirchenbesetzungen, welche aber mit dem heutigen Kirchenasyl nicht vergleichbar und davon abzugrenzen sind; vgl. unten S. 85. 10 11 12
Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΠΙ, S. 610. Siehe unten S. 85 f. Ehnes, a.a.O., S. 609 m. w. N. zur Rolle der Kirche in der DDR.
54
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Teil suchten auch Strafverfolgte Zuflucht in kirchlichen Gebäuden13. In Polen gewährte die katholische Kirche der Gewerkschaft Solidarität vielfaltige Schutzräume gegen das kommunistische Regime14. Im Südafrika der Apartheid fanden Oppositionsgruppen Unterkunft in kirchlichen Häusern15. Zu erinnern ist schließlich an die Zeit des Nationalsozialismus, in der die Bekennende Kirche Juden und Regimegegner versteckte16 und der Vatikan politisch Verfolgten Asyl gewährte17. Aufgrund päpstlicher Weisung wurde die Klausur in römischen Klöstern aufgehoben, damit Juden dort Zuflucht finden konnten18. Die Beispiele zeigen, daß der Gedanke der Kirchenflucht auch in Zeiten auflebt, in denen die Kirchen auf keinerlei Rücksicht des Staates rechnen können. Daher bedeutet Kirchenasyl in Diktaturen häufig das schlichte Verstekken der durch den eigenen Staat politisch oder rassisch verfolgten Menschen vor dessen Organen.
3. Kirchenasyl für Bürger fremder Staaten in Demokratien Bezieht sich das Kirchenasyl in Diktaturen also vornehmlich auf Inländer, so betrifft es in demokratischen Rechtsstaaten regelmäßig Ausländer19. Dies zeigen sowohl die genannten Umfragen als auch die kirchliche Praxis in anderen Ländern. In den USA bemüht sich die sog. Sanctuary-Bewegung seit Beginn der 80er Jahre, lateinamerikanische Flüchtlinge in einem Netz von Kir13 So im sog. Fall Defort, vgl. von Campenhausen, Zum Asylrecht in der Kirche und der Unterstützung von Verbrechern durch Geistliche, in: ders., Münchener Gutachten, S. 154 ff., insb. S. 157 sowie Robbers, Kirchliches Asylrecht?, AöR 1988, S. 31. 14
Vgl. Ehnes, a.a.O., S. 609.
15
Ebd.
16
Vgl. Scharf, Gott hat das Recht lieb, in: FS Simon, S. 909 f; ders., Die Kirche hat die unbedingte Pflicht, Asyl zu gewähren, in: Tocha/Drobinski (Hrsg.), Publik-Forum Materialmappe Kirchenasyl, S. 9; ferner Niemöller, Das eigene Versagen erinnern, Publik-Forum Nr. 19 vom 7. 10. 1994, S. 54. 17
Jacobs, a.a.O., S. 34, weist daraufhin, daß sich beim Asyl in der Città del Vaticano kirchliches und völkerrechtliches Asyl vermischten. 18 Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 1990, S. 34 f. (m. w. N.); Konrad Adenauer fand im Kloster Maria Laach Zuflucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung, vgl. Robbers, Kirchliches Asylrecht?, AöR 1988, S. 32. Crilsemann verweist im Zusammenhang mit dem Kirchenasyl auch darauf, daß kirchliche Kreise nach 1945 Naziverbrecher geschützt und ihnen zur Flucht verholfen haben, s. ders., Gottesvolk, in: Just (Hrsg.), Asyl von unten, S. 56. 19
Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S. 610.
I. Kirchenasyl und kirchliche Ausländerarbeit
55
chengemeinden unterzubringen, um sie vor der Ausweisung durch die USEinwanderungsbehörde zu schützen20. In der Schweiz kam es mehrfach zu größeren Kirchenasylaktionen: 1986 nahmen Kirchen im Kanton Bern 40 tamilische Asylsuchende aus Sri Lanka auf, 1993 gewährten 26 evangelische und katholische Kirchengemeinden rund 130 Asylsuchenden aus Kosovo Kirchenasyl21. Die schweizer Justiz billigte den Kirchengemeinden ein moralisches Mahnrecht gegenüber den Behörden zu 22 . Eine besonders spektakuläre und aus kirchlicher Sicht erfolgreiche Kirchenasylaktion ereignete sich im Sommer 1993 in Norwegen. Nachdem sich der Staat dazu entschlossen hatte, sämtliche kosovo-albanischen Asylbewerber auszuweisen, übernahmen 136 Kirchengemeinden im ganzen Land etwa 700 Albaner zeitgleich ins Kirchenasyl. Daraufhin verpflichtete sich die Regierung zu einer nochmaligen und großzügigeren Einzelfallprüfung der Asylanträge23. In Demokratien erscheint Kirchenasyl im Vergleich zum historischen Asylrecht der Kirche deutlich beschränkt. Jenes grenzte seinen Adressatenkreis nur negativ durch geregelte Ausnahmefälle ab. Grundsätzlich kam jeder Verfolgte als Schutzinhaber in Betracht. Die gegenwärtige Asylpraxis konzentriert sich
20 Vgl. zur "Sanctuary-Bewegung" Burkhard, Kirchliches Asyl in den USA, in: Kirchenasyl, S. 80 ff.; Busch, Asyl in der Kirche, in: Junge Kirche Nr. 12/1986, S. 675 ff.; Kor any i, Die Sanctuary-Bewegung in den USA, in: Just (Hrsg.), Asyl von unten, S. 160 ff.; Nientied, Flüchtlingshilfe in der Illegalität, in: HK 1986, S. 216 ff. sowie ausführlich Stukenborg, Kirchenasyl in den Vereinigten Staaten von Amerika. 21 Zum Kirchenasyl im Kanton Bern s. Schmutz, "Heilende Kirche werden", in: Neue Wege, Beiträge zu Christentum und Sozialismus, Nr. 11/94, S. 320 ff. sowie dessen "Einstiegsvotum aus der Schweiz" in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "... denn er birgt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit.", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, Dokumentation, S. 58 ff; siehe auch den Asylfall in der Markuskirche in ZürichSeebach, wiedergegeben bei Strohm, Aufgaben und Perspektiven kirchlicher und öffentlicher Asylpraxis, in: ThPr, Nr. 2/1989, S. 133 ff. sowie die Nachweise bei Theler, Asyl in der Schweiz, S. 54, Fn. 208. Ein Fall von Kirchenasyl in England (Auferstehungskirche Manchester) zugunsten eines Singhalesen, der im Januar 1989 gegen den Widerstand des Pfarrers in der Kirche verhaftet wurde, findet sich in der SZ Nr. 16 vom 20. 1. 1989 (s. a. Strohm, a.a.O., S. 135 f.). 22
Vgl. dazu die "Erwägungen des Regierungsstatthalters des Kantons Bern zu einer Beschwerde betr. Kirchenasyl", Kopie abgedruckt in: Evangelische Akademie Mühlheim/Ruhr (Hrsg.), "...denn er birgt mich in seiner Hütte zu böser Zeit.", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, Dokumentation, S. 73 (76). 23
Dazu ausführlich Vetvik, Erfahrungen mit Kirchenasyl in Skandinavien, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "... denn er birgt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit.", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, Dokumentation, S. 25 ff., insb. S. 33 f.
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
dagegen auf ausländische Flüchtlinge, die von behördlicher Ausweisung bedroht sind. Ihnen wird Schutz und Obdach in kirchlichen Räumen gewährt24.
I I . Ausgestaltung des Kirchenasyls 1. Praxisbeispiele zum modernen Kirchenasyl Die folgenden Beispiele zeichnen den praktischen Verlauf zweier Kirchenasylaktionen nach. Die Sachverhalte weisen typische Übereinstimmungen auf. Sie sind repräsentativ, wenn auch Fluchtgeschichte und Verfahrensgang jeweils voneinander abweichen.
a) Aufriahme einer algerischen Familie in der Ev. Kirchengemeinde Dortmund-Brackel Die Ev. Kirchengemeinde Dortmund-Brackel gewährte von Juli 1994 bis September 1995 einer algerischen Familie insgesamt 14 Monate Unterkunft in gemeindeeigenen Räumen25. Die Familie war im Sommer 1993 nach Deutschland eingereist und hatte Asylanträge gestellt. Der Familienvater begründete seine Flucht aus Algerien wie folgt: Von 1965 bis 1982 sei er im Militärdienst, danach als Lehrer an einer Polizeischule beschäftigt gewesen und 1992 erneut zum Militär einberufen worden. Dort habe man ihn zum Dienst in einem Militärgefangnis eingesetzt, das Sammellager für politische Häftlinge gewesen sei. Als er mitbekommen habe, daß dort Gefangene regelmäßig gefoltert, mißhandelt und auch getötet worden seien, sei er seinem Dienst nur widerwillig nachgekommen und habe verschiedenen Gefangenen zur Flucht verholfen. Weil er dennoch das Gefühl gehabt habe, sich mitschuldig zu machen, habe er sich entschlossen, zu desertieren und ins Ausland zu fliehen. 26 24 Vgl. Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 97; Mühleisen, Eine notwendige Spannung, HK 1994, S. 351. 25
Die Einzelheiten des folgenden Falls finden sich in der "Dokumentation des Kirchenasyls in Dortmund-Brackel, Juli 1994 bis September 1995", unveröffentlicht und tw. unpaginiert, mit Gemeindebriefartikeln, Presbyteriumsbeschlüssen, Presseerklärungen, verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, Petition an den Landtag von NW sowie Pressespiegel. 26 Vgl. dazu und zum Folgenden die Beschreibung des Schicksals der Familie durch Pfarrer Manfred Kamecke in der Presseerklärung des Presbyteriums vom 24.8.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
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Das BAF1 wies das Asylbegehren der Familie durch Bescheid vom 10.8.1993 als unbegründet ab, weil der Familienvater als Deserteur nicht politisch verfolgt sei27. Der damalige Rechtsanwalt der Familie informierte sie dahingehend, daß sie sich umgehend bei der Ausländerbehörde zu melden habe, da sonst mit einer Festnahme zu rechnen sei. In Algerien lebende Angehörige teilten mit, daß der Familienvater inzwischen durch ein algerisches Miltärgericht in Abwesenheit zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden sei. Von Bekannten wurde ihm zugetragen, daß der algerische militärische Geheimdienst auch in Deutschland nach ihm fahnde. Daraufhin entschloß sich die Familie, die zugewiesene Gemeinschaftsunterkunft zu verlassen und sich versteckt zu halten. Nach einigen Monaten und dem vergeblichen Versuch, in den Niederlanden Asyl zu finden, nahm die Familie Kontakt zur Flüchtlingsberatung des Diakonischen Werkes Dortmund auf 28. Dort vermittelte man ihr eine Rechtsanwältin, die bei der zentralen Ausländerbehörde Bochum in Erfahrung brachte, daß die Personen bereits zur Fahndung ausgeschrieben waren29 und sich unverzüglich bei der Behörde zu melden hatten30. In diesem Stadium wandte sich eine beim Diakonischen Werk mit dem Fall betraute Person an den Pfarrer der Kirchengemeinde Brackel und fragte an, ob die Gemeinde die Familie vorläufig aufnehmen könne31. Offenbar fürchtete man im Falle einer Vorsprache bei der Dortmunder Ausländerbehörde das Risiko einer Festnahme und baldigen Abschiebung. Der Gemeindepfarrer veranlaßte daraufhin die Einberufung einer Sondersitzung des Presbyteriums am 17.7.1994. In beratender Funktion beigeladen waren ein Vertreter der Flüchtlingsberatung des Diakonischen Werkes, die Beauftragte für Flüchtlingsarbeit im Kirchenkreis Dortmund Nordost und die von der Familie mandatierte Rechtsanwältin. Das Gremium befaßte sich mit dem Flüchtlingsschicksal der Familie, den Möglichkeiten einer Unterbringung in der Gemeinde sowie
27
Vgl. zum Verlauf nach Ablehnung des ersten Asylantrags bis zum Beginn des Kirchenasyls D. und M. Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 9 aus 1994, in: Dokumentation, a.a.O., S. 1 sowie die Petition des Presbyteriums an den Landtag von NRW vom 28.7.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 28
Vgl. dazu das Begleitschreiben des Diakonischen Werkes Dortmund an den Petitionsausschuß des Landtages vom 28.7.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 29
Vgl. § 66 AsylVfG.
30
Petition des Presbyteriums an den Landtag von NW vom 28.7.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 31
D. und M. Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 9/94, in: Dokumentation, a.a.O., S. 1.
58
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
rechtlichen Fragen32. Die Sitzung endete mit einem einstimmigen Beschluß, in dem es u. a. heißt: "Nach intensiver und sorgfältiger Beratung beschließt das Presbyterium, einer algerischen Familie (Ehepaar mit vier Kindern) Kirchenasyl zu gewähren. Mit dieser Maßnahme soll Zeit gewonnen werden, um eine Duldung zu erreichen. Zur Zeit wären Leib und Leben der Familie, besonders des Ehemanns/Vaters, in höchster Gefahr" 33.
Zur Finanzierung dieses Vorhabens beschloß das Presbyterium die Einrichtung eines Spendenkontos für "die Asylarbeit der Gemeinde"34. Am 20.7.1994 wurde die Familie in die kirchlichen Räume übernommen35. Die praktische Begleitung der Aktion erfolgte durch einen zu diesem Zweck gegründeten Arbeitskreis des Presbyteriums, eine in der Gemeinde gebildete Unterstützergruppe, den Asylarbeitskreis im Kirchenkreis Dortmund Nordost sowie eine nichtkirchliche Flüchtlingsinitative36. Unmittelbar nach Aufnahme der Familie begannen die Unterstützergruppen auf verschiedenen Ebenen aktiv zu werden. Zunächst informierte man die zuständige Ausländerbehörde über den Presbyteriumsbeschluß und den Aufenthaltsort der Familie und konnte so die Einräumung einer Ausreisefrist bis zum 22.8.1994 erreichen 37. Noch vor Ablauf dieser Frist arbeitete das Presbyterium gemeinsam mit der Flüchtlingshilfe des Diakonischen Werks eine vom Pfarrer unterzeichnete Eingabe an den Petitionsauschuß des Landtages NW aus, welche die Kirchengemeinde am 28.7.1994 für die Familie einreichte38. Darin machte man geltend, das Β AFI habe bei seiner Entscheidung wichtige Informationen nicht berücksichtigt, die eine akute Gefährdung vor allem des Familienvaters belegten39. Dieser habe sich nach algerischem Militärstrafrecht als Deserteur straf32
Ebd.
33
Auszug aus dem Protokoll des Presbyteriums der Sitzung vom 19.7.1994, Beschluß Nr. 1, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 34
Auszug aus dem Protokoll des Presbyteriums der Sitzung vom 19.7.1994, Beschluß Nr. 2, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 35
Der genaue Unterbringungsort findet sich nicht mitgeteilt.
36
Vgl. dazu die Presseerklärungen des Presbyteriums vom 23.8.1994 und 21.9.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 37
Der Verlauf ist wiedergegeben in der Petition an den Landtag von NW vom 28.7.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 38
Petition an den Landtag von NW vom 28.7.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 39
Ebd., S. 2 der Petition.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
59
bar gemacht und müsse mit einer Haftstrafe von 10 bis 20 Jahren rechnen40. Darüber hinaus sei die Verhängung der Todesstrafe zu erwarten, weil die Vorgehensweise des Militärs unberechenbar sei41. Zur Begründung stützte die Petition sich auf ein durch das Presbyterium beigebrachtes Gutachten von amnesty international von Juni 1993, wonach ein Deserteur in Algerien mit dem Tod bestraft werden kann, wenn der Kriegszustand ausgerufen ist 42 . Außerdem brachte das Presbyterium einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes bei, der bestätigte, daß das algerische Militärstrafrecht die Todesstrafe kennt und zwischen 1990 und Februar 1992 von 250 verhängten Todesurteilen 26 vollstreckt wurden43. Daraus ergebe sich eine akute Lebensgefahr, die als Abschiebungshindernis zu würdigen sei44. Die Kirchengemeinde beantragte, der Petitionsausschuß möge auf eine erneute Einzelfallprüfung durch die zuständige Behörde hinwirken und sich bis zum Datum der Petitionentscheidung für eine Verlängerung der Ausreisefrist einsetzen45. Am 23.8.1994 wandte sich das Presbyterium an die Öffentlichkeit und gab im Rahmen eines Pressegesprächs die Unterbringung der Familie bekannt46. Zur Begründung führte es aus, daß die Kirchengemeinde Brackel diese Unterkunft nicht nach Gutdünken gewähre. Vielmehr gehöre es zu Auftrag, Recht und Pflicht der Gemeinde Jesu Christi, Menschen beizustehen, die in ihrer von Gott gegebenen Menschenwürde bedroht seien. Damit versuche sie, der Liebe Gottes zu folgen, die allen Menschen gelte, gleich welcher Nationalität oder Religion sie seien. Dieses Beistehen der christlichen Gemeinde geschehe in dem Eintreten vor Gott und den Menschen in Form von Fürbitte, Fürsorge und Fürsprache. Damit entspreche die Gemeinde ihrer Berufung, an der Seite des Elenden zu stehen, der keinen Helfer habe. Das Presbyterium konkretisierte dies dahingehend, daß neben gottesdienstlicher Fürsprache auch öffentliche Fürsprache, Vermittlung von Rechtsschutz, Herstellung kritischer Öffentlichkeit sowie seelische und materielle Hilfen gemeint seien. Aufgrund dieser ihrer besonderen Verantwortung halte es die 40
Ebd.
41
Ebd.
42
Gutachten von amnesty international von Juni 1993 als Anlage zur Petition, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 43 Lageberichte des AA zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Algerien von März 1992 als Anlage zur Petition, a.a.O. 44
Petition, S. 3, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang.
45
Petition, S. 3 f., in: Dokumentation, a.a.O., Anhang.
46
Zum Folgenden siehe Erklärung des Presbyteriums an die Öffentlichkeit vom 23.8.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang.
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Gemeinde für geboten, der algerischen Familie Obdach in ihren Räumen zu gewähren, weil nach ihrer Überzeugung und nach den ihr zugänglichen Informationen Gesundheit und Leben des Familienvaters im Falle einer Abschiebung im höchsten Maße bedroht seien. Der Pressetermin bewirkte eine breite und überwiegend positive Berichterstattung in den örtlichen Medien47. Zugleich konnte ein Landtagsabgeordneter des Kreises gewonnen werden, welcher sich für die Petition verwendete und auf eine Verlängerung der Ausreisefrist drängte48. Asylfolgeanträge wurden erst gestellt, nachdem Presse und Hörfunk für den erhofften öffentlichen Druck gesorgt hatten49. Die Dortmunder Außenstelle des BAF1 wies die Asylfolgeanträge durch Bescheid vom 20.9.1994 ohne erneute Anhörung als unbeachtlich ab, da den Antragstellern kein Anspruch auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 AsylVfG zustehe50. Damit war die Familie gemäß § 71 Abs. 4 i. V. m. §§ 34 Abs. 2, 36 Abs. 1 AsylVfG binnen Wochenfrist vollziehbar ausreisepflichtig. Weil die daraufhin erfolgte Klage gegen diese Entscheidung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung hatte, stellte die Prozeßbevollmächtigte der Antragsteller Eilanträge nach § 80 Abs. 5 VwGO, die das VG-Gelsenkirchen mit Beschluß vom 1.12.1994 ablehnte51. Daraufhin kam es beim Spruchkörper des Verwaltungsgerichts offenbar zu Unstimmigkeiten. Ein Richter der mit der Sache befaßten Kammer signalisierte telefonisch gegenüber der Rechsanwältin, daß die Entscheidung des BAF1 unzureichend sei. Die Kammer neige entgegen des Beschlusses vom
47
Etwa: "Vom Tode bedroht: Gemeinde schützt algerische Familie" (DR vom 24.8.1994) oder "Gemeinde kämpft für Flüchtlinge" (WAZ vom 25.8.1994) oder "Kirche schützt vor Abschiebung" (DZ vom 24.8.1994), vgl. dazu das in der Dokumentation, a.a.O, im Anhang vollständig abgedruckte Presseecho. Am 23.8.1994 strahlte Radio Dortmund und am 28.8.1994 WDR Π ein Interview mit dem Gemeindepfarrer aus. 48
Vgl. Westfälische Rundschau vom 28.8.1994 sowie die Gemeindebriefe Nr. 10/94 und Nr. 11/94, in: Dokumentation, a.a.O., S. 7 u. 9. 49 Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 10/94, in: Dokumentation, a.a.O., S. 7. 50
Das geht hervor aus dem Beschluß des VG Gelsenkirchen vom 30.12.1994 (AZ: 14 aK 4301/94.A.) in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 51 Pressebericht des Presbyteriums vom 8.12.1994, in: Dokumentation, a.a.O, Anhang.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
61
1.12.1994 nunmehr dazu, daß der Fall neu aufgerollt werden müsse, da die im Asylfolgeantrag vorgebrachten neuen Tatsachen beachtlich seien52. Nach dieser Ankündigung bewilligte das Gericht dem Antragssteller mit Beschluß vom 30.12.1994 Prozeßkostenhilfe, weil die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Selbst wenn das BAFL die Voraussetzungen für ein Asylfolgeverfahren gemäß § 71 AsylVfG i. V. m. § 51 VwVfG zutreffend verneint habe, sei nicht auszuschließen, daß dem Antragsteller zumindest ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß §§ 48, 49 VwVfG zustehen könne. Das erfordere eine erneute Anhörung durch das BAFL, die nicht erfolgt sei53. Bereits vor dieser Entscheidung des Gerichts hatte die zuständige Ausländerbehörde die mit der Ablehnung des Eilantrages auflebende Ausreisepflicht 54 der Familie gemäß § 55 Abs. 3, 1. Alt. AuslG ausgesetzt55, so daß die Kläger das Verfahren in Deutschland weiter betreiben konnten56. Dabei ist zu vermuten, daß diese Ermessensentscheidung auch vor dem Hintergrund der erheblichen Beachtung getroffen wurde, die das Brackeler Kirchenasyl in der Öffentlichkeit erfahren hatte. Aufgrund dieses erneuten zeitlichen Aufschubs sprach das Presbyterium in öffentlichen Erklärungen nicht mehr von "Kirchenasyl", sondern von "Unterbringung einer Familie in Not" oder von "kleinem Kirchenasyl"57. Damit sollte verdeutlicht werden, daß ein "großes Kirchenasyl" nach Auffassung des Presbyteriums erst dann beginne, wenn der betreffende Schützling unmittelbar vor der Abschiebung stehe58. Die Bereit52
Vgl. Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 3/95, in: Dokumentation, a.a.O, S. 18. 53 Beschluß des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 30. 12. 1994, ΑΖ: 14 ak 4301/94 A, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 54
Die Abschiebung ist dann zulässig, wenn die vollständig unterschriebene (ablehnende) Entscheidungsformel der Geschäftsstelle der Kammer vorliegt; einer besonderen Zustellung bedarf es nicht, arg. e. contr. aus § 36 Abs. 3, S. 7 u. 8 AsylVfG, vgl. zu § 36 AsylVfG ausführlich Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 49 ff., insb. S. 51. 55 Vgl. zur Zuständigkeitsverteilung zwischen Ausländerbehörden und dem BAF1 § 43 a AsylVfG. Danach ist grundsätzlich das BAF1 für alle ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig, solange der Ausländer gemäß § 47 AsylVfG verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Eine Duldung nach § 55 Abs. 3 kann die Ausländerbehörde erst dann erteilen, wenn diese Verpflichtung endet, vgl. § 43 a Abs. 2 und 5 sowie ausführlich Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 26 f. 56 Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 11/94, in: Dokumentation, a.a.O., S. 9. 57
Vgl. Kamecke, a.a.O., sowie Presseberichte des Presbyteriums vom 8.12.1994 und 13.2.1995 in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 58
Ebd.
62
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
schafl zur Gewährung eines großen Kirchenasyls wurde angekündigt, sollte die Ausländerbehörde von ihrer bisherigen Duldungspolitik abrücken59. Obgleich die Initiativträger erklärten, daß Kirchenasyl keinen rechtsfreien Raum beanspruche und die Behörden nicht gehindert seien, die gemeindlichen Räume zu betreten60, hätte die Option eines großen Kirchenasyls für die Familie eine starke Abschottung bedeutet. Die praktische Folge der Duldung war daher, daß sich die Familie frei innerhalb ihrer Umgebung bewegen konnte, weil mit einer Abschiebung unmittelbar nicht zu rechnen war 61. Im Februar 1995 sah das Presbyterium sein Ziel als erreicht an. Mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 30.12.1994 sei die Durchfühung eines rechtsstaatlichen Verfahrens gewährleistet, in dem sämtliche vorgetragenen möglichen Abschiebungshindernisse erneut zu würdigen seien. Nunmehr sei das vorherige unzureichende Vorgehen des BAFL durch ein faires Verfahren ersetzt62. Weil das Kirchenasyl von Anfang an als befristete Aktion verstanden wurde, suchte man jetzt, die Familie in einer kommunalen Ausländereinrichtung unterzubringen. Die Dortmunder Kommunalverwaltung weigerte sich jedoch, die Flüchtlinge zu übernehmen. Sie verwies darauf, daß die Unterbringung aus finanziellen Gründen in einer Gemeinschaftsunterkunft des Landes erfolgen müsse. An dieser Frage entzündete sich ein erneuter Konflikt, weil die Unterstützergruppe und die Familie eine Gemeinschaftsunterkunft im Hinblick auf eine Abschiebung als nicht ausreichend sicher ansahen. Zudem befürchtete man, aufgrund der räumlichen Entfernung werde der mühsam aufgebaute soziale Kontakt der algerischen Familie abbrechen63. Als das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Juni 1995 das Urteil für das Frühjahr 1996 in Aussicht stellte, zeichnete sich ab, daß die Kirchenasylaktion nicht bis zu diesem Datum fortgeführt werden konnte. Nicht zuletzt waren die finanziellen und persönlichen Ressourcen der Gemeinde nach 12 Monaten intensiver juristischer, persönlicher und seelsorgerlicher Betreuung der Familie
59
Unsere Kirche vom 9.10.1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang.
60
Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 5/95, in: Dokumentation, a.a.O., S. 17 f. 61
Vgl. Pressebericht des Presbyteriums vom 8. 12. 1994, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 62 Pressebericht des Presbyteriums vom 13. 2. 1995, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 63
Vgl. Pressebericht des Presbyteriums vom 13. 2. 1995, a.a.O., sowie Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 10/95, in: Dokumentation, a.a.O., S. 21.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
63
nahezu erschöpft 64. Bis dahin waren die gesamten Kosten für Verpflegung und juristische Begleitung durch Spendengelder finanziert worden. Lediglich für die Krankheitskosten kam das Sozialamt der Stadt Dortmund auf 65. Das Presbyterium beschloß in Absprache mit der Familie, die Aktion zu beenden. In der Abschlußpresseerklärung vom 21.9.1995 heißt es: "Nach 14 Monaten: Kirchenasyl in Dortmund-Brackel juristisch erfolgreich abgeschlossen - aber: Dortmunder Ausländerbehörde weigert sich, die Familie in eine kommunale Einrichtung aufzunehmen" 66.
Die algerische Familie siedelte in eine Anschlußeinrichtung des Regierungsbezirks Arnsberg über, womit das Kirchenasyl im September 1995 endete67.
b) Aufnahme einer kurdischen Familie in der kath. Kirchengemeinde St. Sebastian in Gilching Im bayrischen Gilching gewährte die örtliche katholische Pfarrgemeinde St. Sebastian in Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirchengemeinde St. Johannes einer kurdischen Familie vom 4.4.1994 bis zum 2.5.1994 Kirchenasyl68. Über die Gründe seiner Flucht aus der Türkei machte der Ehemann folgende Angaben: Nach Beendigung seiner Dienstzeit beim türkischen Militär, wo er als Kurde oft schikaniert und mißhandelt worden sei, sei er von Bekannten gedrängt worden, für die kurdische Arbeiterpartei PKK Flugblätter zu verteilen sowie Nahrung und Kleidung zu beschaffen. Er habe eingewilligt und sei bald darauf von der türkischen Polizei verhaftet worden, welche ihn drei Tage verhört und gefoltert habe, um ihn einzuschüchtern. Nach einigen Monaten sei er wieder von militanten Kurden aufgefordert worden, für die PKK tätig zu werden. Diesem Drängen habe er nachgegeben und Flugblätter in verschiede-
64
Vgl. Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 10/95, in: Dokumentation, a.a.O., S. 21. 65
Kamecke, Ausländischen Familie in Not, Gemeindebriefe Nr. 1/95, Nr. 6/95 u. Nr. 10/95, in: Dokumentation, a.a.O. 66 Abschlußpresseerklärung des Presbyteriums vom 21. 9. 1995, in: Dokumentation, a.a.O., Anhang. 67
Zur Nachbetreuung vgl. Kamecke, Ausländische Familie in Not, Gemeindebrief Nr. 11/95, in: Dokumentation, a.a.O., S. 23. 68 Der Fall findet sich dokumentiert in Pilgram (Hrsg.), Wir wollen, daß ihr bleiben könnt. Kirchenasyl in Gilching - Ein Beispiel; vgl. auch Oberleitner, Überleben im Keller, in: Publik-Forum Nr. 9 vom 13. 5. 1994, S. 28 f.
64
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
nen Bergdörfern verteilt. Als er erfahren habe, daß die Polizei erneut nach ihm fahndete, sei er über die Grenze in den Irak geflohen, dort wegen illegalen Grenzübertritts verhaftet worden und sieben Monate inhaftiert gewesen. Schließlich habe man ihn in die Türkei zurückgeschoben, wo er von der Geheimpolizei für einen Monat in ein Lager für gefangene PKK-Anhänger gesperrt worden sei. Dort habe man ihn mißhandelt und anschließend, unter Drohungen, freigelassen. Als ihn die militanten Kurden daraufhin wieder in ihren Dienst drängen wollten, habe er sich und seiner Familie falsche Pässe besorgt und sei am 12.2.1992 in einem Touristenbus nach Wien geflohen. 69 Die Familie wurde nach ihrem Grenzübertritt von der deutschen Polizei aufgegriffen, verhört, in eine Asylunterkunft nach München gebracht und nach etwa einer Woche an den Landkreis Starnberg, dem der Ort Gilching zugehört, überwiesen70. Das Β AFI lehnte die Asylanträge der Familie mit Bescheid vom 6.11.1992 als "offensichtlich unbegründet" ab. Mit gleicher Post forderte sie das zuständigen Landratsamt zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung an. Die Behörde begründete dies damit, daß keine besonderen Umstände ersichtlich seien, die einer Abschiebung in die Türkei entgegenstünden71. Die gegen die Ablehnungsentscheidung erhobene Klage wurde am 15.6.1993 durch das Verwaltungsgericht Ansbach abgewiesen. Die Kammer erachtete die Behauptung politischer Verfolgung für nicht ausreichend substantiiert. Zudem bestehe für Kurden in der Westtürkei eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das schließe die Annahme eine Gruppenverfolgung aus72. Der Anwalt der Familie stellte daraufhin einen Asylfolgeantrag, dem der Brief eines türkischen Rechtsanwalts beigefügt war, aus dem hervorging, daß der Ehemann bei einer Abschiebung in die Türkei mit lebenslanger Haft rechnen müsse. Am 2.1.1994 wandten sich die Betroffenen mit einer Petition an den bayrischen Landtag, der den Fall am 23.2.1994 verhandelte, sich aber bis zu einer Entscheidung über den Asylfolgeantrag vertagte. Dieser wurde am 24.2.1994 durch das Β AFI als "unbeachtlich" zurückgewiesen. Der Familie wurde eine Ausreisefrist bis zum 20.3.1994 gesetzt. Gegen diese Entscheidung erhob der Rechtsanwalt erneut Klage, verbunden mit einem Eilantrag nach 69 Sein Schicksal schildert Hüseyin Saprikan, Fluchtursachen und Flucht, in: Pilgram (Hrsg.), a.a.O., S. 21 ff. 70
Ebd., S. 28.
71
Chronik der Vorgeschichte, in: Pilgram, a.a.O., S. 16.
72
Ebd.; vgl. auch die Auszüge aus behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur Fluchtalternative Westtürkei Pro Asyl-Wörthsee, Der Rechtsstaat spricht, in: Pilgram, a.a.O., S. 100 f., sowie allgemein zu sog. innerstaatlichen Fluchtalternativen unten S. 108.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
65
§ 80 Abs. 5 VWGO. Am 17.3.1994 setzte das Landratsamt die Ausreisefrist bis zum 31. 3. 1994 fest 73. Während ihres Asylverfahrens wurden die Betroffenen von der Flüchtlingsinitative Pro Asyl betreut, welche für ein Bleiberecht bei Behördenvertretern, Politikern und Journalisten eintrat. Als diese Bemühungen erfolglos blieben und die drohende Abschiebung näher rückte, wandte man sich im März 1994 an verschiedene Kirchengemeinden mit der Bitte, die Familie aufzunehmen. Die Seelsorger der beiden Gilchinger Kirchengemeinden informierten sich daraufhin über die Situation und beschlossen, die Familie in den Gemeinderäumen der katholischen Pfarrgemeinde unterzubringen. Zuvor hatte ein Kreis von rund 40 Gemeindemitgliedern in einer Lagebesprechung die Vorund Nachteile einer Asylgewährung erwogen und schließlich die Unterstützung der Aktion zugesagt. Man war zu der Überzeugung gelangt, daß die Betroffenen im Falle einer Abschiebung einer erheblichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt seien und insbesondere der Ehemann mit einer langjährigen Haftstrafe zu rechnen habe.74 In einer von den Seelsorgern beider Konfessionen abgegebenen Presseerklärung erläuterten sie das Kirchenasyl als letzte Möglichkeit, nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel den Hilfesuchenden vorübergehend Schutz zu gewähren. Sie wollten ihr Vorgehen als zivilen Ungehorsam verstanden wissen und ein Zeichen im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte setzen75. Zur Durchführung der Aktion hat sich eine Unterstützergruppe aus Gemeindemitgliedern und anderen Personen aus der Initativgruppe Pro-Asyl sowie Pax Christi zusammengefunden. Am Ostermontag, dem 4.4.1994, stellte sich die Familie nach dem Hauptgottesdienst der Gemeinde vor. Es wurde mitgeteilt, daß sie ab sofort in den Gemeinderäumen untergebracht sei. Die Gemeinde reagierte mit Beifall 76. In verschiedenen Zeitschriften erschien ein Bild, das die Familie nach dem Gottesdienst unter dem Altarkreuz zeigte77.
73
Zum Verfahrensverlauf vgl. die Chronik der Vorgeschichte, in: Pilgramm, a.a.O., S. 17. 74
ff.
Heidrun Führer, Wir haben es uns nicht leicht gemacht, in: Pilgramm, a.a.O., S. 47
75
Kirchenasyl soll der Gerechtigkeit dienen, Erklärung zum Beginn des Kirchenasyls, in: Pilgram, a.a.O., S. 71 f. 76
Vgl. Chronoliege des Kirchenasyls, in: Pilgram, a.a.O., S. 67.
77
Etwa Focus Nr. 19/94 vom 9.5.1994, S. 75; DIE ΖΕΓΓ Nr. 21/94 vom 20.5.1994, S. 6; Rheinischer Merkur Nr. 20/94 vom 20.5.1994, S. 22; SZ vom 15./16.7.1995, S. 4; zuletzt als Dlustration zur Berichterstattung über die Asylurteile des BVerfG vom 14. Mai 1996 in der SZ vom 15./16.5.1996, S. 6, mit der Bildunterschrift "Der Himmel muß jetzt helfen: Kurdische Familie erhält Asyl in der Kirche"; vgl. zur Öffentlich5 Grefen
66
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Die Familie wurde in den Jugendräumen unter der Kirche untergebracht. Wegen einer zu befürchtenden Verhaftung hat sie die Gemeinderäume während des Kirchenasyls nicht verlassen. Die Unterstützergruppe versorgte die Menschen mit Verpflegung und organisierte einen nächtlichen Wachdienst. Für den Fall eines Polizeieinsatzes waren Kirchengeläut und eine Telefonkette geplant78. Am Tag nach der Aufnahme der Familie wurden die Ausländerbehörde und die Gemeindeverwaltung über die Kirchenasylaktion informiert. Ein erstes Sondierungsgespräch zwischen den Pfarrern und einem Vertreter des bayrischen Innenministeriums fand am 11.4.1994 statt. Dieser verwies darauf, daß keine Gefahr für die von Abschiebung in die Türkei bedrohten Kurden bestehe, die eher als Wirtschaftsflüchtlinge anzusehen seien79. Nach dieser Absage beschloß der evangelische Kirchenvorstand am 13.4.1994, sich an die Presse zu wenden, um im Namen der St. Johannes Kirchengemeinde Gilching Prüfung und Annahme eines Asylfolgeantrags für die Familie zu fordern 80. Ähnlich äußerte sich der Pfarrgemeinderat der katholischen Kirchengemeinde, der in einer Erklärung vom 21.4.1994 die Gewährung des Kirchenasyls begrüßte und unterstützte81. Nachdem die Medien ausführlich über den Fall berichtet hatten, forderten die Seelsorger am 17.4.1994 den bayrischen Innenminister Günther Beckstein82 auf, der Familie eine Duldung gemäß § 55 I AuslG zu erteilen83. Als dieser nicht reagierte, wurde den Initiatoren des Kirchenasyls zunehmend deutlich, daß die bayrische Innenverwaltung nicht weiter gewillt war, über die Angelegenheit zu verhandeln, weil die Behörden auf eine baldige Beendigung der Aktion und auf eine Übergabe der betroffenen Personen an die Polizei drängten84. Als das Verwaltungsgericht am 25.4.1994 auch den Eilantrag der Familie ablehnte, mehrten sich Hinweise auf einen bevorstehenden Polizeieinsatz. In einem letzten Gespräch verwies der Landrat gegenüber den Pfarrern abschlie-
keitsarbeit in Gilching näher Heidrun Führer, Pressearbeit während des Gilchinger Kirchenasyls, in: Pilgram, a.a.O., S. 115 ff. 78
Martin Pilgram, Die Betreuer, in: ders., a.a.O., S. 106 - 109.
79
Chronologie des Kirchenasyls, in: Pilgram, a.a.O., S. 68.
80
Vgl. Herbert Specht, Erfahrungen mit dem Kirchenasyl, in: Pilgram, a.a.O., S. 95.
81
Max Lang, Warum Kirchenasyl in Gilching, in: Pilgram, a.a.O., S. 84.
82
Zur Position Becksteins in der Kirchenasyldebatte siehe unten S. 96 f.
83
Chronologie des Kirchenasyls, in Pilgram, a.a.O., S. 68.
84
Vgl. Max Lang, Warum Kirchenasyl in Gilching, in: Pilgram, a.a.O., S. 86.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
67
ßend auf die Entscheidungskompetenz des bayrischen Innenministeriums85. Innenminister Beckstein hatte sich kurz zuvor in einem Interview für eine "konsequente, massive und harte" Anwendung des Ausländer- und Asylrechts ausgesprochen86. In einem Schreiben an die örtliche Pro-Asyl-Gruppe versicherte er, daß er auch privat überzeugt sei, daß Kurden in der Westtürkei keine Verfolgung zu fürchten hätten87. Daraufhin erfuhren die Initiatoren, daß bereits das Landeskriminalamt eingeschaltet und eine polizeiliche Räumimg geplant waren. Sie entschlossen sich deshalb das Kirchenasyl zu beenden und der Familie ein Untertauchen zu ermöglichen88. In der Abschlußerklärung vom 2.5.1994 heißt es: "Das Kirchenasyl für Familie S. in Gilching St. Sebastian ist beendet. (...) Wir haben keine Angst vor einer Räumung, doch können wir das Leben der Familie S. selbst in unseren Kirchenräumen unter diesen Umständen nicht mehr schützen. (...) Als Familie S. Ostermontag in das Kirchenasyl aufgenommen wurde, erhofften wir uns, daß sie hier - im Schutz sakraler Räume - warten könne auf eine erneute und gerechte Überprüfung ihres Asylfolgeantrags und der noch ausstehenden Petition. Dieses Ziel haben wir nicht erreicht. (...) Unser Gewissen verbietet uns nähere Angaben zum Verbleib der Familie S. Jedes weitere Wort könnte lebensbedrohend sein. (...) Wir appellieren hier an dieser Stelle noch einmal eindringlich an das bayrische Innenministerium von seiner Möglichkeit Gebrauch zu machen, zumindest eine Duldung auszusprechen"89.
2. Typische Erscheinungsmerkmale des Kirchenasyls Die vorgenannten Fälle können als beispielhaft bezeichnet werden. Sie stimmen in ihrer Grundstruktur mit den Sachverhalten überein, die unter dem Begriff "Kirchenasyl" beschrieben sind.
85
Chronologie des Kirchenasyls, in: Pilgramm, a.a.O., S. 69.
86
SZ vom 16.4.1994, aus WDR-Pressearchiv, Stichwort: Kirchenasyl.
87
Abgedruckt bei Pro Asyl-Gruppe Wörthsee, Der Rechtsstaat spricht, in: Pilgram, a.a.O., S. 101 f. 88 Vgl. Norbert Weidlinger, Ende des Kirchenasyls - Nacht der Entscheidung, in: Pilgram, a.a.O., S. 129 ff., insbes. S. 130 u. 132. 89
Erklärung zur Beendigung des Kirchenasyls vom 2. 5. 1994, in: Pilgram, a.a.O., S. 139 ff
68
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Sämtliche Fälle weisen typische Merkmale auf 90. 90
Vgl. dazu etwa die folgenden Falldarstellungen: Ev. Kirchengemeinde Gelsenkirchen-Hassel: Heinrich, "...und ihr habt mich beherbergt", Junge Kirche, Heft 11/1983, S. 601 - 607; Ev. Kirchengemeinde Lendringsen: Möhl, Kirchenasyl ist ihre letzte Hoffnung, Der Weg, Nr. 30/1994, sowie Hacke, In der Kirche durch die Hölle gehen, SZ Nr. 296 vom 24./25./26.12.1994, S.3; Ev. Kirchengemeinde Altluneberg: Naatjes, "Wenn Kirchenasyl zur Zerreißprobe wird", epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 22 ff ; Ev. Versöhnungskirche Ratingen: Meinhard, Zehn Jahre mit Flüchtlingen, Gemeindebrief, Sondernummer 1991, S. 16 ff; Ev. Stephanuskirche Hamburg-Eimsbüttel (1984): Komitee Susan Alvi ola, Die Angst vor dem Aufrechten Gang einer Frau, S. 1 ff, siehe auch Quaritsch, Recht auf Asyl, S. 52 f., Anm. 102 sowie FAZ Nr. 261 vom 17.11.1984, S. 4; Ev. Kirchengemeinde Detmold-Hiddesen: Goecken, Beispiele für zivilen Ungehorsam, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), Streit um das Asylrecht, Begegnungen Nr.7/1992, S. 36 - 41; ders., Erfolg durch Einmütigkeit, in: Wolf-Dieter Just, Asyl von unten, S. 137 ff ; Ev. Studentengemeinde Münster: Müller-Münch, Die Geschichte der Anife, in: Just (Hrsg.) Asyl von unten, S. 145 ff; dies., Anife und die Angst vor den "Herren des Morgengrauens", FR vom 6.10.1992, S. 3; Ev. Antoniterkirchengemeinde Köln sowie die Ev.. Kirchengemeinden Dinslaken, Heckinghausen, Elberfeld-Ost und Ronsdorf siehe Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, Berichte aus den Gemeinden, S. 8 - 19; vgl. für die Berliner Kirchen Passoth, Keine Rückkehr in das "Land des Todes", und Garrer, Asylberatung in Kreuzberg, beide in: Just (Hrsg.) Asyl von unten, S. 149 ff. u. 154 ff; Berliner kath. Gemeinden: Herrmann, Auch der Bischof steht dahinter, Publik-Forum Nr. 5 vom 11.3.1994, S. 17; Kath. Kirchengemeinden Sinsheim u. Heidelberg-Rohrbach: Lui/Blechinger, Kurden beinahe "aus Versehen" abgeschoben, in: Just (Hrsg.) Asyl von unten, S. 142 ff; Ev. Kirchengemeinde Wuppertal-Ronsdorf: von Clausewitz, Gott mehr gehorchen, Publik-Forum Nr. 20 vom 22.10.1993, S. 34; Ev. Jubilate-Gemeinde Hamburg-Billstedt: Merz, Die Flucht in die Gemeinde, DIE ZEIT Nr. 22 vom 27.5.1994, S. 81; s.a. Gräuel, Wohnen wie Gott in Deutschland, ΖΕΓΓ-Magazin vom 19.2.1998, S. 21 ff, Ev. Kirchengemeinde Düsseldorf-Garath: Meyer, Es lohnt sich aufeinander zuzugehen, in: Landeskirchenamt der EKiR, Asyl in der Gemeinde, S. 23 ff, siehe zu diesem Fall auch die umfassende Fallstudie von Suberg, Kriterien für "Kirchenasyl" am Beispiel einer Gemeinde in Dortmund (sie.: anonymisiert, gemeint ist Düsseldorf-Garath); Ev. Kirchengemeinde Jena: Liebsch, "Liebe Gemeinde", ND vom 1./2.10.1994, Beilage, S. 9 (dazu auch FR vom 9.9.1994 -Im Blickpunkt-); Bistum Augsburg: Schneider, "Also nehmen wir die Familie auf', SZ Nr. 88 vom 15./16./17.4.1995, s. dazu auch SZ vom 22.4.1995, S. 36 sowie KNA-ID Nr. 20/18.5.1995, S. 2; kath. Mariä Himmelfahrt Gemeinde Regensburg: Thym, Beifall fur Regensburger Kirchenasyl, SZ Nr. 65 vom 19.3.1996, S. 29; Ev. Kirchengemeinde Fischbach (Bayern): SZ vom 3.6.1996, S. 17; Ev. Kirchengemeinde Egelsbach/Hessen: FR vom 22.8.1996, S. 25; Ev. Kirchengemeinde Düren: Rössler, Kirchenasyl in Düren erfolgreich, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 117 ff. (Anhang); kath. St. Bartholomäus Gemeinde Ettenheim: Bleckwehl, Kirchenasyl in Ettenheim, in: Kirchenasyl, S. 113 ff.; Ev. St. Johannes Gemeinde Braunschweig: Spoo, Und überall droht ihnen nur Haft, in: FR Nr. 12 vom 15.01.1997, S. 6; kath. St. Joachim Pfarrei Sendlingen: Maier-Albang, Der Weg aus dem Keller als Sackgassen, in: SZ, Nr. 37 vom 14.02.1997, S. 16; weitere Beispiele bei Tocha/Drobinski (Hrsg.), Publik-Forum Materialmappe Kirchenasyl, S. 19 ff.; Nagel, Flüchtlinge und Kirchenasyl, S. 20 ff.; Grämlich, Asyl in der Kirche?, in: Gedächnisschrift f. G. Küchenhoff, S. 195 f.; s. ferner die Nachw. bei Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. m, S. 606 f.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
69
a) Aufnahme ausländischer Flüchtlinge in den räumlich-gegenständlichen Bereich einer Kirchengemeinde Allgemein kennzeichnet der Begriff die Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen, die mit ihrer Abschiebung rechnen müssen, in den räumlichgegenständlichen Bereich einer Kirchengemeinde. Dabei erfolgt die Unterbringung nur selten im eigentlichen Gottesdienst- und Altarraum, welcher für die Gemeinde nutzbar bleiben soll. Eine Ausnahme bildete die Aufnahme einer Gruppe von 20 Armeniern in der evangelischen Kirchengemeinde St. Michael in Jena, die in der Stadtkirche mit Billigung der Gemeindeleitung Zelte aufstellte, um darin zu wohnen91. Als Unterkunft dienen häufig kirchliche Räumlichkeiten, die sich zu Wohnzwecken herrichten lassen, etwa ein Versammlungsraum, ein Jugendkeller, eine Altenstube oder eine Dienstwohnung92. Dabei wird allerdings nur ausnahmsweise auf die räumliche Nähe des Unterbringungsortes zum eigentlichen Kirchenbau verzichtet. In der Regel erhoffen sich die Initiatoren gerade aus dieser Nähebeziehung einen gesteigerten Schutz vor staatlichen Eingriffen. Aus diesem Grunde findet sich in den Räumungsszenarien der Unterstützergruppen nicht selten der Gedanke, im Falle eines bevorstehenden polizeilichen Eingriffs den Gesuchten sofort in den Altarraum zu verbringen und darüber hinaus mit der Feier eines Gottesdienstes93 oder einem Glockengeläut zu beginnen94. Dadurch soll die Dramatik eines behördlichen Einschreitens öffentlichkeitswirksam demonstriert und so die Eingrififsschwelle erhöht werden95.
b) Mitwirkung
eines kirchlichen Leitungsorgans
Die Unterbringung im Kirchenbau als Kirchenasyl erfolgt stets unter Mitwirkung eines kirchlichen Leitungsorgans, welches den Initiatoren und ihren
91 Vgl. die ausführl. Fallschilderung von Dorsch/Rosemann, Kirchenasyl ist geteilte Angst, in: Kirchenasyl, S. 121 ff. sowie Liebsch, "Liebe Gemeinde", ND vom 1./2.10.1994, Beilage, S. 9 und FR vom 9.9.1994 "Im Blickpunkt". 92
Vgl. Merz, Die Flucht in die Gemeinde, in: DIE ΖΕΓΓ Nr. 22 vom 27. 5. 1994, S. 81 (Jubilate-Gemeinde Hamburg-Billstedt) und Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 127. 93
"Wir waren darauf vorbereitet, wäre die Polizei gekommen, hätte bei uns sofort ein Gottesdienst stattgefunden" so Pfarrer Rolf Heinrich (Lukas Kirchengemeinde Gelsenkirchen) in FR vom 6. Oktober 1992, S. 3. 94
Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 127. 95
Ebd.
70
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Schützlingen die organisatorischen, räumlichen und institutionellen Mittel einer Kirchengemeinde zur Verfügung stellt96. In der Ev. Kirchengemeinde Brackel etwa verlief die Aktion auf der Grundlage eines Presbyteriumsbeschlusses. In der katholischen Pfarrgemeinde Gilching erteilte der Pfarrer seine Einwilligung. Daneben brachte auch der Pfarrgemeinderat seine Zustimmung zum Ausdruck. Auch aus der Praxis erwachsene Handlungsanleitungen zur Aktionsform "Kirchenasyl" betonen die Notwendigkeit der Mitwirkung des ortsgemeindlichen kirchlichen Leitungsorgans97. Typisches Merkmal des Kirchenasyls ist daher die Überlassung kirchlicher Räume zur Benutzung als Wohnraum, die durch Ausübung des Hausrechts geschieht. Der äußeren Form nach ist Kirchenasyl also die befristete Gewährung von Unterkunft für ausländische Flüchtlinge in den Räumen einer Kirchengemeinde unter Mitwirkung eines kirchlichen Leitungsorgans. Die Unterbringung erfolgt in Räumen, auf die sich das Hausrecht des Leitungsorgans erstreckt.
c) Abwendung einer drohenden Abschiebung Die innere Zielsetzung des Kirchenasyls ergibt sich aus seinem Bezug zum staatlichen Asyl- und Ausländerrecht. Sowohl in Brackel als auch in Gilching wurde das Kirchenasyl befristet gewährt und richtete sich an ausreisepflichtige Ausländer. Unmittelbar nach Aufnahme der Betroffenen in die kirchlichen Räume bemühten sich die Initiatoren um eine Revision der Asylverfahren, jeweils im Rahmen von Asylfolgeanträgen nach § 71 AsylVfG. Dabei waren sie zu der Überzeugung gelangt, daß bei einer Rückführung den Ausländern in ihren Heimatländern schwerwiegende Gefahren, wie Folter, lebenslange Haft oder Tod, drohten. Mit dieser Überzeugung suchten sie auf die zuständigen Behörden einzuwirken, um doch noch ein Bleiberecht zu erwirken. Weder im Fall Brackel noch im Fall Gilching beabsichtigten die Verantwortlichen, einen dauerhaften Aufenthalt im Kirchenasyl zu verschaffen. Vielmehr verstanden beide Gemeinden das Kirchenasyl als ein letztes Mittel, die Betroffenen vor einer Abschiebung zu bewahren und die Behörden zum Nachgeben zu bewegen.
96 97
Lob-Hüdepohl, Asyl mit der Kirche, in: Caritas, Heft 4/1994, S. 169.
Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e. F., Erstinformsation "Kirchenasyl", S. 22; Quandi, Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, in: Asyl von unten, S. 197; Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 44; Evangelische Kirche in Berlin/Brandenburg, Handreichung zum Thema "Asyl in der Kirche", Grundsätze, Nr. 7; vgl. ferner Lob-Hüdepohl, Asyl mit der Kirche, in: Caritas, Heft 4/1994, S. 169; Heimbach-Steins, Kirchenasyl, in: Stimmen der Zeit, Heft 5/1996, S. 301.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
71
Dies läßt sich als inneres Wesensmerkmal der Kirchenasylpraxis verallgemeinern: Kirchenasyl meint nicht die dauerhafte, sondern die zeitlich befristete Aufnahme von ausreisepflichtigen Ausländern mit dem Ziel, die zwangsweise Durchsetzung des staatlichen Rückführungswillens zumindest vorläufig zu vereiteln98. Es soll als Mittel zur Erwirkung eines Zeitaufschubes dienen, damit alle den Initiatoren relevant erscheinenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte einer erneuten Prüfung durch die staatlichen Stellen unterzogen werden können99. Der sich aus dieser Forderung ergebende "Konflikt mit dem Staat im Dienste der Humanität"100 resultiert daraus, daß die Gewährung von Kirchenasyl nach einhelliger Auffassung die Ausschöpfung sämtlicher eine Abschiebung hindernde Rechtsmittel erfordert und sich als ultima ratio versteht 101. Seine Initiatoren akzeptieren einen verfahrensabschließenden Rechtsentscheid nicht als letztgültig102. Sie unterstellen, daß auch staatliches Handeln unter Einhaltung des Legalitätsprinzips im Einzelfall Menschenrechte mißachten kann 103 . Mit ihrer Handlungsweise wollen sie vom Staat die Beachtung eines außerordentlichen Rechtswahrungsverfahrens erzwingen104. Daraus erhellt, daß sich das in Deutschland praktizierte Kirchen98
Vgl. Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e.V. (Hrsg.), Erstinformation Kirchenasyl, S. 12; Quandi , Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser fur Gemeinden, in: Wolf-Dieter Just, Asyl von unten, S. 194; Landeskirchenamt der EKiR, Kriterien für die Durchführung von Kirchenasyl, in: dass. (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 40 f.; Winter, "Kirchenasyl" als Herausforderung fur Staat und Kirche, in: KuR 4/1995, S. 39; Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 3/1996, S. 97; Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 116 (Just weist darauf hin, daß es keine einheitliche Definition für Kirchenasyl gebe und nach seiner Auffassung auch der Schutz vor einer "Umsetzung" im Inland zum Kirchenasyl zu rechnen sei; siehe dazu unten S. 83. Über die im Text genannten Mindestbegriffsbestimmung herrscht allerdings Einigkeit unter den Befürwortern.); vgl. ferner sämtliche unter C., Fn. 90 aufgeführten Fälle. 99
Quandi , Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, in: Wolf-Dieter Just, Asyl von unten, S. 195; Winter, a.a.O., S. 39; ähnlich Bischof Karl Lehmann, Gewissen gegen Rechtsnorm, Interview in: Der SPIEGEL Nr.20/1994 S. 51 und der Berliner Kardinal Sterzinsky, in: KLD-Brief ausi. Flüchtlinge, Nr. 10 vom 25.2.1994. 100
So der Titel von Justs soeben (Fn. 98) zit. Beitrags.
101
Uihlein, Der Umgang mit "Illegalen", in: Asyl am Heiligen Ort, S. 146; Quandi , Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, a.a.O., S. 197; Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e.V. (Hrsg.), Erstinformation Kirchenasyl, S. 12; Heimbach-Steins, Kirchenasyl in: Stimmen der Zeit, Nr. 5/1996, S. 295 102
Vgl. Rothkegel, Kirchenasyl - Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 122.
103
Quandi , Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, in: Wolf-Dieter Just, Asyl von unten, S. 195. 104
Ähnlich Heimbach-Steins, Kirchenasyl in: Stimmen der Zeit, Nr. 5/1996, S. 295 sowie Uihlein, Der Umgang mit "Illegalen", in: Asyl am Heiligen Ort, S. 146.
72
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
asyl nicht einemfluchtverursachenden Verfolgerstaat entgegenstellt. Vielmehr sucht es, das Verfahren zur Gewährung eines Aufenthaltstitels in einem Staat zu beeinflussen, der grundsätzlich als Rechts- und Wohlfahrtsstaat selbst Schutz vor Verfolgung und Not bietet105. Dabei variieren die Forderungen je nach den Eigenheiten des Falls: zum Teil soll ein dauerhaftes Bleiberecht erreicht werden, zum Teil beschränkt man sich auf eine Duldung (§ 55 AuslG) 106 oder auf die Durchführung eines fairen Verfahrens, hilfsweise wird eine freiwillige Weiterwanderung in ein Drittland angeregt107. Dabei sind die Initiatoren regelmäßig bemüht, neues Material zu beschaffen, welches das Vorliegen konkreter Gefahren belegen soll. Dazu nutzen die Kirchengemeinden auch ihre vielfachen ökumenischen Kontakte und Beziehungen zu Kirchen im Ausland und Flüchtlingsorganisationen108. Nicht ganz einheitlich beurteilen die Befürworter des Kirchenasyls die Frage, bei welcher Intensität drohender Rechtsverletzung eine Aufnahme von Flüchtlingen geboten ist. Allgemein wird sie als notwendig angesehen, wenn durch eine Abschiebung, nach Überzeugung der Initiativträger, nicht auszuschließende Gefahren für Leib und Leben drohen 109. Weitergehende Auffassungen rechnen, in Anknüpfung an die Abschiebungshindernisse des § 53 Abs. 6 AuslG, Freiheitsverletzungen durch Inhaftierungen von gewisser Dauer hinzu 110 . Reuter stellt auf eine menschenrechtswidrige Verfolgung im Herkunftsland ab, wozu auch die Folter oder landesübliche Todesstrafe zählen sollen111. Nach Quandi besteht die Absicht darin, inhumane und menschen-
105 106
Vgl. Mühleisen, Eine notwendige Spannung, in: HK Heft 7/1994, S. 351. Praxisbeispiele oben S. 57 ff.
107 Vgl. Passoth, Mehr als 10 Jahre Kirchenasyl in Berlin, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit S.68; Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 40. 108 Siehe die Aufzählung bei Landeskirchenamt der EKiR, Kriterien für die Durchführung von Kirchenasyl, in: dass. (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S.38 f. sowie Kommission XIV Migration der Deutschen Bichofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall, S. 26 f. (Nr. 78 f.). 109
Landeskirchenamt der EKiR, Asyl in der Gemeinde, S. 41; Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e.V. (Hrsg.), Erstinformation Kirchenasyl, S. 12; Kommission XIV Migration der Deutschen Bichofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall, S.3 (Nr. 7.8, 7.10); Quandi, Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, in: Wolf-Dieter Just, Asyl von unten, S. 195. 110 Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e.V. (Hrsg.), Erstinformation Kirchenasyl, S. 12. 111
Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP Nr. 3/1996; ähnlich Bischof Lehmann, Gewissen gegen Rechtsnorm, Interview, in:Der SPIEGEL Nr.20/1994 S. 51 und Kardinal Sterzinsky, in: KLD-Brief ausi. Flüchtlinge, Nr. 10 vom 25. 2. 1994.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
73
rechtswidrige Härten für die betroffenen Menschen zu vermeiden oder sie vor Gefahr für Leib und Leben im Rückkehrland zu bewahren112. Der weite und undeutliche Begriff "inhumane und menschenrechtswidrige Härten" soll die Trennung von Familien durch Abschiebung ebenso umfassen wie die Auflösung sozialer Verfestigung und Integration nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland113. Aber auch nach Ansicht der weitergehenden Auffassungen rechtfertigt nicht jeder Fall drohender Abschiebung die Aufnahme ins Kirchenasyl. Entscheidend soll es darauf ankommen, daß sich der Gedanke der ultima ratio in jedem einzelnen Fall widerspiegelt, d. h. es müssen schwerwiegende humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprechen114.
3. Einzelne Erscheinungsformen des Kirchenasyls Es lassen sich verschiedene Erscheinungsformen des (Ausländer-) Kirchenasyls erkennen.115 Namentlich ist zu differenzieren zwischen - akutem und präventivem Kirchenasyl 116, - lautem und stillem Kirchenasyl 117, - offenem und verstecktem Kirchenasyl118 sowie - sonstigen Erscheinungsformen.
112
Quandi , Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, in: Wolf-Dieter Just, Asyl von unten, S. 194 f. 113
Ebd.; ähnlich Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 116. 114 Passoth, Mehr als 10 Jahre Kirchenasyl in Berlin, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 63. 115
Zum Inländerkirchenasyl siehe oben S. 53.
116
So die Differenzierung der Dortmunder Gemeinde, die hier aufgegriffen werden soll, siehe oben S. 61. Die hier benutzen Begriffe des "akuten" und des "präventiven" Kirchenasyls sind synonym mit den dort benutzten Begriffen des "großen" und des "kleinen" Kirchenasyls. 117 Begriffe bei Heidrun Führer, Pressearbeit während des Gilchinger Kirchenasyls, in: Pilgram (Hrsg.), Wir wollen, daß ihr bleiben könnt, S. 127. 118
Bei Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 128.
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
a) Akutes und präventives Kirchenasyl Das akute Kirchenasyl betrifft die Fälle, in denen der betreffende Ausländer mit seiner jederzeitigen Abschiebung gemäß § 49 AuslG rechnen muß, weil seine mit der Ablehnung des Asylantrages und in Ermangelung einer Aufenthaltsgenehmigung gegebene Ausreisepflicht (vgl. § 34 AsylVfG und § 42 AuslG) vollziehbar ist. Wurde ein Asylantrag als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet i.S.d. § 36 AsylVfG beschieden, beträgt die zu setzende Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylVfG eine Woche. Eine Klage suspendiert gemäß § 75 AsylVfG nicht 119 . Damit ist die Vollziehbarkeit schon mit der Ablehnung des Antrages gegeben, vgl. § 42 Abs. 2 S. 2 AuslG. In den Fällen sonstiger Ablehnung beträgt die Ausreisefrist gemäß § 38 Abs. 1 AsylVfG einen Monat. Eine Verpflichtungsklage hit gemäß § 75 AsylVfG aufschiebende Wirkung, so daß die Ausreisepflicht erst nach dem rechtskräftigen Abschluß des Klageverfahrens vollzogen werdert kann, wobei die Ausreisefrist einen Monat nach Rechtskraft endet, § 38 Abs. 1 S. 2 AsylVfG 120. Beim akuten Kirchenasyl ist der Aufenthalt im Kirchenraum der letzte, sei es auch nur faktische Hinderungsgrund, der die Behörden von einer zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht abhalten kann121. Zugleich liegt häufig einrichterlicher Haftbefehl vor, der eine Sicherungshaft nach § 57 Abs. 2 Nr. 4 AuslG anordnet, so daß der Flüchtling bei einem Verlassen des Kirchenraums seine Inhaftierung zu befürchten hat 122 . So wurde etwa der 19jährige Kurde Mesut Demirkiran am 5.5.1996 von der Polizei festgenommen, nachdem er die Kirche im bayrischen Höchstadt/Aisch verlassen hatte, um seinen wegen einer Erkrankung in einer anderen Kirchengemeinde untergebrachten Vater zu besuchen123. Ein Sprecher des bayrischen Innenministeri-
119 Zwar ist bei einem Antrag nach 80 Abs. 5 VwGO gemäß § 36 Abs. 3 S. 7 AsylVfG die Abschiebung vor dieser gerichtlichen Entscheidung nicht möglich, welches aber an der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nichts ändert, weil jedenfalls die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) nicht ausgesetzt werden darf, § 34 a Abs. 2 AsylVfG. Auch hindert das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht die Abschiebung in ein anderes Land, § 34 Abs. 1 S. 1 AsylVfG. i. V. m. §§ 50, 51 Abs. 4 AuslG. 120
Vgl. Kanein-Renner, Ausländerrecht, § 38 AsylVfG, Rn. 3.
121
Siehe die "Übersicht über die 1996 laufenden Kirchenasyle für unmittelbar von der Abschiebung bedrohte Ausländer" bei Vogelskamp, Das beharrliche Ringen der Gemeinden um Flüchtlingsschutz, epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 6 f. 122
Vgl. zur Sicherungshaft näher Kanein-Renner, Ausländerrecht, § 57 AuslG, Rn. 11 ff. sowie unten S. 280. 123 Vgl. SZ Nr. 105 vom 7.5.1996, S. 32; SZ Nr. 106 vom 8.5.1996, S. 17 u. SZ Nr. 107 vom 9.5.1996, S.41.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
75
ums kündigte daraufhin an, daß Demirkiran auch ohne seine Familie abgeschoben werde 124. Wenige Stunden nach der Festnahme wurde er, begleitet von Bundesgrenzschutzbeamten, nach Istanbul ausgeflogen. Die Abschiebung erfolgte so zügig, daß Freunde und Betreuer der Familie keine Gelegenheit hatten, dem jungen Mann einige persönliche Dinge mitzugeben125. Das präventive Kirchenasyl betrifft die Fälle, in denen die Flüchtlinge zwar ausreisepflichtig sind, die Behörden aber nicht auf einen sofortigen Vollzug drängen oder daran aus Rechtsgründen gehindert sind126. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Ausreisefrist noch nicht abgelaufen ist oder verlängert wird, wenn eine Duldung nach § 55 AuslG erreicht werden kann (die die Ausreisepflicht gemäß § 56 Abs. 1 AuslG unberührt läßt) oder wenn ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO Erfolg hat und keine Abschiebung in ein sicheres Drittland (§ 26 a AsylVfG) droht (vgl. § 34 a Abs. 2 AsylVfG) 127. Beispielhaft für ein derartiges präventives Asyl ist der Fall Brackel, wo die Unterstützer immer wieder einen zeitlichen Aufschub und später eine Duldung erwirken konnten 128 . Vor dem Hintergrund, daß die Behörden von einer Duldungspolitik jederzeit abrücken können, erschöpft sich die praktische Bedeutung des präventiven Kirchenasyls in der schnellen Realisierbarkeit eines akuten Kirchenasyls ohne weiteren organisatorischen Aufwand.
b) Lautes und stilles Kirchenasyl Das laute Kirchenasyl ist stark medienorientiert und setzt auf eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Es will die öffentliche Meinung von der moralischen Stichhaltigkeit seiner Argumente überzeugen und gegen die als unmenschlich dargestellte staatliche Ablehnungs- und Abschiebepraxis mobilisieren129. Dem Zerrbild vom "Asylantenstrom" stellt es ein individuelles Flüchtlingsschicksal entgegen. Indem das Problem "ein Gesicht erhält", soll die Öffentlichkeit zur 124
SZ Nr. 105 vom 7.5.1996, S. 32.
125
SZNr. 106 vom 8.5.1996, S. 17.
126
Vgl. Vogelskamp, Das beharrliche Ringen der Gemeinden um Flüchtlingsschutz, epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 6. 127 Kein Fall des präventiven Kirchenasyls ist mehr gegeben, wenn die Behörde eine Ausfenthaltsgenehnügung nach § 30 Abs. ΠΙ AuslG erteilt, weil dann die erforderliche Ausreisepflicht nicht mehr besteht, vgl. Kanein-Renner, Ausländerrecht, § 30 AuslG, Rn. 9. 128 129
Oben S. 56 ff., insbesondere S. 61.
Vgl. Quandt, Kirchenasyl - Ein praktischer Wegweiser für Gemeinden, in: WolfDieter Just, Asyl von unten, S. 202.
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Anteilnahme bewogen werden 130. Zwar war die Gewährung von Kirchenasyl in kaum einem Fall innerhalb wie außerhalb einer Kirchengemeinde unumstritten 131. Jedoch zeigen viele Berichte und Dokumentationen, daß es den Initiatoren bald gelang, die regionale Presse auf ihre Seite zu bringen und die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Nach einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts von Juni 1994 meinten insgesamt 62 % der Befragten, daß Flüchtlinge unter bestimmten Umständen in Kirchen Asyl finden sollten, 29 % waren dagegen; von den Gegnern waren nur 18 % dafür, daß Polizei in Kirchenräume eindringen sollte, 73 % sprachen sich dagegen aus132. Typisches Begleitinstrument dieser Asylform ist die Ausübung des Petitionsrechts durch Eingaben an Bundestag, Landtage und Kommunalparlamente, die zwar keine unmittelbar rechtlichen, wohl aber politische Wirkungen zeitigen können133. Mit dem so erzeugten politisch-moralischen Druck erhoffen die Initiatoren, die Entscheidungen von Behörden und Gerichten in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Einzelne Erfolge werden auf diesen Druck zurückgeführt. In der Abschlußerklärung zum Kirchenasyl für Paul Nketia der Ev. Kirchengemeinde Lendringsen heißt es etwa: "Die ausführliche Berichterstattung in den Medien, ... die umfangreichen Solidaritätsbekundungen durch Gruppen, Gemeinden, Kirchenleitungen und zahlreichen Einzelpersonen haben dafür gesorgt, daß er seinen Anspruch auf rechtliches Gehör auf dem Boden der Bundesrepublik durchsetzen konnte. Nicht zuletzt... (die) Resonanz in den Medien hat das Gericht veranlaßt, seine vorherigen Entscheidungen zu revidieren und die Abschiebung auszusetzen"134.
130 Just/Vogelskamp, Kirchenasyl - ein demokratisches Streitmittel, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 26 f.; vgl. Niebeh, Sanctuary in Deutschland 1993, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 17. 131 Zu den Konflikten innerhalb der Gemeinde, "Wenn Kirchenasyl zur Zerreißprobe wird", epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 23 ff.; s. a. Pilgram, Nicht nur Zustimmung, in: ders. (Hrsg.), Wir wollen, daß ihr bleiben könnt, S. 167 f. sowie die Berichte der Ev. Kirchengemeinden Dinslaken, Heckinghaus und Elberfeld in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 13 f. 132 Wiedergegeben bei Just, Die Kirchenasylbewegung in Deutschland, in: Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, S. 9. 133 134
Vgl. zum Petionsrecht unten S. 273.
Abschlußerklärung der Ev. Kirchengemeinde Lendringsen, zit. nach Vogelskamp, Das beharrliche Ringen der Gemeinden um Flüchtlingsschutz, epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 7.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
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Eine Variante des lauten Kirchenasyls bildet das sog. "Wanderkirchenasyl"135. Der bislang einzige Fall dieser Art begann am 21.1.1998 in der Kölner Antoniterkirche mit 20 kurdischen Flüchtlingen. Kurze Zeit später "wanderte" diese Gruppe, die später auf über 360 Personen anwuchs, durch mehr als 80 Kirchengemeinden in Nordrhein-Westfalen. Bei dieser Aktion ging es nicht primär um den Schutz einzelne1 Flüchtlinge, sondern um die Forderung nach einem generellen Abschiebestopp für Kurden. Diese Forderung manifestierte sich in der "Düsseldorfer Erklärung", die im Juni 1998 zwei Drittel aller evangelischen Gemeinden im Rheinland unterzeichneten. Das laute Kirchenasyl bezieht sich nicht allein auf das Einzelschicksal des Betroffenen. Es lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die als mangelhaft kritisierte Rechtsstellung Fremder in der Bundesrepublik Deutschland und gerät leicht zu einem allgemeinpolitischen Votum gegen das geltende Asylrecht 136. Die Verquickung von karitativen und politischen Motiven erscheint auch Befürwortern des lauten Kirchenasyls problematisch137. Es wird betont, daß eine Instrumentalisierung der Kirchenasylflüchtlinge zur Unterstützung politischer Anliegen zu unterbleiben habe. Im Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit habe allein das konkrete Individualschicksal und die daraus für diesen Einzelfall resultierenden Forderungen zu stehen138. Aus diesem Grunde wird die Zulässigkeit des Wanderkirchenasyls von Kirchenleitungen und innerhalb der Kirchenasylbewegung bestritten. Der Aktionsform wird vorgeworfen, von der zentralen Forderung nach Einzelfallgerechtigkeit in besonderen Notlagen abzurücken und Flüchtlinge für politische Zwecke zu mißbrauchen139. Überdies führte die Beteiligung nichtkirchlicher Gruppen dazu, daß Kirchengemeinden sich häufig vor vollendete Tatsachen
135
Zum Folgenden Dufher, Flüchtlinge für politische Zwecke mißbraucht?, in: Publik-Forum, Nr. 4, 1999, S. 12 f. sowie Kommission XIV Migration der Deutschen Bischofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall, S. 7 (Nr. 16). 136 Just/Vogelskamp, Kirchenasyl - ein demokratisches Streitmittel, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 26 f., bemerken: "Damit erfahrt der Staat, dessen Schutzfunktion für Flüchtlinge schrittweise preisgegeben wird, fundierte Kritik aus unverdächtigen Kreisen - von einer kirchlichen Basis, in der sich das breite gesellschaftliche Spektrum politischer Überzeugungen widerspiegelt". 137 138
Vgl. Heimbach-Steins, Kirchenasyl, in: Stimmen der Zeit 1996, S. 297.
Landeskirchenamt der EKiR, Kriterien für die Aufnahme von Flüchtlingen, in: dass. (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 42; Kommission XIVMigration der Deutschen Bischofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall, S. 2 (Nr. 7.8). 139 Kommission XIV Migration der Deutschen Bischofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall, S. 7 (Nr. 16); vgl. zur Kirchenasylbewegung Dufner, Flüchtlinge für politische Zwecke mißbraucht? in: Publik-Forum, Nr. 4, 1999, S. 12 f.
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
gestellt sahen140. Das Vorgehen der Aktivisten entsprach zum Teil eher einer Kirchenbesetzung als einer Asylgewährung141. Versuche der Ausweitung des Wanderkirchenasyls auf Baden-Würtemberg im November 1998 scheiterten am Widerspruch der dortigen Asylgruppen und -gemeinden142. Im Gegensatz zum lauten Kirchenasyl verzichtet das stille Kirchenasyl bewußt auf Medienberichterstattung und Öffentlichkeit. Davon verspricht man sich vor allem, die anvisierten Verhandlungen mit den kommunalen Verwaltungen nicht zu belasten. In einem späteren Bericht über ein stilles Kirchenasyl in der Ev. Kirchengemeinde Düsseldorf-Garath heißt es: "Wir haben in Gottesdiensten und Gemeindekreisen immer von unseren Gästen erzählt, nicht aber in der Presse über das Kirchenasyl informiert. Wir wollten die Möglichkeiten, Familie H. zu helfen, nicht durch eine öffentlich ausgetragene Kampagne beschneiden"143.
Hinter der Entscheidung zum stillen Kirchenasyl steckt in erster Linie die Befürchtung, die Einschaltung der Öffentlichkeit könne die Verwaltung dazu bringen, eine ablehnende Position beizubehalten, um Präzedenzfälle zu vermeiden144. Zudem will man die Interessen der Flüchtlinge auf Anonymität wahren 145, und zum Teil schätzt man die öffentliche Meinung über Flüchtlinge derart negativ ein, daß man von einer anprangernden Medienaibeit einen gegenteiligen Effekt befürchtet 146. Einige Presbyterien konnten sich nicht für den Schritt in die Öffentlichkeit entscheiden, weil sie eine zu starke Politisierung der Aktion befürchteten. In der "Stille" der Gemeinde wollten sie den diakonisch-karitativen Aspekt im Vordergrund sehen, nicht selten im Konflikt mit den Unterstützergruppen 147.
140 vgl. Dufher, Flüchtlinge für politische Zwecke mißbraucht? in: Publik-Forum, Nr. 4, 1999, S. 13. 141 Ebd. ; vgl. zur Kirchenbesetzung S. 86. 142 vgl. Dufner, Flüchtlinge für politische Zwecke mißbraucht? in: Publik-Forum, Nr. 4, 1999, S. 13. 143
Meyer, Es lohnt sich aufeinander zuzugehen, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 25; vgl. dazu näher Suberg, Kriterien für "Kirchenasyl" am Beispiel einer Gemeinde, S. 11 f. 144
Vgl. Vogelskamp, Das beharrliche Ringen der Gemeinden um Flüchtlingsschutz, epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 8; eine derartige Verfestigung der Behördenposition hat die Gilchinger Gemeinde erfahren, s. Führer, a.a.O., S. 128. 145
Vogelskamp, ebd., S. 8.
146
Ev. Kirchengemeinde Dinslaken, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 12; 147
Siehe etwa den Bericht der Ev. Kirchengemeinde Elberfeld-Ost, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 12.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
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Das stille Kirchenasyl verzichtet in der Regel auf das politisch wirksame Instrument der Petition und setzt auf die Handlungsspielräume und die Eigenverantwortung der kommunalen Ausländeibehörden ebenso, wie auf ein Entgegenkommen der Landes- oder Bundesbehörden im Vorfeld öffentlichen Drucks 148. Zum Teil werden die Erfahrungen mit dem stillen Kirchenasyl positiv bewertet 149, zum Teil wird resümiert, daß ein größerer öffentlicher Druck der Aktion eher förderlich gewesen wäre 150.
c) Offenes, halboffenes und verstecktes Kirchenasyl Diese Erscheinungsformen knüpfen an den Informationsstand der staatlichen und kommunalen Verwaltungen an. Beim offenen Kirchenasyl werden die Behörden von der Aufnahme der Flüchtlinge und ihrem Unterbringungsort in Kenntnis gesetzt151. Ihnen wird gewissermaßen die ladungsfahige Anschrift des Betroffenen übermittelt. Dies geschieht regelmäßig formell durch das Leitungsorgan der Kirchengemeinde 152 , zum Teil informell lanciert über Presseberichte153. Die Kenntnis vom Aufenthaltsort gestattet Polizei und Justiz zwar einen jederzeitigen Zugriff 154.
148
Vgl. Vogelskamp, Das beharrliche Ringen der Gemeinden um Flüchtlingsschutz, epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 8. (Soweit Vogelskamp (a.a.O.) nur auf kommunale Behörden abstellt, ist dies eine unnötige Verengung, weil das stille Kirchenasyl ein Verhandeln auf Landes- oder Bundesebene nicht ausschließt, wie das sog. "ClearingVerfahren Kirchenasyl" zwischen Landesinnenministerium NW und der EKiR zeigt; dazu näher unten S. 95). 149 Meyer, Es lohnt sich aufeinander zuzugehen, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 25 (Düsseldorf-Garath). 150
So in der Ev. Kirchengemeinde Elberfeld-Ost, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 12; s. a. Maier-Albang über einen Fall in der Sendlinger St. Joachimpfarrei, Der Weg aus dem Keller als Sackgasse, in: SZ, Nr. 37 vom 14.02.1997, S. 16. 151 Vgl. Ökumenisches Netzwerk Asyl i. d. Kirche NW e. V, Erstinformation Kirchenasyl, S. 12. 152
Passoth, Mehr als 10 Jahre Kirchenasyl in Berlin, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 60; siehe auch den Fall Brackel, oben S. 56 ff. 153 So im Fall Gilching, wo eine Pressemitteilung der Seelsorger die Aufnahme der Familie öffentlich machte, s. Chronologie des Kirchenasyls, in: Pilgram (Hrsg.), Wir wollen, daß ihr bleiben könnt, S. 67. 154
S. 12.
Ökumenisches Netzwerk Asyl /. d. Kirche NW e. Κ , Erstinformation Kirchenasyl,
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Jedoch fordert die Asylgemeinde zugleich die Behörden mit Vehemenz auf, von einem Eindringen in die kirchlichen Räume abzusehen und den geforderten Zeitaufschub zu gewähren155. Von ihrer Mitteilsamkeit erhoffen sich die Initiatoren, das Verhandlungsklima zu verbessern und die Behörden von schnellen und gewaltsamen Lösungen abzuhalten. Ihre Offenheit soll demonstrieren, daß keine Eile geboten ist, weil keine vollendeten Tatsachen geschaffen sind 156 . Die Existenz einer ladungsfähigen Anschrift ermöglicht es dem Flüchtling zudem, alle weiteren sich bietenden Verfahrensschritte offensiv zu betreiben. Anders als das auf eine Verhandlungslösung angelegte offene Kirchenasyl, will das versteckte Kirchenasyl den jeweiligen Flüchtling dauerhaft dem Zugriff der Behörden entziehen. Seine Initiatoren sehen Verhandlungen als aussichtslos oder gescheitert an. Es betrifft in der Regel Personen, die keinen Rechtsstatus in Deutschland mehr erwerben wollen. Sie werden vor den Behörden versteckt, die Illegalität ihres Aufenthalts wird perpetuiert. Da ein dauerhaftem Leben im Untergrund als wenig praktikabel erscheint, werden die Initiatoren nach Möglichkeiten einer Weiterreise des Flüchtlings in ein Drittland oder der Rückreise ins Herkunftsland suchen. Derartige Fälle, bei denen weder Aufnahme noch Unterbringungsort mitgeteilt werden, sind naturgemäß kaum bekannt geworden. Ein gezieltes Verstecken, wie es bei der amerikanischen SanctuaryBewegung die Regel ist 157 , wird in Deutschland eher kritisch betrachtet158. Überwiegend räumt man dem offenen Kirchenasyl den Vorzug ein, schon darum, weil ein langes Verstecken mit einer erheblichen psychischen Belastung für Flüchtlinge und Helfer verbunden und ohne rechte Perspektive ist 159 . Hinzu kommt, daß eine Kirchengemeinde selbst immer auch Öffentlichkeit darstellt und ein Verstecken in Anbetracht der erforderlichen Gremienentschei155
Zur entscheidenden Frage, ob diese faktische Möglichkeit auf einem durchsetzbaren Zugriffsrecht basiert, siehe Teil E. Hier sei nur vorausgeschickt, daß die Asylgemeinden ein Zugriffsrecht des Staates formal nicht verneinen (Legalität), wenngleich sie freilich die Legitimität eines derartigen Vorgehens massiv abstreiten (vgl. nur Ökumenisches Netzwerk Asyl i. d. Kirche NW e. V., a.a.O., S. 12 sowie oben S. 71 ff.). 156
So etwa im Fall der Ev. Kirchengemeide Lendringsen, s. Hacke, In der Kirche durch die Hölle gehen, SZ Nr. 296 vom 24./25./26.12.1994, S. 3. 157
Oben S. 54 f. mit Fn. 20.
158
Zur Kontroverse in der Berliner Kirche zwischen Altbischof Scharf und Bischof Kruse über die Frage der Aufnahme und des Versteckens von Flüchtlingen in der Gemeinde siehe Ebert, Widerstand gegen das Abschieben von Flüchtlingen, in: Junge Kirche 1988, S. 128 f. 159 Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 128.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
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düngen kaum zu realisieren ist. Daher wird eine solche Vorgehensweise eher Gegenstand privater Asylgewährung160 sein, wenngleich das versteckte Kirchenasyl als Möglichkeit diskutiert wird 161 . Demgegenüber verheimlicht das halboffene Kirchenasyl nur den Unterbringungsort, nicht aber die Unterbringung selbst. Eine solche Form praktizierte etwa die Ev. Kirchengemeinde Düsseldorf-Garath 162, die eine Iranerin mit zwei Kindern aufnahm, deren Abschiebung in den Iran bereits angeordnet war 163 . Dabei suchten die Initiatoren von Anfang an das Gespräch mit den städtischen Behörden, wobei sie den Fall in anonymisierter Form darstellten 164 . Bekannt gegeben wurde lediglich die Aufnahme der Personen ins Kirchenasyl, Namen und Unterbringungsort blieben geheim. Das erschien der Gemeinde in Anbetracht eines zum Vollzug ausgeschriebenen Haftbefehls sinnvoll165. In Ermangelung einer Wohnanschrift gelang es nicht, dem sechsjährigen Sohn einen Schulbesuch zu ermöglichen. Erst nachdem sich eine Lösung mit dem Landesinnenministerium abzeichnete, konnte die Anonymität aufgehoben werden 166. Wie der Fall zeigt, setzt die Form des halboffenen Kirchenasyls ebenso auf Verhandlung wie das offene Kirchenasyl, beides grenzt sich darin vom versteckten Kirchenasyl inhaltlich ab.
d) Sonstige Erscheinungsformen Eine weitere Fallgruppe betrifft Flüchtlinge, die nach ihrer Unterbringung in einer Erstaufnahmeinrichtung des nach dem Verteilungsverfahren zuständigen Bundeslandes in ein anderes Bundesland geflohen sind. Dieses Phäno-
160
Zum Privatasyl siehe unten S. 83.
161
Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 128. 162
Dieser Fall ist ausführlich wiedergegeben bei Suberg, Kriterien für Kirchenasyl am Beispiel einer Gemeinde in Dortmund, Dipl.-arbeit FH-Köln, 1996 (Anm. d. Verf.: Der Fall ist dort anonymisiert, daher die falsche Ortsangabe "Dortmund" im Titel. Nach Rückspr. m. d. Autorin kann hier auf die Anonymisierung verzichtet werden, weil der Fall inzwischen offen dargestellt ist bei Meyer, Es lohnt sich aufeinander zuzugehen, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 23 ff.). 163
Zum Verfahrensstand Suberg, a.a.O., S. 3 ff; vgl. Meyer, a.a.O., S. 23.
164
Suberg, a.a.O., S. 14, Meyer, a.a.O., S. 24.
165
Meyer, a.a.O., S. 24.
166
Ebd.; näher dazu Suberg, a.a.O., S. 15.
6 Grefen
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
men der sog. Doppelflüchtlinge wurde vor allem kurz nach der Wiedervereinigung beobachtet. Asylbewerber, die in eines der neuen Bundesländer verteilt worden waren, kamen aus Angst vor ausländerfeindlichen Übergriffen auf das Gebiet der alten Bundesrepublik zurück. Das Kirchenasyl sollte ihre Rückverbringung verhindern 167. Die Ev. Kirchengemeinde Düsseldorf-Garath etwa nahm Ende 1992 eine afghanische Familie auf, die zuvor nach Eilenburg/Sachsen geflohen war, wo die Asylbeweiber das Heim, in dem sie untergebracht waren, vor den ständigen Brandanschlägen mit Feuerlöschern selbst schützen mußten168. Die Frankfurter Ev. Studentengemeinde beherbergte 1991 zeitweise bis zu 50 Doppelflüchtlinge, und auch die spektakuläre Besetzung der Schalom-Kirche in Norderstedt bei Hamburg betraf etwa 70 Doppelflüchtlinge aus Greifswald 169. Hierhin gehören auch die Fälle, in denen Ausländer in ein anderes Bundesland fliehen, weil sie dort eine liberalere Abschiebungs- bzw. Duldungspraxis erhoffen. Das kann sich auch als Flucht von Kirchenasyl zu Kirchenasyl darstellen, etwa wenn die erstzuständigen Behörden sich gegenüber dem ersten Kirchenasyl unnachgiebig zeigen170. Derartige Asylgewährungen, die eine Umverteilung oder Rückschiebung von Flüchtlingen in ein anderes Bundesland verhindern wollen, sind Ausnahmen geblieben. Sie beschränken sich im wesentlichen auf die Jahre 1991/92 und bilden atypische Reaktionen auf vereinigungsbedingte Mißstände. In erster Linie richtet sich das Kirchenasyl in der Praxis unmittelbar gegen eine Abschiebung ins Ausland. Keine praxisrelevante Fallgruppe bildet die gezielte Einschleusung von Flüchtlingen mit anschließender Kirchenasylgewährung. Diese Form der "Flüchtlingsarbeit" liegt bislang ausschließlich in den Händen mehr oder we-
167 Vgl. dazu Niebeh, Sanctuary in Deutschland 1993, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 28 f., mit Hinweis auf die Dokumentation des Frankfurter Flüchtlingsbeirates (Hrsg.), "Hiermit bewerbe ich mich um eine Zuweisung in ein westdeutsches Bundesland". 168 Meyer, Es lohnt sich aufeinander zuzugehen, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 23. 169 170
Vgl. Niebeh, Sanctuary in Deutschland 1993, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 28 f.
Einen solchen Fall referiert Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 133: Im Sommer 1991 flohen sechs Bengalen aus ihrem Kirchenasyl in Augsburg in ein Kirchenasyl nach Hildesheim. Die niedersächsische Landesregierung weigerte sich, den bayrischen Behörden Amtshilfe zu leisten und die Personen zurückzuführen.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
83
niger krimineller Schlepperorganisationen. Die Kirchen praktizieren sie nicht 171 .
4. Abgrenzung des Kirchenasyls von ähnlichen Phänomenen Vom Kirchenasyl zu unterscheiden ist das Privatasyl, die Kirchenbesetzung und die sog. schlichte Unterbringung in kirchlichen Häusern.
a) Privatasyl Die Unterbringung von Ausländern in Privathaushalten organisiert etwa die vom Ehepaar Zuber in der Schweiz gegründete Aktion für abgelehnte Asylbewerber (AAA) 172 . Derzeit bemühen sich rund 6000 Mitarbeiter um die Beherbergung von durchschnittlich 200 abgewiesenen Asylbewerbern an etwa 1000 Geheimplätzen173. Die gesuchten Personen verbleiben durchschnittlich drei Monate in ihren Privatquartieren. Während dieser Zeit verhandeln Vertreter der AAA mit den Behörden über die Anerkennung der Bewerber 174. Für diese Aktionsform hat sich der Begriff "Privatasyl·1 eingebürgert, das auch in der Bundesrepublik Deutschland praktiziert wird 175 . Diese Sachverhalte unterscheiden sich vom Kirchenasyl durch ihre Trägerschaft. Beim Kirchenasyl zeichnet ein kirchlicher Träger, vertreten durch sein Leitungsorgan, fiir die Unterbringung in seinen Räumen verantwortlich. Dies geschieht in aller Regel öffentlich, und die zuständigen Behörden sind über die Aufnahme und den Ort der Unterkunft informiert. Privatasyl hingegen gewähren einzelne Christen oder anderweitig motivierte Einzelpersonen oder Gruppen, ohne dafür eine kirchliche Trägerschaft in Anspruch zu nehmen. Es 171
Vgl. aus der Innensicht Just, Die Kirchenasylbewegung in Deutschland, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "...denn er birgt mich in seiner Hütte zu böser Zeit.", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, S. 12; anders offenbar Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKR Π, S. 735, der solche Praktiken wohl lediglich vermutet. 172 Vgl. dazu Zuber, Die Aktion für abgewiesene Asylbewerber (AAA) in der Schweiz, in: Asyl von unten, S. 170 - 175. 173
Ebd., S. 173.
174
Ebd.
175
Vgl. Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: Asyl von unten, S. 117; Niebeh, Sanctuary in Deutschland 1993, in: Barwig/Bauer, Asyl am Heiligen Ort, S. 24; Zuber, a.a.O., S. 173; Rothkegel, Kirchenasyl - Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 124.
84
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
besteht häufig in einem Verstecken der betroffenen Personen und trägt daher den "Nimbus des Heimlichen"176. Kirchenasyl und Privatasyl können nahe beieinander liegen. Ein Beispiel dafür ist der Fall des Roma-Mädchens Anife Ramizi177. Die Familie der Anife hatte sich zum Schutz vor der drohenden Abschiebung nach Mazedonien mehrere Wochen in den Räumen der Ev. Studentengemeinde Münster verborgen gehalten. Am 12.8.1992 drang ein Polizeitrupp in die Räume und verhaftete die Familie, die kurz darauf nach Skopje ausgeflogen wurde. Die 17jährige Anife konnte entkommen und wurde seitdem per Haftbefehl gesucht. Christen im Rheinland und in Westfalen hielten sie mehrere Wochen versteckt. Sobald ihr Aufenthaltsort bekannt zu werden drohte, brachte man sie bei einer anderen Person unter. Dabei solidarisierten sich Vertreter verschiedener Kirchenkreise 178, auch der Präses der rheinischen Landeskirche179, offen mit dieser Aktion und verurteilten das staatliche Vorgehen. Nach einigen Monaten zähen Ringens hoben die zuständigen Behörden den Haftbefehl auf. Das Mädchen konnte in ein Studentenwohnheim in Münster umziehen. Trotz kirchlicher Anteilnahme und Unterstützung war im Falle der Anife nicht von Kirchenasyl die Rede. Vielmehr handelte es sich um Privatasyl im Anschluß an eine gescheiterte kirchliche Asylgewährung, bei dem die einzelnen Akteure als Privatpersonen verantwortlich zeichneten, auch wenn sie kirchliche Amtsträger oder aktive Gemeindemitglieder waren. Privatasyl liegt daher auch vor, wenn ein Flüchtling in der Dienstwohnung eines kirchlichen Amtsträgers Unterkunft findet und nicht die kirchliche Gemeinde ihre Trägerschaft erklärt. Ferner ist kein Kirchenasyl gegeben, wenn eine Kirchengemeinde zwar ihre Solidarität oder gar ihre Trägerschaft bekun-
176 Leuninger, Kirchenasyl und die Bürgerrechtsbewegung, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 103. Kein Fall privater Asylgewährung ist die Initiative "Den Krieg überleben" des Netzwerkes Bonner Friedenskooperativen, welches u.a. Privathaushalte aufruft, Menschen aus Bosnien einzuladen und Verpflichtungserklärungen nach § 84 AuslG abzugeben, um ihnen so zu einem Visum zu verhelfen, a. A. Niebeh, Sanctuary in Deutschland 1993, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 24. 177
Vgl. die Fallschilderung von Müller-Münch, Anife und die Angst vor den "Herren des Morgengrauens", FR vom 6. 10. 1992, S. 3 und dies., Die Geschichte der Anife, in: Just, Asyl von unten, S. 145-148. 178 Der Sozialreferent des ev. Kirchenkreises Mülheim/Ruhr, Ulrich Schreyer, erklärte: "Solange wir können geben wir sie nicht preis.", zit. nach Müller-Münch, Die Geschichte der Anife, a.a.O., S. 146. 179 Der damalige Präses Peter Baier wird zitiert mit: "Wenn ihr in Mülheim nicht mehr wißt, wohin mit ihr, dann nehm ich sie mit in mein Haus." und "Wer Mensch ist und kein Lump, der muß da handeln.", beides zit. nach Müller-Münch, Die Geschichte der Anife, a.a.O., S. 146. vgl. dies, in FR vom 6. 10. 1992
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det, jedoch die Unterbringung des Zuflüchtigen nicht im räumlichgegenständlichen Bereich der Kirche erfolgt und die Durchführungsverantwortung darum nicht bei der Kirche liegt.
b) Kirchenbesetzung
Zu Kirchenbesetzungen kam es in der Bundesrepublik Deutschland, soweit ersichtlich, erstmals Ende der siebziger Jahre vor allem in Hamburg und Berlin aus Anlaß von Jugendprotesten180. Dabei waren Zentralkirchen, wie die Berliner Kaiser Wilhelm Gedächniskirche, wegen ihrer exponierten Stellung bevorzugtes Ziel von Besetzern181. Die Kirchenbesetzung unterscheidet sich vom Kirchenasyl dadurch, daß die Besetzter den Kirchenraum nur als Bühne für eine Fremdveranstaltung nutzen, die nicht unter kirchlicher Regie steht. Den Akteuren selbst fehlt es zumeist an einer irgendwie gearteten Verfolgungssituation. Die Kirchen dienen lediglich als Ort gesteigerter Öffentlichkeit zur Darstellung politischer Anliegen. Wenngleich auch der historische Asylgedanke mitschwingen mag, so steht im Vordergrund einer Kirchenbesetzung die Instrumentalisierung des Kirchenraums für fremde Zwecke182. Die Kirchengemeinde wird dabei Opfer eines Hausfriedensbruchs 183. In seltenen Fällen entschlossen sich Kirchenvertreter, die Polizei um eine Räumung zu ersuchen, wie es etwa im Januar 1980 der Gemeindekirchenrat für die Kaiser-Wilhelm-Gedächniskirche veranlaßte184. Vielfach reagierten sie mit Duldsamkeit und arbeiteten auf eine freiwillige und gewaltlose Räumung durch die Besetzerhin 185. Eine besondere Nähe zum Kirchenasyl weisen die Fälle auf, in denen vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer zum Mittel der Kirchenbesetzung grei-
180
Dazu Flor, Politische Aktion, Kirche und Recht, S. 99 -101.
181
Ebd., S. 100.
182
Vgl. Flor, a.a.O., S. 100.
183
Ebd. sowie ders., Wie hält es die Kirche mit dem Recht?, Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Nr. 6/1982, S. 105,107. 184 185
Ebd., S. 101; vgl. ders., Polizei in der Kirche?, EvKomm 5/80, S. 284 ff.
Flor, Wie hält es die Kirche mit dem Recht?, Ev.-Luth. Kirche in Bayern, Nr. 6/1982, S. 105,107: "Die Macht der Kirche ist das Wort, auch in besetzten Kirchengebäuden."
86
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
fen, um ein Bleiberecht zu erzwingen186. Nicht selten werden sie dabei von kirchenfremden Flüchtlingsinitiativen beraten und unterstützt. Eine über dreimonatige Besetzung der Schalom-Kirche in Norderstedt bei Hamburg durch Ausländer, die aus Angst vor rechtsradikalen Übergriffen aus Greifswald nach Hamburg geflohen waren, endete im Februar 1992 damit, daß die Gemeinde mit polizeilicher Räumung drohen mußte. Sogennannte Autonome hatten das Regime übernommen, die sich als inkompetent und unkooperativ erwiesen187. Denkbar ist aber auch, daß eine Gemeinde eine Besetzungsaktion in Kirchenasyl umwandelt. Einen Grenzfall markiert die Besetzung des Gemeindezentrums der Kölner Antoniterkirche durch Roma-Familien am 19.6.1992188. Alle Personen waren unmittelbar von der Abschiebung nach Serbien oder Mazedonien bedroht. Die Besetzung geschah auf Initiative des Kölner Rom e. V., der beabsichtigte, das Gemeindezentrum als Operationsbasis für seine politische Arbeit und als Zufluchtsort für weitere Roma-Familien zu nutzen189. Verschiedene lokale politische Gruppierungen versuchten, die Besetzungsaktion zu instrumentalisieren und Veranstaltungen im Gemeindezentrum abzuhalten, die das Presbyterium allerdings verhindern konnte190. Trotz der ablehnenden Haltung des Bezirkspfarrers und einiger Presbyter entschloß sich das Presbyterium, die RomaFamilien bis Ende September 1992 zu dulden191. In der Gemeinde bildete sich daraufhin ein Unterstützerkreis. Gottesdienste, Andachtsreihen und Artikel in Gemeindebriefen erreichten zunehmend Verständnis und Unterstützung bei 186 Ein besonders spektakulärer Fall einer Kirchenbesetzung ereignete sich in Frankreich, wo rd. 220 afrikanische Immigranten durch die Besetzung der Kirche St. Bernard in Paris seit dem 28.6.1996 ihre Abschiebung verhindern wollten. Die Kirche wurde am 28.8.1996 mit einem massiven Polizeiaufgebot gestürmt und die Besetzer inhaftiert, nachdem bereits am 12.8.1996 eine Teilgruppe von 10 Hungerstreikenden gewaltsam von rd. 300 Polizisten aus der Kirche entfernt worden war. Aus dem bayrischen Innenministerium verlautete Verständnis für das Vorgehen der franzözischen Regierung, wenngleich derartige Polizeieinsätze in Deutschland (noch) nicht verhältnismäßig seien; vgl. SZ Nr. 185 vom 13.8.1996, S. 7 und SZ Nr. 199 vom 29.8.1996, S. 8. 187 Nach Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. Asyl von unten, S. 126 mit Hinw. auf Ev. Kirchengemeinde Norderstedt, Schalom Info Februar/März 1992 und April/Mai 1992; siehe dazu auch Niebeh, Sanctuary un Deutschland 1993, in: Barwig/Bauer, Asyl am Heiligen Ort, S. 29. 188 Dazu die Fallschilderung der Gemeinde in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 9 f., 12 f., 16 u. 19. 189
Ebd., S. 9.
190
So der ASTA der Universität zu Köln und die Kölner Ratsfraktion der GRÜNEN, vgl. Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 13. 191
Ebd., S. 10.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
87
Gemeindemitgliedern und -gruppen 192. Das Presbyterium verlängerte seinen Duldungsbeschluß immer wieder, bis die Aktion im Frühjahr 1997 nach fast fünf Jahren mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis endete193. Der Sachverhalt zeigt die Trennungslinie zwischen Kirchenasyl und Kirchenbesetzung, welche in der Übernahme der Durchführungsverantwortung in die Hände der Kirchengemeinde liegt. Dafür genügt eine faktische Duldung nicht, weil der Verzicht auf eine aktive Beendigung des Hausfriedensbruchs nicht auf eine Übernahme der Verantwortung durch die Kirche schließen läßt. Allerdings wird man hier, nachdem die Aktion auch in der Gemeinde zahlreiche Unterstützer gefunden hat und über einen langen Zeitraum durch einen förmlichen Duldungsbeschluß des Presbyteriums gedeckt war, von einem Kirchenasyl durch konkludente Verantwortungsübernahme sprechen können.
c) Unterbringung in kirchlichen Räumen aufgrund behördlichen Ersuchens Vom Kirchenasyl sind ferner die Fälle abzugrenzen, in denen Kirchengemeinden ausländische Flüchtlinge auf Drängen der Behörden aufnehmen. Als zu Beginn der 90er Jahre die Einreise von Asylbewerbern und Aussiedlern einen Höhepunkt erreichte, sahen sich viele Städte und Gemeinden mit der Aufnahme dieser Menschen in kommunalen Einrichtungen überfordert 194. Verschiedene Kommunen gingen dazu über, die Kirchen aufzurufen, Möglichkeiten der Unterbringung in kirchlichen Räumen zu prüfen und zu einer Entlastung beizutragen. Diesen Aufrufen sind zahlreiche Kirchengemeinden gefolgt. So erklärten sich etwa in Frankfurt am Main 25 evangelische Kirchengemeinden dazu bereit, bosnische Familien für die Dauer der damaligen Abschiebestoppregelung unterzubringen 195. Im rheinisch-bergischen Oberbantenberg nahm das Pfarrerehepaar im Februar 1994 auf Ersuchen der Stadt Wiehl eine bengalische Familie in ihre Dienstwohnung auf 196.
192
Ebd., S. 11.
193
Der Fall schien im Leeren zu verlaufen, nachdem die Behörden lange Zeit weder agierten noch sich bewegten, vgl. Vogelskamp, ebd., S. 6. Erst im Frühjahr 1997 ging der längste bekannte Fall des Kirchenasyls nach vier Jahren und acht Monaten damit zu Ende, daß die Romafamilie Ibraimov aus Mazedonien eine Aufenthaltsbefugnis erhielt, in: KStA vom 27.02.1997, S. Ó.Ebd., S. 9. 194
Giesler/Wasser,
Das neue Asylrecht, S. 15.
195
Niebeh, Sanctuary un Deutschland 1993, in: Barwig/Bauer, Asyl am Heiligen Ort, S. 27. 196
berg.
Nach mündlicher Mitteilung des Pfarrers der Ev. Kirchengemeinde Oberbanten-
88
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Eine solche schlichte Unterbringung unterscheidet sich vom Kirchenasyl dadurch, daß sie im Einvernehmen mit den Behörden erfolgt und daher nur solche Personen betrifft, die nicht ausreisepflichtig sind197. Die für das Kirchenasyl typische Situation des Ringens um einen Verbleib im Inland und des Schutzes vor staatlichem Eingreifen ist hier nicht oder noch nicht gegeben198.
5. Behördliche Reaktionen auf kirchliche Asylgewährungsakte Die Reaktionen staatlicher oder kommunaler Behörden auf kirchliche Asylgewährungsakte waren bislang eher zurückhaltend.
a) Gewaltsame Räumung Bisher sind nur sechs Fälle bekannt geworden, in denen Kirchenasyl durch polizeiliches Eindringen in die Räume einer Kirchengemeinde beendet wurde 199 : Am 15.11.1984 führte ein Aufgebot von 60 Polizisten die philippinische Seemannsfrau Susan Alviola und ihre Kinder gewaltsam aus der Hamburger Stephanuskirche ab, wohin sie sich vor ihrer drohenden Abschiebung geflüchtet hatte200. Im Mai 1991 holte die Polizei eine vierköpfige Romafamilie aus dem Gemeindehaus der katholischen St. Marien Gemeinde im westfälischen Herford 201. In Münster drang am 19.8.1992 eine Polizeieinheit in das Gemeindehaus der evangelischen Studentengemeinde ein und nahm eine fünfköpfige Romafamilie fest 202; zeitgleich wurde eine weitere sechsköpfige Romafamilie im Gemeindehaus der Ev. Kirchengemeinde Münster-Hiltrup festgenommen203. Am 1.7.1993 verhaftete die Polizei eine sechsköpfige Romafa197
116.
Vgl. Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: Asyl von unten, S.
198
Just, ebd., S. 116 f.; ähnlich Niebeh, Sanctuary in Deutschland 1993, in: Barwig/Bauer. Asyl am Heiligen Ort, S. 27. 199 Siehe zum Folgenden die Aufzählung bei Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders. (Hrsg.), Asyl von unten, S. 110, 132 f., welche um die beiden letztgenannten Fälle jüngeren Datums zu erweitern ist. Nicht hierhin gehören die Fälle, in denen Flüchtlinge außerhalb ihrer kirchlichen Asylunterkunft aufgegriffen und festgenommen wurden, wie etwa im Fall Demirkiran, s. o. S. 75. 200
Just, ebd., S. 132 u. S. 113.
201
Just, ebd., S. 132.
202
Dies war der oben S. 84 beschriebene Fall des Mädchens Anife, die als einzige ihrer Festnahme entgehen konnte. 203
Just, ebd.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
89
milie in den Kirchenräumen der Ev. Kirchengemeinde Wuppertal-Ronsdorf. Gegen den Gemeindepfarrer wurde Strafanzeige erstattet, das Verfahren aber wenig später eingestellt204. Am 4.9.1996 wurde ein Togolese mit Polizeigewalt aus dem Kirchenasyl einer Adventisten-Gemeinde im bayrischen Wunsiedel geholt und wenige Stunden später nach Togo abgeschoben205. Diese Festnahmen unter Bruch des Kirchenasyls sind Ausnahmen geblieben. In der Regel begnügten sich staatliche Vertreter damit, die kirchliche Legitimation für derartige Asylaktionen zu bestreiten, vor allem dort, wo das Stadium einer öffentlichen Auseinandersetzung erreicht war. Sonst wurden Kirchenasylgewährungen entweder ignoriert, oder es zeichneten sich früher oder später Verhandlungslösungen ab 206 . Soweit vereinzelt Strafverfahren gegen kirchliche Mitarbeiter wegen Teilnahme an ausländerrechtlichen Straftaten eingeleitet wurden, zeigten sich die Staatsanwaltschaften überwiegend zur Verfahrenseinstellung gegen die Auflage der Zahlung einer Geldsumme bereit 207 . Eine Anklage vor dem Amtsgericht Köln endete mit einem Freispruch für die Gemeindepfarrer, wobei hier selbst die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädierte, weil ein strafwürdiges Verhalten nicht nachzuweisen war. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem ein Flüchtling außerhalb der Kirche aufgegriffen wurde, der einen sog. Asylpaß bei sich trug. Darin hatten die Pfarrer der Kölner Lutherkirche den Paßinhaber als im Schutz dieser Gemeinde stehend ausgewiesen und für den Fall einer Festnahme Intervention angekündigt208.
204
V. Clausewitz „ Gott mehr gehorchen, Publik Forum Nr. 20 vom 22. Oktober 1993, S. 34. 205 Vgl. FAZ Nr. 207 vom 5. September 1996, S. 4 sowie SZ Nr. 206 vom 6. September 1996, S. 19 ("Bayern macht kurzen Prozeß mit Togolesen - Empörung über Vorgehen des Innenministeriums"). Zur Bedeutung dieses Falles und zur Rolle des bay. Innenministers Günter Beckstein (CSU) in der Kirchenasyldiskussion siehe unten S. 97. 206
Wie im Fall der Romafamilien im Gemeindehaus der Kölner Antoniterkirche, s. o. S. 86. 207 Vgl. etwa das Verfahren gegen den Pfarrer und den Pfarrgemeinderatsvorsitzenden der katholischen Sankt Leonhard Gemeinde im bayrischen Viehausen, welche zwei Flüchtlingen aus Togo neun Monate Kirchenasyl gewährt hatte, in: SZ vom 10.3.1997, S. 19. 208
Müller-Münch, Fast hätte man über Kirchenasyl streiten dürfen, in: FR Nr. 259 vom 6.11.1996, S. 4; vgl. ferner die Berichte im KStA Nr. 253 vom 30.10.1996, S. 16 u. Nr. 258 vom 6.11.1996, S. 13.
90
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
b) Die Bilanz der Bundesarbeitsgemeinschaft
Asyl in der Kirche
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BÄK) 209 bilanziert für 1995, daß in 75% der beendeten Kirchenasylfalle eine Abschiebung gerichtlich untersagt oder durch die zuständigen Behörden ausgesetzt wurde 210. Für den Zeitraum 1990 bis 1995 gibt die BÄK die Erfolgsquote mit rd. 80 % an 211 . Im einzelnen ergeben sich nach den der BÄK zugegangenen Informationen aus den Asylgemeinden die folgenden Erledigungszahlen:
aa) Erledigungszahlen für 1995 Im Jahre 1995212 nahmen 74 katholische und evangelische Gemeinden rund 230 Flüchtlinge auf, davon rd. 100 Kinder. Von diesen 74 Kirchenasylen dauerten zum Berichtszeitpunkt 26 noch an, 48 konnten als abgeschlossen angesehen werden. Die Erledigungsgründe für die beendeten Kirchenasyle waren: —zwei Abschiebungen nach Festnahmen außerhalb der Kirchen, —fünf Fälle, in denen die Flüchtlinge untergetaucht sind, — i n vier Fällen konnte eine vorbereitete und kirchlich begleitete Ausreise organisiert werden, —zwei Familien wurde die Weiterwanderung in ein sicheres Nachbarland ermöglicht, —achtzehn Kirchenasyle endeten mit einer Duldung aus humanitäre Gründen oder wegen sonstiger Abschiebungshindernisse, —sechs Kirchenasyle erreichten die aufschiebende Wirkung von Klagen gegen Entscheide des Β AFI oder der Gerichte, —sechs Fälle endeten mit einer Duldung bis zur Entscheidung über einen Asylfolgeantrag,
209
Zu diesem Zusammenschluß der Kirchenasylgemeinden und -initiativen siehe unten S. 101. 210
Vogelskamp, Das beharrliche Ringen der Gemeinden um Flüchtlingsschutz (Bericht auf der Jahrestagung der Kirchenasylinitiativen vom 8.-10. März 1996 in der Ev. Akademie Mülheim/Ruhr), in: epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 5. 211 Zufluchtsort Kirche. Eine empirische Untersuchung über Erfolg und Mißerfolg von Kirchenasyl, hrsg. v. d. Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, vgl. dort S.
16. 212
Nach Vogelskamp, ebd., S. 5 - 7.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
91
—dreimal erfolgte eine Einräumung des sog. "kleinen Asyls" wegen Abschiebungshindernissen nach § 51 AuslG, —zweimal wurden Flüchtlinge noch während des Kirchenasyls als politisch Verfolgte und Asylberechtigte i.S.d. Art. 16 a GG anerkannt.
bb) Die empirische Untersuchung "Zufluchtsort Kirche" für den Zeitraum 1990 - 1995 In der Studie "Zufluchtort Kirche. Eine empirische Untersuchung über Erfolg und Mißerfolg von Kirchenasyl" der BÄK wurden insgesamt 124 Kirchenasyle aus dem Zeitraum von 1990 bis 1995 anhand eines Fragebogens an die Gemeinden systematisch ausgewertet213. Im Vordergrund stand dabei die Frage, was durch Kirchenasyl erreicht werden konnte. Darauf gaben die befragten Kirchengemeinden folgende Antworten 214:
Antworten
Nennungen
A
Anerkennung als polit. Verfolgte gemäß Art. 16 a GG
8
Β
Anerkennung als polit. Verfolgte gemäß § 51 AuslG
8
C
Duldung (Aussetzung der Abschiebung)
45
D
Aufschiebende Wirkung der Klage (Duldung)
10
E
Asylfolgeantrag (Aufenthaltsgestattung)
7
F
Begünstigung durch "Altfallregelungen"
1
G
Weiterwanderung in einen anderen Staat
10
H
Anerkennung als polit. Verfolgte im Ausland
1
I:
Vorbereitete "freiwillige" Rückkehr
7
J:
Aufenthaltsrecht durch Heirat
1
K:
Zuflucht in andere Gemeinden den fortgesetzt
2
L:
Zeitgewinn zur Vorbereitung ernes ordentlichen Verfahrens oder wegen anderer sozialer Belange
213 214
10
Hrsg. v. der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, siehe nächste Fn.
Folgende Tabelle bei Vogelskamp, Untersuchungsbericht, in: BÄK (Hrsg.), Zufluchtsort Kirche, S. 17.
92
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
M:
Lediglich einen Zeitaufschub, Kirchenasyl nur ausgesetzt
4
N:
Flüchtling während des Kirchenasyls untergetaucht
2
0:
Abschiebung
9
P:
Nichts erreicht/Kirchenasyl fortgesetzt
3
Gesamt (bei drei Gemeinden Mehrfachnennungen):
128
Bei der Auswertung dieser Zahlen durch die BÄK wurden die Nennungen A bis L, unter Ausklammerung der Antworten I und K, gemessen am Minimalziel der Aussetzung der Abschiebung oder Weiterwanderung in einen anderen als den Herkunftsstaat, als Erfolg gewertet, welches zu einer Erfolgsquote von rd. 80 % führt 215 . Davon entfallen 12,7 % auf eine Anerkennung der Flüchtlinge als politisch Verfolgte (A und B); 8 % auf die Eröffnung einer Weiterwanderungsmöglichkeit (G) und 57 % auf die Erreichung einer vorläufigen Nichtabschiebung (C, D, E und L). In rd. 70 % aller Fälle konnte demnach eine Abschiebung dauerhaft oder zeitlich befristet verhindert werden 216. Den durch ein Kirchenasyl gewonnenen Zeitaufschub bewerten die Gemeinden fast immer positiv, weil er zur Klärung des Fluchtschicksals beigetragen habe, auch wenn eine Abschiebung letzlich nicht zu verhindern gewesen sei 217 . So wurde auf die Folgefrage, ob das von den Gemeinden gesteckte Ziel des Kirchenasyls erreicht werden konnte, geantwortet218:
215
Ebd., S. 15; als Berechnungsgrundlage wurden 126 Kirchenasyle gezählt (Abzug der zwei Fortsetzungen in anderen Gemeinden, K, und Hinzufügung von vier Schutzgewährungen wegen Mehrfachaufnahmen). 216
Ebd., S. 16. Ein ähnliches Ergebnis zeigt die Auswertung der Kirchenasyle in Bayern zwischen 1989 und Oktober 1996 durch das Bayrische Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche. Danach konnte bei 110 aufgenommenen Menschen für 104 eine Abschiebung verhindert werden, 6 Flüchtlinge wurden abgeschoben, 1 Flüchtling erhielt ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, 24 erhielten eine Duldung, 4 suchten Schutz in einem anderen Bundesland, 8 setzten das Kirchenasyl in einer anderen Pfarrei fort, 13 kehrten "freiwillig" in ihr Heimatland zurück, 8 reisten in einen Drittstaat aus und 52 befanden sich im Oktober 1996 noch im Kirchenasyl. Abdruck der Erhebung bei BÄK, Zufluchtsort Kirche, Anhang (S. 33), siehe oben Fn. 214. 217
Vogelskamp, ebd., S. 16.
218
Folgende Tabelle bei Vogelskamp, ebd., S. 18.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls Ziel
93
Nennungen
in %
A:
wurde erreicht
66
53,2
B:
bedingt oder vorläufig
27
21,8
C:
noch nicht erreicht
9
7,3
D:
nicht erreicht
22
17,7
124
100,0
Gesamt:
cc) Kritische Anmerkungen dazu Die genannten Zahlen lassen erkennen, daß im Berichtsjahr 1995 lediglich zwei Fälle mit einer Anerkennung als Asylberechtigte i.S.d. Art. 16 a GG und fünf Fälle mit der Einräumung des kleinen Asyls nach § 51 AuslG endeten. Insgesamt konnte also in rd. 15 % der beendeten Fälle ein verfestigter Aufenthaltsstatus erreicht werden. Dem stehen zwei Abschiebungen und fünf Fälle des Untertauchens (durch die BÄK als gescheitert gewertet219), also ebenfalls rd. 15 % eines mißglückten Kirchenasyls gegenüber. Ganz überwiegend (30 Fälle = 62 %) wurde lediglich eine Verfahrensverlängerung erwirkt, deren letztendlicher Ausgang nicht erfaßt ist, so daß die "Erfolgsquote" von 75 % insofern kritisch zu betrachten ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich für den Berichtszeitraum 1990 bis 1995. Auch hier halten sich die Fälle eines verfestigten Aufenthaltsstatus (A und B) und die Fälle, welche die BÄK als Mißerfolg wertet (Μ, Ν, Ο und P), in etwa die Waage: 16 Erfolgsfälle (12,7 %) gegenüber 18 Mißerfolgsfällen (14,3 %) von 126 gewerteten Fällen. Zu einer Erfolgsquote von 70 % (ohne Weiterwanderung, G) gelangt man nur, wenn die Fälle, in denen lediglich ein "labiler" Aufenthalsstatus erreicht werden konnte (C, D, E und L) als Erfolg gewertet werden, ohne einen letztendlich negativen Ausgang als Mißerfolg zu zählen220. Allerdings bestätigt diese Wertung die ganz überwiegende Zielsetzung der Kirchengemeinden, die Asyl gewähren. Sie fordern vielfach und realistisch nur eine Verfahrensverlängerung, ohne einen bestimmten Ausgang des Verfahrens erzwingen zu wollen221. Zugleich spiegeln die Zahlen deutlich die bisher geübte Politik der staatlichen Nichtintervention in den kirchlichen Raum 219 220 221
Siehe Vogelskamp, ebd., S. 6. vgl. Peißl, "Kirchenasyl", in: BayVBl. 1999, S. 137. Vgl. Vogelskamp, ebd., S. 6.
94
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
wider. Demgegenüber muß die Heftigkeit der politischen Debatte um das Kirchenasyl im Frühjahr 1994222 verwundern.
c) Besonderheiten in einzelnen Bundesländern, das Clearingverfahren "Kirchenasyl" in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Hinsichtlich der behördlichen Praxis in einzelnen Bundesländern lassen sich einige Besonderheiten ausmachen. In Nordrhein-Westfalen vereinbarten am 19.6.1995 Vertreter des Innenministeriums, der Ausländerämter, des Landeskirchenamtes der Ev. Kirche im Rheinland und einzelner Kirchengemeinden folgendes Verfahren im Falle einer Kirchenasylgewährung 223: "1. Bereits im Vorfeld eines möglichen Kirchenasyls sucht die Kirchengemeinde/Flüchtlingsberatungsstelle den Kontakt mit dem zuständigen Ausländeramt und trägt nachprüfbare Fakten vor, die belegen, daß die Flüchtlinge bei einer Rückkehr oder Abschiebung ernsthaft an Leib, Leben oder Freiheit gefährdet sind. Ziel dieser Verhandlungen im Vorfeld eines Kirchenasyls ist es, Möglichkeiten einer ausländerrechtlichen Lösung des Falls zu suchen. 2. Soll auf Beschluß des Presbyteriums Kirchenasyl gewährt werden, informiert die Kirchengemeinde das betroffene Ausländeramt. 3. Die Kirchengemeinde klärt mit der Ausländerbehörde, ob für die Zeit der Prüfung der von der Kirchengemeinde/Flüchtlingsberatungsstelle vorgetragenen Argumente auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen verzichtet werden kann. 4. Beabsichtigt die Ausländerbehörde, nach Prüfung der von der Kirchengemeinde vorgelegten Fakten den Flüchtling/die Flüchtlinge abzuschieben, wird sie die Kirchengemeinde möglichst über aufenthaltsbeendende Maßnahmen informieren."
Als Folge dieser Vereinbarung wurde auf Ebene der Landeskirche die sog. "Clearingstelle Kirchenasyl" eingerichtet. Ihre Aufgabe ist es, Informationen, die die Einräumung eines Aufenthaltsstatus ermöglichen können, den entsprechenden Stellen auf Landesebene, besonders dem Landesinnenministerium, gebündelt vorzutragen 224. Zu diesem Zweck hat das Landeskirchenamt alle Gemeinden aufgerufen, im Falle eines Kirchenasyls der Clearingstelle präzise Informationen über die Person des Flüchtlings, den Stand seines Asylverfah-
222
Dazu oben S. 21.
223
Die sog. "Vereinbarung zur Clearingstelle 'Kirchenasyl·" ist abgedruckt in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 54. 224
Siehe Clearingstelle "Kirchenasyl, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 50 ff.
Π. Ausgestaltung des Kirchenasyls
95
rens und die Gründe des gewährten Kirchenasyls nachprüfbar (ggf. mit Dokumenten etc.) zur Verfügung zu stellen225. Aufgrund positiver Erfahrungen mit dieser Regelung trafen im Frühjahr 1997 die Rheinische Landeskirche und die Staatsregierung von RheinlandPfalz eine nahezu gleichlautende Vereinbarung 226. Sie enthält die zusätzliche Feststellung, daß ab dem Zeitpunkt der Aufnahme ins Kirchenasyl keine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mehr erbracht werden227. Das Innenministerium des Landes Rheinland-Pfalz weist darauf hin, daß es sich bei dieser Vereinbarung um eine gegenseitige Vertrauensäußerung handele228. Sie solle dazu dienen, Einzelfälle in einem geordneten Verfahren zu besprechen und, soweit möglich, einer einvernehmlichen Lösung zuzuführen 229. Ein Kirchenasylrecht gebe es jedoch weder nach kirchlichem noch nach staatlichem Recht230. Anders als in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz lehnt die bayrische Landesregierung Verhandlungen mit asylgewährenden Kirchengemeinden strikt ab. Diese Haltung hat maßgeblich der amtierende Innenminister Günther Beckstein (CSU) geprägt, der zugleich Mitglied der Landessynode der Ev. Kirche in Bayern ist und wegen seiner rigiden Asylpolitik in Kirchenkreisen heftig kritisiert wurde 231. Die offizielle Linie aus dem Innenministerium lautet: Es gibt kein kirchliches Asylrecht, und daher kommt eine irgendwie geartete
225 Ebd., wo die konkret erbeten Informationen ausführlich aufgeführt sind. Vor dem Hintergrund dieser Vereinbarung verwundert ein Beschluß des Petitionsausschusses des nordrhein-westfalischen Landtages, welcher die Gewährung von Kirchenasyl in einem konkreten Fall ausdrücklich mißbilligt und für die Zukunft empfohlen hat, von derartigen Aktionen Abstand zu nehmen; vgl. Beschluß des Petitionsausschusses vom 10.12.1996 (LT-Dr. 12/04882), in: NVwZ 1997, S. 257 f. Siehe auch die ablehnende Stellungnahme der Landtagsmehrheit vom 8.5.1998 gegen das Wanderkirchenasyl, LTProt. Nr. 12/86 vom 8.5.1998, S. 7115 ff. 226 Die Vereinbarung ist mitgeteilt vom Ministerium Landes Rheinland Pfalz in NJW 1997, S. 2097 f. 227
des Innern und für Sport des
Ebd.
228
Rundschreiben des Ministeriums des Innern und für Sport des Landes RheinlandPfalz vom 11.3.1997 an die zuständigen Ausländerbehörden (Auszug), abgedruckt ebd. unter Fn. 2. 229
Ebd.
230
Ebd.
231
Zum Konflikt zwischen Beckstein und der bay. Landessynode siehe Schneider, Kirchenasyl brennt auf den Nägeln, in: SZ Nr. 270, S. 23; vgl. das Portrait von RiehlHey se, Die Einsamkeit des Vollstreckers, in: SZ Nr. 81 vom 6.4.1995, S. 3. Zur sog. Beckstein-Initiative ("Kirchenkontingente") siehe unten S. 153.
96
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Zusammenarbeit mit Kirchenasylgemeinden nicht in Betracht 232. Zugleich wird aber betont, daß es keine Räumung mit Polizeigewalt geben werde, weil dies dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspreche 233. Ob diese bisherige Linie mit der polizeilichen Räumung eines Kirchenasyls am 4.9.1996 in einer Adventistengemeinde im bayrischen Wunsiedel aufgegeben ist, zu der der Innenminister persönlich "freie Hand" gegeben hat, wie aus dem Innenministerium verlautete234, bleibt abzuwarten. Einiges spricht aber dafür, daß, nachdem auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsmäßigkeit des neuen Asylrechts bestätigt haben235, diese Räumung als Test für eine härtere Gangart dienen sollte236. So erklärte der bayrische Innenminister gegenüber der Presse, die Asylurteile würden die Gewährung von Kirchenasyl und eine Berufung auf das christliche Gewissen ausschließen237. Auch die Berliner Behörden scheinen gegenwärtig ihre Haltung gegenüber Gemeinden, die Flüchtlingen Zuflucht gewähren, zu verschärfen. War das Klima zu Beginn der neunziger Jahre von einem Zusammenwirken von Senat und Kirchengemeinden auf der Suche nach Kompromissen geprägt, reagieren die Behörden zunehmend mit Strafanzeigen gegen Pfarrer asylgewährender Gemeinden und gegen Kirchenasylanten selbst. Gegen die Pfarrer zweier evangelischer Kirchengemeinden in Berlin-Treptow ermittelte die Staatsanwaltschaft geraume Zeit wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das Ausländergesetz. Die Gemeinden gewährten seit Oktober 1995 einem sich illegal in Berlin aufhaltenden Vietnamesen und dessen Frau Kirchenasyl 238. Im Sommer 1996 verurteilte das Amtsgericht Tiergarten ein bulgarisch-türkisches Ehepaar, das seit einem Jahr im Kirchenasyl in der evangelischen Paulus-Gemeinde in Zehlendorf lebte, wegen illegalen Aufenthalts zu fünf Monaten Haft auf Be-
232 Vgl. Riehl-Hey se, ebd.; Schneider, Bayern macht kurzen Prozeß, in: SZ Nr. 206 vom 6.9.1996, S. 19; ders, "In Kirchen keine Polizeigewalt", in: SZ Nr. 199 vom 29.8.1996, S. 8. 233
Schneider, "In Kirchen keine Polizeigewalt", in: SZ Nr. 199 vom 29.8.1996, S. 8.
234
Schneider, Bayern macht kurzen Prozeß, in: SZ Nr. 206 vom 6.9.1996, S. 19.
235
Vgl. BVerfGE 94, S. 1 ff.
236
Zum Ganzen Beckstein, Nach den Asylentscheiden des BVerfG, in: Ev. Verantwortung, 1996, Heft 9, S. 1 ff., worin der Innenminister seinen dargelegten Standpunkt verteidigt. 237
Beckstein, Karlsruher Urteil schließt Kirchenasyl aus, Pressemitteilung, in: epd ZA Nr. 92 vom 15.5.1996, S. 4 f. 238 Siehe dazu Herrmann, Schuldspruch für Folteropfer, in: Public-Forum Nr. 14 vom 26.7.1996, S. 20; s.a. Hebel, Unter Tatverdacht: Pfarrer und Gemeinde, in: FR vom 12.12.1996, S. 4.
Ι . Die Kirchenasylbewegung
97
Währung239. Von dieser ersten Verurteilung in Berlin im Zusammenhang mit Kirchenasyl befürchten die Befürworter eine Präzedenzfallwirkung mit der Folge einer Kriminalisierung der Kirchenasylinitiativen und ihrer Schützlin-
III. Die Kirchenasylbewegung Waren es in den achtziger Jahren noch vorwiegend Einzelfalle des Kirchenasyls, die öffentlich kaum wahrgenommen wurden, so konnte sich seit Anfang der neunziger Jahre eine Kirchenasylbewegung herausbilden, die ihr Anliegen öffentlich vertritt.
1. Entstehung und Entwicklung der Kirchenasylbewegung Die ersten Kirchenasylaktionen ereigneten sich im Jahre 1983 in Berlin und Gelsenkirchen241. In Berlin reagierte die Ev. Heilig-Kreuz-Gemeinde auf die drohende Abschiebung von Palästinensern mit deren Aufnahme in die Kirche242. Zum Schlüsselerlebnis vieler Christen war das Schicksal des jungen Türken Cemal Altun geworden, der sich aus Angst vor seiner Abschiebung aus dem Fenster eines Berliner Gerichtsgebäudes zu Tode stürzte 243. Im gleichen Jahr konnte die Ev. Kirchengemeinde Gelsenkirchen-Hassel die Abschiebung einer türkischen Familie durch Kirchenasyl verhindern 244. Fälle dieser Art hat es seitdem immer wieder gegeben, ohne daß daraus zunächst eine breitere Bewegung erwachsen wäre. Nur in Berlin kam es bereits in den achtziger Jahre zur Gründung eines ökumenischen Arbeitskreises "Asyl in der Kirche", der die übergemeindliche Organisation übernahm und seitdem von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge an
239
Herrmann, ebd.
240
Ebd.
241
Siehe zum Folgenden vor allem die Darstellung Justs, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders.(Bisg.), Asyl von unten, S. 111 ff. 242
Quand, Arbeitskreis Asyl in der Kirche Berlin. Entstehung und Aufgaben, in: Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1994, Dokumentation; S. 28. 243
Quandt, ebd
244
Siehe den Bericht von Heinrich, "...und ihr habt mich beherbergt", Junge Kirche, Heft 11/1983, S. 801 ff. 7 Grefen
98
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
aufnahmebereite Gemeinden vermittelt 245. Die Problematik des Kirchenasyls bildete einen Ausschnitt aus dem dauerhaften Konflikt zwischen den Kirchen und dem Senat um die Flüchtlingspolitik der Stadt246. Dabei haben Kirchenleitungen und prominente Kirchenvertreter ungewöhnlich deutlich zugunsten der Flüchtlinge Stellung bezogen und so die Herausbildung einer Kirchenasylbewegung gefördert 247. Auf einem Pastoralkolleg zum Thema "Asyl in der Kirche" erklärte der Berliner Altbischof Kurt Scharf im Februar 1989, daß es christlich geboten sei, von der Abschiebung bedrohte Menschen in den Gemeinden aufzunehmen und notfalls auch zu verstecken248. Nachdem sich Ende der achtziger Jahre weitere Restriktionen in der Asylpolitik abzeichneten, suchte man die Asylgemeinden, dem Berliner Beispiel folgend, in Kontakt zu bringen. Im Jahr 1991 lud die Ev. Kirchengemeinde St. Jobst in Nürnberg zu einem ersten bundesweiten Treffen ein, an dem ca. 70 Vertreter aus Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen teilnahmen249. Ergebnis dieser Veranstaltung war die Verabschiedung der Nürnberger Deklaration. In diesem Dokument, das als Grundsatzerklärung der Kirchenasylinitiativen bezeichnet worden ist 250 , heißt es u. a.: "Unser Gewissen schweigt nicht, wenn sich Behörden und Gerichte dazu hergeben, gefährdete Flüchtlinge abzuschieben. (...) Wir sind uns darüber klar, daß ein gedeihliches Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger nur in gebotener Achtung vor der verfaßten Rechtsordnung unseres Staates möglich ist. Wir folgen der Stimme unseres Gewissens, wenn wir deshalb den Staat an die Einlösung gegebener Garantien erinnern. Notfalls schützen wir Flüchtlinge vor der Abschiebung. (...) Wir fordern, Kirchen, Gemeindehäuser und Wohnungen zu öffnen und zusammen mit
245 Passoth, Mehr als 10 Jahre Kirchenasyl in Berlin, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 65 f.; siehe auch Quand, Arbeitskreis Asyl in der Kirche Berlin. Entstehung und Aufgaben, in: Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1994, Dokumentation, S. 29 f. 246 Dazu Eberl, Widerstand gegen das Abschieben von Flüchtlingen, Junge Kirche 1988, S. 123 ff; vgl. Just, Konflikt mit dem Staat im Dienst der Humanität, in: ders.(Hrsg.), Asyl von unten, S. 111 ff. 247
Just, ebd., S. 112; siehe auch Ebert, a.a.O., S. 127 sowie Thomä-Venske, Asyl in der Kirche - Erfahrungen aus Berlin, in: Pro Asyl, Die Würde des Menschen ist verletzbar, S. 16 f. 248
Scharf, Die Kirche hat die unbedingte Pflicht, Asyl zu gewähren, in: Tocha/Drobinski (Hrsg.), Publik-Forum Materialmappe Kirchenasyl, S. 8 f.; ähnlich äußerte sich Scharf schon 1987 bei einer Protestversammlung gegen Abschiebung in den Libanon, abgedruckt bei Just, ebd., S. 112 f. 249
Just, ebd., S. 114.
250
Ebd., S. 115.
. Die Kirchenasylbewegung
99
Menschenrechts- und Flüchtlingsinitiativen im Eintreten für Flüchtlinge und in Bewahrung der Menschenrechte mehr zu wagen als bisher" 251.
Dieser Aufruf fand in beiden Kirchen Beachtung. Bereits im September 1992 kam es zu einem zweiten, stark ökumenisch geprägten Bundestreffen in Kassel252. Nachdem auch hieraus zunächst keine festere Vernetzung hevorgegangen war und im Jahre 1993 kein bundesweites Treffen stattfand, lud im Februar 1994 die Ev. Akademie Mülheim/Ruhr in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Caritasverband 253 und dem Ökumenischen Arbeitskreis Asyl in der Kirche (Berlin) zum dritten Bundestreifen der Kirchenasylinitiativen nach Mülheim/Ruhr ein 254 . Zentrales Anliegen dieser Veranstaltung war die Vernetzung der Asylgemeinden255. Neben dem Ausbau regionaler Netzwerke, wie sie in Berlin und in Ansätzen auch in anderen Bundesländern bereits existierten, sollte vor allem die bundesweite Kooperation forciert werden. Ziel war, der Kirchenasylbewegung auf Bundesebene eine politische Stimme und einen mit sachlichen und personellen Mitteln ausgestatteten Anlaufpunkt zu geben256. Als Ergebnis der Tagung gaben die 137 Teilnehmer/innen die Gründung der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" (BÄK) mit Sitz in Köln bekannt257.
251 Nürnberger Deklaration vom 20. Oktober 1991, abgedruckt in: Just (Hrsg.), Kirche von unten, Anhang (S. 209 f.). 252
Eingeladen hatten die Katholische Kirchengemeinde St. Familia, die Ökumenische Werkstatt der Ev. Kirche Kurhessen Waldeck und das Ökumenische Netz Nordund Osthessen, vgl. näher Just, a.a.O., S. 115. 253
Zu beachten ist, daß es bislang keine offizielle Stellungnahme der Caritasgremien zum Kirchenasyl gibt, wohl aber eine praktische Zusammenarbeit mit Asylgemeinden im Dienst an "Illegalen"; vgl. Uihlein, Der Umgang mit "Illegalen" (aus Sicht der Caritas), in: Asyl am Heiligen Ort, S. 132 u. 137. 254 Siehe Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1994, Dokumentation; s. dort die Begrüßung und Einführung in die Tagung von Just (Studienleiter an der Ev. Akademie und nachmaliger Sprecher der BÄK) und Uihlein (Caritasverband und Sprecher der BÄK) als Tagungsleiter. 255
Vgl. die Einleitung von Just in der vorgenannten Dokumentation, S. 4.
256
Just, ebd., S. 6
257
Pressemitteilung von Just/Quandt/Uihlein vom 14.2.1994, in: Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1994, Dokumentation, S. 64; s. a. epd ZA Nr. 32/15.2.1994, S. 2.
100
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Seitdem organisiert die BÄK zusammen mit dem Deutschen Caritasverband die jährlichen Bundestreffen 258 und ist bemüht, die Aktionsform des Kirchenasyls bekannter zu machen, seine Akzeptanz zu erhöhen, Diskurse in Gemeinden anzuregen und bestehende Kirchenasyle zu unterstützen259.
2. Die Organisationsstruktur der Kirchenasylbewegung Die Kirchenasylbewegung besitzt kein straffes oder gar hierarchisches Organisationsgefüge. Dies verhindert schon ihr Charakter als Basisbewegung. In keinem Fall wurde Kirchenasyl von oben gesteuert oder angeordnet; immer waren es die Ortsgemeinden, die den Entschluß zur Asylgewährung faßten und umgesetzten. Gleichwohl lassen sich Strukturen erkennen, die über den Wirkungskreis einer einzelnen Kirchengemeinde hinausweisen. Es sind drei Ebenen übergemeindlicher Zusammenarbeit zu unterscheiden: Die Ebene der länderumfassenden Kirchenasylvereine, die bundesweite Ebene der BÄK sowie die internationale Ebene der Stiftung INLIA (Internationales Netzwerk Lokaler Initiativen für Asylsuchende).
a) Kirchenasylvereine
und lokale Netzwerke
Kirchenasylvereine existieren derzeit in Baden-Würtemberg, Bayern, Berlin, Hamburg/Schleswig-Holstein, Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen und Thüringen, jeweils für die Gebiete dieser Bundesländer260. In den anderen Bundesländern bestehen noch lokale Zusammenschlüsse, wobei die Tendenz zur überlokalen Vernetzung anhält261.
258 Folgende Dokumentationen der Bundestreffen sind bislang erschienen: Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen (11. -13. Februar 1994); dies. (Hrsg.), "...denn er birgt mich in seiner Hütte zu böser Zeit.", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen (13.-15. Januar 1995); epd-Dokumentation Nr. 31/96, Asyl in der Kirche. Texte vom 3. Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen (8. - 10. März 1996); zum Bundestreffen 1997 siehe Schmiedendorf, Ohne Papiere ohne Schutz, Kirchenasyl: Initiativen tauschen Erfahrungen aus, in: SZ Nr. 68 vom 22./23.3.1997, S. 3. 259
Vgl. Just, Die Kirchenasylbewegung in Deutschland, in: Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "...denn er birgt mich in seiner Hütte zu böser Zeit.", Bundestreffen der Kirchenasylinitiativen 1995, S. 15. 260 Just/Vogelskamp, Kirchenasyl - ein demokratisches Streitmittel, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 18; siehe auch den Adressenteil im Anhang (S. 121 ff), wo die einzelnen Vereine aufgeführt sind. 261
Etwa in Bielefeld und Lippe (vgl. Just/Vogelskamp,
ebd.).
ΠΙ. Die Kirchenasylbewegung
101
Die regionalen Kirchenasylvereinigungen sind zumeist in der Rechtsform des eingetragenen Vereins konstituiert. Dabei orientieren sie sich am Beispiel des Berliner AK Asyl in der Kirche e. V. und der von ihm ausgearbeiteten Satzung262. Der Rechtsstatus des e.V. soll einer verbesserten Übernahme von Trägerschaften (etwa von Flüchtlingsberatungsstellen)263, der Einrichtung von Koordinationsstellen, dem Erhalt von Fördermitteln sowie vor allem der Erhebung von Mitgliedsbeiträgen dienen264. Besonders ausgeprägte Formen hat das Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche in Nordrhein-Westfalen e. V. angenommen, das anderen Vernetzungsvorhaben in Flächenstaaten als Vorbild dient265. Die Satzung des Netzwerks weist als Ziel des Vereins aus, die Fürsorge für Flüchtlinge zu fördern, auf ihre Lage aufmerksam zu machen und zu einer Verständigung zwischen ihnen und der hiesigen Bevölkerung beizutragen266. Dieser Zweck soll durch Beratung und Information kirchlicher Initiativgruppen, durch Vermittlung von Kontakten dieser Gruppen untereinander sowie durch Öffentlichkeitsarbeit verfolgt werden267. Die Förderung von Kirchenasyl ist nicht ausdrücklich als Zielsetzung des Vereins genannt, wohl um die Eintragung in das Vereinsregister nicht zu gefährden. In der Konzeption des Vereins heißt es allerdings, Ziel des Netzwerkes sei, Gemeinden und Initiativen zu unterstützen, die Kirchenasyl gewähren oder etwas Ähnliches vorhaben268. Mitglieder des Vereins können Kirchengemeinden, verfaßte religiöse Gruppen, sonstige in der Asylarbeit tätige gemeinnützige Personenvereinigungen und Einzelpersonen werden 269. In der Mitgliederversammlung haben die Kir-
262
Dazu Quandts beispielgebenden Bericht über Satzung und Konzeption des Berliner Arbeistkreises Asyl in der Kirche in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr, "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen der Kirchenasylinititiven 1994, S. 29 f. 263
So in der Berliner Heilig Kreuz Gemeinde (s. Quandt, ebd., S. 30.).
264
Quandt, ebd., S. 30; ähnlich Just, Das Ökumensiche Netzwerk Kirchenasyl in NRW, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen 1994, S. 38. 265 Vgl. dazu den ausführlichen Bericht von Just, Das Ökumensiche Netzwerk Kirchenasyl in NRW, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen 1994, S. 36-41. 266
§ 2 Abs. 1 S. 2 der Satzung.
267
§ 2 Abs. 1 S. 3 der Satzung.
268
Konzeption des Ökumenischen Netzwerks Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen 1994, Dokumentation, S. 82 (Anhang). 269
§ 3 S. 1 lit. a) u. lit. b) der Satzung.
102
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
chengemeinden und verfaßten religiösen Gruppen je drei Stimmen, die anderen Mitglieder je eine270. Diese Regelung soll eine Instrumentalisierung des Kirchenasyls durch kirchenfremde Gruppen und Einzelpersonen verhindern 271. Inhaltliche Grundlage der Arbeit ist die Charta von Groningen, deren Unterzeichnung für Kirchengemeinden und religiöse Gruppen Voraussetzung ihrer Mitgliedschaft ist 272 . In der 1987 bei einer internationalen Konferenz im niederländischen Groningen verabschiedeten Charta 273 haben sich Kirchengemeinden und religiös verfaßte Basisgruppen verpflichtet, abgewiesenen Asylbewerbern Kirchenasyl zu gewähren, "bis eine für alle Teile annehmbare Lösung gefunden ist" 274 . Der nordrhein-westfalische Kirchenasylverein hat seinen Sitz in Köln. Er unterhält ein Koordinationsbüro in den Räumen des dortigen Stadtkirchenverbandes mit derzeit zwei hauptamtlichen Mitarbeitern 275. Bundesweit sind etwa 300 Kirchengemeinden in derartigen Asylvereinen organisiert. Sie dokumentieren damit ihre prinzipielle Bereitschaft zur Gewähr von Kirchenasyl276.
b) Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft
"Asyl in der Kirche"
Die Ökumenische Bundesarbeitgemeinschaft "Asyl in der Kirche" als nichtrechtsfähiger Verein ist der Verband der verschiedenen Kirchenasylvereinigungen der Länder sowie weiterer Vereinigungen aus dem kirchlichen
270
(BÄK)
§ 6 Abs. 1 S. der Satzung.
271
Zur Diskussion um die Frage der Mitgliedschaft von Einzelpersonen und kirchenfremden Gruppen näher Just, Das Ökumenische Netzwerk Kirchenasyl in NRW, in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen 1994, S. 39 f. 272
§ 3 S. 1 lit. a) der Satzung; vgl. dazu Just, Das Ökumenische Netzwerk Kirchenasyl in NRW, a.a.O., S. 38. 273 Vollständig abgedruckt in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen 1994, Dokumentation, S.80. 274
Vgl. dazu Gutheil, Die Stiftung INLIA in den Niederlanden und die "Charta von Gronigen", in: Just (Hrsg.), Asyl von unten, S. 177 ff., insb. S. 180. 275 Geschäftstelle des Ökumenische Netzwerkes Asyl in der Kirche in NRW e. V., Kartäusergasse 9 - 11, 50678 Köln. 276
Just/Vogelskamp, Kirchenasyl - ein demokratisches Streitmittel, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 18. Die Autoren sind Sprecher der BÄK und im Vorstand des Netzwerkes NRW (Just) sowie Geschäftsführer der BÄK und des Netzwerkes (Vogelskamp).
ΠΙ. Die Kirchenasylbewegung
103
Raum277. Dazu zählen der Deutsche Caritasverband, die Franziskaner der Provinz Saxonia, die Kirche von unten, die Evangelisch-Methodistische Kirche, Pro Asyl e. V. sowie Pax Christi 11*. Die BÄK will den Informationsfluß zwischen den asylgewährenden Kirchengemeinden fordern, länderübergreifende Kooperationen und Aktionen ermöglichen sowie in öffentlichen Äußerungen die Stimme der Kirchenasylinitiativen in den Kirchen und der Öffentlichkeit verstärken 279. Zu ihrem Selbstverständnis gehört das Bestreben, mit den kirchlichen und staatlichen Autoritäten zugunsten der betroffenen Flüchtlinge einvernehmlich zusammenzuarbeiten280. Organe der BÄK sind neben dem jährlichen "Bundestreffen" der Koordinationsrat, der sich mehrmals im Jahr trifft sowie der Sprecherrat, der die BÄK in Erklärungen nach außen vertritt, beide Gremien sind ökumenisch zu besetzen281. Die BÄK unterhält ihre Geschäftsstelle ebenfalls in den Räumen des evangelischen Stadtkirchenverbands in Köln.
c) Die Stiftung INLIA Die kirchliche Stiftung INLIA (Internationales Netzwerk Lokaler Initiativen für Asylsuchende) wurde im Jahre 1988 in Groningen/Niederlande gegründet 282. Sie ist die internationale Organisation einzelner Kirchengemeinden und Initiativen, welche die Charta von Groningen zur Grundlage ihrer Arbeit für Flüchtlinge gemacht haben. In der aus 5 Punkten bestehenden Erklärung heißt es im entscheidenden Punkt 3: "Wenn wir aus guten Gründen annehmen können, daß ein Flüchtling oder Asylsuchender, dem die Ausweisung droht, keine wirklich menschliche Behandlung erfahrt oder Beschlüsse gefaßt werden, die die Qualität seines weiteren Lebens ernsthaft beeinträchtigen können, dann verpflichten wir uns, ihn aufzunehmen und zu
277 Siehe die Auflistung in: Ev. Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), "Unter dem Schatten deiner Flügel...", Bundestreffen 1994, Dokumentation, S.78 sowie bei: Pax Christi («rsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit (s. Fn. C. 259), S. 121 - 126 (Stand: Sept. 1995). 278
Ebd.
279
Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft (Faltblatt). 280
Ebd.
281
Ebd.
282
Asyl in der Kirche, Selbstdarstellung
Dazu näher Gutheil, Die Stiftung INLIA in den Niederlanden und die "Charta von Gronigen", in: Just (Hrsg.), Asyl von unten, S. 177; siehe auch Landeskirchenamt der EKiR, Informationen zur Stiftung INLIA, in: dass. (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 77 ff.
104
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
schützen, bis eine für alle Teile annehmbare Lösung gefunden ist. Wir würden dabei eine offene Auseinandersetzung mit unseren Regierungen oder unmittelbar Solidaritäts- oder Protestaktionen nicht scheuen, wenn es die Situation unserer Meinung nach erfordert" 283.
Das Aufgabenfeld des Netzwerkes umfaßt die Ausdehnung des Chartanetzes sowie die Hilfe und Information für individuelle Kirchenasylgesuche in den Niederlanden284. Auf internationaler Ebene dient INLIA vor allem als Informationseinrichtung und der Öffentlichkeitsarbeit 285. Für die Zukunft ist ein weiterer Ausbau der internationalen Zusammenarbeit der Flüchtlingsinitiativen geplant. Damit soll den befürchteten Härten einer Europäisierung des Asylrechts begegnet werden 286.
3. Folgen für die Praxis: Vereinheitlichung durch Vernetzung Der durch die Kirchenasylbewegung bewirkte Austausch der einzelnen Gemeinden und Gruppen hatte eine deutliche Vereinheitlichung der kirchlichen Asylgewährungspraxis zur Folge. Die verschiedenen Verlautbarungen aus den Reihen der Kirchenasylbefürworter haben eine quaisnormative Verfestigung des Asylgedankens bewirkt, noch bevor amtskirchliche Gremien sich mit der Problematik befaßten. Diese an die Herausbildung von Gewohnheitsrecht 287 erinnernde Entwicklung rührt wesentlich daher, daß das Bild des modernen Kirchenasyls in erster Linie durch die BÄK geprägt und vermittelt wird. Nicht zuletzt ihr Organisationsgrad hat dazu geführt, daß der Streit zwischen staatlichen und kirchlichen Vertretern um das Kirchenasyl sich im Frühjahr 1994 zu ungewöhnlicher Schärfe entfachte 288. Den staatlichen Reprä-
283 Vgl. dazu Gutheil, Die Stiftung INLIA in den Niederlanden und die "Charta von Gronigen", in: Just (Hrsg.), Asyl von unten, S. 177 ff, insb. S. 180. 284
Gutheil, ebd., S. 178 f..
285
Gutheil, ebd., S. 178 u. 184.
286
Gutheil, ebd., S. 185. Auf die Harmonisierungsbestrebungen der europäischen Länder im Bereich des Asylrechts kann hier nicht weiter eingegangen werden. Insgesamt geht aber die Tendenz eindeutig dahin, angesichts des fortschreitenden europäischen Einigungsprozesses auch im Asylbereich zu grenzüberschreitenden Lösungen zu greifen und so dem diagnostizierten zunehmenden Einwanderungsdruck auf Europa zu begegnen. Daher ist bei einer Harmonisierung der Asylpolitiken eine Rechtsangleichung auf kleinstem Niveau absehbar, was das GG nach der Asylrechtsreform auch für die Bundesrepublik zuläßt. Siehe zu diesem weiten Problemkreis die Übersicht bei Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 67-73. 287
Zur Frage des Gewohnheitsrechts unten S. 137 f. .
288
Vgl. dazu bereits oben S. 21.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
105
sentanten mußte das Kirchenasyl als eine übliche und im kirchlichen Raum anerkannte, strukturierte und organisierte Handlungsform erscheinen, der führende Kirchenbeamte nicht eindeutig widersprachen 289. Die in der BÄK zusammengefaßte Kirchenasylbewegung, die den weitaus größten Teil aller asylgewährenden Gemeinden repräsentiert, haben Voraussetzungen und Ziel des modernen Kirchenasyls formuliert und die Diskussion um seine Rechtfertigung maßgeblich angestoßen. Alle ihre Vernetzungs- und Organisationsbestrebungen dienen dem Ziel, Kirchenasyl als wohlbegründete und wohlerwogene Reaktion aus dem kirchlichen Raum auf die Mißstände der staatlichen Asylpolitik in Kirche und Gesellschaft darzustellen und bekannt zu machen. Dabei bleibt die Entscheidung über das Für und Wider eines Kirchenasyls in jedem Einzelfall der Ortsgemeinde selbst überlassen. Gleichwohl ist festzuhalten, daß das Kirchenasyl sich zu einem klar konturierten Untersuchungsgegenstand verfestigt hat, der eine von Einzelfällen losgelöste rechtliche Würdigung erlaubt.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik Die Renaissance des Kirchenasyls290, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, der Schweiz, England und in den Niederlanden zu beobachten ist, steht im Zusammenhang mit einer zunehmend restriktiven Ausländerpolitik dieser Länder. In der Bunderepublik Deutschland ist seit dem sog. Asylkompromiß und der daraus hervorgegangenen Neufassung des Asylgrundrechts in Art. 16 a GG im Sommer 1993 ein signifikanter Anstieg der Kirchenasylgewährungen zu verzeichnen291. Diese Zunahme ist Ausdruck und Folge der bisweilen scharfen Kritik aus dem kirchlichen Bereich an der rechtlichen Situation von ausländischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland292. Das Kirchenasyl ist eine mögliche Handlungsform innerhalb der breiten kirchlichen Opposition gegen die Leitgedanken der staatlichen Asyl- und Ausländerpolitik. Vor diesem Hintergrund sind diese Leitgedanken
289
Vgl. unten S. 147 und S. 183.
290
Kaltenborn, Kirchenasyl, DVB1 1993, S. 25.
291
Zu diesem Ergebnis kommt die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (Hrsg.) in der empirischen Untersuchung "Zufluchtsort Kirche" (1996) aufgrund der ihr bekannt gewordenen Kirchenasyle, vgl. darin Vogelskamp, Untersuchungsbericht, S. 5 f.; genaue Zahlenangaben sind wegen mangelnder exakter Erfassung aller Kirchenasylaktionen nicht möglich. Vgl. zur genannten Untersuchung näher bereits oben S. 91. 292
Vgl. Rat der EKD, Asylsuchende und Flüchtlinge, Bericht der Kommission für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten, 1994, S. 20.
106
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
zu skizzieren und mit der kirchlichen Kritik zu konfrontieren. So ergibt sich der Bezugsrahmen, in dem das Kirchenasyl zu sehen ist.
1. Das Grundrecht auf Asyl und die staatliche Flfichtlingspolitik Die Bundesrepublik Deutschland gewährte auf ihrem Territorium gemäß Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F. einen verfassungsrechtlichen Anspruch für politisch Verfolgte auf Asyl. Dieses Individualrecht wurde nach seiner Neuregelung in Art. 16 a Abs. 1 GG im Sommer 1993 zwar grundsätzlich beibehalten, aber erheblich eingeschränkt.
a) Die Altregelung des Art. 16 Abs. 2S.2GG a. F. Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F. bestimmte schlicht: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Lagen die Voraussetzungen vor, gewährte die Norm im status negativus ein Recht auf Unterlassen aller das Asyl zerstörender oder gefährdender staatlicher Maßnahmen293. Darüber hinaus erhielt der Ausländer aufgrund einfachen Rechts eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Das Grundrecht auf Asyl verdankte seine Entstehung den persönlichen Erfahrungen vieler Mitglieder des parlamentarischen Rates, die unter politischer oder rassischer Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime gelitten und nur unter erheblichen Schwierigkeiten im Ausland Schutz gefunden hatten294. Es sollte in seiner vorbehaltlosen Reichweite die besondere Verantwortung zum Ausdruck bringen, die das demokratische Deutschland gegenüber Opfern ähnlicher Gewaltherrschaften wahrnehmen wollte 295 . Einen vergleichbaren Anspruch enthält weder das Völkerrecht noch das Asylrecht anderer Staaten296.
293
So die abwehrrechtliche Position, die an der klassischen Grundrechtsfunktion ausgerichtet ist und für welche Entstehungsgeschichte und Systematik des GG sprechen, vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 1056, a.A. MmmzfDimg-Randelzhofer, GG, Art. 16 Π 2, Rn. 118, der im Asylrecht ein Recht des status positivus sieht und somit eine leistungsrechtliche Position vertritt. 294 Zur Entstehungsgeschichte MzunzfDitiig-Randelzhofer, GG, Art. 16 Π 2, Rn. 4 u. 5 sowie Doemmig/Füsslein/Matz, Entstehungsgeschichte des GG, in: JöR n. F. 1 (1951), 165 f. 295 296
Vgl. Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 5.
Insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.7.1951 kennt kein Individualrecht auf Asyl, sondern regelt nur die Ausgestaltung eines bereits gewährten Asyls (Nicht Rechte auf, sondern im Asyl), vgl. Maunz/Dûùg-Randelzhofer, GG, Art. 16 Π 2, Rn. 18 sowie allgemäß zum Asylrecht im Völkerrecht ders., a.a.O., Rn. 9 ff.; bei den Einzelstaaten besteht eine Ausnahme i. S. e. Individualrechts wohl nur für Costa Rica
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
107
Die Zahl der Personen, die als Asylbewerber einen Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland zu erlangen suchten, hat sich stetig erhöht und ist allein seit der Einführung des Asylverfahrensgesetzes im Jahre 1982 von 37.423 auf 438.191 Bewerber im Jahre 1992 angestiegen297. Den größten Anteil bildeten seit Anfang der neunziger Jahre osteuropäische Flüchtlinge, die infolge der Umwälzungsprozesse im ehemaligen Ostblock nach Deutschland gelangt waren, so vor allem aus Rumänien, Bulgarien und den Bürgerkriegsregionen des ehemaligen Jugoslawien298. Überwiegend waren es Menschen, die ihre Heimatländer aufgrund von Hunger und Armut, Bürgerkriegswirren oder Menschenrechtsverletzungen verlassen hatten. Diese Personengruppen erfüllten in der Regel die durch die Gerichte konkretisierten Anforderungen an den Begriff der politischen Verfolgung nicht 299 . Die Rechtsprechung dehnte zwar den Adressatenkreis des Asylgrundrechts über den engeren Bereich politischer Verfolgung aus. Danach war in Anlehnung an Art. 1 A Nr. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention300 ein Asylgrund auch dann gegeben, wenn jemand wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Guppe gezielten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war oder begründet befürchtete 301. Jedoch fehlte es den genannten Personengruppen häufig am Merkmal einer gezielten Verfolgung 302. Eine solche sollte bei solchen Nachteilen nicht vorliegen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatland zu erleiden hatte, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen,
(vgl. die rechtsvergleichende Übersicht bei Kimminich in: BK, Art. 16 GG, nach Rn. 401). 297
Zahlenübersicht 1982 bis 1993 bei Giesler/Wasser,
Das neue Asylrecht, S. 13.
298
Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden waren im Jahre 1992: ehem. Jugoslawien mit 122 666 Bewerbern, Rumänien mit 103 787 Bewerbern, Bulgarien mit 31 540 Bewerbern, Türkei mit 28 327 Bewerbern, Vietnam mit 12 258 Bewerbern, ehem. UdSSR mit 10 833 und Nigeria mit 10 486 Bewerbern (nach Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 14). Zu den Migrantengruppe näher Bernât, Zuwanderung im neuen Europa, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 24 ff., hier auch zur Ost-West Pendelmigration (S. 27 f.) sowie ebd. Reichow, Gegenwärtige Wanderungsbewegungen und Prognose für Deutschland, S. 16, der den Anteil der Flüchtlinge aus Ost- und Südosteuropa vor der Asylrechtsreform mit rd. 75 % beziffert (danach im August 1993 61 %). 299
Zu den Anerkennungsquoten siehe unten S. 113.
300
BGBl 1953, Π, S. 559.
301
BVerwGE 67, 184 (186); BVerwGE 95, 42 (46); BVerfGE 54, 341 (358); BVerfGE 80, 315 (336); vgl. Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 17. 302
Vgl. BVerfGE 54, 341 (357) u. BVerwGE 80, 321 (324), wonach das Erfordernis der Zielgerichtetheit nur bei menschenwürdeverletzender Intensität entfallen soll.
108
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Revolutionen und Kriegen 303. Darüber hinaus war eine Verfolgung zu verneinen, wenn der Betroffene nicht überall im Heimatland schutzlos war 304 . Eine derartige inländische Fluchtalternative nahmen Behörden und Gerichte häufig für asylsuchende Kurden aus der Türkei mit Verweis auf die Westtürkei an 305 . Schließlich sollte es an der erforderlichen Kausaltät zwischen Verfolgung und Flucht bei sog. selbstgeschaffenen Nachfluchtgründen fehlen, sofern eine politische Betätigung im Ausland nicht als Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland gebildeten und ins Werk gesetzten Überzeugung erschien306. Obgleich das Asylgrundrecht alter Fassung vorbehaltlos gewährt war, führte die Beschränkung des Schutzbereiches zu einer Ausgrenzung der Armuts-, Katastrophen- und Bürgerkriegsflüchtlinge. Daher konnte nur ein geringer Teil der Zuflüchtigen im Asylverfahren seine Anerkennung erwirken 307. Dennoch hatte aufgrund des alten Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG grundsätzlich jeder Ausländer, der angab, politisch verfolgt zu sein, wenn er das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erreichte, bis zum Abschluß des Asylverfahrens ein vorläufiges Bleiberecht und einen Anspruch auf umfassende Prüfung seines Asylgesuchs im Verwaltungs- und ggf. nachfolgenden Gerichtsverfahren 308. Aufgrund der hohen Bewerberzahlen wuchs die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren auf etwa drei Jahre an, und es erhöhte sich die Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichte in Asylsachen auf bis zu 50 % der Neueingänge309. Die Kommunen sahen sich mit der Bereitstellung von Unterkünften überfordert und signalisierten einen "Aufnahmestopp"; zugleich nahm die Akzeptanz für Ausländer in der Bevölkerung ab 310 .
303
BVerfGE 80, 315 (335); vgl. auch § 30 Abs. 2 AsylVfG.
304
Zur sog. inländischen Fluchtalternative in "mehrgesichtigen Staaten" siehe BVerfGE 80, 315 (342 f.) sowie Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 1045 m. w. N. 305
Vgl. oben S. 63 ff. (Fall Gilching).
306
BVerfGE 74, 51 (64 ff.); BVerwGE 77, 258 (261); vgl. Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 28 ff. 307
Die Anerkennungsquote des BAF1 betrug: 8,6 % (1988), 5,0 % (1989), 4,4 % (1990), 6,9 % (1991), 4,3 % (1992) (nach Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 14). Die im Verwaltungsgerichtsverfahren erfolgenden Anerkennungen, die statistisch nicht genau erfaßt werden, müssen hinzugerechnet werden. 308
Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 3; Giesler/Wasser,
309
Giesler/Wasser,
310
Ebd.
Das neue Asylrecht, S. 14.
Das neue Asylrecht, S. 16.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
109
Der Gesetzgeber versuchte zunächst, eine Beschleunigung der Asylverfahren durch mehrere Novellierungen des Asylverfahrensgesetzes zu erreichen 311. Derartige Bemühungen setzte allerdings die Verfassung Grenzen, weil das verfassungsrechtlich gewährleistete Bleiberecht nur dort zurücktreten durfte, wo ein eindeutig aussichtloser Asylantrag vorlag 312. Am 6.12.1992 einigten die Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD sich schließlich auf eine Grundgesetzänderung mit dem Ziel, eine unberechtigte Berufung auf das Asylrecht zu verhindern und das Asylverfahren weiter zu beschleunigen. Vor dem Hintergrund der ausländerfeindlichen Übergriffe dieser Zeit sahen die politischen Vertreter sich offenbar genötigt, ein deutliches Signal zur Beschränkung der Zuwanderung von Ausländern zu setzen313. Man begründete die Änderungspläne damit, daß die Berufung auf das Asylrecht in erheblichem Umfang zum Mittel einer unkontrollierten Zuwanderung aus wirtschaftlichen und anderen nicht durchgreifenden Gründen geworden sei314. In seiner Sitzung vom 26.5.1993 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit den "Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 16 und 18)"315 sowie das Änderungsgesetz zum Asylverfahrens-, Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht316. Nach Zustimmung des Bundesrates traten diese Gesetze am 1.7.1993 in Kraft.
311 Zu den Reformgeschichte des Asylverfahrensrechts siehe die gute Übersicht bei Brieskorn, Asylrecht - Ausländergesetzgebung - Einwanderungsrecht, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 54 ff sowie bis 1988 Knösel, Flucht und Asyl - Der aktuelle Diskussionsstand, in: ders./Rehwinkel, Weltflüchtlingsprobleme und die aktuelle Asylrechtsdiskussion, S. 29 ff. 312
BVerfGE 67,43 (56 f.); BVerfGE 78, 8 (18) u. 180 (189); zu den Anforderungen an offensichtlich unbegründete Asylanträge Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 71. 313 Welches nicht wenige als Signal in die falsche Richtung werteten, weil es diesen Stimmungen nachzugeben schien. 314
Begründung zum gemeinsamen Gesetzentwurf, BT-Dr. 12/4152 vom 19.1.1993,
S. 3. 315 316
BT-Dr. 12/4152 vom 19.1.1993.
BT-Dr. 12/4450 vom 2.3.1993. Ebenfalls verabschiedet wurde das von Seiten der Kirchen heftig kritisierte "Gesetz zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber" (BT-Dr. 12/4451 vom 2.3.1993), worauf hier nicht weitereingegangen werden soll.
110
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
b) Die Neuregelung des Art. 16 a GG und ihre Auswirkungen im Asylverfahrensrecht Art. 16 a GG übernahm zwar in Abs. 1 das Individualrecht auf Asyl wortgleich, begrenzte jedoch seinen Schutzumfang in den folgenden Absätzen erheblich317. Den Kern der Neuregelung bildet Art. 16 a Abs. 2 GG. Danach kann ein Ausländer sich nicht auf das Asylgrundrecht berufen, wenn er aus einem EGStaat oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung der GFK und der EMRK sichergestellt sind, wobei für EG-Staaten deren Anwendung unwiderleglich vermutet wird 318 . Die im Sinne dieser Norm sicheren Drittstaaten außerhalb der EG werden durch Gesetz bestimmt. Derzeit sind dies Finnland, Polen, Schweden, die Schweiz und die Tschechische Republik 319 . Versucht ein Ausländer, über ein solches Drittland einzureisen, kommen seinem Asylgesuch weder die Vorwirkung in Gestalt eines vorläufigen Bleiberechts noch die spezifischen verfahrensrechtlichen Garantien zugute, die sich dem Grundsatz nach weiterhin aus Art. 16 a Abs. 1 GG herleiten 320. Der Betroffene kann daher an der Grenze zurückgewiesen oder, sofern er bereits in das Bundesgebiet eingereist ist, unverzüglich zurückgeschoben werden (vgl. §§ 18, 26 a AsylVfG) 321. Die Zurückschiebung in einen Drittstaat kann gemäß Art. 16 a Abs. 2 S. 3 GG unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden 322. Ein weiteres Instrument zur Beschränkung des Asyls enthält Art. 16 a Abs. 3 GG. Danach kann der Bundesgesetzgeber Staaten bestimmen, bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politi317
Die Rechtsprechung zum Begriff der politischen Verfolgung kann daher nach wie vor herangezogen werden; vgl. zum wenig übersichtlichen Regelungskonzept des Art. 16 a die Kurzübersicht bei Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 7. 318
Zur dieser sog. Drittstaatenregelung ausführlich Giesler/Wasser,
S. 17 f.
319
Ani. I zu § 26 a AsylVfG; vgl. B. Huber, Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung, NVwZ 1993, S. 736 f. 320
B. Huber, Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung, NVwZ 1993, S. 736 f.; Giesler/Wasser, S. 17; siehe auch die Begründung zum Gesetzentwurf in BT-Dr. 12/4152, S. 4. 321
Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 48. Eine praktisch bedeutsame Ausnahme ist dann gegeben, wenn sich nicht feststellen läßt, ob und aus welchem Drittland die Einreise erfolgte, so daß eine Rückschiebung zunächst faktisch ausscheidet; zu dieser Konstellation Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 38. 322
Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 48.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
111
sehen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfinden 323. Bei einem solchen sog. verfolgungsfreien Herkunftsland wird vermutet, daß keine politische Verfolgung vorliegt (sog. "safe countries"), was der Ausländer nur durch qualifiziertes Vorbringen widerlegen kann324. Besonderes bedeutsam für das gerichtliche Verfahren ist Art. 16 a Abs. 4 GG. Danach kann der Gesetzgeber bei offensichtlicher Unbegründetheit des Asylgesuchs erschwerte Anforderungen an eine Aussetzung der Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Eilverfahren stellen und den Prüfungsumfang sowie die Berücksichtigung verspäteten Vorbringens vor den Verwaltungsgerichten einschränken325. Die völkerrechtliche Öffnungsklausel des Art. 16 a Abs. 5 GG will die Möglichkeit der Internationalisierung des Asylrechts und seines Anschlusses an eine supranationale Entwicklung verfassungsrechtlich sicherstellen326. Der Gesetzgeber nutzte die durch die Neufassung des Art. 16 a GG eröffneten Gestaltungsspielräume zu umfangreichen Änderungen des Asylverfahrensrechts 327. Dabei legte er besonderes Gewicht auf die Beschränkung und Beschleunigung des gerichtlichen Eilrechtsschutzes. Zunächst bewirkt die sog. Gebietskontaktlösung des Art. 16 a Abs. 2 GG, daß grundsätzlich jedem Asylbewerber gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG an der Grenze die Einreise zu verweigern ist, weil sämtliche Anrainer der Bundesrepublik Deutschland entweder EG-Staaten oder sichere Drittstaaten i. S. d. § 26 a AsylVfG sind328. Im Falle einer unbemerkten Einreise greift § 34 a Abs. 2 AsylVfG ein, der die auf Art. 16 a Abs. 3 S. 3 GG beruhende Sonderrege-
323
Giesler/Wasser,
Das neue Asylrecht, S. 18 f.
324
Näher B. Huber, Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung, NVwZ 1993, S. 638. Zu diesen sog. sicheren Herkunftsländern zählen etwa Bulgarien, Rumänien, Polen, Tschechische und Slowakische Republik, Ungarn, Senegal und Ghana. 325 Zu dieser "Verfassungsnorm mit prozeßrechtlichem Inhalt" Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 69. 326
Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 73.
327
Eine ausführlichere Darstellung der Neuregelungen findet sich bei Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 21 ff. sowie ein Überblick bei B. Huber, Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung, NVwZ 1993, S. 739 ff. 328 Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 49; Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 28; zum Verfahren bei Einreise auf dem Luftweg siehe § 18 a AsylVfG sowie dazu Giesler/Wasser, a.a.O., S. 30 ff.
112
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
lung enthält, daß die Abschiebung in den sicheren Drittstaat nicht nach §§ 80, 123 VwGO ausgesetzt werden darf 329. Eine weitere, das gerichtliche Verfahren gestaltende Regelung enthält § 36 AsylVfG bei offensichtlicher Unbegründetheit des Asylgesuchs gemäß § 30 AsylVfG, etwa weil die Einreise aus einem sog. verfolgungssicheren Herkunftsstaat (vgl. § 29 a AsylVfG) erfolgte. Hier ist dem Asylbeweiber gemäß § 36 Abs. 1 AsylVfG eine Ausreisefrist von einer Woche zu setzen, die mit einer Antragsfrist für den Eilrechtsschutz von ebenfalls einer Woche korrespondiert 330 . Zwar darf vor der Entscheidung des Gerichts gemäß § 36 Abs. 3 S. 7 AsylVfG keine Abschiebung erfolgen, jedoch bestimmt die Regelung ferner, daß das Gericht in einer weiteren Woche über den Antrag entscheiden soll 331 . Schließlich setzt § 36 Abs. 4 AsylVfG die durch Art. 16 a Abs. 4 GG eröffneten Regelungsmöglichkeiten um und schränkt den Prüfungsumfang in sachlicher Hinsicht und im Hinblick auf die berücksichtigungsfähigen Tatsachen und Beweismittel ein 332 . Das Bundesverfassungsgericht hat zwischenzeitlich die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung in den sog. Asylurteilen vom 14.5.1996333 im wesentlichen bestätigt334. Es ist zusammenzufassen, daß der sog. Asylkompromiß auf eine Abwehr von Flüchtlingen ohne ausreichende asylrelevante Gründe, auf eine Beschleunigung der Anerkennungsverfahren und auf eine rasche Abschiebung bei Ablehnung des Asylgesuchs abzielt. Die Drittstaatenklausel als Hauptinstrument der Asylrechtsänderung beurteilt die Frage, ob Asylsuchenden politische Verfolgung droht, als gesetzlich nachrangig gegenüber der Frage, ob die Flüchtlinge eine anderweitige Zuflucht in einem sicheren Drittstaat hätten finden können. Ein cordon sanitaire sicherer Dritt- und EG-Staaten und die Gebietskontaktlösung bewirken, daß ein Asylanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland fortan für alle diejenigen Aslybewerber verfassungskräftig ausge329
Giesler/Wasser,
330
Vgl. Giesler/Wasser,
Das neue Asylrecht, S. 40. Das neue Asylrecht, S. 49 f.
331
Diese Norm ist ein Novum im deutschen Prozeßrecht und vor allem von Richtern scharf kritsiert worden. Allerdings wird man in ihr, aufgrund der fakultativen Formulierung, wohl noch keinen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit sehen können; vgl. dazu näher Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 50. 332
Giesler/Wasser,
333
BVerfGE 94,1 ff.
334
Das neue Asylrecht, S. 50.
Vgl. dazu Hailbronner, Das Asylrecht nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: NVwZ, 1996, S. 625 ff.; epd ZA Nr. 92 vom 15. Mai 1996, S. 2 ff. mit Reaktionen aus dem kirchlichen Raum.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
113
schlossen ist, die das Bundesgebiet auf dem Landweg erreichen. Verkürzt läßt sich dies auf die Formel bringen: Nicht mehr der Fluchtgrund, sondern der Fluchtweg entscheidet über die Erfolgsaussichten des Asylgesuchs. Das safe-countiy-Konzept des Art. 16 a Abs. 3 GG ermöglicht zudem ein verkürzten Verfahren, das vor allem für die Einreise auf dem Luftweg zugeschnitten und durch die sog. Flughafenregelung des § 18 a AsylVfG umgesetzt ist. Mit der Beschränkung und Beschleunigung des gerichtlichen Eilrechtsschutzes sucht die Neuregelung einer von Verfahrenshemmnissen befreiten wirksamen Abschiebepraxis zum Durchbruch zu verhelfen. Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung auf internationaler Ebene eine Reihe von Rückführungsabkommen geschlossen, die eine Rückschiebung auch dann sichern sollen, wenn Flüchtlinge ohne Pässe aufgegriffen werden335. Der Asylkompromiß scheint in der Praxis zu greifen und seine beabsichtigte Abschreckung zu entfalten. Der Asyl-Erfahrungsbericht 1994 des Bundesministers des Innern nennt für das letzte vollständige Jahr vor der Asylrechtsänderung (1992) die Zahl von 438.191 Asylsuchenden. Im ersten vollständigen Jahr nach der Asylrechtsänderung, 1994, ist die Zahl auf 127.210 zurückgegangen und hat sich auf diesem Niveau stabilisiert 336. Zugleich haben die Abschiebungen, vor allem nach Rumänien und Bulgarien als Hauptherkunftsländer, erheblich zugenommen337. Im Gegenzug zeigt sich eine Steigerung der Anerkennungen durch das Β AFI von 4,25 % im Jahre 1992 (von 216.356 entschiedenen Anträgen) auf 7,25 % im Jahr 1994 (von 352.572 ent-
335 Vgl. dazu und zu den sog. "Durchbeförderungsvereinbarungen" mit Drittstaaten zur Gestattung der Durchbeförderung von rückzufuhrenden Personen über ihr Hoheitsgebiet in den Zielstaat Bundesminister des Innern, Asylerfahrungsbericht 1994, S. 41 ff.; siehe die Übersicht über Rückübernahme-Abkommen in: Kirchenamt der EKD, Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S. 20 f.; siehe auch den Bericht der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (Rumänien. Vor den Toren der Festung Europa) über die Praxis der Abschiebung von rumänisfchen Roma und das Eingreifen des deutsch-rumänischen Rückübernahmeabkommen vom 24. 9. 1992 (tw. abgedruckt in FR vom 18. Mai 1996 -Dokumentation-). 336
Bundesminister des Innern, Asyl-Erfahrungsbericht 1994, S. 6; Pressemitteilung des BMI, in: NVWZ 1994, S. 255 (für 1993: 322.842 Asylbewerber); NVwZ 1995, S. 257 (für 1994: 127.210 Asylbewerber); NVwZ 1997, S. 258 (für 1996: 116.367 Asylbewerber). 337 Vgl. Pressemitteilung des BMI, in: NVwZ 1997, S. 258 (1995: rd. 21000 Abschiebungen). 8 Grefen
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C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
schiedenen Anträgen) 338 und 7,4 % im Jahr 1996 (von 194.451 entschiedenen Anträgen) 339.
2. Die Kritik der Kirchen an der staatlichen Asylpolitik Den beiden Großkirchen in der Bundesrepublik Deutschland ist die Ausländer» und Flüchtlingsarbeit seit langem ein zentrales Anliegen340. Für viele Gruppen und Einrichtungen ist die Betreuung ausländischer Flüchtlinge zu einem wichtigen Aufgabenbereich der kirchlichen Karitas geworden341. Dazu gehört die ehrenamtliche Arbeit in den Ortsgemeinden342 ebenso wie die professionelle Sozialaibeit der kirchlichen Wohlfahrtsverbände 343 und Flüchtlingsbeauftragten 344. Aber nicht allein ihr karitatives Wirken hat das Profil der Kirchen in diesem gesellschaftlichen Problembereich geschärft. Vielmehr traten leitende Gremien beider Großkirchen immer wieder mit politischen Stellungnahmen zu zentralen Fragen des Ausländer- und Asylrechts an die Öffentlichkeit. Sie verdeutlichten so ihr Anliegen an eine christlichen Maßstäben der Menschenwürde gerecht werdende Ausländer- und Flüchtlingspolitik. Dabei lassen sich
338
Bundesminister des Innern, Asyl-Erfahrungsbericht 1994, S. 6
339
Ders., Pressemitteilung des BMI, in: NVwZ 1997, S. 258.
340
Vgl. dazu Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), Kirchen und Ausländerpolitik seit 1871, Begegnungen, Heft 1, 1990; darin insbesondere die Einleitung von Just, S. 1 f. 341
Vgl. Müller, Politische Lösungsansätze des Flüchtlingsproblems und der Beitrag der Kirchen, in: Flüchtlinge und Asyl, S. 204 ff.; Leuninger, Wenn ein Grundrecht zur Fassade wird, in: Asyl von unten, S. 41; ders., Kirche und Flüchtlinge, in: Migration und Menschenwürde, S. 140 ff. 342 Vgl. dazu etwa Diakonisches Werk der EKiR, Flüchtlingshilfe: Asylarbeitskreise stellen sich vor; Landeskirchenamt der EKiR, Handreichung für die Arbeit mit Flüchtlingen, S. 14 ff; Diakonie und Caritas in Bayern (Hrsg.), Begegnen - Verstehen - Annehmen. Mitarbeiterfibel Asyl. 343
Vgl. für den Deutschen Caritasverband Pölzl, Die Ausländerfrage aus der Sicht eines Wohlfahrstverbandes, in: Migration und Menschenwürde, S. 125 ff.; für das Diakonische Werk der EKD Gohde (Hrsg.), Diakonie-Jahrbuch 1995, Handlungsfelder, S.40 ff., 44 ff. und 52 ff. (zum Kirchenasyl); ferner Schmidt, Der Fankfurter Flughafen Sozialdienst, ThPr 1989, S. 85 ff.. 344 Vgl. dazu Wolfgang Weber, Erfahrungen eines landeskirchlichen Beauftragten für Asylsuchende, ThPr 1989, S. 81 ff., ferner Kirchenamt der EKD, Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte, Nr. 16, S. 30 f. mit zahlreichen Beispielen aus der kirchlichen Praxis.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
115
zwischen den Positionen beider Großkirchen keine wesentlichen Unterschiede ausmachen345.
a) Kirchliche Äußerungen vor der Neuregelung des Asylrechts Die ersten asylpolitischen Äußerungen der Kirchen erfolgten, als der Anstieg der Asylbewerberzahlen seit Mitte der siebziger Jahre bewirkte, daß die politischen Parteien für die Asylfrage einen Handlungsbedarf zu erkennen glaubten. In der anhaltenden politischen Debatte um das Asylrecht bestimmten bald Begriffe wie "Asylantenschwemme ", "Asyltourismus", "massenhafter Asylmißbrauch" oder auch "Wirtschaftsflüchtlinge" die öffentliche Dikussion 3 4 6 . Die Reformvorschläge reichten von verfahrensbeschleunigenden und anreizmindernden Regelungen bis zu einer Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 3 4 7 . Die Kirchen reagierten darauf, indem sie seit Mitte der achtziger Jahre 3 4 8 Bestrebungen zu dessen Abschaffung oder Aushöhlung deutlich entge-14Q gentraten .
345
So das zutreffende Fazit von Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 189. 346 Vgl. Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts, Bd. 1, S. 54 f., insbes. Fn. 64 mit Pressebeispielen; Diakonisches Werk der EKD (Hrsg.), Die Asyldebatte 80/81 im Spiegel der Presse, Stuttgart 1981 (n. v.); Meier-Braun, Das Asylanten-Problem, S. 99 f. 347
Vgl. Stöber, Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, Positionen und Konzeptionen von CDU/CSU zu Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz 1978 bis 1989, sowie Brieskorn, Asylrecht - Ausländergesetzgebung - Einwanderungsrecht, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 54 - 58 (hier ist insbesondere die Diskussion zu Beginn der 90er Jahre bis zur Neuregelung des Art. 16 a GG am 28.6.1993 wiedergegeben). 348
Während es in den 70er Jahren vor allem um ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien ging, vgl. Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 189. 349
Bereits am 7.11.1980 bat die Synode der EKD den Rat der EKD in einer Entschließung, "sich auch künftig der Probleme der Asylanten anzunehmen und sich dafür einzusetzen, daß das im Grundgesetz festgelegte Recht auf Asyl nicht eingeschränkt oder ausgehölt wird". Diese und andere öffentliche Äußerungen der EKD (Rat und Synode) sowie des Diakonischen Werkes bis 1986 finden sich zusammengefaßt in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte, Nr. 16, S. 28 ff. Eine Dokumentation der katholischen Stellungnahmen bis 1986 findet sich bei Becher, Katholische Kirche und Ausländerpolitik, in: Migration und Menschenwürde, S. 125 ff; die Stellungnahmen des Deutschen Caritasverbandes sind wiedergegeben bei Pölzl, Die Ausländerfrage aus der Sicht eines Wohlfahrstverbandes, in: Migration und Menschenwürde, S. 137 ff; die kirchlichen Äußerungen nach 1986 bis 1994 refe-
116
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
aa) Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 25.9.1986 "Unsere Verantwortung für Flüchtlinge" Die Deutsche Bischofskonferenz forderte in ihrer Erklärung "Unsere Verantwortung für die Flüchtlinge" vom 25.9.1986, daß die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen staatlicherseits sichergestellt werden müsse350. Es sei Pflicht des Staates, Flüchtlingen und Asylanten zu helfen 351. Zwar sei anzuerkennen, daß, wie in jedem Bereich der Humanität und Solidarität, so auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine Belastungsgrenze erreicht werden könne352. Angesichts der Größe der Flüchtlingsnot in der Welt und des Wohlstandes unseres Staates sei eine derart unerträgliche Belastung durch Flüchtlinge derzeit (1986) jedoch nicht gegeben353.
bb) Stellungnahme des Rats der EKD zur Aufnahme von Asylsuchenden vom 28.7.1986 Der Rat der EKD lehnte in seiner "Stellungnahme zur Aufnahme von Asylsuchenden" vom 28.7.1986 eine Änderung des im Grundgesetz verankerten Asylrechts ab 354 . Es sei Ausprägung des obersten Gebots der Verfassung, des Schutzes der Menschenwürde355. Einem Mißbrauch des Asylrechts müsse mit verfahrensstraflfenden Regelungen begegnet werden356. Die im Ausländergesetz festgelegten Möglichkeiten seien jedoch zu erhalten, wonach auch nicht
riert Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 189 ff.. 350 Deutsche Bischofskonferenz, Unsere Verantwortung für Flüchtlinge, Erklärung vom 25.9.1986 (4. Pkt.), Pressedienst, Anl.age 3. 351
Deutsche Bischofskonferenz, vom 25.9.1986 (4. Pkt.), a. a. O.
Unsere Verantwortung für Flüchtlinge, Erklärung
352 Deutsche Bischofskonferenz, vom 25.9.1986 (5. Pkt.), a. a. O.
Unsere Verantwortung für Flüchtlinge, Erklärung
353
Deutsche Bischofskonferenz, vom 25.9.1986 (5. Pkt.), a. a. O.
Unsere Verantwortung für Flüchtlinge, Erklärung
354 Rat der EKD, Zur Aufnahme von Asylsuchenden, Beschluß vom 28.7.1986 (3. Pkt.), abgedruckt in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte Nr. 16, S. 40. 355 Rat der EKD, Zur Aufnahme von Asylsuchenden, Beschluß vom 28.7.1986 (3. Pkt.), a. a. O. 356
Rat der EKD, Zur Aufnahme von Asylsuchenden, Beschluß vom 28.7.1986 (4. Pkt.), a. a. O.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
117
anerkannten Asylbewerbern aus humanitären Gründen Schutz vor Abschiebung und zeitweiliger Aufenthalt gewährt werden könne357.
cc) Bericht der Kommission der EKD für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten "Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land" (1986) Die vorgenannte Stellungnahme geht zurück auf eine Ausarbeitung der EKD-Kommission für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten. Unter dem Titel "Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land" konstatierte die Kommission in ihrem umfassenden und grundlegenden Bericht 358 in der Bundesrepublik Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern eine starke Tendenz, sich gegen Flüchtlinge abzuschütten und damit das weltweite Flüchtlingsproblem auszuklammern359. Das Asylverfahren werde gezielt durch Maßnahmen flankiert, die Asylsuchende von einer Flucht in das Bundesgebiet abhalten sollten360. Die Bundesrepublik Deutschland könne zwar nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen, jedoch gebe es keine Anhaltspunkte dafür, daß die Gesellschaft an der Grenze des Möglichen angelangt sei361. Daher sei das Grundrecht auf Asyl beizubehalten362. Eine sinnvolle Beschleunigung des Verfahrens dürfe auch nicht durch eine Einschränkung der individuellen Prüfung des Einzelfalls oder des Rechtsschutzes herbeigeführt werden363. 357 Rat der EKD, Zur Aufnahme von Asylsuchenden, Beschluß vom 28.7.1986 (4. Pkt.), a. a. O. 358 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte Nr. 16. Dieser Bericht ist das Ergebnis einer 1985 gebildeten Ad-hoc-Arbeitsgruppe der Kommission der EKD für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten, welcher Experten und Praktiker aus Kirche und Diakonie, Juristen, Sozialpsychologen und Theologen angehörten. Das Diakonische Werk der EKD war an der Ausarbeitung beteiligt und hat ihrer Veröffentlichimg zugestimmt. Der Rat der EKD hat die Ausarbeitung in seiner Sitzung am 25.7.1986 zustimmend zur Kenntnis genommen und sie zur Veröffentlichung freigegeben in der Hoffnung, er möge Christen und Gemeinden ermutigen, sich für Asylsuchende und Flüchtlinge einzusetzen, und zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion beitragen, a.a.O., S. 1. 359
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte Nr. 16, S. 29, vgl. auch S. 4 f. u. S. 20 f. 360
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte Nr. 16, S. 22. 361
Ebd.
362
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte Nr. 16,
S. 18. 363
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylsuchende, EKD-Texte Nr. 16, S. 37.
118
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Mit diesen drei Äußerungen hatten die Kirchen ihre Grundsatzposition zum Asylrecht formuliert. Es wird in seiner individualrechtlichen Ausgestaltung als unverzichtbarer Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschenrechte verstanden 3 6 4 , dessen Substanz dürfe nicht ausgehöhlt werden dürfe 365 .
dd) Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der deutschen Bischofskonferenz zur Aufnahme von Flüchtlingen und zum Asylrecht vom 26.11.1992 Als die Pläne zu einer Grundgesetzänderung bezüglich des Asylrechts 1992 an Kontur gewannen und sich eine Verständigung zwischen der damaligen Regierungskoalition und der SPD abzeichnete366, erschien am 26.11.1992 die "Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Aufnahme von Flüchtlingen und zum Asylrecht" 367 . Darin heißt es u. a.: "Die Bibel bezeugt die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Volk, zu einer Kultur und zu einer Religion. Sie erzählt viele Geschichten von Menschen, die auf der Flucht und ohne Heimat sind. Heimatlosigkeit ist immer wieder das Los Israels gewesen. Verfolgung und Vertreibung haben bis heute das Schicksal vieler Menschen geprägt. Darum ist und bleibt es Ausdruck und Gebot unseres christlichen Glaubens, für Fremde zu sorgen und Gastfreundschaft zu gewähren. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen', sagt Christus. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist zugleich eine moralisch verpflichtende Aufgabe, ohne deren Übernahme ein Gemeinwesen die Grundlagen eines humanen Zusammenlebens verliert. Diese Verpflichtung hat ihren rechtlichen Niederschlag unter anderem in den völkerrechtlichen Vereinbarungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention gefunden, die unser Land übernommen hat. Sie findet ihren Ausdruck vor allem auch im Grundgesetz. Das dort verankerte Asylrecht sichert politisch Verfolgten ein individuelles Recht auf Asyl zu. Diese Fassung des Asylrechts ist ein Vermächtnis aus
364 Siehe dazu auch das vatikanische Dokument "Flüchtlinge - eine Herausforderung zur Solidarität" des Päpstlichen Rates "Cor unum", hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, welches das Asylrecht nicht als Gnadenrecht des Staates, sondern als individuelles Recht der Verfolgten definiert, vgl. dazu auch Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 197. 365 Deutsche Bischofskonferenz, Erklärung zur Flüchtlings- und Asylproblematik, Fulda 1993, Nr. 3. 366
Vgl. dazu B. Huber, Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung, NVwZ 1993, S. 736. 367 Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz vom 26. November 1992, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 7 f.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
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den Erfahrungen unserer Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus und zugleich ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschenrechte. Es darf in seiner grundsätzlichen Gültigkeit nicht gefährdet oder gar preisgegeben werden; andererseits darf es nicht für eine allgemeine Zuwanderung in Anspruch genommen werden"368. Mit dieser Grundsatzerklärung signalisierten beide Kirchen ihr besonderes Anliegen an die Ausgestaltung des zukünftigen Asylrechts. Obgleich die Erklärung einer Grundgesetzänderung, abweichend von früheren Äußerungen 369 , nicht mehr grundsätzlich ablehnend gegenüber stand und infolgedessen in Teilen der Kirchen auf einige Kritik gestoßen ist 3 7 0 , fand sich im Kern die Forderung nach der Beibehaltung eines individuellen und effektiven Anspruchs auf Asyl für poltisch Verfolgte 371 . Damit verband sich die Forderung nach der "Schaffung begrenzter Zuwanderungsmöglichkeiten, nicht nur für gern gesehene Fachkräfte" 372 .'
368
Ebd.
369
Vgl. neben der soeben zitierten vor allem die nur zwei Monate ältere Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 25.9.1992, die eine Drittstaatenregelung, ebenso wie eine Grundgesetzänderung insgesamt, ablehnt; s. Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 198; s. a. Lehmann, Erläuterungen zum Asylpapier der evangelischen und katholischen Kirche, in: KLD/AF Nr. 24 /1992. 370 Vgl. dazu den Brief von Wolf-Dieter Just für den Fachausschusses Ausländischer Arbeitnehmer des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (kda) an den Ratsvorsitzenden der EKD vom 10.12.1992, in: Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg), Streit um das Asylrecht, Begegnungen, Heft 7, 1992, S. 129 f. sowie Pro Asyl in KNA 1622 vom 27. 11. 1992 ("Asylrecht von Kirchen zur Demontage freigegeben"); Ev. Akademie Mülheim/Ruhr, Zur EKD-Position in der Asylpolitik (Ein Fachgespräch zwischen EKD-Ratsmitgliedern und ihren Kritikern.), in: epd-Dokumetation Nr. 20/94, siehe insbes. den Kurzbericht über das Gespräch von Just/Schindehütte (S. 34 ff.). Einer Kehrtwende der EKD in der Asyldiskussion widerspricht Engelhardt im Bericht des Rates der EKD an die Synode (Osnabrück 1993), Büro der Synode (4. Tagung der 8. Synode), Drucksache 1/1, S. 13. 371 Vgl. Engelhardt, Bericht des Rates der EKD an die Synode (Osnabrück 1993), Büro der Synode (4. Tagung der 8. Synode), Drucksache 1/1, S. 12. 372
Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz vom 26. November 1992, o. C., Fn. 367; ebenso Engelhardt, Bericht des Rates der EKD an die Synode, a.a.O., S. 11 f.; vgl. dazu Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 1994, S. 197; s. a. Ruh, Asyldiskussion: Wo stehen die Kirchen?, in: HK 1992, S. 496 f. Zur kirchlichen Forderung nach einer Einwanderungspolitik siehe auch das Positionspapier der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (KKME/CCME), Vorschläge für eine ganzheitliche Zuwanderungspolitik in Europa, in: epdDokumentation Nr. 21/94.
120
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
Insgesamt ist festzuhalten, daß sich Kirchenleitungen und kirchliche Wohlfahrtsverbände stets eindeutig für die Aufnahme von Flüchtlingen und für eine menschenwürdige Aufhahmepraxis eingesetzt haben 373 . Bis zuletzt griffen sie in die Asyldiskussion ein, um für die Sache der Flüchtlinge Partei zu nehmen ohne dabei in erster Linie auf den volkskirchlichen Konsens zu achten 374
b) Die Kritik der Kirchen an den Auswirkungen des neuen Asylrechts, insbesondere des mangelnden Abschiebeschutzes Nachdem den sog. Asylkompromiß 1993 eine breite parlamentarische Mehrheit umgesetzt hatte, befaßten sich Gremien beider Kirchen mit den Auswirkungen des neuen Asylrechts in der Praxis. Im Vordergrund standen dabei die Fragen, ob politische Verfolgung im Rahmen des Asylverfahrens zutreffend erkannt wird und ob politisch Verfolgte in der Bundesrepublik Deutschland oder in einem Drittstaat tasächlich Schutz finden 375. Für die EKD hat deren Ratskommission für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten in zwei Berichten an die 8. Synode (Halle 1994 und Friedrichs373
Uihlein, Kirche als Anwalt der Flüchtlinge, in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Caritas 1993. Jahrbuch, S. 177. 374 Zum "volkskirchlichen Konsens" vgl. Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr (Hrsg.), Kirchen und Ausländerpolitik seit 1871, Begegnungen, Heft 1, 1990, darin die Einleitung von Wolf-Dieter Just, S. 1 f., wonach auch die Kirchen Spiegel der Gesellschaft und ihrer mehrheitlichen Stimmungen sind, von denen sich aber kirchenamtliche Äußerungen im Bereich der Ausländerpolitik abheben. Müller, Politische Lösungsansätze des Flüchtlingsproblems und der Beitrag der Kirchen, a.a.O., S. 200 f., weist daraufhin, daß die Deutsche Bischofskonferenz trotz einer anhaltenden ausländer- und asylpolitischen Kontroverse mit dem ZK der Deutschen Katholiken an ihrer asylbewerberfreundlicheren Position festhält; zur "Grundhaltung der Gastfreundschaft" vgl. ferner im übergeordenten Kontext den Päpstlichen Rat "Cor Unum", Flüchtlinge - eine Herausforderung zu Solidarität, hrsg. durch das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, S. 12 -15. 375 Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD vom 8. März 1994; Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Entwicklungen in der Flüchtlings und Asylpolitik vom 9. März 1995 (beide abgedruckt in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, Anhang, S. 107 ff. und 113 f.); Stellungnahme des Rates der EKD vom 9. September 1995 zum Spitzengespräch zwischen EKD und Bundesregierung; Beschluß der 8. Synode der EKD zu "Praxis des Asylverfahrens und Schutz vor Abschiebung von Menschen, die an Leib und Leben bedroht sind" vom 10. November 1994, als Anhang in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 61 f.; Beschluß der 8. Synode der EKD "Zur Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung" vom 10. November 1995, als Anhang in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S.61 ff.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
121
haven 1995) unter dem Titel "Asylsuchende und Flüchtlinge. Zur Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung" zu diesen Fragen Stellung genommen376. Aus dem Bereich der katholischen Kirche legte der Deutsche Caritasverband einen "Erfahrungsbericht zur Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Deutschland" vor 377 . Die Berichte basieren auf Befragungen der kirchlichen Flüchtlingsdienste der Diakonischen Werke und Diözesancaritasverbände378. Sie drücken grundlegende Bedenken gegen die Vereinbarkeit des neuen Asylrechts mit den Menschenrechten und den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit aus379. Das neue Asylrecht werde den in den kirchlichen Stellungnahmen und Erklärungen verlautbarten Kriterien nicht gerecht380. Zu den Hauptkritikpunkten381 zählen —die Drittstaatenregelung, die den Zugang zum Asylverfahren auch für Flüchtlinge ausschließe, welche über Drittländer eingereist seien, die ihrerseits kein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Asylverfahren zusicherten, so daß Kettenabschiebungen nicht ausgeschlossen seien382, —die materiale Gestaltung des Asylverfahrens, die durch zu kurze Fristen, durch zweifelhafte sog. "sichere" Herkunftsländer, das Flughafen-Verfahren (§ 18a AsylVfG) sowie mangelhafte Anhörung und Verfahrensberatung nicht gewährleiste, daß politische Verfolgung mit hinreichender Sicherheit erkannt werden kann 383 , 376 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51 (1994); Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55 (1995), vgl. dort die Einleitung, S. 7. 377
Deutscher Caritasverband, Erfahrungsbericht zur Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Deutschland, Freiburg 1994. 378
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51 (1994), S. 7. 379 So ausdrücklich Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55 (1995), S. 49. 380
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51 (1994), S. 49 ff. 381 Ebd. Der Bericht listet unter Ziff. 5 "Schlußfolgerungen" die Hauptkritikpunkte, orientiert an den in den kirchlichen Stellungnahmen und Erklärungen genannten Kriterien, auf; vgl. auch Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 51, S. 49 ff. 382
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 9 ff. sowie Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S. 18 ff., 50 f. 383
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 14 ff. sowie Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S. 49.
122
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
—das Asylbewerberleistungsgesetz, welches weithin zu einer unvertretbaren Minderung der Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben für Asylsuchende führe 384, —der mangelhafte Status von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen, insbesondere die Nichtumsetzung des neuen § 32 a AuslG 385 sowie —der unzureichende Schutz vor Abschiebung und die unverhältnismäßig häufige Anwendung der Abschiebehaft 386. Die Asylberichte der EKD stellen fest, daß die signifikante Zunahme der Kirchenasylgewährungen besonders eine Folge der mangelhaften Ausgestaltung des staatlichen Abschiebeschutzes sei387. Die Abschiebungshindernisse des § 53 Abs. 1, 4 und 6 AuslG würden nicht hinreichend beachtet oder nicht angewendet. Insbesondere werde das Verbot der Abschiebung des Betroffenen in ein Land, in dem ihm die Folter droht, massiv mißachtet388. So komme es entgegen § 53 Abs. 1 immer wieder zu Abschiebungen in die Türkei, obgleich nach Feststellungen verschiedener Seiten bekannt sei, daß dort systematisch gefoltert werde 389. Bei der Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG wird kritisiert, daß das BAF1 häufig individuelle Abschiebungshindernisse nach dieser Norm verneine, aber solche allgemeiner Art nicht ausschließe390. Deren Anerkennung nach § 54 AuslG unterbleibe jedoch, weil die Innenminister der Länder und des Bundes sich nicht auf die erforderliche bundeseinheitliche Abschieberegelung verständigen wollten391.
384
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 24 ff. 385 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 40 ff. 386
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 28 ff; vgl. auch den Zweiten Bericht, a. a. O., S. 14 ff. 387 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 33 sowie Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S. 39 ff. 388
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S. 15. 389
Ebd.; vgl. auch dass., EKD-Texte Nr. 51, S. 29.
390
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 30 sowie Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD-Texte Nr. 55, S. 50. 391
Ebd.
IV. Kirchenasyl und staatliche Flüchtlingspolitik
123
Auch die Anerkennung individueller Härtefallgründe sei gesetzlich unzureichend geregelt392. Bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG durch das BAF1 fanden individuelle Härtefallgründe keine Beachtung393. Daher müsse auf kommunaler und auf Länderebene verstärkt von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, eine Duldung oder Aufenthaltsbefugnis aus dringenden humanitären, persönlichen oder im öffentlichen Interesse liegenden Gründen gemäß § 55 Abs. 3 AuslG oder § 30 AuslG zu erteilen394. Diese gesetzlichen Möglichkeiten würden praktisch nicht genutzt. Die Duldung nach § 55 AuslG werde nur auf Fälle beschränkt, in denen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eine Abschiebung unmöglich sei395. Die Kommission resümiert, daß die bereits vor dem 1.7.1993 in vielen Fällen problematische und rechtlich fragwürdige Abschiebepraxis sich erheblich verschärft habe396. Deutlich sei, daß der gesetzliche Abschiebeschutz bei politischer Verfolgung und bei Gefahr für Leib und Leben unzureichend sei; die vorhandenen Möglichkeiten menschenrechtswidrige Abschiebungen auszuschließen würden nicht ausgeschöpft 397. Die in diesen Berichten enthaltene grundlegende Kritik haben sich die Leitungsgremien beider Kirchen zu eigen gemacht. Die 8. Synode der EKD hat auf ihren Tagungen in Halle (1994) und Friedrichshafen (1995) die in den Kommissionsberichten enthaltenen Schlußfolgerungen aufgenommen 398. Bereits zuvor hatten beide Kirchen in einer erneuten gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD vom 8.3.1994 ihre Beunruhigung über die drohende, nach dem neuen Recht nicht auszuschließende Abschiebung von Flüchtlingen in Länder, in denen sie um Leib und Leben
392
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 31. 393
Ebd.
394
Ebd.
395
Ebd.
396
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 33. 397 398
Ebd.
Beschluß der 8. Synode der EKD zu "Praxis des Asylverfahrens und Schutz vor Abschiebung von Menschen, die an Leib und Leben Bedroht sind" vom 10.11.1994, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 61 sowie der Beschluß der 8. Synode "Zur Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung" vom 10.11.1995, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht, EKD Texte Nr. 55, S. 61 f.
124
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
fürchten müßten, zum Ausdruck gebracht399. In zunehmendem Maße würden Bürgerinnen und Bürger durch diese Lage in ihrem Gewissen schwer belastet, wenn sie von bevorstehenden Abschiebungen erführen 400. Die Deutsche Bischofskonferenz äußerte am 9.3.1995, aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der neuen Rechtslage sei zu befürchten, daß das Asylgrundrecht in seiner Substanz bedroht sei, und nahm Bezug auf die bereits benannten Kritikpunkte 401. Der EKD-Ratvorsitzende Klaus Engelhardt erklärte zu den Asylurteilen des Bundesverfassungsgerichts vom 14.5.1996, die EKD werde sich auch in Zukunft für eine Asylpolitik einsetzen, die vor dem Gebot der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit verantwortet werden könne und den humanitären und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Gemeinwesens standhalte402. Die weitgehende verfassungsrechtliche Bestätigung des Asylkompromisses von 1993 dürfe nicht als Rechtfertigung für eine Verschärfung der Asylrechtspraxis in Anspruch genommen werden 403. In ihrem Gemeinsamen Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht (1997) stellten die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der EKD schließlich fest, daß es aus christlicher Sicht nicht genüge, den Schutz von Flüchtlingen an den grundgesetzlich unabweisbaren Mindestanforderungen auszurichten, sondern daran, was auf Grundlage der Bibel theologisch und ethisch geboten sei 404 . Im übrigen seien auch die von den Kirchen formulierten Mindestanforderungen an ein rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechendes Asylrecht nicht in befriedigender Weise erfüllt worden 405. Es gehe nicht an, Ausländer maßgeblich aus der Perspektive der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung zu betrachten, ihre persönlichen Bedürfnisse den
399 Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD durch ihre Vorsitzenden vom 8. März 1994, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 113 ff. (Anhang). 400
Ebd., S. 114.
401
Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Entwicklung in der Flüchtlingsund Asylpolitik vom 9. März 1995, in: Pax Christi (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 107 ff. (Anhang); siehe dazu unten S. 185. 402 Engelhardt, Erklärung zur Asylentscheidung des BverfGs, in: epd - ZA Nr. 92 vom 15.5.1996, S. 5 f. 403
Ebd.
404
Gemeinsames Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, Nr. 136, abgedruckt in: FAZ v. 5.7.1997, S. 8.; siehe dazu unten S. 185. 405
Ebd., Nr. 172.
V. Zusammenfassung
125
staatlichen Interessen an der Gefahrenabwehr unterzuordnen und damit den Schutz ihrer personalen Würde hintanzustellen406.
V. Zusammenfassung Kirchenasyl stellt eine Handlungsform karitativer Sozialarbeit dar. Aus Sicht der Kirchengemeinden ist es zur Wahrung humaner Mindestanforderungen im Ausländer- und Asylrecht unverzichtbar. Sie können sich auf eine fundiert und ernsthaft vorgetragene Kritik der Kirchen an den derzeitigen Grundsätzen der staatlichen Flüchtlingspolitik berufen. Die asylgewährenden Gemeinden intendieren kein eigenes Asylrecht in Konkurrenz zum staatlichen Asylgewährungsmonopol. Sie leisten einzelfallbezogene Hilfe zur Milderung von Härten des staatlichen Asylrechts. In dieser Zielsetzung stimmt das sog. "moderne Kirchenasyl" mit dem Asylrecht der alten Kirche überein. Es diente als Instrument zur Durchsetzung christlicher Gerechtigkeitsvorstellungen im weltlichen Bereich und beabsichtigte ursprünglich nicht die Wahrung eines kirchlich-territorialen Machtbereichs407. Typisches Merkmal des modernen Kirchenasyls ist die befristete Gewährung von Unterkunft im räumlich-gegenständlichen Bereich einer Kirchengemeinde unter Mitwirkung eines kirchengemeindlichen Leitungsorgans. Es richtet sich an ausländische Flüchtlinge, bei denen sämtliche eine Abschiebung hindernde ordentlichen Rechtsmittel des staatlichen Asylverfahrens ausgeschöpft sind. Dabei müssen aus Sicht der Kirchengemeinden schwerwiegende humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprechen. Die Aufnahme soll aufenthaltsbeendende Maßnahmen verhindern und Zeitaufschub erreichen. Ziel ist es, daß alle Gesichtspunkte, die nach Auffassung der Initiatoren gegen eine Abschiebung sprechen, einer erneuten Prüfung durch die staatlichen Behörden unterzogen werden. Erscheinungsformen sind das akute und das präventive, das laute und das stille sowie das offene und das halboffene Kirchenasyl. Beim versteckten Kirchenasyl besteht die Besonderheit, daß keine Kontaktaufhahme mit staatlichen Stellen geschieht. Es bildet in der Praxis die Ausnahme. Gleiches gilt für Kirchenasyl gegen Rückführungen im Inland (Doppelflüchtlinge). Vom Begriff des Kirchenasyls abzugrenzen sind die Kirchenbesetzung und das Privatasyl. Für sie zeichnet nicht die Kirchengemeinde verantwortlich. Ferner ist die sog.
406
Ebd., Nr. 177.
407
Näher oben S. 31 f.
126
C. Die Praxis des Kirchenasyls in der Bundesrepublik Deutschland
schlichte Unterbringung von Asylbewerbern auf Ersuchen der staatlichen Behörden in kirchlichen Häusern vom Kirchenasyl zu unterscheiden. Der Staat reagierte auf kirchliche Asylgewährungen bisher zurückhaltend. Spektakuläre polizeiliche Räumungen waren die Ausnahme. Den Kirchengemeinden gelang es zumeist, mit ihrem Anliegen vorzudringen. Häufig konnte zumindest eine Duldung, hin und wieder auch ein Bleiberecht erwirkt werden. Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz praktiziert aufgrund einer Vereinbarung zwischen den jeweiligen Landesregierungen und der Evangelischen Kirche im Rheinland ein Clearingverfahren, in dem Kirchenasylfälle einer möglichst einvernehmlichen Lösung zugeführt werden sollen. In der Kirchenasylbewegung bildet die Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" den Dachverband, unter dem sich verschiedene Kirchenasylvereinigungen der Länder sowie weitere Vereinigungen aus dem kirchlichen Raum zusammengeschlossen haben. Ziel dieser Organisationsbestrebungen ist es, die Akzeptanz des Kirchenasyls in der Öffentlichkeit zu steigern und den Kirchengemeinden eine Basis zu geben. Dies hat zu einer Typisierung der kirchlichen Asylpraxis geführt.
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
I. Die kirchenrechtliche Fragestellung Historisch erscheint das Kirchenasyl als ein Rechtsinstitut, verstanden als ein in Tatbestand und Rechtsfolge gegliederter Normbestand. Als solcher war das ius asyli Gegenstand des kirchlichen und zeitweise auch des weltlichen Rechts1. Im vorherigen Abschnitt wurde es nicht als normatives, sondern als tatsächliches Phänomen beschrieben. Wie gesehen bezeichnet der Begriff Kirchenasyl heute die befristete Gewährung von Unterkunft für von Abschiebung bedrohte ausländische Flüchtlinge durch eine Kirchengemeinde in ihren Räumen mit dem Ziel der Erzwingung eines außerordentlichen Rechtswahrungsverfahrens 2. Zu klären ist, ob auch das geltende Kirchenrecht eine Rechtsgrundlage für eine derartig praktizierte kirchliche Asylie bietet.
I I . Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht Möglicherweise kann die kirchliche Asylpraxis sich auf ein Rechtsinstitut geschriebener oder gewohnheitsrechtlicher Natur berufen, das einen Schutz von Flüchtlingen in kirchlichen Räumen begründet. Anknüpfungspunkte hierfür könnten sich im Recht geheiligter Stätten in Gestalt des Heiligtumsasyls sowie aus der Tradition christlicher Interzession ergeben3.
1
Dazu oben S. 38.
2
Vgl. oben S. 69 ff.
3
Zu diesen Wurzeln siehe bereits oben S. 31 f.
128
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
1. Die reverentia loci und das Heiligtumsasyl a) Das Heiligtumsasyl im katholischen Kirchenrecht Im Recht der katholischen Kirche kommen als Rechtsquellen eines Heiligtumsasyls neben dem Codex Iuris Canonici das kirchliche Gewohnheitsrecht, das Staatskirchenvertragsrecht sowie sonstiges Partikularrecht in Betracht.
aa) Die Rechtslage nach dem CIC von 1983 Der Kodex von 1983 enthält keine ausdrückliche Regelung über ein Asylrecht der Kirche. Das mag angesichts der langen Tradition des Asylrechtsinstituts verwundern. Denn auch nachdem die weltliche Gewalt ein kirchliches Asylrecht nicht mehr anerkannte4, hielt die römischen Kirche es lange Zeit mit Nachdruck aufrecht 5. Noch der CIC von 1917 bestimmte in can. 1179: "Eine Kirche erfreut sich des Asylrechts in der Weise, daß Angeklagte (Verfolgte), die zu ihr Zuflucht nehmen, von dort nicht ohne Zustimmung des Ordinarius oder wenigstens des Kirchenrektors herausgeholt werden dürfen, wenn nicht eine dringende Notwendigkeit besteht"6. Can. 6 § 1 Nr. 1 CIC/1983 hat diese Regelung insoweit jedoch außer Kraft gesetzt7.
(1) Die im Schrifttum vertretene These von der Fortgeltung des Heiligtumsasyls des can. 1179 CIC/1917 im neuen Kodex Im Schrifttum ist eine Aufgabe des kirchlichen Asylanspruchs unter der Geltung des neuen Kodex bestritten worden. Insbesondere aus der Regelung des can. 1213 CIC/1983, wonach die kirchliche Autorität ihre Vollmachten
4 Siehe dazu schon oben S. 48 ff. Zur Entwicklung des staatlichen Letztentscheidungsanspruchs auch in kirchlichen Dingen Pirson, HdbStKirchR I, S. 13 ff. 5
Vgl. Mörsdorf,\ Kirchenrecht Π, S. 316 sowie Guth, Kirchenasyl und kirchl. Recht, in: Kirchenasyl, S. 49 6 "Ecclesia iure asyli gaudet ita ut rei, qui ad illam confugerint, inde non sint extrahendi, nisi nécessitas urgeat, sine assensu Ordinarli, vel saltern rectoris ecclesiae" (can. 1179 Codex Iuris Canonicil 1917); dt. Übersetzung in Ermangelung einer amtlichen Übersetzung nach Guth, Kirchenasyl und kirchl. Recht, in: Kirchenasyl, S. 49 f. 7
Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, can. 6, Anm. 2. Zum Ganzen RiedelSpangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 137 f.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
129
und Aufgaben am heiligen Ort frei ausübt, schließen einige Autoren auf eine Fortgeltung des kirchlichen Asylrechts8. So räumt Schwendenwein zwar ein, daß der CIC von 1983 auf die ausdrückliche Festlegung eines Asylrechts im Kirchenraum verzichtet hat, jedoch erhalte die Norm des can. 1213 CIC/1983 den alten Anspruch auf freie Ausübung der sacrae potestas im Sakralbau ungebrochen aufrecht 9. Robbers schließt sich dem an und bemerkt, daß es dieser Norm entgegenstehe, wenn staatliche Stellen ohne oder gar gegen den Willen der kirchlichen Autorität in einen heiligen Raum eindrängen10. Daraus folge, daß der neue Kodex nicht vollständig auf die mögliche Inanspruchnahme eines kirchlichen Asylrechts verzichtet habe11. The 1er bedauert, daß die katholische Kirche mit can. 1179 CIC/1917 ohne Not ein Kampfmittel preisgegeben habe, an dessen Verbleib im kanonischen Gesetzbuch sich niemand gestoßen hätte12. Er sieht die Asylgewährung in Kirchen von den cann. 1210, 1213 CIC/1983 gedeckt13. Grämlich bezweifelt eine endgültige Verwerfung des Asylgedankens und hält es für fraglich, ob nicht in Anbetracht des can. 1213 die alte Rechtslage fortbestehe14. Roßkopf sieht im neuen Kodex die Möglichkeit des Kirchenasyls als implizit vorbehalten an15. Auch Guth stellt fest, daß zur freien Ausübung der Vollmachten und Aufgaben der kirchlichen Autorität an heiligen Orten gemäß can. 1213 CIC/1983 die Gewährung von Kirchenasyl gehöre16.
8 Can. 1213 CIC "Potestates suas et munera auctoritas ecclesiastica in locis sacris libere exercet" lautet in amtlicher Übersetzung: "Ihre Vollmachten und Aufgaben übt die kirchliche Autorität an heiligen Orten frei aus" (Codex Iuris Canonici, lateinischdeutsche Ausgabe, hrsg. v. d. Dt. Bischofskonferenz u.a.). 9
Schwendenwein, Das neue Kirchenrecht, S. 420.
10
Robbers, Asylrecht der Kirche?, AöR 113 (1988), S. 39.
11
Ders., a.a.O., S. 38.
12
Theler, Asyl in der Schweiz, S.30.
13
Theler, Asyl in der Schweiz, S. 33.
14
Grämlich, Asyl in den Kirchen?, in: Gedächnisschrift f. G. Küchenhoff, S. 200.
15
Roßkopf Kirchenasyl, AWR Bulletin 3/96, S. 101.
16
Guth, Kirchenasyl und kirchl. Recht, in: Kirchenasyl, S. 51. Kimminich formuliert neutral, daß der neue Codex das Asylrecht nicht mehr erwähne, in: BK, Art. 16 GG (Drittbearb. 1984), Rn. 131, woraus Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 33 schließt, daß auch Kimminich die Fortgeltungsthese teilt. 9 Grefen
130
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(2) Can. 1213 CIC/1983 als Auffangtatbestand? Für eine Fortgeltung des ius asyli könnte die in der jüngeren kanonischen Lehre vorgenommene Zuordnung des Asylrechts zur umfassenderen immunitas ecclesiarum localis sprechen17. Weil auch die Bestimmung can. 1213 CIC/1983 dem Schutz der reverentia loci und der damit verbundenen Immunität dient18, könnte die Norm sich als Auffangtatbestand zugunsten eines weiter im kanonischen Recht wurzelnden Asylrechts darstellen.
(a) Das klassische Asylrecht als Ausfluß der immunitas ecclesiarum localis Der aus dem römischen Rechtsvokabular entstammende Begriff der Immunität als Freiheit von Kosten und Lasten bezeichnete im Mittelalter die Exemtion einer Person oder Institution von weltlicher Gewalt19. Demgemäß besagte die immunitas ecclesiarum localis die räumliche Exemtion kirchlicher Baulichkeiten und der sich darin befindenden Sachen und Personen von staatlicher Polizei-, Gerichts-, und Abgabenhoheit20. Ursprünglich als staatliches Privileg verliehen, wurde die Immunität später zur selbständigen Forderung der Kirche gegenüber dem Staat, die damit eigene Gerichts- und Territorialhoheit als Ausdruck ihrer Unabhängigkeit und ihres originären Heilsauftrages beanspruchte21. Die gedankliche Zuordnung des ehemals eigenständigen Rechtsinstituts des Asyls zur Immunität erfolgte, als dessen Sinn nicht mehr primär in der Gewährung von Beistand, sondern in der Festigung der kirchlichen Gerichtsbarkeit verstanden wurde22. So begriff man auch das kirchliche Asylrecht als eine Auswirkung der den Kirchen nach kanonischem Recht zukommenden 17
Vgl. Hinschius, Kirchenrecht IV, S. 388, der beide Begriffe synonym gebraucht; ebenso die Konstitution "Apostolicae Sedis Moderationi" von 1869, wo von "immunitatem asyli ecclesiatici" in bezug auf die Exkommunikation die Rede ist, A.S.S., Vol. VI, (1870), S. 433; Hinschius, a.a.O., Fn. 1. 18
Riedel-Spangenberger, S. 139. 19
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991,
Volk, Art. Immunität, TRE, Bd. 16, S. 84 (Z. 39).
20
Vgl. Volk, a.a.O., der begrifflich weiter unterscheidet zwischen einer immunitas ecclesiae als Quelle des kirchlichen Asylrechts und einer immunitas ecclesiatica als Freiheit von Lasten. 21 Vgl. Willoweit, Art. Immunität, HRG, Bd. 2, S. 323 (r. Sp.); zum Souveränitätsanspruch der Kirche Mikat, Kirche und Staat, in: HdbStKirchR I, S. 126. 22
Vgl. oben S. 47 f. sowie Landau, Art. Asylrecht, ΙΠ. Alte Kirche und Mittelalter, TRE, Bd. 4, S. 325.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
131
Immunität23, die als Gotteshäuser den Charakter von Freistätten hatten24. Damit waren den altkirchlichen Begründungen der loci reverentia und der intercessio die neuen und nunmehr tragenden Gesichtspunkte der Gerichts- und Territorialhoheit hinzugefügt. Zum zentralen Rechtsinhalt des ius asyli war die Entscheidung der kirchlichen Gerichtsbarkeit über die Auslieferung von Asylflüchtlingen geworden25. Auch die Asylregelung des can. 1179 CIC/1917 wurde als unmittelbare Ausprägung von can. 1160 CIC/1917 angesehen, wonach heilige Orte, wie Kirchen, Kapellen und Friedhöfe nach kirchlichem Verständnis der weltlichen Hoheitsgewalt nicht unterworfen und exemt waren26. Das kirchliche Asylrecht beinhaltete damit einen vorrangig gegen den Staat gerichteten Achtungsanspruch auf Wahrung der territorialen Integrität der Kirche.
(b) Der Regelungsgehalt des can. 1213 CIC/1983 und die Reichweite seines Immunitätsgedankens Mit ähnlicher Zielrichtung formuliert can. 1213 CIC/1983, der an die Stelle des can. 1160 CIC/1917 getreten ist, einen Anspruch auf Nichtintervention zugunsten der ungehinderten Erfüllung der kirchlichen Vollmachten und Aufgaben an heiligen Orten. Dies sind gemäß can. 1205 CIC/1983 solche Orte, die durch ihre Weihung oder Segnung dem profanen Gebrauch entzogen und ausschließlich einer religiösen Zwecksetzung gewidmet sind, wozu vor allem Altäre, Kirchen, Kapellen und Friedhöfe zählen27. Die mit der Weihe bewirkte besondere Ehrwürdigkeit diese Stätten fordert ihre Immunität gegenüber weltlichen Zugriffen, welche die kirchliche Autorität in ihrem Heiligungsamt behindern könnten28. So schützt die Norm etwa die Ausübung der Gottesdienste und sonstigen religiösen Kultushandlungen29.
23
Mörsdorf,
24
Kirchenrecht Π, S. 315.
Mörsdorf,
25
Kirchenrecht Π, S. 315.
Riedel-Spangenberger, S. 135.
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991,
26
Mörsdorf, Kirchenrecht Π, S. 315; Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 137; can. 1160 Codex Iuris Canonici/\9\7 lautet: "Loca sacra exempta sunt a iurisdictione auctoritatis civilis et in eis légitima Ecclesiae auctoritas iurisdictionem suam libere exercet". 27
Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1205, Anm. 5.
28
Vgl. Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1205, Anm. 1. ha
in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 2 3 , Anm. 1.
132
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Fraglich ist, ob der Immunitätsgedanke des can. 1213 CIC/1983 die moderne Asylpraxis umfaßt. Dagegen läßt sich nicht bereits einwenden, daß der sakrale Charakter des Ortes einer Asylaktion schon darum entgegenstehe, weil sie profaner Natur sei30. Zwar bestimmt can. 1210 CIC/1983, daß heilige Orte zum Zweck des Kultus, der Frömmigkeit und der Ausübung des Gottesdienstes zu nutzen sind. Die Asylgewähr stellt demgegenüber keine gottesdienstliche Handlung dar 31. Jedoch bewirkt die hinter der Aufnahme von Flüchtlingen stehende Seelsorgeentscheidung kirchlicher Amtsträger, daß Kirchenasyl als kirchliche und nicht als profane Handlung anzusehen ist 32 . Es fragt sich daher, ob eine Seelsorgeentscheidung, welche die Asylgewähr im Sakralbau zum Inhalt hat, den räumlichen Immunitätsschutz des can. 1213 CIC/1983 beanspruchen kann. Einen Vollzug durch die kirchliche Autorität vorausgesetzt, müßte die Asylgewähr Ausübung der kirchlichen Vollmachten und Aufgaben i. S.d. can. 1213 CIC/1983 sein. Bei aller Unklarheit, die die Kirchenrechtswissenschaft dieser Norm anlastet33, können nur solche Vollmachten und Aufgaben gemeint sein, deren Ausübung in einem unmittelbaren Sinnzusammenhang mit der heiligen Örtlichkeit selbst steht. Daher kommt nicht jeder kirchlichen Lebensäußerung an heiligen Orten der Schutz des can. 1213 CIC/1983 zugute. Daraus folgt, daß staatliche Einwirkungen nicht schon dann can. 1213 CIC/1983 verletzen, wenn Staatsgewalt im Kirchenraum ausgeübt wird. Vielmehr kommt es darauf an, ob eine bestimmte staatliche Einwirkung eine kirchliche Handlung hindert, die dieser Stätte ihren Sinn verleiht oder von dieser Stätte ihren Sinn bezieht. Anders als die alte Regelung des can. 1160 CIC/1917, welche die Exemtion des Kirchenraums ohne Rücksicht auf den Sinn der darin ausgeübten Handlung sicherstellen wollte34, bezweckt can. 1213 CIC/1983 nicht mehr die Wahrung der sacra potestas im Sinne einer umfassenden kirchlichen Gewalt35.
30
So aber Riedel-Spangenberger, Der Rechtschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ, 1991, S. 139. 31 Zur Abgrenzung Dehnen, Nichtgottesdienstliche Nutzung, ZevKR 40 (1995), S. 8. 32 vgl. Dehnen, Nichtgottesdienstliche Nutzung, ZevKR 40 (1995), S. 14, der die nichtgottedienstliche Nutzung als Unterfall der kirchlichen Nutzung qualifiziert und der nichtkirchlichen, profanen Nutzung gegenüberstellt. 33 Vgl. etwa Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 33; Walf Einführung in das neue katholische Kirchenrecht, S. 226. 34 35
Vgl. Pöschl, Lehrbuch des Katholischen Kirchenrechts, S. 192.
Vgl. Richstatter in: Coriden/Green/Heintschel, Code of Canon Law, can. 1213 CIC, S. 848: "(...) the tone of the canon reflects a different and more harmonious relation-
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
133
Die Norm schützt also weder die kirchliche Handlung an sich, noch den heiligen Ort schlechthin, sondern die Freiheit religiösen Wirkens bei der Ausübung solcher Vollmachten und Aufgaben, die mit dem heiligen Ort in einem spezifischen Zusammenhang stehen36. Gegen eine Begrenzung des can. 1213 CIC/1983 auf sinnzusammenhängende Handlungen spricht nicht, daß es gemäß can. 1210 CIC/1983 dem Ordinarius obliegt, über einen anderen, nicht mit der Heiligkeit des Ortes zusammenhängenden Gebrauch zu entscheiden. Daraus könnte geschlossen werden, daß auch der Inhalt einer solchen Entscheidung unter den Schutz des can. 1213 CIC/1983 fällt. Zwar gehört die darin liegende Ausübung des Hausrechts zu den Vollmachten i.S.d. can. 1213 CIC/198337. Jedoch beinhaltet die Entscheidung des Ordinarius nach can. 1210 CIC/1983 lediglich die Feststellung, daß ein bestimmter Gebrauch im Einzelfall der Heiligkeit der Stätte nicht entgegensteht38. Aus ihr folgt gerade nicht, daß dieser Gebrauch am besonderen Schutz der Heiligkeit teilhat. Schließlich läßt sich gegen eine teleologische Reduktion des Schutzbereiches des can. 1213 CIC/1983 auf ortsspezifische Tätigkeiten nicht einwenden, daß die Normen des neuen CIC, soweit sie altes Recht wiedergeben, gemäß can. 6 § 2 CIC/1983 unter Würdigung der kanonischen Tradition, hier speziell der cann. 1160, 1179 CIC/1917, auszulegen sind. Eine derartige, auf die Fortgeltung des kirchlichen Asylrechts abzielende Argumentation39 verkennt, daß can. 1213 CIC/1983 eben kein altes Recht wiedergibt, sondern die Materie in wesentlichen Bereichen neu regelt.
(c) Die Anwendbarkeit des can. 1213 CIC/1983 auf die Kirchenasylpraxis Ein kirchenrechtlicher Schutz aus can. 1213 CIC/1983 ergibt sich daher nicht bereits, wenn Kirchenasyl an einem heiligen Ort stattfindet. Vielmehr
ship between the power of the Church and that of the State than expressed in the former code.". 36
Ähnlich Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC/1983, S. 125.
37
Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1213, Anm. 1.
38
Vgl. Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1210, Anm. 4.
39
Vertreten von Guth, Kirchenasyl und kirchliches Recht, in: Kirchenasyl, S. 51 m. Hinw. auf Kirby, Sanctuary, in: Proceedings of the Forty-eighth Annual Convention, S. 188.
134
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
müßte ein Sach- und Sinnzusammenhang zwischen der Asylgewährung im Kirchenbau und der besonderen Heiligkeit dieser Stätte bestehen. (aa) Die Reformgeschichte des can. 1213 CIC/1983 Die Frage einer Übernahme des Asylrechts in den neuen Kodex stand der Reformkommission klar vor Augen. Noch im Schema über den Heiligungsdienst der Kirche "De Munere Sanctificandi" von 1977 findet sich in Teil II (Über die heiligen Orte und Zeiten sowie über den Gottesdienst) can. 14 die Regelung eines kirchlichen Asylrechts, sogar ohne die Einschränkung der "dringenden Notwendigkeit" des can. 1179 CIC/191740. Die Deutsche Bischofskonferenz sprach sich deutlich für eine ersatzlose Streichung des Asylcanons aus. Ein Asylrecht der Kirche sei vollends antiquiert und es gehöre nicht zu den Aufgaben eines Gesetzgebers, historische Erinnerungen wachzuhalten41. Auch die Kodexreformkommission votierte 1980 abschließend gegen die Aufnahme einer Asylregelung in das neue Gesetzbuch. Sie begründete dies mit der mangelnden staatlichen Anerkennung eines kirchlichen Asylrechts sowie mit seiner Verzichtbarkeit 42. So wurde von der Regelung des ius asyli im CIC von 1983 abgesehen. Allerdings verzeichnet die von der Päpstlichen Kommission zur Authentischen Interpretation editierte Ausgabe des "Codex Iuris Canonici Fontium annotatione auctus" als Quelle zu can. 1213 CIC/1983 auch den can. 1179 CIC/1917. Einige Autoren greifen dies als Argument für die Weiterexistenz eines Asylrechts in can. 1213 CIC/1983 auf 43. Jedoch entspricht die Nennung des can. 1179 CIC/1917 lediglich der historischen Wahrheit und stützt die Fortgeltungsthese für sich genommen nicht44. Mit dem Verzicht auf eine Asylregelung im neuen Kodex hat die katholische Kirche insoweit ihren Anspruch auf territoriale Rechtshoheit im kirchli-
40
Pontificia Commissio, Schema Canonum libri IV. De ecclesiae munere sanctificandi. Pars Π. De locis et temporibus sacris deque cultu divino, S. 9: "Qui ad aliquam ecclesiam aliumve locum sacrum ad asylum obtinendum confugerint extrahendinnon sunt sine assensu competentis auctoritatis ecclesiasticae" (can. 14). 41 Die Stellungnahme findet sich wiedergegeben bei Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC/1983, S. 125, Fn. 102. 42
Pontificia Commissio, Communicationes 12, (1980), S. 337; vgl. Theler, Asyl in der Schweiz, S. 27. 43 Theler, Asyl in der Schweiz, S. 33; Guth, Kirchenasyl und kirchl. Recht, in: Kirchenasyl, S. 51 f. 44
Ebenso Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC von 1983, S. 125.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
135
chen Bereich aufgegeben45. Sie zählt es heute nicht mehr zu ihren Vollmachten und Aufgaben i.S.d. can. 1213 CIC/1983, einen Justizvorrang bezogen auf Zuflüchtige an heiligen Orten durchzusetzen. Es gehört demnach nicht mehr zum kirchlichen Rechtsstatus heiliger Orte, als Freiräume vom staatlichen Rechtsvollzug zu fungieren 46. Ein territoriales Asylrecht als Ausfluß der Immunität am locus religiosus existiert nicht mehr. (bb) Das Selbstverständnis der Kirchenasylbewegung Auch ein Blick auf die Praxis des Kirchenasyls verdeutlicht, daß ein Sachund Sinnzusammenhang zwischen der kirchlichen Asylgewähr und der Heiligtumsqualität bestimmter Orte nicht mehr besteht. Nur ausnahmsweise greifen die Befürworter dieser Aktionsform zur Begründung auch auf den Gedanken der reverentia loci zurück. Dementsprechend findet Kirchenasyl nur selten in Räumen statt, die nach kanonischem Recht heilig sind. Ganz überwiegend wird eine christliche Gewissenspflicht zu Fürsprache und Beistand betont, die keinen bestimmten Ortsbezug aufweist. Wenngleich die kirchlichen Gruppen auf das Ergebnis staatlicher Entscheidung erheblichen Einfluß zu nehmen suchen und ein staatliches Nichteingreifen erhoffen, gründet sich ihre Hoffnung weniger auf die Erwartung einer fortbestehenden Scheu vor dem Heiligen als auf den Respekt, den der Staat den Großkirchen als Institutionen zollt 47 . Damit knüpft die moderne Asylbewegung an den altkirchlichen Asylgedanken an, der sich gerade nicht aus der griechischen Anschauung von der völligen Trennung der Wirklichkeit in Sakral und Profan erschließt, sondern seine originär christliche Begründung in der bischöflichen Pflicht zur Interzession findet 48. Die Fürsprache war Ausdruck kirchlichen Wirkens innerhalb und nicht jenseits des Profanen. Sie war nicht ortsgebunden. Einen Ortsbezug erhielt sie nur im Wohnsitz des Bischofs, den ein zuflüchtiger Bittsteller aufsuchen mußte. Die Interzession zielte auf eine Verhandlungslösung mit dem staatlichen oder privaten Verfolger ab und war nicht auf die Wahrung territorialer Integrität ausgerichtet.
45 Vgl. Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC/1983, S. 125 sowie Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 140. 46
Vgl. Walf, Einführung in das neue katholische Kirchenrecht, S. 226.
47
Lob-Hüdepohl y Asyl mit der Kirche, Caritas Nr. 4/95, S. 165.
48
Ähnlich Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 141; zum originär christlichen Gedanken der Interzession siehe bereits oben S. 31 f.
136
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(cc) Ergebnis Die Reformgeschichte des CIC zeigt, daß das kanonische Gesetzbuch heute das Asylrecht nicht mehr als Ausdruck der territorialen Integrität der Kirche statuiert49. Dafür spricht auch die Praxis kirchlicher Asylie. Vor diesem Hintergrund scheidet ein extensives Verständnis des can. 1213 CIC/1983 im Sinne eines das kirchliche Asylrecht umfassenden Auffangtatbestandes aus50. Die Norm enthält weder einen Anspruch gegen die Kirche auf Asylgewährung noch einen Anspruch gegen den Staat auf Achtung eines Heiligtumasyls51.
(d) Anspruch auf schonende Durchsetzung staatlicher Maßnahmen am heiligen Ort Immerhin läßt sich can. 1213 CIC/1983 die Forderung nach möglichst schonender Durchsetzung staatlicher Hoheitsakte an heiligen Orten entnehmen52. Daher widerspräche es can. 1213 CIC/1983, ein Kirchenasyl mit unmittelbarem Zwang während eines Gottesdienstes zu beenden53. Außerhalb derartiger Kulthandlungen findet sich eine Grenze in can. 1211 CIC/1983, wonach eine Schändung heiliger Orte eintritt, wenn an ihnen frevelhafte und schwer beleidigende Handlungen vorgenommen werden, die ihrer Heiligkeit entgegenstehen und bei den Gläubigen Ärgernis hervorrufen 54. Darunter fallen auch erhebliche körperliche Gewaltanwendungen, wenn sie sich als Miß49 Zur Reformgeschichte ebenso Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 33; Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 139 f.; Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 61; Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC/1983, S. 125. 50 So i. E. auch Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 140; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 18; Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC v. 1983, S.125; Jakobs, Kirchliche Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 33 f.; Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1213, Anm. 2; Walf, Einführung in das neue katholische Kirchenrecht, S. 226; Flor, Politische Aktion, Kirche und Recht, S. 96; Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 97; Müller, Abschiebehaft bei Kirchenasyl, ZAR 1996, S. 170; Lübbe-Woljf in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 9; wohl auch Kimminich, Art. Asyl, EKLI, Sp. 301; ders. in: BK, GG, Art. 16 (1984), Rn. 131. 51 So Riedel-Spangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 139. Aus staatlicher Sicht für die Kirchengebäude ebenso, aber ohne Begründung Schütz, Res sacrae, in: HdbStKirchR Π, S. 12. 52
Vgl. Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC/1983, S. 125 und bereits Hinschius, Kirchenrecht IV, S. 397 f. 53
Ebd.
54
Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1211, RZ. 5.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
137
handlungen darstellen55. Weil in einer geschändeten Stätte gemäß can. 1211 CIC/1983 die Kultausübung bis zur Durchführung eines Bußritus verboten ist, wäre ein solcher Fall staatlichen Vorgehens gegen Flüchtige im Kirchenasyl mit der substanzverletzenden Einwirkung gleichzusetzen und verstieße gegen can. 1213 CIC/1983.
bb) Das Heiligtumsasyl als Gewohnheitsrecht Möglicherweise gilt ein kirchliches Heiligtumsasyl als kirchliches Gewohnheitsrecht außerhalb von can. 1213 CIC/1983, etwa in Gestalt eines Grundsatzes, wonach die Macht des Staates an der Kirchentüre zu enden habe56. Derartiges Gewohnheitsrecht kann gesetzesgleiche Verbindlichkeit erlangen und hebt dann entgegenstehendes kirchliches Recht auf oder ändert es entsprechend ab. Für die betroffene kirchliche Gemeinschaft entsteht ein ius consuetudinarium contra ius jenseits oder gar zuwider geschriebener Regelungen57.
(1) Die Grundsätze des Lib. I Tit II CIC/1983für von Gewohnheitsrecht
die Geltung
Die Geltungskraft von Gewohnheitsrecht beruht auch im Kirchenrecht allgemein auf einer übereinstimmenden Rechtsüberzeugung der Rechtsunterworfenen sowie auf einer praktischen Übung von gewisser Dauer58. In Lib. I Tit. II - De Consuetudine - enthält der CIC/1983 einschränkende Sonderregelungen. Gemäß can. 23 kann eine von einer Gemeinschaft von Gläubigen eingeführte Gewohnheit Gesetzeskraft nur erlangen, wenn der kirchliche Gesetzgeber sie genehmigt. Diese formelle Geltungsvoraussetzung59 hat ihren Grund darin, daß es nach katholischem Verständnis im Gottesvolk ohne oder sogar gegen die in apostolischer Vollmacht wirkenden Hirten kein Recht geben kann60. Die cann. 24-26 enthalten eine allgemeine Legalapprobation, in denen
55
Vgl. Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1211, RZ. 6.
56
Einen derartigen Grundsatz sieht Dibelius, Grenzen des Staates, S. 84.
57
Socha in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 26, Anm. 3, 1. Abs.
58
Vgl. May/Egler, Kirchenrechtliche Methode, S. 177 sowie zum weltl. Recht Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 345 (m.w.N.). 59
Socha in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 23, Anm. 1, 2. Abs.;als materielle Voraussetzung wird nach kanonischer Lehre die geübte Rechtsüberzeugung der Gläubigen angesehen, s. Socha, ebd. 60
Socha in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 23, Anm. 4, 1. Abs.
138
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
der Gesetzgeber für unbestimmt viele künftige Fälle die Voraussetzungen festlegt, unter denen eine Gewohnheit gesetzesgleiche Kraft erlangt61. Erfüllt eine Übung die dort genannten Erfordernisse, ist die nach can. 23 verlangte Approbation ohne weiteres gegeben62. Gemäß can. 24 § 2 kann eine außeroder widergesetzliche Gewohnheit, sofern sie nicht göttlichem Recht widerspricht (s. can. 24 § 1), nur dann Gesetzeskraft erlangen, wenn sie vernünftig ist. Daran fehlt es, wenn das Recht die Gewohnheit ausdrücklich verwirft. Weiterhin erfordert can. 25, daß eine Gewohnheit zumindest von einer passiv gesetzesfahigen Gemeinschaft (etwa Pfarreien, Dekanate und Pfarrverbände) 63 mit der Absicht geübt wird, Recht einzuführen. Schließlich gilt nach can. 26 CIC, daß eine rechtswidrige oder außerrechtliche Gewohnheit, falls sie nicht vom zuständigen Gesetzgeber besonders genehmigt wurde, nur Gesetzeskraft erlangt, wenn sie zuvor dreißig ununterbrochene und volle Jahre geübt worden war.
(2) Anwendung dieser Grundsätze und Ergebnis In Anwendimg dieser Grundsätze auf die geübte Praxis kirchlicher Asylgewähr ist festzustellen, daß Kirchenasyl zwar immer von einer passiv gesetzesfahigen kirchlichen Gemeinschaft in Gestalt der Ortsgemeinde geübt wird (anderenfalls handelt es sich um Privatasyl64), jedoch erfolgt diese Übung nicht in der Absicht, die gesegnete oder geweihte Stätte im Sinne eines örtliches Schutzprinzips des Heiligen in Anspruch zu nehmen65. Damit fehlt es bereits an der nach can. 25 CIC erforderlichen Rechtseinführungsabsicht. Weil überdies die moderne kirchliche Asylpraxis erst zu Beginn der 80er Jahre einsetzt, ist auch der in can. 26 genannte Vorbereitungszeitraum von 30 Jahren nicht gewahrt. Somit schließen die cann. 23 - 26 CIC die Annahme einer Geltung eines Heiligtumsasyls als Kirchengewohnheitsrecht zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus.
61
Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, can. 23, Anm. 5, 3. Abs.
62
Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, can. 23, Anm. 5, 3. Abs.; vgl. Mörsdorf,\ Die Autorität der rotalen Rechtsprechung, in: Schriften zum kanonischen Recht, S. 689 f. 63
Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, can. 25, Anm. 6 mit weiteren Beispielen.
64
Siehe zu dieser Unterscheidung oben S.83.
65
Dazu oben S. 135.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
139
cc) Das Heiligtumsasyl im Staatskirchenvertragsrecht Anknüpfungspunkte für ein fortbestehendes Rechtsinstitut des Heiligtumsasyls könnten sich im Vertragsrecht finden. Nach dem Konkordatsvorbehalt des can. 3 CIC/1983 wird vorheriges Vertragsrecht nicht von entgegenstehenden Bestimmungen des kanonischen Gesetzbuches derogiert, sondern geht den Regelungen des CIC vor 6 6 .
(1) Die Materien des deutschen Staatskirchenvertragsrechts In Deutschland setzte die Vertragspraxis als eine neue Ära des Staatskirchenrechts 67, deren Beginn mit dem Abschluß des Konkordats zwischen Papst Pius X I und dem Staat Bayern vom 29.3.1924 datiert wird 6 8 , zu einer Zeit ein, als der Staat das Asylrecht der Kirche nicht mehr anerkannte. Daher verwundert es nicht, daß man in der Fülle vertraglicher Regelungen nach Vereinbarungen zum Kirchenasyl vergeblich sucht 69 . Soweit deutsche Staatskirchenverträge 70 Bestimmungen über kirchliche oder auch gottesdienstliche Gebäude enthalten, betreffen sie Fragen des Eigentums, der Nutzung, des Unterhalts, der Widmung oder veibieten einen Abriß gottesdienstlicher Stätten ohne Ge-
66 Listi (Hrsg.), Konkordate und Kirchenverträge I, Einleitung, S. 6; ders., Kirche und Staat nach dem CIC von 1983, EssGespr 19, S. 17. 67
J. Hechel, Das staatskirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930 und 1931, Verwaltungsarchiv 37 (1932), S. 287. 68 Vgl. Höllerbach, Die vetragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR I, S. 255 sowie Listi (Hrsg.), Konkordate und Kirchenverträge I, Einleitung, S. 15. 69 Diesen negativen Befund ergibt eine Durchsicht der maßgeblichen Quellensammlung Listls, Konkordate und Kirchenverträge; nichts anderes gilt für die Entwicklung in den neuen dt. Bundesländern, vgl. etwa den Accordo zwischen dem Hl. Stuhl und dem Freisstaat Sachsen vom 2. Juli 1996 sowie die Übersicht bei Puza, Konkordatäre Vereinbarungen, in: Neue Verträge zwischen Staat und Kirche, S. 15 ff. Insgesamt haben die Kirchenverträge mit den neuen Ländern keine grundsätzliche Änderung oder gar Erweiterung der Materien gebracht, vgl. Ρ ir son, Gegenstand und Rechtsqualität von Verträgen zwischen Staat und Kirche, ebd., S. 39. 70 Zur Terminologie siehe nur Hollerbach, Die vertragsrechtl. Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HbdStKirchR I, S. 254 sowie ders., Verträge, S. 68 ff. Danach bildet der "Staatskirchenvertrag" den Oberbegriff für Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche(n), die der parlamentarischen bzw. synodalen Zustimmung bedürfen; andernfalls sind die Begriffe "Vereinbarung" oder "Abkommen" gebräuchlich. Der Begriff "Konkordat" ist dem kodifikatorischen Vertrag mit dem Hl. Stuhl vorbehalten. Demgegenüber werden die Abmachungen mit den ev. Kirchen als "Evangelische Kirchenverträge" bezeichnet.
140
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
nehmigung der Kirchenbehörden 71. Darüber hinausgehenden Schutz heiliger Orte gewähren sie nicht.
(2) Exkurs: Ausländische Staatskirchenverträge Allerdings sprechen zwei ausländische Staatskirchenverträge neueren Datums den Asylgedanken an, worauf sich Befürworter der Fortgeltungsthese berufen 72 . Das Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Spanien vom 3.1.1979 gewährleistet den Kultstätten Unverletzlichkeit gemäß den Gesetzen 73 . Der "Accordo" zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18.2.198474 wiederholt die Bestimmung des "Concordato" des Jahres 1929 wortgleich 75 , welche ihrerseits die Asylbestimmung can. 1179 des alten Codex wiedergibt 76 . Soweit das spanische Konkordat die Unverletzlichkeit der Kultstätten garantiert, legt dies die spanische staatskirchenrechtliche Literatur als Asylrechtsbestimmung aus 77 .
71
Etwa Art. 17 Reichskonkordat v. 20.07.1933, bei Listi, Konkordate und Kirchenverträge I, S. 44; Art. V Badisches Konkordat v. 12.10.1932, ebd., S. 141; Art. 10 Bayrisches Konkordat v. 29.03.1924, ebd., S. 295 f. und 491 f.; Art. ΙΠ Abs. 2 Badischer Kirchenvertrag v. 14.11.1932, ebd., S. 217; Art. 18, 19, 23 Bayrischer Kirchenvertrag vom 15.11.1924, ebd., S. 512 f. und S. 612; Art. 6 Hessischer Kirchenvertrag vom 18.02.1960, ebd., S. 805; Art. 16 Niedersächsisches Konkordat v. 26.02.1965, bei Listi, Konkordate und Kirchenverträge Π, S. 17; Art. 4, 5 Preußisches Konkordat v. 14.06.1929, ebd., S. 715; Art. 17 Niedersächsischer Kirchenvertrag, ebd., S. 116; Art. 19, 20 Schleswig-Holsteinischer Kirchenvertrag v. 23.04.1957, ebd., S. 673. 72 So Robbers, Kirchliches Asylrecht?, AöR 113 (1988), S. 39; Theler, Asyl in der Schweiz, S. 33, Fn. 128; Guth, Kirchenasyl und kirchl. Recht, in: Kirchenasyl, S. 51. 73
A.A.S. 72 (1980), S. 29 - 36; span.-dt. im AfkKR 148 (1979), S. 531 - 539. In Art. Π Nr. 5 heißt es: "Los lugares de culto tienen garantizada su inviolabilitad con arreglo a las leyes" (Den Kultstätten wird die Unverletzlichkeit gemäß den Gesetzen gewährleistet). 74
A.A.S. 77(1985), S. 521 ff.
75
Vgl. Schöppe (Hrsg.), Konkordate seit 1800, S. 175.
76
Art. 5,2. lautet: "Salvo i casi di urgente nessecità, la forza publica non potrà entrare, per l'esercizio delle sue funzioni, negli edifici aperti al culto, senza averne dato previo awisio all'autorità ecclesiastica." (Außer in dringenden Notfallen kann die öffentliche Gewalt zur Ausübung ihrer Amtsobliegenheiten nicht in die dem Gottesdienst dienenden Gebäude eindringen ohne zuvor rechtzeitig die kirchliche Autorität benachrichtigt zu haben.), AA.S. 11 (1985), S. 524, mit dt. Übersetzung in: AfkKR 154 (1985), S. 327. Vgl. Göbel, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem CIC/1983, S. 125. 77
Nachw. bei Robbers, Kirchliches Asylrecht?, AöR 113 (1988), S. 39, Fn. 31.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
141
Beide Verträge können indessen nicht als Belege für einen universalen Anspruch der katholischen Kirche auf ein Heiligtumsasyl dienen. Wegen ihrer auf die Vertragspartner beschränkten Geltungsbereiche ist ihnen eine über die Grenzen Italiens und Spaniens hinausgehende Indizwirkung für ein fortbestehendes Asylrecht der Kirche an heiligen Orten nicht zu entnehmen78.
dd) Das Heiligtumsasyl im Partikularrecht Anzumerken bleibt, daß auch das Partikularrecht 79 im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, das gemäß can. 20 CIC/1983 durch allgemeines kanonisches Recht grundsätzlich nicht berührt wird 80 , das Heiligtumsasyl nicht behandelt.
ee) Ergebnis Kanonisches Recht, Staatskirchenvertragsrecht und Partikularrecht enthalten somit keine ausdrücklichen Regelungen über einen gesteigerten Schutz flüchtiger Menschen an heiligen Orten. Die Asylgewähr zählt nicht mehr zu den spezifischen Aufgaben der Kirche am heiligen Ort. Dieses Ergebnis wird durch die kirchliche Asylgewährungspraxis unterstrichen, die regelmäßig keine heiligen Orte in Anspruch nimmt. Daraus und in Anbetracht der Vorbereitungszeit von 30 Jahren folgt schließlich, daß Gewohnheitsrecht als Rechtsgrundlage ebenfalls ausscheidet. Somit kann festgehalten werden, daß ein Asylrecht als Ausfluß der Immunität heiliger Orte (Heiligtumsasyl) dem in Deutschland geltenden Recht der katholischen Kirche unbekannt ist.
b) Das Heiligtumsasyl im evangelischen Kirchenrecht Im Recht der evangelischen Kirchen scheitert die Existenz eines Heiligtumsasyls aus theologischen Gründen bereits am protestantischen Kirchenverständnis. 78
Α. A. Guth, Kirchenasyl und kirchl. Recht, in: Kirchenasyl, S. 51 sowie Robbers, Kirchliches Asylrecht?, AöR 113 (1988), S. 39. 79 Zum Begriff des Partikularrechts und zur Rechtsetzungskompetenz näher Pesendorfer, Partikulares Gesetz, S. 17 ff. u. S. 49 ff sowie Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, Vor. can. 7, Rz. 10. 80
Pesendorfer,
Partikulares Gesetz, S. 77.
142
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
aa) Der Ausschluß heiliger Orte nach evangelischem Kirchenverständnis War das mittelalterliche Lebensgefühl geprägt von der Trennung zwischen einer sakralen und einer profanen Sphäre, so suchte die Reformation gerade diese Trennung unter Berufung auf die biblische Tradition, und hier vor allem auf das Neue Testament, zu überwinden81. Nach protestantischer Auffassung erfüllt Kirche sich vollkommen in Wortverkündigung, Taufe und Abendmahl, so daß dem Kirchenraum keine besondere, von diesen Elementen losgelöste Dignität zukommt82. Wenn im Neuen Testament vom "Haus Gottes" die Rede ist, so sind demzufolge nicht bestimmte Räume, sondern die Menschen gemeint, die im Glauben zu einer gemeinsamen Behausung Gottes im Geist, also zum gemeinsamen Dienst zusammengefügt sind83. Die sichtbare Kirche versteht sich daher als Darstellung der erwählten Gemeinde84 und das "Haus Gottes" als ein "Haus lebendiger Steine"85, in dem die lokale Schutzmacht des heiligen Ortes auf die personale "Gemeinde der Heiligen" übergegangen ist 86 . Solches Kirchenverständnis schließt die Vorstellung des Kirchenraumes im Sinne eines aus der Welt ausgesparten sakralen Bezirks theologisch aus87. Für ein Heiligtumsasyl gibt es im evangelischen Kirchenrecht keine Grundlage88.
81 Grötzingen Asyl in der Gemeinde, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg), Asyl in der Gemeinde, S. 59. 82
Dies stellt bereits die Stellungnahme "Kirchlicher Raum - Asylraum - Freiraum" der Theologischen Fakultät Zürich für die evangelisch-reformierte Kirche fest, in: epdDokumentation Nr. 17a/81, S. 4 (s. unten S. 148). Martin Luther hat mit der sog. "Religion zweiter Ordnung" (Heiligen-, Bilder-, und Reliquienverehrung) auch die Verehrung heiliger Orte abgeschafft, vgl. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, § 81 e. Das in der Verfasserschaft zweifelhafte Traktat Luthers über das kirchliche Asylrecht weist keine reformatorischen Bezüge auf und stellt lediglich die überkommene Rechtslage dar; dazu oben S. 47, Fn. 160. 83
Theologischen Fakultät Zürich, "Kirchlicher Raum - Asylraum - Freiraum", in: epd-Dokumentation Nr. 17a/81, S. 4 m. H. a. Epheser 2, 19 - 22; 2. Korinther 6, 16; 1. Petrus 2, 5; vgl. auch Matthäus 18,20. 84
So die calvinistische Akzentuierung mit Betonung des institutionellorganisatorischen Aspekts des Kirchenbegriffs, vgl. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, § 83 h. 85 86
1 . Petr. 2, 5.
Reuter, Kirchenasyl und staatl. Asylrecht, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S. 594. Zum reformatorischen Kirchenbegriff näher W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, S. 51 ff. Die Confessio Augustana bestimmt Kirche als "Versammlung aller Gläubigen" (CA VE), s. Huber, ebd., S. 52.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
143
bb) Terminologische Kritik am Begriff "Kirchenasyl" im Bereich der evangelischen Kirche Vor diesem Hintergrund und der damit einhergehenden Distanzierung vom Gedanken rechtsexemter kirchlicher Bereiche ist innerhalb der evangelischen Kirche der Begriff "Kirchenasyl", wie er von den Kirchengemeinden und Initiativträgern plakativ benutzt wird, terminologisch auf Kritik gestoßen. So steht die Arbeitshilfe des Landeskirchenamtes der rheinischen Landeskirche unter dem Titel "Asyl in der Gemeinde" und will damit die personale Komponente betonen 89 . Andere Äußerungen befürworten die Bezeichung des Phänomens als "christlicher" oder "kirchlicher Beistand" und knüpfen damit an die ortsunabhängige Interzession an. Insbesondere kirchenamtliche Stellungnahmen verwenden den eingebürgerten Begriff daher in Anführungszeichen als "sog. Kirchenasyl", um die Abgrenzung vom historischen Heiligtumsasyl der katholischen Kirche kenntlich zu machen. Beispielhaft sei die siebte These des Beschlusses der Kirchenleitung der rheinischen Kirche vom 13.10.1994 wiedergegeben: "Wenn (...) von "Kirchenasyl' gesprochen wird, dann bedeutet es nicht, daß es "heilige Räume' und (Gottesdienst-) Zeiten gibt, die - der allgemeinen Rechtsordnung entzogen - Schutz bieten können; "Kirchenasyl' bedeutet vielmehr, daß die christli-
87 Theologischen Fakultät Zürich, "Kirchlicher Raum - Asylraum - Freiraum", in: epd-Dokumentation Nr. 17a/81, S. 4 88
Jüngel, Die Gewaltfreiheit des Kirchenraums (FAZ v. 04.06.1994),in: epdDokumentation 43/94, S. 57; v. Campenhausen, Zum Asylrecht in der Kirche, in: ders., Münchener Gutachten, S. 154; Becker, KORh, Art. 20, Rn 20; Blaschke, Anmerkung in ZevKR 26 (1981), S. 195 f.; W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 415. Dem widerspricht nicht, daß in der Vergangenheit auch in protestantisch gewordenen Kirchen ein Asylrecht aufgrund bestehender Privilegien im Einzelfall fortgegolten hat, vgl. Schnaubert, Grundsätze des Kirchenrechts (1806), S. 353; s. a. Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 30. Ebensowenig kann die im Grundsatz anerkannte aber heute praktisch unbedeutende Fortgeltung des CIC als subsidiäre Rechtsquelle aus vorreformatorischer Zeit (dazu Erler, Kirchenrecht, S. 168 f.) kein Heiligtumsasyl im Bereich ev. Kirchen begründen, weil dies eben theologisch ausgeschlossen ist; unklar Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 37. Zwar enthalten auch die heutigen Kirchenordnungen teilweise Normen, welche eine der Bestimmung des Kirchenbaus widersprechende Benutzung ausschließen, so etwa Art. 20 KORh, jedoch ist damit keine "Heiligkeit" geschützt, sondern das Anstandsgefühl der Gläubigen, vgl. Becker, KORh, Art. 20, Rn 7 m.w.N. sowie unten S. 160. 89 Etwa der Titel Gutheils Aufsatz, "Kirchenasyl - Asyl in der Gemeinde", RKZ 1993, S. 112 ff.
144
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
che Gemeinde in ihren Räumen Schutzsuchenden Schutz gewährt. Damit will sie zeichenhaft deutlich machen, daß die Gemeinde Jesu als Ganzes ein Haus lebendiger Steine' (1. Petr. 2, 5) und der Tempel Gottes' (1. Kor. 3,16 f.) ist" 90 .
cc) Ergebnis Als Ergebnis ist festzuhalten, daß der evangelischen Kirche ein Heiligtumsasyl aus theologischen Gründen fremd ist. Die Bezeichnung "Kirchenasyl" wird zumindest als mißverständlich betrachtet, wenngleich der Begriff aufgrund seines schlagwortartigen Charakters weiterhin gebräuchlich ist.
2. Die intercessio und das Interzessionsasyl Weiterhin kommt das Prinzip der Interzession als selbständige Rechtsgrundlage für die Asylpraxis der Kirchengemeinden in Betracht. Dann müßte die Interzession eine rechtlich festgeschriebene Aufgabe der Kirche darstellen, die auch die Asylgewährung als konkrete Beistandshandlung umfaßt und die Kirchengemeinde betrifft.
a) Das Interzessionsasyl im evangelischen Kirchenrecht aa) Die Interzession als Aufgabe der Kirche Weder die Grundordnung der EKD noch die Kirchenordnungen der Gliedkirchen oder sonstige Kirchengesetze enthalten ausdrückliche Bestimmungen über ein Interzessionsrecht der Kirche. Allerdings nahmen kirchliche Gremien aller Ebenen, von der EKD über die Landeskirchen bis hin zu Ortsgemeinden, im Zusammenhang mit dem Kirchenasyl zur Interzessions- oder Beistandspflicht der Christen und/oder ihrer Kirchen positiv Stellung91. Ein Interzessionsrecht ließe sich ohne weiteres bejahen, wenn genannten Stellungnahmen rechtsverbindliche Kraft zukäme. Dann würden sie zumindest eine Beistandspflicht als Christenpflicht bindend feststellen. Die Verlautbarungen bezeichnen sich jedoch sämtlich als "Thesen", "Erklärungen" oder auch schlicht "Informationen" zum "sog. Kirchenasyl". Daraus ist zu schließen, daß 90 Beschluß der Kirchenleitung der Ev. Kirche im Rheinland vom 13. 10. 1994, Theologische Thesen zum Thema "Kirchenasyl", These 7, in: Landeskirchenamt der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 76. 91
Näher unten S. 146 ff.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
145
mit ihnen keine unmittelbare Rechtsveibindlichkeit intendiert ist 92 . Ein Interzessionsrecht könnte sich aber mittelbar aus den diakonischen bzw. seelsorgerlichen Aufgaben der Kirche ergeben.
(1) Diakonie und Seelsorge als Aufgaben der Kirche in den Landeskirchenordnungen und -Verfassungen Die Kirchenordnungen und -Verfassungen der Gliedkirchen der EKD zählen die Diakonie (Karitas) 93 als helfende Liebe und die Seelsorge zu den grundlegenden Aufgaben der Kirche 94 . Danach sind die Landeskirchen und Kirchengemeinden für die Dienste der Diakonie und der Seelsorge verantwortlich 95 . Die Diakonie gilt besonders den Benachteiligten, Schwachen und Kranken 96 .
(2) Die Interzession als diakonische und seelsorgerliche Aufgabe der Kirche in kirchlichen Verlautbarungen Möglicherweise läßt sich die Interzession als Modalität der Diakonie bzw. der Seelsorge auffassen. Die Diakonie hat ihren Schwerpunkt in der Sorge um die materiellen Grundbedürfnisse des Menschen. Die Seelsorge betrifft die re-
92 Zur Verbindlichkeit synodaler Beschlüsse beispielhaft Becker, KORh, Art. 219, Rn. 8 u. 14 (zur rheinischen Landeskirchenordnung). Die Verbindlichkeitsvoraussetzungen von Synodenbeschlüssen sind geregelt im Beschluß der Landessynode vom 15.01.1981 "Verbindliche Beschlüsse der Landessynode" (KAB1. 1981, S. 39). Formell ist gemäß Β. I. Beschl. v. 15.01.1981 die ausdrückliche Verbindlichkeitserklärung nebst Nennung der Rechtsgrundlage erforderlich. 93
Zur Terminologie: Die Worte "Karitas" und "Diakonie" bezeichnen keine konfessionellen Unterschiede mehr, wenn auch von "Karitas" mehr im katholischen und von "Diakonie" mehr im evangelischen Bereich gesprochen wird. Beide Worte werden hier, mit Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKirchR Π, S. 669, synonym verwendet. 94 Beispielhaft sind zu nennen: Art. 5 KO Ev. Kirche im Rheinland; § 5 KVerf. Ev.ref. Kirche Bayern/Nordwestdeutschland; Art. 2 Abs. 3 KO Ev. Kirche in Hessen und Nassau; Art. 1 Abs. 1 KVerf Ev.-luth. Kirche in Bayern; Art. 8 Abs. 1 GO Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck; Art. 1 Abs. 2 KVerf Ev.-luth. Landekirche Hannover; § 1 GO Ev. Landeskirche in Baden; Art. 7 Abs. 2 KO Ev. Kirche von Westfalen; Art. 7 Abs. 3 Verf. Nordelbische Kirche. 95
Ebd.
96
So Art. 7 Abs. 3 KVerf. Nordelbische Kirche. Zur Diakonie (Karitas) als Grundfunktion der Kirche, neben Prophetie und Liturgie, Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKirchR Π., S. 665 m.w.N. 10 Grefen
146
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
ligiöse Substanz und das seelisch-psychische Wohlergehen97. Die Interzession als Beistand für Bedrängte in lebensbedrohlichen Situationen sichert das materielle Wohlergehen. Zugleich soll sie den Bedrängten helfen, durch die erfahrene Zuwendung die Situation auch seelisch-psychisch zu meistern. Soweit die Kirchenordnungen und Kirchenverfassungen Diakonie und Seelsorge als Aufgaben der Kirche festschreiben, erfassen sie jedoch nur die Zuwendung zum Nächsten, die der Kirche als Institution zugerechnet werden kann98. Dafür ist es zunächst ohne Bedeutung, ob die Kirche als Institution oder der einzelne als Glied dieser Institution tätig wird. Entscheidet ist, ob die Kirche eine bestimmte Handlungsweise der Nächstenliebe überhaupt als ihrem Auftrag gemäß anerkennt99. Die Interzession ist daher Diakonie und Seelsorge im Sinne des Kirchenrechts, wenn die Kirche den Beistand für Bedrängte gegenüber staatlichen Organen als ihre Aufgabe ansieht. Dabei kommt es auf das Selbstverständnis der Kirche an, wie es vor allem in Äußerungen ihrer zur Willensbildung fähigen Organe Ausdruck gefunden hat 100 .
(a) Die zehn Thesen des Rates der EKD vom 10.9.1994 Der Rat der EKD hat in seinen zehn Thesen zum Kirchenasyl vom 10.9.1994 unter dem Titel "Beistand ist nötig, nicht Widerstand" dargelegt, daß der Beistand für Bedrängte Christenpflicht sei, woran die Bibel keinen Zweifel lasse101. Eine solche Beistandspflicht gelte auch gegenüber Menschen, die sich durch die Ablehnung ihres Asylgesuchs und die drohende Abschiebung an Leib und Leben bedroht sehen und sich deswegen um Hilfestellung an einzelne Christen und Bürger, ein Pfarramt, eine Kirchengemeinde oder die Kirche wenden (These l) 1 0 2 . Ein solcher Beistand sei kein Widerstand gegen die Rechtsordnung, wenn er durch Gewährung von Unterkunft und Betreuung sowie Rechtshilfe oder öffentliche Appelle zur Aufschiebung des Vollzugs ei-
97 Zur Unterscheidung Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKirchR Π., S. 678, am Beistpiel kirchlicher Krankenhäuser. 98
Vgl. Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKirchR Π., S. 680.
"Ebd. 100
Ebd. Zu den Auswirkungen im Fall, daß eine karitative Handlungsweise einzelner Gruppen nicht dem kirchlichen Auftrag entspricht unten S. 225 mit den dortigen Nachweisen. 101
Rat der EKD, Thesen zum Kirchenasyl, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 47.
102
Ebd.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
147
ner Abschiebung oder zur Korrektur der Abschiebeverfügung aufrufe (These 2)
103
(b) Stellungnahmen aus dem Bereich der Landeskirchen Ein ähnlicher Tenor findet sich in Stellungnahmen landeskirchlicher Kirchenleitungen und Synoden. Die Kirchenleitung der rheinischen Landeskirche stellt in ihren Thesen vom 13.10.1994 fest, daß es zu Auftrag, Recht und Pflicht der Gemeinde Jesu Christi gehöre, bedrohten Menschen beizustehen104. Damit versuche sie dem anbrechenden Gottesreich zu entsprechen (These l) 1 0 5 . Dieses Beistehen geschehe grundlegend in dem Eintreten vor Gott und den Menschen als intercessio in Form von Fürbitte, Fürsprache und Fürsorge (These 2) 106 . Im Beschluß der rheinischen Landessynode vom 13.1.1993 heißt es unter Nr. 1, daß das evangelische Kirchenrecht zwar kein Recht auf Kirchenasyl kenne, aber der Kirche die Aufgabe des Dazwischentretens (Interzession) zukomme, wenn Unmenschlichkeit drohe 107. Ein Rundschreiben des Oberkirchenrats der Oldenburgischen Kirche vom 25.7.1994 stellt klar, daß in besonderen Fällen Christenpflicht gebiete, Bedrohten beizustehen, deren Asylgesuch abgelehnt worden sei108. In einer Presseerklärung der nordelbischen Kirchenleitung wird der Beistand für Flüchtlinge zu den Aufgaben der Kirche gerechnet109. Die Synode der Lippischen Landeskirche hält mit Beschluß Nr. 3.1. vom 31.5.1994 die verstärkte unabhängige kirchliche Hilfestellung für Flüchtlinge für dringend geboten110. Die Kirchenleitung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau stellt fest, daß es Aufgabe der Kirche sei, für verfolgte und bedrängte Menschen dazusein, wenn diese ihrer Hilfe bedürften 111. Nach einer Rund103
Ebd.
104
Beschluß der Kirchenleitung vom 13.10.1994, in: Landeskirchenamt (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, S. 75 f. 105
Ebd.
106
Ebd.
der EKiR
107
Beschluß Nr. 129 der rheinischen Landessynode vom 13.01.1993, in: Landeskirchenamt der EKiR, S. 73 f. 108
Rundschreiben Nr. 75 "Kirchenasyl", in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 36 ff.
109
Presseerklärung vom 10.5.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 35.
110
Abgedruckt in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 33 f.
111
Stellungnahme der Kirchenleitung vom 12.7.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 29.
148
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Verfügung des Landeskirchenamtes der Ev. Kirche Hannovers hat die Kirche den grundsätzlichen Auftrag, gastfrei zu sein und Bedrängten und Schutzbedürftigen Heimat zu bieten112. Schließlich bekräftigt auch die Kirchenleitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg, daß es dort, wo Menschen Unrecht oder unverantwortliches Leid geschehe, zur Verantwortung des einzelnen ebenso wie der Gemeinde und der Kirche gehöre, für sie einzutreten113. In den evangelischen Rechtsordnungen gebe es die Aufgabe des Dazwischentretens (Interzession), wenn Menschenwürde und Menschenrechte bedroht seien114. In ähnlicher Weise begründen Presbyteriumsbeschlüsse, die im konkreten Einzelfall die Asylgewährung in Ausübung des Hausrechts verbindlich aussprechen, ihr Vorgehen mit einer Beistandspflicht der christlichen Gemeinde für abzuschiebende Ausländer 115.
(c) Gutachten der theologischen Fakultät Zürich Auch die theologische Fakultät Zürich kommt in ihrem vielbeachteten Gutachten "Kirchlicher Raum - Asylraum - Freiraum" zu dem Ergebnis, daß es zur Seelsorgepflicht der Kirche gehöre, in bestimmten Situationen Möglichkeiten des gewaltfreien Gesprächs öffentlich anzubieten und, wenn nötig, zu schaffen. Diese Form eines seelsorgerischen Asyls der Zeitgewährung eröffne Schutzonen und erinnere den Staat an die moralischen Grenzen seiner Macht 116 .
(d) Zusammenfassung Demnach besteht innerhalb der evangelischen Kirchen breiter Konsens, wonach es auch heute noch zu den grundlegenden christlichen Pflichten zählt, für Schutzbedürftige und Bedrängte Beistand gegenüber staatlichen Autoritäten zu üben117. Der Beistand versteht sich als tätige Liebe. Er läßt sich den 112
Rundverfügung vom 01.06.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 25 ff.
113
Rundschreiben vom 30.03.1987, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 20 ff.
114
Evangelische Kirche in Berlin/Brandenburg, der Kirche", Grundsätze, Nr. 5. 115
Handreichung zum Thema "Asyl in
Oben S. 59 f.
116
Theologische Fakultät der Universität Zürich, Gutachten, in: epd-Dokumentation Nr. 17a/81, S. 6 f. und S. 8 f. 117
Jüngel, Die Gewaltfreiheit des Kirchenraums (FAZ v. 04.06.1994), in: epdDokumentation 43/94, S. 57.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
149
rechtlich gefaßten kirchlichen Aufgaben der Diakonie und der Seelsorge zuordnen 118. Die in einem Zustand minderer Rechtsordnung der Kirche erwachsene Aufgabe der Schutzgewähr lebt nach kirchlicher Auffassung im demokratischen Rechtsstaat fort. Es bleibt ihre Aufgabe, Verfolgten beizustehen und Interzession -Dazwischentreten- überall dort zu üben, wo Unmenschlichkeit droht 119. Diese Kontinuität gründet auf der Erkenntnis, daß auch eine demokratisch legitimierte Entscheidung im Einzelfall die Gefahr bergen kann, grundlegende Rechte des Menschen zu verletzen oder zumindest zu gefährden. Diese Gefahr konkretisiert sich aus Sicht der Kirche besonders im Bereich der staatlichen Ausländer- und Flüchtlingspolitik, wo Beistand ihnen derzeit als besonders dringlich erscheint120
bb) Die Unterbringung erfolgloser Asylbewerber als Ausprägung der Beistandspflicht Mit der grundsätzlichen Anerkennung eines Interzessionsrechts stellt sich die weitere Frage, ob dieser Beistand auch die Asylgewähr im Sinne einer Aufnahme abzuschiebender Asylbewerber in den räumlichen-gegenständlich Bereich einer Kirchengemeinde umfaßt oder sich in anderen Beistandshandlungen (gottesdienstliche Fürbitte, Rechtshilfe durch kirchliche Asylberatungsstellen, öffentliche Fürsprache etc.) erschöpft.
(1) Die Thesen der EKD: Unterkunft
ohne Bruch staatlichen Rechts
Die EKD fährt in ihren Thesen mit der Feststellung fort, daß nur der Staat und nicht die Kirche Asyl gewähren könne (These 3) 121 . Kirchenasyl als eigenes Rechtsinstitut gebe es in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Die Kirche dürfe auch nicht den Anschein eines solchen Rechts durch ein Verhalten erzeugen, mit dem die Scheu staatlicher Organe vor dem Vollzug rechtmäßiger Maßnahmen in kirchlichen Räumen ausgenutzt werden solle. Ziel des Beistands sei, für Zuflucht suchende Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, nicht jedoch in der Kirche, die Gewährung des Asyls oder eines anderen
118
Dazu oben S. 145.
119
So Flor, Politische Aktion, Kirche und Recht, S. 96; ähnlich W. Huber, DIE ΖΕΓΓInterview v. 19.05.1994, in: Kirchliches Jahrbuch 1994, S. 116. 120 121
Zur Kritik aus dem kirchlichen Raum am Asyl- und Ausländerrecht s. o. S. 115 ff.
Diese und die folgenden Thesen in: Rat der EKD, Thesen zum Kirchenasyl, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 47 f.
150
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Aufenthaltsrechts zum Schutz vor besonderer Bedrohung zu erwirken. Derartige Beistandshandlungen müßten auf Überprüfung von Abschiebungsentscheidungen in konkreten Einzelfällen ausgerichtet sein; sie rechtfertigten sich, wenn durch die Abschiebung eine konkrete Gefahr an Leib oder Leben zu befürchten sei (These 4), und sie dürften nicht zur Instrumentalisierung der Flüchtlinge als Mittel zur Änderung der Rechtsordnung führen (These 5). Die Thesen vermeiden eine klare Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit einer Aufnahme von Flüchtlingen ins Kirchenasyl. Einerseits wird der Kirche jegliche Asylfähigkeit abgesprochen, andererseits ist von berechtigtem Beistand im Falle einer Bedrohung an Leib und Leben die Rede. Immerhin hält These 2 die Gewährung von Unterkunft für zulässig, weil (und soweit) dies nicht gegen staatliches Recht verstoße122.
(2) Die landeskirchliche
Sicht: Unterkunft
trotz Bruch staatlichen Rechts
Die Landeskirchen beziehen deutlicher Stellung. Der Landeskirchenrat in Thüringen erklärt angesichts des Kirchenasyls in der Jenaer Stadtkirche, daß er sich hinter die Entscheidung der Kirchengemeinde zur Aufnahme von Flüchtlingen stelle123. Die Synode der sächsischen Kirche bittet die Kirchenleitung in einem Beschluß, Gemeinden und Kirchenkreise zu unterstützen und zu begleiten, die von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und Flüchtlingen Asyl gewähren124. Die Kirchenleitung der rheinischen Kirche stellt heraus, daß es in der Nachfolge Christi geboten sein könne, Schutzsuchenden das von den staatlichen Behörden und Gerichten nicht gewährte Obdach in Räumen der christlichen Gemeinde oder andernorts zu gewähren und damit für sie Verantwortung zu übernehmen (These 4) 125 . Zurückhaltender äußert sich der Oberkirchenrat der evangelisch-lutherischen Kirche in Oldenburg, der die Gemeinden zum sorgfaltigen Umgang mit dem "sog. 'Kirchenasyl'" aufruft und darauf hinweist, daß in der Kirche an vielen Stellen Hilfe für Asylsuchende und Ausländer jenseits des Kirchenasyls
122
Rat der EKD, Thesen zum Kirchenasyl, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 47.
123
Erklärung vom 08.9.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 43.
124
Synodenbeschluß vom 19.6.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 42.
125
Beschluß der Kichenleitung vom 13.10.1994, in: Landeskirchenamt Asyl in der Gemeinde, S. 75.
der EKiR,
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
151
geleistet werde 126. Allerdings könne dazu auch die Gewährung von Unterkunft zählen127. Die Kirchenleitung der nordelbischen Kirche hält die Gewährung von Asyl in der Kirche als letzte Möglichkeit für denkbar128. Es gebe Situationen, in denen man gegen den Staat Maßnahmen ergreifen müsse, die eine drohende Abschiebung verhindern oder verzögern, etwa durch Gewährung von Unterkunft 129 . Die Synode der lippischen Landeskirche dankt allen, die sich mit legalen und legitimen Mittel gegen die Abschiebung von gefährdeten Flüchtlingen eingesetzt haben und bittet sie, dies auch künftig zu tun 130 . Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau äußert ihr Verständnis dafür, wenn Kirchengemeinden als ultima ratio Flüchtlinge aufnehmen 131. Die Synode der Berlin-Brandenburgischen Kirche bittet Kirchenkreise und Gemeinden, Flüchtlingen im Notfall Schutz und Zuflucht zu gewähren und die Gemeindehäuser für das notwendige Gespräch zu öffnen 132. Nach Auffassung der Kirchenleitung kann es in diesem Zusammenhang gerechtfertigt und geboten sein, aus Gründen der Interzession Maßnahmen auch gegen den Willen staatlicher Stellen zu ergreifen 133. Schließlich heißt es in der Stuttgarter Erklärung des Forums "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. von Oktober 1988: "In durch staatlichen Regelungen entstehenden extremen Notlagen (Abschiebung) haben Gemeinden nach eingehender Prüfung und Ausschöpfung aller Rechtsmittel zu helfen (z.B. Notwendigkeit der Gewährung von Kirchenasyl)'^34.
Es entspricht demnach kirchlicher Rechtsaufifassung, daß sich die Beistandspflicht auch in der Aufnahme abzuschiebender Asylbewerber in kirchli-
126 Rundschreiben Nr. 75 "Kirchenasyl" v. 25.7.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 38. 127
Ebd.
128
Presseerklärung vom 10.5.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 35.
129
Vgl. ebd.
130
Synodenbeschluß vom 31.5.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 33.
131
Stellungnahme vom 12.7.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 29.
132
Beschluß vom 17.11.1991, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 23.
133
Evangelische Kirche in Berlin/Brandenburg, der Kirche", Grundsätze, Nr. 5.
Handreichung zum Thema "Asyl in
134 Ziff. 2.313 der Stuttgarter Erklärung,in: Materialdienst der Ökumenischen Centrale in Frankfurt/M, 1988/IV, S. 17, der zitierte Passus findet sich auch bei Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 37.
152
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
chen Räumen konkretisieren kann. Dabei geht der Rat der EKD davon aus, daß die Gewährung von Unterkunft, sofern sie öffentlich geschieht, auch nach staatlichem Recht nicht rechtswidrig ist. Er betont daher, daß es sich bei dem Phänomen des Kirchenasyls nicht um einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Kirche und Staat handelte (These 9) 135 . Dem Rat erscheint die Aufnahme von Flüchtlingen zulässig und als Beistandshandlung geboten, wenn und soweit sie nicht gegen staatliches Recht verstößt136. Demgegenüber halten die landeskirchlichen Stellungnahmen eine Aufnahme von erfolglosen Asylbewerbern auch für zulässig, wenn sie nach staatlichem Recht rechtswidrig ist. Dies machen die Thesen der Kirchenleitung der rheinischen Landeskirche vom 13.10.1994 besonders deutlich, die in Reaktion auf die EKD-Thesen verfaßt sind und in deren These 5 es heißt: "Wenn die staatlichen Behörden und Gerichte Schutzsuchenden Obdach und Bleiberecht nicht gewähren und diesen dadurch schwerwiegende Schäden an Leib und Seele drohen, ist es zu respektieren, wenn sich eine christliche Gemeinde, eine Gruppe oder einzelne in der Gemeinde genötigt sehen, nach gewissenhafter Abwägung als ultima ratio gegen die bestehenden Gesetze und Verwaltungsentscheidungen auch eines demokratischen Rechtsstaats zu handeln. Denn für alle gilt im Konfliktfall: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen' (Apostelgeschichte 5, 29; vgl. Augsburger Bekenntnis, Art. 16 a. E.Wenn man ... den Anordnungen der Regierenden nicht ohne Sünde folgen kann ,..')"137.
(3) Der Grundsatz der ultima ratio und seine Konkretisierung in Handlungsanleitungen zum Kirchenasyl Der grundsätzliche Vorrang einer durch das christliche Gewissen geleiteten Entscheidung vor den Annordnungen der staatlichen Rechtsordnung findet nach kirchlicher Auffassung im demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland seine Begrenzung durch den Grundsatz der ultima ratio als kirchenrechtliches Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Danach kommt die gegen staatliches Recht verstoßende Aufnahme erfolgloser Asylbewerber nur in Betracht, wenn alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind und sich eine konkrete Ge-
135
Rat der EKD, Thesen zum Kirchenasyl, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 49.
136
Ebd., These 10: "Hilfbereitschaft für Fremde ist Zeichen der Hoffnung". Vgl. auch das Gemeinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen von Flucht und Migration, Nr. 255 f., FAZ v. 5.7.1997, S. 8. Dazu oben S. 124 und unten S. 185. 137
Beschluß der Kichenleitung vom 13.10.1994, in: Landeskirchenamt Asyl in der Gemeinde, S. 75.
der EKiR,
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
153
fahr an Leib oder Leben als mögliche Folge einer Abschiebung plausibel machen läßt 138 . Um in der Praxis ein gewisses Maß an Zurückhaltung und Einheitlichkeit zu wahren, haben einige Landeskirchen mehr oder weniger umfangreiche Leitfäden an die Gemeinden herausgegeben, die in Fragen der Asylgewährung informieren. So stellt die Arbeitshilfe des Landeskirchenamts der rheinischen Landeskirche für die Aufnahme von Flüchtlingen Kriterien auf, die sich im wesentlichen mit den Anforderungen anderer Landeskirchen decken139. Danach soll Kirchenasyl nur gewährt werden, wenn die begründete Hoffnung besteht, daß durch intensive Aufklärung in der Öffentlichkeit sowie bei Politikern und Behörden ein Meinungswechsel und eine andere Entscheidung herbeigeführt werden kann 140 . Erforderlich ist, daß eine Gefahr für Leib und Leben konkret und substantiiert belegt werden kann. Das setzt eine intensive Recherche über die konkreten Folgen einer Abschiebung, über die Situation im Herkunftsland sowie über mögliche inländische Fluchtalternativen voraus 141. Dazu sollen sich die kirchlichen Instanzen, die Asyl gewähren, neben den Informationsquellen der Behörden auch der vielfältigen ökumenischen Kontakte der Kirchen bedienen, welche oft schneller und zuverlässiger an Informationen gelangten als die staatlichen Stellen142. Ist auf diesem Wege geklärt, daß eine Aufnahme gegenüber Öffentlichkeit und Behörden begründet werden kann, sind die Ziele abzustecken. Dabei kommt grundsätzlich neben einer vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung auch die Forderung nach der
138
Vgl. oben S. 70.
139
Landeskirchenamt der EKiR, Asyl in der Gemeinde, S. 36 ff; Erklärung des Landeskirchenrates der Ev.-luth. Kirche in Bayern v. 05.07.1994, Hinweise für die konkrete Situation, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 18 f.; Rundverfügung Κ des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannover v. 01.06.1994, in: epdDokumentation Nr. 43/94, S. 27; Beschluß des Landessynode der Ev. Kirche in Hessen/Nassau vom 26.06.1994, Nr. 4: Praktische Hinweise für Kirchengemeinde, in: epdDokumentation Nr. 43/94, S. 31\ Rundschreiben des Oberkirchenrats der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg v. 25.07.1994, in: epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 39; Ev. Kirche in Berlin/Brandenburg, Handreichung zum Thema "Asyl in der Kirche", S. 2-5. Siehe auch Schweizer Ev. Kirchenbund, Christen, Kirchen, Asyl - Widerstand?, Leitlinien für konkretes Handeln, S. 83 ff; ebenfalls in ThPr Nr. 2/89, S. 157 ff. sowie die Argumentationshilfe der Kommission XIV Migration der Deutschen Bichofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall (Nov. 1998), S. 20 ff. 140
Landeskirchenamt der EKiR, Asyl in der Gemeinde, S. 41.
141
Ebd., S. 40 f.
142
Ebd., S. 38 f.
154
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Einräumung eines dauerhaften oder zeitlich befristeten Bleiberechts in Betracht 143. Die genannten Handlungsanleitungen unterstreichen, daß die Aufnahme erfolgloser Asylbewerber zulässige Interzession sein kann. Als konkrete Beistandshandlung bei drohender Abschiebung ist das Interzessionsasyl auf eine Verhandlungslösung mit den staatlichen Stellen ausgerichtet. Es beabsichtigt nach allgemeiner Ansicht keine eigene kirchliche Asylpolitik im Sinne eines von der Kirche gewährten völkerrechtlichen Asyls, sondern versteht sich als ein befristetes Asyl der Zeitgewährung144. Deshalb ist die vom bayrischen Innenminister vorgeschlagene gesetzliche Regelung von Kirchenkontingenten, welche die Kirche berechtigen sollte, jährlich eine bestimmte Anzahl abzuschiebender Ausländer bei entsprechender Kostentragung aufzunehmen 145, bei den Kirchen ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen146.
cc) Der Adressat der Beistandspflicht bei möglicher Regelverletzung durch Kirchenasyl Innerhalb der evangelischen Kirche ist die Frage umstritten, wer als Adressat der Beistandspflicht die Verantwortung beim Kirchenasyl trägt 147. Einerseits läßt sich diese Handlungsform als Ausdruck einer persönlichen Gewissensentscheidung betrachten, welche der einzelne Christ nur individuell verantworten kann 148 . Andererseits könnte die zum Interzessionsasyl konkretisierte Beistandspflicht als eine Aufgabe der Kirche und ihrer Teilgliederungen selbst erscheinen. Es lassen sich sonach eine individualistische und eine kollektivistische Position ausmachen.
143
Ebd., S. 43.
144
Oben S. 71.
145
Beckstein, SZ-Interview, in: SZ Nr. 160 vom 14.7.1995, S. 8; dazu Franti , Becksteins Schacher unter dem Kreuz, in: SZ vom 15./16.7.1995, S. 4 sowie v.Münch, "Kirchenasyl": Wer soll das bezahlen?, in: NJW 1995, S. 2271. 146 Dazu Leuninger, Das Kirchenasyl und die Bürgerrechtsbewegung, in: Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 97 ff. sowie Peißl, "Kirchenasyl", in: BayVBl. 1999, S. 138 f. 147 Diese Problematik wurde auf dem Bundestreffen der BÄK vom 8. -10. März 1996 in der Ev. Akademie Mühlheim/Ruhr als Leitfrage behandelt. Die Diskussion ist dokumentiert in: epd-Dokumentation Nr. 31/96 "Asyl in der Kirche - Wer trägt die Verantwortung?". 148
Zur Gewissensentscheidung siehe unten S. 266 f.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
155
(1) Die individualistische Position des Rates der EKD: Beistand als Pflicht des einzelnen Christen Die individualistische Position hat maßgeblich der Rat der EKD in seinen Thesen zum Kirchenasyl vertreten. Danach kann eine gewissensbedingte Regelverletzung nur persönlich verantwortet werden (These Nr. 6). 149 Zur Begründung heißt es, wo Hilfe in rechtswidriger Form gewährt werde, dürfe nicht die Kirche als handelnde oder verantwortliche Institution in Anspruch genommen werden. Wer bei seiner Hilfe für Bedrängte aus Gewissensgründen gegen gesetzliche Verbote verstoße, müsse dies allein verantworten und die Folgen seines Handelns allein tragen. Die Kirche könne solche Entscheidungen weder anstelle der einzelnen Christen treffen, noch zu ihnen aufrufen. Wer die Kirche oder eine bestimmte Gemeinde in den Rechtsbruch hineinziehen wolle, begründe damit Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner persönlichen Gewissensentscheidung und an seiner Bereitschaft, die Folgen seines Handelns auf sich zu nehmen. Zur Milderung dieser prinzipiellen Absage an ein "Asyl in der Gemeinde" im Falle eines möglichen Verstoßes gegen das staatliche Recht schließt These 7 an, daß die Kirche ein in Gott gebundenes Gewissen respektiere und schütze. Auch Christen, die aus Gewissensgründen gegen gesetzliche Verbote verstießen, hätten Anspruch darauf, daß ihre Kirche sie in Gebet und Seelsorge begleite. Diese auf die persönliche Gewissensverantwortung gerichtete Position deutete bereits die Schrift "Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land" von 1986 an, die bezüglich des damals in den Blick rückenden Phänomens "Kirchenasyl" auf die Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie" von 1985 verweist 150. Darin setzte sich der Rat der EKD mit gewissensbegründeten Regelverletzungen auseinander und wollte derartig "demonstrative, zeichenhafte Handlungen" als Anfragen an das geltende Recht verstanden wissen, die den Staat verpflichteten, sie als Gewissensäußerungen ernstzunehmen151. 149 Diese und die folgenden Thesen: Rat der EKD, Thesen zum Kirchenasyl, in: epdDokumentation Nr. 43/94, S. 48. Diese Position ist kommentiert und verteidigt worden vom Präses der EKD-Synode, Jürgen Schmude, auf dem BAK-Bundestreffen im März 1996. Dabei betonte Schmude seine Auffassung, daß Kirchenasyl in 99% der Fälle nicht rechtswidrig sei, s. Schmude, Der einzelne - die Gemeide - die Kirche, in: epdDokumentation Nr. 31/96, S. 16. 150
Kirchenamt der EKD (Hrsg), Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land, EKD Texte 16, S. 35. 151 Kirchenamt der EKD (Hrsg), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, S. 21 (auch in: epd-Dokumentation Nr. 44/85); dazu noch unten S. 199.
156
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Nach dieser Rechtsauffassung wäre ein die Ortsgemeinde bindender Beschluß eines ihrer Organe über die Gewährung von Kirchenasyl dem evangelischen Kirchenrecht zuwider, soweit er mit einem Verstoß gegen daß staatliche Recht einherginge. Darüber hinaus würde diese Vorgehensweise nach Auffassung des Rates der EKD auch die dahinter stehende Gewissensentscheidung der Organwalter diskreditieren.
(2) Die kollektivistische Position der Landeskirchen: Beistand als Pflicht auch der Kirchengemeinde Die Stellungnahme der EKD geriet zum Ausgangspunkt eines innerkirchlichen Meinungsbildungprozesses. Nach der Gegenauffassung gebührt der Kirche als Institution die rechtliche Trägerschaft eines Kirchenasyls. Die Entscheidung über seine Gewährung sowie die Art seiner Ausführung liege bei den örtlichen Kirchengemeinde152. Die Gemeinde, nicht der einzelne trage die Verantwortung selbst dann, wenn es zu Konflikten mit dem staatlichen Recht komme153. So ist etwa in den Gegenthesen der Kirchenleitung der rheinischen Landeskirche immer die Gemeinde in Zusammenhang mit dem Kirchenasyl genannt154. Im Beschluß Nr. 129 der rheinischen Landessynode von Januar 1993 heißt es: "Die Landessynode respektiert die Entscheidung einzelner Gemeinden (...) Kirchenasyl zu gewähren. (...) Die Zuständigkeit für solche Entscheidungen über 'Kirchenasyl' in Kirchen und Gemeinderäumen liegt beim zuständigen Presbyterium (Hausrecht'), das darüber zu beschließen hat. Bei einer Asylgewährung im Pfarrhaus liegt die Entscheidung bei dem betroffenen Pfarrer oder der betroffenen Pfarrerin, sofern die ordnungsgemäße Nutzung der Pfarrwohnung nicht nachhaltig beeinträchtigt wird" 155 .
Dieser Synodenbeschluß ist nicht rechtsverbindlich 156. Er bringt jedoch beispielhaft den Rechtsstandpunkt der Landeskirchen zum Ausdruck, welche die
152
Vgl. dazu die Position der ev. Landeskirchen oben S. 150.
153
Ebd.; unklar Lob-Hüdepohl, Asyl mit der Gemeinde, Caritas Nr. 4/95, S. 169, der die Mitwirkung der Leitungsgremien als Beihilfe (?) zum Kirchenasyl der eigenständigen Asylgruppen betrachtet, deren Mitglieder die Aktion individuell in Gemeinschaft (?) zu verantworten hätten. 154 155
Oben S. 150 f.
Landessynodenbeschluß Nr. 129 vom 13.1.1993, in: epd-Dokumentation 43/94, S. 40.
Nr.
156 Formell ist gemäß Β. I. Beschl. v. 15.1.1981 "Verbindliche Beschlüsse der Landessynode" (KAB1. 1981, S. 39) die ausdrückliche Verbindlichkeitserklärung nebst Nennung der Rechtsgrundlage erforderlich.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
157
Asylgewähr und damit die Interzession als eine Aufgabe der Kirchengemeinden betrachten.
(3) Diakonie und Seelsorge durch Interzession als Dienst der Gemeinde Diese Position der Landeskirchen stimmt mit der Rechtslage nach den evangelischen Kirchenordnungen und Kirchenverfassungen überein. Danach ist die Gemeinde Christi und nicht allein der einzelne in den Dienst der Seelsorge und Diakonie gerufen 157. Sie ist die örtlich bestimmte Gemeinschaft der Kirchenmitglieder, in der das Amt der Kirche ausgeübt wird 158 . Daher wurde am Standpunkt der EKD zu Recht kritisiert, daß er in individualethischer Verengung die Gemeinden im Stich lasse, sich von ihnen entsolidarisiere, die gemeinsam getroffene Entscheidung individualisiere und damit die Position der asylgewährenden Gemeinden gegenüber den Behörden schwäche.159 Mit ihrer Position zum Kirchenasyl stellt sich die EKD in Widerspruch zu ihrer Grundsatzdenkschrift "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" von 1970, wo es unter Nr. 42 heißt: "Es lassen sich aber nicht Bereiche abgrenzen, wo nur der einzelne Christ oder wo auch die Kirche zur Mitverantwortung aufgefordert sind" 160 . Aus den kirchengesetzlich festgeschriebenen Aufgaben der Diakonie und der Seelsorge folgt daher ein Interzessionsrecht der Kirchengemeinde. Dieses Recht kann sie durch die Gewährung von Interzessionsasyl wahrnehmen. Daher stimmt die unter C. II. 2. beschriebene Praxis mit dem evangelischen Kirchenrecht überein. Danach erfordert Kirchenasyl immer die Entscheidung eines kirchlichen Leitungsgremiums, wodurch die Kirchengemeinde für diese Aktionsform verantwortlich zeichnet.
(4) Interzession in Verantwortung der Kirchengemeinde durch Ausübung des Hausrechts und weitere Handlungen Die Wahrnehmung des Interzessionsrechts durch Interzessionsasyl ist stets auf den räumlich-gegenständlichen Bereich der Kirchengemeinde angewiesen. 157
Etwa Art. 5 KORh; Art. 27 Abs. I KVerf d. Ev.-luth. LKirche Hannover; Art. 2 Abs. 3 KO d. Ev. Kirche in Hessen/Nassau; Art. 19 Abs. 3 KVerf der Ev.-luth. Kirche in Bayern, s. o. S. 146. 158
So Art. 19 Abs. 2 KVerf der Ev.-Luth. Kirche in Bayern.
159
Vgl. die Pressemitteilung der BÄK vom 13.09.1994, in: epd-Dokumentation Nr.
43/94, S. 69. 160
Kirchenkanzlei
der EKD (Hrsg.), Die Denkschriften der EKD, Bd. 1/1, S. 63.
158
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Hier vermittelt die Ausübung des Hausrechts durch das zuständige Organ die rechtliche Bindung der Ortsgemeinde als kirchlicher Teilgliederung. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das zur Unterbringung vorgesehene Gebäude im Eigentum der Kirchengemeinde steht oder von ihr angemietet oder ihr sonstwie überlassen ist. Entscheidend ist, daß sich das Hausrecht der Gemeinde auch auf dieses Gebäude erstreckt, welches bei berechtigtem Besitz stets der Fall ist. Das Hausrecht obliegt dem Kirchenvorstand (bzw. Ältestenrat, Presbyterium). Es hat seine Grundlage im Kirchenrecht und ist entweder ausdrücklich geregelt oder folgt aus der allgemeinen Leitungsgewalt des Kirchenvorstands161. Allerdings erschöpft der Beschluß des Kirchenvorstands über die Aufnahme einer ausreisepflichtigen Person sich nicht in der Verfügung über ein kirchliches Gebäude zu Wohnzwecken. Zugleich umfaßt er die Entscheidung über die zu entfaltenden Vermittlungs- und Verhandlungsaktivitäten gegenüber den staatlichen Stellen. Diese Aktivitäten erfolgen nicht als Privatinitiative, sondern namens und im Auftrag der Kirchengemeinde. Die verschiedenen Beistandshandlungen einzelner Personen sind der Gemeinde als deren Dienst und Aufgabe zuzurechnen. Die Asylentscheidung eines Kirchenvorstands geht daher über eine schlichte Ausübung des Hausrechts hinaus. Das Interzessionsasyl erscheint vielmehr als ein Bündel von Beistandshandlungen, von denen die Ausübung des Hausrechts nur einen Ausschnitt bildet. Dieser Ausschnitt ist freilich grundlegend. Er beinhaltet diejenige Handlung, die in der konkreten Situation drohender Abschiebung die Voraussetzung für alle anderen Maßnahmen erst schaffen soll. Gleichwohl ist die Rechtsgrundlage des Gesamtaktes "Kirchenasyl·' nicht im Hausrecht, sondern im Interzessionsrecht der Gemeinde zu sehen162.
dd) Die Rechtmäßigkeit asylgewährender Kirchenvorstandsbeschlüsse am Beispiel des Rechts der Evangelischen Kirche im Rheinland Fraglich ist, ob jegliche aus der Interzession erwachsende Asylgewährung einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle standhält. Dies wird im folgenden am Recht der Rheinischen Landeskirche und ihrer presbyterial-synodalen Ordnung untersucht. Gegenstand der Untersuchung ist der asylgewährende Akt, der regelmäßig in Gestalt eines Kirchenvorstandsbeschlusses erfolgt. Derartige Beschlüsse sind gemäß Art. 219 KORh von der Kirchenleitung im 161 162
Siehe dazu näher unten S. 159 ff..
Ähnl. Roßkopf, Kirchenasyl, AWR Bulletin Nr. 3/96, S. 102; vgl. Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 98; Winter, "Kirchenasyl", in: KuR 1995, S. 39.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
159
Rahmen ihrer Rechtsaufsicht außer Kraft zu setzen, wenn sie die Befugnisse des Prebyteriums überschreiten, gegen die Kirchenordnung verstoßen oder andere Kirchengesetze verletzen.
(1) Formelle Rechtmäßigkeit In formeller Hinsicht müßten die Ortsgemeinde für die Asylentscheidung zuständig und die Form- und Verfahrensvorschriften gewahrt sein.
(a) Verbandszuständigkeit der Gemeinde gemäß Art. 5 und 7 KORh; Organzuständigkeit des Presbyteriums gemäß Art. 104 KORh Diakonie und Seelsorge obliegen gemäß Art 5 KORh der Kirchengemeinde. Nach Art. 7 KORh erfüllt sie ihre Aufgaben im Rahmen der kirchlichen Ordnung in eigener Verantwortung. Diese Norm betont zwar die Eigenständigkeit der gemeindlichen Ebene, versteht sich aber nicht als Autonomiebestimmung im Sinne eines Selbstverwaltungsrechts der kirchlichen Gemeinde163. Daher ist die Eingrenzung der gemeindlichen Eigenverantwortung durch die kirchliche Ordnung weit zu verstehen. Zu ihr zählen nicht nur die Kirchenordnung und kirchliche Gesetze, sondern auch andere landessynodale Beschlüsse, wobei es sich hier nicht um gesetzgeberische Akte handeln muß164. Die rheinische Landessynode hat in ihrem Beschluß Nr. 129 vom 13.1.1993 festgestellt, daß sie die Entscheidung einer Gemeinde zur Asylgewähr im Grundsatz respektiert. In Ermangelung der formalen Voraussetzungen ist dieser Beschluß zwar nicht bindend165, prägt aber den Rahmen der kirchlichen Ordnung. Danach liegt es in der Verantwortung der Kirchengemeinde, ihrer Aufgabe des Beistandes auch durch die Aufnahme von abzuschiebenden Asylbewerbern nachzukommen. Somit ist ihre Verbandszuständigkeit gegeben. Art. 104 KORh bestimmt, daß das Presbyterium allgemein zur Leitung der Gemeinde in kollegialer Verantwortung berufen ist. Es entscheidet über Ver-
163
Becker, KORh, Art. 7, Rn 4.
164
Urteil der Verwaltungskammer der EKiR v. 21.12.1983, S. 12 (wiedergegeben bei Becker, KORh, Art. 7, Rn 4). 165
Diese sind festgelegt im Beschluß der Landessynode vom 15. Januar 1981 (KAB1. S. 39) "Verbindliche Beschlüsse der Landessynode". Danach erfordert eine Verbindlichkeit die eindeutige Bindungserklärung unter Angabe der gesetzlichen Grundlage sowie die Veröffentlichung oder sonstige Mitteilung des Beschlusses. Hier fehlt es bereits an einer Verbindlichkeitserklärung im Beschluß Nr. 129 v. 13.01.1993.
160
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
waltung, Finanzen und über die geistigen Belange der Gemeinde166. Aus der allgemeinen Leitungskompetenz des Art. 104 KORh folgt auch das Hausrecht des Presbyteriums, weil eine besondere Regelung fehlt 167 . Somit ist das Presbyterium für die Asylentscheidung zuständig. Soweit beim sog. lauten Kirchenasyl168 massive Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird, gehört auch diese Tätigkeit gemäß Art. 106 lit. k) zu den Aufgaben der Presbyteriums. Entscheiden einzelne Gemeindemitglieder oder der Pfarrer allein über die Aufnahme von Flüchtlingen in kirchlichen Räumen, setzen sie sich über die Entscheidungsbefugnis des Prebyteriums hinweg169. In einem solchen Fall ist kein Kirchenasyl gegeben. Ein (mitverantwortlicher Pfarrer verletzt seine Amtspflicht durch Mißachtung der Rechte des Presbyteriums 170. In Eilfällen hat der Vorsitzende des Presbyteriums allerdings die Notkompetenz des Art. 123 Abs. 2 KORh, muß aber die nachträgliche Zustimmung des Gremiums einholen. Soll die Unterbringung im Pfarrhaus erfolgen, ist eine gesonderte Entscheidung des Pfarrers als des Hausrechtsinhabers erforderlich, wie auch der zitierte Landessynodalbeschluß feststellt 171. In Anbetracht der das Hausrecht überschreitenden Wirkung einer Asylgewähr kann dabei aber auf einen Beschluß des Presbyteriums nicht verzichtet werden172.
166
Becker, KORh, Vorb. zu Art. 104 - 136.
167
Aus Art. 20 KORh ergibt sich lediglich, daß bei einer nichtkirchlichen Nutzung eines Gebäudes die Zustimmung des Superintendenten erforderlich ist. 168
Oben S. 75 f.
169
Eine Delegation ist nur unter ganz engen Voraussetzungen (regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen ohne besondere Relevanz) zulässig, die bei immer brisanten Asylentscheidungen gerade nicht vorliegen; vgl. zur Delegation näher Becker, KORh, Art. 20, Rn 6 und 27. 170
Vgl. nur den Beschluß der Kammer für Amtszucht der NEK vom 17.1.1980 (ZevKR 26 -1981-, S. 188 ff.). In dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt hatten mehrere Pfarrer aus Protest gegen die Nutzung der Kernernergie an einer sog. Kirchenbesetzung teilgenommen, welches das Gericht als Amtspflichtverletzung wegen Eingriffs in die Rechte des Kirchenvorstands wertete, ohne auf die Frage des geltend gemachten "Asyls" einzugehen; vgl. auch die Anmerkung Blaschkes, ZevKR 26, S. 195. 171
Oben S. 156.
172
Vgl. zum Hausrecht oben S. 157 f.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
161
(b) Mitwirkung des Superintendenten gemäß Art. 20 Abs. 3 KORh; Verfahren und Form gemäß Art. 117 ff. KORh Zweifelhaft könnte sein, ob verfahrensrechtlich ein weiteres Organ mitwirken muß. Gemäß Art. 20 Abs. 3 KORh bedarf es zur Überlassung kirchlicher Gebäude zu anderen als gemeindlichen Veranstaltungen neben dem Beschluß des Presbyteriums einer Zustimmung des Superintendenten173. Sie ist zu versagen, wenn die Veranstaltung der Bestimmimg der Gebäude widerspricht, womit keiner besonderen Heiligkeit, sondern dem Anstandsgefühl der Gläubigen Rechnung getragen wird 174 . Die Gewährung von Kirchenasyl zeichnet sich durch die verantwortliche Trägerschaft der Gemeinde im Sinne eines "Asyls in der Gemeinde" aus, so daß stets eine gemeindliche und keine Veranstaltung Dritter gegeben ist. Art. 20 Abs. 3 KORh ist daher nicht einschlägig. Einer Mitwirkung des Superintendenten bedarf es nicht. Im Beschlußverfahren sind die Art. 117 bis 121 KORh zu beachten. Für die Abstimmungsentscheidung genügt gemäß Art. 119 Abs. 2 die einfache Mehrheit, obgleich gemäß Art. 119 Abs. 1 ein einmütiger Beschluß anzustreben ist. Formell bedarf der Asylgewährungsbeschluß gemäß Art. 122 Abs. 1 seiner Niederschrift im Protokollbuch und ist gemäß Art. 122 Abs. 2 vom Vorsitzenden und zwei weiteren erschienenen Mitgliedern des Presbyteriums zu unterzeichnen.
(2) Materielle Rechtmäßigkeit In materieller Hinsicht könnten sich Beschränkungen aus dem Sinn und Zweck der Interzession sowie aus sonstigem Kirchenrecht ergeben.
(a) Die sich aus dem Sinn und Zweck der Interzession ergebenden Beschränkungen Der jeweilige Presbyteriumsbeschluß müßte vom Rechtsgedanken der Interzession gedeckt sein. Er besteht, wie gesehen, in der Erwirkung eines außerordentlichen Rechtswahrungsverfahrens und strebt im demokratischen Rechtsstaat eine Verhandlungspartnerschaft mit dem Staat an 175 . Es ist zwischen abstrakten und konkreten Asylbeschlüssen zu unterscheiden. 173
Vgl. näher Becker, KORh, Art. 20 Rn 6.
174
Becker, KORh, Art. 20, Rn 7 u. 18.
175
Vgl. oben S. 71 f.
11 Grefen
162
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(aa) Vorratsbeschlüsse Vorratsbeschlüsse verlautbaren die abstrakte Absichtserklärung einer Kirchengemeinde, im Notfall Asyl zu gewähren176. Sie haben eine nach innen oder außen wirkende Signalfunktion, zeitigen aber keine unmittelbar rechtlichen Wirkungen. Insbesondere gestatten sie einzelnen Gemeindemitgliedern nicht, einen Fall des Kirchenasyls auszurufen, weil es zumindest zur Feststellung der im Vorratsbeschluß genannten Voraussetzungen einer weiteren Presbyteriumsentscheidung bedarf. (bb) Konkrete Asylgewährungsbeschlüsse Bei den konkreten Asylbeschlüssen sind die jeweils angestrebten Formen des Kirchenasyls, wie sie oben (C. II. 3.) näher beschrieben sind, zu beachten. Dabei kommt es nicht darauf an, daß Presbyteriumsbeschlüsse regelmäßig nur von "Kirchenasyl" oder "Unterbringung in der Gemeinde" ohne nähere Benennung der Art und Weise der Ausführung sprechen, sondern es ist ihr Sinngehalt anhand der tatsächlich angestrebten Asylform zu erfassen. (aaa) Beschlüsse betreffend das öffentliche Kirchenasyl Beim offenen Kirchenasyl will die Gemeinde mit den staatlichen Stellen eine Einigung über das weitere Schicksal des Asylbewerbers erzielen 177. Sie beabsichtigt nicht, den betreffenden Flüchtling dem Zugriff des Staates zu entziehen, hofft aber, daß die Behörden sich auf Verhandlungen einlassen. Diese Form bildet den Prototyp des Interzessionsasyls, dessen Sinn und Zweck in der Revision einer bereits getroffenen staatlichen Letztentscheidung liegt. (bbb) Beschlüsse betreffend das versteckte Kirchenasyl Dem gegenüber steht das versteckte Asyl, das kein gesondertes Rechtswahrungsverfahren erzwingen, sondern den Asylbewerber einem staatlichen Zugriff dauerhaft entziehen will 1 7 8 . Diese Form mag zwar im Einzelfall einer Gemeinde geboten erscheinen, kann sich aber nicht auf den Gedanken der Interzession berufen. Das folgt zwar nicht bereits daraus, daß ein gezieltes und dauerhaftes Verstecken möglicherweise gegen strafrechtliche Bestimmungen verstößt, weil eine Interzession prinzipiell auch in rechtswidriger Form denkbar ist 179 . Der Sinn der Interzession besteht jedoch darin, den staatlichen Be176 Zum Begriff Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. m, S. 616. 177
Oben S. 79 f.
178
Oben S. 80.
179
Siehe zur Streitfrage, ob auch ein Verstoß gegen staatliches Recht die Kirchenleitung nach Art. 219 KORh zur Aufhebung verpflichtet unten S. 176.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
163
hörden durch Verhandlungen eine erneute Sachentscheidung abzuringen. Daraus folgt, daß eine Berufung auf das Interzessionsrecht ausscheidet, wo dem Staat durch das Verstecken von Flüchtlingen die letzte Entscheidung faktisch genommen ist. (ccc) Beschlüsse betreffend das halboffene Kirchenasyl Das halboffene Kirchenasyl erstrebt ebenso wie das offene Kirchenasyl eine Verhandlungslösung, legt aber aus taktischen Gründen den derzeitigen Aufenthalt des Flüchtlings nicht offen 180. Es wird daher vom Interzessionsrecht gedeckt, trotz möglicher strafrechtlicher Verstöße. (ddd) Sonstige Asylbeschlüsse Für die sonstigen Asylformen ergeben sich unter dem Gesichtspunkt der durch die Interzession anzustrebenden Verhandlungspartnerschaft keine Besonderheiten. Die Gemeinden verfügen über einen weiten Entscheidungsspielraum für die konkrete Ausgestaltung, sei es als lautes oder leises, sei es als akutes oder präventives Kirchenasyl 181. Eine Grenze ergibt sich beim lauten Kirchenasyl in einer Form der anklagenden oder schmähenden Öffentlichkeitsarbeit, die Verhandlungspartnerschaft schlichtweg ausschließt. Die Grenze wird regelmäßig beim "Wanderkirchenasyl" überschritten sein, sofern es sich nicht ohnehin als Kirchenbesetzung darstellt 182.
(b) Die aus dem Grundsatz der ultima ratio folgenden Beschränkungen Eine weitere Einschränkung des Interzessionsrechts folgt aus dem Grundsatz der ultima ratio. Die genannten Handlungsanleitungen183 konkretisieren ihn für den Fall des Kirchenasyls. Dahinter steht der auch im Kirchenrecht geltende Gedanke der Verhältnismäßigkeit: Beistandshandlungen die möglicherweise gegen staatliches Recht verstoßen, sind im demokratischen Rechtsstaat erst dann erforderlich, wenn alle Rechtmittel ausgeschöpft sind. Das Gebot aus der Apostelgeschichte "Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen!" (5, 25) entfaltet erst dann seine Geltungskraft, wenn der Konflikt unvermeidlich ist. Darüber hinaus gebietet die ultima ratio, daß die Gemeinde eine Asylentscheidung gegenüber den Behörden mit nachvollziehbaren Argumenten plausibel machen kann. Daher darf kein Asyl zur Unzeit und ohne
180
Oben S. 81.
181
Oben S. 73 ff. Oben S. 77 f.
182 183
Oben S. 152 f.
164
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
durch substantiiertes Vorbringen begründete Hoffnung auf ein Einlenken der Behörden gewährt werden.
(c) Beschränkungen aus dem Staatskirchenvertragsrecht, insbesondere aus den Freundschaftsklauseln
Aus vertragsrechtlicher Sicht könnten die in zahlreichen Staatskirchenverträgen enthaltenen sog. Freundschaftsklauseln Einschränkungen ergeben184. Im Vertrag der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche mit dem Land Nordrhein-Westfalen vom 29.11.1984185 sind sich die Vertragsschließenden nach Art. IX Abs. 1 einig, über alle Fragen, die sich aus den Bestimmungen des Vertrages ergeben, in Fühlung zu bleiben und "m Zukunft zwischen ihnen entstehende Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung einer Bestimmungen dieses Vertrages auf freundschaftliche Weise (zu) beseitigen" 1* 6. Art. IX Ab 2 bestimmt, daß die Vertragsschließenden gegebenenfalls "mit dem Ziel einer freundschaftlichen Verständigung Verhandlungen über eine Anpassung diese Vertrages führen" 1* 1. Art. 8 des saarländischen Kirchenvertrags sieht eine "vertrauensvolle Zusammenarbeit der Vertragsschließenden" bei allen Fragen vor, die sich aus dem Vertrag ergeben. Unabhängig von Problemen der Vertragsauslegung und -gestaltung werden gemäß Art. 3 des rheinland-pfalzischen Kirchenvertrages die Landesregierung und die Kirchenleitungen zur Pflege ihrer Beziehungen regelmäßige Begegnungen anstreben, sich vor der Regelung von Angelegenheiten, welche die beiderseitigen Interessen berühren,
184
Siehe zu den Freundschaftsklauseln die Übersicht bei Listi , Konkordate und KirchenVerträge, Bd. I, Einleitung, S. 13 f. 185
KAB1. 1985, S. 1 ff.
186
Ähnliche oder gleichlautende Bestimmungen finden sich in den sonstigen Verträgen, an welchen die EKiR als Unterzeichnende beteiligt ist, so im Preußischen Kirchenvertrag vom 11. 5. 1931 (Art. 12) (gemäß Art. 23 Abs. 1 LVerfNW fortgeltendes Recht), im nordrhein-westfalischen Kirchenvertrag vom 9. 9. 1957 (§ 2), im rheinlandpfälzischen Kirchenvertrag vom 31.3. 1962 ( Art. 29), im hessischen Kirchenvertrag vom 18. 2. 1960 (Art. 23) und im saarländischen Kirchenvertrag vom 25. 2. 1985 (Art. 8), sämtlich abgedruckt bei Hönscheid/Hinterthür, Rechtssammlung der Ev. Kirche im Rheinland (Loseblatt, Stand: 1.-22. Lieferung, Feb. 1996) hrsg. v. Landeskirchenamt der EKiR, Bd. I, Nr. 155 - 168. Für die katholische Kirche sind beispielhaft anzuführen die ähnlichen Freundschaftsklauseln der Art. 33 Abs. 2 des Reichskonkordats v. 1933 (bei Listi, Konkordate und Kirchenverträge, Bd. I, S. 54) und Art. 19 Abs.l des niedersächsischen Konkordats von 1965 (bei Listi, ebd., Bd.n, S. 18). 187
Vgl. Art. 9 SaarlKV, in: Hönscheid/Hinterthür, Rechtssammlung der Ev. Kirche im Rheinland, Bd. I, Nr. 168.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
165
miteinander ins Benehmen setzen und sich jederzeit zur Erörterung solcher Fragen zur Verfügung halten188. Die zitierten Bestimmungen zielen darauf ab, ein loyales und freundschaftliches Verhältnis und Zusammenwirken des staatlichen und kirchlichen Vertragspartners auf Dauer sicherzustellen189. Sie lassen ein allgemeines Kooperations-, Koordinations- und Konsultationsprinzip als gemeinsame Geschäftsgrundlage zwischen Staat und Kirche erkennen190. Die Freundschaftsklauseln betreffen zwar in erster Linie Fragen, die Vertragsgegenstände zum Inhalt haben, wozu das Kirchenasyl nicht zählt. Einige Verträge greifen aber darüber hinaus, wenn dort eine Abstimmung in zukünftigen Angelegenheiten beiderlei Interesses angestrebt wird. Die Ausgestaltung des Asylrechts liegt im beiderseitigen Interèsse. Daher sind die Vertragspartner, und über die jeweilige Landeskirche zumindest mittelbar auch ihre Kirchengemeinden, im Sachbereich des Kirchenasyls an die hinter den Freundschaftsklauseln stehenden Prinzipien gebunden191. Aus ihnen könnte sich ein Zurückhaltungsgebot für die einzelne Kirchengemeinde dergestalt ergeben, daß eine Aufnahme und Unterbringung von abzuschiebenden Asylbewerbern unzulässig ist. Das wäre der Fall, wenn Kirchenasyl gegen das Kooperations-, Koordinations- und Konsultationsprinzip verstieße192. Dem widerspricht allerdings bereits die Grundintention des Interzessionsasyls, die gerade die Konsultation durch den Staat sucht und auf Kooperation angelegt ist, um eine Verhandlungslösung herbeizuführen. Zudem haben Kirchenvertreter in Spitzengesprächen mit staatlichen Stellen immer wieder die Position 188
So auch in Art. 19 Abs. 1 des niedersächsischen Konkordats v. 1965.
189
Listi, Konkordate und Kirchenverträge, Bd. I, Einleitung, S. 13; vgl. Albrecht, Koordination von Staat und Kirche, S. 304. 190
Zur Kooperation vgl. Listi, Konkordate und Kirchenverträge, Bd. I, Einleitung, S. 23; ders., Kirche und Staat nach dem CIC v. 1983, EssGespr 19, S. 31; Hollerbach, Die vertragl. Grundlagen, in: HdbStKirchR, Bd. I, S. 262 f. sowie jüngst der Ev. Kirchenvertrag von Mecklenburg-Vorpommern (1994), wonach "die Trennung von Staat und Kirche gleichermaßen Distanz und Kooperation gebietet", zustimmend v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 99, kritisch M. Heckel, Kirche und Staat, in: HdbStKirchR I, S. 172 - 176. Zum Koordinationsprinzip grundlegend Albrecht, Koordination von Staat und Kirche, S. 39 - 42 sowie zum Grundproblem Koordination und (gegen) Souveränität, Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 1 - 45, insbes. S. 7 ff. 191
Für eine Anwendbarkeit des Prinzips der Freundschaftsklauseln auf das Problem "Kirchenasyl" auch Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S. 618, der daraus eine Verhandlungspflicht des Staates ableitet, dazu unten S. 262. 192
So etwa der bayrischen Innenministers Beckstein in seiner Stellungnahme "Nach den Asylentscheiden des BVerfG", Ev. Verantwortung Heft 9/1996, S. 1 ff.
166
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
der Kirche bezüglich der als diskriminierend und gefährdend empfundenen staatlichen Asyl- und Fremdenpolitik dargelegt193. Daraus folgt, daß die kirchliche Seite dem in den Freundschaftsklauseln vorgesehenen Procedere nachgekommen ist, so daß sich eine kirchliche Asylgewährung vor diesem Hintergrund nicht verbietet. Eine Ausnahme bildet nur das versteckte Kirchenasyl, das einer Kooperation den Boden entzieht und somit gegen das Prinzip der Freundschaftsklauseln verstößt194.
(d) Beschränkungen aus dem Grundsatz der Überparteilichkeit Beschränkungen der Befugnis kirchlicher Asylgewährung könnten sich aus dem Grundsatz der Überparteilichkeit kirchlichen Wirkens ergeben. Seine Verletzung scheidet aus, wenn und soweit Kirchenasyl vom Öffentlichkeitsauftrag der Kirche gedeckt ist. (aa) Überparteilichkeit und Mäßigung als Rechtsgrundsätze kirchlichen Wirkens; insbesondere im Pfarrerdienstrecht Der Überparteilichkeitsgrundsatz fordert von den kirchlichen Organen und Amtsträgern Mäßigung, Unabhängigkeit und Überparteilichkeit bei der Verfolgung politischer Anliegen sowie bei politischen Stellungnahmen195. Der Überparteilichkeitsgrundsatz kommt besonders im Pfarrerdienstrecht zum Ausdruck 196. So regelt das für die Pfarrer der rheinischen Landeskirche maß-
193
Siehe zu dazu bereits oben S. 115 ff.
194
Zu den Freundschaftsklauseln aus verfassungsrechtlicher Sicht s. unten S 262.
195
Dazu grundlegend die EKD-Denkschrift "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" (1970), insbes. Rn 43, 49, 60 u. Abschnitt V "Gesichtspunkte zur Erarbeitung kirchlicher Stellungnahmen"(Rn 61 - 71), in: Kirchenkanzlei der EKD, Die Denkschriften der EKD, Bd. 1/1, S. 43 ff, und die "Leitlinien zu politischen Stellungnahmen aus dem kirchlichen Bereich" des Landeskirchenrates und Landessynodalausschuß der Ev.-lutherischen Kirche in Bayern vom 26.10.1987, veröffentlicht in der Rechtssammlung der ELKiB, hrsg. v. Landeskirchenrat, bearbeitet v. Jost Heinzel, als Anhang zum PfG (Nr. 500 der Sammlung); vgl. auch Becker, KORh Art. 20, Rn 13. Zur o.g. sog. "Denkschriften-Denkschrift" s. M. Hechel, Kirche und Staat, in: HdbStKirchR I, S. 190 ff, insbes. zu den Kriterien der Sach- und Schriftgemäßheit kirchl. Äußerungen, m.w.N. 196
Vgl. Pirson, Kirchenrechtliche Bewertung politischer Aktivitäten, in: FS Obermayer, S. 302 sowie zum Pfarrerdienstrecht bzgl. politischer Betätigung näher Maurer, Freiheit und Bindung kirchlicher Amtsträger, ZevKR 19 (1974), S. 30 ff, insbes. S. 53 sowie Flor, Politische Aktion, Kirche und Recht, S. 34 f.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
167
gebliche Pfarrerdienstgesetz der E K U 1 9 7 in § 34 PfDG das Äußerungsrecht des Pfarrers zu Fragen des öffentlichen Lebens. Danach hat ein Pfarrer bei allen diesbezüglichen Stellungnahmen und bei politischer Betätigung zu bedenken, daß ihn sein Amt an die ganze Gemeinde weist und mit der gesamten Kirche verbindet, daß Person und Amt im Bewußtsein der Öffentlichkeit untrennbar sind 1 9 8 . Ähnliche Bestimmungen finden sich in § 29 PfDG der Evangelischreformierten Kirche 1 9 9 und § 58 Abs. 1 PfG der V E L K D 2 0 0 . Der Überparteilichkeitsgrundsatz verbietet ferner, Kirchen oder sonstige kirchliche Bauten für politische Wahl- oder Parteiveranstaltungen zur Verfügung zu stellen, weil sonst der Anschein einer Identifikation der Gemeinde mit einer bestimmten politischen Richtung entstehen könnte 201 . Eine derartige Verwendung widerspricht der Zweckbestimmung kirchlicher Gebäude und verstößt daher gegen Art. 20 Abs. 3 S. 3 KORh. Einen entsprechenden Presbyteriumsbeschluß muß die Kirchenleitung gemäß Art. 219 KORh aufheben 2 0 2 . Demnach würde ein asylgewährender Presbyteriumsbeschluß gegen das Kirchenrecht verstoßen, wenn darin eine Verletzung des Überparteilichkeits197 Kirchengesetz über die dienstrechtlichen Verhältnisse der Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Union (in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 1991 ABl. EKD, S. 238 ff.). 198 Das Ausführungsgesetz der EKiR verpflichtet gemäß § 3 S. 1 AG PfDG Pfarrer, die mit oder ohne Auftrag von politischen Gruppen oder Parteien politische Aufgaben übernehmen wollen, vorher Art und Umfang dieser Aufgaben der Kirchenleitung anzuzeigen. Die Kirchenleitung kann gemäß § 3 S. 2 AG PfDG die Übernahme solcher Aufgaben untersagen. 199 Kirchengesetz zur Regelung der Rechtsstellung der Pfarrer der Evangelischreformierten Kirche (i. d. Fassung v. 19. März 1993 - GVB1., Bd. 15, S. 73; Bd. 16, S. 75, 177), § 29 lautet weniger konkret: "Die Pflicht und das Recht des Pfarrers zur Predigt des Evangeliums, das den Glauben und das Handeln in allen Bereichen des Lebens betrifft, werden durch die Heilige Schrift wie sie in den Bekenntnisschriften (§ 1 der Kirchenverfassung) erläutert wird, begründet und begrenzt." 200 Kirchengesetz zur Regelung des Dienstes von Pfarrerinnen und Pfarrern in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschland (i.d. Fassung v. 4. April 1989 - ABl. VELKD, Bd. VI, S. 82 ff.), § 58 Abs. 1 lautet: "Der Pfarrer ist auch bei politischer Betätigung seinem Auftrag verpflichtet; er ist seinen Dienst allen Gemeindemitgliedern ohne Ansehen ihrer politischen Einstellung schuldig. Er hat die Grenzen zu beachten, die sich hieraus für Art und Maß seines politischen Handelns ergeben." 201
Becker, KORh, Art. 20, Rn 13. Zweifelhaft ist, ob auch nach der geltenden KO ν. 1953, die nicht mehr zwischen Kirchen und anderen kirchlichen Bauten unterscheidet (so noch § 91 der KO ν. 1923), für Kirchen strengere Maßstäbe anzulegen sind, s. dazu Becker, a.a.O., Rn 12. 202
Becker, KORh, Art. 20, Rn 13 m. Hw. a. LKA Nr. 6568 Αζ. 42, Gemeindeverband Gemarke-Wupperfeld 8 vom 03.03.1986.
168
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
und Mäßigungsgrundsatzes läge. Zugleich wäre beteiligten Pfarrern eine Verletzung ihrer Pflicht aus § 34 PfDG vorzuwerfen. (bb) Kirchenasyl als Ausdruck politischen Wirkens Eine Verletzung des Überparteilichkeitsgrundsatzes setzt voraus, daß die fragliche Beistandshandlung überhaupt in seinen Anwendungsbereich fällt. Zwar soll jede Instrumentalisierung der Asylflüchtlinge zur Verfolgung politischer Anliegen vermieden werden. Das Kirchenasyl ist jedoch im Kontext der kirchlichen Kritik an der staatlichen Asylpolitik zu sehen203. Der Zusammenhang zwischen einzelfallbezogener Hilfeleistung und politischer Stellungnahme verdeutlicht sich in dem geltend gemachten Argument, wonach Kirchenasyl nur in dem Maße nötig und richtig sei, in dem das staatliche Asylrecht Mängel aufweise 204. Die konkrete Beistandshandlung ist damit auch Votum gegen die herrschende Praxis des Asylverfahrens und ein Appell an die politisch Veranwortlichen, durch Verbesserungen im Asylverfahren Kirchenasyl überflüssig zu machen205. Sie greift in ein gesellschaftspolitisches Konfliktfeld ein, dessen Brisanz die Debatte um die Neuregelung des Grundrechts auf Asyl vor Augen gefuhrt hat 206 . Als politische Betätigung der Kirche reicht das Kirchenasyl über den Bereich privater politischer Aktivität einzelner Christen hinaus207 und wirkt innerhalb wie außerhalb der Kirchengemeinde doppelt polarisierend. Zum einen fordert es als rechtlich umstrittene Handlungsform selbst Ablehnung heraus. Zum anderen sieht sich der Adressat der Fürsorge, der ausländische Flüchtling, vielfachen Vorbehalten bis hin zur offenen ausländerfeindlichen Abnei-
203
Oben S. 122.
204
So die ganz h.M. der Befürworter des Kirchenasyls, siehe nur W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 417. 205
W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 417.
206
Siehe dazu oben S. 114 ff. sowie W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 417.
207
Besondere Probleme wirft die Frage auf, wann die Äußerung einzelner Christen als eine Äußerung der Kirche aufzufassen ist, welches besonders für die ev. Kirche bedeutsam ist, die, anders als die katholische Kirche, kein Lehramt kennt. Die Schriftund Bekenntnisgemäßheit einer Äußerung gilt als theologisch tragender Zurechnungsgrund, mit Ausnahme solcher Äußerungen, die die Kirche im allgemeinen Rechtsverkehr tätigt und wo es auf die allgemeinen Vertretungsregeln im Rahmen der Kompetenzen ihrer Organ ankommt, vgl. dazu nur EKD-Denkschrift "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen"(1970), Rn. 30-35, in: Kirchenkanzlei der EKD, Die Denkschriften der EKD, Bd. 1/1, S. 43 ff. (S. 58 - 61). Die Frage der Schriftgemäßheit bedarf beim Kirchenasyl keiner Entscheidung, weil es seinem Begriff nach immer von einer Kirchengemeinde und nicht von einzelnen Christen verantwortet wird.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
169
gung ausgesetzt, wobei sich beides freilich nicht decken muß. So führen Kirchenasylfalle in der Regel zu einer klaren Spaltung der Kommentatoren in Befürworter und Gegner, was sich vor allem innerhalb einer Kirchengemeinde praktisch auswirken kann. Einzelne Gemeindemitglieder meiden aus Protest gemeindliche Gottesdienste und Veranstaltungen, andere sind beeindruckt von dem konkreten Engagement für benachteiligte Menschen und finden so den Weg zurück in die Kirche 208 . Somit fällt die Aktionsform des Kirchenasyls als politisch wirksame Handlungsweise in den Anwendungsbereich des kirchenrechtlichen Überparteilichkeits- und Mäßigungsgrundsatzes. Das gilt für das öffentliche und medienorientierte ebenso wie für das stille Kirchenasyl, das sich mit seinen Forderungen direkt an die Behörden wendet. (cc) Kirchenasyl als Wahrnehmung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags Kirchenasyl verstößt nicht gegen den Überparteilichkeitsgrundsatz, wenn und soweit der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag es deckt. Der Überparteilichkeitsgrundsatz enthält im Kern das Gebot der Nichtidentifikation der als Institution handelnden Kirche 209 und ihrer Amtsträger 210 mit bestimmten politischen Parteien oder Gruppierungen. Anderenfalls sähe sich ein Kirchenmitglied vor die Wahl gestellt, entweder seiner Kirche fernzubleiben oder aber in die Nähe einer bestimmten politischen Richtung gerückt zu werden. Damit sichert der Überparteilichkeitsgrundsatz den umfassenden Sammlungs- und Sendungsauftrag der Kirche (vgl. Matthäus 28, 18 ff.). Zunächst ist festzustellen, daß Kirchenasyl sich nicht einer bestimmten politischen Richtung oder Partei verschreibt. Insoweit scheidet eine Verletzung des Überparteilichkeitsgrundsatzes aus. Allerdings beinhaltet der Grundsatz auch ein Mäßigungsgebot, das bestimmte spektakuläre Formen politischer Äußerung ausschließt, weil hier die polarisierende Wirkung in den Vordergrund rückt 211 . Dazu wird teilweise auch das Kirchenasyl gerechnet, ohne daß
208 Als Beispiel für die Spannungen in einer Gemeinde siehe den Bericht von Suberg, Kriterien für Kirchenasyl am Beispiel einer Gemeinde in Dortmund, hier die Interviews mit verantwortlichen Gemeindemitgliedern im Anhang. 209
Zur Frage der institutionellen Bindung der Kirche s. o. S. 168.
210
Zur Frage der Zulässigkeit politischer Betätigung im außerdienstlichen Bereich Maurer, Freiheit und Bindung kirchlicher Amtsträger, ZevKR 19 (1974), S. 54 ff sowie Flor, Politische Aktion, Kirche und Recht, S. 35 f. 211
Beispiele spektakulärer Aktionen bei M. Heckel, Kirche und Staat, in: HdbStKirchR I, S. 161, über deren Einschlägigkeit sich allerdings streiten läßt. Heckel zählt u.a. auf: Teilnahme kirchlicher Amtsträger im Talar an gewalttätigen Demonstrationen, Aufrufe zum "zivilen Ungehorsam", moralische Unterstüzung der Hamburger
170
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
auf die Frage seiner kirchenrechtlichen Zulässigkeit näher eingegangen wird 212 . Das Mäßigungsgebot verlangt indessen weder Neutralität noch politische Abstinenz. Die evangelische Kirche nimmt im Gegenteil unter dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einen theologisch begründeten Öffentlichkeitsauftrag 213 wahr. Die gemäß Art. 1 Abs. 3 EKD GO im Rang einer Bekenntnisschrift stehende Barmer Theologische Erklärung von 1934214 stellt in ihrer zweiten These fest, daß es nach protestantischer Lehre keine Lebensbereiche gibt, in denen der Christ nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wäre 215. Die fünfte These verwirft "die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden" und ferner "die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus (...) staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden"216. Aus diesen im Kontext nationalsozialistischer Vereinnahmung formulierten Thesen folgt auch heute das Bekenntnis, daß die evangelische Kirche sich weder in den Dienst des Staates stellen lassen217 noch sich einer falschverstan-
"Hafenstraße", aktive Werbung für Kriegsdienstverweigerung, pazifistischer Steuerboykott, Sympathiekundgebungen für Terroristen. 212
M. Heckel, ebd.: " 'Asylgewährung' für fahnenflüchtige Soldaten und abgelehnte Asylbewerber mit rechtskräftigem Abschiebungsbescheid durch Verbergen in kirchlichen Räumen gegen polizeilichen ZugrifF'. 213 Dazu näher Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 131 ff.; Pirson, Art. Öffentlichkeitanspruch, in: EvStL, Bd. 2, Sp. 2278 - 2284; Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche; primär aus theologischer Sicht W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit; kritisch M. Heckel, Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, in: HdbStKirchR I, S. 162 f.
214 Art. 1 Abs. 3 der EKDGO lautet: "Mit ihren Gliedkirchen bejaht die Evangelische Kirche in Deutschland die von der ersten Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen. Sie weiß sich verpflichtet, als bekennende Kirche die Erkenntnisse d Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen". Im Grundartikel der KORh heißt für die EKiR unter I. "Sie bejaht die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche von Barmen als eine schriftgemäße, für den Dienst der Kirche verbindliche Bezeugung des Evangeliums." 215 Abgedruckt bei Becker (Hrsg.), Evangelisches Kirchenrecht im Rheinland, Nr. 1.4, S. 81 ff. 216 217
Ebd., S. 83.
Vgl. Honecker, Auftrag der Kirche, EssGespr 25, S. 73: Keine Vergötzung des Staates.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
171
denen, apolitisierenden, Zwei-Reiche-Lehre218 verschreiben darf. Vielmehr fordert es eine Mitverantwortung der Kirche in der Welt, und damit ihr Tätigwerden im Bereich des Öffentlichen 219. Positivrechtlich faßte den Begriff des Öffentlichkeitsauftrags erstmals der niedersächsische Kirchenvertrag (Loccumer Vertrag) vom 19.03.1955220. Nach dessen Präambel sind die Bestimmungen getroffen "in Übereinstimmung über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und ihre Eigenständigkeit". Terminologie wurde in weiteren Staatskirchenverträgen beibehalten221. Der Öffentlichkeitsauftrag ist für beide großen Kirchen verbindlicher Bestandteil des Staatskirchenrechts, dem über die Einzelverträge hinaus normative Wirkung zukommt222. Zugleich ist er nach dem Selbstverständnis der Kirchen auch als Rechtsgrundsatz ihres jeweiligen Kirchenrechts anzusehen223. Hinter dem Begriff des Öffentlichkeitsauftrags verbirgt sich der kirchliche Anspruch, freimütig von der in Christus geofifenbarten Versöhnung Gottes mit der Welt zu predigen und mit dem aufgetragenen Dienst am Nächsten Verantwortung für die Welt wahrzunehmen224. Um diesem Auftrag gerecht werden zu können, erhebt die Kirche Anspruch auf öffentliche Wirksamkeit im gesellschaftlichen und politischen Bereich 225. Sie sieht sich in ihrer Verkündi218
Zu dieser Verfremdung der Zwei-Reiche-Lehre im 19. u. 20. Jhd. M. Heckel, Kirche und Staat, in: HdbStKirchR I, S. 177 f. 219 Vgl. EKD-Denkschrift "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen"(1970), Rn 19-23, in: Kirchenkanzlei der EKD, Die Denkschriften der EKD, Bd. 1/1, S. 53 f; Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 146. Vgl. Quandt, Wider den totalen Staat, in: Publik-Forum Nr. 11 v. 10.6.1994, S. 20 ff., der das Kirchenasyl unter dem Gesichtspunkt der Banner Erklärung behandelt und die These vertritt, daß mit dem Asyl- und Fremdenthema ein zentraler Punkt des Bekenntnisses aufgerufen ist (S. 20). 220
Abgedruckt bei Listi, Konkordate und Kirchenverträge, Bd. 2, S. 110.
221
Siehe für beide Kirchen bei Listi, Konkordate und Kirchenveträge, Bd. I, S. 641 u. 696 (Berlin), S. 803 (Hessen), Bd. Π, S. 488 (Rheinland-Pfalz), S. 666 (SchleswigHolstein). 222
Im Anschluß an Smend, Der Niedersächsische Kirchenvertrag, JZ 1956, S. 50; vgl. Robbers, Das Verhältnis von Staat und Kirche, in: Die Rechtsstellung der Kirchen im geteilten Deutschland, S. 13; kritisch Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 135, der die Bedeutung des Öffentlichkeitsauftrages als mittlerweile etwas "abgeflacht" bezeichnet, aber im Grundsatz zustimmt; siehe auch BVerfGE 18, 385 (387) "öffentliche, aber nicht staatliche Gewalt". 223
Das ergibt sich für die Ev. Kirche u.a. aus der Barmer Erklärung v. 1934 und für die Kath. Kirche aus can. 747 § 2 CIC sowie ihrer Soziallehre, dazu unten S. 180. 224
Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 131 f.
225
Vgl. Schiaich, ebd., Fn. 3, m. Hw. auf verschiedene Terminologien m.w.N.
Die
172
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
gung in der jeweiligen Umwelt zu Abgrenzungen gegenüber bestimmten politischen Vorstellungen, Zielen oder Zuständen veranlaßt, ebenso wie zur Vermittlung von Einsichten und Anregungen im Hinblick auf soziale Aufgaben226. In ihrer Anwaltsfunktion 227 stellt sie sich an die Seite der schwachen und benachteiligten Menschen, die keine gesellschaftliche Lobby haben228. Sie betrachtet sich als deren Fürsprecher und sucht damit einer "Komplicenschaft des Schweigens"229 zu entgehen. Allerdings darf trotz der theologischen Umschreibungen nicht verkannt werden, daß eine juristisch verwertbare Definition des Öffentlichkeitsauftrags bislang nicht gelungen ist 230 . So ist in vielen Fragen des öffentlichen Lebens eine Politisierung der Kirche zu beobachten, die als eine Gefährdung ihrer Einheit unter gleichzeitiger Vernachlässigung fundamentaler theologischer Fragen beklagt wird 231 . Ihr wird eine Ideologieanfalligkeit vorgeworfen, die sie zu theologischen Äußerungen zu Fragen der Verfassung, des Rechts, der Wirtschaft oder der Technologie verleite, die, einseitig und ohne Sachkunde vertreten, Zweifel an der Seriosität kirchlichen Wirkens und an der Überzeugungskraft ihrer Botschaft nicht nur in Sachen der Welt, sondern auch des Heils begründeten232. Mit Rücksicht auf diese Kritik sind jedenfalls die Denkschriften der EKD als Form von gewissenhaft vernünftiger Argumentation und dialogischem
226
Pirson, Art.: Öffentlichkeitsauftrag, in: EvStL, Sp. 2279 f.
227
Dazu Honecker, Art.: Sozialethik, in: EvStL Π, Sp. 3191 ff.
228
Vgl. Gohde, Bericht des Diakonischen Werkes der EKD "Zur Anwaltschaft herausgefordert" 1996, S. 1 ff., insbes. S. 13 f. Die Ombudsfunktion der Kirche im Zusamenhang mit Kirchenasyl betont Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 136 ff. 229 EKD-Denkschrift "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen"(1970) Rn. 59, in: Kirchenkanzlei der EKD, Die Denkschriften der EKD, Bd. 1/1, S. 69. 230
So Schiaich, HdbStKirchR Π, S. 132.
231
So M. Heckel, Verhältnis von Staat und Kirche, in: HdbStKirchR I, S. 157.
232
M. Heckel, Verhältnis von Staat und Kirche, in: HdbStKirchR I, S. 163. Beispielhaft für eine aus politischem Engagement erwachsene Belastungsprobe innerhalb der Kirche sowie im Verhältnis zwischen Kirche und Staat sei der Konflikt in der Nordelbisch-lutherischen Kirche Mitte der 80er Jahre genannt, wo sich elf führende Protestanten in einem "Nordelbischen Aufruf an unsere Bischöfe" beklagten, die Kirchenleitung dulde, daß ihre Amtsträger Staatshetze betrieben (gegen NATODoppelbeschluß; gegen Nicaragua-Politik der USA) und Mehren sowie Neuheidentum (gemeint war die sog. Feministische Theologie) verbreiteten. Der Konflikt ist dokumentiert in epd-Dokumentation Nr. 8/85 v. 18.02.1985 "Ist die Partnerschaft KircheStaat am Ende?"
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
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Beitrag zur öffentlichen Diskussion im Zusammenspiel von Glaubenserkenntnissen und Erfahrungswissen 233 nach allgemeiner Meinung vom Öffentlichkeitsauftrag gedeckt234. Gleiches gilt für die von Theologen, Fachwissenschaftlern und Praktikern nach eingehender Materialsammlung erstellten Berichte über MAsylsuchende und Flüchtlinge", die deutliche rechtliche Defizite diagnostizieren235. Das Kirchenasyl, das auf dieser fundiert vorgetragenen Kritik basiert, kann sich als Beistandshandlung auf eine breite landeskirchliche Zustimmung oder zumindest Duldung stützen und wird von Kirchengemeinden getragen. Dies könnte dafür sprechen, es als vom kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag umfaßt anzusehen. Zweifelhaft ist aber, ob der Öffentlichkeitsauftrag neben der mündlichargumentativen Stellungnahme auch die politische Betätigung umfaßt. Hiergegen wird eingewandt, die Versöhnungsbotschaft enthalte nicht unmittelbar eine politische Parole 236. Daher könne es der Kirche nicht um die Errichtung einer christlichen Gesellschaft in Verfolgung eines politischen Amtes gehen237. Sie habe sich bei der Wahrnehmung ihres Öffentlichkeitanspruchs auf die Vermittlung von Orientierungshilfen zu beschränken238. Deren Umsetzung sei Sache des Christen in der Welt, also des Staatsbürgers239. So werde die unmittelbare Einflußnahme auf den Staat in der Demokratie abgelöst durch die mittelbare der Kirche über ihre Mitglieder auf den Staat240.
233
So faßt Schiaich, HdbStKirchR I, S. 153 die Voraussetzungen der "Denkschriften Denkschrift" von 1970 zusammen. 234 Mit der ersten Denkschrift der EKD und ihrer Kammer für soziale Verantwortung "Eigentumsbildung und soziale Verantwortung" von 1962 hat sich seitdem ein neuer Typ kirchlichen Redens ohne klerikale Bevormundung in den Vordergrund geschoben, der die Nöte der Zeit in ihren komplizierten Sachzusammenhängen tiefer zu verstehen und aus evangelischer Sicht zu würdigen sucht, so M. Heckel, Kirche und Staat, in: HdbStKirchR I, S. 189 f. m.w.N. Vgl. ferner zum Verhältnis kirchlichen Redens und Öffentlichkeit am Beispiel der Vertriebenendenkschrift v. 1965 die Fallstudie von W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, S. 380 ff 235
Dazu im Detail oben S. 121 ff.
236
Schiaich, HdbStKirchR Π, S. 148; ebenso Böckenförde, Kirchlicher Auftrag und politisches Handeln, S. 110.
Politische Theologie, in:
237
Schiaich, ebd.; Böckenförde, ebd.; vgl. bezüglich These 5 der Barmer Erklärung und der Trennung zwischen kirchlichem Auftrag und politischem Mandat Honecker, Auftrag der Kirche, EssGespr 25 (1991), S. 54 f. 238
Honecker, Art. Sozialethik, in: EvStL Π, Sp. 3206; ebenso Schiaich, HdbStKirchR Π, S. 148. 239
Honecker, Art. Sozialethik, in: EvStL Π, Sp. 3206.
174
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Diese Position ist grundlegend ausgeführt in der EKD-Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", die den Staat des Grundgesetzes bejaht und gemäß ihrem Untertitel als Angebot und Aufgabe betrachtet241. Die Denkschrift betont, Konflikte müßten innerhalb des politischen Gemeinwesens mit demokratischen Mitteln ausgetragen werden; die Kirche habe demgegenüber die Aufgabe, ihre Stimme zu erheben, Orientierung zu bieten und den politischen Prozeß kritisch zu begleiten242. Dabei dürfe sie Konflikte mit dem Staat und der Öffentlichkeit nicht scheuen243. Hervorgehoben wird die Verantwortung des einzelnen als Staatsbürger und Christ unter Betonung seiner besonderen Gewissensprägung und -bindung durch die orientierende Funktion der Kirche 244 . Danach scheidet die politische Aktion der Kirche grundsätzlich aus. Wenngleich der Christ letzten Gehorsam nur Gott schuldet (Apg. 5,29), besteht doch im demokratischen Staat die Möglichkeit der Mitwirkung, Mitgestaltung und Mitverantwortung 245. Daher gehört die Austragung politischer Konflikte in die Mitte der demokratischen Gesellschaft. Hier ist der Christ aufgerufen, seinen Glaubensüberzeugungen durch Ausübung der politischen Mitwirkungsrechte Ausdruck zu verleihen. Allerdings stellt das die Zulässigkeit einer Asylgewährung im Kirchenraum nicht grundsätzlich in Frage. Kirchenasyl intendiert nämlich nicht die Konkretisierung der Heilsbotschaft in politische Ziele. Der Fall des nordrhein-westfälischen "Wanderkirchenasyls" ist Ausnahme geblieben und weithin auf Kritik gestoßen246. In aller Regel ist es Antwort auf den Anruf der Nächstenliebe, der sich aus einer konkreten Notlage im Einzelfall ergibt. Damit ist Kirchenasyl nicht politische, sondern soziale Aktion 247 .
240
Isensee, Diskussionsbeitrag, EssGespr 19 (1985), S. 61, zustimmend zitiert bei Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag, in: HdbStKirchR Π, S. 151; differenzierend Böckenförde t Politische Theologie, in: Kirchl. Auftrag und politisches Handeln, S. 116 f. 241 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Eine Denkschrift (1985). 242
Ebd., S. 28.
243
Ebd., S. 28.
244
Ebd., S. 15.
245
Ebd., S. 8. Oben S. 77 f. und S. 163.
246 247
Vgl. Böckenförde, Politische Theologie, in: Kirchlicher Auftrag und politisches Handeln, S. 117, zur Abgrenzung zw. politischer und sozialer Aktion.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
175
Daher rückt die diakonische Komponente in den Vordergrund. Die Diakonie beschränkt sich nicht auf individuelle Hilfe in persönlichen Notlagen. Sie erstreckt sich als gesellschaftliche Diakonie auch auf die institutionelle und strukturelle Gestaltung der Gesellschaft 248. Soziale Bedeutung und allgemeinpolitische Relevanz der Diakonie sind untrennbar verbunden. Zugleich gehört die Diakonie zu den Grundfünktionen der Kirche. Deshalb ist ihre Gestaltungsaufgabe von der Kirche selbst und nicht allein von einem säkularen Christentum zu leisten249. Dabei geht es um die Vermittlung von Begründungszusammenhängen, die auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen hinwirken und aus der konkreten diakonischen Liebestätigkeit erwachsen250. So ist etwa im Betreiben einer kirchlichen Obdachlosenunterkunft auch eine Aufforderung an die Öffentlichkeit zur Verbesserung der sozialen Situation dieser Menschen zu sehen. Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen karitativer Diakonie und Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags trifft auch für das Kirchenasyl zu: Die Beistandshandlung selbst gründet sich auf das Interzessionsrecht, das aus der kirchlichen Grundfunktion der Karitas erwächst. Die politische und öffentlichkeitswirksame Dimension dieser Beistandshandlung ist vom kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag gedeckt. Dabei entspricht es der kirchlichen Mitverantwortung für die Welt, wenn das Engagement der Kirchengemeinde als politisches Signal über den Einzelfall hinausreicht. Dem steht nicht entgegen, daß die Frage der Neuregelung des Asylrechts in einem demokratischen Prozeß entschieden wurde. Auch eine demokratische Entscheidung entfaltet aus kirchenrechtlicher Sicht keine Sperrwirkung zu Lasten kirchlicher Diakonie. (dd) Zwischenergebnis Weil die politische Komponente des Kirchenasyls im kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag wurzelt, verstößt es nicht gegen das Überparteilichkeits-, Unabhängigkeits- und Mäßigungsgebot. Dieses Ergebnis wird gestützt durch die kirchlichen Handlungsanleitungen, welche im Kern zur Mäßigung aufrufen, wenn sie die öffentliche Vermittelbarkeit des Kirchenasyls durch substantiiertes Vorbringen fordern 251. Hinzu tritt die Betonung der Einzelfallentscheidung 248 Dies ist unstreitig und wird auch von Honecker, Auftrag der Kirche, EssGespr 25, S. 63, eingeräumt. 249
So aber Honecker, Art. Sozialethik, in: EvStL Π, Sp. 3202.
250
Siehe dazu nur die thematischen Berichte im Rechenschaftsbericht des Diakonischen Werks der EKD 1996: "1. Zur Anwaltschaft herausgefordert - diakonische Positionen zu sozialpolit. Veränderungen in Deutschland und Europa" (S. 1-8), "2. Anwaltschaft ausbauen - diakonische Positionen zu eropäischen Fragen" (S. 9-13), bei Gohde, Bericht des Diakonischen Werks der EKD. 251
Dazu oben S. 152.
176
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
unter Abkehr von einem pauschalen Aktionismus, der letztlich nur auf die Kundgabe politischen Unmuts ohne wirkliche Hilfeleistung hinauslaufen würde. Ein beteiligter Pfarrer macht sich daher keiner Verletzung seiner Dienstpflicht aus § 34 PfDG schuldig. Ebensowenig ist in der Überlassung kirchlicher Bauten zum Zweck des Kirchenasyls eine bestimmungswidrige Verwendung i. S. d. Art. 20 KORh zu sehen. Das gilt auch für den eigentlichen Gottesdienstraum, wobei die Durchführung der Gottesdienste als die vornehmste Aufgabe der Gemeinde gewährleistet sein muß (vgl. Art. 15 Abs. 1 KORh)252.
(e) Keine Beschränkungen durch das staatliche Recht mit Wirkung im kirchlichen Recht Zum Teil wird angenommen, daß auch Verstöße gegen staatliches Recht die Kirchenleitung berechtigten, Beschlüsse von Leitungsorganen als materiell rechtswidrig aufzuheben 253. Diese Auffassung wird damit begründet, daß sich gemäß Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV das Handeln der Kirche innerhalb des für alle geltenden Gesetzes bewegen müsse254. Soweit ein Beschluß diese Schranken überschreite, könne er nach Art. 219 KORh aufgehoben werden255. Ob die Asylgewähr im Kirchenraum generell oder in bestimmten Erscheinungsformen gegen staatliches Recht verstößt, kann im Rahmen der kirchenrechtlichen Erörterung dahinstehen, wenn die vorgenannte Auffassung nicht zutrifft. Gegen eine Anwendimg des Art. 219 KORh auf weltliche Rechtsverstöße spricht bereits sein Wortlaut. Danach sind Beschlüsse zwingend aufzuheben, wenn sie die Befugnisse eines Beschlußorgans überschreiten, gegen die Kir-
252
Art. 15 Abs. 1 KORh: "Der vornehmste Dienst jeder Kirchengemeinde ist der Dienst am Wort Gottes. Die Kirchengemeinde hat dafür zu sorgen, daß sich die Gemeinde so oft wie möglich, besonders aber an jedem Sonn- und Feiertag, zum Gottesdienst versammelt (...)." 253 So Becker, KORh Art. 219, Rn. 3, der aber in Rn. 13 einräumt, daß dies kernen Aufhebungszwang begründe, sondern nur fakultativ zu verstehen sei. 254 255
So Becker, KORh Art. 219, Rn. 3, allerdings ohne weitere Begründung.
Becker, ebd., Rn. 3, 13. Vgl. auch Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S. 616, der als Ergebnis festhält, daß die kirchlichen Aufsichtsbehörden keine Veranlassung zur Aufhebung asylgewährender Kirchenvorstandsbeschlüsse hätten, soweit keine Verletzung staatlichen Rechts gegeben sei.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
177
chenordnung verstoßen oder andere Kirchengesetze256 verletzen. Eine Verletzung staatlichen Rechts ist als Aufhebungstatbestand nicht genannt. Weil es sich um eine Norm handelt, die zu empfindlichen Eingriffen in den Wirkungskreis von Leitungsorganen ermächtigt, ist eine extensive Auslegung oder gar analoge Anwendung dieser Regelung auf Verstöße gegen das weltliche Recht nicht vertretbar. Liegt ein solcher Verstoß vor, der nicht zugleich einen Verstoß gegen das Kirchenrecht darstellt, kann die Kirchenleitung den Rechtsverstoß förmlich feststellen. Gegebenenfalls wird sie die zu seiner Verfolgung berufenen staatlichen Organe einschalten und dies zuvor dem betroffenen Gremium androhen. Eine Aufhebung nach Art. 219 KORh scheidet indessen aus. Der Verstoß eines Beschlußorgans gegen staatliches Recht könnte jedoch zugleich als Befugnisüberschreitung i.S.d. Art. 219 KORh anzusehen sein. Die Folge einer solchen Betrachtungsweise wäre die kirchenrechtliche Rechtswidrigkeit des Beschlusses. Eine solche Annahme, die sich auf eine Kompetenzbeschränkung der kirchlichen Organe durch das für alle geltende weltliche Recht i.S.d. Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV stützt, begegnet aber prinzipiellen Einwänden. Die Kirchen sind ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat; sie leiten ihre Gewalt nicht von ihm ab 257 . Demgemäß stellt das Kirchenrecht eine verfassungsunabhängige Gegebenheit dar, die aus der originären Selbständigkeit kirchlicher Rechtsordnung folgt 258 . Weltliches und kirchliches Recht gehören unterschiedlichen Rechtskreisen an, die sich weder bedingen noch voraussetzen259. Daher kann auch das Staatskirchenrecht, das als weltliches Recht die Beziehungen zwischen Staat und Kirche regelt 260, die Befugnisse kirchlicher Organe mit kirchenrechtlicher Verbindlichkeit nicht begründen oder begren256
Dazu sind auch die sog. verbindlichen Beschlüsse der Landessynode zu rechnen, vgl. Becker, ebd., Rn. 6. 257 So das BVerfG in st. Rspr.: E 18, 385 (386 f.); 66,1, (19); zustimmend/tesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, HbdStKR I, S. 536; Badura, Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, HbdStKirchR I, S. 213 f.; Jurina, Die Religionsgemeinschaften mit priv.-rechtl. Rechtsstatus, HbdStKR I, S. 703; W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 430. 258 Ebd. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, daß die Kirche auch im übertragenen Wirkungskreis rechtlich -abgeleitet- tätig werden kann, vgl. BVerfGE 18, 385 (387) sowie zum Verhältnis zwischen Eigenständigkeit und Autonomie v. Campenhausen, Staatskirchenrecht3, S. 108; Busch, Vermögensverwaltung in der kath. Kirche, HbdStKirchR I, S. 954. 259
Vgl. v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 29.
260
v. Campenhausen, Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: HdbStKirchR I, S. 47. 12 Grefen
178
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
zen. Es bestimmt nur, in welchem Umfang der Staat ein kirchliches Handeln in der Welt als legitim betrachtet und seinem besonderen Schutz unterstellt 261. Daher läßt der Hinweis auf die Grenzen kirchlicher Selbstbestimmung nach staatlichem Recht gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV keinen Schluß auf die Befugnisse kirchlicher Organe nach ihrem Binnenrecht zu. Anderenfalls könnte der Staat durch Ausweitung seiner Befugnisse die kirchenrechtlichen Befugnisse kirchlicher Organe beliebig schmälern. Das erscheint angesichts der kirchlichen Eigenständigkeit ausgeschlossen. Somit scheidet die Aufhebung eines kirchlichen Asylgewährungsaktes nach Art. 219 KORh, der allein gegen staatliches Recht verstößt, aus. Ein derartiger Rechtsverstoß hat keine kirchenrechtliche Rechtswidrigkeit zur Folge.
ee) Ergebnis Die Interzession ist nach evangelischem Kirchenrecht ein Recht der Kirchengemeinde. Es folgt aus Diakonie und Seelsorge, die den Gemeinden als Aufgaben übertragen sind. Die Interzession umfaßt als ultima ratio auch die Aufnahme von Ausländern in kirchlichen Räumen zur Verhinderung einer ihnen drohenden Abschiebung. Erforderlich ist die Mitwirkung des kirchlichen Leitungsgremiums in Gestalt des Kirchenvorstandes (Presbyterium). Kirchenasyl ist darum Interzession einer Kirchengemeinde, begründet durch kirchlichen Rechtsakt. Beschränkungen ergeben Sinn und Zweck der Interzession. Nicht vom kirchlichen Interzessionsrecht gedeckt sind solche Erscheinungsformen, die den Staat als Verhandlungspartner ausschließen. Dies gilt für das versteckte Kirchenasyl. Darüber hinaus schließt der Grundsatz der ultima ratio Kirchenasylaktionen aus, die zur Unzeit und/oder ohne Aussicht auf Erfolg in Ermangelung plausibler Gründe, welche eine Gefahr für Leib und Leben des Flüchtlings belegen, geschehen. Dem Interzessionsasyl begegnen weder aus den staatskirchenvertraglichen Freundschaftsklauseln noch aus dem kirchlichen Überparteilichkeits- und Maßigungsgrundsatz Bedenken. Eine mögliche Verletzung staatlichen Rechts ist für die kirchenrechtliche Beurteilung unerheblich.
b) Das Interzessionsasyl im katholischen Kirchenrecht
Die Rechtsordnung der katholischen Kirche bietet verschiedene Anknüpfungspunkte für ein kirchliches Interzessionsrecht, wenngleich es an einer ausdrücklichen Bestimmung fehlt. 261
Ebd.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
179
aa) Die Interzession als Aufgabe der Kirche (1) Beistand als sittliche Pflicht in den Aussagen des II. Vaticanums zum Wirken der Kirche in der Welt und der katholischen Soziallehre Die grundsätzliche Verpflichtung zum christlichen Beistand fiir benachteiligte Menschen aufgrund des umfassenden Heilsauftrags der Kirche hat das II. Vatikanische Konzil zum Ausdruck gebracht262. Die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes"263 betrachtet die politische Gemeinschaft und die Kirche auf je ihrem Gebiet als voneinander unabhängig und autonom, wobei beide der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der selben Menschen dienlich seien264. Dem dahinterstehenden Konzept der "sana cooperatio" zweier autonomer Partner wird die Kirche ihrerseits gerecht, indem sie dazu beiträgt, "daß sich innerhalb der Grenzen der Nation und im Verhältnis zwischen den Völkern Gerechtigkeit und Liebe entfalten. Indem sie nämlich die Wahrheit des Evangeliums verkündet und alle Bereiche menschlichen Handelns durch ihre Lehre und das Zeugnis der Christen erhellt, achtet undfördert sie auch die politische Freiheit der Bürger und ihre Verantwortlichkeit" 2 6 5 .
Weiter heißt es für Laien und Amtsträger: "Zum Aufbau einer internationalen Ordnung, in der die rechtmäßigen Freiheiten aller wirklich geachtet werden und wahre Geschwisterlichkeit bei allen herrscht, sollen Christen gerne und von Herzen mitarbeiten, und das um so mehr, als der größere Teil der Welt noch unter solcher Not leidet, daß Christus selbst in den Armen mit lauter Stimme seine Jünger zur Liebe aufruft. (...) Es ist (...) Sache des ganzen Volkes Gottes, wobei die Bischöfe mit Wort und Beispiel vorangehen müssen, die Nöte unserer Zeit nach Kräften zu lindern, und zwar nach alter Tradition der Kirche nicht nur aus dem Überfluß, sondern auch von der Substanz" 2 6 6 .
Diese grundlegenden Aussagen des II. Vatikanischen Konzils zum Wirken der Kirche und der Christen in der Welt werden deutlich vor dem Hintergrund der katholischen Soziallehre267. Danach verfolgt die Kirche das Ziel, eine von Gott gewollte naturrechtliche Ordnung menschlichen Zusammenlebens zur 262
Zum Folgenden Riedel-Spangenherger, recht, TrThZ 1991, S. 140 f. 263
Dt. Text bei Rahner/Vorgrimler,
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchen-
Kleines Konzilskompendium, S. 449 ff.
264
GS 76, bei Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, S. 534. Zusammenfassend Listi, Kirche und Staat nach dem CIC v. 1983, EssGespr 19, S. 30. 265
GS 76, bei Rahner/Vorgrimler,
Kleines Konzilskompendium, S. 534 f.
266
GS 88, bei Rahner/Vorgrimler,
Kleines Konzilskompendium, S. 547 f.
267
Zur kath. Soziallehre im folgenden Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 149 f. sowie eingehend Η offner, Christliche Gesellschaftslehre.
180
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Geltung zu bringen 268. In deren Zentrum stehen der Mensch, seine Würde und Personalität, sowie seine (naturrechtliche) Gottesebenbildlichkeit269. Die Kirche sieht sich als Hort und Hüterin dieser Grundwerte, bei deren Durchsetzung sie keine direkte weltliche Gewalt ausübt. Ihrem Lehramt kommt jedoch auf dem Umweg über die Definition der Sünde eine potestas indirecta über die zeitlichen Dinge zu 270 . Sie verkündet die gottgewollte Ordnung öffentlich und nimmt dabei auch eine Prüfungskompetenz über die Vereinbarkeit staatlicher Anordnungen mit dem Sittengesetz wahr 271. Bei der Umsetzung ihrer Wertvorstellungen beschränkt die Kirche sich nicht auf die passive argumentative Stellungnahme. Vielmehr erfordert diese Transformationsleistung die aus der kirchlichen Grundfunktion der Karitas 272 geborene aktive Mitwirkung der Kirche im sozialdiakonischen Bereich 273. Sie gehört zu den originären kirchlichen Lebensäußerungen274 und soll zu einer humaneren Gestaltung der Menschheitsfamilie und ihrer Geschichte beitragen275. In diesem Sinne fordert die Pastoralkonstitution dazu auf, die Stimme der Armen als Aufruf Christi zur tätigen Nächstenliebe anzusehen. Auf der Grundlage der Konzilstexte ergibt sich somit die allgemein sittliche Pflicht, für rechtlich, ökonomisch und/oder sozial benachteiligte Menschen vor Staat
268
Vgl. Höffher,
269
Siehe Höffher,
Christliche Gesellschaftslehre, S. 56 f. Christliche Gesellschaftslehre, S. 19 f. u. 29 ff.
270
Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 149 m.w.N; Mörsdorf, Kirchenrecht I 1 1 , S. 55. 271
Mörsdorf, Kirchenrecht I 1 1 , S. 55; vgl. GS 76, bei Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, S. 535; zurückhaltend Aymans/Mörsdorf, Kanonisches Recht13, § 6, S. 95 bzgl. der Glaubensfreiheit; s. a. Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 149; zu den Veränderungen nach 1945 Maier, Politischer Katholizismus, in: Die neue Ordnung, 1985, S. 131 ff., der eine Hinwendung der Politik zu christl. Werten ("katholische Politik") und eine damit einhergehende Auflösung des politischen Katholizismus konstatiert, S. 132. 272 Vgl. Kasper, Die Heilssendung der Kirche in der Gegenwart, in: Pastorale, S. 69 ff., der in seinem Dreier-Schema neben Diakonie die Verkündigung und den Vollzug der Sakramente zu den Grundfunktionen der Kirche zählt; siehe auch Lehner, Caritas als Grundfunktion der Kirche, in: Jahrbuch des Dt. Caritasverbandes 1995, S. 16 ff. sowie Isensee, folgende Fn., S. 665 m.w.N. 273
Ausführlich Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 665 ff. 274 Vgl. d. Dekret über den Ökumenismus "Unitatis redintegratio", n. 6, bei Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, S. 237. 275
Höffher, ner/Vorgrimler,
Christliche Gesellschaftslehre, Vorwort; vgl. GS, n. 40, bei RahKleines Konzilskompendium, S. 487.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
181
und Gesellschaft einzutreten276. Dies umschreibt nichts anderes als den altkirchlichen Interzessionsgedanken277.
(2) Die Konkretisierung
der Beistandspflicht
im kanonischen Gesetzbuch
Einige Bestimmungen des CIC konkretisieren diese allgemein sittliche Pflicht rechtlich 278.
(a) Can. 222 § 2 CIC: Die Einstandspflicht aller Christgläubigen für soziale Gerechtigkeit Nach can. 222 § 2 CIC sind alle Christgläubigen verpflichtet, für soziale Gerechtigkeit einzutreten279. Die Laien haben gemäß can. 225 § 2 CIC die Pflicht, die Ordnung der zeitlichen Dinge im Geiste des Evangeliums zu gestalten und zur Vollendung zu bringen und so bei der Ausübung ihrer weltlichen Aufgaben Zeugnis für Christus abzulegen. Zu den zeitlichen Dingen gehören u.a. die Einrichtungen der politischen Gemeinschaft sowie die internationalen Beziehungen280.
(b) Can. 383 § 4 CIC: Die Einstandspflicht der Diözesanbischöfe für Caritas und Diakonie Neben den Laien sind die Diözesanbischöfe gemäß can. 383 § 4 CIC in besonderer Weise aufgefordert, Zeugen der Liebe Christi zu sein. Ihnen obliegt in ihrem Leitungsamt dafür zu sorgen, daß die caritative Diakonie als Teil der Heilssendung der Kirche in geeigneter Weise ausgeübt wird 281 .
276 Vgl. Roos, Art. Gaudium et Spes, in: Katholisches Soziallexikon, Sp. 823; RiedelSpangenberger, Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 141. 277
Vgl. Riedel-Spangenberger, 1991, S. 141.
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ
278 Zum Folgenden Riedl-Spangenberger, TrThZ 1991, S. 141 f.
Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht,
279
Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 222, Rn. 4.
280
Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 225, Rn. 5.
281
Riedl-Spangenberger, Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 141 f, vgl. a. can. 394 § 1 CIC.
182
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(c) Can. 529 § 1 CIC: Die Einstandspflicht der Pfarrer für die Seelsorge an den Heimatvertriebenen Gemäß can. 529 § 1 CIC zählt es zu den Rechtspflichten des Pfarrers, sich mit besonderer Aufmerksamkeit den Armen, Bedrängten, Einsamen sowie den aus der Heimat Vertriebenen und denen zuzuwenden, die in besondere Schwierigkeiten geraten sind. Die Norm stellt klar, daß die Pflege der karitativen Diakonie neben der Verkündigung des Wortes Gottes und der Feier der Sakramente zu den drei unverzichtbaren Säulen der Pfarrseelsorge gehört 282. Gegenüber ausländischen Flüchtlingen wird den Seelsorgern besondere Zuwendung aufgetragen. Diese Personengruppe zählt can. 529 § 1 CIC ohne weitere Erläuterung auf, weil es historischer Erfahrung entspricht, daß Ausländern in Fremdstaaten regelmäßig ein minderer Rechtsstatus zukommt. Sie bedürfen daher nach kirchlichem Verständnis und biblischer Tradition der besonderen Fürsorge der kirchlichen Hirten. Für sie hat die Kirche im diakonischen Bereich aktiv einzustehen.
(d) Can. 747 § 2 CIC: Die Einstandspflicht der Kirche für die Grundrechte der menschlichen Person und das Heil der Seelen Schließlich bestimmt can. 747 § 2 CIC, daß es der Kirche zukommt "immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern." Die Norm schließt in teilweise wörtlicher Wiedergabe an die konziliare Pastoralkonstitution an 283 . Darin hatte das Konzil klargestellt, daß sich die Kirche des Zeitlichen bedient und die Soziallehre integrierter Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen ist 284 . Weil nach ihrem Selbstverständnis daher Heilsdienst und Weltdienst untrennbar verbunden sind 285 , nimmt die katholische Kirche, ungeachtet einer Anerkennung durch den Staat, immer und überall das Recht in Anspruch, den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen sowie auch politische Angelegenheiten sittlich zu beurteilen.286 Daraus 282
Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 529, Rn. 3.
283
Näher Mussinghoff in: Münsterischer Kommentar, can. 747 CIC, Rn. 5.
284
Roos, Art. Gaudium et Spes, in: Katholisches Soziallexikon, Sp. 823.
285
Ebd.
286 Qg 75 ? jn; Rahner-Vorgrimmler,
Kleines Konzilskompendium, S. 535.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
183
folgt auch im demokratischen Staat ein Anspruch auf karitative und politische Wirksamkeit dort, wo Würde und Personalität des Menschen aus Sicht der Kirche gefährdet sind 287 . Somit enthält die Fundamentalnorm288 des can. 747 § 2 CIC konkludent die Anspruchsgrundlage für ein Interzessionsrecht der Kirche innerhalb der weltlichen Ordnung 289.
(3) Ergebnis Mithin zählt der Beistand für Bedrängte gegenüber Staat und Gesellschaft auch nach gegenwärtigem kanonischen Recht zu den Rechtspflichten der Christgläubigen, ihrer verantwortlichen Hirten sowie der Kirche selbst290.
bb) Die Unterbringung erfolgloser Asylbewerber als zulässige Ausprägung der Beistandspflicht Des weiteren müßte die Gewährung von Interzessionsasyl durch katholische Pfarrgemeinden und ihre Seelsorger zulässige Konkretisierung der Beistandspflicht sein.
(1) Bischof Karl Lehmann Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, räumte auf die Frage, ob Christen und Gemeinden Flüchtlinge verstecken dürften, ein, daß ein Christ, seinem Gewissen folgend, mit staatlichen Anordnungen in Konflikt geraten könne291. Komme jemand nach gewissenhafter Prüfung zu
287
Vgl. Mussinghoff in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 747, Rn. 5.
288
Ebd.
289
So Riedel-Spangenberger, 1991, S. 142.
Der Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ,
290
Vgl. Riedel-Spangenberger, Rechtsschutz des Asyls im Kirchenrecht, TrThZ 1991, S. 141; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 19; Roßkopf Kirchenasyl, AWR-Bulletin, 3/1996, S. 101. 291
Dazu und zum Folgenden s. Lehmann, Gewissen gegen Rechtsnorm, Interview, in: KLD-Brief Ausländische Flüchtlinge, Nr. 18 v. 01.06.1994, Kurzfassung in: DER SPIEGEL v. 16.05.1994, S. 51. Dieses SPEEGEL-Interview Lehmanns führte zu einer Kontroverse mit dem damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther, der Lehmann in einer Replik die Rechtfertigung von Rechtsbruch vorwarf. Lehmann reagierte mit einem klarstellenden Brief an Kanther, in dem er zwar dem SPIEGEL Verkürzungen
184
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
dem Ergebnis, daß er einen Menschen vor Gefahr schützen müsse, so habe er das Recht, sich auch gegen staatliche Anordnungen zu stellen. In der Konfliktsituation um das Kirchenasyl habe es bislang kein leichtfertiges Handeln gegeben. Aufgabe der Kirche sei, dort mahnend einzugreifen, wo sie Rechte von Menschen verletzt sehe. Insofern sei die Diskussion um das sogenannte Kirchenasyl eine Anfrage an die Politik, ob die dort getroffenen Regelungen in jedem Fall die Menschen, die nach Deutschland gekommen seien, vor Verfolgung, Folter oder gar Tod bewahrten. Gerade ein solches Spannungsverhältnis zwischen Politik und dem Wächteramt der Kirche könne zu immer besseren Lösungen führen.
(2) Kardinal Georg Sterzinsky Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky stellte sich ausdrücklich hinter die Asylgemeinden292. Er erklärte, daß er den Verantwortlichen in der Gemeinde, die davon überzeugt seien, mit ihrem Handeln Recht zu tun, nicht widersprechen werde. Menschen seien zu schützen, gegebenenfalls durch die Gewährung von Asyl, wenn auch nur die Möglichkeit bestehe, daß sie anderenfalls in Gefahr für Gesundheit und Leben gerieten.
(3) Erzbischof Friedrich
Kardinal Wetter
Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, verteidigte das Kirchenasyl 293. Damit schützten die Kirchengemeinden den Staat vor dem Unrecht falscher und unmenschlicher Entscheidungen. Christen seien durch ihre Glaubensgrundsätze zu derartiger Hilfeleistung für bedrängte Menschen besonders verpflichtet. Wenn aufgrund glaubhafter Informationen Zweifel an der Richtigkeit staatlicher Entscheidungen bestünden, dann müsse es möglich sein, einzelnen Asylbewerbern Schutz und Unterschlupf bis zur endgültigen Klärung zu gewähren. Dabei habe die Kirchengemeinde die abschließende staatliche Entscheidung nach einem solchen Klärungsprozeß zu akzeptieren. vorwarf, seine grundlegenden Aussagen aber aufrecht erhielt (abgedruckt mit vollst. Interviewtext in epd-Dokumentation Nr. 43/94, S. 59 ff.). 292
Dazu und zum Folgenden s. Sterzinsky, SFB-Kirchenfunk Interview zum Thema "Kirchenasyl" vom 05.03.1994, abgedruckt in: epd-Dokumentation Nr. 43/94 sowie ders., Der einzelne - die Gemeinde - die Kirche, Stellungnahme auf dem BAKBundestreffen 1996, in: epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 12 ff. 293
Dazu und zum Folgenden Wetter in: Kardinal verteidigt Kirchenasyl, SZ Nr. 218 vom 20,9.1996, S.21.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
185
(4) Bischof Josef Dammertz In einem Schreiben an den bayrischen Innenminister stellte sich der Augsburger Bischof Josef Dammertz in dem Kirchenasylfall Simsek, der großes Aufsehen erregt hat, persönlich hinter das Anliegen der asylgewährenden katholischen Kirchengemeinde294. Er erklärte, die Bedenken, die in diesem Fall gegen eine Abschiebung sprächen, seien gewichtig angesichts der Tatsache, daß das Leben der Flüchtlinge auf dem Spiel stehe.
(5) Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Asyl- und Flüchtlingspolitik vom 9.3.1995 Die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Entwicklung in der Asyl- und Flüchtlingspolitik vom 9.3.1995 nimmt das Kirchenasyl in Bezug, ohne es zu verwerfen 295. Unter Nr. 10 heißt es, daß, sofern die rechtlichen Mängel des Asylrechts nicht zufriedenstellend geregelt würden, Christen die in der Flüchtlingsarbeit tätig seien, zunehmend in Gewissensnot gerieten.
(6) Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht (1997) Im Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, für welches von katholischer Seite die Deutsche Bischofskonferenz verantwortlich zeichnet, heißt es unter Nr. 256 zum Kirchenasyl: "Es ist (...) verständlich und auch legitim, wenn Kirchengemeinden in bestimmten Einzelfallen nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, sich schützend vor einen Menschen stellen zu müssen, um zu vermeiden, daß ihm der ihm zustehende Grundrechtsschutz versagt wird" 296 .
294
Dazu und zum Folgenden Neumann, Augsburger Bischof verteidigt Kirchenasyl, in: SZ vom 7.7.1995, S. 17. 295
Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 09.03.1995 zur Entwicklung in der Asyl- und Flüchtlingspolitik, Auszug in: Pax Christ (Hrsg.), Auflehnung gegen Unmenschlichkeit, S. 109. 296
Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, in: FAZ vom 5.7.1997, S. 8; vgl. dazu die Argumentationshilfe der Kommission XIV Migration der Deutschen Bichofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Enzelfall, S. 10 (Nr. 23.5).
186
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(7) Würdigung und Ergebnis Die oberhirtlichen Stellungnahmen legen nahe, Kirchenasyl als mögliche Konkretisierung der christlichen Beistandspflicht anzusehen. Sie finden ihre Stütze in can. 747 § 2 CIC. Danach obliegt es der Kirche Würde und Personalität des Menschen durch karitative und politische Wirksamkeit auch im demokratischen Rechtsstaat zu schützen297. Daraus folgt ihr Recht zur Interzession. Die Art der Ausübung dieses Rechts hat sich an Art und Intensität einer drohenden Rechtsgutsverletzung zu orientieren. Wo die Kirche Leib oder Leben eines erfolglosen Asylbewerbers ernsthaft bedroht sieht, erscheint Kirchenasyl als adäquates Mittel, um eine Abschiebung zumindest vorübergehend zu verhindern. Es ist insoweit als zulässige Konkretisierung der Beistandspflicht anzusehen.
cc) Die Pfarrgemeinde als Adressat der Beistandspflicht Allerdings legen die zitierten oberhirtlichen Stellungnahmen den Schluß nahe, daß die Gewährung von Kirchenasyl als Ausdruck christlicher Gewissensnot ausschließlich individuell verantwortet werden kann. Das entspräche der Position des Rates der EKD. Die Aslyentscheidung einer Kirchengemeinde wäre dann als solche unzulässig und allenfalls als kollektive Gewissensentscheidung der beteiligten Gemeindemitglieder aufzufassen. Dem steht jedoch entgegen, daß der Kodex in can. 747 § 2 CIC die Interzession konkludent (auch) als Aufgabe der Kirche ansieht298 und die Seelsorge an ausländischen Flüchtlingen gemäß can. 559 § 1 CIC in die besondere Verantwortung des Pfarrers stellt. Unter den Begriff der Seelsorge fallt auch die karitative Diakonie. Sie ist dem Pfarrer unter der Autorität des Diözesanbischofs innerhalb der Pfarrei anvertraut 299. Die Pfarrei ist gemäß can. 515 § 1 CIC die rechtliche Grundform der Gemeinde und als solche kleinstes Glied der Kirche selbst300. Die aus dem Motiv karitativer Diakonie heraus erfolgte Gewährung von Kirchenasyl durch eine Pfarrei unter Leitung ihres Hirten ist als Verwirklichung der kirchlichen Sendung anzusehen und der Kirche selbst zuzurechnen. Die kirchenrechtliche Verantwortlichkeit obliegt damit der Kir-
297
S.oben S. 181 f.
298
Die Überschrift zu Lib. ΠΙ CIC lautet: "De Ecclesiae munere docendi".
299
Vgl. Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, can. 515 CIC, Rn. 6.
300
Vgl. Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, can. 515 CIC, Rn. 5.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
187
che und ihren mit Leitungsgewalt (vgl. cann. 129 ff. CIC) 301 ausgestatteten Amtsträgern 302. Dies schließt freilich nicht aus, daß die beteiligten Pfarrer und Gemeindemitglieder aus persönlicher Gewissensnot heraus handeln.
dd) Erzwingbarkeit des Interzessionsasyls Fraglich ist, ob das Interzessionsasyl in einem kirchlichen Gerichtsverfahren durch einen Asylsuchenden nach can. 1400 § 1 Nr. 1 CIC eingeklagt werden kann. Die maßgebliche Norm des can. 747 § 2 CIC ist nicht als subjektives Recht der dort genannten Rechtsträger ausgestaltet, sondern richtet sich als Anspruch gegen Staat und Gesellschaft. Es beinhaltet demgemäß ein subjektives Recht der Kirche zur Verkündigung ihrer Botschaft in der Welt. Soweit § 529 § 1 CIC dem Pfarrer Seelsorgepflichten auferlegt, ist jedenfalls die Art und Weise ihrer Wahrnehmung nicht durch Asylsuchende einklagbar, sondern seinem Ermessen anheimgestellt. Somit scheidet ein einklagbares Recht auf Interzession gegen eine Pfarrgemeinde oder ihre Organe aus. Denkbar wäre hingegen eine Klage der Pfarrgemeinde gegen die Untersagungsverfügung einer übergeordneten kirchlichen Behörde auf Feststellung der Zulässigkeit einer Interzessionshandlung.
ee) Die Rechtmäßigkeitsanforderungen an asylgewährende kirchliche Rechtsakte Schließlich müßte die gemeindliche Asylpraxis in ihren Erscheinungsformen einer allgemeinen kirchenrechtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle standhalten. Andernfalls wären die Diözesanbischöfe in Ausübung ihrer oberhirtlichen Gewalt i.S.d. cann. 369, 515 § 1, 519 CIC befugt, gegen diese Praxis geeignete Maßnahmen zu ergreifen. In Betracht kommen kirchliche Strafverfahren (etwa gemäß can. 1389 § 1 CIC wegen Mißbrauch kirchlicher Gewalt oder kirchlicher Dienste) sowie Amtsenthebungsverfahren (gemäß cann. 1740 ff. CIC) gegen beteiligte Pfarrer.
301
Näher zur potestas regiminis nach Lib. I, Tit. VIII CIC Socha in: Münsterischer Kommetar, Einl. vor can. 129 CIC. 302 Vgl. Sterzinsky, Der einzelne - die Gemeinde - die Kirche, Stellungnahme auf dem BAK-Bundestreffen 1996, in: epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 13: "Hat der Pfarrer mit Zustimmung des Pfarrgemeinderats entschieden, ist die Gemeinde für die Rechtsfolgen verantwortlich." 303
Zur originären oberhirtlichen Gewalt der Diözesanbischöfe näher Aymans, Oberhirtliche Gewalt, AfkKR 157 (1988), S. 24 f.
188
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(1) Formelle Rechtmäßigkeit Die Gewährung von Kirchenasyl müßte durch die zuständigen Stellen unter Wahrung der einschlägigen Verfahrens- und Formvorschriften erfolgen.
(a) Verbandskompetenz der Pfarrgemeinde gemäß cann. 515 § 3, 518 CIC Die Pfarrei ist eine auf Dauer errichtete, regelmäßig territorial abgegrenzte (can. 518 CIC) Gemeinschaft von Gläubigen (can. 515 CIC), die als solche gemäß can. 515 § 3 CIC juristische Person kanonischen Rechts ist. Als rechtliche Grundform der Gemeinde repräsentiert die Pfarrei den kirchlichen Dienst am Ort 304 . Daraus folgt ihre Verbandskompetenz für die Gewährung von Kirchenasyl 305.
(b) Die Organkompetenz des Pfarrers gemäß cann. 515 § 1, 519 CIC Dem Pfarrer obliegt gemäß can. 515 § 1 CIC als eigenberechtigtem Hirten die Leitung der Pfarrei 306, in deren Grenzen er die Seelsorge für die ihm anvertraute Gemeinschaft wahrnimmt, can. 519 CIC. Zum seelsorgerischen Entscheidungsbereich gehört die Zuständigkeit des Pfarrers für die Bestimmung über die Nutzung der Gebäude und Einrichtungen, welche der Gemeindearbeit dienen307. Daraus folgt die Ausübung des Hausrechts in den gemeindlichen Seelsorgeeinrichtungen308 und die Zuständigkeit für die weiteren Beistands-
304
Vgl. Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, can. 515 CIC, Rn. 5.
305
Vgl. Sterzinsky, Der einzelne - die Gemeinde - die Kirche, Stellungnahme auf dem BAK-Bundestreffen 1996, in: epd-Dokumentation Nr. 31/96, S. 14. 306
Sog. einfache Leitungsgewalt, in Abgrenzung zur hoheitlichen Leitungsgewalt des Papstes und der Bischöfe; näher Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, Einleitung vor can. 129, Rn. 7. Weiter abzugrenzen ist die eigenberechtigte (einfache) Leitungsgewalt der Pfarrer, die einen gewissen Grad an Selbständigkeit eignet, von der stellvertretenden Leitungsgewalt helfender Amter, vgl. can. 131 § 2; dazu Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, can. 131, Rn. 5. 307 308
Emsbach, Rechte und Pflichten des Kirchenvorstandes, S. 51.
Emsbach, ebd.; vgl. Socha in: Münsterischer Kommetar, CIC, Einf. v. can. 129, Rn. 7. Dieses Hausrecht des Pfarrers, das aus der Leitungsgewalt folgt, darf nicht mit der Hausgewalt (potestas domestica) der Seminar- und Kirchenrektoren gemäß cann. 239 § 1, 562 CIC verwechselt werden, welche lediglich der Aufrecherhaltung der äußeren Ordnung einer Hausgemeinschaft dient; vgl. Socha in: Münsterischer Kommetar, ebd., Rn. 8.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
189
handlungen beim Kirchenasyl 309. Die Organkompetenz für die Gewährung von Kirchenasyl liegt somit beim Gemeindepfarrer 310.
(c) Die Mitwirkung anderer Organe der Pfarrgemeinde Zweifelhaft ist, ob neben dem Pfarrer noch andere Organe mitwirken müssen. (aa) Pfarrgemeinderat In Betracht kommt zunächst der Pfarrgemeinderat. Dieses Gremium, das in den Bistümern des deutschen Sprachraums im Anschluß an das II. Vaticanum eingerichtet wurde, dient der Institutionalisierung des Laienapostolats sowie der Mitverantwortung der Laien im seelsorgerischen Leben der Gemeinde311. Im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz übt der Pfarrgemeinderat zugleich die Aufgaben des Pastoralrats i.S.d. can. 536 CIC aus312. Während der Pastoralrat des CIC lediglich beratende Stimme in Fragen der Pastorale hat, stehen dem Pfarrgemeinderat nach den Statuten der einzelnen Diözesen auch Beschlußrechte zu 313 . Die Pfarrgemeinderäte nehmen demnach eine Doppelfunktion wahr: Ihre Aufgabe ist zum einen, den Heilsdienst des Pfarrers innerhalb der Gemeinde beratend mitzutragen (i.S.d. Pastoralrats), und zum anderen, Initiativen zu beschließen und zu koordinieren, welche der Kirche in den Ordnungen der Welt Anwesenheit und Wirksamkeit verschaffen sollen (als Organ des Laienapostolats)314. An dieser Unterscheidung orientieren sich 309
Zur Ausübung des Hausrechts und den weiteren Beistandshandlungen beim Interzessionsasyl s. o. S. 158 f. Es gelten die Ausführungen zum evangelischen Kirchenrecht analog. 310
Der denkbare Fall einer Asylgewährung in einem kirchlichen Gebäude, das nicht zu einer Pfarrgemeinde rechnet, etwa eine Kirche i.S.d. can. 556 CIC, bleibt, mangels praktischer Bedeutung, außer Betracht. 311
Vgl. Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 536, Rn. 6; zur Geschichte Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, S. 60 ff.; theologisch Schmidtmayr, Ein neuer kirchlicher Dienst, in: Der Pfarrgemeinderat, S. 15 ff.; zur Praxis Schuster, Gemeindeleitung und Pfarrgemeinderat, Freiburg/Br. 1992. 312
Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 536, Rn. 6 u. 7. Dort auch näher zur Problematik der Vereinbarkeit der Pfarrgemeinderäte mit den Prinzipien des CIC. 313
Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, ebd., Rn. 6; zum Partikularrecht die rechtsvergleichende Übersicht über die Pfarrgemeinderatssatzungen der deutschen Diözesen bei Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, S. 352 ff., insbes. S. 358, jeweils mit Rechtsquellennachweis. 314
Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, S. 354.
190
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
auch die Kompetenzbestimmungen der meisten deutschen Diözesen315. Während in allen Belangen, die in die amtliche Zuständigkeit des Pfarrers fallen, ζ. B. Seelsorge, Verkündigung, Liturgie und Sakramentsverwaltung, der Pfarrgemeinderat nur Beratungs- bzw. Anhörungsrechte hat, wird ihm im sozial-karitativen sowie im gesellschaftspolitischen Bereich eine zustimmende oder beschließende Entscheidungskompetenz eingeräumt316. Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich für den Bereich der Seelsorge. Seelsorgerische Maßnahmen beinhalten regelmäßig auch karitative Elemente, beide Bereiche lassen sich nicht scharf trennen 317. Das zeigen die Fälle des Kirchenasyls. Sie sind seelsorgerischer Natur und stellen zugleich sozialkaritative Aktionen mit gesellschaftspolitischer Relevanz dar. Weil eine eindeutige Zuordnung zu einem dieser Bereiche nicht möglich ist, ist nach dem Schwerpunkt der Maßnahme zu fragen. Dieser liegt für die Kirchengemeinde zumindest auch im sozial-karitativen und, da sie ihr Vorgehen vor Behörden und Öffentlichkeit vertreten muß, im gesellschaftspolitischen Bereich. Die Mitwirkung des Pfarrgemeinderates ist, da ihm hier ein Beschlußrecht zusteht, erforderlich. Der Rat kann auch von sich aus die Initiative ergreifen und den Pfarrer zur Mitwirkung auffordern. Allerdings enthalten die Pfarrgemeinderatssatzungen als Korrektiv des Beschlußrechts ein Vetorecht des Pfarrers, der mit seinem Widerspruch eine Beschlußfassung verhindern oder, so im Erzbistum Köln, die Entscheidung des Erzbischofs als übergeordneter Instanz herbeiführen kann 318 . Darum ist eine Asylgewähr gegen die Stimme des Pfarrers und ggf. ohne oberhirtliche Erlaubnis unzulässig.
315 Nur die Satzungen der Diözesen Osnabrück, Paderborn, Fulda, Freiburg und Mainz unterscheiden nicht zwischen beratender und beschließender Funktion; vgl. Loggen, ebd., S. 358 m. Rechtsquellennachweis. 316
Als Beispiel sei hier die Satzung für die Pfarrgemeinderäte des Erzbistums Köln vom 3.6.1977 genannt. In deren zentralen Vorschrift des § 2 PGRSatzung heißt es: "(1) Der Pfarrgemeinderat hat die Aufgabe, in allen die Pfarrgemeinde betreffenden Fragen je nach Sachbereichen beratend oder beschließend mitzuwirken: a) Im Bereich der Pastoral unterstützt er den Pfarrer in seinem Amt und wirkt beratend mit. Zu diesem Bereich gehören alle dem Amt des Pfarrers zugeordneten Aufgaben, insbesondere die der Verkündigung, der Liturgie und der Sakramentsspendung. (...) b) Im Bereich des Laienapostolats kann er, unbeschadet der Eigenständigkeit der Gruppen und Verbände in der Gemeinde, in eigener Verantwortung tätig werden und Entscheidungen treffen. Dieser Sachbereich umfaßt vornehmlich soziale und gesellschaftspolitische Aufgaben. (...)", abgedruckt bei Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, S. 147. Siehe dort, S. 359 f., auch zu der unterschiedlichen Ausgestaltung des Zustimmungsrechts (bindend nicht bindend) in den einzelnen Diözesen. 317
Vgl. zur Abgrenzungsproblematik allgemäß Loggen, ebd., S. 360.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
191
Sofern die Satzungen dem Pfarrgemeinderat lediglich ein Zustimmungsrecht einräumen319, hängt die Zulässigkeit einer Asylgewährung durch den Pfarrer gegen ein Votum des Pfarrgemeinderates von der Ausgestaltung des Zustimmungsrechts ab. Zum Teil ist die Zustimmung ein für den Pfarrer notwendiges Handlungserfordernis im beschriebenen Aufgabenbereich, zum Teil hat sie keine bindende Wirkung 320. Allerdings wird ein Kirchenasyl, welches nicht kraft der demokratischen Mitwirkung der Laien nach außen sichtbar von der Gemeinde getragen wird, in der Öffentlichkeit wenig Verhandlungsgewicht aufweisen, so daß ein Pfarrer in der Regel nicht ohne Zustimmung des Pfarrgemeinderats handeln wird. In der Praxis wird daher nicht auf die Zustimmung des Laiengremiums verzichtet 321. Andere Grundsätze gelten, wenn sich ein eindeutig seelsorgerischer Schwerpunkt (Seelsorge im engeren Sinne) ausmachen läßt, etwa weil der Pfarrer die begründete Besorgnis hat, der Flüchtling werde sich in der Abschiebehaft etwas zuleide tun. In diesem Fall muß er eine mögliche Kirchenasylentscheidung nicht von der Zustimmung oder Ablehnung des Pfarrgemeinderates abhängig machen. Vielmehr handelt er dann als eigenberechtigter Hirte im Namen der Gemeinde, ohne durch Mehrheitsbeschlüsse gebunden zu sein (bb) Vermögensverwaltungsorgan Kirchenasyl beinhaltet eine Überlassung kirchlicher Gebäude zu Wohnzwecken323. Dies geschieht unentgeltlich. Der Kirchengemeinde können daraus Mietausfälle erwachsen, etwa im Falle der Überlassung einer vermietbaren Wohnung. Es fragt sich daher, ob das kirchliche Vermögensverwaltungsorgan im Hinblick auf die materiellen Folgen einer Kirchenasylgewährung mitwirken muß und gegebenenfalls ein Veto einlegen kann. Diese Frage stellt sich
318 Für Köln: § 10 m PGRSatzung; näher Loggen, ebd., S. 365 mit Rechtsquellennachweis. 319
München-Freising: 2.4 ARL; Würzburg: § 2 IV lit. d) PGRSatzung; Eichstätt: § 2 Zif. 2 PGRSatzung; Speyer: § 3 Zif. 3 PGRSatzung. 320 Bindungswirkung: Diözesen Speyer und Eichstätt; keine Bindungswirkung: Erzdiözese München u. Freising, Diözese Würzburg; dazu Loggen, ebd., S. 360 f; s. a. die Auslegungsregel des can. 127 § 2 CIC. 321
Vgl. dazu etwa den oben S. 63 ff. geschilderten Fall Gilching.
322
Vgl. allgemäß Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 536, Rn. 7.
323
Näher oben S. 69 f.
192
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
auch, wenn die Gemeinde kirchliche Finanzmittel zur Deckung der laufenden Kosten (Unterhalt etc.) aus ihren Ersparnissen zur Verfügung stellt. Die Verwaltung des Pfarrvermögens obliegt dem Vermögensverwaltungsrat, der in jeder Gemeinde gemäß can. 537 CIC zu bilden ist. Dieser Rat besteht aus gewählten Gläubigen, zumeist Laien, unter Vorsitz des Pfarrers. Er bestimmt über die Vermögensangelegenheiten der Gemeinde im Innenverhältnis, während der Pfarrer die Pfarrei gemäß can. 532 CIC im Rechtsverkehr nach außen vertritt 324 . Zum Pfarrvermögen, dem sog. Fabrikfonds 325, zählen neben den Grundstücken und Gebäuden, die für Gottesdienst und seelsorgerische Aufgaben der Gemeinde notwendig sind, alle Vermögenswerte, deren Erträge die laufenden Kosten decken oder Anschaffungen ermöglichen sollen326. Dazu rechnen auch Spenden, die nicht überörtlichen oder besonderen Zwecken dienen327. Weil jede Aslygewährung des Pfarrvermögens bedarf, scheint die Mitwirkung des Vermögensverwaltungsrates geboten. Es könnte daher in seiner Hand liegen, durch Zustimmungsverweigerung i.S.d. can. 127 § 2 Nr. 1 CIC die Asylentscheidung rechtlich zu blockieren 328. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Gewährung von Interzessionsasyl im Kern seelsorgerische und karitativ-diakonische Arbeit darstellt. Würde man bei allen Seelsorgeentscheidungen mit Kostenfolgen ein uneingeschränktes Mitwirkungsrecht bejahen, würde dies in unzulässiger Weise die Befugnisse des Pfarrers beschränken. 324 Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, S. 55. Eine Ausnahme zu can. 532 CIC besteht aufgrund eines von der DBK beantragten Indults des Hl. Stuhls, wonach im Bereich der Bundesrepublik Deutschland das bisherige Vermögensverwaltungsrecht fortgilt, wozu vor allem das preußische Gesetz über die Verwaltung des katholischen Kirchenvermögens vom 24.6.1924 zählt. Dieses Gesetz ist als Landesrecht oder kirchliches Gewohnheitsrecht im Gebiet des ehemaligen preußischen Staates, so in den NW-Bistümern, geltendes Recht (soweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen). Es regelt in § 1, daß auch die Außenvertretung in die Kompetenz des Vermögensverwaltungsrats (sog. Kirchenvorstand) fallt; näher Emsbach, Rechte und Pflichten des Kirchen Vorstands, S. 9 (mit Text des VermVerwG im Anhang, S. 121 ff.); Wenner, Kirchenvorstandsrecht, S. 47; Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 532, Rn. 11; Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, S. 129 f. 325
Zum Begriff fabrica ecclesia, dem Pfarr- oder Gotteshausvermögen, in Abgrenzung vom Pfründe vermögen (beneficium) s. Paarhammer in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 531, Rn. 2 sowie Einleitung v. can. 515, Rn. 12. 326
Emsbach, Rechte und Pflichten des Kirchenvorstandes, S. 47.
327
Emsbach, ebd.
328
Vgl. Emsbach, Rechte und Pflichten des Kirchenvorstandes, S. 49, a.A. Loggen, Formen rechtlicher Mitwirkung, der dem Vermögensverwaltungsrat kein Entscheidungs-, sondern nur ein Beratungsrecht i.S.d. can. 127 § 2 Nr. 2 CIC zubilligen möchte.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
193
Daher finden die Kompetenzen des Vermögensverwaltungsorgans im geistlichen Amt des Pfarrers ihre Grenze329. Daraus folgt der Grundsatz, daß der Vermögensverwaltungsrat Seelsorgeentscheidungen des Pfarrers nicht behindern darf und verpflichtet ist, deren Durchführung durch entsprechende Mitwirkung, etwa bei im Einzelfall erforderlichen Anträgen an die bischöfliche Behörde, zu sichern 330 Andererseits obliegt ihm, auch in Seelsorgeangelegenheiten zu prüfen, ob deren konkrete Wahrnehmung mit den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Wirtschaftsführung zu vereinbaren ist 331 . Das bedeutet für den Fall des Kirchenasyls, daß der Vermögensverwaltungsrat seine Zustimmung von einem vernünftigen Finanzierungskonzept abhängig machen kann, wobei dem Pfarrer allerdings ein weiter Gestaltungspielraum zuzubilligen ist. Ein darüber hinausgehendes Mitwirkungsrecht, etwa in Gestalt eines Vetorechts, weil er eine anderweitige Mittelverwendung für sinnvoller erachtet, steht dem Vermögensverwaltungsrat nicht zu. Kein Recht zur Mitwirkung besteht, wenn das Kirchenasyl durch dafür gesammelte Spenden finanziert werden soll. Derartige Spenden für besondere Zwecke unterliegen nicht der Dispositionsbefugnis des Vermögensverwaltungsrates, sondern der Zwecksetzung der Spender332. Gleiches gilt für den Fall, daß die bischöfliche Behörde ein Vorhaben aus Kirchensteuermitteln finanziert. Der Vermögensverwaltungsrat ist nicht Interessenvertreter der Gesamtheit der Steuerpflichtigen, sondern Organ der örtlichen Vermögensverwaltung333.
(d) Oberhirtliche Genehmigungserfordernisse In verfahrensrechtlicher Hinsicht kann die Einholung einer Erlaubnis der übergeordneten bischöflichen Behörde erforderlich sein, wie es der Kodex an verschiedenen Stellen vorschreibt (vgl. cann. 638 § 3, 1291 CIC). So bestehen für eine Vielzahl von Rechtsgeschäften nach den Ausführungsrichtlinien der Partikularrechte Genehmigungspflichten 334. Im Falle des Kirchenasyls kom329
Vgl. Loggen, ebd., S. 59; Emsbach, Rechte und Pflichten des Kirchenvorstands, S. 48. 330
Ernsbach, ebd.
331
Etwa: Kreditaufnahme zur Aufgabenfinanzierung nur vertretbar, wenn vernünftiges Deckungskonzept. 332
Emsbach, Rechte und Pflichten des Kirchenvorstandes, S. 47.
333
Emsbach, ebd., S. 49.
334
Dazu beispielhaft den Genehmigungskatalog für die Bistümer in NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz, abgedruckt bei Emsbach, ebd., S. 134 f, vgl. ebd. S. 84 ff. 13 Grefen
194
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
men Genehmigungen im Hinblick auf Schenkungen in Betracht, wobei es auf den jeweiligen Einzelfall ankommt335. Die in der Praxis seltenen Fälle der Asylgewährung in Gottesdiensträumen erfordern gemäß can. 1210 CIC eine Gestattung des Diözesanbischofs als Ordinarius (vgl. can. 134 § 1 CIC), weil das Kirchenasyl keine Kultusausübung (Gottesdienst, Frömmigkeit, Gottesverehrung) i.S.d. Norm darstellt 336. Die Gestattung kann auch konkludent erfolgen, wenn der Ordinarius einen ihm bekannt gewordenen Fall des Kirchenasyls nicht rügt. Im übrigen sind die für das jeweils handelnde Organ einschlägigen Formund Verfahrensvorschriften zu beachten, wobei keine Besonderheiten bestehen.
(2) Materielle Rechtmäßigkeit Das Interzessionsasyl müßte auch materiell rechtmäßig sein.
(a) Beschränkungen aus dem Sinn und Zweck der Interzession Für die sich aus dem Sinn und Zweck des Interzessionsrechts ergebenden Rechtmäßigkeitsanforderungen an die einzelnen Formen des Kirchenasyls gelten die gleichen Grundsätze wie im evangelischen Kirchenrecht 337. Maßgeblich ist das ernsthafte Anstreben einer Verhandlungspartnerschaft mit den zuständigen staatlichen Behörden, welches in der jeweils gewählten Asylform zum Ausdruck kommen muß und im Falle des versteckten Kirchenasyls zu verneinen ist 338 . Der Grundsatz der ultima ratio beschränkt auch im katholischen Kirchenrecht die Zulässigkeit des Kirchenasyls auf Fälle, in denen die Kirchengemeinde zu der Überzeugung gelangt ist, daß dem Asylflüchtling bei einer Abschiebung Leibes- oder Lebensgefahr droht 339.
335
Nach dem soeben zit. Genehmigungskatalog löst bei derartigen Rechtsgeschäften erst ein Gegenstandswert ab 20.000 DM die Genehmigungspflicht aus. 336
Vgl. zur Gestattung durch kirchlichen Verwltungsakt Reinhardt in: Münsterischer Kommentar, CIC, can. 1210, Rn. 4. 337
Vgl. oben S. 161 ff.
338
Im einzelnen oben S. 162 f.
339
Kommission XIV Migration der Deutschen Bichofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Enzelfall, S. 3 (Nr. 7.8, 7.10); Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, Nr. 256, in: FAZ v. 5.7.1997, S. 8.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
195
(b) Keine Ausschlußgründe im Staatskirchenvertragsrecht Weder aus dem Staatskirchenvertragsrecht allgemein noch aus den dort geregelten Freundschaftsklauseln ergeben sich materiellrechtliche Ausschlußgründe. Insoweit gelten die Ausführungen zum evangelischen Kirchenrecht entsprechend340.
(c) Kein Verstoß gegen das Überparteilichkeits-, Unabhängigkeitsund Mäßigungsgebot Die sittlichen Grundsätze über die soziale Ordnung kann die Kirche nur dann gemäß can. 747 § 2 CIC glaubwürdig predigen, wenn sie sich nicht einer bestimmten politischen Partei oder Richtung verschreibt. Daraus folgt die Geltung des Überparteilichkeits-, Unabhängigkeits- und Mäßigungsgebot im katholischen Kirchenrecht. Unter Verweisung auf die Ausführungen zum Öffentlichkeitsauftrag 341 läßt sich festhalten, daß das Interzessionsasyl nicht gegen diese Grundsätze verstößt. Es ist zulässiger Ausdruck kirchlichen Wirkens in der Welt, dessen politische Komponente im kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag wurzelt, wie ihn auch die katholische Kirche mit ihrem Verkündigungsamt beansprucht342.
ff) Ergebnis Die Gewährung von Kirchenasyl ist somit nach katholischem Kirchenrecht eine zulässige Handlungsform der Pfarrgemeinde, die damit ihrer Beistandspflicht nachkommt.
3. Kirchliches Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam Möglicherweise läßt sich die Asylpraxis beider Kirchen auch auf ein kirchenrechtliches Widerstandsrecht oder auf ein Recht zum zivilen Ungehorsam stützen.
340
Im einzelnen oben S. 164 ff. (mit Nw. z. kath. Staatskirchenvertragsrecht).
341
Zum Öffentlichkeitsauftrag bereits oben S. 169 ff
342
Vgl. Mussinghoff 'm\ Münsterischer Kommentar, CIC, can. 747, Rn. 5.
196
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
a) Widerstandsrecht Die klassische Lehre vom Widerstandsrecht ist in der Antike am Problem des Tyrannenmords entwickelt worden 343. Danach ist eine Handlung gerechtfertigt, die sich gegen einen Tyrannen bzw. gegen einen Unrechtsstaat richtet 344 . Das Widerstandsrecht versteht sich damit als ein Abwehrrecht des Bürgers gegen rechtswidrig ausgeübte Staatsgewalt mit dem Ziel der Wiederherstellung des verletzten Rechts345. Das Widerstandsrecht beansprucht ungeachtet einer möglichen Positivierung 346 naturrechtliche Geltung^47. Als natürliches Recht wird es in beiden Großkirchen theologisch-ethisch begründet und als Teil des Kirchenrechts aufgefaßt 348.
aa) Widerstand im Recht der katholischen Kirche Die katholische Sittenlehre betrachtet Widerstand als Pflicht und Gehorsam als Verbrechen, wenn sich der Staat über seine begrenzte Ordnungsfunktion hinwegsetzt und sich das staatliche Gesetz gegen das göttliche Gebot wendet 349 . Der katholische Weltkatechismus bestimmt als Gewissenspflicht des Bürgers, die Vorschriften der staatlichen Gewalt nicht zu befolgen, wenn diese Anordnungen den Forderungen der sittlichen Ordnung, den Grundrechten des Menschen oder den Weisungen des Evangeliums widersprechen 350. Bei einem Mißbrauch staatlicher Gewalt ist, unter engen Voraussetzungen, auch bewaffneter Widerstand zulässig, sofern eine andauernde und schwerwiegende Verletzung menschlicher Grundrechte vorliegt 351.
343
Näher Kaufmann, Art. Widerstandsrecht, 1. Juristisch, EKL, Bd. 4, Sp. 1278.
344
Ebd.
345
Kaufmann, ebd.; ähnlichMeyer-Hesemann, Art. Widerstand, WBC, S. 1363.
346
Zum Wiederstand im positiven Recht nach Art. 20 Abs. 4 GG s. unten S. 275 f.
347
Schambeck, Art. Widerstand, KSL, Sp. 3343.
348
Vgl. Schambeck, Art. Widerstand, KSL, Sp. 3343 f. und Lienemann, Art. Widerstandsrecht, 2. Theol.-ethisch, EKL, Bd. 4, Sp. 1282 f. Zur Terminologie des Widerstands und den diesbezüglichen Unklarheiten näher W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 407 f. 349
Schambeck, Art. Widerstand, KSL, Sp. 3344.
350
Ecclesia Catholica, Katechismus der Kath. Kirche, Nr. 2242, S. 571 f.
351
Ecclesia Catholica, Katechismus der Kath. Kirche, Nr. 2243, S. 572; Schambeck, Art. Widerstand, KSL, Sp. 3345.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
197
bb) Widerstand im Recht der evangelischen Kirche Die reformatorische Theologie hat den Gehorsam gegenüber staatlichen Institutionen stark betont352. Aufgabe des Staates war, in Erfüllung einer von Gott verliehenen Autorität, unter sündigen Menschen ein Mindestmaß an Ordnung zu gewährleisten353. Demgegenüber trat die Möglichkeit eines Widerstandsrechts ganz in den Hintergrund. Es sollte nur gegeben sein, wo der Staat in die Freiheit des Glaubens eingriff 354. Erst im 20. Jahrhundert gaben die politischen Ideologien mit ihrem zumeist totalitären Gehorsamsanspruch Anlaß zu einer theologischen Begründung des Widerstandsrechts. Es ist heute als Notwehrrecht gegenüber einem Unrechtsstaat anerkannt355.
cc) Politisches Wächteramt der Kirchen Die individuelle Rechtfertigung des Widerstands, die an den persönlichen Glaubensgehorsam des einzelnen Christen anknüpft, findet ihre institutionelle Entsprechung im Wächteramt356, welches beide Kirchen als Eigenrecht wahrnehmen357. Darunter ist die Ausübung des kirchlichen Öffentlichkeitauftrags in einer politisch zugespitzten Situation zu verstehen358. Sieht sich die Kirche einem Unrechtsstaat gegenüber, hat sie die Aufgabe, mit einem eindeutigen Nein ihren Herrn zu bekennen359. Dies folgt für die katholische Kirche aus einer Zuspitzung ihrer Verkündigungspflicht aus can. 747 § 1 CIC und für die 352 Lienemann, Art. Widerstandsrecht, 2. Theol.-ethisch, EKL, Bd. 4, Sp. 1281 f.; Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, in: epd-Dokumentation Nr. 44/85, S. 7. 353 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, in: epd-Dokumentation Nr. 44/85, S. 7. 354
Näher Lienemann, Art. Widerstandsrecht, 2. Theol.-ethisch, EKL, Bd. 4, Sp. 1281
f. 355 Lienemann, ebd.; m. Hw. a. Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, s. a. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 410, insb. zu Bonhoeffers Weg in den Widerstand, m.w.N. 356
Jer. 6, 17; Jes. 62, 6.
357
Zum Wächteramt Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 157 f. m.w.N.; zur Eigenrechtlichkeit Mikat, Kirchen und Religionsgesellschaften, in: ders., Religionsrechtliche Schriften, S. 61. 358
Schiaich, ebd., richtet sich mit Recht gegen die Gleichsetzung von Wächteramt und Öffentlichkeitsauftrag (so aber etwa Mikat, ebd., S. 61.), weil "Wächteramt" die spezifische Wachsamkeit ggü. einer Perversion des Rechtsstaats und die Möglichkeit widerständischen Handelns begrifflich kennzeichnet. 359
Schiaich, ebd.
198
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
evangelische Kirche aus ihrem Selbstverständnis als "Bekennende Kirche" 360 . Das Glaubenszeugnis "in statu confessionis" 361 kann auch in einem Widerstand der Kirche gegen das weltliche Recht bestehen362.
dd) Kirchenasyl und Widerstand Allerdings zählt zu den Weisungen des Evangeliums auch die Pflicht zum prinzipiellen Rechtsgehorsam gegenüber dem weltlichen Gesetzgeber (vgl. Römerbrief 13, 1-7) 363 . Daher ist nach dem Rechtsverständnis beider Kirchen ein Widerstand nur gerechtfertigt, wenn der Machtmißbrauch offensichtlich ist und der Obrigkeit das Unrecht "auf der Stirn geschrieben steht"364. Zugleich richtet sich legitimer Widerstand, im Unterschied zum sog. zivilen Ungehorsam, immer gegen die gesamte geltende staatliche Ordnung, weil sein Rechtfertigungskriterium gerade im Notwehrakt gegen einen Unrechtsstaat liegt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem passiven Widerstand, der in einem Unterlassen365 besteht, und einem aktiven Widerstand, der eine positive Verteidigungshandlung darstellt 366. Beide Formen orientieren sich an den Erfordernissen des Einzelfalls und folgen im Grundsatz gleichen Rechtfertigungsanforderungen 367. Indessen sucht die Handlungsform des Kirchenasyls, mit Ausnahme des versteckten Kirchenasyls, eine Verhandlungspartnerschaft mit dem Staat und richtet sich nicht gegen die staatliche Ordnung. Es liegt daher bereits keine Widerstandshandlung vor. Weil die Bundesrepublik Deutschland kein Un-
360
S.o. S. 171 (ev. Kirche) und S. 183 (kath. Kirche).
361
Zur (protestantischen) Lehre vom status confessionis und dem politischen Lehramt der Kirche näher Schloemann, Art. Status confessionis, EvStL, Bd. 2, Sp. 3488 f. 362
Schiaich, ebd. Dazu aus rechtgeschichtlicher Sicht nur Hattenhauer, schichte, S. 107 f. 363
Europäische Rechtsge-
364
Vgl. Kaufmann t Art. Widerstandsrecht, 1. Juristisch, EKL, Bd. 4, Sp. 1279; dieser Gedanke kommt auch in GS 74, 5 zum Ausdruck, der im kath. Katechismus beim Widerstandsrecht zitiert wird, s. Ecclesia Catholica, Katechismus der Kath. Kirche, S. 572. 365 Im folgenden wird deijenige passive Widerstand, der sich nicht gegen den Staat als Ganzen richtet, sondern nur einzelnen Anordnungen den Gehorsam verweigert, als "ziviler Ungehorsam" verstanden. 366 367
Kaufmann, Art. Widerstand, 1. Juristisch, EKL, Bd. 4, Sp. 1279.
Vgl. Kaufmann, ebd.; ungenau Schambeck, Art. Widerstand, KSL, Sp. 3345, der passiven Widerstand offenbar mit zivilem Ungehorsam gleichsetzt.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
'
199
rechtsstaat ist, sind auch die weiteren Voraussetzungen eines Widerstandsrechts nicht gegeben. Vielmehr sehen die Kirchen den demokratischen Staat als von Gott gegebenen Ordung, die anzuerkennen und mitzugestalten ihnen aufgegeben ist 368 . Daher können Aktionen gegen eine als menschenrechtswidrig empfundene staatliche Asylpraxis nicht mit dem kirchlichen Widerstandsrecht begründet werden. Dies gilt insbesondere für das versteckte Kirchenasyl369. In einem solchen Fall mag die Bezeichnung einer Aktion als Widerstand zwar die Motivation ihrer Akteure und das Gewicht ihrer Gewissensentscheidung kennzeichnen. Keinesfalls aber erfüllt sie den Tatbestand des kirchlichen Widerstandsrechts.
b) Ziviler Ungehorsam Gleichwohl könnte eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt des sog. "Zivilen Ungehorsams" in Betracht kommen.
aa) Begriff des zivilen Ungehorsams Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich vom (aktiven und passiven) Widerstand dadurch, daß er sich gegen einzelne obrigkeitliche Maßnahmen richtet und den Gehorsamsanspruch des Staates gegenüber allen anderen Anordnungen unberührt läßt 370 . Der Handelnde sagt nicht dem System den Kampf an. Er vertraut darauf, daß das System in ihm nicht allein den Rechtsbrecher sieht, sondern in seiner Handlung die ernsthafte Anfrage an die ethische Vertretbarkeit einzelner Bereiche des geltenden Rechts erkennen wird 371 . Ziviler Ungehorsam ist daher Widerspruch gegen die Obrigkeit im Rechtsstaat372. Seine
368
So für die ev. Kirche die Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", hrsg. v. Kirchenamt der EKD, in: epd-Dokumentation Nr. 44/85, S. 8. 369 Dazu oben S. 80. 370 Über die "Entdeckung" der Theorie der "Civil Disobedience" durch H.D. Thoreau im 19. Jh im Kampf gegen die Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten s. nur W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 411 f. 371
Ähnl. Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechsstaat, in: Glotz, "Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat", S. 29 ff. 372 Näher die Aufsatzsammlung "Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat", hrsg. v. P. Glotz; systematisch Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 399 ff., zur Rechtfertigung ders., Gerechtigkeit als Fairneß, S. 165 ff.
200
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Mittel sind gewaltfreie und stets öffentliche Regelverletzungen, die symbolisch eingesetzt werden 373. Die Demokratie-Denkschrift der EKD 3 7 4 stellt aus evangelisch-kirchlicher Sicht heraus, auch in der Demokratie könne es Fälle geben, in denen der Bürger einzelne staatliche Entscheidungen für verhängnisvoll und trotz formaler Legitimität für illegitim halte375. Sehe jemand grundlegende Rechte aller schwerwiegend verletzt und veranschlage diese höher als eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung, so müsse er bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Allerdings dürfe die Ernsthaftigkeit und Herausforderung, die in solchen Verstößen liege, nicht einfach durch den Hinweis auf die Legalität und Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems und seiner Mehrheitsentscheidungen abgetan werden. Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehöre, daß die Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürger zu würdigen seien. Auch wenn sie rechtswidrig seien und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterlägen, seien sie als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist die Relevanz des "Zivilen Ungehorsams" als Rechtsbegriff zweifelhaft. Seine Begrifflichkeit deutet an, daß es sich nicht um eine Kategorie des Rechts, sondern, als quasi-juristische Kategorie 376, letzlich um eine solche der Moral handelt377. Als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen bleiben ethisch legitimierte Regelverletzungen grundsätzlich rechtswidrig. Sie erfahren gerade keine Rechtfertigung in einer Gegennorm höhere Gültigkeit, wie sie etwa das Widerstandsrecht darstellt. Daher kennzeichnet der Begriff "Ziviler Ungehorsam" lediglich die moralischethischen Beweggründe einer individuellen Gewissensentscheidung. Zwar mögen so motivierte Ungehorsamshandlungen im Einzelfall dem Schutz der Gewissensfreiheit des weltlichen Rechts unterliegen. Jedoch darf dies nicht
373
W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 413.
374
Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, Gütersloh, 1985. 375
Dies und das Folgende ebd., S. 21 f.
376
Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR 113 (1988), S. 47, m. Hw. a. BVerfGE 73, 206 (232 ff). 377 Vgl. etwa Lob-Hüdepohl, Asyl mit der Gemeinde, der das Kirchenasyl als zivilen Ungehorsam für moralisch legitim und ethisch gerechtfertigt hält, Caritas Nr. 4/95, S. 165 u. 166.
Π. Rechtsgrundlagen des Kirchenasyls im Kirchenrecht
201
den Blick darauf verstellen, daß ein Rechtsinstitut des "Zivilen Ungehorsams" weder im evangelischen noch im katholischen Kirchenrecht existiert 378.
bb) Kirchenasyl und ziviler Ungehorsam Dennoch ist die Handlungsform des Kirchenasyls dem zivilen Ungehorsam zugerechnet und als Ausdruck einer persönlichen Gewissensentscheidung für ethisch gerechtfertigt gehalten worden 379. Diese Zuordnung ist bedenklich. Das Wesen des zivilen Ungehorsams liegt in einer intendierten öffentlichen Regelverletzung. Der so Handelnde hofft darauf, daß der Staat sich durch die symbolische Ungehorsamshandlung auf lange Sicht zu einer Änderung seiner Politik bewegen läßt. Ziviler Ungehorsam ist damit im Kern Protestmittel zur politischen Mitgestaltung. Als Beispiel kann die sog. pazifistische Steueiverweigerung dienen, die auf eine Änderung der staatlichen Rüstungspolitik abzielt. Demgegenüber will Kirchenasyl gerade kein Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele sein380. Die Kirchengemeinde, die sich entscheidet, Flüchtlinge aufzunehmen, hat die Menschen und ihre Gefährdung im Blick 381 . Die Flüchtlinge und ihr Schicksal sollen nicht zum Druckmittel werden. Das Handeln der Kirchengemeinden ist nicht auf gezielte Verstöße gegen das Asylbzw. Ausländerrecht oder sonstige Normen gerichtet. Daher fehlt es am maßgeblichen Kriterium, der intendierten Regelverletzung382. Anders liegen die
378 Vgl. Robbers, Kirchliches Asylrecht?, AöR 113 (1988), S. 47.; Roßkopf, Kirchenasyl - Geschichte, Rechtsnatur, aktuelle Situation, AWR-Bulletin, Nr. 3/96, S. 104 sowie zum weltlichen Recht unten S. 276 ff. 379 Etwa Just, Jeder Mensch ist ein Heiligtum, in: Asyl von unten, S. 82 f.; darin auch Narr, Widerstehen ist dauerhaft geboten, S. 190 f.; Eid, Ziviler Ungehorsam gegen restriktive Asylpolitik?, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 63 ff. ferner Heimbach-Steins, Kirchenasyl, Stimmen der Zeit Nr. 5/96, S. 297 f.; vgl. Schweizer Ev. Kirchenbund, Christen, Kirchen, Asyl - Widerstand?, Leitlinien für konkretes Handeln, S. 88; ebenfalls in: ThPr, 2/89, S. 161 f.; Lob-Hüdepohl, Asyl mit der Gemeinde, Caritas Nr. 4/95, S. 162; Nagel, Flüchtlinge und Kirchenasyl, S. 25 ff; Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 100; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 115 u. 130; vorsichtig Lescht Die Motivation der Engagierten, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 84 f. 380 So aber Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 101, der Kirchenasyl als Mittel des politischen Protests bezeichnet. 381 382
Vgl. Landeskirchenamt der EKiR, Asyl in der Gemeinde, S. 42.
Wie hier W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, S. 419; vgl. auch Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 62; Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR
202
D. Die kirchenrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Dinge nur beim sog. Wanderkirchenasyl, das jedoch wegen seiner politischen Zielrichtung als Aktionsform abgelehnt wird 383 . Zudem ist Kirchenasyl nicht notwendig öffentlich 384. Die lediglich billigende Inkaufnahme von Normverstößen und die Bereitschaft, entsprechende Konsequenzen zu tragen, ist Ausdruck einer Zivilcourage, die nicht mit zivilem Ungehorsam gleichgesetzt werden kann 385 .
III. Ergebnis Sowohl das evangelische als auch das katholische Kirchenrecht enthalten ein Interzessionsrecht, das sich durch Beschluß der Kirchengemeinde/Pfarrei in der Gewährung von Kirchenasyl konkretisieren kann. Diese Art des Kirchenasyls kennzeichnet zutreffend der Begriff "Interzessionsasyl". Ein darüber hinausgehendes "Asyl am heiligen Ort" läßt sich weder dem Recht der katholischen noch dem Recht der evangelischen Kirche entnehmen.
113 (1988),S. 47; Rothkegel, Kirchenasyl - Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 123. A.A. Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 115. 383 Näher oben S. 77. 384 Vgl. oben S. 82; zutreffend Rothkegel, Kirchenasyl - Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 123. 385
Vgl. Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 62.
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls I. Interzessionsasyl als Aufgabe der Kirche 1. Die Kirchengemeinde als Anspruchsteller Häufig wird "Kirchenasyl" als Sammelbegriff zur Bezeichnung von Sachverhalten verwendet, denen die glaubensbezogene Zuwendung engagierter Christen an abzuschiebende Asylbeweiber gemeinsam ist. Bei der verfassungsrechtlichen Einordnung des Begriffs wird zumeist nicht unterschieden, ob Christen als einzelne oder aber als Repräsentanten der verfaßten Kirche handeln. Vor dem Hintergrund eines rein tatsächlichen Verständnisses von Kirchenasyl verschwimmen die Konturen zwischen Hilfeleistung, die in privater und solcher, die in kirchlicher Trägerschaft steht1. Maßgeblich sei allein das Vorliegen religiöser Beweggründe, welches eine Einordnung dieser tatsächlichen Handlungsformen unter die personal zu verstehenden religiösen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes gestatte2. Unter der Prämisse, daß es letztlich nur um eine unterschiedliche Begründung derselben Freiheit gehe3, bleibt eine exakte verfassungsdogmatische Zuordnung offen. Diese Betrachtungsweise läßt außer acht, daß sich Kirchengemeinden auf ein kirchliches Interzessionsrecht berufen können, welches die Entscheidung über eine Asylgewährung in ihre Verantwortung stellt4. Nicht das individuelle Handeln einzelner Christen steht auf dem Prüfstand, sondern das Handeln der verfaßten Kirche in Gestalt der Kirchengemeinde.
1
Etwa bei Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR 113 (1988),S. 44 f.; Kraus, Kirchenasyl und staatliche Grundrechtsordnung, in: Kirchenasyl, S. 59 f.; Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 64. 2 So Robbers, Kirchliches Asylrecht, in: AöR 113 (1988), S. 44 f., ähnlich Kraus, Kirchenasyl und staatliche Grundrechtsordnung, in: Kirchenasyl, S. 59 f.; Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 64; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 61 u. 155. 3
So Robbers, Kirchliches Asylrecht, AöR 113 (1988), S. 45.
4
Oben S. 127 ff.
204
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
Damit ist der Blick auf die Fälle gerichtet, welche das kirchliche Rechtsinstitut des Interzessionsasyls ausfüllen 5, und es sind solche "Asylformen" oder verwandte Handlungsweisen von der weiteren Untersuchung ausgeschlossen, die bereits nach kirchlichem Rechtsverständnis kein Kirchenasyl darstellen. Es sind dies die Kirchenbesetzung6 sowie die schlichte Unterbringung in kirchlichen Häusern7. Für das von einer Kirchengemeinde praktizierte versteckte Kirchenasyl8 ist zu klären, wie sich die Abweichung vom kirchenrechtlichen Asylbegrifif verfassungsrechtlich auswirkt. Die möglichen verfassungsmäßigen Rechte der Asylflüchtlinge sowie der einzelnen Unterstützer des Kirchenasyls treten zugunsten einer Zuspitzung auf die staatskirchenrechtliche Problematik in den Hintergrund.
2. Verfahrensbeteiligung und Nichtintervention als Anspruchsbegehren In den Vordergrund rückt die Frage nach einem verfassungsrechtlichen Anspruch der Kirche gegen den Staat auf Anerkennung ihres kirchlichen Interzessionsrechts. Dabei läßt sich das Anspruchsbegehren, ausgehend von dem zuvor gewonnenen Begriff vom Kirchenasyl als Interzessionsasyl9, näher bezeichnen. Danach begehren die Kirchen keine Exemtion von der staatlichen Justizhoheit: Nicht der Raum beansprucht Schutz, sondern die Interzessionsentscheidung der Kirchengemeinde, welche die staatlichen Behörden und Gerichte zu einer weiteren Sachprüfung veranlassen soll. Das Interzessionsasyl enthält damit den Anspruch auf Anhörung und Berücksichtigung des kirchlichen Vorbringens durch die staatlichen Behörden nach Art eines Gegenvorstellungsrechts. Ein eigenes Asylrecht als Pendant zum völkerrechtlichen Asyl begehrt die Kirche nicht. Allerdings bedarf auch das Interzessionsasyl eines Raumes: Erst der räumlich-gegenständliche Bereich der Kirche ermöglicht die Übernahme der Durchfuhrungsverantwortung durch die Kirchengemeinde und eröffnet dem betreffenden Flüchtling einen Lebensraum in der Zwischenzeit. Somit vermit5 Soweit Kraus, a.a.O, S. 59, anmerkt, daß es nicht auf die Untersuchung eines Rechtsinstituts "Kirchenasyl" ankomme, sondern auf eine personale Grundrechtsuntersuchung, ist zu beachten, daß Kraus auf ein weltliches Kirchenasylrecht historisch bezug nimmt. 6
Oben S. 85.
7
Oben S. 87.
8
Oben S. 80. Oben S. 144 ff.
9
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
205
telt die Entscheidung zum Interzessionsasyl zugleich einen Anspruch auf räumliche Nichtintervention. Ähnlich wie im historischen kirchlichen Asylrecht eröffnet der Schutz des Kirchenraums dem Hirten und seiner Gemeinde erst den nötigen zeitlichen Spielraum zur Verhandlungsführung. Gleichwohl steht dabei nicht der Raum im Vordergrund, sondern die Entscheidung selbst, deren Beachtung durch den Staat gefordert wird. Der Anspruch auf Nichtintervention ist daher unselbständig und zeitlich befristet. Ausgehend von diesem Begehren läßt sich festhalten, daß es bei der Problematik des Kirchenasyls nicht in erster Linie um die Frage nach den grundrechtlichen Grenzen staatlichen Handelns10, sondern darum geht, ob der Staat den Kirchengemeinden eine Verfahrensbeteiligung anbieten muß. Daher wird die Lösung weniger im abwehrrechtlichen status negativus als im teilhaberechtlichen status positivus verfassungsrechtlicher Gewährleistungen zu suchen sein11.
I I . Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden Anhand der verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten der Kirchengemeinden ist zu überprüfen, ob Ansprüche auf Verfahrensbeteiligung und Nichtintervention begründet sind. Das Ergebnis dieser Untersuchung erlaubt Aussagen über die Anwendung des einfachen Rechts, dessen Bestimmungen verfassungskonform auszulegen sind12.
1. Grundrechtsbindung der Kirchen als möglicher Verpflichtungsgrund zur treuhänderischen Mitwirkung im staatlichen Asylverfahren Ein Gegenvorstellungsrecht der Kirchengemeinde im Rahmen des weltlichen Asylverfahrens könnte sich aus einer Bindung der Kirchen an die Grundrechte ergeben. Möglicherweise folgt aus einer solchen Position eine Pflicht der Kirche zur aktiven Mitwirkung im Asylverfahren dort, wo sich die Asyl- und Ausländerbehörden dem begründeten Vorwurf aussetzen, Grundrechte der Asylbeweiber in der Praxis zu mißachten. So könnte eine grundrechtliche Schutzpflicht zur treuhänderischen Wahrnehmung des staatlichen Asylverfahrens anzunehmen 10
So aber Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 62.
11
Zu den klassischen Grundrechtsfunktionen nur Pieroth/Schlink, Rn. 61 ff. 12
BVerfGE 8,210 (221), st. Rspr.
Staatsrecht Π,
206
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
sein13. Zwar stellt Art. 16 a GG das Grundrecht auf Asyl unter einen Verfahrensvorbehalt mit der Folge, daß seine Anerkennung durch die staatlichen Behörden konstitutiv wirkt 14 . Jedoch hat auch die Ausgestaltung des Verfahrens dem Grundrechtsschutz Rechnung zu tragen15. Daher könnte eine Art Notkompetenz zum subsidiären Menschenrechtsschutz der Kirchen 16 dort gegeben sein, woein Grundrechtsschutz verfahrensrechtlich leerzulaufen droht 17. Auch wenn die Grundrechte die Rechte der durch sie Gebundenen prinzipiell nicht erweitern, sondern beschränken, könnte einer grundrechtlichen Schutzpflicht der Kirchengemeinde in dieser Konstellation ein ihr zustehendes Recht gegen die staatlichen Asylbehörden auf Gegenvorstellung korrespondieren.
a) Verpflichtung
kraft ihres Körperschaftsstatus
Eine Grundrechtsbindung der Kirchen könnte sich zunächst aus ihrem öffentlich-rechtlichen Status gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV ergeben. Die Norm eröffnet den Kirchen und Weltanschauungsvereinigungen die historisch überkommene Berechtigung zu öffentlich-rechtlicher Organisation. Das Recht steht auch lokalen Untergliederungen einer öffentlichrechtlichen Vereinigung zu, etwa einer Kirchengemeinde18. Im Bereich der römisch-katholischen Kirche sind die Diözesen und Pfarreien, im Bereich der evangelischen Kirche die Landeskirchen und die Gemeinden, ebenso wie die EKD als Dachverband Körperschaften des öffentlichen Rechts19. Möglicher-
13
Die Frage wird aufgeworfen und verneint von B. Huber, Kirchenasyl, ZAR 1988, S. 154. 14 15
Kimminich in: BK, GG, Art. 16, Rn. 356; Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 44. BVerfGE 42, 64 (73); 52, 391 (407), st. Rspr.
16
So, mit einem überpositiven Ansatz Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz, ZRP 1996, S. 97 ff., insbes. S. 99. Reuter versteht das Asylrecht, unter Berufung auf Hanna Arendt, als ein Notrecht zum Schutz des Basisrechts auf politische Gemeinschaft, vgl. ders., Kirchenasyl und staatliches Asylrecht, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S. 574 ff, insbes. S. 598. 17
Vgl. Voßkuhle, Grundrechtspolitk und Asylkompromiß, DÖV 1994, S. 59 f. Für einen zumindest verfassungsfunktionswidrigen Mißgriff angesichts der weitgehenden Ausnahmen zum Asylschutz in Art. 16 a Abs. 2 - 5 GG Lübbe-Woljf in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 16, ungeachtet der Billigung des neuen Aslygrundrechts durch das BVerfG (E 94, S. 49 ff.) als verfassungskonform, sowie Voßkuhle, a.a.O.(m.w.N) 18 19
BVerfGE 53, 366 (393 ff.); Jarow/Pieroth, GG, Art. 4, Rn. 34.
Kirchhof, Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR I, S. 679. Die Deutsche Bischofskonferenz hat auf die Stellung eines entsprechenden Antrags verzichtet, näher Kirchhof ebd.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
207
weise unterliegen sie dadurch Art. 1 Abs. 3 GG, wonach die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, neben Gesetzgebung und Rechtsprechung, auch die vollziehende Gewalt binden. Zu dieser zählen grundsätzlich auch öffentlich-rechtliche Körperschaften als Organe mittelbarer Staatsverwaltung20. Allerdings besteht heute Einigkeit darüber, daß die Kirchen öffentlichrechtliche Körperschaften sui generis sind21. Sie bleiben Organisationen des vorstaatlichen gesellschaftlichen Lebens und sind weder dem Staat eingegliedert noch unterliegen sie einer besonderen Staatsaufsicht 22. Demgemäß nehmen sie grundsätzlich keine staatlichen Aufgaben und Befugnisse wahr 23. Daher gelten die Rechtsfolgen, die aus dem Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts gezogen werden können, für die Kirchen heute nicht mehr 24. Eine generelle Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ist insoweit zu verneinen25.
b) Verpflichtung
kraft ihrer öffentlichen
Gewalt
Wenngleich die Kirchen keine staatliche Gewalt ausüben, wird ihr Regime doch als öffentliche Gewalt bezeichnet und das Kirchenrecht, ungeachtet seiner Originärität, systematisch dem öffentlichen Recht zugeordnet26. Allerdings ergibt sich auch aus dieser formalen Qualifizierung keine Bindung der
20
Riifner, Grundrechte im kirchlichen Bereich, EssGespr 7, S. 10.
21
Ebd.; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, Rn. 149.
22
BVerfGE 18, 385 (386); 30, 415 (428); Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 19; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, Rn. 149. 23
BVerfGE 18, 385 (386).
24
Rilfher, Grundrechte im kirchlichen Bereich, EssGespr 7, S. 10; Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 161 f; vgl. schon Ebers, Kirche und Staat, S. 202. 25 Vgl. Ritfher, Grundrechte im kirchlichen Bereich, EssGespr 7, S. 11; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, S. 134; Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 19 jeweils m.w.N.; einschränkend H. Weber, Grundrechtsbindung der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 584 f., der nach Sachbereichen unterscheidet und lediglich im kirchl. Innenbereich eine Grundrechtsbindung verneint, im Außenbereich dagegen eine solche Bindung annimmt, diese aber durch das kirchl. Selbstbestimmungsrecht stark eingeschränkt; vgl. ders., Die Grundrechtsbindung der Kirchen, ZevKR 17 (1972) S. 386 ff. 26 BVerfGE 18, 385 (386); krit. Rüfner, EssGespr 7, S. 11 f.; ders., Zuständigkeit staatlicher Gerichte, in: HbdStKirchR Π, S. 1092 sowie v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, Rn. 149.
208
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
Kirchen an die Grundrechte 27. Die Grundrechte sichern in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte die gesellschaftliche Freiheitsspähre gegen staatliche Eingriffe ab28. Sie verpflichten daher Organe, deren Handeln dem Staat zuzurechnen ist 29 . Zwar kommt den Kirchen ein öffentlich-rechtlicher Status zu, welcher sie über andere private Vereinigungen als geistig-soziale Faktoren des öffentlichen Lebens hebt30. Jedoch bleiben sie gesellschaftliche Mächte und treten dem Staat in einer Position gegenüber, welche sie zu Trägern von Grundrechten und nicht zu deren Pflichtigen Adressaten macht31.
c) Verpflichtung
kraft ihrer hoheitlichen Gewalt
In verschiedenen Sachbereichen üben die Kirchen nicht nur öffentliche, sondern staatliche Gewalt aus. Derartige Gewalt kann entweder in der Wahrnehmung spezifischer, mit der Korporationsqualität eingeräumter öffentlichrechtlicher Gestaltungsformen, etwa im Kirchensteuerrecht, vorliegen32. Sie kann aber auch, ohne Rücksicht auf den öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus, aus einer besonderen Beleihung mit Hoheitsaufgaben resultieren, so im Privatschulrecht 33. Wo die Kirchen staatliche Gewalt ausüben, sind sie an die Grundprinzipien des öffentlichen Rechts, insbesondere an die Grundrechte gebunden34. Im Bereich des Asylrechts ist den Kirchen indessen keine derartige Befugnis eingeräumt. Das Asylrecht ist staatliches Privileg, für dessen Bewilligung die Rechtsordnung ein staatliches Verfahren vorsieht35. Daher bildet das Asylwesen keinen Sachbereich, in dem die Kirchen hoheitlich tätig werden können. Eine Grundrechtsbindung ist insoweit nicht gegeben. 27
Rüfner, ebd., S. 12.
28
v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, Rn. 134.
29
Vgl. Rüfner, EssGespr 7, S. 11.
30
Scheuner, Kirchensteuer und Verfassung, ZRP 1969, S. 195; Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 17. 31
Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, S. 458 (Rn. 50); v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, S. 134; Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 19 jeweils m.w.N. 32
H. Weber, Grundrechtsbindung der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 585.
33
Ebd., S. 578 f.
34
Rüfner, Grundrechte im kirchlichen Bereich, EssGespr 7, S. 12 f; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, Rn. 135; Ehlers in: Sachs,GG, Art. 140, Rn.19; Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: WDStRL, Bd. 26, S. 70 ff. m.w.N. 35
Zum Verfahrensvorbehalt des Asylgrundrechts Kimminich in: BK, GG, Art. 16, Rn. 356 sowie Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 44.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
d) Verpflichtung
209
kraft ihrer sozialen Mächtigkeit
Schließlich ist für die Kirchen unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Bedeutung eine Bindung an Grundrechte erörtert worden36. Dabei konnte sich eine allgemeine Lehre von einer Grundrechtsbindung kraft sozialer Mächtigkeit ebensowenig durchsetzen wie eine allgemeine Drittwirkungslehre 37. Beide scheitern an dem den Kirchen und Religionsgesellschaften gemäß Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV eingeräumten Selbstbestimmungsrecht38. Soweit dieses Recht unter dem Vorbehalt einer Beschränkung durch das "für alle geltenden Gesetz" steht, vermögen die Grundrechte als Gesetze, die eben nur den Staat binden, diese Schrankenformel nur mittelbar, d.h. über die Einwirkung der Grundrechte auf das für alle geltende Recht, auszufüllen 39. Daraus folgt, daß die Grundrechte für die Kirchen und ihre Untergliederungen, soweit sie im nichtstaatlichen Bereich tätig werden, nur mittelbare Drittwirkungen entfalten, wie für Privatrechtssubjekte auch40.
e) Ergebnis Weil die Kirchen im Sachbereich des Asylrechts nicht an Grundrechte gebunden sind, unterliegen sie keiner grundrechtlichen Pflicht zur Wahrnehmung eines subsidiären Grundrechtsschutzes im Asylverfahren. Ein Gegenvorstellungsrecht als Ausfluß einer grundrechtlichen Schutzpflicht besteht nicht.
36
Vgl. Rilfiier,
Grundrechte im kirchlichen Bereich, EssGespr 7, S. 17 ff. m.w.N.
37
Vgl. Rilfiier, ebd., S. 19 ff. der eine Bindung nur dort annimmt, wo die Kirchen an (sozial)staatlichen Aufgaben mitwirken, etwa im Jugendhilferecht. Siehe zur Drittwirkungslehre allgemein Dreier in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb., Rn. 59 m.w.N. 38
Vgl. H. Weber, Grundrechtsbindung der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 579 sowie Rüfher, ebd., S. 21 f. u. S. 26. 39 H. Weber, Grundrechtsbindung der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 582 f.; Rüfiier, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, S. 548 (Rn. 51). Eine Ausnahme eines Grundrechts als "für alle geltendes Gesetz" bildet Art. 9 GG, welches die Drittwirkung selbst anordnet, vgl. H. Weber, a.a.O. 40
Zur Lehre von den mittelbaren Drittwirkung Rüfiier, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, S. 550 ff. sowie Stern, Staatsrecht m/1, S. 1543 ff. jeweils m.w.N. 14 Grefen
210
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
2. Das Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV Möglicherweise ergibt sich ein Anspruch der Kirchengemeinde auf Einräumung einer verfahrensrechtlichen Position im Rahmen des Asylverfahrens aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgesellschaften gemäß Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV. Danach ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Inhalts-, Grenzen- und Schrankenbestimmung des den Kirchen 41 eingeräumten Selbstbestimmungsrechts sind streitig. Obwohl seit der Preußischen Verfassung von 1848 (Art. 12) fester Bestandteil des deutschen Verfassungsrechts42, ist eine "herrschende" Meinung nicht auszumachen43.
a) Eigenständige Bedeutung neben Art. 4 GG Zweifelhaft ist zunächst, ob die sog. Kirchenfreiheit aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV überhaupt selbständige Bedeutung neben der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG hat. Wäre das zu verneinen, bliebe eine Untersuchung der Norm ohne eigenen Erkenntniswert 44. Teilweise wird vertreten, die Religionsfreiheit beinhalte alle Elemente des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, so daß letzterem nur deklaratorische Bedeutung zukomme. Das Recht auf Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten gehe vollständig im Recht auf freie Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG auf. 45
41
Im folgenden Text ist vereinfachend, mit Blick auf die Kirchenasylproblematik, grundsätzlich nur noch von "Kirchen" die Rede. 42 Freilich nicht ohne Bedeutungswandel von der Selbstverwaltung zur Selbstbestimmung; vgl. Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 172. Die Stationen sind: Art. 12 der PreußVerf. von 1848, § 147 Abs. 1 der Pauls-Kirchen-Verfassung v. 1849, Art. 15 der PreußVerf. von 1850; Art. 137 Abs. 3 S. 1 der WRV von 1919, inkorporiert durch Art. 140 GG. Zur Verfassungsgeschichte näher Listi, Staat und Kirche in Deutschland, in: ders., Kirche im freiheitlichen Staat, Bd. 1, S. 237 ff, insbes. S. 266 ff. sowie Preuß in: AK, GG, Art. 140, Rn. 6 f. 43
Vgl. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 549.
44
Ähnl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 181 f.
45
Hauptvertreter dieser Auffassung ist J. Listi, vgl. dens., Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 369 und zuletzt: Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 447; ähnl. wohl Obermayer in: BK, GG, Art. 140, Rn. 86 (S. 72 pass.). Weiter Nachw. zu dieser These bei Listi sowie zu Zustimmung und Kritik siehe
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
211
Diese Position läßt sich nicht mit dem Verfassungstext in Einklang bringen, wie ein Blick auf die Schrankensystematik zeigt. Während die Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet ist, steht die Kirchenfreiheit unter dem Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes. Eine Interpretation, welche beide Normen gleichsetzt, etwa in dem Sinne, daß die Schranken des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV mit den immanenten Schranken des Art. 4 Abs. 2 GG indentisch seien46, widerspräche dem Grundsatz, wonach Verfassungsbestimmungen im Zweifel eine selbständige Bedeutung zukommen soll und sie entsprechend auszulegen sind47. Obgleich sich Kirchenfreiheit und Religionsfreiheit überschneiden können48, geht doch das Recht des Ordnens und Verwaltens der eigenen Angelegenheiten über den Schutz der Religionsausübung durch Art. 4 Abs. 2 GG hinaus49. So umfaßt das Selbstbestimmungsrecht nicht allein die Organisation des Religiösen, sondern schützt die organisatorische Seite des gesamten Tätigkeitsbereichs der Kirchen. Dazu zählen auch solche Tätigkeiten, die keine Religionsausübung sind, wie etwa die Grundstücksverwaltung50. Nur so kommt der Schrankenformel eine eigenständige Bedeutung zu, welche die Weite des Gewährleistungsbereichs51 durch den Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes ausgleicht52. Zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht daher ausgeführt, daß die Garantie freier Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten sich als notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 182, Fn. 397 sowie Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 201, Fn. 65; vgl. a. Pieroth/Schiink, Staatsrecht Π, Rn. 572. 46 So Listi , Die Religionsfreiheit als Verbands- und Individualgrundrecht, EssGespr 3, S. 89. 47
525. 48
So Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 523 u. Dazu unten S. 257.
49
Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 183; vgl. Hollerbach t Diskussionsbeitrag, EssGespr 17, S. 35; H. Weber, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 35 f; Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 171, Fn. 254. 50 Vgl. BVerfGE 53, 366 (401); v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 106; Mukkel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 183; Hesse, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 525, jew. m.w.N. 51 Im folgenden wird der Begriff "Gewährleistungsbereich" dem des "Schutzbereichs" vorgezogen, weil letzterer auf die abwehrrechtliche Seite von Grundrechten zugeschnitten ist. 52 I.E., neben den o. G., auch Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 202. Zur Problematik der Verfassungsbeschwerdefahigkeit von Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts vgl. nur v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 28 sowie BVerfGE 18, 385 (386).
212
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
Gewährleistung erweist, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufugt 53. Vor dem Hintergrund einer grundsätzlich erforderlichen Zuordnung54 oder Abgrenzung55 von Staat und Kirche ist die durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV garantierte Selbstbestimmung als "Kern und Mittelpunkt des von der Weimarer Reichsverfassung eingeleiteten kirchenpolitischen Systems"56 anzusehen. Die Bestimmung ist daher zu Recht als "lex regia" 57 des Staatskirchenrechts bezeichnet worden58.
b) Der Gewährleistungsbereich
des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV
Fraglich ist, ob die jeweilige Kirchengemeinde sich mit ihrer Entscheidung zum Interzessionsasyl im Gewährleistungsbereich des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV befindet.
aa) Persönlicher Gewährleistungsbereich: Die Kirchengemeinde als Rechtsträger Inhaber des Selbstbestimmungsrechts sind nicht allein die Gesamtkirchen, sondern auch ihre Untergliederungen, ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform,
53
BVerfGE 42, 312 (332); 53, 366 (401), im Anschl. an Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I (1. Aufl.), S. 414 (ebenso in der 2. Aufl. des Handbuchs, Bd. 1, S. 525 f.) zustimmend Hollerbach, Staatskirchenrecht, HStR VI, § 138, Rn. 114. 54 So Hesses Zuordnungslehre, vgl. ders., Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 549 ff. 55 So der Interpretationsansatz Wielands, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, Der Staat 1986, S. 348; ähnl. Preuß in: AK, GG, Art. 140, Rn. 27; siehe dazu die ausführliche Kritik bei Mucke l, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 186 ff. 56
Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 171; ähnlich Ebers, Staat und Kirche, S. 253. 57
85. 58
J. Heckel, Melanchthon und das heutige Staatskirchenrecht, in: FS Kaufmann, S.
So Hollerbach, Staatskirchenrecht, in: HStR VI, § 138, Rn. 114; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 105 f.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
213
sofern sie ein Stück des kirchlichen Auftrags wahrnehmen59. Dazu gehören jedenfalls die Pfarrgemeinden 60. Somit zählen die asylgewährenden Kirchengemeinden grundsätzlich zum Kreis der Berechtigten. Demgegenüber können sich einzelne Mitglieder einer Religionsgesellschaft nicht auf das Selbstbestimmungsrecht berufen 61. Daraus folgt, daß sämtliche Formen privater Asylgewährung nicht dem Gewährleistungsbereich der Norm unterfallen.
bb) Sachlicher Gewährleistungsbereich: Interzessionsasyl als Rechtsgegenstand Der sachliche Gewährleistungsbereich des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV umfaßt das Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten.
(1) "Ordnen"und "Verwalten" Das "Ordnen" betrifft die Freiheit der kirchlichen Rechtsetzung und das "Verwalten" die Freiheit der Rechtsdurchsetzung in Gestalt von Regierung, einfacher Verwaltung und Rechtsprechung62. Die Gewährung von Kirchenasyl ist Rechtshandlung und keine bloße Tathandlung63. Sie wurzelt, wie gezeigt, im Interzessionsrecht, das Teil der kirchlichen Rechtsordnung ist. Das kirchengemeindliche Leitungsorgan aktualisiert es zum Interzessionsasyl. Daher basiert der Beschluß zum Kirchenasyl auf einem "Ordnen" und ist selbst "Verwalten" i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV.
59 BVerfG, E 46, 73 (LS 1, 85 ff.) st. Rspr., vgl. nur E 70, 138 (162) m.w.N.; vgl. a. Hesse, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 534. 60
Hesse, ebd. Zu beachten ist, daß das Selbstbestimmungsrecht nicht nur den korporierten, sondern allen Religionsgesellschaften eingeräumt ist. 61
Ebd.
62
Hesse, ebd., S. 535 ff.; Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 68 f.; Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 173; bereits auch Ebers, Kirche und Staat, S. 255 (Ordnen) u. S. 257 (Verwalten) sowie Anschütz, Reichsverfassung, Art. 137, Anm. 4. 63
Zur Frage, ob auch faktisches Handeln vom Selbstbestimmungsrecht geschützt ist s. u. S. 226.
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(2) "EigeneAngelegenheiten" Der verfassungsrechtliche Schutz kirchlicher Selbstbestimmung reicht nur so weit, als die kirchliche Rechtsordnung und Verwaltung eigene Angelegenheiten i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV betrifft. Es fragt sich daher, ob die Gewährung von Interzessionsasyl eigene Angelegenheit der Kirchengemeinde ist. Bei der Interpretation des Begriffs lassen sich eine objektive und eine subjektive Betrachtungsweise unterscheiden64.
(a) Objektive Betrachtungsweise Bei objektiver Betrachtung ist für die Bestimmung des Aufgabenkreises der Kirchen und damit der "eigenen Angelegenheiten" i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV das kirchliche Selbstverständnis unerheblich. Vielmehr ist nach objektiven Kriterien zu suchen. Dieser methodische Ansatz hat vor allem im Schrifttum Anhänger gefunden. Aus der älteren Literatur sind speziell für die Auslegung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts Gerhard Anschütz und Godehard Josef Ebers 65 zu nennen66, aus der jüngeren Literatur Joachim Wielandt 1. (aa) Gerhard Anschütz Nach Anschütz obliegt die Bestimmung der eigenen Angelegenheiten zwar nicht dem einfachen Gesetzgeber68. Sie seien aber durch bloße Auslegung des
64 Vgl. Isensee, Die Grundrechte als Abwehrrechte, in: HStR V., § 111, Rn. 57 sowie Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 15 ff. 65
Siehe aber Mucke l, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 189, der Ebers "an der Schwelle" einer selbstverständnisorientierten Auslegung sieht; welche dieser aber nicht überschreitet, weil er auf das "Wesen" abstellt und damit auf ein objektives Kriterium. 66 Siehe dazu auch die Zusammenfassung bei Hesse, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 538 f. 67
Die Frage, welchen Einfluß selbstverständnisbezogene Wertungen auf die Auslegung von Grund- und Freiheitsrechten haben dürfen, ist Gegenstand einer breiteren und grundsätzlichen Kontroverse. Vgl. zur Problematik nur Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, insbes. S. 36. Eine ausführliche Darstellung des Streitstandes findet sich bei Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 110 ff. (Befürworter einer selbstverständnisorientierten Auslegung), S. 124 ff. (Gegner derselben) m.N. 68 So noch - ohne Begründung - als Kompetenz des Landesgesetzgebers gemäß 137 Abs. 8 aufgefaßt durch PreußOVG 82, 196 (204 f.)sowie RGZ 107, 340. Ähnlich vorher auch Anschütz, Verfassungs-Urkunde I, S. 307. Weiterer Nachweis bei Ebert, Kirche und Staat, S. 254, Fn. 3.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
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Verfassungstextes zu ermitteln 69. Geschützt seien danach Glaubenslehre, Kultusordnung, Verfassimg und Verwaltung der Religionsgesellschaften und ihrer Unterverbände, die Rechte und Pflichten der Mitglieder der Religionsgesellschaften, die Rechtsverhältnisse der kirchlichen Amtsträger und das kirchliche Finanzwesen70. (bb) Godehard Josef Ebers Nach Ebers lagert der Verfassung ein materieller Begriff der eigenen Angelegenheiten vor 71 . Maßstab sei die Natur der Sache, die Zweckbeziehung oder Zweckbestimmung der jeweiligen Angelegenheit72. Damit kommt Ebers zu ähnlichen Ergebnissen wie Anschütz, zieht aber den Kreis weiter, indem er auch gemeinsame Angelegenheiten zwischen Staat und Kirche dem Selbstbestimmungsrecht zuordnet, diese aber beschränkt sieht auf amtliche Seelsorge im Heer und in öffentlichen Anstalten, den Religionsunterricht, den Betrieb theologischer Fakultäten und das Bestattungswesen73. (cc) Joachim Wieland Nach Wieland ist das Selbstbestimmungsrecht nicht im Sinne eines Freiheitsrechts zu verstehen, sondern als Abgrenzungsnorm 74. Diese gestatte keine Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses75. Sie diene einzig zur Abgrenzung der Regelungsbefiignisse zwischen Staat und Religionsgesellschaften, wobei den Kirchen nur solche Angelegenheiten als eigene garantiert seien, die nicht in den staatlichen Bereich hineinreichten76. Dazu zählt er die schon von Anschütz aufgeführten Sachbereiche77. Darüber hinaus schließt er die karitative Tätigkeit der Religionsgesellschaften wegen ihres staatlich-
69
Anschütz, Reichsverfassung, Art. 137, Anm. 4 (S. 635 f.).
70
Ebd.
71
Ebers, Staat und Kirche, S. 258.
72
Ebd.
73
Ebers, Staat und Kirche, S. 261. Vgl. zum Anklang der weiteren Auffassung Ebers gegenüber der engere Auffassung Anschütz im Schrifttum der Weimarer Zeit nur Mukkel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 189 f. mit Fn. 448. Eine ähnliche Konzeption wie Ebers vertritt Jurina, Rechtsstatus der Kirchen, S. 60 ff. 74
Wieland, S. 347 f.
Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, Der Staat, 1986,
75
Ebd., S. 345 f.
76
Ebd., S. 346.
77
Ebd., S. 343.
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weltlichen Bezugs aus dem Gewährleistungsbereich des Art. 137 Abs. 3 S. 1 aus78. (dd) Ergebnis: Das Asylwesen als objektiv staatliche Angelegenheit Auf dieser Grundlage läßt sich gegen eine Zuordnung des Interzessionsasyls zu den Aufgaben der Kirchengemeinde zunächst feststellen, daß sie nicht zu den klassischen, von Anschütz herausgearbeiteten kirchlichen Angelegenheiten zählt. Zwar war die Asylgewährung vormals kirchliche Aufgabe. Jedoch hat die Entwicklung des völkerrechtlichen Asyls und die Herausbildung des modernen Staats dazu geführt, daß die Asylkompetenz der Kirche auf den Staat übergegangen ist 79 . Der Staat handelt in seinem, auch der Natur der Sache nach ureigenen Aufgabengebiet, wenn er darüber entscheidet, wer sich auf seinem Hoheitsgebiet aufhalten darf. Soweit die Kirchen karitative oder diakonische Belange geltend machen, ragen diese jedenfalls in den staatlichen Bereich hinein, weil sie an das staatliche Asylverfahren anknüpfen. Bei objektiver Betrachtungsweise spricht also einiges dafür, die kirchliche Asylgewähr von vorneherein aus dem sachlichen Schutzbereich des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV auszugrenzen.
(b) Subjektive Betrachtungsweise Die subjektive Betrachtungsweise stellt zur Bestimmung des verfassungsrechtlichen Begriffs der "eigenen Angelegenheiten" maßgeblich auf das Selbstverständnis der Berechtigten ab. Eine daran orientierte Auslegung des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV vertritt das Bundesverfassungsgericht und überwiegt auch in der Literatur 80, wobei hieraus exemplarisch Martin Heckel, Konrad Hesse sowie - vermittelnd - Axel Frhr. von Campenhausen zu nennen sind. (aa) Bundesverfassungsgericht Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dahingehend zusammenzufassen, daß seine religiös-weltanschauliche Neutralität dem Staat eine nähere inhaltliche Bestimmung bekenntnismäßig geprägter Rechtsbe-
78 Ebd., S. 343 f. Ähnlich die Vertreter der sog. Bereichsscheidungslehre, welche diese Unterscheidung allerdings auf der Schrankenebene vornehmen und dabei die Abgrenzung dem Willen des Gesetzgebers überlassen, s. u. S. 246. 79 80
S. oben S. 46 ff.
So das Fazit von Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letzentscheidung, S. 185.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
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griffe verbiete81. Er habe kein eigenes Wissen über das, was vom kirchlichen Grundauftrag her gefordert sei82. Daher sei die Frage, welche Regelungen und Maßnahmen kirchliche Angelegenheiten seien, nicht, wie das Gericht im sog. "Gemeindeteilungsbeschluß" noch angenommen hatte83, von der Natur der Sa, che, sondern nach dem kirchlichen Selbstverständnis zu beantworten. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV beinhalte das Recht der Kirchen, alle Angelegenheiten gemäß den spezifischen kirchlichen Ordnungsgesichtspunkten, d.h. auf der Grundlage des kirchlichen Selbstverständnisses rechtlich gestalten zu können . (bb) Martin Heckel Martin Heckel geht vom durch die Verfassung konkretisierten Konzept eines säkularen und damit weltanschaulich neutralen Staats aus. Dieser habe sich die inhaltliche Bestimmung des Wesens religiöser Begriffe, Vorgänge und Institutionen durch eine negative Kompetenzbeschränkung im Religiösen versagt85. Weil der Staat daher den Inhalt religiöser Begriffe nicht selbst ausfüllen könne, hätten die Normen des Staatskirchenrechts Verweisungscharakter 86. Sie verwiesen aus dem säkularen Recht hinaus und hinüber auf den religionsgesellschaftlichen Begriff 87. Die Kirchen bestimmten nach Art. 137 Abs. 3 WRV/140 GG selbst was zu ihren Angelegenheiten gehöre, und dieser Kreis sei ziemlich weit88. (cc) Konrad Hesse Hesse sieht eine prinzipielle Scheidung von geistlichem und weltlichem Auftrag 89 und ein damit einhergehendes Verständnis vom Kirchenrecht als
81 Siehe dazu die ausführliche Rechtsprechungsanalyse bei Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 29 ff, insbes. die Zusammenfassung S. 68 sowie Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 431 ff. 82
BVerfGE 72,278 (294).
83
BVerfGE 18, 385 (387); überholt, vgl. Hesse, Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 539 f. sowie Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 68. 84
BVerfGE 66, 1 (19), st. Rspr., vgl. E 70, 138 (165).
85
M. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: HdbStKirchR I, (1. Aufl.), S. 504; ders., Die theologischen Fakultäten, S. 24. 86
M. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, HdbStKirchR I (1. Aufl.), S. 504.
87
Ebd.
88
M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: WDStRL 26, S. 41; ders., Die religionsrechtliche Parität, HdbStKirchR I (1. Aufl.), S. 505. 89
Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 540 pass.
218
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Ordnung eigener Art 90 . Mit der Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts lasse das Grundgesetz Raum für die Wahrnehmung von Aufgaben, die jenseits der Aufgaben des religiös und weltanschaulich neutralen Staates lägen, die aber als wesentlich für das Leben des von ihm konstituierten Gemeinwesens angesehen würden91. Über deren Inhalt entscheiden könne dieses Gemeinwesen nicht, ohne sich mit sich selbst in Widerspruch zu setzen92. Indem es über Aufgaben der Kirche befände, würde es deren Eigenständigkeit negieren93. Daher sei, wie das Bundesverfassungsgericht mit Recht entschieden habe, das Verständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften für eine Qualifizierung einer Angelegenheit als eigene im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV maßgebend94. (dd) Axel Frhr. von Campenhausen Zu nennen ist schließlich die vermittelnde Ansicht von Campenhausens. Er unterscheidet objektiv zwischen nur staatlichen, nur kirchlichen und gemeinsamen Angelegenheiten, deren Regelung Kirche und Staat in Zweifelsfällen jeweils nicht dem anderen überlassen dürften 95. Allerdings räumt auch von Campenhausen ein, daß auf Ebene des Schutzbereichs das Selbstverständnis der Kirchen maßgeblich sei und staatliche Belange über den Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes durchzusetzen seien96. (ee) Ergebnis: Das Asylwesen als Angelegenheit der Kirchen Auf Grundlage der subjektiven Betrachtungsweise ist die kirchliche Asylgewähr schon deshalb als eigene Angelegenheit i.S.d. Selbstbestimmungsrechts anzusehen, weil die Interzession nach dem Selbstverständnis der Kirchengemeinden ihre Pflicht ist und sie in Verfolgung kirchlichen Rechts tätig werden. Auf Schrankenebene wäre dann zu überprüfen, ob die staatliche Asylgesetzgebung einem kirchlichen Wirken in diesem Bereich entgegensteht.
90
Ebd., S. 536.
91
Ebd., S. 541.
92
Ebd., S. 541.
93
Ebd., S. 541.
94
Ebd., S. 542.
95
v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 30.
96
Ebd.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
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(c) Stellungnahme: Die Auslegungsrelevanz des kirchlichen Selbstverständnisses Erweist sich die subjektive Betrachtungsweise als richtig, gehört Interzessionsasyl zum sachlichen Gewährleistungsbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. (aa) Die historische Aufgabenscheidung Die Vertreter der objektiven Betrachtungsweise haben thematisch umgrenzte Sachbereiche herausgearbeitet, die weithin unstreitig dem kirchlichen bzw. dem auschließlich staatlichen Aufgabenbereich zuzurechnen sind, oder die Kirche und Staat als gemeinsame Aufgaben wahrnehmen97. Jedoch ist die Zuordnung weder durch nähere Betrachtung der Verfassungsnorm noch durch Erwägungen zur Natur der Sache befriedigend zu begründen. Da die Verfassung schweigt98, wohnt derartigen Ansatzpunkten die Gefahr der Beliebigkeit inne. So wird eine Wortlautauslegung des Art. 137 Abs. 3 WRV schwerlich Sachbereiche zutage fördern können, die dem Selbstbestimmungsrecht unterliegen sollen, ohne sie vorher hineingelesen zu haben. Auf ähnliche Bedenken stößt ein Abstellen auf die Natur der Sache. Soweit sich Sachbereiche objektiv unterscheiden lassen, sind sie Produkt einer historisch gewachsenen Aufgabentrennung bzw. -Überschneidung. Die Bereichsscheidung ist damit Ergebnis eines langen Prozesses des Miteinanders, Gegeneinanders oder Nebeneinanders von Staat und Kirchen in der abendländischen Geschichte99. Aus der Verfassung selbst ergibt sie sich nicht. (bb) Deren Versagen bei neuen Aufgaben Die objektivierende Trennung der Sachbereiche knüpft letztlich an eine normative Kraft des Historischen an. Diese Argumentation versagt dort, wo es den Kirchen um neue Aufgaben oder um alte Aufgaben in neuer Gestalt geht. Das führt die Problematik des "Kirchenasyls im Rechtsstaat" beispielhaft vor Augen. Hier entzündet sich ein alter und als überwunden geglaubter Rechtsgedanke neu am Ringen kirchlicher Gemeinden mit rechtsstaatlichen Institutionen um das Schicksal ausländischer Flüchtlinge. Einerseits ließe sich in Verfolgung einer objektiven, mit historischen Indizien arbeitenden Methode die Anwort auf die Frage "eigener Angelegenheiten" unter Hinweis auf die hi97
Siehe zu diesen gewachsenen Aufgaben im einzelnen v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 43 ff. 98 Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 541: "Was nicht geregelt ist, kann auch nicht durch Auslegung ermittelt werden." 99
Vgl. v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 30: "jahrhundertelange Erfahrung mit Abgrenzungsproblemen".
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storische Entwicklung verneinen. Andererseits stellt sich das Kirchenasyl als Aktualisierung eines nie untergegangenen kirchlichen Interzessionsrechts dar und knüpft seinerseits an die Tradition an. Eine Entscheidung auf historischer Grundlage läuft daher auf die Frage hinaus, welchem Taditionsbezug der Vorzug gebührt. Auch hierauf enthält die Verfassung keine Antwort. Insbesondere läßt sich aus ihr keine Sperrwirkung des historisch Gewordenen zu Lasten des Neuen ableiten. (cc) Das Bekenntnisargument Die begrenzte Aussagekraft objektivierender Theorien zeigt sich auch, wo es um Regelungen geht, die das Bekenntnis einer Religionsgesellschaft betreffen. So erklärt sich die Ehe als Materie des Kirchenrechts aus dem subjektiven Verständnis der Kirche von der Ehe als Sakrament100. Der hohe Stellenwert der Sozialaibeit innerhalb der Kirche folgt aus dem Verständnis der Nächstenliebe als Dienst in der Nachfolge Christi 101. Demgegenüber gründet die staatliche Regelungstätigkeit auf diesen Gebieten auf der Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers zum Institut der Zivilehe und zum Sozialstaat. Ein objektiver Grund, den Kirchen hier noch ein eigenes Feld zu überlassen, besteht nicht. Jedoch akzeptiert der Staat, indem er den Kirchen Freiheit zur Schaffung eigener Regelungen einräumt, ihr aus dem Selbstverständnis folgendes Bekenntnis. (dd) Das Säkularitätsargument Indessen zwingt der Charakter der Bundesrepublik Deutschland als säkularer Staat zur Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses. Das Entscheidende der Kirche ist ihr Auftrag, dem sie durch ihr Wirken in der Welt nachkommt, und nicht ihr Apparat 102. Die institutionelle Kirchenfreiheit 103 des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV schützt daher nicht in erster Linie den organisatorischen Apparat der Kirche, sondern das Bewirken ihres Auftrags in den Formen der Institution104. Diesen Auftrag erhält sie nicht vom Staat. Ihm ist als säkulares, zu Neutralität und Parität verpflichtetes Gemeinwesen ein in-
100 Zum Sakramentscharakter der Ehe Brink, Art. Ehe/Eherecht/Ehescheidung VI, in: TRE, Bd. 9, S. 333 f.; s. a. Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: HdbStKirchR I, S. 787 ff.; ferner Mikat, Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: HdbStKirchR I, S. 150 f. 101
Zum christl. Verständnis von der Caritas nur Isensee, Karitative Betätigung der Kirchen, in: HdbStKirchR Π, S. 665 ff. 102
M. Heckel, Die Kirchen unter dem GG, in: WDStRL 26, S. 40.
103
So Hollerbach, Staatskirchenrecht, HStR VI, § 138, Rn. 114.
104
Vgl. M. Heckel, Die Kirchen unter dem GG, in: WDStRL 26, S. 40.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
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haltlicher Einfluß auf das kirchliche Wirken versagt105. Vielmehr folgt der Auftrag der Kirche ihrem Bekenntnis zum Evangelium, dessen Auslegung und Konkretion ausschließlich ihre Sache ist. Eine objektive Bestimmung der "eigenen Angelegenheiten" würde den kirchlichen Aufgabenbereich, sei es auch negativ, definieren. Damit wäre zwingend eine Ausfüllung religionsinterner Begriffe verbunden, die sich der säkulare Staat verbietet. Daher muß die Auslegung des Gewährleistungsbereichs des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV das kirchliche Selbstverständnis maßgeblich berücksichtigen. (ee) Vergleich mit Art. 28 Abs. 2 GG Dieses Ergebnis bestärkt ein Vergleich des kirchlichen mit dem kommunalen Selbstbestimmungsrechts des Art. 28 Abs. 2 GG. Die dort den Kommunen eingeräumte Regelungsbefugnis beschränkt sich von vorneherein auf "alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft", während Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV von "eigenen Angelegenheiten" spricht. Trotz der relativen Weite des Tatbestandsmerkmals der "örtlichen Gemeinschaft" läßt sich daran eine objektive Auslegung in Richtung auf solche Sachbereiche vornehmen, die einen Ortsbezug aufweisen und in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln 106. Ein solches Merkmal enthält der Tatbestand des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV gerade nicht, sondern öffnet die Norm unter Verweis auf die "eigenen Angelegenheiten" für das kirchliche Selbstverständnis. Wäre dem Gesetzgeber ein begrenzter Tätigkeitsbereich der Kirchen im Blick gewesen, hätte er etwa mit Aufgabenzuweisungen im Rahmen von Kompetenzkatalogen arbeiten können. Dies war ihm freilich versagt, weil nur ein Staat, der sich mit einer bestimmten Religion identifiziert, in der Lage ist, ihre Aufgaben katalogartig aufzulisten107. Aus diesem Verzicht folgt zugleich die Unhaltbarkeit der These Wielands vom Selbstbestimmungsrecht als bloßer Abgrenzungsnorm 108. (ff) Die staatliche Souveränität In jüngerer Zeit sind verstärkt Bemühungen gemacht worden, subjektiven Grundrechtsinterpretationen mit Hinweis auf die aus der Souveränität des Staates folgende Definitionskompetenz über den Inhalt der Freiheitsrechte zu
105 Was im Bezug auf das Selbstverständnis ausführlich Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen (fünftes Kapitel: Säkularität-Neutralität-Parität, S. 191 ff) nachgewiesen hat. 106 So BVerfGE 92, 56 (62) und die h. M., vgl. nur Jarass-Pieroth, Rn. 6. 107
GG, Art. 28,
Vgl. M. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: HdbStKirchR 1(1. Aufl.), S. 506; zust. Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 217. 108
Oben S. 215.
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begegnen109. Für den Bereich des Selbstbestimmungsrechts ist hingegen festzuhalten, daß hier die Verfassung selbst eine Beachtung des Subjektiven anordnet 110. Zwar ist den Kirchen und Religionsgesellschaften in der Konsequenz damit eine Kompetenz-Kompetenz eingeräumt, die nach weltlichem Verständnis sonst nur der souveräne Staat für sich beanspruchen kann. Jedoch ist dies eine Grundsatzentscheidung des verfassunggebenden Gesetzgebers, der dem von ihm konstituierten säkularen Gemeinwesen eine negative Kompetenzbeschränkung im Religiösen auferlegt hat 111 . Diese Selbstbeschränkung folgt ihrerseits aus einem souveränen Akt 112 . Daher widerspricht es nicht dem Souveränitätsprinzip, wenn über die Zuordnung einer Materie zum kirchlichen Bereich nicht der Staat durch eine Bewertung dieser Angelegenheit entscheiden darf 113. Dabei ist unstreitig, daß der Staat berechtigt und sogar verpflichtet ist, Gemeinwohlbelange notfalls auch gegen religiöse Belange durchzusetzen. Jedoch ist für das Selbstbestimmungsrecht der Ort solcher Erwägungen nicht auf der Ebene des Gewährleistungsbereichs, sondern in seiner Schrankenformel zu suchen. Sie räumt dem staatlichen Gesetzgeber die Kompetenz ein, das Selbstbestimmungsrecht zu beschränken114; ihre Anwendung erscheint als flexibel und verspricht differenzierte Ergebnisse115.
109 Vgl. nur Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?; zusammenfassend Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 126 ff. m.w.N. antisubjektivistischer Positionen. 110
Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 192 f.; ders., Muslimische Gemeinschaften, DÖV 1995, S. 314. 111
Vgl. M. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, HdbStKirchR I (1. Aufl.), S. 504.
112
Vgl. Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 59, der allerdings von einer obj. Aufgabenunterscheidung ausgeht. 113
So aber Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 61 f.
114
Die Effektivität der Schrankenregelung verkennt Renck, Bekenntnisfreiheit und Kirchenasyl, NJW 1997, S. 2090, wenn er der subjektiven Sicht unterstellt, sie würde eine Wahrnehmungszuständigkeit der Kirchen propagieren, welche die gesamte moderne Zivilisation umfasse. 115
Ähnl. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 543; vgl. a. Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat, Bd. 1, S. 190 f. I. E. ebenso, neben den bereits Genannten, Hollerbach, Staatskirchenrecht, in: HStR VI, § 138, Rn. 116; Mikat, Art. Kirche und Staat, in: StL, Bd. ΠΙ, Sp. 495; Geiger, Rechtsprechung des BVerfG zum kirchlichen Selbstverständnis, ZevKR 26, S. 61; Mahrenholz, Die Kirchen, S. 103; Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 103 ff.; Morlok, Selbstverständnis, S. 433; Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 219 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 195. A. A. Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 6.; H. Weber, Gelöste und ungelöste Probleme des Staatskirchenrechts, NJW 1983, S. 2551 f.; Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts, in: FS Obermayer, S. 212.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
223
(gg) Das Kirchenrechtsverständnis Die Auslegungsrelevanz des Subjektiven wird durch das Kirchenrechtsverständnis beider Großkirchen bestätigt. Dieses Selbstverständnis kann zwar nicht unmittelbar zur Begründung einer verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigung desselben herangezogen werden, weil darin ein Zirkelschluß läge. Jedoch begegnet die Verfassungsrealität dem kirchlichen Rechtsbegriff als einer verfassungsunabhängigen Gegebenheit, die zu berücksichtigen ist 116 . Die kirchliche Rechtsordnung dient dem Ziel, eine Kirche zu ordnen, die durch Christus nicht als ungeformte Geistbewegung, sondern als festgefügte Gemeinschaft gestiftet wurde, in der Kirchenleben und Kirchenrecht zusammengehören117 bzw. kirchliche Rechtsordnung aus dem Bekenntnis folgt 118 . Demgemäß nehmen die Kirchen ihr Recht nicht vom Staat, sondern betrachten sich als Institutionen sui iuris mit unabgeleiteten Vollmachten ausgestattet 119 . Als solche üben sie eigenberechtigte und originäre Rechtssetzungsgewalt aus120. Das Bundesverfassungsgericht ist dem gefolgt und geht davon aus, daß die Kirchen "ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten" 121. Für den Staat bedeutet das die Anerkennimg des Kirchenrechts als auf der Grundlage geoffenbarter und überlieferter Glaubenswahrheiten kraft eigener Vollmacht gesetztes Recht der Kirchen 122. Dabei darf die kirchliche Rechtsetzungsgewalt nicht im Sinne einer Autonomie verstanden werden 123. Autonomie bedeutet eigenverantwortliches Tätigwerden im übertragenen Wirkungskreis 124. Demgegenüber ist die kirchliche Rechtsetzung Ergebnis der Ausübung eigenberechtigter Gewalt. Ihre Anerkennung durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV hat nur deklaratorische und keine konsti116
Vgl. Badura, Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: HdbStKirchR Π, S. 213. 117
S. 85.
Pius ΧΠ. in einer Ansprache, zit. nach Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen,
118
So das evangelische Selbstverständnis als "Bekennende Kirche", vgl. Bock, Das für alle geltende Gesetz, S. 7, dort auch näher zum dualistischen Rechtsbegriff; ferner Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 89. 119
Höllerbach, Staatskirchenrecht, in: HStR VI, § 138, Rn. 115.
120
Vgl. dazu Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 83 ff. m.w.N.
121
BVerfGE 18, 385 (386).
122
Badura, Staatskirchenrecht HdbStKirchR I, S.213f.
als Gegenstand des Verfassungsrechts,
123
Ebers, Kirche und Staat, S. 256.
124
Ebd.
in:
224
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
tutive Bedeutung 125 . Daher sind das kirchliche und das weltliche Recht als Materien unterschiedlicher Rechtskreise zu unterscheiden, die es nicht vermögen, sich gegenseitig Kompetenzen einzuräumen oder zu beschränken 126. Aus dem Nebeneinander folgt ferner die Unanwendbarkeit der üblichen Derogationsregeln auf einen Normenkonflikt zwischen weltlichem und kirchlichem Recht 127 . Eine Lösung kann sich nur nach spezifisch verfassungsrechtlichen Maßstäben ergeben 128 , die anhand der Schrankenformel des Art. 140/137 Abs. 3 S. 1 WRV zu entwickeln sind. Dabei kann die Formel freilich nicht das kirchliche Binnenrecht beschränken, sondern nur seine Anerkennung im weltlichen Bereich regeln 129 .
(d) Schlußfolgerungen für das Kirchenasyl M i t der subjektiven Betrachtungsweise ist zu schlußfolgern, daß die Gewährung von Kirchenasyl grundsätzlich zu den eigenen Angelegenheiten im Sinne des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV/140 GG zählt 1 3 0 .
125
Ebd.
126
Ungeachtet einer möglichen Einordnung kirchlichen Rechts korporierter Religiongesellschaften als (auch) öffentliches Recht, wofür allein Art. 137 Abs. 5 WRV maßgeblich ist, vgl. Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 536; anders noch Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 173, welcher, im Anschluß an Ebers, Kirche und Staat, S. 255 f., nur den korporierten Kirchen originäre Gewalt zubilligen wollte. Diese Unterscheidung findet in Art. 137 Abs. 3 WRV keine Grundlage. 127
Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat, Bd. 1, S. 189: "Konkurrien können nur kommensurable Kompetenzen." 128
Vgl. Bock, Das für alle geltende Gesetz, S. 11.
129
Vgl. Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat, Bd. 1, S. 191.
130
Ebenso Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKirchR Π., S. 735; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 70; unklar Rothkegel, Kirchenasyl - Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 121 ff., der einerseits Kirchenasyl nicht zu den kirchlichen Aufgaben i.S.d. Art 137 Abs. 3 S. 1 WRV rechnet (S. 125), andererseits dennoch eine Abwägung vornimmt (S. 125 f.) und dann feststellt, daß Kirchenasyl als kirchliche Angelegenheit zu betrachten sei, wenn es auf dem Willen der nach innerkirchlicher Organisation dafür zuständigen Stellen beruhe (S. 126), was dazu führe, daß der Staat den Zustand ungeachtet seiner etwaigen Illegalität nach pflichtgemäßer Abwägung hinzunehmen habe (S. 127.); ähnlich Winkler, Toleranz, in: Frieden und Recht, S. 80.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
225
(aa) Das Interzessionsasyl Der sachliche Schutzbereich des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV erstreckt sich ohne weiteres auf das Interzessionsasyl, da es kirchenrechtlich zulässige Konkretisierung des kirchlichen Interzessionsrechts ist. (bb) Das Verstecken von Asylbewerbern Zweifelhaft ist, wie die Fälle des versteckten Kirchenasyls zu beurteilen sind: Kann eine Kirchengemeinde, die diese Asylform praktiziert, sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen, obwohl ihre Vorgehensweise nicht vom kirchenrechtlichen Interzessionsbegriff gedeckt ist? Wie gezeigt, steht das Selbsbestimmungsrecht auch Untergliederungen der Kirchen zu, namentlich den Kirchengemeinden und Pfarreien 131. Dies könnte dafür sprechen, die von ihnen gebildete Überzeugung der Notwendigkeit versteckter Asylgewähr dem Gewährleistungsbereich des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV zuzurechnen. Jedoch würde eine solche Betrachtungsweise verkennen, daß die Kirchengemeinden und Pfarreien selbst abgeleitete Unterverbände des Gesamtverbands Kirche sind. Aus der im Selbstbestimmungsrecht verbürgten Anerkennung der kirchlichen Organisationsgewalt folgt, daß den kirchlichen Verbänden selbst lediglich ein abgeleitetes Selbstbestimmungsrecht zukommen kann 132 . Sie ordnen und verwalten ihre Angelegenheiten nur insoweit selbständig, als sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück der Kirche in der Welt wahrzunehmen133. Das bedeutet, daß das kirchliche Selbstverständnis auch über die Reichweite des Gewährleistungsbereiches des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV für die kirchlichen Unterverbände bestimmt, wobei nicht auf das Selbstverständnis des Unterverbandes, sondern auf das des Gesamtveibandes abzustellen ist 134 .
131
Oben S. 213.
132
Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 194.
133
So die Definition des BVerfG (E 46, 85 f.) zur Frage, wann ein rechtlich unselbständiger Unterverband formell der Kirche überhaupt zuzurechnen ist. Sie kann entsprechend übertragen werden auf die hiesige Problematik, inwieweit ein Unterverband auch materiell kirchliche Aufgaben wahrnimmt. Auch insoweit muß es auf das Selbstverständnis des Gesamtverbands ankommen, vgl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 194. 134
Vgl. ebd. sowie ders, Kirchliche Vereine, in: HdbStKirchR I, S. 833 f. (m.w.N.); ähnl. Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 6. 15 Grefen
226
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
Daher kann sich eine Kirchengemeinde nicht auf das Selbstbestimmungsrecht berufen, wenn sie sich Kompetenzen aneignet, die ihr aufgrund des geltenden Kirchenrechts nicht zustehen, sei es, weil ein anderer kirchlicher Organisationsträger zuständig ist, sei es, daß der kirchliche Gesamtverband eine bestimmte Vorgehensweise nicht als rechtsformig i.S.d. Kirchenrechts anerkennt. Beim Verstecken von Asylbewerbern verstößt die Kirchengemeinde gegen die Grundsätze des Interzessionsasyls, weil sie Verhandlungen mit den zuständigen staatlichen Behörden ausschließt. Zwar sieht sie sich hierbei keiner kirchenrechtlichen Sanktion ausgesetzt. Jedoch handelt sie nicht im Rahmen des vom kirchlichen Gesamtverband gesetzten Rechts über Form und Ausdruck zulässiger kirchlicher Asylgewährung. Allerdings könnte das Selbstbestimmungsrecht nicht nur rechtliches, sondern auch faktisches Handeln kirchlicher (Unter-)Verbände schützen, so daß es letzlich auf eine Übereinstimmung der Handlung mit dem Kirchenrecht nicht ankäme. Wenngleich dagegen bereits der Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV spricht, weil dort von "ordnen" die Rede ist 135 , kann die Frage jedoch dahinstehen. Jedenfalls soweit ein kirchliches Selbstverständnis in einer bestimmten kirchenrechlichen Form zum Ausdruck gekommen ist, kann Art. 140/137 Abs. 3 S. 1 WRV auf faktisches Handeln keine Anwendung finden 136. Daraus ergibt sich, daß eine Kirchengemeinde, die Asylbewerber gezielt versteckt, nicht im Gewährleistungsbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts agiert.
cc) Der Gewährleistungsbereich des Selbstbestimmungsrechts: Abwehr- oder auch Leistungs- bzw. Teilhaberecht? Das Recht aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV verbürgt die institutionelle Kirchenfreiheit 137. Es ist nach Art eines Freiheitsrechts konzipiert und als zwischen der Religionsfreiheit des Art. 4 GG und der Meinungsfreiheit des Art. 5 GG stehend zu lesen138. Das Selbstbestimmungsrecht ist damit ein grundrechtsgleiches Abwehrrecht. Es garantiert der kirchlichen Institution ei-
135
Anders etwa v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140, welcher darunter alle Einwirkungsmöglichkeiten auf den öffentlichen Bereich versteht, also auch faktisches Handeln. 136
Ähnlich Rothkegel Kirchenasyl - Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 126. 137
Hollerbach, Staatskirchenrecht, HStR VI, § 138, Rn. 114.
138
v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Vorwort, S. V.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
227
nen negatorischen Anspruch auf Freiheit vor staatlichen Eingriffen in den kirchlichen Rechtsraum139. Den Kirchengemeinden, die Kirchenasyl gewähren, geht es nicht in erster Linie darum, staatliche Eingriffe, etwa eine gewaltsame Räumung, abzuwehren. Sie verlangen vielmehr, mit ihrem Volbringen innerhalb des staatlichen Asylverfahrens gehört zu werden. Ihr Begehren ist auf den Erhalt einer Verfahrensposition gerichtet. Dies geht über die Wirkung eines reinen Abwehranspruchs hinaus. Zweifelhaft ist, ob Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV einen positiven Anspruch beinhaltet. Auf Ebene des Gewährleistungsbereichs ist zu untersuchen, ob Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV eine entsprechende Berechtigung dem Grunde nach hergibt. Die Frage nach der näheren Ausgestaltung eines möglichen Anspruchs erfordert dann die Einbeziehung der Schrankenregelung.
(1) Die klassische Statuslehre nach Georg Jellinek: status negativus, status positivus, status activus Der allgemeinen Grundrechtslehre sind positive, über einen abwehrrechtlichen Anspruch hinausgehende Berechtigungen nicht fremd. Mit Georg Jellinek, der in seiner Statuslehre die Grundrechte als Rechte des status negativus, status positivus und des status activus qualifiziert, läßt sich nach Art der Berechtigung folgende Dreiteilung vornehmen140. In ihrer klassischen Funktion gewähren die Grundrechte Freiheit vom Staat. Sie wehren Eingriffe in Freiheit und Eigentum ab und markieren einen status negativus141. Dies gilt für alle Freiheitsrechte, die sich schon im Text als Abwehrrechte zu erkennen geben142. Daneben gibt es Grundrechte, die dem einzelnen einen status positivus zusichern143, wo eine Freiheitsverwirklichung nicht ohne den Staat denkbar ist 144 . Ihre Umsetzung bedarf also einer staatlichen Leistung, die über ein Unterlassen hinausgeht145. Die Verfassung selbst
139
Vgl. BVerfGE 18, 385 (386); 42, 312 (332) sowie Mö//er/Pieroth/Fohmann, Leistungsrechte, S. 293 f. 140
Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87 und 94 ff.
141
Ebd., S. 94 ff., insbes. S. 105.
142
Ebd., S. 105.
143
Ebd., S. 114 ff.
144
Ebd., S. 121.
145
Ebd, S. 121.
228
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
formuliert nur wenige solche auf Leistung gerichtete Grundrechte ausdrücklich, so in Art. 6 Abs. 4 GG (Mutterschutz) oder Art. 19 Abs. GG (Rechtsschutz)146. Schließlich sind als Rechte des status activus die staatsbürgerlichen Rechte zu nennen147. Sie gewährleisten die Freiheitsbetätigung für den Staat, wie etwa das Wahlrecht 148.
(2) Leistungsrechte im Normbereich von Freiheitsrechten Möglicherweise enthält die Kirchenfreiheit auch Rechte des status positivus. Das wäre dann denkbar, wenn Leistungsrechte im Normbereich von Freiheitsrechten überhaupt bestehen können. Nach klassischer, bürgerlichliberaler Auffassung erschöpft sich die Funktion von Freiheitsrechten in ihrem abwehrrechtlichen Charakter. Allerdings gehen institutionelle bzw. sozialstaatlich motivierte Grundrechtstheorien darüber hinaus149. Bei allen Abweichungen im Detail, die hier nicht näher darzustellen sind, verstehen diese Theorien den Staat nicht als Bedrohung individueller oder verbandlicher Freiheit, sondern als deren Garanten150. Dem Staat soll es obliegen, durch die Einräumung von Teilhabe und Leistungen die Grundrechtsausübung auch im Rahmen von Freiheitsrechten positiv zu gewährleisten151.
(a) Rechtsprechung und Schrifttum Die Annahme von Leistungsrechten im Normbereich von Freiheitsrechten fand in Rechtsprechimg und Schrifttum Anklang.
146 Pz'erof/j/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 65; zu diesem "defizitären textlichen Befund" Sachs, Leistungsrechte, in: Staatsrecht ΙΠ/1, S. 694. 147
Jellinek, a.a.O., S. 136 ff., insbes. S. 139.
148
Ebd.; zusammenfassend Pieroth/Schlwk,
Staatsrecht Π, Rn. 63 ff.
149
Vgl. zu den einzelnen Grundrechtstheorien Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff, hier zur liberalen (bürgerlichrechtsstaalichen) Theorie S. 1530 ff., zur institutionellen Theorie S. 1532 ff., zur demokratisch-funktionalen Theorie S. 1534 f. und zur sozialstaatlichen Theorie S. 1535 ff.; vgl. a. Sachs, Leistungsrechte, in: Staatsrecht ΙΠ/1, S. 694, der zutreffend darauf hinweist, daß der Streit um die Leistungsrechte im wesentlichen Methodenstreit über Sinn und Funktion der Grundrechte ist. 150
Vgl. nur Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: HStR V, § 112, Rn. 4 sowie, mit ausführlichen Nachweisen, Sachs, Leistungsrechte, in: Staatsrecht ΙΠ/1, § 67, S. 690 ff. 151
Murswiek, ebd.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
229
Im numerus-clausus-Urteil wirft das Bundesverfassungsgericht die Frage auf, ob sich aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten im Rahmen des Freiheitsrechts aus Art. 12 GG ergeben könne mit der Folge eines Individualanspruchs des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen152. Die Frage läßt das Gericht offen. In anderen Entscheidungen stellt die Rechtsprechung fest, die Pressefreiheit verpflichte den Staat objektivrechtlich zur Erteilung von Auskünften 153, ebenso wie die Kunstfreiheit eine staatliche Kunstforderung gebiete154 und die Privatschulfreiheit eine Subventionierung der Privatschulen erfordere 155, ohne daß darauf jedoch subjektivrechtliche Ansprüche bestünden156. Subjektivrechtliche Erwägungen stellt das Gericht an, wo es um Grundrechtsschutz im Verfahrensrecht geht157. Ausgehend von der Erkenntnis, daß ein effektiver Rechtsschutz wesentliches Element des Grundrechts selbst ist 158 , leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einen Anspruch auf Gegendarstellung im Presserecht ab 159 . Erfülle das vom Gesetzgeber geschaffene Verfahrensrecht seine Aufgabe nicht, oder setze es der Rechtsausübung so hohe Hindernisse entgegen, daß die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition entstehe, dann sei es mit dem Grundrecht, dessen Schutz es bewirken solle, unvereinbar 160. Dahinter steht der Gedanke, daß die materiellen Grundrechte eine Gestaltung, Auslegung und Anwendung des Verfahrenrechts erfordern, die dem betreffenden Grundrecht tatsächliche Wirksamkeit zu verschaffen vermögen161. Aus dem materi152
BVerfGE 33, 303 (333).
153
BVerfGE 36, 321 (331 f.); vgl. a. BVerwG, NJW 1980, S. 718.
154
BVerwGE 70, 310 (314); vgl. a. BVerG, NJW 1986, S. 1243
155
BVerfGE 75,40 (62 ff.); 90,107 (114).
156
BVerfGE 33, 303 (333); BVerwGE 70, 310 (314); BVerfGE 90, 107 (114). Soweit das BVerwG (E 23, 347 (350); 27, 360 (362); 70, (290 ff.)) aus Art. 3 i.V.m. Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG einen Anspruch auf Privatschulförderung abgeleitet hatte, hat es diese Position in BVerwGE 79, 154 (156 f.) aufgegeben. 157
Siehe etwa BVerfGE 37, 132 (141, 148); 39, 276 (294); 44, 105 (119 ff); 45, 422 (430 ff.); 46, 325 (334); 49,220 (225); 52, 215 (219); 53, 30 (65 ff.). 158
BVerfGE 24, 367 (401).
159
BVerfGE 60,131 (142).
160
BVerfGE 60,131 (143).
161
Papier , Rechtsschutzgarantie, in: HStR VI, § 154, Rn. 14; vgl. Pieroth/SMivk, Staatsrecht Π, Rn. 107; Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung, in: HStR V, § 113, Rn. 8.
230
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
eilen Abwehrrecht des Grundrechtsberechtigten gegen die öffentliche Gewalt wird so ein positives Recht auf tatsächliche Grundrechtsdurchsetzung durch die Träger öffentlicher Gewalt kraft Gestaltung des behördlichen162 sowie des gerichtlichen Verfahrens 163. Dem Grundrecht wächst partiell eine leistungsrechtliche Komponente zu 164 . Auch im Schrifttum entspricht es weit verbreiteter Überzeugung, daß die Freiheitsrechte, wozu auch Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV zählt, heute über ihre ursprüngliche Funktion der Eingrififsabwehr hinauswachsen müssen. Dieser Funktionenzuwachs ist in seinen Ausmaßen umstritten und wird zwischen objektivrechtlichen oder institutionellen Erwägungen über Teilhaberechte an bestehenden Einrichtungen bis hin zu sozial-finanziellen Leistungsrechten diskutiert 165. Vor dem Hintergrund eines gewandelten Staatsverständnisses vom "Nacht-wächterstaat" hin zum "Sozialstaat" verdient die Auffassung, wonach Freiheitsrechte zumindest sekundär auch Teilhabe garantieren, im Grundsatz Zustimmung166.
(b) Die Unterscheidung von Teilhabe- und Leistungsrechten Bei einer näheren Betrachtung der unter dem Oberbegriff der Teilhabe zusammengefaßten möglichen Gewährleistungen im status positivus wie im status activus zeigt sich eine kaum zu übersehende terminologische Vielfalt, die im Bemühen um Genauigkeit erst recht Verwirrung stiftet 167. Richtigerweise ist zu unterscheiden zwischen Leistungsrechten, die auf eine erstmalige Berechtigung, und Teilhaberechten, die auf Beteiligung an einer bestehenden Berechtigung gerichtet sind 168 .
162
BVerfGE 53, 30 (65 ff.).
163
Papier, Rechtsschutzgarantie, in: HStR VI, § 154, Rn. 14.
164
Lorenz, Effektiver Rechtsschutz, AöR 105 (1980), S. 639 f.; Papier, Rechtsschutzgarantie, in: HStR VI, § 154, Rn. 14. 165 Eine näherer Erörterung würde hier zu weit führen. Daher sei auf die Übersicht des Meinungsstandes bei Mtf//er/Pieroth/Frohmann, Leistungsrechte, S. 51 ff. m.w.N. sowie auf die ausführlichen Nachweise bei Sachs, Leistungsrechte, in: Staatsrecht m/1, § 67, S. 687 ff. verwiesen. 166
1. E. ebenso Jaraw/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1, Rn. 7.
167
Zur "verwirrenden Terminologie" nur Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: HStRV, § 112, Rn. 5 f. 168 Pieroth/Scìùiiik, Staatsrecht Π, Rn. 63, in Anlehnung an Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30, S. 21, der zwischen originären und derivativen Teilhaberechten unterscheidet.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
231
Echte subjektive Leistungsrechte, die originär auf finanzielle Unterstützung oder Schaflung öffentlicher Einrichtungen abzielen, dürften sich selten aus Grundrechten ableiten lassen169. Ihre Annahme würde die Budgethoheit des Parlaments in Frage stellen170. Soweit sie in der Literatur unter einen allgemeinen Möglichkeitsvoibehalt gestellt werden 171, leistet dies einem gefahrlichen Grundrechtsrelativismus Vorschub172. Teilhaberechte begegnen solchen grundsätzlichen Bedenken nicht. Sie knüpfen stets an bestehende Einrichtungen bzw. Verfahren, also an gesetzlich vorstrukturierte Verteilungssysteme
(3) Die Teilhabefunktion des Selbstbestimmungsrechts: Interzessionsasyl und Verfahrensteilhabe Das Interzessionsasyl erstrebt ein Anhörungsrecht im Rahmen des staatlichen Asylverfahrens, gekoppelt mit dem Begehren auf Berücksichtigung des kirchlichen Vorbringens im Rahmen einer erneuten Behördenentscheidung. Es läßt sich somit den Ansprüchen auf Teilhabe mit der spezifischen Zielrichtung auf Verfahrensteilhabe zuordnen. Daher ist zu fragen, ob das Selbstbestimmungsrecht auch ein so geartetes Teilhaberecht verbürgt. Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV schützt die Gesamtheit der kirchlichen Rechtsordnung vor staatlichem Verletzungsverhalten. Dabei obliegt die Bestimmung der Regelungsgegenstände und der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Rechtsordnung allein dem Selbstverständnis der Kirchen 174. Aus der Auslegungsrelevanz des Subjektiven folgt, daß die Funktion des Selbstbestimmungsrechts in Abhängigkeit von der Ausgestaltung der fraglichen kirchlichen Teilrechtsordnung, auf die ein staatliches Handeln trifft, variiert: Je nachdem, ob die kirchliche Rechtsnorm ein staatliches Unterlassen oder ein
169
Vgl. Älexy, Theorie der Grundrechte, S. 466; Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1, Rn. 7; Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1, Rn. 116. Das BverwG leitete aus Art. 3 i.V.m. Art 7 Abs. 4 S. 1 GG einen Anspruch auf Subventionierung der Privatschulen her, vgl. oben Fn.156 und dazu Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 748, m.w.N. 170
Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen, AöR 110, S. 389; Starck in: v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 1, Rn. 116. 171
Etwa Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: HStR V, § 112, Rn. 57.
172
Ähnl. Pieroth/Scblwk,
173
Vgl. Dreier in: ders., GG. Vorb., Rn. 50.
174
Zur Begründung oben S. 220 ff.
Staatsrecht Π, Rn. 111.
232
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
positives Tun des Staates voraussetzt oder fordert, bestimmt dies die Schutzrichtung des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV. Im Gewährleistungsbereich des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV sind daher Abwehr und Teilhabe als zwei Aspekte der gleichen Freiheit anzusehen. Diese Freiheit besteht in einem Anspruch auf Achtung einer verrechtlichten und damit auch berechenbaren kirchlichen Ordnung durch die staatlichen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizorgane. Eine Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts durch den weltlichen Gesetzgeber kann einerseits darin liegen, daß er eine kirchliche Angelegenheit mißachtet, indem er Regelungen erläßt, die der kirchlichen Rechtsordnung widersprechen. Gegen solche Normen kann Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 2 WRV als Abwehrrecht eingewendet werden. Andererseits können weltliche Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung das Selbstbestimmungsrecht dadurch beeinträchtigen, daß sie kirchliche Regelungen ignorieren, die einen Anspruch auf Mitwirkung der Kirchen im weltlichen Bereich enthalten. Gegen ein solches Unterlassen ist Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 2 WRV als Teilhaberecht einzuwenden. Für den Sachbereich des Interzessionsasyls folgt daraus, daß einem Asylverfahren, das eine Berücksichtigung des kirchlichen Begehrens auf Verfahrensteilhabe durch Gegenvorstellung ausschließt, grundsätzlich Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 2 WRV entgegengehalten werden kann.
(4) Politische Teilhabe? Als Teilhabe im weiteren Sinn ist auch die Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu verstehen175. Soweit Kirchenasylaktionen mit politischer Willensbekundung einhergehen, fragt sich daher, ob diese Komponente auch unter den Schutz des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV fällt. Die Mitwirkung an der Volkswillensbildung wird durch die politischen Aktivrechte geschützt. Dazu zählen die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die Parteienfreiheit 176. Nicht hierhin gehört die Kirchenfreiheit. Sie sichert zwar die Präsenz der Kirchen im Bereich des Öffentlichen und verhindert ihre Verdrängung in eine häuslich religiöse Sphäre177. Wo es jedoch um Mitwirkung an der politischen Willensbildung geht, können die Kirchen nicht mehr oder weniger verlangen als andere Verbände auch, mit Ausnahme der Parteien, denen im Rahmen des Art. 21 GG eine herausgehobene Stellung zukommt. Den Kirchen ist daher die
175
Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, in: HStR V, § 112, Rn. 14.
176
Ebd., Rn. 15.
177
Vgl. v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 29.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
233
politische Teilhabe nur im Rahmen der genannten politischen Aktivrechte gewährt 178 .
(5) Anspruch auf finanzielle
Unterstützung?
Ein Leistungsrecht aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV auf finanzielle Unterstützung oder auf Kostenerstattung im Falle eines erfolgreichen Kirchenasyls besteht nicht. Zum einen sind die Kirchen gehalten, ihre Angelegenheiten grundsätzlich aus eigenen Finanzquellen zu bestreiten, zumal ihr öffentlich-rechtlicher Status ihnen Steuerhoheit einräumt. Zum anderen schlagen die grundsätzlichen Bedenken gegen finanzielle Ansprüche aus Verfassungsrechten hier bereits auf der Ebene des Gewährleistungsbereichs durch. Würde man ein Leistungsrecht annehmen, so könnten sich die Kirchen und Religionsgemeinschaften durch Ausweitung ihrer Aufgaben selbst Geldansprüche verschaffen. Dem steht die Pflicht des Staates zur Wahrung eines geordneten Finanzwesens entgegen. Darüber hinaus würde die Anerkennung von Geldansprüchen aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV eine gleichheitswidrige Bevorzugung gegenüber anderen Verbänden bedeuten. Dies ließe sich nicht mehr mit der verfassungsrechtlichen Sonderstellung der Kirchen rechtfertigen. In der Praxis finanzieren die Kirchengemeinden ihre Asylaktionen aus Eigenmitteln und fragen nur dann nach staatlichen Finanzhilfen, wenn nicht ausgeschlossen ist, daß einem Asylflüchtling selbst solche Ansprüche zustehen 179 .
(6) Ergebnis Es läßt sich festhalten, daß das kirchliche Interzessionsbegehren auf Verfahrensteilhabe grundsätzlich im Gewährleitungsbereich des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV liegt. Weitergehende Leistungsrechte und politische Teilhaberechte sind der Norm nicht zu entnehmen.
178
135 f. 179
Vgl. Isensee, Verfassungsrechtliche Erwartungen an die Kirche, EssGespr 25, S.
So wurde etwa das zeitlich längste Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland, die Unterbringung mazedonischer Roma in der Kölner Antoniterkirche (oben S. 87), mit DM 100.000,- aus Spenden und DM 30.000,-- aus Kirchensteuermitteln finanziert (laut KStA Nr. 49 vom 27.02.1997).
234
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
dd) Verfassungsimmanente Grenzen des Schutzbereichs Vor einer Untersuchung der möglichen staatlichen Verletzungshandlungen und ihrer möglichen Rechtfertigung ist zu fragen, ob verfassungsimmanente Grenzen des Tatbestandes des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV ausnahmsweise eine Berufung asylgewährender Kirchengemeinden auf ihr Selbstbestimmungsrecht ausschließen180.
(1) Die Konzeption verfassungsimmanenter
Grenzen
Die Konzeption verfassungsimmanenter Grenzen der Grund- und Freiheitsrechte beruht auf dem Gedanken eines überpositiven Grundkonsenses, in dessen Rahmen sich die Grundrechte erst entfalten können. Danach sind bestimmte Verhaltensweisen oder Ziele von vorneherein als Gegenstand grundrechtlicher Freiheit aus dem Schutzbereich auszuschließen181. Insbesondere für das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, dessen Tatbestand nicht anhand objektiver Kriterien zu umschreiben ist, liegt eine Begrenzung durch den verfassungsrechtlichen Gesamt-rahmen nahe, in welchem es die Verfassung nur garantieren kann 182 . Das bedeutet, daß ein gebildetes und in 'Ordnung1 und 'Verwaltung' umgesetztes Selbstverständnis für den Staat nicht schützenswert ist, wenn es die Grundpfeiler der Verfassung negiert. Möglicherweise könnte das Eingreifen der Kirchengemeinden in das staatliche Asylverfahren als antirechtstaatliches Handeln183 zu werten sein, welches keinen grundrechtlichen Schutz verdient.
(2) Das staatliche Gewaltmonopol als Grenze Weil die Annahme verfassungsimmanenter Grenzen keine Abwägung einer Verhaltensweise mit gegenläufigen Verfassungsgütern mehr gestattet184, wie
180
Richtigerweise wird man die verfassungsimmanenten Einengungen als Grenzen des Schutzbereichs, also als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale auffassen müssen, vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, in: HStR V, § 111, Rn. 56; ähnl. Mukkel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 196. 181
Muckel Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 197 m.w.N.
182
Diese These vertritt nachdrücklich Muckel ebd., S. 197 ff.
183
So v. Münch, "Kirchenasyl", NJW 1995, S. 566; vgl. auch ders., "Kirchenasyl": Wer soll das bezahlen, in: NJW 1995, S. 2271 f. 184
Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, in: HStR V, § 111, Rn. 54.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
235
sie von Judikatur 185 und Literatur 186 bevorzugt wird, sind nur solche Verhaltensformen auszugrenzen, die jenseits eines ethisch-sozialen Minimalkonsenses liegen187. Zu diesem staatsethischen Minimum rechnet jedenfalls die Beachtung des staatlichen Gewaltmonopols. Die alleinige Kompetenz des Staates zur Ausübung legitimer physischer Zwangsgewalt ist Voraussetzung jeder Freiheitlichkeit, weil sie einen Zustand der Friedlichkeit rechtlich absichert188. Das staatliche Gewaltmonopol ist zwar unmittelbar kein Regelungsthema des Grundgesetzes189. Jedoch liegt es den Grundrechten voraus, weil die Friedlichkeit des Bürgers Bedingung der Möglichkeit grundrechtlichen Schutzes ist 190 . Dem steht nicht entgegen, daß der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes auch den unfriedlichen Bürger schützt191. Der Gesetzesvorbehalt garantiert nicht, daß Eingriffe, sofern sie durch oder aufgrund eines Gesetzes geschehen, auch Grundrechte des unfiriedlichen Bürgers beachten müssen, soweit der Grundrechtsschutz duch die Verfassung begrenzt ist 1 9 2 . Aus dem Friedlichkeitsvorbehalt folgt, daß gewaltsame Aktionen, die sich gegen den Rechtsstaat als solchen richten, keinerlei Grundrechtsschutz genießen können193. Aus ihm folgt weiter, daß die Anwendung physischer Gewalt
185 Dazu die Rechtsprechungsübersicht bei Sachs, Die verfassungsunmittelbaren Begrenzungen, in: Staatsrecht ΠΙ/2, S. 551 f. Zur Methode der Gerichte Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 16 ff. 186 Etwa Sachs, Die verfassungsunmittelbaren Begrenzungen, in: Staatsrecht ΙΠ/2, S. 525 ff, insbes. S. 571 f.; ders., Grundrechtsbegrenzungen, JuS 1995, S. 985 f., weitere Nachweise dort und bei Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 200 (Fn. 31). 187 Dazu im einzelnen Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 204 ff. 188
Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, in: FS Sendler, S. 40, entwickelt am ausdrücklichen Friedlichkeitsvorbehalt des Art. 8 GG. Zum Begriff des Gewaltmonopols M. Weher, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1042 ff. 189
Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, in: FS Sendler, S. 55.
190
Vgl. Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, in: FS Sendler, S. 40 u. 50; zust. Stern, Grundpflichten, in: Staatsrecht ΙΠ/2, S. 1026 191
So aber Sachs, Verfassungsunmittelbare Begrenzungen, in: Staatsrecht ΙΠ/2, S.
538 f. 192
Zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt und seiner verfassungsrechtlichen Fundierung sowie zu den besonderen Gesetzesvorbehalten der Grundrechte und ihrem Eingreifen JarassiPiQToih, GG, Art. 20, Rn. 29JarassfPieroth, GG, Art. 20, Rn. 30 f. 193
Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 209, 212 ff.; vgl. Isensee, Das staatliche Gewaltmonopol, in: FS Sendler, S. 58; Pirson, Zum Grund-
236
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
gegen Personen oder Sachen aus dem Schutzbereich grundrechtlicher Freiheit auszugrenzen ist 194 . Gleiches gilt für alle Handlungen, die der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG widersprechen oder das von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Recht eines anderen auf Leben verletzen sowie für Übergriffe in die Grundrechte Dritter, in denen eine Rechtsanmaßung zu Lasten des Rechtsträgers liegt 195 .
(3) Kirchenasyl und staatliches Gewaltmonopol Die Träger des Kirchenasyls agieren gewaltfrei. Die grundlegende, vom christlichen Selbstverständnis und Bekenntnis getragene Absage an jede Form körperlicher Gewaltanwendung verdeutlicht bereits, daß die immanente Schranke des Friedlichkeitsvorbehalts nicht eingreift. Zugleich führen Zielsetzung, Praxis und kirchenrechtliche Ausgestaltung des Interzessionsasyls vor Augen, daß es sich nicht gegen den Rechtsstaat wendet, sondern diesen voraussetzt. Es will einzelfallbezogenen Beistand innerhalb des staatlichen Asylund Asylverfahrensrechts leisten196. Darum ist der Vorwurf antirechtsstaatlichen Verhaltens, soweit er eine kategorische Verwerfung dieser kirchlichen Handlungsweise tragen soll, verfehlt.
(4) Verfassungstreue
und Gesetzesgehorsam
Eine über den Friedlichkeitsvorbehalt hinausgehende allgemeine Pflicht zur Verfassungstreue, etwa zu Art. 16 a GG, kann dem Grundgesetz nicht entnommen werden 197. Ebensowenig begrenzt die allgemeine Pflicht zum Gesetzesgehorsam die grundrechtlichen Schutzbereiche198. Diese Pflicht kann sich nur auf verfassungskonforme, die grundrechtlich geschützte Freiheit rechtmäßig gestaltende oder beschränkende Gesetze beziehen. Die Frage der rechtsschutz für glaubensbedingtes Verhalten, in: FS Frost, S. 388; zum Konzept der wehrhaften Demokratie Stern, Schutz der Verfassung, in: Staatsrecht I, S. 195, m.w.N. 194
Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 223.
195
Ebd.
196
Oben S. 53 ff., insbes. S. 70 f.
197
Vgl. Stern, Grundpflichten, in: Staatsrecht ΙΠ/2, S. 1027 f. sowie die Nachw. daselbst unter Fn. 244; ebenso Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 207 f. Die Pflicht zur Verfassungstreue ist als besondere Pflicht nur normiert für bestimmte öffentliche Dienstnehmer (vgl. Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG, Art. 33 Abs. 4 u. 5 GG, Art. 98 Abs. 2 u. 5 GG). 198
Dazu näher Stern, Grundpflichten, in: Staatsrecht m/2, S. 1027 m.w.N.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
237
Rechtmäßigkeit erfordert den Grundrechtstatbestand als Maßstab und kann diesen daher nicht a priori begrenzen. Daher ist auch widerständisches Verhalten prinzipiell Gegenstand und Ausübung grundrechtlicher Freiheit, wie etwa im Falle einer Sitzblockade199.
(5) Ergebnis Verfassungsimmanente Grenzen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts greifen beim Interzessionsasyl nicht ein.
c) Die Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch staatliche Eingriffe Die Differenzierung zwischen Abwehr- und Teilhabefunktion von Grundrechten setzt sich in den Anforderungen fort, die an eine staatliche Verletzungshandlung zu stellen sind 200 . In ihrer abwehrrechtlichen Funktion sichern die Grundrechte einen festen Bestand an Freiheit gegen staatliche Eingriffe und gewähren im Kern einen Unterlassungsanspruch. Eine Beeinträchtigung setzt daher einen rechtlichen oder faktischen Eingriff, d.h. ein positiv belastendes staatliches Handeln von einiger Intensität voraus 201. Soweit die Grundrechte Ansprüche auf Teilhabe beinhalten, genügt als Verletzungshandlung bereits die Verweigerung der Teilhabe in Gestalt eines Unterlassens202. Im Bereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ist die Verletzung kirchlicher Rechtsnormen durch positives staatliches Tun als Eingriff zu qualifizieren. Sofern kirchliche Rechtsnormen demgegenüber eine staatliche Zuwendung, etwa in Gestalt einer Verfahrensteilhabe einfordern, ist die Beinträchtigung darin zu sehen, daß das staatliche Verfahren eine solche Teilhabe nicht gestattet oder die Behörden dem tatsächlich nicht nachkommen203.
199
Vgl. BVerfGE 73,206 (248).
200
Vgl. Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor. Art. 1, Rn. 20 ff.
201
Ebd., Rn. 20 u.21.
202
Ebd., Rn. 23.
203
Oben S. 231.
238
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
aa) Nichtbeteiligung der Kirchengemeinde am Asylverfahren Demnach ist ein Asylverfahren, das eine Anhörung und Berücksichtigung des kirchlichen Vorbringens ausschließt, als Beeinträchtigung des Gewährleistungsbereichs des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV in seiner teilhaberechtlichen Funktion anzusehen. Umgekehrt ist zur Wahrung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht erforderlich, daß das Asylverfahren ausdrücklich eine Kirchenbeteiligung vorsieht 204. Ausreichend ist, daß es sich gegenüber dem kirchlichen Vorbringen als durchlässig erweist. Daher ist der Gewährleistungsbereich des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV beeinträchtigt, wenn sich das Asylverfahrensrecht insoweit als abschließendes Regelungswerk darstellt, bzw. als solches gehandhabt wird. Eine Beschwer der Kirchen ist indessen nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Beteiligung im Rahmen eines Verfahrens erstrebt wird, das über eine Drittbegünstigung, der konstitutiven Einräumung des Asylstatus zugunsten des Asylbewerbers 205, entscheidet. Die Beschwer ist darin zu sehen, daß den Kirchen durch Nichtbeachtung ihres Vorbringens die Möglichkeit erschwert ist, ihrem spezifischen Auftrag der Fürsprache und Fürsorge effektiv nachzukommen.
bb) Polizeiliche Räumung Darüber hinaus ist die polizeiliche Räumung eines Kirchenasyls als Eingriff zu qualifizieren, weil sie den Asylbewerber gewaltsam dem kirchengemeindlichen Beistand entzieht und so eine Interzession zumindest erschwert. Rückbezogen auf das christliche Motiv der Interzession, die tätige Nächstenliebe, ist mit einer Verhaftung des Aslybewerbers der christlichen Gemeinde das Subjekt ihrer karitativen Zuwendung entzogen206. Soweit die Polizei kirchliche Räume, ohne eine Verhaftung vorzunehmen, unerlaubt betritt, liegt auch darin ein Eingriff in das kirchliche Hausrecht, welches ebenfalls dem Selbstbestim-
204
Ausdrückliche Regelungen in Gestalt von Ausnahmebestimmungen sind nur da erforderlich, wo ein staatliches Gesetz auf einen Sachbereich trifft, in dem das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ein Unterlassen des Gesetzgebers fordert. Sie bewirken, daß das betreffende Gesetz gerade kein für "alle geltendes Gesetz" ist, und damit keine allgemeine Bindungskraft auch für die Kirchen entfaltet; vgl. BVerfGE 46, 73 (LS 2 und S. 95); v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 132. Beispiele: § 2 Abs. 1 VwVfG, § 112 BPersVG, § 10 BSHG, § 38 DenkmalSchG NW. 205 206
Vgl. BVerfGE 60,253 (295).
Vgl. Grote/Klaus, Kirchenasyl, JuS 1997, S. 347; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 71; Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 64.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
239
mungsrecht unterliegt 207. Ferner ist ein Eingriff gegeben, wenn polizeiliches Vorgehen eine Verletzung von kirchlichen Rechtsnormen bewirkt, die den Status einer Örtlichkeit als 'heilig' regeln 208.
cc) Strafverfolgung Schließlich ist die Strafverfolgung leitender kirchlicher Mitarbeiter, insbesondere Pfarrer, als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht zu werten, weil die Amtsträger der kirchlichen Institution als Rechtsträgerin zuzuordnen sind. Demgegenüber stellt die Strafverfolgung einzelner Kirchenmitglieder keinen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Kirche, möglicherweise aber in die Rechte des Art. 4 GG, dar.
d) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: Das für alle geltende Gesetz i.S.d. Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV als Schranke des Schutzbereichs Die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten ist den Kirchen gemäß Art. 140 GG/ 137 Abs. 3 S. 1 WRV nur im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes gewährleistet. Dieser Schrankenvorbehalt sichert die staatliche Gemeinwohlverantwortung und erlaubt den staatlichen Organen, Gemeinwohlbelange notfalls auch gegen kirchliche Ordnungsvorstellungen durchzusetzen209. Damit ist die staatliche Letztentscheidungskompetenz auf der Schrankenebene gegenüber Gefahren verdeutlicht, welche sich aus der Maßgeblichkeit des kirchlichen Selbstverständnisses auf der Tatbestandsebene ergeben können210. Dort spricht die Anerkennung der kirchlichen Aufgaben und ihrer Selbständigkeit durch den Verfassungsgeber für ein Recht der Kirchengemeinden auf Gegenvorstellung im Falle des Interzessionsasyls211. Ein Gegenvorstellungsrecht ist jedoch nicht gegeben, wenn und soweit die Schrankenbestimmung des Art 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV eingreift. 207
Vgl. BVerfGE 57,220 (243 f.); Ehlers in: Sachs, GG, Art. 140, Rn. 8.
208
Oben S. 136 f.
209
Vgl. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, § 138, Rn. 118; ders., Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des BVerfG (Π), AöR, Bd. 106, S. 245; zust. Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 555, Anm. 112; v. Campenhausen in: v. Mangoldt GG, Art. 140/137WRV, Rn. 129; Scheuner, Begründung, Gestaltung und Grenzen kirchlicher Autonomie, in: Füllkrug-Symposion, S. 21. 210
Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 123.
211
Oben S. 231 f..
240
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
aa) Das Asylverfahrensrecht als Schrankengesetz für den Sachbereich des Interzessionsasyls Für die Bestimmung des zu untersuchenden schrankenziehenden Gesetzes ist zu beachten, daß die eigentlich problematischen Fälle des "akuten Kirchenasyls"212 immer an eine vollziehbare Ausreisepflicht des Asylbewerbers aufgrund einer verfahrensabschließenden Behörden- oder Gerichtsentscheidung anknüpfen. Das Begehren besteht in einer erneuten Sachentscheidung im Rahmen eines außerordentlichen Verfahrens 213. Daraus folgt, daß nicht einzelne Normen des geltenden Rechts als mögliche Schrankenregelungen in Betracht zu ziehen sind. Fraglich ist vielmehr, ob das Asylverfahrensrecht als derart abschließend zu werten ist, daß es der erstrebten erneuten Sachentscheidung entgegensteht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß von mehreren möglichen Auslegungen einfacher Gesetze diejenige maßgeblich ist, welche mit der Verfassung in Einklang steht214. Verfassungskonforme Auslegung ist aber erst möglich, wenn Gegenstand und Grenze einer verfassungsrechtlichen Position endgültig feststehen. Indessen soll für die weitere Untersuchung vorläufig von einer Auslegung des Asylverfahrensgesetzes ausgegangen werden, die es als abschließend aufifaßt und eine Kirchenbeteiligung ausschließt. Dafür spricht zumindest, daß es keine ausdrückliche Beteiligungsregelung enthält. Fraglich ist also, ob ein so verstandendenes Asylverfahrensrecht den Schrankenvorbehalt des Selbstbestimmungsrechts wirksam ausfüllt. Das ist der Fall, wenn es für alle geltendes Gesetz im Sinne des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV ist.
bb) Der Begriff des "für alle geltenden Gesetzes" Über die Funktion der Schrankenklausel als Vorbehalt der "staatlichen Sicht", soweit sie Ausdruck in den für alle geltenden Gesetzen gefunden hat, gegenüber der "kirchlichen Sicht", besteht heute weitgehend Einigkeit215. Umstritten ist, wann eine Norm als ein "für alle geltendes Gesetz" anzusehen ist.
212
Oben S. 74.
213
Oben S. 71.
214
BVerfGE 32, 373 (383 f.), st. Rspr.; näher Stern, Staatsrecht m/2, S. 1147 f. m.w.N. 215
Dazu und zur als überholt anzusehenden Koordinationslehre, die in der Nachkriegszeit vorherrschte und Kirche und Staat wie Völkerrechtssubjekte nebeneinander stellte Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 77 (mit Anm. 45) u. S. 111; Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat, Bd. 1, S. 296 f. (mit um-
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
241
Außer Streit steht, daß damit nicht nur ein für alle Kirchen, sondern ein für jedermann geltendes Gesetz gemeint ist 216 . Darüber hinaus ist anerkannt, daß der Begriff des "für alle geltenden Gesetzes" in Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV gleichbedeutend ist mit dem des "allgemeinen Gesetzes" in Art. 5 Abs. 2 GG, der seinerseits bereits in Art. 118 Abs. 1 S. 2 WRV Verwendung fand 217. In der Typologie der Gesetzesvorbehalte218 handelt es sich dabei, entgegen dem ersten Anschein, um einen qualifizierten Gesetzesvoibehalt. Nicht jede abstrakt-generelle Regelung kann die Kirchenfreiheit beschränken. Dazu bedarf es einer Regelung, die sich auch der Sache nach an die Allgemeinheit richtet219. Das Allgemeine wird überschritten durch das Besondere. Daraus ist mit der sog. Sonderrechtslehre zu schließen, daß ein Gesetz nur dann allgemein ist, wenn es kein gezielt gegen die Kirchen gerichtetes Ausnahmerecht enthält220. Zweifelhaft ist indessen, welche weiteren Anforderungen an ein Schrankengesetz zu stellen sind.
(1) Die Definition Johannes Heckeis von 1932 und ihre heutige Bedeutung Hervorzuhebende Bedeutung für die Interpretation der Schrankenklausel hat eine von Johannes Heckel in der Spätzeit der Weimarer Republik geprägte Definition erlangt. Danach war unter einem für "alle geltenden Gesetz" ein Gesetz zu verstehen, "das trotz grundsätzlicher Bejahung der kirchlichen Autonomie vom Standpunkt der Gesamtnation als notwendige Schranke der kirchlichen Freiheit anerkannt werden muß; m. a. W. jedes für die Gesamtna-
fangreichen Nachweisen zu Vertretern der Koordinationslehre unter Anm. 94) sowie Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 4 ff 216
Anschütz, Reichsverfassung, Art. 137, Anm. 5; Ebers, Staat und Kirche, S. 292 f.; Hesse, Selbstbestimmungsrecht, HdbStKirchR I, S. 544. 217 Α. A. aber i. E. mit semer Wechselwirkungslehre ebenso BVerfGE 42, 312 (333). Wie hier W. Weber, "Allgemeines Gesetz" und "Für alle geltendes Gesetz", in: ders. Staat und Kirche in der Gegenwart, S. 340 ff., insbes. S. 347 f. mit Fn. 14; Jurina, Rechtsstatus der Kirchen, S. 155; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 118, H. Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, S.43; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 276 f.; Preuß in: AK, GG, Art. 140, Rn. 29; 218
Dazu allgemein Pieroth/Sclûwk,
Staatsrecht Π, Rn. 273 ff
219
Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 255; Starck in: ν Mangoldt/ Klein, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 122; Pieroth/Schlwk, Staatsrecht Π, Rn. 648. 220
Zur Sonderrechtslehre, entwickelt an Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV, Häntzschel, Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung, AöR 10 n.F. (1926), S. 232; vgl. Stern, Ehrenschutz und allgemeine Gesetze, in: FS Hübner, S. 821 sowie Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 231 f., jeweils m.w.N. 16 Grefen
242
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
tion als politische Kultur- und Rechtsgemeinschaft unentbehrliche Gesetz, aber auch nur ein solches Gesetz"221. Diese sog. Heckeische Formel war im älteren Schrifttum 222 und in der älteren Rechtsprechung223 der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit vorherrschend224. Sie bringt die auch heute noch gültige Erkenntnis zum Ausdruck, daß nicht jeder gesetzgeberische Zweck, sofern er nur in die Form eines an alle gerichteten Gesetzes gekleidet ist, die kirchliche Selbstbestimmung zu beschränken vermag 225. Daher erschöpft sich nach ganz herrschender Auffassung die Schrankenbestimmung des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV nicht in einem Verbot von Sondergesetzen gegen die Kirchen 226. Praktische Anwendung findet die Hecke Ische Formel jedoch heute weder im Schrifttum noch in der Verfassungsrechtsprechung 227. Sie gestattet mit ihrer antiquierten Terminologie keine hinreichend genaue Bestimmung der fraglichen Gesetze228. Einerseits erfaßt sie Normen, die für die Kirchen theologisch schlechthin untragbar sind229. Andererseits erklärt sie nicht die un-
221 J. Heckel, Das staatskirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930-1931, in: VerwArch 37 (1932), 284; vgl. ders., Das für alle geltende Gesetz, in: Ges. Aufs., S. 593. 222
Nachw. bei H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öff. Rechts, S. 39; Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 42 f. (Anm. 108); Hesse, Die Entwicklung des Staatskirchenrechts seit 1945, in: JöR n. F., Bd. 10 , S. 26 mit Anm. 28. 223
BGHZ 22, 383 (387); 34, 372 (374); BSG, DÖV 1962, 786 (787).
224
v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 124; Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 545 f. 225
BVerfGE 42, 312 (333 m.w.N).
226
So aber Preuß in: AK, GG, Art. 140, Rn. 27 f. Vgl. zum Begriff des Sonderrechts als Gegenteil zum allgemeinen Gesetze und zur an Art. 5 Abs. 2 GG entwickelten Sonderrechtslehre Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 232 f. u. 425 m.w.N. Zum Begriff des unzulässigen "Sondergesetzes" und der "Sonderbeschränkung", durch welche der Gesetzgeber in zulässiger Weise an die Besonderheiten einer Religionsgemeinschaft anknüpft, nur v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 130 (m.w.N). 227
Zu den neuern Ansätzen siehe im folgenden.
228
Vgl. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche, S. 121.
229
So Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 178; ebenso v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 124, der als Beispiel theologisch untragbarer Gesetze etwa Rassegesetze aufzählt, welche bei entsprechendem (Un)Rechtsverständnis auch als für die politische Kulturgemeinschaft unerläßlich angesehen werden könnten. Vgl. auch Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche, S. 121.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
243
streitige Bindung etwa an bau- oder zollrechtliche Vorschriften, deren Unerläßlichkeit für die Gesamtnation kaum zu begründen ist 230 . Die Verfassungsrechtsprechung steht heute auf dem Boden einer Wechselwirkungslehre. In der neueren Literatur begegnen im wesentlichen zwei Auslegungskonzepte: die Bereichsscheidungs- und die Abwägungslehre.
(2) Die Wechselwirkungslehre
des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat zur Schrankenformel des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV unterschiedliche, sich zum Teil ergänzende Auslegungsformeln gefunden. Im sog. Gemeindeteilungsbeschluß vom 17.2.1965 neigte das Gericht einer Bereichsscheidung zu, indem es aus der kirchlichen Eigenberechtigung die Folge ableitete, der Staat dürfe in die inneren Verhältnisse der Kirchen nicht eingreifen 231. Daher sei die Kirche im Innenbereich nicht an das "für alle geltende Gesetz" gebunden und daher insoweit nicht der staatlichen Gerichtsbarkeit unterworfen 232. Im sog. Mandatsurteil vom 21.9.1976 stellte das Gericht darauf ab, ob ein Gesetz für die Kirche die gleiche Bedeutung habe wie für einen Jedermann233. Treffe das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer BeSonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistigreligiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bilde es insoweit keine Schranke234. Das gelte auch für eine kirchliche Regelung, die mittelbar in den staatlichen Zuständigkeitsbereich hinwirke, sie bleibe dennoch eine innerkirchliche Angelegenheit235.
230
Ebd. Grundlegende Kritik am hinter dieser Formel stehenden Freiheitsverständnis bei Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 550. 231
BVerfGE 18, 385 (387).
232
BVerfGE 18, 385 (388).
233
BVerfGE 42, 312(334).
234
BVerfGE 42, 312 (334, Hervorhebungen im Original); aufgegriffen nochmal in BVerfGE 66,1 (20). 235
BVerfGE 42, 312 (334): Beurlaubung kraft Kirchengesetzes für Kirchenbeamte die Abgeordentenmandate errungen haben (vgl. ebd., S. 314).
244
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
Seit der sog. Krankenhausentscheidung vom 25.3.1980 stellt das Gericht eine Güterabwägung in den Vordergrund 236, wobei es den Grundsatz der Nichtgeltung des staatlichen Rechts im kirchlichen Innenbereich aufrechterhält 237 . Danach sei auch bei einem prinzipiell für alle geltenden Gesetz, das auf eine nach außen wirkende kirchliche Regelung treffe, nicht gesagt, daß diese staatliche Regelung in jedem Fall dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vorgehe238. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV gewährleiste mit Rücksicht auf das zwingende Erfordernis des friedlichen Zusammenlebens von Staat und Kirche sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Kirchen als auch den staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter239. Dieser Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck sei durch eine entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen 240. Dabei sei dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht beizumessen241. Hatte das Gericht in einer früheren Entscheidung diese besondere Gewichtung nur vornehmen wollen, soweit sich die Kirchen zugleich im Schutzbereich von Art. 4 GG bewegten242, findet sich diese Einschränkung später nicht mehr 243. Zusammenfassen läßt sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so, daß in den innerkirchlichen Bereich überhaupt kein staatliches Gesetz und in den nach außen gewandten kirchlichen Wirkungsbereich nur ein allgemeines Gesetz eingreifen darf, soweit es das Verfassungsgut des Selbstbestimmungsrechts angemessen berücksichtigt244. Danach sind, in bezug auf das staatliche Asylrecht und sein Verhältnis zum kirchlichen Interzessionsrecht Ausführungen notwendig, die die erforderliche Abwägung mit Leben füllen.
236
BVerfGE 53, 366 ff.; seitdem st. Rspr., vgl. E 66, 1 (22); 70, 138 (167); 72, 278 (289). 237
Vgl. BVerfGE 72,278 (289).
238
BVerfGE 53, 366 (400), 66,1 (22); 72,278 (289).
239
BVerfGE 42, 312 (330 ff., 340); 53, 366 (LS 2, 400); 66, 1 (22); 70, 138 (167); 72,278 (289). 240
BVerfGE 53, 366 (LS 2,401); 66,1 (22); 70,138 (167); 72,278 (289).
241
BVerfGE 53, 366 (LS 2, 401); 66, 1 (22); 70, 138 (167); 72, 278 (289, Hevorhebung im Original). 242
BVerfGE 53, 366 (LS 2,401).
243
Vgl. BVerfGE 70,138 (167); 72,278 (289).
244
Vgl. BVerfGE 72, 278 (289). Zum Begriff der Angemessenheit und dem dahinter stehenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 318 und Pieroth!Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 292 ff. (Vom Vorbehalt des Gesetzes zum Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes).
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
245
Da ein eindeutiges Ergebnis vorab nicht erkennbar ist, genügt an dieser Stelle die Feststellung, daß ein Vorrang des Selbstbestimmungsrechts vor dem Zweck des Asylverfahrensgesetzes jedenfalls nicht ausgeschlossen ist.
(3) Die Bereichsscheidungslehre Die sog. Bereichsscheidungslehre unterscheidet zwischen einem kirchlichen Innenbereich und einem Außenbereich, denen die verschiedenen kirchlichen Maßnahmen zuzuordnen seien245. Soweit eine innerkirchliche Maßnahme vorliege, die nicht in den weltlichen Bereich hineinrage und dort keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalte, seien die Kirchen auch nicht an ein für alle geltendes Gesetz gebunden246. Der kirchliche Innenbereich sei von der weltlichen Rechtsordnung frei und könne durch sie nicht gebunden werden247. Wenn allerdings eine kirchliche Maßnahme den "Raum des verfassungs- und gesetzesfreien Selbstgesprächs der Kirchen" 248 verlasse und sich im weltlichrechtlichen oder auch nur gesellschaftlichen Bereich auswirke, so seien die Kirchen wie alle anderen an jedes im übrigen verfassungsmäßige allgemeine Gesetz gebunden249. Soweit Zweifel über die Zuordnung einer Maßnahme bestünden, obliege die erforderliche Bereichsscheidung allein dem weltlichen Gesetzgeber als dem maßgeblichen neuzeitlichen Souverän250. Legt man die Bereichsscheidungslehre der hier fraglichen Problematik des Kirchenasyls zugrunde, gelangt man zu dem Ergebnis, daß die von den Kirchengemeinden beanspruchte Mitwirkung im Verfahren der staatlichen Asylgewährung in den weltlich-rechtlichen Bereich hineingreift. Weil im Sachbereich der Asylgewährung das Asylverfahrensgesetz und die angrenzenden Bestimmungen des Ausländergesetzes kein gegen die Kirchen gerichtetes Sonderrecht bilden, wären die Kirchen daran gebunden wie "alle" andere auch. Zwar sind sie nicht Adressaten des Asylrechts, jedoch würde sich ihre Bindung hier so auswirken, daß sie keine besonderen, aus ihrem Selbstbestim245 Grundlegend Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat, Bd. 1, S. 294 ff.; H. Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, S. 43 f. 246
Quaritsch, Kirche und Staat, in: Der Staat, Bd. 1, S. 295.
247
Ebd., S. 185 f.
248
Ebd., S. 295.
249
Vgl. Quaritsch, ebd. 299.
250
Ebd., S. 189 sowie S. 298. Ähnlich schon Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 179.; für Bereichsscheidung auch Jurina, Rechtsstatus der Kirchen, S. 155 f.; näher Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 132 ff. (m.w.N.).
246
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
mungsrecht folgenden Mitsprache- oder Anhörungsrechte im Asylverfahren beanspruchen könnten.
(4) Die Zuordnungs- bzw. Abwägungslehre Die Bereichsscheidungslehre kennt keine Grautöne: entweder volle Exemtion aus dem weltlichen Rechtsbereich oder volle Unterworfenheit unter das staatliche Gesetz251. Dagegen versucht die in der Literatur vorherrschende Auffassung dem Verhältnis zwischen kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und weltlichem Schrankengesetz durch eine Güterabwägung Rechnung zu tragen. Diese sog. Abwägungs- oder Zuordnungslehre nimmt keine Bereichsscheidung vor 252 . Die Schrankenklausel dürfe nicht isoliert betrachtet werden, und es könne auch keine erschöpfende Aufzählung der "für alle geltenden Gesetze" vorgenommen werden 253. Vielmehr sei das Selbstbestimmungsrecht als Freiheitsrecht im Zusammenhang mit anderen Freiheitsrechten der Verfassung zu sehen und entsprechend zu interpretieren 254. Dabei gehe es im Kern um die Zuordnung der Kirchenfreiheit zu anderen Rechtsgütern der Verfassung, ohne daß das eine auf Kosten des anderen realisiert werden dürfe 255. Es müsse ein Ordnungszusammenhang hergestellt werden, in dem beides Wirklichkeit gewinnen könne256. Dies erfordere ein Verfahren verhältnismäßiger Zuordnung mit dem Ziel der Konkordanz, welches kein anderes sei als die zu Art. 5 Abs. 2 GG als Wechselwirkungslehre bekannte Abwägung zwischen dem geschützten Verfassungsgut und dem durch das fragliche Schrankengesetz verfolgten Zweck257. Dabei könne das staatliche Gesetz, sofern es kein Sondergesetz sei, prinzipiell sowohl den Innen- als auch den Außenbereich
251
So Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 134 f.
252
Die Zuordnungslehre ist dargelegt in Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 549, insbes. S. 555; vgl. auch ders. in der Vorauflage HdbStKirchR I (1. Aufl., 1974), S. 434 ff.; siehe bereits ders., Freie Kirche im freien Gemeinwesen, ZevKR 11 (1964/65), S. 357 sowie ders., Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 317 f. Ähnl. v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 123 - 135; s. a. unter Fn. 260. 253
v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn.126 u. 131.
254
Ebd., Rn. 127; vgl. Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 554.
255
Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 554; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 127. 256
Hesse^ Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 554.
257
Hesse, ebd.; v. Campenhausen in: v. Mangoldt GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 123.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
247
kirchlichen Wirkens begrenzen258. Die erforderliche Abwägung, welche die Nähe zum Kernbereich zu berücksichtigen habe, verhindere eine übermäßige Beschränkung259. Danach ist ein "für alle geltendes Gesetz" jedes allgemeine Gesetz, dessen Gesetzeszweck einer Abwägung mit der Verfassungsgarantie kirchlicher Selbstbestimmung standhält260.
(5) Stellungnahme: Die Entbehrlichkeit bei möglicher Bereichsscheidung
einer Abwägung
Die nach Rechtsprechung und h.L. vorzunehmende Abwägung wäre entbehrlich, wenn der Bereichsscheidungslehre gefolgt werden kann.
(a) Bereichsscheidung und Selbstbestimmung Allerdings ergibt sich die Problematik einer konsequenten Bereichsscheidung bereits aus dem durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV garantierten Freiheitsbereich, der Selbstbestimmung261. Aus der Maßgeblichkeit des Selbstverständnisses für die Auslegung des Freiheitstatbestands folgt, daß die Kirchen selbst über den staatlichen Rechtsraum bestimmen, der sie betrifft: Art und Umfang der kirchlichen Rechtsetzung ziehen die möglichen Kollisionen mit dem staatlichen Recht nach sich. Die Bewährungsprobe der Schrankenformel liegt, wo Staat und Kirchen in ihren Tätigkeitsbereichen aufeinandertreffen oder Aufgaben gemeinsam wahrnehmen262. Hier ergibt sich das ei258 So Hesse, Selbstbestimmungsrecht, HdbStKirchR I, S. 554 f. mit Anm. 112; fihnl. v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 131 u. 133. 259
v. Campenhausen in: v. Mangoldt GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 133.
260
Ebenso Scheuner, Begründung, Gestaltung und Begrenzung kirchlicher Autonomie, in: Füllkrug-Symposion, S. 22; Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche, S. 122; ders., Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, § 138, Rn. 117 ff.; M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: WDStRL 26, S. 42 ff u. S. 54; ders., Staat, Kirche, Kunst, S. 230 f.; Schiaich, Neutralität, S. 174 f.; kritisch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 278 f. 261
Kritik an der Bereichsscheidungslehre auch bei Scheuner, Begründung, Gestaltung und Grenzen kirchlicher Autonomie, in: Füllkrug-Symposion, S. 19, 21; M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: WDStRL 26, S. 40 f.; Schiaich, Neutralität, S. 176 f.; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 128; Hollerbach, Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des BVerfG (I), AöR, Bd. 92, S. 108 f.; Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 190 f.; Kästner, Staatliche Justizhoheit, S. 252 ff.; Preuß in: AK, GG, Art. 140, Rn. 27. 262 Zu Terminologie gemeinsamer und nebeneinander liegender Angelegenheiten nur v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 115 f.
248
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
gentliche Konfliktfeld, in dem der Staat Gemeinwohlbelange notfalls einseitig durchzusetzen hat.
(b) Keine konsequente Bereichsscheidung ohne Mißachtung des kirchlichen Auftrags In diesem Feld von Kooperation und Konflikt schützt die Verfassungsnorm des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV die Wahrnehmung des kirchlichen Auftrages 263. Seinem Wesen entspricht, Dienst an der Welt zu sein, Menschen anzusprechen, zu sammeln und zu heilen, die zugleich Staatsbürger sind. Dieser Auftrag gestattet den Kirchen keinen Rückzug auf ein "Selbstgespräch", sondern verpflichtet sie zum Dialog mit dem Staat, der Gesellschaft und deren Individuen264. Darum läßt sich eine sachliche Bereichsscheidung nicht vornehmen, ohne den kirchlichen Auftrag zu mißachten. Die Verfassung selbst verzichtet mit gutem Grund auf eine Differenzierung zwischen kirchlichem Innen- und Außenbereich, welche die vielfältige oft kooperative "Verzahnung der Wirklichkeit kirchlichen und staatlichen Wirkens" 265 willkürlich zerschneiden würde 266. In der Konsequenz führt die Bereichsscheidungslehre dazu, unter Freistellung eines kirchlichen Innenbereichs, jeden beliebigen gesetzgeberischen Zweck, sofern er kein religionspolitisch motiviertes Sonderrecht enthält, der Verfassungsgarantie kirchlicher Selbstbestimmung vorzuziehen. Dies würde zu einer Aushöhlung kirchlicher Wirkungsmacht im Bereich des Öffentlichen führen, einem Ort, an den die Kirche als Dienstgemeinschaft durch ihr Bekenntnis gewiesen und welcher ihr in Gestalt eines Freiheitsrechts garantiert ist.
(c) Die Notwendigkeit einer Abwägung Zur Vermeidung dieser Konsequenz sucht Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV einen Maßstab zu geben, der eine übermäßige und sachlich nicht gerechtfertigte Beschränkung der kirchlichen Freiheitsgarantie verhindert und zugleich mäßige und sachlich gebotene gesetzgeberische Beeinträchtigungen
263 Vgl. dazu und zum Folgenden Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 551. 264
Vgl. Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 441.
265
Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 551.
266
Ähnlich, mit anderem Ansatz (s.o. E., Fn. 222), Preuß in: AK, GG, Art. 140, Rn.
27.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
249
gestattet267. Der Kreis der tauglichen Schrankengesetze ist im Lichte der Verfassungsgarantie auszuleuchten, und es sind diese Gesetze mit Rücksicht auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auszulegen268. Dieser Wechselwirkung zwischen Selbstbestimmungsrecht und staatlichen Belangen ist in gleicher Weise Rechnung zu tragen wie bei anderen Freiheitsrechten: durch die von Verfassungsrechtsprechung und h.L. vorgenommene Abwägung zwischen Freiheitsrecht und Schrankenzweck. Obwohl Abwägungsentscheidungen stets die Gefahr der Beliebigkeit innewohnt269, kann die Verfassungsinterpretation bei der Erarbeitung tragfähiger Lösungen nicht auf sie verzichten270. Freiheit und Gemeinwohl bedingen und begrenzen einander. Ihr Verhältnis kann oft nur in gegenseitiger Gewichtung ausgelotet werden. Dies vor allem, wenn eine exakte Interpretation des Freiheitstatbestandes mit objektiven Kriterien nicht möglich ist. Das Ergebnis einer Abwägung ist so tragfähig, wie ihre Methode dargelegt und ihre Wertungsgesichtspunkte offengelegt werden271. Dabei werden Entscheidungsgründe aufgedeckt, wodurch die unverzichtbare Transparenz juristischer Lösungsfindung gewahrt ist 272 .
cc) Die Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Schrankenzweck: Interzessionsasyl und staatliches Asylrecht Die Abwägung erfolgt in zwei Prüfungsschritten. Zunächst müßte das Schrankengesetz ein für alle geltendes Gesetz i.S.d. des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV sein. Sodann ist seine Verhältnismäßigkeit zu erörtern.
267
Vgl. Hesse, Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 552 f.
268
Zu dieser Wechselwirkung vgl. BVerfGE 70,138 (167); 66, 1 (22); 53, 366 (401); Rüfiier, Grundrechte im kirchlichen Bereich, EssGespr 7, S. 21 f.; ders., Grundrechtsadressaten, in: HStR V, S. 548 (Rn. 51); H. Weber, Grundrechtsbindung der Kirchen, in: HdbStKirchR I, S. 583; Hesse, Grundrechtsbindung der Kirchen?, in: FS W. Weber, S. 457; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 133; auch Vertreter einer klaren Bereichsscheidung räumen ζ. T. ein, daß die Bereiche mit Rücksicht auf den Gehalt der Verfassungsnorm abzugrenzen seien, vgl. Jurina, Der Rechtsstatus der Kirchen, S. 155 f; näher dazu im folgenden Text. 269 Vgl. nur die Kritik bei PierothfSchlink, Staatsrecht Π, Rn. 314 sowie die Nachweise bei Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 198 mit Fn. 17 und Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 236 mit Fn. 61. 270
Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 245.
271
Kraus, Kirchenasyl, in: Kirchenasyl, S. 65.
272
Zutreffend Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 238.
250
. e r n r e c h t l i c h e Einordnung des Kirchenasyls
(1) Das staatliche Asylrecht als für "alle geltendes Gesetz"
Ein Gesetz i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV gilt für alle, wenn es nach seinem Zweck kein gegen die Kirchen gerichtetes Ausnahmerecht enthält273. Damit ist die Perspektive dargelegt, aus welcher die Zielrichtung zu beurteilen ist: es kommt auf die staatliche Zwecksetzung und nicht darauf an, ob sich die Kirche nach ihrem Selbstverständnis durch die fragliche Regelung mehr als ein Jedermann betroffen sieht274. Anderenfalls würde das kirchliche Selbstverständnis auch über den Kreis unzulässiger Sondergesetze entscheiden. Das würde den Gesetzesvoibehalt leerlaufen lassen. Auf Schrankenebene verkehrt sich also die Blickrichtung vom kirchlichen zum staatlichen Selbstverständnis, dessen Durchsetzung der Schrankenvorbehalt im Einzelfall sicherstellen soll 275 . Zu Recht ist daher die sog. Jedermannformel des Bundesverfassungsgerichts kritisiert worden 276, auf die das Gericht in der neueren Rechtsprechung nicht mehr abstellt277. Für die Allgemeingeltung eines Gesetzes i.S.d. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV genügt es, daß es kein Sonderrecht gegen die Kirchen enthält. Ein materielles Kriterium in dem Sinne, daß als "für alle geltendes Gesetz" nur eine Regelung angesehen werden kann, die ein gesellschaftliches Gut schützt, das höher einzuschätzen ist als die Kirchenfreiheit 278, ist nicht zu fordern. Eine andere Betrachtungsweise würde die erforderliche Abwägung von ihrem eigentlichen Ort, der Verhältnismäßigkeitsprüfung 279 loslösen, sachwidrig mit der Frage
273
Oben S. 241.
274
Unklar Isak, Selbstverständnis der Kirchen, wonach einerseits das Selbstverständnis des Staates Maßstab für die Schrankenföhigkeit einer Norm sein soll (S. 247), andererseits es für die Allgemeinheit eines Gesetzes nicht auf die Intention des Gesetzgebers ankommen soll (S. 235). Richtig hingegen Isensee, Kirchenautonomie, S. 60 u. 79, wonach das Maß der Betroffenheit aus der Sicht des Betroffenen zu ermitteln ist, was nach seiner Ansicht die Jedermannformel des BVerfGs klarlege. 275
Ähnl. Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 247; Mahrenholz, Die Kirchen, S. 104. 276 Hollerbach, Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des BVerfG (Π), AöR, Bd. 106, S. 239, 245; v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 129; Hesse, Selbstbestimmungsrecht, S. 555, Fn. 112 m.w.N. 277
Vgl. nur BVerfGE 72,278 (289).
278
So, für das "Allgemeine Gesetz" Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: WDStRL, Bd. 4, S. 52. 279
Vgl. Pieroth!Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 655,299 ff.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
251
der Allgemeingeltung eines Gesetzes verquicken und in der Tendenz zu einer Umdeutung des qualifizierten in einen einfachen Gesetzesvorbehalt führen 280. Das staatliche Asylrecht- und Ausländerrecht ist nicht durch religionspolitische Erwägungen beeinflußt und enthält kein gegen die Kirchen gerichtetes Ausnahmerecht. Seine Regelungen sind daher als "für alle geltende" und damit eingriffstaugliche Gesetze i. S. d. Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV anzusehen281.
(2) Die Güterabwägung
Wenn auf Tatbestandsebene das kirchliche Selbstverständnis und auf Schrankenebene das staatliche Selbstverständnis maßgeblich sind, läßt sich eine Auflösung dieser konkurrierenden Ordnungsansprüche systematisch nur durch ein Drittes herbeiführen. Dieses Dritte besteht in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Sie hat abwägend zu klären, welchem Selbstverständnis konkret der Vorzug gebührt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß zum staatlichen Selbstverständnis auch die Gewährleistung des kirchlichen Selbstverständnisses gehört 282. Weil es keine Anhaltspunkte dafür gibt, daß der Gesetzgeber bei der Normierung des Asylrechts selbst eine Güterabwägung vorgenommen hat, ist Raum für eine umfassende Würdigung; der widerstreitenden Belange283.
(a) Konkret-individuelle oder abstrakt-typologische Betrachtungsweise Streitig ist, ob die Abwägung konkret-individuell oder abstrakt-typologisch zu erfolgen hat. Das Bundesverfassungsgericht stellt auf das von der Kirche jeweils im konkreten Fall verfolgte Interesse ab, das es gegen den staatlichen Zweck, den das Schrankengesetz verfolgt, abwägt284. Dabei fließt das kirchli-
280
Muckel, Religiöse Selbstbestimmungs und staatliche Letztentscheidung, S. 232 f. mit den dortigen Nachweisen. 281
Vgl. oben S. 241.
282
Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 247; vgl. bereits Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, S. 48. 283
Vgl. Rüfiier, Grundrechtskonflikte, in: Festgabe BVerfG Π, S. 472; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen, S. 250 f. sowie v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 133. Andernfalls wilrde sich eine Überprüfung darauf beziehen, ob der Gesetzgeber, dem eine Einschätzungsprärogative zusteht, den Konflikt richtig gewürdigt hat. 284
BVerfGE 53, 366 (401); 66, 1 (22); 70, 138 (167); 72, 278 (289).
252
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
che Selbstverständnis als ein Abwägungskriterium mit ein, dem nach Meinung des Gerichts besonderes Gewicht beizumessen sei285. Diese einzelfallbezogene Betrachtungsweise wurde jüngst von Stefan Muckel mit dem Hinweis kritisiert, daß bei einer abwägungsrelevanten erneuten Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses auf Schrankenebene die Durchsetzung von Gemeinwohlbelangen zumindest erheblich erschwert werde 286. Daher sei eine abstrakt-typologische, an Fallgruppen orientierte Betrachtungsweise geboten, obgleich auch damit die Möglichkeit des Einfließens subjektiver kirchlicher Vorstellungen nicht ganz auszuschließen sei287. Rechtsprechung und Lehre bilden Fallgruppen durch systematische Ordnung von Einzelfallentscheidungen. Eine verwertbare abstrakt-typologische Betrachtung erfordert daher einen Vorlauf einschlägiger Judikatur, die nicht antizipiert werden kann. Auch die Bildung übergeordneter Fallgruppen würde zu Unschärfen führen. Für die hier untersuchte Problematik des Interzessionsasyls fehlen einschlägige Entscheidungen zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, die für eine abstrakt-typologische Betrachtung herangezogen werden könnten. In der Abwägung sind darum sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die die Gewährung von Kirchenasyl ausmachen, insbesondere auch das kirchliche Selbstverständnis288. Dabei ist eine gewisse Typologie bereits dadurch gewährleistet, daß das Kirchenrecht selbst eine Ordnung der Problematik enthält, welche abweichende Selbstverständnisse kirchlicher Sondergruppen als irrelevant ausschließt289.
(b) Die abzuwägenden Güter und Interessen Für die Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Schrankenzweck sind die widerstreitenden Güter und Interessen näher zu bestimmen, welche anschließend gegenseitig zu gewichten sind. Dabei besteht das Ziel darin, die geschüzten Rechtsgüter einander so zuzuordnen, daß jedes von ihnen zur Wirksamkeit gelangen kann (praktische Konkordanz)290.
285
Ebd.
286
So Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 278 f.
287
Ebd., S. 430 f.; kritisch zur einzelfallbezogenen Interessenabwägung des BVerfGs und für eine abstrakte Güterabwägung auch Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. I, Π, Rn. 260. 288
Vgl. Kraus, Kirchenasyl, in: Kirchenasyl, S. 65 ff.
289
Zum Ausschluß des versteckten Kirchenasyl oben S. 225.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
253
(aa) Der Zweck des staatlichen Asylrechts Das staatliche Asylrecht sichert die konstitutive Einräumung des Asylstatus für politisch Verfolgte ab und versucht, eine unkontrollierte Zuwanderung aus wirtschaftlichen und anderen nicht durchgreifenden Gründen abzuwehren291. Als Teil des besonderen Ordnungsrechts dient es der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung, deren Gefährdung durch einen übermäßigen Zuzug von Ausländern in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zumindest möglich erscheint. Dabei setzt der Gesetzgeber auf einen gewissen Abschreckungseffekt durch verfahrensstraffende Regelungen und insbesondere auf eine effektive, von rechtlichen Hemmnissen befreite Abschiebepraxis. Damit zielt er letzlich auf einen Schutz der inneren Sicherheit als Grundbedingung der Funktionsfähigkeit der Gesamtrechtsordnung. (bb) Der Zweck des Interzessionsasyls Demgegenüber bezwecken die asylgewährenden Kirchengemeinden, eine Abschiebung im Einzelfall mit dem Argument zu verhindern, ihr Vorbringen sowie das von ihnen beigezogene Material rechtfertige eine abweichende, den Aufenthalt in Deutschland legitimierende Entscheidung der zuständigen Behörden 292. Weil nach Überzeugung der Kirchengemeinden die Abschiebung unverhältnismäßige Nachteile des Flüchtlings berge, insbesondere Gefahren für Leib und Leben, sei sie auszusetzen und erneut in die Entscheidungsfindung einzutreten293. Die Kirchengemeinden begründen ihr Vorgehen mit glaubens- bzw. gewissensgeleitetem Handeln unter Bezugnahme auf die Bibel, das dortige Fremdenverständnis, christliche Nächstenliebe und Beistandspflicht sowie kirchliche Tradition 294. Sie können sich dabei auf ein kirchliches Interzessionsrecht stützen, welches aus der Karitas als einem Grundauftrag der Kirche folgt 295 .
290
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72, 317 f., 472; ders., Selbstbestimmungsrecht, in: HdbStKirchR I, S. 554. 291
Vgl. zu diesem Absatz im einzelnen oben S. 110 ff.
292
Vgl. zu diesem Absatz im einzelnen oben S. 70 ff. und S. 146 ff. (ev. Kirche) sowie S. 183 ff. (kath. Kirche). 293
Oben S. 71.
294
Siehe dazu die Fallbeispiele oben S. 56 ff. sowie S. 146 ff. und S. 183 ff.
295
Siehe dazu im einzelnen oben S. 144 ff.
254
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
(c) Die Verhältnismäßigkeit einer Beschränkung Aus dem Prinzip der praktischen Konkordanz folgt, daß der Schrankenzweck eine verhältnismäßige Beschränkung des Freiheitsrechts gestattet296. Das staatliche Asylrecht müßte also im Hinblick auf seinen Zweck geeignet und erforderlich sowie in seiner Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts angemessen sein297. (aa) Geeignetheit und Erforderlichkeit des staatlichen Asylrechts Ausweislich der durch das Bundesinnenministerium vorgelegten Asylbewerberzahlen ist das neue Asylrecht geeignet, den unkontrollierten Zustrom von Asylbeweibern zu mindern 298. Die Zahl der Asylanträge hat seit der Asylrechtsreform kontinuierlich abgenommen (1992: 438.191; 1993: 322.599; 1996: 116.367 Anträge) 299. Es ist auch erforderlich, weil ein relativ milderes Mittel mit gleicher Zwecktauglichkeit nicht ersichtlich ist. Zwar sind zur Minderung der Asylbewerber auch andere Modelle, insbesondere die Schaffung eines Einwanderungsgesetzes, erörtert worden. Jedoch ist dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der empirischen Zusammenhänge über die Wirksamkeit anderer Mittel im Hinblick auf den verfolgten Zweck eine Einschätzungsprärogative zugebilligt300. Sie führt dazu, daß Zweifel an Geeignetheit und Erforderlichkeit des Mittels zugunsten des Gesetzgebers gehen301. (bb) Angemessenheit des staatlichen Asylrechts im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht Fraglich ist, ob das staatliche Asylverfahrensrecht, das als abschließende Regelung eine kirchliche Mitwirkung ausschließt, in dieser Hinsicht angemessen, also verhältnismäßig im engeren Sinne ist 302 .
296
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72.
297
299 ff.
Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung allgemäß Pieroth/Schlink,
Staatsrecht Π, Rn.
298 Bundesministerium des Innern, Asylbewerberzahlen 1996, NVwZ 1997, S. 258 (vgl. für 1995 dass., NVwZ 1996, S. 255). 299
Ebd.
300
Pieroth/Schlink,
301
Ebd.
302
Staatsrecht Π, Rn. 308.
Zur Terminologie Stern, Staatsrecht ΙΠ/2, S. 782. Kritik an einer Verwendung des Angemessenheitskriteriums wegen seine Subjektivität bei Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 314; dagegen Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 245, der zutreffend darauf hinweist, daß eine Abwägungsentscheidung nicht auf eine Angemessenheitsprüfung verzichten kann.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
255
(aaa) Der staatliche Zweck in Gestalt eines allgemeinen Gesetzes Auf staatlicher Seite ist für die Abwägung zunächst abstrakt zu berücksichtigen, daß der aufzuwiegende staatliche Zweck in Gestalt eines allgemeinen Gesetzes verfolgt wird. Weil die Eingriffsgesetze den Freiheitsrechten Schranken setzen und nicht umgekehrt 303, begründet allein die Existenz eines Gesetzes, das kein Ausnahmerecht für die Kirchen statuiert, die widerlegliche Vermutung, daß dieses Gesetz das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in zulässiger Weise beschränkt. Das führt zu einer erhöhten Argumentationslast zuungunsten des kirchlichen Interesses. (bbb) Die Nähe des geregelten Sachgebiets zum kirchlichen Bekenntnis Auf kirchlicher Seite gibt die Beachtung des Selbstverständnisses Auskunft über die Nähe einer durch die kirchliche Rechtsordnung geregelten Materie zum religiösen Kernbereich; das Selbstverständnis ist somit als Abwägungsbelang zu berücksichtigen304. Je näher ein Sachbereich dem religiösen Bekenntnis steht und je ausgeprägter er das religiöse Zeugnis zum Ausdruck bringt, desto stärker hat die Rücksicht des beschränkenden Gesetzgebers zu sein305. In Randgebieten kirchlicher Rechtswirkung wächst das Gewicht der staatlichen Regelung306. Fraglich ist, welchem Bereich das Kirchenasyl zugeordnet werden muß. Die Gewährung von Kirchenasyls zum Zwecke der Interzession ist, wie gezeigt, eine in der Tradition der Kirche begründete Handlungsstrategie zur Durchsetzung karitativer und diakonischer Motive gegenüber Staat und Gesellschaft 307. Kirchenasyl wurzelt im kirchlichen Interzessionsrecht, das seinerseits einen Sachbereich kirchlicher Karitas normiert 308. Die christliche Nächstenliebe rechnet zum Kern des christlichen Bekenntnisses. Ihre Ausübung als Karitas stellt, neben Prophetie und Liturgie, eine Grundfunktion der Kirchen dar 309. 303 Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 237; ähnlich bereits Anschütz, Reichsverfassung, Art. 136, Anm. 1 sowie ders., Verfassungs-Urkunde, S. 230. 304 Zutreffend Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 207. 305
Scheuner, Begründung, Gestaltung und Begrenzung kirchlicher Autonomie, in: Füllkrug-Syposion, S. 22; zust. v. Campenhausen in: v. Mangoldt, GG, Art. 140/137 WRV, Rn. 133. 306
Ebd.
307
Oben S. 32 ff. und S. 51 f.
308
Oben S. 150 ff. (ev. Kirche) und S. 182 ff. (kath. Kirche).
309
Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen, in: HbdStKirchR Π, S. 665 (m.w.N).
256
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Darum läßt sich das Interzessionsasyl für ausländische Flüchtlinge dem zentralen kirchlichen Auftrag zurechnen: Es "ist und bleibt (...) Ausdruck und Gebot unseres christlichen Glaubens, für Fremde zu sorgen und Gastfreundschaft zu gewähren. 'Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen', sagt Christus." 310 Dies führt dazu, daß die Vermutung zulässiger Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts durch ein lediglich allgemeines Schrankengesetz entkräftet ist. (ccc) Die Rückkopplung von Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV an Art. 4 GG; das Problem der Schrankendivergenz Die Zuordnung des Interzessionsasyls zum Kernbereich kirchlichen Wirkens könnte ein Übergewicht zugunsten des kirchlichen Interesses ergeben, wenn die Gewährung von Interzessionsasyl zugleich in Art. 4 Abs. 2 GG verwurzelt ist. Artikel 4 GG ist vorbehaltlos gewährleistet311. Daher können sich Beschränkungen der Religionsausübungsfreiheit nur aus kollidierendem Verfassungsrecht ergeben312. Vor diesem Hintergrund maß das Bundesverfassungsgericht dem kirchlichen Selbstverständnis im Rahmen des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV ein besonderes Abwägungsgewicht bei, soweit es Materien betraf, die in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hineinreichten. Dies sollte vor allem für die karitative Tätigkeit der Kirchen gelten
310
Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz vom 26.11.1992, in: Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Asylsuchende und Flüchtlinge, EKD-Texte Nr. 51, S. 7 f.; vgl. oben S. 118. 311
BVerfGE 12, 1 (4 f.); 32, 98 (107 f.); Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 465 f.; i. E. auch v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VI, § 136, Rn. 79 ff; Bethke, Gewissensfreiheit, HStR VI, § 137, Rn. 24; v. Münch-v. Münch, GG, Art. 4, Rn. 53; Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 587; Starck in: v. Mangodt/Klein, GG, Art. 4, Rn. 7; Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 255. Zu Versuchen einer Schrankenübertragung, etwa aus Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 GG oder Art. 136 Abs. 1 WRV, Isak, Selbstverständnis der Kirchen, S. 254 ff. (m.w.N.). Gegen eine Schrankenübertragung dezidiert das BVerfGE 32, 98 (107, zu Art. 4 Abs. 1 GG); Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 466 sowie die zuvor genannte h.M. A.A. in Hinblick auf Art. 136 Abs. 1 WRV jüngst Mukkel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 224 ff.; ähnlich Preuß in: AK, GG, Art. 4, Rn. 30, vgl. v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VI, § 136, Rn. 82 312 Vgl. nur Listi, Glaubens, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 466 f. ; vgl. zur Beschränkung von Normen mit Verfassungsrang durch Normen mit Verfassungsrang Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 258. 313 BVerfGE 53, 366 (LS 2, 401); dazu Listi, Glaubens, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 444.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
257
Beide Normen stehen in einem inneren Zusammenhang. Art. 4 Abs. 2 GG kann kollektiv wahrgenommen werden 314 und umfaßt auch die Gewährleistung des Ordnens und Verwaltens religiöser Dinge315. Artikel 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV gewährleistet darüber hinaus diesen Schutz für Materien, die nicht Religionsausübung sind 316 . Daraus ergibt sich die von der Art der kirchlichen Regelungsmaterie abhängige Möglichkeit einer sachlichen Überschneidung beider Schutzbereiche, die auch als Rückkopplung des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV auf Art. 4 GG beschrieben werden kann317. Diese Überschneidung ist für den Sachbereich des Interzessionsasyls gegeben, weil es mit seiner sozialkaritativen Fundierung im Kernbereich des kirchlichen Auftrags wurzelt 318. Fällt ein Verhalten wie hier in den Schutzbereich konkurrierender Verfassungsgarantien, ergibt sich das Problem der Schrankendivergenz, mit der Frage, welche Schrankenregelung Anwendung findet 319. Dabei läßt sich der Grundsatz aufstellen, daß der Gesetzgeber im Falle echter Konkurrenz doppelt gebunden ist und sich an die Bestimmung des stärkeren Grundrechts halten muß320. Demgegenüber findet die Schranke der schwächeren Verfassungsgarantie Anwendung, wenn sich das schwächere Freiheitsrecht systematisch als bloße Modalität des stärkeren Freiheitsrechts auffassen läßt321. Die allgemeine Regel vom Vorrang des stärkeren Freiheitsrechts kann auf das Konkurrenzverhältnis zwischen Kirchenfreiheit und Religionsausübungsfreiheit nicht angewendet werden. Anderenfalls könnte die Kirche über die Bindungskraft ihres Selbstverständnisses eigenständig Materien mit ihrem zentralen Bekenntnis verbinden, was den Gesetzesvorbehalt des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV leerlaufen lassen würde. Andererseits ist nicht zu erklären, war-
314 Allgemeine Meinung, vgl. nur v. Münch in: ders., GG, Art. 4, Rn. 13 (m.w.N.) sowie BVerfGE 19,1 (5); 42, 312 (322). 315
Vgl. nur BVerfGE 24, 236 (246) wonach alle Äußerungen des religiösen Lebens unter Art. 4 Abs. 2 GG fallen. 316 Vgl. Höllerbach Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, § 138, Rn. 108; Listi , Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 444 f.; BVerfGE 53, 366 (401), welches freilich -anders als Listi- die eigene Bedeutung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts neben der Glaubensfreiheit betont; zur a. A. Listls s. o. S. 210 f. 317
So Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, § 138, Rn. 108.
318
Oben S. 255.
319
Dazu und zum Folgenden Rüfiier, S. 474 ff. 320
Rüfiier, ebd., S. 477 m.w.N.
321
Rüfiier, ebd., S. 478.
17 Grefen
Grundrechtskonflikte, in: Festgabe-BVerfG Π,
258
E. Verfassungsrechtliche Einordng des Kirchenasyls
um Ordnung und Verwaltung kirchlicher Angelegenheiten nur eine schwächere Modalität der Religionsausübung sein soll. Es kann bei einer Überschneidung beider Verfassungsrechte keinen Unterschied machen, ob eine kirchliche Norm gesetzt oder ausgeübt i.S.v. befolgt wird. Darum können auch nicht ohne weiteres die Schranken des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV auf eine kirchliche Lebensäußerung angewendet werden, die auch in Art. 4 Abs. 2 GG wurzelt, weil Art. 4 GG vorbehaltlos gewährleistet ist. Richtigerweise wird man zur Lösung dieses Dilemmas eine Modifikation der vorgenannten Grundsätze vorzunehmen haben. Danach kann eine kirchliche Regelungstätigkeit, die als Ordnen und Verwalten durch Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV und durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützt ist, nur durch ein allgemeines Gesetz beschränkt werden, das kollidierendes Verfassungsrecht zum Tragen bringt. Daraus folgt, daß ein solches kirchliches Interesse nur ein staatlicher Zweck aufwiegt, der sich auf Güter mit Verfassungsrang bezieht. Die Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 2 GG im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ergibt eine Kombination von Bereichsscheidungs- und Abwägungsgesichtspunkten, wie sie auch die Verfassungsrechtssprechung vornimmt 322 . Dabei ist eine Verwechselung mit der abzulehnenden Bereichsscheidungslehre, die einer objektivierenden Betrachtungsweise anhängt, ausgeschlossen323. Vielmehr entscheidet das kirchliche Selbstverständnis über die Zuordnung einer kirchlichen Regelungsmaterie zum Kern- oder Außenbereich ihres Bekennisses, und damit über das Maß ihrer Betroffenheit durch die staatliche Regelung324. Im Außenbereich vermag jeder vernünftige gesetzgeberische Zweck die Schrankenregelung auszufüllen, sofern er in Gestalt eines für alle geltenden Gesetzes erscheint. Im Rahmen der Abwägung genügt hier die Erforderlichkeit und Geeignetheit der Regelung. Ihre Angemessenheit ist indiziert, wenn sie kein gegen die Kirchen gerichtetes Sonderrecht statuiert. Sobald aber eine kirchliche Regelung zugleich in Art. 4 Abs. 2 GG hineinreicht, bedarf ein staatlicher Eingriff einer spezifisch verfassungsrechtlichen Begründung. (ddd) Die Rückkopplung des staatlichen Asylrechts an Verfassungsbelange, insbesondere an Art. 16 a GG Auf staatlicher Seite sind die Funktionsfahigkeit der Gesamtrechtsordnung im allgemeinen sowie Art. 16 a GG im besonderen zu berücksichtigen.
322
Oben S. 244 f.
323
Zur Bereichsscheidungslehre o. S. 245. Isensee, Kirchenautonomie, S. 60 u. 79.
324
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
259
Die Funktionsfähigkeit der Gesamtrechtsordnung betrifft ein kollidierendes Verfassungsgut, das in seiner Bedeutung kaum zu überbieten ist. Die Akzeptanz der Gültigkeit von Recht und die prinzipielle Bereitschaft zur Befolgung des Rechtsbefehls ist für ein rechtsstaatliches Verfassungsgefüge konstituierend. Dabei steht nicht der Rechtszwang im Vordergrund, sondern die friedensstiftende Funktion des Rechts in seiner Verbindlichkeit für alle Rechtsgenossen325. Indessen ist die Funktionsfähigkeit der Gesamtrechtsordnung als Argument für eine Beschränkung von Grundrechten nur begrenzt tauglich, weil die Gesamtrechtsordnung ihrerseits unter dem Vorbehalt der Grundrechte steht326. Gleichwohl kann im Rahmen der Abwägung eine Bewertung der Gefahren, welche der Gesamtrechtsordnung durch Kirchenasyl im Sachbereich des Asylrechts droht, von Gewicht sein, weil die Grundrechtsausübung Rechtswahrnehmung innerhalb der Rechtsgemeinschaft ist. Die Gewährung von Kirchenasyl versteht sich als ultima ratio und ist durch die kirchliche Rechtsordnung auch so ausgestaltet. Diese gestattet keine Asylgewähr zur Unzeit und fordert ihre Plausibilität und Vermittelbarkeit. Die maßvolle, durch die kirchliche Rechtsordnung gesteuerte Kirchenasylpraxis kann daher nicht als Gefahr betrachtet werden, welche die Gesamtrechtsordnung erschüttern könnte327. Darüber hinaus ist dies auch nicht intendiert 328. Vielmehr setzt das Interzessionsasyl gerade die Funktionsfahigkeit der Gesamtrechtsordnung voraus, weil es die letztverbindliche Entscheidung über ein Aufenthaltsrecht des Asylbewerbers den staatlichen Behörden überläßt329. Allerdings setzen die einfachgesetzlichen asyl- und ausländerrechtlichen Regelungen die Vorgaben aus Art. 16 a GG um 330 . Die Verfassungsbestimmung verfolgt nach der Begründung des Gesetzentwurfs das Ziel, den wirklich politisch Verfolgten weiterhin Schutz und Zuflucht zu gewähren, aber eine unberechtigte Berufung auf das Asylrecht zu verhindern und diejenigen Ausländer von einem langwierigen Asylverfahren auszuschließen, die des Schutzes deswegen nicht bedürfen, weil sie offensichtlich nicht oder nicht mehr aktuell politisch verfolgt werden. Außerdem soll das Asylverfahren ein-
325
Zutreffend Grote/Kraus,
326
Geis, Kirchenasyl, JZ 1997, S. 64; ebenso Grote/Kraus,
Kirchenasyl, JuS 1997, S. 348. Kirchenasyl, JuS 348.
327
So Wenzel, Widerstand und Recht, Gewissen und Unrecht, DRiZ 1995, S. 12; ähnlich Lisken, "Kirchenasyl", in: Symposion 1995, S. 11; Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 73. 328
Grämlich, Asyl in Kirchen, in: Gedächnisschrift f. G. Küchenhoff, S. 205.
329
I.E. ebenso Grote/Kraus,
330
Vgl. näher o. S. l l l f .
Kirchenasyl, JuS 1997, S. 348.
260
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
schließlich des gerichtlichen Verfahrens weiter beschleunigt werden331. Dementsprechend beinhaltet die sog. Drittstaatenregelung des Art. 16 a Abs. 2 GG das Konzept, die verfahrensrechtlichen Vorwirkungen eines Grundrechtsanspruchs auf Asyl, nämlich die Möglichkeit der Einreise und ein vorläufiges Bleiberecht bis zur endgültigen Entscheidung über den gestellten Antrag mit einem Anspruch auf ein geordnetes Verfahren zur Prüfung des Asylantrags, nicht zur Entstehung kommen zu lassen332. Art. 16 a Abs. 3 GG erhöht die Darlegungslast eines Bewerbers aus einem in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgenommenen Land 333 . Art. 16 a Abs. 2 S. 2 sowie Abs. 4 GG enthalten verfahrenrechtliche Beschränkungen des Schutzbereichs mit verfassungsunmittelbarer Wirkung, wodurch eine schnelle Vollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen sichergestellt werden soll 334 . Die genannten Verkürzungen und Beschränkungen des Art. 16 a GG würden durch eine Berücksichtigung des kirchlichen Interzessionsrechts zumindest gehemmt und in ihrer Effektivität in Frage gestellt. Im Rahmen der Abwägung ist daher Art. 16 a GG als kollidierendes Verfassungsrecht zu berücksichtigen und in praktische Konkordanz mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht zu setzen. Dabei müssen beide Verfassungsbestimmungen in gebührender Weise zur Geltung gelangen können335. Zunächst ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber den Asylanspruch in Art. 16 a Abs. 1 GG abschließend geregelt hat. Dies schließt eine Berücksichtigung möglicherweise geltend gemachter anderer als politischer Gründe des Asylbewerbers aus, soweit es um die Einräumung des Asylrechts geht336. Indessen suchen die Kirchengemeinden keine neuen Asyltatbestände zu schaffen, sondern in Anknüpfung an den ebenfalls grundrechtlich verbürgten Lei331
So die Begründung des interfraktionellen Gesetzentwurfs von CDU/CSU, FDP und SPD, in: Deutscher Bundestag, BT-Dr. 12/4152, S. 3; vgl. dazu Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 6; s. a. Hailbronner, Die Asylreform im Grundgesetz, ZAR 1993, S. 106 f. 332 Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 48; Kanein/Renner, Ausländerrecht, Art. 16 a, Rn. 93; Lübbe-Wolff in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 71 f.; vgl. Begründung des Gesetzentwurfs in: Deutscher Bundestag, BT-Dr 12/4152, S. 3 u. BT-Dr 12/4450, S. 2. 333 Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 68; Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, S. 19; vgl. zu den Begriffen Beweis- und Darlegungslast im Asyl verfahrensrecht Lübbe-Wolff in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 47 f. 334
Vgl. Bonk in: Sachs, GG, Art. 16 a, Rn. 69.
335
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechs, Rn. 72, 317 f., 472.
336
Vgl. BVerwG, NJW 1983, 2587 = KirchE 21, 115 (116 f.); VG Regensburg, KirchE 23, 238 (241), wonach die Religionsfreiheit keine zusätzlichen Aufenthaltstitel begründen kann. Zum Verfahrens vorbehält siehe Lübbe-Wolff in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 58 f.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
261
bes- und Lebensschutz Verfahrensverbesserungen durchzusetzen. Zwar intendiert Art. 16 a GG selbst die Verfahrensstraflung, jedoch nicht auf Kosten von Leib und Leben der Asylflüchtlinge. Demgemäß sind die Normen über die Vollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht als zwingende Regelungen formuliert. Art. 16 a Abs. 2 S. 3 GG gestattet zwar den Vollzug einer Abschiebung eines aus einem Drittland eingereisten Asylbewerbers vor der Entscheidung eines hiergegen eingelegten Rechtsbehelfs. Jedoch ist die Vorschrift als "KaruT-Regelung ausgestaltet. Daneben greifen sonstige verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Vorschriften, die eine Abschiebung ausschließen, jedenfalls gegenüber einer beabsichtigten Abschiebung in den Herkunftsstaat oder in andere, nicht als sicher einzustufende Staaten, weiterhin 337 . Insoweit kommt Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG keine mittelbare Ausschlußwirkung zu 338 . Keine Ausschlußwirkung besteht ferner, wenn das der Drittstaatenregelung zugrundeliegende Konzept normativer Vergewisserung 339 nicht greift: bei im Drittstaat drohender Todesstrafe, bei im Drittstaat drohender Verbrechen, vor welchen der Drittstaat nicht zu schützen vermag, bei schlagartiger Veränderung der für die Einstufung als sicher maßgeblichen Verhältnisse, bei drohender politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung durch den Drittstaat selbst sowie bei ausnahmsweise drohender, konventionswidriger Rechtsschutzverweigerung durch den Drittstaat 340. Auch Art. 16 a Abs. 2 S. 3 GG schließt den vorläufigen Rechtsschutz nur insoweit aus, als es um die Überstellung in einen als sicher eingestuften Drittstaat geht341. Art. 16 a Abs. 4 GG beläßt dem Gericht die Möglichkeit, eine vollziehbare Ausweisung zumindest dann auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen342. Diese Regelungen zeigen, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber einer Abschiebung während oder nach Abschluß des Asylverfahrens keinen zwingenden und unbedingten Vorrang einräumt. Die Durchlässigkeit der Verfas337
Vgl. BVerfGE 94,49 (97); Lübbe-Wolff in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 73.
338
I.E. wie hier BVerfGE 94, 49 (95, 97, 99) sowie B. Huber, Asylrecht nach der Grundgesetzänderung, NVwZ 1993, S. 737; Renner, Asyl- und Ausländerrechtsreform 1993, ZAR 1993, S. 121; Schock, Das neue Asylrecht gemäß Art. 16 a GG, DVB1 1993, S. 1167. A.A.: Hailbronner, Reform des Asylrechts, S. 64; Pieroth/Schlink, Menschenwürde und Rechtsschutz, in: FS Mahrenholz, S. 678 u. 681. 339
BVerfGE 94, 49 (99 f.).
340
Ebd.
341
BVerfGE 94, 49 (101); Lübbe-Wolff in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 81; vgl. § 34a AsylVfG. 342
Lübbe-Wolff in: Dreier, GG, Art. 16 a, Rn. 98 u. 93 ff. (m.w.N.)
262
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
sungsnorm spricht dafür, neben ihrem restriktiven Regelungsgehalt das kirchliche Selbstverständnis in Gestalt des Interzessionsasyls zu berücksichtigen. Dabei läßt sich dem kirchlichen Begehren entsprechen. Es beschränkt sich auf eine Teilhabe am staatlichen Asylverfahren, wenn Gründe der ultima ratio den Kirchengemeinden ein Eingreifen nach ihrem Binnenrecht gestatten343. Es führte zu einer vertretbaren Verfahrensverlängerung in Fällen, in denen die Kirchengemeinden Leibes- oder Lebensbedrohungen oder Asylgründe plausibel vortragen können. Ihr Vorbringen ist durch die zuständigen Behörden und Gerichte im Rahmen laufender Verfahren selbständig und vollständig zu würdigen und bei der Entscheidung zu berücksichtigen344. Sofern ein Asylverfahren beendet und die Entscheidung unanfechtbar geworden ist, erlaubt ein Asylfolgeverfahren nach § 71 AsylVfG eine entsprechende Berücksichtigung des kirchlichen Begehrens345. (eee) Das Prinzip der Freundschaftsklauseln Dies wird gestützt durch die in zahlreichen Verträgen zwischen Staat und Kirchen enthaltenen Freundschaftsklauseln, welche ein allgemeines Kooperations-, Koordinations- und Konsultationsprinzip zum Ausdruck bringen. Dem Staat ist zwar nicht verwehrt, einseitige, auch die Kirchen bindende Regelungen zu schaffen 346. Jedoch ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, daß sich beide Parteien durch Selbstbindung zu einem Entgegenkommen in Fragen fundamentaler Bedeutung verpflichtet haben347. Halten Kirchengemeinden eine Person nach sorgfältiger Prüfung für an Leib oder Leben bedroht, so ist das Eintreten für diesen Menschen durch Interzessionsasyl als Karitas und Seelsorge dem Kernbereich des kirchlichen Auftrags zuzurechnen. Die Frage des weiteren Verfahrens mit diesem Menschen ist für die Kirchengemeinden von fundamentaler Bedeutung. Daher hat das Kooperationsprinzip ein zusätzliches Abwägungsgewicht348. Es verpflichtet Staat und Kirchen im Falle des Interzessionsasyls nach Wegen der Verständigung zu suchen. Die Vereinbarungen zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mit der Evangelischen Kirche im Rheinland über die Clearingstelle Kirchenasyl 349 343
Dazu oben S. 152 f.
344
1. E. ebenso, allerdings für Art. 4 GG, Grote/Kraus, Kirchenasyl, in: JuS 1997, S. 349 sowie Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 73. 345
Zu § 71 AsylVfG vgl. u. S. 277.
346
Zur veralteten Koordinationstheorie vgl. oben S. 240 mit Fn. 215.
347
Ähnlich Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S.
618. 348
Zu den Freundschaftsklauseln bereits oben S. 164 f. mit den dortigen Nachweisen.
349
Oben S. 94 f.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
263
vollziehen somit die verfassungsrechtliche Lage zutreffend, freilich deklaratorisch, nach. (ffi) Kein Widerspruch zum Gleichheitssatz Dem kann auch kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz entgegengehalten werden, etwa mit dem Argument, daß die Verfahrensgestaltung eine andere, bessere sei, sofern ein Asylbewerber die Protektion der Kirche finde 350. Einem solchen Bewerber wäre durch die Asylentscheidung der Gemeinde zwar eine weitere, von der Rechtsordnung für andere Bewerber nicht vorgesehene Instanz eröffnet. Allerdings enthält die kirchliche Rechtsordnung ihrerseits Verfahrensregelungen für den Fall des Kirchenasyls, die einen gleichen Zugang zu diesem besonderen Hilfsmittel kirchlicher Interzession im Rahmen der den Kirchen gegebenen materiellen Möglichkeiten erlaubt 351. Zudem verlangt der Gleichheitssatz keine schematische Gleichbehandlung, sondern beinhaltet ein Willkürverbot, das Ungleichbehandlungen ohne sachlichen Grund verbietet 352. Für das Kirchenasyl läßt sich daher festhalten, daß eine Berücksichtigung dieses Sachverhalts durch die staatlichen Behörden gemäß Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV sachlich gerechtfertigt und nicht willkürlich ist 353 .
e) Ergebnis
Somit führt die Anerkennung der kirchlichen Aufgabe und Selbständigkeit durch Art 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 zu einer Pflicht des Staates, kirchliche Einwendungen nicht zu übergehen, wo fundiert auf Mängel und Fehler im staatlichen Asylverfahren aufmerksam gemacht wird. Das staatliche Asylverfahrensrecht kann, mit Rücksicht auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, nicht als abschließende Regelung angesehen werden. Der Staat hat die Asylentscheidung einer Kirchengemeinde zu respektieren und darf sie nicht durch Abschiebung ohne erneute Sachentscheidung unterlaufen. Daher folgt dem Anspruch der Kirchengemeinde auf Gegenvorstellung im Asylverfahren ein zeitlich befristeter Abwehranspruch gegen gewaltsame Zugriffe auf den Asylbewerber im Kirchenasyl.
350
So v. Münch, Kirchenasyl, NJW 1995, S. 566.
351
Oben S. 152 ff.
352
Vgl. BVerfGE 4,144 (155); 27, 364 (371 f.); 78,104 (121).
353
Zutreffend Geis, Kirchenasyl, JZ 1997, S. 65.
264
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
3. Die Glaubens-, Bekenntnis- und Glaubensausübungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1,2 GG Möglicherweise verstärkt Art. 4 GG den verfassungsrechtlichen Schutz einer Kirchengemeinde, die Interzessionsasyl gewährt.
a) Der Schutzbereich
Ungeachtet der Streitfrage, ob die Norm einen einheitlichen Schutzbereich enthält354 oder verschiedene Freiheitsrechte garantiert 355, lassen sich jedenfalls verschiedene Modalitäten der Freiheitsausübung ausmachen, welche vorbehaltlos geschützt sind 356 . Dazu zählen die innere Bildimg eines Glaubens oder Gewissens im forum internum, das Bekenntnis der Glaubensinhalte nach Art. 4 Abs. 1 GG sowie die Ausrichtung des gesamten Lebensvollzugs nach den Prinzipien dieses Glaubens durch Art. 4 Abs. 2 GG 357 . Die Freiheitsmodalitäten des Glaubens und Bekennens können kollektiv ausgeübt werden. Insoweit ist gemäß Art. 19 Abs. 3 GG eine Kirchengemeinde Grundrechtsträger 358.
b) Kein Anspruch auf einen weitergehenden Schutz des Asylbewerbers durch eine bestimmte Behördenentscheidung
Aus dem inneren Zusammenhang zwischen Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV und Art. 4 Abs. 2 GG folgt, daß ein Verhalten, welches in den Schutzbereich beider Gewährleistungen fällt, wie es regelmäßig für Akte karitativer Tätigkeit
354
So die h.M. und das BVerfG; vgl. nur BVerfGE 24, 236 (245); 32, 98 (106 f.); Badura, Der Schutz von Religion, S. 24; v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VI, § 136, Rn. 36; Listi , Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 454. 355 Für eine zwangslose Auslegung ausgehend vom Textbefund, der verschiedene Freiheitsrechte nahelegt, etwa Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 2 und 5 ff. sowie jüngst Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 125 ff. 356
Siehe dazu nur die Übersicht bei Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 557 ff. Zu Versuchen einer Schrankenübertragung auf Art. 4 GG s. o. S. 256 mit Fn. 311. 357 VgLPieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 562 u. 580; Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 6 ff; BVerfGE 32, 98 (106), zust. Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 441. 358
v. Münch in: ders., GG, Art. 4, Rn. 13 (m.w.N.).
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
265
der Fall ist 359 , soweit es durch die Kirchenfreiheit geschützt ist, auch dem Schutz der Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG unterliegt 360. Daher kann für das Interzessionsasyl unter Art. 4 Abs. 2 GG allein fraglich sein, ob diese Norm einen weitergehenden Schutz dahingehend bietet, daß der Staat eine Entscheidung treffen muß, die dem Asylbegehren des Flüchtlings im Kirchenasyl stattgibt. Jedoch würde das dazu führen, daß Kirchengemeinden den staatlichen Behörden eine bestimmte Entscheidung aufzwingen könnten. Dies würde Art. 16 a GG leerlaufen lassen und wäre mit dem Prinzip praktischer Konkordanz nicht zu vereinbaren 361. In diesem Sinne, allerdings ohne eigene Begründung, hat das Bundesverwaltungsgericht zutreffend entschieden, daß Art. 4 GG aus sich heraus nicht dazu bestimmt ist, Ausländern ansonsten nicht bestehende Rechte auf Einreise und Aufenthalt zu gewährleisten362.
c) Kein Eingriff
durch das staatliche Asylrecht in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit
Bezüglich der Freiheit der Glaubensbildung und des Bekenntnisses gemäß Art. 4 Abs. 1 GG, in deren Bereich sich die gebildete Überzeugung von der Notwendigkeit der Interzession wiederfindet, fehlt es dem staatlichen Asylrecht an einer Eingriffsqualität. Es vermag weder die Glaubensbildung noch das öffentliche Bekenntnis der Glaubensinhalte, welches sich von der aktiven Glaubensbetätigung nach Abs. 2 unterscheidet, zu beeinträchtigen363.
359
Zur Religionsausübung rechnet das BVerfG ausdrücklich auch die karitative Betätigung der Kirchen, vgl. BVerfGE 24, 236 (246); zust. Listi , Glaubens-, Bekenntnisund Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 440 f. 360
Vgl. oben S. 256.
361
Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechsstaat, JZ 1997, S. 65: Keine Mutation des Art. 4 zu einem "Supergrundrecht". 362 BVerwG NJW 1983, 2587 = KirchE 21, 115 (116 f.) (Visapflicht für Imam); ihm folgend VG Regensburg, KirchE 23,238 (241) (Aufenthaltserlaubnis für Missionar der "Vereinigungskirche"). Vgl. zur zu verneinenden Frage eines allgemeinen Anspruchs auf Anpassung der Rechtsordnung an religiöse Überzeugungen Grote/Kraus, Kirchenasyl, JuS 1997, S. 347 (m.w.N). 363
Zu den Eingriffen in die Modalitäten Glauben/Denken und Bekennen/Reden des Art. 4 nur Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 6 u. 7.
266
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
4. Die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG als Recht der Kirchengemeinde? Vielfach wird die Gewährung von Kirchenasyl unter dem Gesichtspunkt einer Gewissensentscheidung i. S. d. Art. 4 Abs. 1 GG erörtert 364. Dabei wird, der These vom einheitlichen Schutzbereich des Art. 4 GG folgend, häufig zwischen Glauben und Gewissen ebensowenig getrennt, wie das Handeln einzelner von dem Vorgehen einer kirchlichen Gemeinde unterschieden wird 365 . Unter einer Gewissensentscheidung366 ist eine ernstlich sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung zu verstehen, die der einzelnen in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne Gewissensnot handeln kann 367 . Damit trägt die Gewissensfreiheit einer inneren Notlage in Gestalt einer psychischen Zwangslage Rechnung368. Ihr Schutz kommt nur natürlichen Personen als Trägern einer Psyche zugute. Sie ist daher nach ganz herrschender Auffassung ihrem Wesen nach nicht auf juristische Personen anwendbar369. Somit können sich Kirchengemeinden nicht auf die Gewissensfreiheit berufen.
364 Vgl. etwa Robbers, Strafrecht und Verfassungsrecht beim Kirchenasyl, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 126 f.; Mühleisen, Eine notwendige Spannung, HK, S. 353 ff; Jacobs, Kirchenasyl, ZevKR 35 (1990), S. 38 f.; B. Huber, Sanctuary, ZAR 1988, S. 156. 365 Vgl. etwa B. Huber, Sanctuary, ZAR 1988, S. 156; Grämlich, Asyl in der Kirche, in: FS Küchenhoff, S. 202 ff; Ehnes, Asyl und kirchliches Handeln, in: Das Recht der Kirche, Bd. ΙΠ, S. 614. Anders Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 160, der deutlich zwischen Glaubens- und Gewissensfreiheit unterscheidet und Kirchenasyl als Problem der Gewissensfreiheit behandelt. 366 Zu den historischen Wurzeln der Gewissensfreiheit in der Hausandacht Listi, Glaubens-, Bekenntnis-, und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 458. 367
BVerfGE 12,45 (55).
368
Herdegen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 482 f.; Bethge, Gewissensfreiheit, in: HStR VI, § 137, Rn. 11. 369 Vgl. BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1990, S. 241; Herdegen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 489 f; Bethge, Gewissensfreiheit, in: HStR VI, § 137, Rn. 5; a.A. Ekkehard Stein, Gewissenfreiheit, S. 47, 74 f.; Franke, Gewissensfreiheit, AöR 114(1989), S. 18.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
267
5. Exkurs: Verfahrensteilhabe auch fur Private? Kursorisch zu streifen ist die Frage, ob das sog. Privatasyl 370 einen ähnlichen verfassungsrechtlichen Schutz beanspruchen kann wie das kirchliche Interzessionsasyl. Kann sich auch der einzelne unter Berufung auf Art. 4 GG eine Teilhabe am Asylverfahren erstreiten? Als Anknüpfungspunkte für einen derartigen Anspruch kommen die in Art. 4 Abs. 1, 2 GG gewährleisteten Modalitäten der Gewissensfreiheit sowie der Religionsausübungsfreiheit in Betracht.
a) Die Gewissensfreiheit
aus Art. 4 Abs. 1 2. Alt. GG als Recht des einzelnen
aa) Die psychische Integrität als Schutzgut der Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit schützt die psychische Integrität des Menschen371. Dem vom Befehl einer staatlichen Rechtsnorm abweichenden moralisch substantiierten Verhalten eines einzelnen soll nicht mit der ganzen Härte des Gesetzes begegnet werden.
bb) Verweigerungs- oder auch Aktionsrecht? Umstritten ist, ob die Gewissensfreiheit über das forum internum hinaus nur ein Sich-Verweigern gegenüber staatlichen Befehlen 372 oder auch ein aktives Handeln gegenüber staatlichen Verboten373 schützt. Aus ersterem ist geschlossen worden, daß die Kirchenasylaktivisten nicht im Schutzbereich der Gewissensfreiheit handelten, da sie ihre Entscheidung an die Stelle der Entscheidung der zuständigen Behörden und Gerichte setzten374. Weil aber die
370
Oben S. 83 f.
371
Herdegen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 482; grundlegend Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, AöR 90 (1965), S. 265 ff.; ähnlich Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: WDStRL 28 (1970), S. 67 ff.; vgl. oben S. 266. 372 So Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 157, 160; vgl. auch Preuß in: AK, GG, Art. 4 Abs. 1,2, Rn. 42. 373
So Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 140; ders., Die Freiheit des Gewissens, DVB1 1969, S. 720. 374
So Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 160.
268
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Gewissensfreiheit nur eine Abwehrfunktion gegen aufgezwungene Konfliktsituationen beinhalte, sei dieser selbstgewählte Konflikt nicht Gegenstand geschützten gewissensgeleiteten Handelns375. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß es für die Gewissensfreiheit als Abwehrrecht keinen Unterschied machen kann, in welcher Weise eine staatliche Regelung einen Gewissenskonflikt an den einzelnen heranträgt, ob die Regelung also ein positives Tun oder ein Unterlassen des Grundrechtsträgers impliziert. Diese formale Unterscheidung würde dem Grundrecht nicht gerecht, das die psychische Integrität im Rahmen kollidierenden Verfassungsrechts vor unverhältnismäßigen Eingriffen schützt. Eine Reduzierung des Schutzbereichs auf ein reines Recht zum Untätigbleiben würde Menschen benachteiligen, bei denen das Gewissen besonders stark ausgeprägt ist, die darum psychische Zwangslagen besonders intensiv erleben und die sich zum Handeln getrieben sehen. Deshalb können sich Beteiligte, die sich mit der Handlungsform des Privatasyls aktiv in das staatliche Asylverfahren hineindrängen wollen, auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen. Die Gewissensfreiheit bleibt dabei ihrer Struktur nach ein Abwehrrecht gegen gewissensbelastende staatliche Regelungen und Maßnahmen.
cc) Das Wohlwollensgebot und die Schranken der Gewissensfreiheit; Abwehr-, aber kein Teilhaberecht Die Gewissensfreiheit findet ihre Schranken in kollidierendem Verfassungsrecht376. Aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgt, daß sie dem prinzipiellen Geltungsanspruch demokratisch zustandegekommener Normen nicht entgegengehalten werden kann 377 . Daher begründet die Gewissensfreiheit keine Primat individueller Sondermoral mit der Folge einer Exemtion von der staatlichen Rechtsordnung. Als reines Abwehrrecht geht die Gewissensfreiheit nicht so weit, daß der Staat dem einzelnen etwa eine Verfahrensteilhabe zur Gewissensberuhigung einräumen muß378. Allerdings unterliegen Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit in Ansehung einer 375
Ebd.
376
Bethge, Gewissensfreiheit, HStR VI, § 137, Rn. 27; BSGE 61, 159 (165).
377
Herdergen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 500 m.w.N; Klein, Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat?, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, S. 188. 378 Insoweit zutreffend Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 160, allerdings auf Ebene des Schutzbereichs; mit Hinweis auf die Schranken des Grundrechts ähnlich v. Münch, Kirchenasyl, NJW 1995, S. 566; Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 38.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
269
gewissensbedingten Zwangslage einem Wohlwollensgebot zugunsten gewissensschonender Alternativen 379. Das Wohlwollensgebot kann zu einer verhältnismäßigen Exemtion von Rechtspflichten im Einzelfall führen 380, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese Pflichten ein positives Tun oder ein Unterlassen gebieten oder implizieren 381. Dem Wohlwollensgebot ist genüge getan, wenn der Staat Sanktionen gegenüber einer dissenten Gewissensentscheidung unterläßt.
dd) Das Wohlwollengebot im Strafrecht; schuldmindernde, aber nicht rechtfertigende Wirkung einer Gewissensentscheidung Im Strafrecht kann die Auslegung eines Straftatbestandes im Lichte der Gewissensfreiheit dazu führen, daß eine Strafbarkeit im Einzelfall der Gewissensfreiheit weichen muß. Ein Zurückweichen ist angezeigt, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis seines Gewissens bringt, der gegenüber die Kriminalstrafe, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, sich als eine übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde 382. Eine Berücksichtigung der Gewissensfreiheit im Strafrecht führt nicht aus sich heraus zur Rechtfertigung der normwidrigen gewissensgeleiteten Handlung. Eine Gewissensentscheidung begründet lediglich einen Entschuldigungsgrund bzw. einen strafmilderden Umstand383. Im Falle des Kirchenasyls gilt allerdings, daß es unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung eines Rückgriffs auf die Gewissensfreiheit angesichts etwaiger Straftatbestände nicht bedarf, soweit die durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV und Art. 4 Abs. 2 GG geschützte Asylentscheidung der Kirchengemeinde für die einzelnen Beteiligten als Rechtfertigungsgrund durchschlägt384.
379
Herdergen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 497.
380
So Preuß in: AK, GG, Art. 4, Rn. 42.
381
A.A. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 160 f.
382
So das BVerfG in der Leitentscheidung E 32, 98 (109).
383
Herdergen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 501; Robbers, Strafrecht und Verfassung beim Kirchenasyl, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 127, sowie A. und M. Radke y "Kirchenasyl" und die strafrechtliche Verantwortlichkeit, ZevKR 1997, S. 52 ff. A.A. Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 90 ff., der in Art. 4 GG einen Rechtfertigungsgrund sieht. 384
Dazu unten S. 283.
270
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls b) Glaubensausübungsfreiheit,
Art. 4 Abs. 2 GG
Möglicherweise ergibt sich im Falle des Privatasyls unter dem Gesichtspunkt der Glaubensausübungsfreiheit ein Recht auf Verfahrensteilhabe. Mit dem Bundesverfassungsgericht ist davon auszugehen, daß Art. 4 GG in der Modalität der Glaubensausübung dem einzelnen das Recht gewährt, sein Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln385. Die Glaubensausübungsfreiheit unterscheidet sich von der Gewissensfreiheit dadurch, daß eine Beeiträchtigung nicht erst gegeben ist, wenn der Gläubige in eine psychische Zwangslage gerät, sondern bereits vorliegt, wenn ihm glaubensmotiviertes Verhalten versagt oder erschwert wird 386 . Eingriffe bestehen in einer Verpflichtung oder einem Zwang zu einem Handeln oder Unterlassen, das gegen eine Glaubensposition des einzelnen oder einer Gemeinschaft verstößt387. Damit beinhaltet die Modalität der Glaubensausübungsfreiheit wie die der Gewissensfreiheit ein Abwehrrecht gegen staatliche Übergriffe 388. Zweifelhaft ist, ob sich mit dem Argument, daß es der Glaubensausübung entspreche, zugunsten des abzuschiebenden Asylbewerbers zu intervenieren, eine Position im Asylverfahrensrecht ableiten läßt. Dagegen spricht bereits, daß, wenn selbst eine psychische Zwangslage des Gewissens kein Teilhaberecht begründen kann, dies erst recht für die Glaubensausübungsfreiheit des einzelnen gelten muß, weil bei beiden die Interessenlage gleich ist 389 . Hinzu kommt, daß aus verfassungsrechtlicher Sicht individuelle und kollektive Glaubensfreiheit unterschiedlich geschützt sind. Religionsgesellschaften ist gemäß Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1, Art. 4 Abs. 2 GG die Ausbildung einer Rechts-
385 BVerfGE 32, 98 (106); zustimmend Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR I, S. 441; kritisch zur Judikatur des BVerfGs Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 14 ff., S. 21; vgl. zur Kritik auch Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 104 f. 386
Vgl. nur Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 580; vgl. zur Unterscheidung zwischen Glauben und Gewissen aus Sicht der Gewissensfreiheit Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 156. 387
Muckel, ebd.
388
Beispiele bei Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 585; vgl. aus der Rechtsprechung des BVerfG die Übersicht bei Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 17 ff. 389
Zur Interessenlage: Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 236 f.; vgl. Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4, Rn. 149. Zur Gleichsetzung von Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Verfassungsrechtsprechung vgl. BVerfGE 33,23 (29 ff.).
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
271
Ordnung als Modalität der Religionsausübung gewährleistet390. Daraus folgt ein Anspruch auf Achtung der kirchlichen Rechtsordnung, der auch in Gestalt eines Teilhaberechts gegeben sein kann 391 . Demgegenüber ist glaubens-, ebenso wie gewissensgeleitetes Handeln des einzelnen Ausdruck rein individueller Freiheit und für den Staat weder berechenbar noch immer hinreichend erkennbar. Darum kann die privat gelebte und ausgeübte Glaubensüberzeugung nicht im selben Maße wie die in festgefügte Formen des Kirchenrechts gegossene Glaubensausübung Berücksichtigung finden. Zwar ist der Staat daran gehindert, den Glauben seiner Bürger zu bewerten. Er muß daher auch Glaubensminderheiten sowie einzelne gleichermaßen schützen392. Jedoch gebieten die unterschiedlichen Modalitäten individueller und kollektiver Glaubensausübung, daran unterschiedlich anzuknüpfen mit der Folge, daß den Kirchengemeinden im Bereich des staatlichen Asylverfahrens ein Teilhaberecht zusteht, welches für den einzelnen Gläubigen ausgeschlossen ist.
6. Sonstige verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinde Wie ein Jedermann kann sich die Kirchengemeinde gegen staatliche Eingriffe im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG auf sonstige Grundrechte berufen.
a) Art. 13 GG (Schutz der Wohnung)
Einschlägig ist vor allem das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 GG. Es gibt ein Abwehrrecht gegen Eingriffe in den elementaren Lebensraum, wozu neben der räumlichen Privatsphäre auch Betriebs- und Geschäftsräume zu rechnen sind 393 . Der räumlich-gegenständlich Bereich einer Kirchengemeinde ist, soweit er von Asylbeweibern bewohnt wird, unter den Begriff der Privatsphäre zu subsumieren. Zusätzlichen Schutz erfährt der Kirchenraum über das Hausrecht, welches über Art. 13 GG hinaus seine Konkretisierung und Zusammenfassung in Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV findet 394.
390
Oben S. 213 ff.
391
Oben S. 231 ff.
392
Vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1989, 279 sowie Pieroth/Schlink, Rn. 565.
Staatsrecht Π,
393 BVerfGE 32, 54 (68 ff.); 76, 83 (88); zustimmend Pieroth/Schlink, Rn. 941; a.A. Stein, Staatsrecht, S. 288.
Staatsrecht Π,
394
BVerfGE 57,220 (243 f.).
272
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Dessen Bedeutung ist bei der Auslegung der Schrankenbestimmung des Art. 13 Abs. 2 und 3 GG zu berücksichtigen395. Behördliche Eingriffe in Gestalt von Durchsuchungen, verstanden als das zielgerichtetes Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, das der Wohnungsinhaber von sich aus nicht offenlegen oder herausgeben will, sind nur unter den Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 GG zulässig396. Danach erfordert die Suche nach einem Asylbewerber oder dessen Festnahme im Kirchenraum entweder einen rechtsförmigen richterlichen Durchsuchungsbefehl oder eine entsprechende Anordnung anderer gesetzlich vorgesehener Organe (Staatsanwaltschaft, Polizei) bei Gefahr in Verzug 397. Aus der Voraussetzung der Rechtsförmigkeit folgt, daß ein rechtswidriger richterlicher Durchsuchungsbefehl oder ein rechtswidriges polizeiliches Einschreiten keine Eingriffe in Art. 13 Abs. 1 GG gestatten398. Das bedeutet, daß polizeiliche Räumungen nicht gemäß Art. 13 Abs. 2 GG gerechtfertigt sein können, solange die Kirchengemeinde unter dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts handelt und die einfachgesetzlichen Festnahmegründe dadurch gehemmt sind399. Sonstige Eingriffe, vor allem das schlichte Betreten kirchlicher Räume etwa zur Information über Art und Umfang eines gemeldeten Kirchenasyls oder darüber, ob bauordnungsrechtliche Vorschriften eingehalten wurden 400, sind unter den Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 3 GG zulässig401. Neben den verfassungsunmittelbaren Ermächtigungen kommt dabei als einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlage vor allem die polizeiliche Generalklausel in Betracht, wobei das Kirchenasyl selbst, wie gezeigt, als Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausscheidet402. Aus der Benutzung des Kirchenraums als Wohn395
Vgl. aber BVerfGE 57, 220 (243 f.). Das Gericht subsumiert ohne weitere Begründung nicht unter Art. 13 GG, sondern unter Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV, welchen es gegen Art. 9 Abs. 3 GG (es ging um Zutrittsrechte für Gewerkschaften) aufwiegt. Die hier vertretene Lösung berücksichtigt das Selbstbestimmungsrecht bei der Frage, ob ein rechtmäßiger Zutritt der Behörden angeordnet wird. 396
BVerfGE 51, 97 (107).
397
Zu Durchsuchungen allgemein Pieroth/Schlink,
398
Pieroth/Schlink,
399
Ähnlich BVerfGE 57,220 (243 f., 248).
400
Zum Erfordernis der Informationspflicht BVerwGE 78,251 (255 f.).
401
Staatsrecht Π, Rn. 947 ff. m.w.N.
Staatsrecht Π, Rn. 947, 949.
Näher zu sonstigen Eingriffen nach Art. 13 Abs. 3 GG Pieroth/Schlink, 13, Rn. 951 ff
GG, Art.
402 Zur polizeilichen Generalklausel bei Art. 13 Abs. 3 GG vgl. BVerwGE 47, 31 (40), welches für ein polizeiliches Einschreiten das Vorliegen einer dringenden Gefahr verlangt.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
273
räum folgt im übrigen, daß die von der Rechtsprechung vertretene Ausnahme für Betretungs- und Besichtigungsrechte bei Geschäfts- und Betriebsräumen von den Anforderungen des Art. 13 Abs. 3 GG 403 nicht durchgreift 404.
b) Art. 17 GG (Petitionsrecht)
Kirchenasylgewährungen gehen regelmäßig mit Eingaben der Kirchengemeinde an Parlamente, Gemeinderäte oder Behörden einher. Das Recht, sich schriftlich mit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung oder an die zuständige Stelle zu wenden, wird verfassungsrechtlich durch das Petitionsrecht des Art. 17 GG abgesichert. Es beinhaltet ein Leistungsrecht auf Kenntnisnahme, Prüfung und Bescheidung der Petition durch die Stelle, welcher der angemahnte Gegenstand zuzuordnen ist, wobei der Instanzenzug nicht gewahrt sein muß405. Allerdings entfaltet die Ausübung des Petitionsrecht keine über den allgemeinen Rechtsschutz hinausgehende Sperrwirkung, insbesondere keine aufschiebende Wirkung im Hinblick auf die angemahnte staatliche Maßnahme, weil anderenfalls die förmlichen Rechtmittel leer laufen würden406. Anders als Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV/Art. 140 GG gewährt das Petitionsrecht also keine spezifisch verfahrensrechtliche Position, wenn auch die Petition außerhalb eines Gerichtsverfahrens ein gleichwertiges Ergebnis erzielen kann 407 . Der Bescheid muß die Kenntnisnahme vom Inhalt der Petition und die Art ihrer Erledigung erkennen lassen408. Eine darüber hinausgehende Begründungspflicht aus dem Grundrecht selbst wird von der Rechtsprechung verneint 409. Soweit es sich um Beschwerden gegen die Vollziehung von Abschiebungen handelt, sind die Länder zuständig, und es sind entsprechende
403
Vgl. BVerfGE 32, 54 (75 ff.).
404
Vgl. Berkemann in: AK, GG, Art. 13, Rn. 21; vgl. zu Art. 13 GG für den Fall des Kirchenasyls auch Grote/Kraus, Kirchenasyl, JuS 1997, S. 350 f. 405
Pieroth/Schlink,
Staatsrecht Π, Rn. 1068,1071.
406
Vgl. zu Abgrenzung zwischen Art. 17 GG und Art. 19 Abs. 4 GG Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 1069. 407 408
Rauball, in: v. Münch-, GG, Art. 17, Rn. 1. BVerfGE 2,225 (230); BVerwG, BayVBl. 1991, S. 152.
409
Ebd., zust. Grote/Kraus, Kirchenasyl, JuS 1997, S. 351. Im Schrifttum wird dagegen überwiegend ein Anspruch auf Begründung bejaht, vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht Π, Rn. 1075 m.w.N. 18 Grefen
274
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Petitionen an die Länderparlamente bzw. die zuständigen Ausländeibehörden zu richten410.
c) Art 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit)
Die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG schützt das Äußern und Verbreiten einer Meinung in Wort, Bild und Schrift sowie die Selbstinformation aus allgemein zugänglichen Quellen als Grundlage der Meinungsbildung411. Zu den geschützten Verhaltensweisen zählen grundsätzlich keine Tätigkeiten, die über einen geistigen Meinungskampf hinausgehen412. Die Meinungsfreiheit gibt daher den Kirchengemeinden das Recht, gegen ein von ihnen als unbefriedigend bewertetes Asylverfahren Stellung zu beziehen, ein weitergehendes Handlungsrecht gewährleistet Art. 5 Abs. 1 GG nicht. Soweit angenommen wird, daß die Meinungsfreiheit auch begleitende Tätigkeiten schütze, welche die Wirkung der Meinungsäußerung zu verstärken suchten413, läßt sich das Kirchenasyl jedenfalls nicht als Begleiterscheinung einer Meinungsäußerung qualifizieren. Es fällt damit nicht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG.
d) Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht)
Die Gewährung von Kirchenasyl versteht sich nicht als Widerstandshandlung, sondern sucht Verhandlungspartnerschaft mit dem Staat414. Zudem sind auch die Voraussetzungen eines Widerstandsrechts nicht gegeben 415 . Art. 20 Abs. 4 normiert ein Recht auf Widerstand gegen denjenigen, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Das Widerstandsrecht setzt damit eine Diskrepanz von Staat und Recht voraus. Es kann seine Berechtigung nur in einem 410
Grote/Kraus,
411
Vgl. Jarass/Pieroth,
412
BVerfGE 25, 256 (265); 62, 230 (245).
413
So Jarass/Pieroth,
Kirchenasyl, JuS 1997, S. 351.
414
GG, Art. 5, Rn. 4. GG, Art. 5, Rn. 4.
Zum kirchlichen Widerstandsrecht oben S. 199 f. Vgl. auch Grämlich, Asyl in den Kirchen?, in: FS Küchenhoff, S. 208, der ein Rekurrieren auf Art. 20 Abs. 4 GG als nicht zur Diskussion gestellt sieht; anders Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 39, wonach die Kirchen vermuten ließen, daß sie ein nicht gegebenes Widerständsrecht ausübten. 415
Vgl. oben S. 199.
Π. Verfassungsrechtliche Positionen der Kirchengemeinden
275
Staat haben, in dem sich eine Unrechtsordnung etabliert hat oder zu etablieren droht 416 , wie es, selbst wenn man die staatliche Asylbeweiberpolitik als unmenschlich ansieht, in der Bundesrepublik Deutschland nicht der Fall ist. Kritiker haben die Regelung des Art. 20 Abs. 4 GG als verfehlt bezeichnet, weil sie nach ihrem Wortlaut eine Situation rechtlich zu regeln suche, in der jegliche Regelung versagen müsse417. Jedoch zeichnet Art. 20 Abs. 4 GG den Schutzbereich des klassischen überpositiven Widerstandsrechts exakt nach, welches ein Recht zur Beseitigung einer Staatsgewalt im Sinne des Rechts und der Humanität gewährt 418. Daraus folgt, daß ein über Art. 20 Abs. 4 GG hinausgehendes überpositives Widerstandsrecht nicht angenommen werden kann.
e) Grundrecht auf Ungehorsam?
Unter dem Stichwort des "Zivilen Ungehorsams" ist die Bedeutung begrenzter Regelverstöße für Demokratie und Rechtsstaat herausgearbeitet worden419. Die ethisch motivierte Regelverletzung ist nicht staatsfeindliche Revolte, sondern Ausdruck einer Lebens- und Geisteshaltung, die "das Recht und der Rechtsstaat zu ihrer fortwährenden Erneuerung und damit zur Verhinderung ihrer Entartung bedürfen" 420. Allerdings darf der gute Wille nicht den Blick darauf verstellen, daß Akte des zivilen Ungehorsams rechtswidrig bleiben421 und auch in diesem Bewußtsein geschehen422. Ein Grundrecht auf Ungehorsam kann dem Grundgesetz nicht entnommen werden. Dissente Verhaltensformen sind ausschließlich im Rahmen der thematisch einschlägigen Grundrechte geschützt, wozu vor allem die Gewissensfreiheit zählt. Diese gewährt Rechtsbrechern schuldmindernde
416
Wenzel, Widerstand und Recht, Gewissen und Unrecht, DRiZ 1995, S. 10.
417
Siehe nur Ridder in: AK, GG, Art. 20 Abs. 4, Rn. 10 ff.; Pieroth/Schlink, recht Π, Rn. 1100; B. Huber, Kirchenasyl, ZAR 1988, S. 158.
Staats-
418
Siehe dazu bereits oben S. 196 sowie jüngst Wenzel, Widerstand und Recht, Gewissen und Unrecht, DRiZ 1995, S. 10. 419 Dazu die Aufsatzsammlung "Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat", hrsg. v. Peter Glotz sowie oben S. 198 f. 420
Arth. Kaufmann, Vom "unzeitigen" Widerstand, in: Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit (1991), S. 17, zit. nach Wenzel, Widerstand und Recht, Gewissen und Unrecht, S. 10. 421
Grämlich, Asyl in den Kirchen?, in: FS Küchenhoff, S. 208.
422
Vgl. bereits oben S. 200 f.
276
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
Berücksichtigung einer psychischen Zwangslage, entbindet jedoch nicht von der prinzipiellen Pflicht zum Gesetzesgehorsam423.
J) Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit)
Art. 2 Abs. 1 GG schützt nicht nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit 424 , sondern die allgemeine Handlungsfreiheit schlechthin425. Aus dem Grundsatz der Subsidiarität folgt, daß Art. 2 Ab. 1 GG als Auffanggrundrecht hinter die speziellen Gewährleistungen der hier einschlägigen Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV/140 GG, Art. 4 nebst Art. 13 GG zurücktritt und nicht zur Anwendung gelangt.
III. Rückschlüsse für das einfache Recht 1. Das Prinzip verfassungskonformer Auslegung Abschließend sollen die Auswirkungen des durch Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV geschützten Interzessionsasyls auf ausgewählte Bestimmungen des einfachen Rechts untersucht werden. Das einfache Recht muß mit dem Verfassungsrecht in Einklang stehen. Es hat die verfassungsrechtlich garantierten Positionen der Rechtsunterworfenen zu beachten. Soweit es sein Wortlaut erlaubt, ist es verfassungskonform auszulegen, anderenfalls als verfassungswidrig zu kennzeichnen426. Von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen und teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, ist diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht427.
423 Vgl. StGH BW, NJW 1988, 3199 (3200); Jacobs, Kirchliche Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 39; Klein, Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat?, in: Freiheit und Verantwortung für den Verfassungsstaat, S. 188. A.A. Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 115 u. 135, der einen Rechtfertigungsgrund annimmt. 424
So die sog. Persönlichkeitskerntheorie; vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 428 sowie BVerfGE 80,164 (169, abw. M). 425
BVerfGE 6, 32 (36 ff.); 80,137 (152 ff.)
426
BVerfGE 2,266 (282); näher Stern, Staatsrecht ΠΙ/2, S. 1147 f. (m.w.N.).
427
BVerfGE 32, 373 (383 f.); 64,229 (242); 69, 1 (55); 74,297 (299); 83,201 (215).
ΠΙ. Rückschlüsse für das einfache Recht
211
2. Ausgewählte Bestimmungen des einfachen Rechts In Betracht kommen neben den ordnungsrechtlichen Vorschriften des Asylund Ausländerrechts auch strafrechtliche Bestimmungen.
a) § 71 AsylVfG i. V.m. § 51 VwVfG
(Asylfolgeverfahren)
Im Rahmen des abgeschlossenen Asylverfahrens ist ein zwischenzeitlich erfolgtes und andauerndes Interzessionsasyl bei der Entscheidung über einen Folgeantrag gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG zu berücksichtigen428. Danach findet ein weiteres Asylverfahren nur statt, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1-3 VwVfG vorliegen. Diese Norm gibt dem Betroffenen einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen, gerichtet auf Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes429. Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG entscheidet die Behörde auf Antrag über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen, welche eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Als Änderung der Sachlage werden alle tatsächlichen Vorgänge angesehen, welche eine Änderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts zur Folge haben430. Weil sich die Aufnahme eines Asylbewerbers ins Kirchenasyl grundsätzlich nicht auf die Frage auswirkt, ob der Betroffene tatsächlich politisch verfolgt ist, kann darin eine Änderung der Sachlage nicht gesehen werden. Eine Änderung der Rechtslage ist eine entscheidungserhebliche Veränderung der rechtlichen Voraussetzungen, die dem Verwaltungsakt bei Erlaß zugrunde lagen431. Das Interzessionsasyl einer Kirchengemeinde ist aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts innerhalb des Asylverfahrens zu berücksichtigen. Ihr steht daher ein verfassungsrechtliches Anhörungs- bzw. Gegenvorstellungsrecht auch dann zu, wenn dies im Asylverfahrensgesetz nicht ausdrücklich vorgesehen ist. 432 Die Aufnahme eines Asylbewerbers ins Kirchenasyl bewirkt, daß sich durch die konstitutive, das Kirchenasyl begründende Asylentscheidung der Kirchengemeinde dieses Anhörungsrecht aktualisiert. Zwar 428
Dazu oben S. 261 f.
429
Sachs in: Stelkens/Bonk, VwVfG, § 51, Rn. 64.
430
Ebd., Rn. 71.
431
Ebd., Rn. 72.
432
Vgl. oben S. 263.
278
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
begründet auch dies keinen neuen rechtlichen Asylgrund. Jedoch ist das kirchliche Vorbringen in die Entscheidung über das Vorliegen von Asylgründen mit einzubeziehen. Es liegt mithin eine Änderung des Verfahrensrechts kraft Aktualisierens eines kirchlichen Anhörungs- bzw. Gegenvorstellungsrechts vor. Zwar berührt eine verfahrensrechtliche Änderung grundsätzlich abgeschlossene Verfahren nicht mehr 433. Etwas anderes muß aber dann gelten, wenn die verfahrensrechtliche Änderung gerade ein erweitertes Verfahren ermöglichen soll 434 . Somit ist die Gewährung von Interzessionsasyl als Wiederaufgreifensgrundi.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG anzusehen. Neue Beweismittel, welche durch die Kirchengemeinde im Einzelfall beigebracht werden, stellen zudem Wiederaufgreifensgründe gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG dar, sofern sie beweiserhebliche Tatsachen bekunden. Dabei ist allerdings hinsichtlich der häufig beigebrachten Sachverständigengutachten von amnesty international und anderen Flüchtlingsorganisationen zu beachten, daß die Rechtsprechung dazu tendiert, neuerliche Sachverständigengutachten nicht als Beweismittel i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG anzusehen, wofür spricht, daß diese lediglich Tatsachen erneut bewerten435. Weil der Grund des Wiederaufgreifens im Falle des Interzessionsasyls im vorherigen Verfahren wegen mangelnder Aktualisierung keine Berücksichtigung finden konnte, liegt der Ausschlußgrund des § 51 Abs. 2 VwVfG regelmäßig nicht vor. Ein Asylfolgeantrag ist gemäß §§ 71 Abs. 1 S. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG binnen dreier Monate nach Kenntnis des Wiederaufgreifensgrundes zu stellen, und es ist dem zuständigen Β AFI gemäß § 71 Abs. 3 S. 1 AsylVfG die Anschrift des Asylbewerbers im Kirchenasyl anzugeben, wobei es ausreichen muß, daß die Adresse der Kirchengemeinde mitgeteilt wird.
b) § 55 AuslG (Duldung)
Ein Asylfolgeverfahren führt weder zu einer Aussetzung der Ausreisepflicht noch hat es aufschiebende Wirkung. In dieser Situation ermöglicht eine verfassungskonforme Auslegung der Duldungsgründe des § 55 AuslG eine Berücksichtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts436. Die Norm gestat-
433
Sachs in: Stelkens/Bonk, VwVfG, § 51, Rn. 74.
434
Ähnlich (ebd., Rn. 74) für den Fall, daß die Änderung des Verfahrensrechts ein erneutes Verfahren ermöglichen will. 435
VGH München, DVB1 1978,114; vgl. a. BVerwGE 11, 124 (127) sowie zum ganzen näher Sachs in: Stelkens/Bonk, VwVfG, § 51, Rn. 86. 436 Zum Folgenden Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 65 f.
ΠΙ. Rückschlüsse für das einfache Recht
tet die zeitweise Aussetzung einer Abschiebung durch Erteilung einer Duldung. Sie ist das klassische Instrument zur vorübergehenden Legalisierung eines faktischen Aufenthaltes eines Ausländers im Bundesgebiet zur Berücksichtigung einzelfallbezogener Besonderheiten437. Eine Duldung bewirkt, daß die weiterhin bestehende Ausreisepflicht (§ 56 Abs. 1 AuslG) zeitweilig nicht vollzogen werden darf. Ungeachtet ihrer im Gegensatz zur alten Duldungsregelung des § 17 AuslG a.F. 438 restriktiveren Fassung hat die Norm ihre Bedeutung beibehalten439. Im Falle des Kirchenasyls kommen die Duldungstatbestände der § 55 Abs. 2 und 4 AuslG in Betracht, weil es sich regelmäßig um vollziehbar ausreisepflichtige Asylbewerber handelt. Ist die Abschiebung nur vorläufig vollziehbar, ist gemäß § 55 Abs. 2 AuslG eine Duldung im Falle rechtlicher oder tatsächlicher Unmöglichkeit auszusprechen. Rechtliche Unmöglichkeit ist in den Fällen der § 51 Abs. 1 AuslG (sog. kleines Asyl bei politische Verfolgung außerhalb von Art. 16 a Abs. 1 GG) und § 53 Abs. 1-3 AuslG (Gefahr der Folter, Todesstrafe, Auslieferungsersuchen) gegeben440. Liegt eine rechtskräftige Abschiebungsentscheidung vor, so stellt § 55 Abs. 4 AuslG die Erteilung einer Duldung in das Ermessen der Behörde. Aus dem Erfordernis verfassungskonformer Auslegung folgt, daß die genannten Regelungen nicht als abschließend gewertet werden dürfen und sich auch verfassungsunmittelbare Duldungsgründe ergeben können441. Solche können nicht allein aus Rechten des Asylbeweibers selbst erwachsen. Vielmehr ist jede involvierte verfassungsrechtliche Position bei der Auslegung einfachen Rechts zu berücksichtigen442. Obgleich das Asylrecht auf ein bipolares Verhältnis zugeschnitten ist, sind im Falle des Interzessionsasyls auch verfassungsrechtliche Belange der Kirchengemeinde als Drittbetroffene be-
437
Schiedermair/Wollenschläger, HdbAuslR, Teil 3 D 1, Rn. 48; Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 65. 438 Vgl. zu den Problemen der Altregelung als Aufenthaltsrecht "zweiter Klasse" Renner, 40 Jahre Asylgrundrecht, NJW 1989, S. 1251; Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AuslG, Rn. 16; Schiedermair/Wollenschläger, HdbAuslR, Teil 3 D 1, Rn. 50 f. 439 Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. mair/Wollenschläger, HdbAuslR, Teil 3 D 1, Rn. 52. 440
Renner/Kmein, AuslG, Rn. 9.
11/6321,
Ausländerrecht, § 55, Rn. 6; Hailbronner,
s. Schieder-
Ausländerrecht, § 55
441 Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AuslG, Rn. 13; Renner/Kaneìn, recht, § 55 AuslG, Rn. 6. 442
Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 65.
Ausländer-
280
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
rührt, welche bei der Anwendung des Ausländerrechts nicht ignoriert werden dürfen 443. Als Anknüpfungspunkt bietet sich der in § 55 Abs. 2 und 4 AuslG enthaltene Begriff der rechtlichen Unmöglichkeit. Dieser ist extensiv auf die Konstellation auszudehnen, in welcher die Abwägung des staatlichen Interesses zum schnellen Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrechts des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV/Art. 140 GG ein Überwiegen des letzteren ergibt 444. Dabei hat die nach § 55 Abs. 4 AuslG zu treffende Ermessenentscheidung die Nähe des Interzessionsasyls zum Kernbereich des kirchlichen Auftrags zu berücksichtigen. Dies dürfte in der Regel für die Erteilung einer Duldung sprechen445. Die Gewährung von Interzessionsasyl stellt somit einen temporären Grund rechtlicher Unmöglichkeit i. S. d. § 55 Abs. 2 und 4 AuslG dar. Mit dessen Anwendung kann die Zeit bis zur Einbeziehung neuer Erkenntnisse über Verfolgungsgefahren in das Asylfolgeverfahren oder bis zur Entscheidung über ein Abschiebestopp für Gruppen nach § 54 AuslG legalisieren werden 446.
c) § 57 AuslG (Abschiebehaft)
Gegensätzliche Rechtsprechung liegt zu der Frage vor, ob ein Ausländer, dem offenes Kirchenasyl gewährt wird, nach § 57 Abs. 2 AuslG in Abschiebehaft genommen werden kann 447 . Das AG Wolfratshausen entschied, daß die Ausländerbehörde bei der Gewährung von Kirchenasyl die beabsichtigte Abschiebung nicht mehr hätte durchführen können, bzw. diese erheblich erschwert gewesen wäre, so daß der Haftgrund des § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 AuslG vorliege 448. Demgegenüber vertrat das OLG Köln die Auffassung, daß im Falle eines öffentlich bekannten Kirchenasyls keine Haftgründe nach § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 4 und 5 AuslG 443
Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 65; für eine Berücksichtigung der glaubens-/gewissensbezogenen Drittbetroffenheit bei Asylentscheidungen auch Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls, S. 151; B. Huber, Sanctuary, ZAR 1988, S. 156 f.; Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 39; Kaltenborn, Kirchenasyl, DVB1 1993, S. 28; Kraus, Kirchenasyl, in: Kirchenasyl, S. 68; Winkler, Toleranz, in: Frieden und Recht, S. 81. 444
Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 66.
445
Beispielhaft oben S. 61 f.
446
Ebenso Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 66.
447
Dazu ausführlich Müller, Die Anordnug von Abschiebehaft bei Kirchenasyl, ZAR 1996, S. 170 ff. 448
AG Wolfratshausen, Beschluß vom 30.10.1995 - Β XIV 17/95, NJW 1996, S. 942.
ΠΙ. Rückschlüsse für das einfache Recht
gegeben seien449. So könne die "Flucht in die Öffentlichkeit" keinen Haftgrund nach den Nr. 4 und 5 darstellen, weil sich der Ausländer damit nicht der Abschiebung entziehen wolle 450 . Zum einen verdunkle er nicht seinen Aufenthaltsort, zum anderen sei den Behörden ein Zutritt in die kirchlichen Räume aus Rechtsgründen nicht verwehrt 451. Beide Begründungen vermögen nicht zu überzeugen. Folgt man der Annahme des Λ G Wolfratshausen, wonach Kirchenasyl eine Abschiebung möglicherweise auch rechtlich erschwert, leuchtet nicht ein, warum die Behörde entgegen eines möglicherweise bestehenden Rechts Haft anordnen dürfen soll. Zugleich hat die Untersuchung gezeigt, daß Kirchenasyl einen Rechtsgrund darstellt, der eine Abschiebung zumindest zeitweise verhindern kann, womit auch die Argumentation des OLG Köln unschlüssig wird. Der Haftgrund des § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AuslG erfordert, daß ein Ausländer keine Adresse angegeben hat, unter welcher er erreichbar ist. Diese Voraussetzung muß nicht irgendwann einmal, sondern zum Zeitpunkt der Festnahme vorliegen 452. Weil der Behörde beim offenen Kirchenasyl die ladungsfähige Anschrift des Asylbeweibers bekannt gegeben wird, liegt der Haftgrund des § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AuslG regelmäßig nicht vor 453 . Dabei muß es für die Erreichbarkeit genügen, wenn der Behörde die Adresse der Kirchengemeinde zur Kenntnis gebracht wird, ohne daß der genaue Unterbringungsort mitgeteilt werden muß, so daß die Weiterleitung eventueller behördlicher Mitteilungen sichergestellt ist. Darüber hinaus führt der verfassungsrechtliche Schutz des Interzessionsasyls, welcher auch einen Abwehranspruch gegen vorzeitige behördliche Beendigung beinhaltet454, dazu, daß daß kein rechtswidriges Sich-Entziehen i.S.d. § 57 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AuslG vorliegt. Daraus folgt zugleich, daß beim halboffenen Kirchenasyl, welches vom kirchlichen Interzessionsrecht gedeckt ist 455 , der Haftgrund des § 57 Abs. 2 Nr. 2 AuslG nicht gegeben ist. Zwar ist der Flüchtling mangels Kundgabe seiner Identität nicht als Person "erreichbar" i.S.d. § 57 Abs. 2 Nr. 2 AuslG. Aus dem Wortlaut des § 57 Abs. 2 Nr. 4
449
OLG Köln, Beschluß vom 09.12.1992 - 16 Wx 192/92 in: KirchE 30, 410 ff. = NVwZ 1993, S. 707 f. = JMB1.NW 1993, S. 107 = DVB1 1993, S. 330 (nur LS). 450
OLG Köln, NVwZ 1993, S. 708 = KirchE 30,410 (412).
451
Ebd.
452
OLG Köln, NVwZ 1993, S. 708 = KirchE 30, 410 (411).
453
So OLG Köln, ebd.
454
Oben S. 263.
455
Oben S. 161 ff. (ev. Kirche) und S. 194 f. (kath. Kirche).
282
E. Verfassungsrechtliche Einordnung des Kirchenasyls
AuslG ("sich in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat") ergibt sich jedoch, daß auch § 57 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ein rechtswidriges Sich-Entziehen durch Nichtangabe der Anschrift erfordert. Mangels eines rechtswidrigen Sich-Entziehens spielt es für die Haftentscheidung im übrigen keine Rolle, ob das Kirchenasyl zu einer Zeit gewährt wird, in welcher der Asylbewerber gemäß § 47 Abs. 1 AsylVfG noch verpflichtet ist, in einer Aufhahmeeinrichtung zu wohnen, oder ob er gegen die räumliche Beschränkung seines Bewegungskreises gemäß § 56 AsylVfG verstößt456 Begibt sich ein Ausländer in das öffentlichen Kirchenasyl, nachdem er sich zuvor durch verstecktes Kirchenasyl der Abschiebung i.S.d. § 57 Abs. 2 Nr. 4 AuslG entzogen hat, ist fraglich, ob sein Vorverhalten den Haftgrund des § 57 Abs. 2 Nr. 5 AuslG begründen kann. Das hat das BayObLG angenommen, da es auf der Hand liege, daß der Betroffene der Ausländerbehörde den Wechsel des Aufenthalts erst nach dem vorgesehnen Abschiebetermin bekannt gegeben habe, um die organisatorischen Vorbereitungen der Abschiebung zu unterlaufen 457 . Sein Vorverhalten indiziere den Verdacht, sich auch zukünftig einer Abschiebung entziehen zu wollen 458. Allerdings berücksichtigt das Gericht in seiner Anknüpfung an das Vorverhalten nicht den verfassungsrechtlichen Schutz des Interzessionsasyls. Er beinhaltet ein Abwehrrecht, welches einer Inhaftierung für die Zeit der kirchlichen Asylgewährung entgegensteht459. Dieses Recht würde leerlaufen, wenn jeder Verdacht, der sich auf einen zurückliegenden Vorfall gründet, eine Verhaftung rechtfertigte. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, nach Beendigung des Kirchenasyls an eine Indizwirkung des Vorverhaltens anzuknüpfen. Schließlich hindert der verfassungsrechtliche Schutz des Interzessionsasyls auch die Anordnung einer Vorbereitungshaft nach § 57 Abs. 1 AuslG. Sie ist anzuordnen, wenn über die Ausweisung nicht sofort entschieden werden kann und die Abschiebung ohne die Inhaftnahme wesentlich erschwert oder vereitelt würde. Die kirchliche Interzession bewirkt, daß über die Ausweisung nicht ohne Berücksichtigung des kirchlichen Vorbringens entschieden werden kann und erschwert dadurch die Abschiebung. Jedoch geschieht dies nicht rechtswidrig, so daß der Haftgrund des § 57 Abs. 1 AuslG nicht eingreift.
456
I. E. ebenso Müller, Die Anordnung von Abschiebehaft bei Kirchenasyl, ZAR 1996, S. 172 f. 457 So das BayObLG, NJW 1997, S. 1714, nachdem die Vorinstanzen dies mit der Argumentation des OLG Köln (oben S. 281) verneint hatten. 458
Ebd.
459
Vgl. oben S. 263.
ΠΙ. Rückschlüsse für das einfache Recht d) § 92 AuslG, §§ 84 - 86AuslVJG, §§ 257f. StGB (strafrechtliche Verantwortlichlichkeit)
In strafrechtlicher Hinsicht kommen nach dem ersten Anschein eine Reihe von Tatbeständen in Betracht, die durch die Gewährung von Kirchenasyl täterschaftlich oder im Wege der Teilnahme erfüllt sein könnten460. Zu nennen sind neben § 92 AuslG und den Strafbestimmungen der §§ 84 - 86 AsylVfG die §§ 257, 258 StGB. Nach der Nonnstruktur läßt sich feststellen, daß die nebenstrafrechtlichen Bestimmungen in der Regel durch Beihilfe nach § 27 StGB und die hauptstrafrechtlichen Bestimmungen auch täterschaftlich begangen werden können. Allerdings stellt sich die Gewährung von offenem Kirchenasyl als Ausübung des verfassungskräftig garantierten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen dar. Der Bedeutung des Interzessionsasyls für die Kirchengemeinde vor dem Hintergrund ihres Selbstbestimmungsrechts wird es gerecht, dieses Verfassungsrecht in strafrechtlicher Hinsicht als einen Rechtfertigungsgrund anzusehen, der eine Bestrafung nach den genannten Bestimmungen ausschließt. Wird hingegen verstecktes Kirchenasyl gewährt oder ignoriert die Kirchengemeinde eine erneute, allerdings erneut abschlägige Behördenentscheidung durch Fortsetzung des Kirchenasyl zur Unzeit, so steht einer Bestrafung grundsätzlich nichts im Wege. Dabei sind gewissensbedingte Zwangslagen wegen Art. 4 Abs. 1 GG schuldmindernd in der Strafzumessung zu berücksichtigen461.
460
Dazu näher Robbers, Strafrecht und Verfassung beim Kirchenasyl, in: Asyl am Heiligen Ort, S. 117 ff. sowie, aus innerstrafrechtlicher Sicht, A. u. H. Radke, "Kirchenasyl" und die strafrechtliche Verantwortlichkeit, ZevKR 1997, S. 23 ff. 461
So, für alle Fälle des Kirchenasyls, ohne Berücksichtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, A. u. H. Radke, "Kirchenasyl" und die strafrechtliche Verantwortlichkeit, ZevKR 1997, S. 52 ff.
F. Zusammenfassung I. Zur Geschichte des kirchlichen Asylrechts 1. Das historische Asylrecht der Kirche adaptierte die heidnische Vorstellung einer göttlichen Sphäre, deren Ehrwürdigkeit sie dem weltlichen Zugriff entzog (reverentia loci). Es gründete sich auf die Pflicht der Kirche und ihrer Bischöfe, für Bedrängte und Verfolgte vor der weltlichen Gewalt oder vor privaten Verfolgern einzutreten (intercessio). Im Vordergrund stand dabei der aus der Karitas folgende Gedanke des Schutzes notleidender Menschen. 2. Kirchenrechtlich wirkte das Kirchenasyl als ein die kirchlichen Beamten bindendes vorläufiges Auslieferungsverbot. Es verpflichtete vor allem die Bischöfe, interzedierend tätig zu werden, um dem Asylflüchtling Erleichterung seiner Lage, etwa Milderung der ihm drohenden Strafe zu verschaffen. Ursprünglich erscheint es so als ein Verfahren zur Durchsetzung christlicher Gerechtigkeitsvorstellungen im weltlichen Bereich. 3. Soweit das kirchliche Asylrecht zeitweise durch weltliches Recht garantiert war, bewirkte diese Garantie ein staatliches Vollstreckungshindernis. Der staatlichen Gewalt war es während des Asyls untersagt, Kirchenflüchtlinge zur Bestrafung zu ziehen oder sie durch Zwang zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten anzuhalten. Ein Recht auf Straflosigkeit oder Befreiung von seinen Verbindlichkeiten erlangte der Flüchtling nicht. 4. Der Niedergang des kirchlichen Asylrechts begann im 14. Jahrhundert und setzte sich bis in die späte Neuzeit fort. Der souveräne Staat forderte Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsmacht, ohne auf kirchliche Belange Rücksicht nehmen zu müssen. Er war immer weniger geneigt, das Asylrecht als eigenständiges Rechtsinstitut der Kirche anzuerkennen. Seit dem 18. Jahrhundert wurde es in fast allen europäischen Staaten durch weltliches Recht für nichtgültig erklärt. 5. Die römische Kirche reagierte darauf, indem sie ihren Asylanspruch zunächst forcierte und dabei zur Machtfirage geraten ließ. Im Vordergrund stand nicht mehr die Interzession, sondern die territoriale Integrität des kirchlichen Raums. Erst im Jahre 1983 verzichtete sie auf eine formliche Neuregelung des Asylrechts im kanonischen Gesetzbuch. Gleichwohl blieb der ursprüngliche Asylgedanke aktuell. Im Jahre 1983 kam es in der Bundesrepublik zu ersten sog. "Kirchenasylen" für ausländische Flüchtlinge.
F. Zusammenfassung
285
II. Zur Praxis des modernen Kirchenasyls 1. Die asylgewährenden Kirchengemeinden beider Konfessionen in der Bundesrepublik Deutschland üben einzelfallbezogene Hilfeleistung, ohne das staatliche Asylgewährungsmonopol grundsätzlich in Frage zu stellen. Darin zeigt sich das sog. "moderne Kirchenasyl" konstant zum ursprünglichen Asylrecht der alten Kirche. Es dient als Instrument zur Durchsetzung christlicher Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich des weltlichen Asyl- und Ausländerrechts, wo, aus Sicht der Kirchen, humane Mindestanforderungen derzeit nicht gewahrt sind. 2. Typisches Erscheinungsmerkmal des modernen Kirchenasyls ist die befristete Gewährung von Unterkunft im räumlich-gegenständlichen Bereich einer Kirchengemeinde unter Mitwirkung eines kirchengemeindlichen Leitungsorgans. Kirchenasyl richtet sich an ausländische Flüchtlinge, die im staatlichen Asylverfahren erfolglos waren und bei denen sämtliche eine Abschiebung hindernde ordentlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Durch die Aufnahme sollen aufenthaltsbeendende Maßnahmen verhindert und ein Zeitaufschub bewirkt werden, wenn, aus Sicht der Kirchengemeinden, schwerwiegende humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprechen. Damit soll erreicht werden, daß diese Gründe einer erneuten Prüfimg durch die staatlichen Behörden unterzogen werden. 3. Kirchenasyl erscheint in mehreren Formen. Das akute Kirchenasyl richtet sich an Asylbeweiber, denen eine Abschiebung unmittelbar droht. Es bildet in der Praxis die Regel. Präventives Kirchenasyl wird Asylbewerbern gewährt, die zwar ausreispflichtig sind, bei denen die Behörden aber nicht auf einen sofortigen Vollzug drängen oder daran gehindert sind. Lautes Kirchenasyl setzt auf politisch-moralischen Druck in der Öffentlichkeit durch Medienberichterstattung. Stilles Kirchenasyl verzichtet darauf, um die Verhandlungen mit den staatlichen Behörden nicht zu belasten. Beim offenen Kirchenasyl wird den Behörden Identität und Aufenthaltsort des Flüchtlings bekannt gegeben, während beim halboffenen Kirchenasyl nur die Asylgewährung als solche mitgeteilt wird. Beim versteckten Kirchenasyl besteht die Besonderheit, daß keine Kontaktaufhahme mit staatlichen Stellen geschieht. 4. Vom Begriff des Kirchenasyls abzugrenzen sind die Kirchenbesetzung und das Privatasyl. Für sie zeichnet nicht die Kirchengemeinde verantwortlich. Ferner ist die sog. schlichte Unterbringung von Asylbewerbern in kirchlichen Häusern auf Ersuchen der staatlichen Behörden vom Kirchenasyl zu unterscheiden.
286
F. Zusammenfassung
III. Zur kirchenrechtlichen Einordnung des Kirchenasyls 1. Das in Deutschland geltende Recht der katholischen Kirche enthält keine Grundlage für ein kirchliches Asylrecht als Ausfluß der Immunität heiliger Orte (Heiligtumsasyl). Mit dem Verzicht auf eine ausdrückliche Asylregelung im CIC von 1983 hat die Kirche ihren Anspruch auf territoriale Rechtshoheit im kirchlichen Bereich aufgegeben. Sie zählt es heute nicht mehr zu ihren Vollmachten und Aufgaben i.S.d. can. 1213 CIC einen auf Zuflüchtige bezogenen Justizvorrang an heiligen Orten durchzusetzen. Ein extensives Verständnis dieser Norm als ein das kirchliche Asylrecht umfassender Auffangtatbestand scheidet aus. Ein Sach- und Sinnzusammenhang zwischen der modernen kirchlichen Asylgewähr und der in den cann. 1205 ff. CIC festgeschriebenen Heiligtumsqualität bestimmter Orte besteht nicht. 2. Dem Recht der evangelischen Kirche ist ein Heiligtumsasyl aus theologischen Gründen fremd. Es scheitert am evangelischen Kirchenverständnis, das eine Existenz heiliger Orte ausschließt. Nach protestantischer Auffassung erfüllt sich Kirche vollkommen in Wortverkündigung, Taufe und Abendmahl, so daß dem Kirchenraum keine besondere, von diesen Elementen abgelöste Dignität zukommt. 3. Im evangelischen Kirchenrecht gilt das Prinzip der Interzession als ein Recht der Kirchengemeinde. Es folgt aus Diakonie und Seelsorge, die den Gemeinden als Aufgaben übertragen sind. Das Interzessionsrecht umfaßt als ultima ratio die Aufnahme von erfolglosen Asylbewerbern in kirchlichen Räumen zur Verhinderung einer drohenden Abschiebung mit dem Ziel, ein durch den Staat einzuräumendes Bleiberecht zu erwirken. Dies erfordert die Mitwirkung des Kirchenvorstands. Kirchenasyl ist daher seinem Wesen nach Interzessionsasyl, als die durch kirchlichen Rechtsakt begründete Interzession einer Kirchengemeinde. 4. Beschränkungen des Interzessionsasyls ergeben sich im evangelischen Kirchenrecht aus dem Sinn und Zweck der Interzession. Danach sind solche Erscheinungsformen nicht vom kirchlichen Interzessionsrecht gedeckt, welche den Staat als Verhandlungspartner ausschließen, wie es beim versteckten Kirchenasyl der Fall ist. Darüber hinaus schließt der kirchenrechtliche Grundsatz der ultima ratio Kirchenasylaktionen aus, die zur Unzeit erfolgen und/oder keine Aussicht auf Erfolg haben, weil plausible Gründe, welche eine Gefahr für Leib und Leben des Flüchtlings fundieren, nicht substantiiert vorgetragen werden können. 5. Das kanonische Recht enthält in den cann. 222 § 2, 383 § 4, 529 § 1, 747 § 2 CIC Bestimmungen, die den Beistand für Bedrängte gegenüber Staat und Gesellschaft als Pflicht der Christgläubigen, ihrer verantwortlichen Hirten sowie der Kirche selbst statuieren. Aus can. 747 § 2 CIC folgt das Recht der Kirche zur Interzession. Danach obliegt es ihr, auch im demokratischen Rechts-
F. Zusammenfassung
287
Staat, Würde und Personalität des Menschen durch karitative und politische Wirksamkeit zu schützen. Wo die Kirche Leib und Leben einer Person ernsthaft bedroht sieht, ist die Gewährung von Interzessionsasyl als zulässige Konkretion des Interzessionsrechts anzusehen. 6. Die Ausübung des Interzessionsrechts obliegt nach katholischem Kirchenrecht der Pfarrgemeinde als rechtlicher Grundform der Kirche, handelnd durch ihre mit Leitungsgewalt ausgestatteten Seelsorger. Daneben sind regelmäßig die Mitwirkung des Pfarrgemeinderats sowie in Einzelfällen des Vermögensverwaltungsrats erforderlich. Einschränkungen des Interzessionsasyls ergeben sich, analog zum evangelischen Kirchenrecht, aus dem Sinn und Zweck der Interzession sowie aus dem Grundsatz der ultima ratio. 7. Weder nach dem Recht der evangelischen, noch nach dem Recht der katholischen Kirche kann sich Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland auf ein Widerstandsrecht stützen. Ein solches nehmen die Kirchen nur gegen einen Unrechtsstaat wahr. Auch ein Rechtsinstitut des "Zivilen Ungehorsams" ist dem kirchlichen Recht fremd.
IV. Zur verfassungsrechtlichen Einordnung des Kirchenasyls 1. Die Kirchengemeinden begehren mit ihrem Interzessionsasyl eine Anhörung und Berücksichtigung ihres Vorbringens durch die staatlichen Behörden im Rahmen einer erneuten Sachentscheidung. Es geht ihnen nicht in erster Linie um Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern um Teilhabe am staatlichen Asylverfahren durch Ausübung eines möglichen Gegenvorstellungsrechts in Fällen, in denen, nach kirchlicher Auffassung, schwerwiegende humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprechen. 2. Ein Gegenvorstellungsrecht als Ausfluß einer grundrechtlichen Schutzpflicht der Kirchen besteht nicht. Sie unterliegen keiner Pflicht zur Wahrnehmung eines subsidiären Grundrechtsschutzes im Asylverfahren. Im Sachbereich des Asylrechts sind die Kirchen nicht an die Grundrechte gebunden, weil ihnen hier keine Befugnis zur Ausübung staatlicher Gewalt zusteht. 3. Ein Gegenvorstellungsrecht der Kirchengemeinden im Asylverfahren ergibt sich aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV. a) Mit der Einräumung von Interzessionsasyl handeln die Kirchengemeinden im Gewährleistungsbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV. Für die Bestimmung des Kreises der eigenen Angelegenheiten im Sinne dieser Norm ist eine subjektive Betrachtungsweise geboten, die maßgeblich auf das kirchliche Selbstverständnis abstellt. Interzessionsasyl ist als eigene Angelegenheit der Kirche anzusehen, weil die Kirchen hier in Verfolgung kirchlichen Rechts ordnend tätig werden. Demge-
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F. Zusammenfassung
genüber ist das Verstecken von Asylbewerbern nicht dem Gewährleistungsbereich des Selbstbestimmungsrechts zuzuordnen, weil es nicht vom kirchlichen Interzessionsrecht gedeckt ist. b) Dem kirchlichen Interzessionsbegehren auf Verfahrensteilhabe kann grundsätzlich mit Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV entsprochen werden. Im Gewährleistungsbereich der Norm sind Abwehr und Teilhabe als zwei Aspekte der gleichen Freiheit anzusehen. Aus der Auslegungsrelevanz des Subjektiven folgt, daß die Funktion des Selbstbestimmungsrechts in Abhängigkeit von der kirchlichen Teilrechtsordnung, auf welche ein staatliches Handeln trifft, variiert: Je nachdem, ob die kirchliche Rechtsnorm ein staatliches Unterlassen oder ein positives Tun des Staates voraussetzt oder fordert, bestimmt dies die Schutzrichtung des Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV. c) Die Entscheidung darüber, ob das staatliche Asyl- und Ausländerrecht als "für alle geltendes Gesetz" i.S.d. Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV das kirchliche Begehren beschränkt und eine Gegenvorstellung der Kirchengemeinden im Asylverfahren ausschließt, erfordert eine Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Schrankenzweck. Dabei ist die Verbindung der Interzession mit der Karitas als Grundfunktion der Kirche besonders zu berücksichtigen, die zusätzlich dem Schutz der Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG unterfällt, die nach herrschender Auffassung vorbehaltlos gewährleistet ist. d) Die Abwägung gelangt zu dem Ergebnis, daß die Anerkennung der kirchlichen Aufgaben und ihrer Selbständigkeit zu einer Pflicht des Staates führt, kirchliche Einwendungen nicht zu übergehen, wo fundiert auf Mängel und Fehler im staatlichen Asylverfahren aufmerksam gemacht wird. Der Staat darf die Asylentscheidung einer Kirchengemeinde nicht durch Abschiebung ohne erneute Sachentscheidung unterlaufen. Daraus folgt zugleich ein zeitlich begrenzter Abwehranspruch gegen vorzeitige gewaltsame Zugriffe durch die Behörden auf den Asylbeweiber im Kirchenasyl. 4. Ein Anspruch der Kirchengemeinde auf eine bestimmte Behördenentscheidung ergibt sich weder aus Art. 140 GG/137 Abs. 3 S. 1 WRV, noch aus Art. 4 Abs. 2 GG. Ein solcher Anspruch würde Art. 16 a GG leerlaufen lassen und wäre mit dem Prinzip praktischer Konkordanz nicht zu vereinbaren. 5. Wie ein Jedermann kann sich die Kirchengemeinde gegen staatliche Eingriffe im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG auf sonstige Grundrechte berufen. In Betracht kommen vor allem die Art. 13 und 17 GG. Nicht einschlägig sind dagegen die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, welche nicht kollektiv ausgeübt werden kann, und Art. 5 Abs. 1, welcher nur die geistige Auseinandersetzung schützt. Die Voraussetzungen des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG sind nicht gegeben. Auch kennt die Verfassung kein Grundrecht auf "Zivilen Ungehorsam".
F. Zusammenfassung
289
6. Das Prinzip verfassungskonformer Auslegung fuhrt dazu, daß ein Interzessionsasyl bei der Entscheidung über einen Asylfolgeantrag nach § 71 Abs. 1 AsylVfG zu berücksichtigen ist. Das nach Abschluß des Asylverfahrens eingeräumte Interzessionsasyl ist als Änderung der Rechtslage und damit als Wiederaufgreifensgrund i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. VwVfG anzusehen. Zugleich stellt es einen temporären Grund rechtlicher Unmöglichkeit i. S. d. § 55 Abs. 2 und 4 AuslG dar, wodurch die Voraussetzungen der Erteilung einer Duldung gegeben sind. Die Anordnung einer Abschiebehaft während der Dauer des Interzessionsasyl nach § 57 AuslG ist unzulässig, weil kein Haftgrund vorliegt. Schließlich wirkt der verfassungsrechtliche Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gegenüber möglichen Straftatbeständen, die Mitglieder der Kirchengemeinde durch Interzessionsasyl erfüllt haben könnten, als Rechtfertigungsgrund.
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averzeichnis Abschiebehaft
122,191,280
Asylrecht —Altisrael 25 — Griechenland 26 — kirchliches, s. Kirchenasyl — religiöses Schutzprinzip 24 — Römisches Reich 28 — Spätantike 28 — staatliches 106,277 Asylverfahren
110,120,277
Ausländerrecht 277
Grundrecht auf Asyl —Altregelung 106 —Neuregelung 110 — Position der Kirchen 115 Grundrechtsbindung der Kirchen 205 Handlungsanleitungen zum Kirchenasyl 70,152,163,175 Handlungsfreiheit, allgemeine 276 Heilige Orte 131 Heiligtumsasyl, ev. Kirchenrecht 141
Beistandspflicht 22,31 — ev. Kirchenrecht 144 — kath. Kirchenrecht 179 Caritas, s. Karitas
Heiligtumsasyl, kath Kirchenrecht 128 — Fortgeltungsthese 128 — Gewohnheitsrecht 137 — Partikularrecht 141 — Rechtslage gem. CIC/1983 128 — Staatskirchen Verträge 13 9
Clearingverfahren "Kirchenasyl" 94 Codex Iustinianus 38
Immunität 47,130
Codex Theodosianus 34
Immunitätsprivilegien 47
Decretum Gratani 44
Interzession 31, s. Beistandspflicht — ev. Kirche 145 — kath. Kirche 179
Diakonie, s. Karitas Flüchtlingspolitik 106 — Kritik der Kirchen 114 Gewissensfreiheit 266 —Aktionsrecht 267 — Rechtfertigungsgrund 269 — Schutzgut 267 — Wohlwollensgebot 268 Gewohnheitsrecht, kirchliches 137 Glaubensfreiheit 264 — Eingriffe 265 — Schutzbereich 264
Interzessionsasyl, ev. Kirchenrecht 144 —Adressaten der Beistandspflicht 154 — Beistandspflicht 145 — Beschränkungen 163 — Bruch staatlichen Rechts 149 — Diakonie und Seelsorge 145 — Freundschaftklauseln 164 — Kirchenvorstandsbeschlüsse 158 — kirchliche Verlautbarungen 147 — Öffentlichkeitsauftrag 169 — Pfarrerdienstrecht 167 — politisches Wirken 168 — Überparteilichkeitsgebot 166 —ultima ratio 163 — Unterbringung von Flüchtlingen 183
Sachverzeichnis Interzessionsasyl, kath. Kirchenrecht 178 —Aufgabe der Pfarrgemeinde 186 — Beistandspflichten im CIC 181 — Erzwingbarkeit 187 — Genehmigungserfordemisse 193 — katholische Soziallehre 179 — kirchliche Verlautbarungen 183 — Organkompetenz 188 — Pfarrgemeinderat 189 — Verbandskompetenz 188 — Vermögens Verwaltungsorgan 191 Karitas und Diakonie 114,145,159, 175, 180,253, 262 Kirchen — Grundrechsbindung — hoheitliche Gewalt — Körperschaftsstatus — öffentliche Gewalt
205 207 206 207
Kirchenasyl —Abgrenzung 83 — akutes und präventives 74 — Begriff 69 —behördliche Reaktionen 88 — empirische Untersuchungen 90 — für Bürger des eigenen Staates 53 — für Bürger fremder Staaten 54 — lautes und stilles 75 — Mittelalter 43 — modernes 52 —Neuzeit 46 — offenes und verstecktes 79,282 — Praxisbeispiele 56 — typische Erscheinungsmerkmale 67 — ultimaratio 71,151, 163,178,194 — und ev. Kirchenrecht 144,141 — und kath. Kirchenrecht 128,178 — Wanderkirchenasyl 77,163,202 Kirchenasylbewegung 97 — Entstehung 97 — Kirchenasylvereine 100 — Organisationsstruktur 100
317
Letztentscheidungskompetenz 239 Meinungsfreiheit 274 Partikularrecht 141 Petitionsrecht 273 Privatasyl 83,267 Reformation 47 Reverentia loci 33, 128 Schutz der Wohnung 271 Seelsorge 145,157,182 Selbstbestimmungsrecht der Kirche 210 — Bereichsscheidungslehre 245 — "eigene Angelegenheiten" 213 — Eingriffe 237 — Eingriffsrechtfertigung 239 — "für alle geltendes Gesetz" 240 — Gewährleistungsbereich 212,226 — Grenzen des Schutzbereichs 234 — Güterabwägung 249 — "Ordnen und Verwalten" 213 — Schranken des Schutzbereichs 239 — Verfahrensteilhabe 231 — verfassungsimmanente Grenzen 234 — Verhältnismäßigkeit 254 —Wechselwirkungslehre 243 —Zuordnungslehre 246 Souveränitätsdoktrin 46 Teilhaberechte 230
Kirchenbesetzung 53, 78, 85, 204
Widerstandsrecht — kirchliches Recht 195 — staatliches Recht 274
Konzil — von Orange 30 — von Sardica 29
Ziviler Ungehorsam 199,275