Kirche im Aufbruch: Das sozialpolitische Engagement der katholischen Presse Berlins im Wilhelminischen Deutschland [Reprint 2020 ed.] 9783110889789, 9783110140446


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German Pages 386 [380] Year 1994

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Kirche im Aufbruch: Das sozialpolitische Engagement der katholischen Presse Berlins im Wilhelminischen Deutschland [Reprint 2020 ed.]
 9783110889789, 9783110140446

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BEITRÄGE ZUR KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE

Herausgegeben von Bernd Sösemann

BAND 1

W G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1994

JÜRGEN MICHAEL SCHULZ

KIRCHE IM AUFBRUCH Das sozialpolitische Engagement der katholischen Presse Berlins im Wilhelminischen Deutschland

W G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1994

Die Deutsche Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Schulz, Jürgen Michael: K i r c h e im A u f b r u c h : das sozialpolitische E n g a g e m e n t der katholischen Presse Berlins im W i l h e l m i n i s c h e n D e u t s c h l a n d / J ü r g e n Michael Schulz. — Berlin ; N e w York : de G r u y t e r , 1994 (Beiträge zur K o m m u n i k a t i o n s g e s c h i c h t e ; Bd. 1) Z u g l . : Berlin, Freie Univ., Diss., 1990/91 I S B N 3-11-014044-6 NE: G T

©

C o p y r i g h t 1994 by Walter de G r u y t e r & Co., D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e V e r w e r t u n g a u ß e r h a l b der e n g e n Grenzen des U r h e b e r r e c h t s g e s e t z e s ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das g i l t insbesondere f ü r V e r v i e l f ä l t i g u n g e n , Ü b e r s e t z u n g e n , ¡ M i k r o v e r f i l m u n g e n und die E i n s p e i c h e r u n g u n d V e r a r b e i t u n g in elektronischen S y s t e m e n . Printed in G e r m a n y D r u c k : G e r i k e G m b H , Berlin B u c h b i n d e r i s c h e V e r a r b e i t u n g : L ü d e r i t z & B a u e r - G m b H , Berlin

VORWORT

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1990/91 als Dissertation vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen. Sie verdankt ihr Entstehen den Überlegungen, die im Vorfeld und im Verlauf einer Tagung angestellt wurden, die das Evangelische Bildungswerk und die Katholische Akademie Berlin gemeinsam mit der Historischen Kommission zu Berlin im Oktober 1987 veranstaltet hatten. Die historische Dimension des Problemfeldes religiöser und kirchlicher Seelsorge und Diakonie wurden am Beispiel der Metropole Berlin unter verschiedenen Aspekten behandelt, um Impulse für weitergehende Forschungen zu geben. Herrn Professor Dr. Kaspar Elm und Herrn Professor Dr. Hans-Dietrich Loock als den Initiatoren dieser Diskussion ist daher an dieser Stelle zu danken. Zu besonderem Dank weiß ich mich Herrn Professor Dr. Bernd Sösemann verpflichtet, der als Doktorvater die Entstehung der Arbeit mit großer Anteilnahme und Geduld verfolgte, dessen Beispiel als Wissenschaftler wie als Mensch darüber hinaus in hohem Maß zu der Entwicklung meiner Persönlichkeit beigetragen hat. Zugleich danke ich Herrn Sösemann wie auch dem Verlag Walter de Gruyter für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Beiträge zur Kommunikationsgeschichte". Ich bedanke mich auch bei allen weiteren Personen und Institutionen, die meine Arbeit unterstützt und gefördert haben: Hierzu gehört zunächst das Institut für Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung, weil es mit einem Stipendium die äußeren Voraussetzungen für die Abfassung der Arbeit schuf und darüber hinaus den Rahmen für einen fruchtbaren fächerübergreifenden Meinungsaustausch bot. Die Drucklegung des Buches wurde durch die Unterstützung der „Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post" und die „Stiftervereinigung der Presse" ermöglicht.

VI

Vorwort

Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken, die über ihre berufliche Pflichten hinaus Anteil an meinen Untersuchungen nahmen, und den Angehörigen verschiedener Einrichtungen der katholischen Kirche, die mich in vielfältiger Weise unterstützten. Meiner Familie bin ich in hohem Maß zu Dank verpflichtet für für die ausdauernde Geduld, mit der sie die Entstehung der Arbeit über Jahre begleitete, aber auch — last but not least — für die tatkräftige Unterstützung bei den Korrekturarbeiten am Manuskript.

Berlin, im November 1993

Jürgen Michael Schulz

INHALT

VORWORT

V

V E R Z E I C H N I S DER V E R W E N D E T E N A B K Ü R Z U N G E N

XI

EINLEITUNG

I. Katholische Kirche und Gesellschaft beim Ubergang in den Wilhelminischen Staat II. Fragestellung, Forschungsstand und Methode

ERSTES

1 16

KAPITEL

Katholische Zeitungen und Zeitschriften in Berlin I. Die Periodika des

Germania-Verlags

1. Germania und Germania-Verlag

29

2. Das Märkische Kirchenblatt 3. Das Schwane Blatt 4. Die Katholische Volkszeitung

41 47 51

II. Die Märkische Volkszeitung

58

III. Der Arbeiter — Vereinsblatt mit großer Auflage

69

Vili

Inhalt ZWEITES

KAPITEL

Dispositionen für eine Neuorientierung 1889/90 I. Entscheidung gegen das Sozialistengesetz. Das V o t u m für die geistige Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie

77

II. Konfrontation mit der sozialen Frage: Erfahrungen im Bergarbeiterstreik 1889

85

DRITTES

KAPITEL

Die Religion als Faktor katholischer Sozialismuskritik I. Ursachenanalyse in der katholischen Presse 1. Kirchennot und Priestermangel

101

2. Der Liberalismus als Förderer der Sozialdemokratie a) Das Vorbild der bürgerlichen Revolution

107

b) Die „moderne Wissenschaft"

111

II. Versus „Religion ist Privatsache". D e r Umgang mit der Sozialdemokratie als Feindin der Religion 1. Die Auseinandersetzung nach den kaiserlichen Erlassen

117

2. Rerum novarum als päpstliche Kundgebung gegen die Sozialdemokratie

124

3. Die Sozialdemokratie nach dem Erfurter Programm

128

4. Anarchismus und Sozialdemokratie

137

5. Sozialdemokratischer Reformismus und Gewerkschaftsbewegung

144

VIERTES

KAPITEL

Das soziale Sendungsbewußtsein der katholischen Kirche I. Das Engagement der Kirchenführung für die soziale Frage 1. Die Rezeption der Enzyklika Rerum novarum in der Berliner katholischen Presse

161

Inhalt

IX

2. Die Bewertung der sozialen Frage durch den Episkopat a) Georg Kopps Bewertung der sozialen Frage

167

b) Der preußische Episkopat

170

c) Der Umgang mit den bischöflichen Kundgebungen in der katholischen Presse

172

II. Agitation für eine christliche Gesellschaft 1. „Hie Christentum, hie Atheismus"

178

2. „Kampf für Religion, Sitte und Ordnung"

181

3. Für eine geistige Auferstehung. Osterartikel für eine christliche Gesellschaft

185

III. Elemente des kirchlichen Lösungsangebots 1. Caritas als Beitrag zur Lösung der sozialen Frage a) Das Vorbild des christlichen Mittelalters

188

b) Das Beispiel des Vinzenzvereins

195

2. Heiligung des Sonntags

206

FÜNFTES

KAPITEL

Aktivitäten für eine christlich-soziale Politik I. Auseinandersetzung mit der Sozialpolitik des Zentrums 1. Das Zentrum als soziale Reformpartei. Agitation mit dem Antrag Galen

219

2. Das Zentrum als Volkspartei. Die Opposition der Märkischen Volkszeitung

225

II. Kooperation mit den „guten Protestanten" 1. Konservative Partnerschaft? Das soziale Kaisertum a) Annäherung an die Sozialpolitik des Kaisers

234

b) Die Sozialerlasse Kaiser Wilhelms II. im Februar 1890

239

2. Kooperation Zentrum-Konservative a) Rahmenbedingungen für eine christlich-soziale Kooperation zwischen Zentrum und Konservativen

252

b) Annäherung der Konfessionen im Schulstreit. Bestrebungen von Germania und Märkischem Kirchenblatt im Frühjahr 1892

261

c) Spaltung des christlich-konservativen Lagers in der Diskussion der Umsturzvorlage

271

X

Inhalt SECHSTES

KAPITEL

Wege zur praktischen Lösung der sozialen Frage. Die christliche Arbeiterbewegung I. Arbeitervereine als kirchliches Lösungsangebot 1. Die Initiative Georg Kopps

287

2. Arbeitergeistliche für Berlin

292

II. D i e christliche Arbeiterbewegung zwischen Kirche und Selbsthilfe 1. Rerum novarum als Programm der Arbeitervereine

299

2. Die Ergänzung. Christliche Gewerkschaften als Vorbild und leistungsstarke Alternative

302

3. Von der Alternative zur Rivalität. Die Reaktion gegen die interkonfessionelle Zusammenarbeit a) Der Einspruch von Franz von Savigny: Die Spaltung nach dem Frankfurter Kongreß

305

b) Georg Kopps Versuch einer autoritativen Einflußnahme: Das Fuldaer Pastorale vom 22. August 1900

318

SCHLUSSBETRACHTUNG D e r A u f b r u c h des sozialen Katholizismus im Wilhelminischen Kaiserreich

331

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

353

ARBEITSTECHNISCHE ERLÄUTERUNGEN

368

PERSONENREGISTER

369

SACHREGISTER

372

ABKÜRZUNGEN

Ausg. Beil CPC d.i. HZ I, II, III Jb. KVZ MK MVZ N.F. NL o. J. o. O. PAAA

= = = = = = = = = = = = = = =

SB Sp. sten.

= = =

Ausgabe Beilage Centrums-Parlaments-Correspondenz das ist Historische Zeitschrift 1., 2. und 3. Blatt (=Ausgabe) Jahrbuch Katholische Volkszeitung Märkisches Kirchenblatt Märkische Volkszeitung Neue Folge Nachlaß ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn Das Schwarze Blatt Spalte stenographisch

FÜR BETTINA UND FLORIAN

EINLEITUNG I Katholische Kirche und Gesellschaft beim Übergang in den Wilhelminischen Staat

„Und selbst wenn der Kulturkampf vollständig aus der Welt wäre, welch große Aufgaben harrten dann noch der Lösung durch die katholische Kirche und mithin auch durch die katholische Presse. Die Beseitigung des kirchlichen Notstandes in der Diaspora und namentlich in Berlin und die Lösung der sozialen Frage werden die katholische Presse noch viele, viele Jahre ernstlich beschäftigen. Gerade, was den letzten Punkt betrifft, haben wir Katholiken als wahre Freunde des Vaterlandes die Pflicht und Aufgabe, das irregeleitete Volk nicht allein zum Altar, sondern auch zum Thron zurückzuführen." 1 Die Redaktion der Märkischen Volkszeitung, einer katholischen Lokalzeitung aus Berlin, wünschte mit diesen Worten die Leser für eine verstärkte Unterstützung und Mitarbeit zu motivieren. Die Gründe, die sie dafür formulierte, sollten die Existenz der katholischen Tageszeitung rechtfertigen. Die Äußerungen umrissen zugleich eine Aufgabe für katholische Publizistik in Berlin im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Eine katholische Presse hatte es in Berlin seit der Gründung der Monatsschrift Petrus im Jahr 1845 kontinuierlich gegeben.2 Wegen der Diasporasituation im Berliner Delegaturbezirk waren Mission 1

„An die verehrten Leserinnen und Leser der Märkischen Volks-Zeitung", in: Märkische Volkszeitung (MVZ), Nr. 192, So., 22. September 1889, 1. Der Artikel wurde unterschrieben mit „Verlag und Redaktion der Märkischen Volkszeitung". 2 Im Anmerkungsteil werden bestimmte, häufig benutzte Zeitungs- und Zeitschriftentitel mit folgenden Siglen zitiert: KVZ (Katholische Volkszeitung), MK (.Märkisches Kirchenblatt), MVZ (Märkische Volkszeitung), SB (Das Schwarze Blatt). Weitere Hinweise zu Zitierweise und Abkürzungen befinden sich in dem Abschnitt Arbeitstechnische Erläuterungen.

2

Einleitung

und Seelsorge die bestimmenden Faktoren für die katholisch-kirchliche Publizistik. Der Konflikt zwischen Katholizismus und Teilen der Gesellschaft, der bereits während der Neuen Ära in Preußen begann und in der Zeit des Kulturkampfs kulminierte, verschaffte der katholischen Presse in Berlin wie fast überall in Deutschland ein neues Selbstverständnis und sicherte ihr einen starken Rückhalt in der katholischen Bevölkerung.3 Mit dem Abflauen der Konfliktsituation in den achtziger Jahren — darauf hatte sich auch die Märkische Volkszeitung in der zitierten Passage bezogen — mußte die katholische Presse ihren Standort neu bestimmen. Die Hinwendung zur sozialen Frage, die von der Märkischen Volkszeitung gewissermaßen als Teil einer publizistischen Mobilisierung angekündigt worden war, stellte eine bedeutsame Akzentsetzung innerhalb des Spektrums katholischer Interessen im 19. Jahrhundert dar. Dieser Schritt fand seinen Ausdruck zunächst durch die Einbeziehung einer christlichen Interpretation der sozialen Folgen der Industrialisierung in die Themenkreise, die von der religiösen und institutionellen Erneuerungsbewegung der katholischen Kirche seit längerer Zeit beobachtet und diskutiert wurden. Diese Bewegung besaß ihre Ursprünge in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie zog ihre Kraft vor allem aus ihrer Reaktion auf einige tragende Ideen der Aufklärung und auf politische Geschehnisse wie die Französische Revolution und die Säkularisation und festigte sich in jenem seit dem Kölner Ereignis von 1837 latenten Konflikt zwischen Katholizismus und staatlicher Macht. Die Verbindung von sozialen und kirchlichen Interessen führte bereits im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zunächst bei den Traditionalisten in Frankreich und später auch in Deutschland und im übrigen Europa zu der Formierung einer katholisch-sozialen Bewegung.4 Die

3

Vgl. hierzu u.a. die Untersuchung von Michael Schmolke, Die schlechte Presse.

Katholiken und Publizistik zwischen „Katholik" und „Publik" 1821—1968, Münster 1971, 1 7 9 - 1 8 6 . 4

Vgl. Franz Josef Stegmann, Das Ringen um die Lösung der sozialen Frage. D e r

gesellschaftspolitische Weg im deutschen Katholizismus bis zum Ersten Weltkrieg, in: Soziale Frage und Kirche im Saarrevier. Beiträge zu Sozialpolitik und Katholizismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Saarbrücken 1984, 11—18; Karl-Egon Lonne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert (Neue Historische Bibliothek. Edition Suhrkamp N . F . 264), Frankfurt/M. 1986, 58f. Ein typisches Beispiel für die frühe praktische Verbindung der kirchlichen Erneuerungsbewegung mit

Katholische Kirche und Gesellschaft.

3

Rechtfertigung für diese Koppelung bestand in einer katholischen Gesellschaftsanalyse, nach der die Ausbreitung von Armut und Not durch das Wirtschafts- und Sozialsystem des Liberalismus letztlich als eine Folge der Zerstörung der Einheit von Königtum, Kirche und ständischer Gesellschaft betrachtet wurde. 5 Die Entscheidung für ein kleindeutsches Kaiserreich mit preußischer und protestantischer Dominanz und die ersten Erfahrungen mit den sozialen Auswirkungen im Gefolge der wirtschaftlichen Depression, die 1873 durch eine Finanzkrise eingeleitet wurde, setzten innerhalb des politischen Katholizismus in Deutschland in den siebziger Jahren einen Umdenkprozeß in Gang. 6 Dessen erstes sichtbares Ergebnis bestand in einem Reichstagsantrag der Zentrumsfraktion im Frühjahr 1877, der Anregungen des katholischen Sozialpolitikers und Mainzer Bischofs von Ketteier aufgriff und — allerdings noch pauschal formuliert — die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Betrieben auf der Grundlage der gegebenen Ordnung unter Mitwirkung des Staats anstrebte. Dennoch blieben beide Lösungskonzepte, ständische Sozialreform und staatliche bzw. betriebliche Sozialpolitik, bis in die neunziger Jahre als konkurrierende Modelle bestehen. 7

der katholisch-sozialen Bewegung waren die in Frankreich 1845 entstandenen Vinzenz-Konferenzen und die seit 1848 in Deutschland gegründeten Pius-Vereine, vgl. Nikolaus Monzel, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Trude Herweg und Karl Heinz Grenner, München und Wien 1980, 236; Ute Schmidt, Katholische Arbeiterbewegung zwischen Integralismus und Interkonfessionalismus: Wandlungen eines Milieus, in: Rolf Ebbinghausen/Friedrich Tiemann (Hgg.), Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsband zum sechzigsten Geburtstag von Theo Pirker (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 43), Opladen 1984, 220. 5 Dieses Konzept vertraten z. B. die im Jahr 1838 gegründeten Historisch-Politischen Blätter, vgl. passim Franz Josef Stegmann, Von der ständischen Sozialreform zur staatlichen Sozialpolitik. Der Beitrag der Historisch-Politischen Blätter zur Lösung der sozialen Frage, München und Wien 1965. 6 Nach Karl Erich Born dauerte die Depression bis zum Jahr 1879: Wirtschaftsund Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71—1914) (Wissenschaftliche Paperbacks Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 21), Stuttgart 1985, 116. 7 Vgl. Franz Josef Stegmann, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: Wilfried Gottschalch u.a., Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, hg. von Helga Grebing (Deutsches Handbuch der Politik 3), München und Wien

4

Einleitung

Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, auf dem der zeitliche Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt, stellte in der Geschichte des gesellschaftspolitischen Katholizismus und besonders der katholischsozialen Bewegung einen aus der übrigen Entwicklung herausragenden Zeitabschnitt dar. Nachdem die theoretische Auseinandersetzung über den richtigen sozialpolitischen Weg in den Jahren zuvor noch überwogen hatte, begann nun — und zwar auf mehreren Ebenen — eine praktische Phase. Grundlegende Veränderungen in drei Bereichen prägten diese Phase: erstens der gesellschaftliche Wandel, den der Ubergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft in den achtziger und neunziger Jahren hervorrief, zweitens verschiedenartige innenpolitische Implikationen, die entweder direkt oder indirekt aus der Veränderung der politischen Machtverhältnisse seit dem Februar 1890 entstanden waren und besonders dem Zentrum als der parlamentarischen Vertretung katholischer Interessen die Chance größerer politischer Einflußnahme verliehen, und drittens der Aufstieg der Sozialdemokratie, der ein Ergebnis des gesellschaftlichen Wandels war und zugleich als dessen politischer Gradmesser dienen konnte. Der Ubergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft8 — der erste Bereich — überlagerte die Bedingungen, unter denen die Pastoration durch die katholische Kirche stattfinden mußte, mit einer Anzahl neuer Problemfelder, mit denen die Angehörigen des Klerus teilweise nur wenig vertraut waren; auf Seiten des gesellschaftspolitischen Katholizismus führten darüber hinaus überregionale Ereignisse sowohl zu einem grundlegenden Bewußtseinswandel als auch zu einer veränderten Interessenlage gegenüber den Arbeits- und Lebensbedingun-

1969, 385—395. Der letzte großangelegte Versuch, den politischen Katholizismus für das Programm einer Sozialreform auf der Grundlage einer korporativen Neuordnung der Gesellschaft zu gewinnen, bestand in dem programmatischen Entwurf des Kölner Geistlichen Johann Peter Oberdörffer aus dem Jahr 1894, vgl. Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 75), Düsseldorf 1984, 56—58. !

Im Jahr 1889 übertrafen Industrie und Handwerk erstmals die Landwirtschaft in

ihrem Anteil an der Wertschöpfung, vgl. die Statistik in: Gerd Hohorst u.a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs

1871—1918

(Beck'sche Elementarbücher, Statistische Arbeitsbücher zur neueren deutschen Geschichte), München 2 1978, 88.

Katholische Kirche und Gesellschaft

5

gen derjenigen Bevölkerungsschichten, die von den Defekten im sozialen Gefüge besonders betroffen waren. Zu den Merkmalen, die sich auf die Sozialstruktur der katholischen Bevölkerungsteile auswirkten, gehörten die erhöhte Mobilität, eine modifizierte Berufsstruktur und die typischen Begleiterscheinungen, die vorwiegend eine Folge des Wechsels von einer ländlichen Beschäftigung in industrielle Arbeitsbereiche waren, nämlich der soziale Abstieg verbunden mit unterschiedlichen Sozialisationsproblemen. Der Bevölkerungsüberschuß in den ländlichen Gebieten Mittel- und Ostdeutschlands, für den eine Beschäftigung in der Landwirtschaft und in den lokalen Wirtschaftszentren immer schwieriger wurde, drängte in die größeren Industriestädte, vor allem nach Berlin. 9 Weil der Zugewinn des Berliner Großraums sich in erster Linie aus vorwiegend protestantischen Gebieten wie der Mark Brandenburg rekrutierte, stieg der Anteil der Katholiken an der Berliner Gesamtbevölkerung zwar selten über 10 Prozent; dennoch vergrößerte sich allein im Stadtkreis der absolute katholische Bevölkerungsanteil von ca. 80000 im Jahr 1880 auf annähernd 135000 am Beginn der neunziger Jahre — das entsprach der Population einer mittleren katholischen Großstadt. 10 War die Pastoration der verstreut lebenden Katholiken für die 34 zur Verfügung stehenden Seelsorger — sogar nur die Hälfte arbeitete hauptamtlich — ohnehin schon äußerst schwierig, so wurde sie durch den hohen Anteil, den Arbeiter und Dienstboten an der katholischen Bevölkerung in Berlin besaßen, noch erheblich erschwert. 11 Während vom Klerus Einfühlungsver' Wichtiger als der Bevölkerungsanstieg in der bereits relativ dicht besiedelten Großstadt Berlin muß das enorme Wachstum in den umliegenden Städten, Dörfern und Gutsbezirken bewertet werden: In den umliegenden Städten war die Bevölkerungszahl seit 1871 um das 3,6fache angestiegen und hatte sich im Jahrzehnt v o n 1890 bis 1900 noch einmal verdoppelt, s. Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871—1918), in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2: V o n der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, 693—695. 10 Zahlenangaben bei Walter Wendland, Die Entwicklung der katholischen Kirche in Groß-Berlin bis 1932 (unter Berücksichtigung der Gesamtentwicklung im Bistum Berlin), in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 30 (1935), 47. Zum relativ geringen Zuzugsanteil schlesischer Einwanderer (12—13%) s. Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich, 696. 11 Zahlenmäßig am stärksten waren die Gemeinden in den Arbeiterbezirken im Norden und Osten der Stadt. Zum Arbeiter- und Dienstbotenanteil sowie zur regionalen Herkunft der Katholiken s. E[rnst] Hirschberg, Die soziale Lage der arbeiten-

6

Einleitung

mögen und F a c h k o m p e t e n z angesichts der Sozialisationsprobleme eines Teils ihrer Gemeindemitglieder verlangt w u r d e n , b e w i r k t e n der unter den A r b e i t e r n besonders häufig auftretende berufliche Stellenwechsel und die damit verbundene Mobilität, daß sich eine Bindung der eingewanderten K a t h o l i k e n an die zuständige Kirchengemeinde k a u m herstellen ließ. 1 2 A m Bewußtseinswandel, der sich nicht n u r innerhalb des gesellschaftspolitischen Katholizismus, sondern bei vielen Parteien und gesellschaftlichen G r u p p e n vollzog, hatte der Streik im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau im F r ü h j a h r 1889, an dem sich allein im Ruhrgebiet annähernd 9 0 0 0 0 v o n 1 0 4 0 0 0 Beschäftigten beteiligten, einen erheblichen Anteil. 1 3 Mit einem Mal standen nämlich die Arbeits- und Lebensverhältnisse v o n A r b e i t e r n , die sich in einem W i r t s c h a f t s z w e i g betätigten, dessen Aufstieg besonders eng mit dem Zeitalter der Hochindustrialisierung v e r b u n d e n w a r , im M i t t e l p u n k t des ö f f e n t l i c h e n Interesses. 14 Die auf spektakuläre Weise v o l l z o g e n e

den Klassen in Berlin, Berlin 1897, 18f., sowie die Angaben in mehreren Artikeln, die in der Germania zur Berliner Kirchennot erschienen waren, Nr. 186, II, Fr., 16. August 1889, 1; Nr. 187, II, Sa., 17. August 1889, 1; Nr. 212,1, So., 15. September 1889, 1; Nr. 197, II, So., 30. August 1891, 1. 12 Nach einer Studie, die Ernst Hirschberg (Die soziale Lage der arbeitenden Klassen in Berlin, 223f.) zur Verfügung stand, kamen im Jahr 1894 auf 100 Beschäftigte im Baugewerbe 446 Stellenwechsel; in der weniger von Saisonarbeit abhängigen Metallindustrie waren 1895 durchschnittlich nur 13,2% der Gesellen und 24,2% der Lehrlinge länger als 300 Tage im Jahr beschäftigt, bei angelernten Berufen lag hier der Anteil sogar unter 10% (ebd., 252). 15 Gemeinsam mit den Steinkohlenrevieren in Aachen, Schlesien, an der Saar und im Königreich Sachsen beteiligten sich sogar 150000 Bergleute, vgl. Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München ! 1987, 10; Klaus Saul, Zwischen Repression und Integration. Staat, Gewerkschaften und Arbeitskampf im kaiserlichen Deutschland 1884—1914, in: Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hgg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung (Arbeitsbücher: Sozialgeschichte und soziale Bewegung), München 1981, 214f. H Die jährliche Steinkohlen-Fördermenge im Oberbergamtsbezirk Dortmund war in den vorangegangenen zehn Jahren des Aufschwungs von 20 Mio Tonnen auf auf über 33 Mio t gesteigert worden, die jährliche Produktivität des einzelnen Belegschaftsmitglieds erreichte 1888 sogar ihren absoluten Höchststand in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; Zahlen bei Franz-Josef Brüggemeier, Leben vor Ort. Ruhr-

Katholische Kirche und Gesellschaft

7

Offenlegung von sozialen Mißständen bewirkte nicht nur eine verstärkte Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in den Parteien und gesellschaftspolitischen Organisationen, sie gab auch den Ausschlag für eine weitreichende staatliche Sozialpolitik, dessen äußeren Rahmen im Februar 1890 die Sozialerlasse Kaiser Wilhelms II. festlegten. Die eingeleitete Arbeiterschutzgesetzgebung berührte jedoch auch das Selbstverständnis der katholischen Kirche als höchste moralische Institution mit der Fähigkeit, in sozialen Konflikten zu vermitteln, denn die Sozialgesetzgebung war entgegen diesem Verständnis von der Meinung getragen, daß das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wirksam nur vom Staat reguliert werden könne. Der zweite Bereich umfasste die innenpolitischen Implikationen, die entweder direkt oder indirekt aus der Veränderung der politischen Machtverhältnisse seit dem Februar 1890 entstanden waren oder sich zeitgleich ergaben. Folgenschwer waren die vorgezogenen Reichstagswahlen vom 20. Februar. Dem Bruch des Kartells aus Nationalliberalen, Freikonservativen und Konservativen — vordergründig eine Folge der gescheiterten Verlängerung des Sozialistengesetzes — und der anschließenden Niederlage dieser Parteien bei den Wahlen stand der umfangreiche Stimmengewinn der beiden Linksparteien gegenüber. 15 Gemeinsam mit dem katholischen Zentrum verfügten damit diejenigen Parteien rechnerisch über eine parlamentarische Mehrheit, die unter der Regierung des Reichskanzlers O t t o von Bismarck von einer gleichberechtigten Mitwirkung an der Politik bei Bedarf ausgegrenzt worden waren. 16 Erschien ein konstruktives Zusammenwirken dieses heterogenen Machtgefüges insbesondere wegen der isolierten Position der Sozialdemokratie in der nachfolgenden

bergleute und Ruhrbergbau 1889—1919 (Bergbau und Bergarbeit), München 1983, 272. 15 Die Deutsch-Freisinnige Partei verdoppelte die Zahl ihrer Sitze im Reichstag, sie erreichte mit 66 Sitzen das für eine linksliberale Partei der Kaiserzeit beste Ergebnis und übertraf damit sogar die Nationalliberalen (42 Sitze); die Sozialdemokraten verdreifachten ihren Sitzanteil und kamen auf 35 Mandate; Zahlen bei Gerhard A. Ritter, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch, 40. " Sie verfügten insgesamt über 207 Mandate, denn obwohl das Zentrum im Vergleich zu den Wahlen von 1884 174000 Wähler verloren hatte, konnte es — das war eine Folge des Mehrheitswahlsystems — die Zahl der Sitze von 98 auf 106 erhöhen (s. ebd.). Außerdem wären noch die Stimmen der nationalen Minderheiten zu berücksichtigen.

Einleitung

8

Zeit auch als ausgeschlossen, so brachten die neuen Mehrheitsverhältnisse wenigstens das Zentrum in die Stellung einer Partei, ohne deren Mitwirkung in der näheren Zukunft nicht mehr regiert werden konnte. 1 7 Die eigentliche machtpolitische Zäsur bestand für die Katholiken jedoch zunächst in der Entmachtung Bismarcks als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Psychologisch war sie bedeutsam, weil der politische Katholizismus auch drei Jahre nach dem Friedenschluß zwischen preußisch-deutschem Staat und katholischer Kirche in Bismarck noch immer den eigentlichen Protagonisten des Kulturkampfs erblickte. 18 Politisch beendete der personelle Wechsel die Phase der autokratischen Kanzlerherrschaft und hinterließ für unterschiedliche Interessengruppen einen erweiterten politischen Spielraum. 19 Auf der einen Seite erhielt das Parlament die Chance, im Rahmen der systembedingten Grenzen mehr Einfluß auf politische Entscheidungen zu gewinnen. 20 Zu den Faktoren, die die Bedeutung des Parlaments entscheidend erhöhten und die Regierung zu ZugeständnisZur Einschätzung dieser neuen Lage durch den Reichskanzler Leo von Caprivi vgl. John C.G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1890—1900, Tübingen 1969, 78. Erst die Blockbildung nach den Reichstagswahlen von 1907 führte zu einer erneuten, allerdings nur kurzfristigen parlamentarischen Isolierung des Zentrums. Die besondere Machtposition des Zentrums wurde in nicht geringem Maß auch durch die pointiert linksliberale Position der Deutsch-Freisinnigen Partei unter Eugen Richter begünstigt, vgl. Otto Hammann, Der neue Kurs, Berlin 1918, 50. 18 Vgl. Rudolf Morsey, Die Deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch 90 (1970), 38—40. " Der Begriff Spielraum soll kennzeichnen, daß es nach dem Sturz Bismarcks nicht zu einem vollkommenen Bruch im Herrschaftsgefüge gekommen ist, wie der in diesem Zusammenhang von Hans-Ulrich Wehler verwendete Begriff „Machtvakuum" suggeriert; vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918 (Deutsche Geschichte 9), 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl., Göttingen 1975, 69; zur Kritik an Wehler vgl. Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 31988, 118f. 20 Vgl. hierzu die Untersuchungen von Thomas Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: Politische Vierteljahresschrift 2 (1961), 262—280, und Hans-Jürgen Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890—1914, in: Michael Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870—1918, unveränderter Nachdruck der Erstausgabe (1970), Düsseldorf 1984. 17

Katholische Kirche und Gesellschaft

9

sen an die Parteien zwangen, gehörten erstens wirtschaftliche und soziale Notwendigkeiten, denen gegenüber sich Bismarck noch verschlossen gezeigt hatte, die aber nun eine Reihe gesetzgeberischer Aktivitäten erforderlich machten, 21 und zweitens die sich verschärfende Interessendivergenz zwischen den traditionell staatserhaltenden Kräften und der Regierung — hierzu trug auch die verstärkte Einwirkung außerparlamentarischer Interessenvertretungen auf die Parteien bei — mit der Folge, daß die Nachfolger Bismarcks in den neunziger Jahren über keine zuverlässige gouvernementale Vertretung in den Parlamenten verfügten. 22 Auf der anderen Seite bemühte sich Kaiser Wilhelm II. darum, Bismarcks Machtfülle auf die eigene Person zu übertragen; er konnte sein „persönliches Regiment" aber erst allmählich etablieren: Diese Form der Übernahme von Teilen der Regierungsgewalt durch den Monarchen bestand zunächst nur aus punktuellen Einsprüchen und Eingriffen in die Politik und erreichte erst durch die bereitwillige Unterstützung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow denjenigen Grad eines funktionstüchtigen „Königsmechanismus", der für ein persönliches Regiment „im guten Sinne" erforderlich war. 23 Somit erhielt die Herrschaftsform des Wilhelminischen Kaisertums nur unter der Voraussetzung der Kooperationswilligkeit der Regierung die Züge einer eigenständigen verfassungsgeschichtlichen Epoche.24 Der machtpolitische Dualismus zwischen Parlament und Monarchie, der sich nach Bismarcks Rücktritt in den neunziger Jahren heranbildete, wirkte sich auch auf den politischen Katholizismus in Deutschland aus, indem er hier zeitweise ein Äquivalent fand. Der 21 Ein typisches Beispiel ist die Handelsvertragsgesetzgebung, s. dazu Rolf Weitowitz, Deutsche Politik und Handelspolitik unter Reichskanzler Leo von Caprivi 1890—1894, Düsseldorf 1978. 22 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890—1914, 342, und Rolf Weitowitz, Deutsche Politik und Handelspolitik, 13. 23 Der Begriff „Köngismechanismus" wird von John Röhl — in Anlehnung an Norbert Elias — zur Beschreibung der Herrschaftspraxis im „persönlichen Regiment" Wilhelms II. verwendet: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München '1988, 116—140 (der Abschnitt wurde zuerst abgedruckt in der Historischen Zeitschrift 236 [1983], 539—577). Zur Kritik an der Wirksamkeit des persönlichen Regiments s. Hans Fenske, Einleitung zu: ders. (Hg.), Unter Wilhelm II. 1890—1918 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr v o m Stein Gedächtnisausgabe, Bd. 7), Darmstadt 1982, 9f. 24

Vgl. John C . G . Röhl, Kaiser, Hof und Staat, 12.

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Einleitung

politische Zusammenhalt der unterschiedlichen Interessengruppen in der katholischen Bevölkerung war mit dem Ende des Kulturkampfs ohnehin latent gefährdet. Bereits zeitgleich mit der Entstehung des zweiten Friedensgesetzes machte sich ein konservativer Widerstand gegen die bisherige Politik Ludwig Windthorsts bemerkbar, der nach dessen T o d im Frühjahr 1891 zu einer zeitweiligen Bedrohung der Existenz des Zentrums führte. 2 5 Für die bürgerliche Bewegung innerhalb des politischen Katholizismus, also für mittelständische Honoratioren ebenso wie für die Interessenvertreter der aufstrebenden Bevölkerungsschichten, die „Populisten", und einen Großteil des Klerus bot der in seiner K o m p e t e n z faktisch aufgewertete Reichstag ein wirksameres Betätigungsfeld. Stärker als bisher konnten der Weg der Gesetzgebung und die einzigartige Vorzugsstellung des Zentrums sowohl als F o r u m für den Kampf gegen verbliebene Kulturkampfgesetze und die weiter vorherrschende Praxis der Zurücksetzung des katholischen Bevölkerungsteils als auch für die Verfolgung eigener Gruppeninteressen genutzt werden. 2 6 Die sogenannten staatstreuen Katholiken entstammten vor allem der aristokratischen und konservativ orientierten Führungselite des Zentrums. Ihren wichtigsten Rückhalt besaß diese G r u p p e in agrarischen Wählerschichten und konservativen Teilen des Klerus. F ü r sie bestand im Gegensatz zu den bürgerlichen Kräften eine konkrete Perspektive in der Ausrichtung ihrer Aktivitäten auf das von Wilhelm II. seit 1890 gestärkte Kaisertum, eine Perspektive, die also auch eine Annäherung an die Deutschkonservativen einschloß. Für diese Orientierung gab es vor allem zwei Motive, zum einen die Erwartung, den Zustand der vermeintlichen katholischen Reichsfeindlichkeit am ehesten durch eine Bindung an die Führungseliten des Staates beenden zu können, und zum zweiten das agrarische Interesse, über das sich ein Bündnis mit den Konservativen von selbst ergab. Folglich waren zunächst wesentliche Maximen dieser Richtung

25 Vgl. Karl-Egon Lonne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, 176f.; Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich, 39f. 26 Zur Benachteiligung der Katholiken, die während der 1890er Jahre in Bereichen der öffentlichen Verwaltung und des Militärs sogar noch forciert wurde, s. die Studie von Martin Baumeister, Parität und katholische Inferiorität. Untersuchungen zur Stellung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 3), Paderborn u.a. 1987.

Katholische Kirche und Gesellschaft

11

die (erfolglose) Abwehr der ansonsten von der Mehrheit der Zentrumsfraktion unterstützten industriefreundlichen Handelsvertragspolitik Caprivis und — in Hinblick auf die Versöhnung mit dem Staat — die Unterstützung der Wilhelminischen Militärpolitik sowie ein prononciert zurückhaltender Kurs bei der Vertretung katholischkirchlicher Interessen gegenüber der Regierung. 2 7 Der Aufstieg der Sozialdemokratie — der dritte Bereich — vollzog sich als ein herausragender Bestandteil der neuen machtpolitischen Konstellation in Deutschland und zugleich als ein Teil des industriellen und gesellschaftlichen Wandels. Das Jahr 1890 leitete für die Entwicklung der Sozialdemokratie ebenso wie für die Geschichte ihrer Rezeption durch die innenpolitischen Gegner eine neue Phase ein. F ü r beide Bereiche war die Erkenntnis maßgeblich, daß die sozialdemokratische Bewegung trotz oder gerade wegen des Sozialistengesetzes an Zulauf gewonnen habe und inzwischen zu einer Massenbewegung geworden sei. Meßbar wurde diese Erkenntnis zum einen am Stimmengewinn bei den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890: Der Sozialdemokratie gelang es, 1,4 Millionen Wähler auf sich zu vereinen und damit zur stärksten Partei zu werden. 2 8 Z u m anderen lenkte der Bergarbeiterstreik von 1889 — ungeachtet der Tatsache, daß die Sozialdemokratie im Ruhrgebiet ursprünglich nur eine un-

27

Vgl. Karl-Egon Lonne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert,

178—181. Der Breslauer Fürstbischof Georg Kardinal Kopp, der als ein Protagonist dieser Richtung angesehen werden kann, warnte im Jahr 1893 vor einer Ablehnung der Militärvorlage mit der Begründung, daß „diejenigen Kreise der preußischen Staatsregierung, welche bislang den Katholiken wohlwollend gegenüberstanden, denselben entfremdet würden oder ihnen wenigstens für die Zukunft die Bestätigung ihres Wohlwollens unmöglich gemacht würde"; Schreiben von Georg Kopp an Felix Porsch vom 8. Februar 1895, abgedruckt in: Herbert Gottwald, Zentrum und Imperialismus. Zur Geschichte der Wandlung des Zentrums beim Ubergang zum Imperialismus in Deutschland, Diss. phil. Jena 1965, Anhang, 115. Zu Kopps kooperativem Verhältnis gegenüber Regierung und Kaiser Wilhelm II. s. Rudolf Morsey, Die Deutschen Katholiken und der Nationalstaat, 46—48. 28

Obwohl die Sozialdemokraten sogar annähernd 100000 Stimmen mehr als das

Zentrum erhielten, konnten sie wegen des Mehrheitswahlrecht und der veralteten Einteilung der Wahlkreise die Zahl der Reichstagsmandate nur auf 35 erhöhen, vgl. Gerhard A. Ritter (unter Mitarbeit von Merith Niehuss), Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871—1918 (Beck'sche Elementarbücher, Statistische Arbeitsbücher zur neueren deutschen Geschichte), München 1980, 40.

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Einleitung

tergeordnete Rolle gespielt hatte 29 — die Aufmerksamkeit auf das starke Anwachsen der sozialdemokratisch geführten Freien Gewerkschaften. Schließlich konnte hier im folgenden Jahr der rapide Anstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung sogar am deutlichsten nachvollzogen werden: Gegen eine starke Konkurrenz katholischer Knappenvereine organisierten sich unmittelbar nach dem Streik 58000 Bergleute in sozialdemokratischen Gewerkvereinen, insgesamt stieg der Mitgliederbestand der Freien Gewerkschaften in der kurzen Zeit von 1888 bis 1890 von 111000 auf über 294000 Mitglieder an. 30 Der Stimmengewinn bei den Wahlen und die Erfahrung mit der Organisationsbereitschaft gaben den Mitgliedern und Anhängern der Sozialdemokratie das Gefühl, unüberwindlich zu sein; das auf diese Weise gestärkte Selbstbewußtsein und die Aussicht, daß das Sozialistengesetz im Oktober 1890 nicht mehr verlängert werden würde, versetzte die sozialdemokratische Bewegung in eine Aufbruchstimmung, die wiederum von den Gegnern als eine verstärkte Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung interpretiert werden konnte. 3 1 Daß die bürgerliche Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie seit 1889/90 tatsächlich eine neue Qualität erhielt, verdeutlichte sowohl die Umorientierung in der staatlichen Sozialpolitik als auch der Umgang der Parteien und politischen Organisationen mit diesem Kurswechsel. Nicht zufällig entschied sich W i l h e l m II. mit der Ernennung des Freiherrn von Berlepsch zum Handelsminister und Protektor der neuen Sozialpolitik zugleich für einen Politiker, der sich durch seinen moderaten Umgang mit der Bergarbeiterbewegung als Regierungspräsident in Düsseldorf und später als Oberpräsident der

29 Vgl. Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung 125), Bad Godesberg 1977, 5 7 3 - 5 8 1 . 30 Zahlen nach Gerhard A . Ritter/ Klaus Tenfelde, Der Durchbruch der Freien Gewerkschaften Deutschlands zur Massenbewegung im letzten Viertel des

19. Jahrhunderts, in: Gerhard A . Ritter, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 23), Göttingen 1976, A b b . zu S. 96f. 31 Vgl. Gerhard A . Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratie und die Freien Gewerkschaften 1890—1900 (Studien zur europäischen Geschichte aus dem Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 111), Berlin ! 1 9 6 3 , 79f.

Katholische Kirche und

13

Gesellschaft

R h e i n p r o v i n z p r o f i l i e r t h a t t e . 3 2 A u c h die F e b r u a r e r l a s s e u n d die anschließende i n t e r n a t i o n a l e A r b e i t e r s c h u t z k o n f e r e n z in Berlin w a r e n n o c h e i n e A n t w o r t auf die E r f a h r u n g m i t d e m Streik u n d in dieser H i n s i c h t ein V e r s u c h , m i t H i l f e v o n R e f o r m e n die w e i t e r e

Ausbrei-

tung der Sozialdemokratie zu stoppen.33 Die sozialpolitischen Aktivitäten,

die a m A n f a n g

der

neunziger

J a h r e v o n k a t h o l i s c h e r Seite v o r allem d u r c h d e n K l e r u s u n d den katholischen

Unternehmerverband

Arbeiterwohl

entwickelt

wurden,

o r i e n t i e r t e n sich n u n beinahe ausschließlich an der E n t w i c k l u n g der S o z i a l d e m o k r a t i e . 3 4 D e r A u f r u f für die G r ü n d u n g eines für

das

katholische

Deutschland

im November

Volksvereins

1890 bezeichnete

V e r t e i d i g u n g d e r c h r i s t l i c h e n G e s e l l s c h a f t g e g e n die

die

Sozialdemokra-

t i e als d a s Z i e l d e r n e u e n O r g a n i s a t i o n ; 3 5 ä h n l i c h v e r s t a n d d e r E p i s -

32

Berlepsch, der bereits auf der Kronratssitzung vom 24. Januar 1890 als Experte

für sozialpolitische Fragen genannt worden war, mußte unmittelbar nach seiner Ernennung zum Handelsminister die Abfassung des ersten Sozialerlasses übernehmen, vgl. J o h n C . G . Röhl (Hg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 52), Bd. 1, Boppard 1976, 427, Anm. 3. Zur Bewertung der Haltung des Freiherrn von Berlepsch während des Streiks s. Walter Witwer, Hans Hermann Freiherr von Berlepsch. Ein preußischer Beamter als konservativer Sozialpolitiker, in: Gustav Seeber, Gestalten der Bismarckzeit, Bd. 2, Berlin (Ost) 1986, 451—455; Franz-Josef Brüggemeier, Leben vor Ort, 186f. 35

So bezeichnet Klaus Tenfelde den Streik als „eine erste bedeutsame Station" auf

dem Weg zur Politik des Neuen Kurses (Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der R u h r im 19. Jahrhundert, 581). Diese Einschätzung bestätigt auch die zurückblickende Bewertung Wilhelms II. in: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878—1918, Leipzig und Berlin 1922, 29f. Tatsächlich widmete der zweite Sozialerlaß der Verbesserung der Lage in den Bergwerken einen eigenen Absatz, während die von Wilhelm II. initiierte internationale Arbeiterschutzkonferenz die „Regelung der Arbeit in den Bergwerken" sogar als ersten Tagesordnungspunkt behandelte (die Erlasse und das Programm der Arbeiterschutzkonferenz erschienen im Reichs-

und

Staatsanzeiger am 5. und am 28. Februar 1890). 34

Zur Bedeutung des Verbandes Arbeiterwohl

Arbeiterwohl,

Verband

katholischer

s. Klaus Grosinski/Roman Vesper,

Industrieller

und

Arbeiterfreunde

(Aw)

1880—1928, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789—1945), hg. von Dieter Fricke u.a., Bd. 1, Köln 1983, 9 4 - 1 0 1 . 35

D e r Gründungsaufruf vom 22. November 1890 ist u.a. abgedruckt in: Hans

Fenske (Hg.), Unter Wilhelm II. 1890—1918 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr vom Stein Bd. 7), Darmstadt 1982, 26f.

Gedächtnisausgabe,

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Einleitung

kopat die Aufgabe der katholischen Arbeitervereine, die er in zahlreichen Hirtenbriefen und Pastoralschreiben zur G r ü n d u n g und Förderung durch den Klerus empfahl. 3 6 Die von Papst Leo XIII. und dem deutschen Episkopat geförderte Uberzeugung, daß die soziale Frage zunächst eine religiöse Frage sei, rechtfertigte wenigstens nach außen die Aufforderung an den Pfarrklerus, sich als Präsides der Arbeitervereine gewissermaßen an die Spitze der katholischen Gegenwehr gegen das Anwachsen der Sozialdemokratie zu stellen. 37 Dieses Rollenverständnis, das in geringerer Intensität auf evangelischer Seite eine Entsprechung fand, 3 8 barg aber auch Risiken für das künftige Verhältnis zwischen Kirche und Arbeiterschaft: Einerseits fehlte den Geistlichen die fachliche Kompetenz, um den Arbeitern bei der Bewältigung der Probleme ihrer Arbeitswelt und bei personellen Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz hilfreich zur Seite stehen zu können; andererseits konnte die innerhalb des niederen Klerus durch Erfahrung gewonnene Kenntnis sozialer Defekte zu Zielkonflikten

36 Vgl. Ute Schmidt, Katholische Arbeiterbewegung zwischen Integralismus und Interkonfessionalismus, 221.

Zur Einstellung Leos XIII. s. dessen später publiziertes Schreiben an den Kölner Erzbischof Philippus Krementz vom 20. April 1890, abgedruckt in: Akten der Fuldaer Bischofskonferenz. Bearbeitet von Erwin G a t z (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen 27), Bd. 2: 1888—1899, Mainz 1979, 59; ebenso die Ausführungen des Papstes in Rerum novarum vom 15. Mai 1891, in: Rundschreiben Unseres Heiligsten Vaters Leo XIII. durch göttliche Vorsehung Papst über die Arbeiterfrage, lateinischer und deutscher Text, 5. Abdruck, Freiburg im Breisgau 1921, 19—41. Z u m preußischen Episkopat s. das Hirtenschreiben der Fuldaer Bischofskonferenz v o m 22. August 1890, abgedruckt in: Akten der Fuldaer Bischofskonferenz, Bd. 2, 104; zu Georg K o p p s. sein Hirtenschreiben vom 18. Januar 1891, abgedruckt in: Hirtenbriefe des Fürstbischofs von Breslau Georg Kardinal K o p p 1887—1912. Z u m 25jährigen Jubiläum Sr. Eminenz als Fürstbischof von Breslau, hg. von M[ax] Beyer und F[ranz] Nafe, Berlin 1912, 269. Zu den Anforderungen an den Klerus s. die „Erklärung zur Vorbildung des Klerus für die Aufgaben auf sozialem Gebiet", die von der Fuldaer Bischofskonferenz am 20. August 1890 beschlossen wurde, abgedruckt in: Akten der Fuldaer Bischofskonferenz, Bd. 2, 89-92. 37

38 So forderte auch der Evangelische Oberkirchenrat am 17. April 1890 die Geistlichen zur Mitarbeit an der Lösung der sozialen Frage auf. Z u m sozialpolitischen Verständnis der evangelischen Kirchenleitung in Berlin s. Klaus Erich Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890, Berlin 1973.

Katholische Kirche und Gesellschaft

15

gegenüber der Klientel der katholischen Arbeiter und den Interessen der Kirchenleitung führen. Schließlich gab es in dieser Hinsicht bereits jene Erfahrungen, die Angehörige des Klerus in der christlichsozialen Bewegung der siebziger Jahre im Rheinland und in Westfalen im Interessenkonflikt zwischen den ihnen anvertrauten, vorwiegend katholischen Arbeitern und ihren vorgesetzten Kirchenbehörden sowie der Führungsschicht des Zentrums gesammelt hatten. 39

39

Vgl. Herbert Gottwald, „Christlich-Soziale Vereine (CSV) 1868—1878", in:

Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, 470—476; Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, 464—470; Karl-Egon Lonne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, 177f.

n Fragestellung, Forschungsstand und Methode

Die folgende Untersuchung geht von den ab 1890 einsetzenden katholischen Aktivitäten zur Lösung der sozialen Frage unter den Bedingungen der skizzierten innenpolitischen und gesellschaftlichen Situation in der Anfangsphase des Wilhelminischen Deutschlands aus. Das bereits angesprochene Interesse der katholischen Presse, den Themenbereich der sozialen Frage im Zuge der Aktivierung der katholischen Kräfte für die Zeit der Nachkulturkampfära zu einem Schwerpunkt ihrer Berichterstattung zu machen, rechtfertigt die Entscheidung, sich auf dem Weg der Untersuchung katholischer Zeitungen und Zeitschriften den Motiven, Zielen und Methoden des sozialen Katholizismus im Wilhelminischen Deutschland zu nähern. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen katholische Periodika, die in Berlin erschienen waren. Diese Entscheidung bietet neben den Vorteilen, die sich aus der geopolitischen Geschlossenheit des Untersuchungsraumes ergeben, den Vorzug, daß wesentliche Faktoren, die für den katholischen Umgang mit der sozialen Frage eine Rolle spielen konnten, in Berlin besonders ausgeprägt vorhanden waren: Erstens traten die industriellen und gesellschaftlichen Veränderungen und deren soziale Implikationen in der heranwachsenden Industriemetropole konzentriert in Erscheinung, zweitens war der sozialpolitische Handlungsbedarf der katholischen Kirche wegen der vorherrschenden Diaspora-Situation und wegen des hohen Arbeiteranteils unter der katholischen Bevölkerung besonders groß, und drittens verdiente die Sozialdemokratie als gesellschaftspolitischer Faktor wegen der Entwicklung Berlins zu einer sozialdemokratischen Hochburg eine verstärkte Berücksichtigung bei einer katholischen Bewertung der sozialen Frage. Untersucht werden alle sechs katholischen Zeitungen und Zeitschriften, die in den neunziger Jahren in Berlin herausgegeben und

Fragestellung, Forschungsstand und Methode

17

verbreitet wurden. 4 0 Drei von ihnen waren Tageszeitungen: die Germania (1871—1938), die Märkische Volkszeitung (1889—1939) und die Katholische Volkszeitung (1891—1918); 41 die übrigen erschienen wöchentlich: das Märkische Kirchenblatt (1858—1919), Das Schwarze Blatt (1877—1896), 42 und Der Arbeiter (1897-1933). Der jährlich herausgegebene Berliner St. Bonifatius-Kalender (1863—1902) mußte wegen der mangelhaften Uberlieferung des Bestands außerhalb der Untersuchung bleiben. 43 Einschränkend muß für die Untersuchung auch der Tatbestand in Kauf genommen werden, daß mit der Auswertung der sechs Periodika nicht die Gesamtheit der katholischen öffentlichen Kommunikation in Berlin erfaßt werden kann. Für eine erschöpfende Betrachtung hätten auch die auswärtigen überregionalen katholischen Zeitungen und Zeitschriften herangezogen werden können, die über einen Leserkreis in Berlin verfügten und Anteil am Geschehen in der Hauptstadt nahmen. So unterhielt die bedeutendste unter den auswärtigen Zeitungen, die Kölnische Volkszeitung, hier sogar eine eigene redaktionelle Vertretung. 4 4 U m den Rahmen der Untersuchung nicht zu sprengen, soll dieser Teil der katholischen Presse nur dann berücksichtigt werden, wenn sich ein direkter Einfluß auf die Berliner Periodika beobachten läßt. Das war beispielsweise der Fall, als ein Berliner Korrespondent der Kölnischen Volkszeitung im Jahr 1896 das Gespräch über die beste Form der Vereinsseelsorge in der Reichshauptstadt in Gang brachte. 45 Der Untersuchungszeitraum soll sich schwerpunktmäßig auf das Jahrzehnt von 1890—1900 beschränken. W i e eingangs dargestellt wurde, determinierten verschiedene Ereignisse und Entwicklungen 40 Wegen der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts liegen soll, bleibt die Zeitschrift Die Welt, die erst vom April 1900 an erschien, in der Darstellung unberücksichtigt. 41 Die Zeitung erschien ab 1904 unter dem Titel Deutscher Volksfreund. 42 Das Schwarze Blatt erschien ab Oktober 1896 als Beilage der Katholischen Volkszeitung. 43 Bis in die neunziger Jahre wurde der Titel Berliner St. Bonifacius-Kalender geschieben, ab dem 36. Jg. (1898) führte der Kalender den Zusatztitel Märkischer Almanach. Führer für die Katholiken Berlins und der Delegatar. 44 Das litterarische Berlin. Illustriertes Handbuch der Presse in der Reichshauptstadt, hg. von Gustav Dahms, Berlin [1895], 92. 45 Vgl. „Eine große Aufgabe für die deutschen Katholiken!", in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 743, II, So., 1. November 1894, 1.

18

Einleitung

am Anfang dieses Jahrzehnts objektiv den Beginn eines neuen Zeitabschnitts. Die Entscheidung für das Ende des Untersuchungsabschnitts orientiert sich dagegen an mehreren Veränderungen, die nach der Jahrhundertwende für die katholische Publizistik in Berlin von Bedeutung waren. Die Übernahme der Märkischen Volkszeitung durch den Germania-Verlag im Dezember 1900 bewirkte eine Konzentration des katholischen Pressewesens in Berlin und führte damit eine Zäsur in der Entwicklung der öffentlichen katholischen Kommunikation der Hauptstadt herbei. Die Herausgabe der illustrierten Unterhaltungszeitschrift Die Welt im April 1900 zeigte außerdem, daß in der Pressepolitik des Germania-Verlags neue Akzente gesetzt wurden. Von noch größerer Bedeutung für die Begrenzung der Untersuchung auf die Phase bis zum Jahr 1900 ist der Beginn des sogenannten Gewerkschaftsstreits. Denn obwohl die soziale Frage auch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine große Rolle in der katholischen Presse spielte, konnte sie in den katholischen Zeitungen und Zeitschriften Berlins nicht mehr ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Positionen in der christlichen Arbeiterbewegung behandelt werden. Neben der grundsätzlichen Begrenzung auf das Jahrzehnt von 1890 bis 1900 ist es außerdem erforderlich, bei der Behandlung bestimmter inhaltlicher Zusammenhänge individuelle Begrenzungen vorzunehmen. So muß sowohl auf die Bergarbeiterbewegung, die im Frühjahr 1889 einsetzte, als auch auf die Auseinandersetzung in der katholischen Presse über die Verlängerung des Sozialistengesetzes im Oktober 1890, deren Intensivierung in der katholischen Presse ebenfalls im Jahr 1889 begann, einführend eingegangen werden. Besonders ist zu berücksichtigen, daß beide Ereignisse die Ausformung eines neuen Bewußtseins beim Umgang mit der sozialen Frage vorangetrieben hatten; sie gehörten damit zu den Voraussetzungen für das in den katholischen Periodika der neunziger Jahre entwickelte neue publizistische Selbstverständnis. Auf der anderen Seite markierte der Beginn des Gewerkschaftsstreits im Verlauf des Jahres 1900 nicht sofort den Abschluß eines Diskussionsprozesses, der sich im vorangegangenen Jahrzehnt in der katholischen Presse über die Frage nach der interkonfessionellen Ausgestaltung der christlichen Arbeiterbewegung vollzogen hatte. Erst die Übernahme der Märkischen Volkszeitung durch den Germa-

Fragestellung, Forschungsstand und Metbode

19

nia-Verlag bewirkte eine natürliche Zäsur innerhalb der öffentlichen Erörterung der Gewerkschaftsfrage. Andere Tendenzen fanden sogar noch inmitten der neunziger Jahre ihren vorläufigen Abschluß. Das Engagement, das Kaiser Wilhelm II. für die soziale Frage entwickelte bzw. zu entwickeln schien, fand spätestens mit der Veröffentlichung seines bekannten Diktums „christlich-sozial ist Unsinn" und der Beobachtung des zunehmenden Einflusses des Freiherrn von Stumm auf die kaiserliche Politik im Frühjahr 1896 einen für die katholische Presse sichtbaren Abschluß. Erwartungen, die sich im sozialpolitischen Bereich mit der Person des Monarchen verbanden, konnten also nur bis zu diesem Zeitpunkt eine herausragende Rolle in den Zeitungen und Zeitschriften gespielt haben. Eine Untersuchung dieser Erwartungen macht somit eine individuelle Zäsur erforderlich. Inhaltlich und methodisch orientiert sich die Untersuchung an den Faktoren, die entweder als Determinanten den Bezugsrahmen für die Arbeit der katholischen Zeitungen und Zeitschriften absteckten oder den katholischen Redakteuren, Autoren und Herausgebern als Perspektive zur Verwirklichung eigener Vorstellungen dienen konnten. In vier großen Bezugsfeldern — sie werden im DRITTEN bis SECHSTEN KAPITEL untersucht — ergibt sich dabei die Möglichkeit, Erkenntnisse über Formen und Inhalte des Umgangs der katholischen Presse mit der sozialen Frage zu gewinnen: Im DRITTEN KAPITEL, das einer ausführlichen Vorstellung der Periodika und der erwähnten Untersuchung zur Umbruchphase 1889/90 folgt, soll die publizistische Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie gewürdigt werden. Spätestens seit der Enzyklika Quod Apostolici muneris vom 28. Dezember 1878 hatte sie in der Einschätzung der katholischen Kirche die Qualität einer latenten Glaubensbedrohung.46 Zwischen der sozialdemokratischen Bewegung und der katholischen Kirche bestand darüber hinaus objektiv zumindest ein Konkurrenzverhältnis auf der Suche nach dem besseren Weg zur Lösung sozialer Probleme. Unter diesen Voraussetzungen mußte der Einfluß, den die Sozialdemokraten in einer ihrer Hochburgen, nämlich in der Industriemetropole Berlin auf die ärmeren katholischen Vgl. Sämtliche Rundschreiben erlassen von unserem Heiligsten Vater Leo XIII., durch göttliche Vorsehung Papst, an alle Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen, 1. Sammlung: 1878—1880, 2. Abdruck, Freiburg im Breisgau 1900, 2 8 - 5 1 .

20

Einleitung

Bevölkerungsschichten erlangen konnten und bereits erlangt hatten, als ein bestimmender Faktor auf die Behandlung der sozialen Frage in der katholischen Presse wirken. Das VIERTE KAPITEL umfaßt das Selbstverständnis katholischer Periodika als Kirchenpresse. Der Anspruch der katholischen Kirche, an dem sozialpolitischen Diskussions- und Lösungsprozeß, der 1890 einsetzte, aktiv Anteil zu nehmen, und besonders das damit formulierte Bekenntnis der katholischen Kirche, für die Lösung der sozialen Frage zuständig zu sein, konnte von der katholischen Presse als offizielle Aufforderung zum Handeln verstanden werden und die Arbeit der Zeitungen und Zeitschriften somit am nachhaltigsten berühren. 47 Der publizistische Umgang mit diesem Auftrag, die Form und der Inhalt ideeller Dependenzen und die Einschätzung der Möglichkeiten des kirchlichen Instrumentariums werden den Schwerpunkt im zweiten großen Untersuchungsbereich bilden. Des weiteren wird nach dem politischen Bezugsfeld der katholischen Zeitungen und Zeitschriften gefragt. Weil der Katholizismus und besonders das Zentrum als dessen politische Vertretung trotz der parlamentarischen Schlüsselposition zu schwach waren, um christlich-soziale Lösungskonzepte zur Bewältigung der sozialen Frage allein in praktische Politik umzusetzen, war es notwendig, auf der protestantischen Seite Bündnispartner zu gewinnen. Sowohl das vermutete sozialpolitische Engagement Kaiser Wilhelms II. als auch die veränderte parteipolitische Kräfteverteilung nach den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 boten konkrete Ansatzpunkte für eine gemeinsame, vom Christentum getragene Sozialpolitik. Daher soll vor allem hierauf der Schwerpunkt im F Ü N F T E N KAPITEL der Untersuchung liegen. Das SECHSTE KAPITEL konzentriert sich auf das Bezugsfeld der christlichen Arbeiterbewegung. In der Form der katholischen Arbeitervereine stellte sie neben der praktisch-kirchlichen und der parteipolitischen Arbeit gewissermaßen einen dritten Weg dar, um — noch 47

Hier sei nur erneut auf die wichtigste autoritative Kundgebung, nämlich auf die Enzyklika Rerum novarum verwiesen (Rundschreiben über die Arbeiterfrage, 19). Eine Begründung für den Anspruch ergab sich aus der Funktion der Kirche als Trägerin der Offenbarung und Hüterin des natürlichen Sittengesetzes und fand in der potestas directiva ihre kirchenrechtliche Entsprechung; vgl. Klaus Mörsdorf/Heribert Raab, „Kirche und Staat", in: LThK, Bd. 6, Sonderausgabe der 2., völlig neu bearb. Aufl. (Freiburg 1961), Freiburg 1986, Sp. 296f.

Fragestellung Forschungsstand und Methode

21

unter dem Dach der Kirche — die soziale Frage mit Hilfe einer engen Verknüpfung von christlichen Ideen und gewerkschaftlichen Strukturen zu lösen. Mit der Entstehung einer christlichen Gewerkschaftsbewegung war neben den Arbeitervereinen jedoch ein Lösungsangebot entstanden, das einerseits dem politischen Gebot der interkonfessionellen Zusammenarbeit praktisch entsprach, das andererseits aber durch zunehmend pragmatische Inhalte die Wirksamkeit einer christlich geprägten Sozialreform immer mehr in Frage stellte. Weil die katholische Presse bis zu der ersten autoritativen Stellungnahme des preußischen Episkopats im Fuldaer Pastorale vom 22. Juni 1900 relativ frei von Kirche und Zentrum zu diesem Konflikt Stellung nehmen konnte, lassen sich von diesem Teil der Untersuchung auch Erkenntnisse darüber erwarten, welche Schlußfolgerungen in den katholischen Zeitungen und Zeitschriften aus den vorangegangenen zehn Jahren verstärkter Auseinandersetzung mit der sozialen Frage gezogen wurden. Dieser Zusammenhang erklärt auch, daß die Wochenzeitung Der Arbeiter trotz ihrer typologischen Besonderheit als Vereinsorgan in die Untersuchung einbezogen werden muß. Aus den Fragestellungen ergibt sich, daß im Mittelpunkt der Untersuchung die veröffentlichte Meinung der sechs katholischen Zeitungen und Zeitschriften steht. Diese fand sich in den üblicherweise anonym publizierten Leitartikeln und Aufsätzen der Presseorgane. Sie äußerte sich aber ebenso in Berichten, Presseübersichten, Homilien, Erzählungen und sogar Meldungen. Wichtige Aussagen konnten auch darin bestehen, daß Informationen verspätet, unvollständig oder überhaupt nicht gedruckt wurden. Diese Dispositionen legen die ganzheitliche Untersuchung der Periodika nahe. Aus der ungleichmäßigen Plazierung und Gewichtung von bedeutsamen Aussagen ergibt sich außerdem, daß nur die Methode der qualitativen Textanalyse eine Gewähr für die Reliabilität der Untersuchungsergebnisse bieten kann. 48 48 U m die einzelnen inhaltlichen Positionen auf ihre Repräsentativität hin zu überprüfen, wird der Untersuchung neben vertiefenden Querschnittanalysen eine Längsschnittanalyse zugrunde gelegt, in der sämtliche Ausgaben der Wochenzeitungen und — in periodischen Abständen von drei Wochen — die zusammenhängenden Wochenbestände der Tageszeitungen herangezogen wurden. Ein Gesamtüberblick stellte außerdem sicher, daß herausragende Beiträge außerhalb der Längsschnittanalyse dennoch berücksichtigt werden konnten.

22

Einleitung

Von den Einzeldarstellungen im ersten Kapitel abgesehen, werden die katholischen Periodika Berlins stets gemeinsam behandelt; mit dieser Vorgehensweise wird bezweckt, einerseits die einzelnen Zeitungen und Zeitschriften komplementär als Gesamtheit periodisch organisierter, öffentlicher katholischer Kommunikation darzustellen und andererseits — in der Regel in den einzelnen Fallstudien — spezifische Unterscheidungsmerkmale pointierter hervorzuheben. Einschränkungen müssen wegen der Uberlieferung des Materialbestands gemacht werden. Nahezu vollständig standen Bestände der Germania, der Märkischen Volkszeitung und des Märkischen Kirchenblatts für die Untersuchung zur Verfügung, 49 während sich bei den anderen drei Periodika zum Teil erhebliche Lücken ergaben.50 Die wichtigste Quelle, die notwendig gewesen wäre, um Hintergrundinformationen über die gewonnenen Aussagen zu erzielen, hätte in den Archiven der Presseorgane und in der Überlieferung biographischer Notizen ihrer Mitarbeiter bestanden. Der Verlust der Verlags- und Redaktionsarchive der einzelnen Periodika im Verlauf des Zweiten Weltkriegs — hier sei besonders auf das Archiv des Germania-Verlags hingewiesen, das Aufschlüsse über fast alle Periodika hätte geben können — trägt sicherlich die Schuld daran, daß nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen sich bisher mit der Berliner katholischen Presse befaßt haben.51 Von den sechs katholischen Periodika in Berlin hatte — besonders für den Untersuchungszeitraum — nur die Germania eine nennenswerte Beachtung in der Forschung gefunden. Der kurze Aufsatz von

Bei der Märkischen Volkszeitung fehlte das vierte Quartal des Jg. 3 (1891). Bei der Katholischen Volkszeitung fehlte das vierte Quartal des Jg. 1 (1891), das erste und das dritte Quartal des Jg. 2 (1892), das vierte Quartal des Jg. 3 (1893), der Jg. 4 (1994), die ersten vier Monate des Jg. 6 (1896) und jeweils das zweite Halbjahr der Jgg. 7 (1897) und 10 (1900); beim Schwarzen Blatt fehlten die Jgg. 14 (1890) und 16 (1892); beim Arbeiter fehlte das vierte Quartal des Jg. 3 (1899) und der Jg. 4 (1900). 49

50

Vgl. Helga Grebing, Zentrum und Katholische Arbeiterschaft 1918—1933. Ein Beitrag zur Geschichte des Zentrums in der Weimarer Republik, Diss. phil. Berlin 1953, Vorwort. Ein Teil des Germania-Archivs, der durch den letzten Aufsichtsratsvorsitzenden, den Freiherrn Rudolf von Twickel, gerettet worden war, befindet sich heute im Privatbesitz seiner Familie. Leider steht dieser Bestand der Forschung nicht zur Verfügung (Schriftwechsel des Verfassers [J.M.S.] mit der Familie von Twickel vom Januar/Februar 1986; vgl. auch Jürgen A. Bach, Franz von Papen in der Weimarer Republik. Aktivitäten in Politik und Presse 1918-1932, Düsseldorf 1977, 7f.). 51

Fragestellung Forschungsstand und Methode

23

Klaus Martin Stiegler blieb bisher die einzige Gesamtdarstellung. 52 Allerdings widmet er der Entwicklung der Germania in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts nur knappe vier Zeilen. 53 Seit den Arbeiten von Klemens Löffler 54 und der auch heute noch oft zitierten Dissertation von Hans Joachim Reiber 5 5 hatte der überregionale Charakter dieser Tageszeitung und ihr Selbstverständnis als Zentralorgan des Zentrums immer wieder das Interesse an ihr gerechtfertigt. In mehreren Arbeiten, die sich mit der Germania im 19. Jahrhundert auseinandersetzen, wird die Zeitung gemeinsam mit anderen großen Tageszeitungen über ihre Stellung zum Kulturkampf 5 6 und zum europäischen Geschehen von 1871 befragt. 57 Die Dissertationen über das Verhältnis der katholischen Presse zur Judenfrage 58 und über die Zensurpraxis in der Bismackzeit 5 9 berühren — wenngleich nur am Rande — als einzige Untersuchungen den Zeitabschnitt der neunziger Jahre. Der andersartigen Fragestellungen wegen können sie für die vorliegende Untersuchung allerdings nur vereinzelte brauchbare Erkenntnisse liefern. Ü b e r zwei Persönlichkeiten, die in der katholischen Presse Berlins tätig waren, liegen Biographien und Untersuchungen vor. Sie betref52

Klaus Martin Stiegler, „Germania", in: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.), Deutsche

Zeitungen des 17.—20. Jahrhunderts (Publizistisch-historische Beiträge 2), Pullach 1972, 2 9 9 - 3 1 3 . 53

Ebenda, 301.

54

Klemens Löffler, Das katholische Zeitungswesen in der Kulturkampfzeit, in: Der

Aar 2 (1912), Bd. II, H. 10 (Juli), 4 8 7 - 5 0 0 ; derselbe, Geschichte der katholischen Presse Deutschlands (Soziale Tagesfragen 50), M.-Gladbach 1924. 55

Hans Joachim Reiber, Die katholische Tagespresse unter dem Einfluß des Kul-

turkampfes (Diss. phil. Leipzig 1930), Görlitz 1930. 56

zum

Als letzte Darstellung s. Josef Lange, Die Stellung der überregionalen Tagespresse Kulturkampf

in

Preußen

(1871—1878)

(Europäische

Hochschulschriften,

Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 40), Bern und Frankfurt/M. 1974. 57

Ursula Koch, Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Eine Untersu-

chung über die Rezeption der großen Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den politischen Tageszeitungen der deutschen Reichshauptstadt

(Einzelveröffentlichungen

der Historischen Kommission zu Berlin 22), Berlin 1978. 58

Armine

Haase,

Katholische

Presse

und

die

Judenfrage.

Inhaltsanalyse

katholischer Periodika am Ende des 19. Jahrhunderts (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung 20), Pullach bei München 1975. 59

Hans-Wolfgang Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874—1890). Das

Problem der Repression oppositioneller Zeitungen (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 57), Bern und Frankfurt/M. 1975.

24

Einleitung

fen den Herausgeber zahlreicher katholischer Presseunternehmungen Georg Friedrich Dasbach 60 und den um die Förderung des Berliner Katholizismus verdienten Missionsvikar Eduard Müller. 61 Georg Friedrich Dasbach gab von 1896 bis 1900 die Märkische Volkszeitung heraus. Dennoch wird diese Tätigkeit in den genannten Biographien eher am Rande behandelt. Auch die etwas ausführlichere Rekonstruktion der äußeren Entwicklung der Zeitung, die Ulrich Fohrmann vornimmt, leidet darunter, daß für die Gewinnung von Erkenntnis über das Berliner Blatt hauptsächlich zwar Prozeßberichte und Beschreibungen in anderen Presseunternehmungen Dasbachs herangezogen, nicht aber die Märkische Volkszeitung selbst ausgewertet wurde. 62 Andererseits stellen die Berichte über den Prozeß, den Georg Friedrich Dasbach in zwei Instanzen gegen Fritz Haubrich geführt hatte, in der Tat die wichtigste Quelle über die wirtschaftliche Entwicklung der Märkischen Volkszeitung dar. 63 Als ehemaliger Mitarbeiter hatte der spätere liberale Politiker Haubrich im Rahmen einer öffentlichen Gesamtabrechnung mit Dasbach unter anderem die Form des Erwerbs der Märkischen Volkszeitung im Jahr 1896 kritisiert. Dadurch war es vor drei Gerichten, dem Trierer Schöffengericht, dem Trierer Landgericht und dem Kölner Oberlandesgericht zu Aussagen über die Märkische Volkszeitung gekommen, die zugleich

60 Hubert Thoma, Georg Friedrich Dasbach. Priester—Publizist—Politiker, Trier 1975; Ulrich Fohrmann, Trierer Kulturkampfpublizistik im Bismarckreich. Leben und Werk des Preßkaplans Georg Friedrich Dasbach, Trier 1977; Karl Josef Rivinius, Sozialpolitische Wirksamkeit des Preßkaplans Georg Friedrich Dasbach, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 21 (1980), 233—262. 61 Emil Kolbe, Missions-Vikar Eduard Müller. Ein Lebensbild. Berlin [1906]; Edmund Kreusch, Eduard Müller der priesterliche Volksfreund. Ein Lebensbild, Berlin 1898; Ernst Thrasolt, Eduard Müller. Der Berliner Missionsvikar. Ein Beitrag zur Geschichte des Katholizismus in Berlin, der Mark Brandenburg und Pommern, hg. von Alfons Erb, Berlin 1953. 62 Vgl. Ulrich Fohrmann, Trierer Kulturkampfpublizistik im Bismarckreich, 264-267. a [Dasbach, Georg Friedrich]: Der Prozess Dasbach gegen Haubrich. Bericht über die Gerichts-Verhandlungen vom 20. bis 23. April 1900 nebst dem Urtheil vom 30. April, Trier 1900; Prozess Dasbach gegen Haubrich. Urtheile der Berufungs-Instanz und der Revisions-Instanz, Trier 1901. Ebenso aufschlußreich sind die ausführlichen Berichte in der katholischen Tagespresse, so in der Germania und in der Märkischen Volkszeitung im Dezember 1900.

Fragestellung, Forscbungsstand und Methode

25

wertvolle Hinweise über die äußeren Dispositionen der Zeitung enthielten. Eduard Müller hatte von 1858 bis 1891 das Märkische Kirchenblatt redigiert und seit 1863 nebenher noch den Berliner St. Bonifatius-Kalender herausgegeben. Weil der Schwerpunkt seiner Tätigkeit in der Missionierung von verstreut lebenden Katholiken in Berlin und der Diaspora bestanden hatte, fand seine redaktionelle Arbeit trotz der günstigen Quellenlage nur marginale Berücksichtigung. Hier ist die Biographie von Ernst Thrasolt eine Ausnahme; allerdings konzentrieren sich seine Ausführungen über den Redakteur Eduard Müller nur auf dessen Schaffen in der Zeit von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. 64 Eine ausführlichere Biographie liegt auch über einen anderen aktiven Mitarbeiter des Märkischen Kirchenblatts aus der Zeit nach 1900 vor. Sie beschreibt das Wirken des Dominikanerpaters Bonaventura — sein bürgerlicher Name war Friedrich Krotz —, dessen Tätigkeit als bedeutender Prediger, Missionar und Berliner Studentenseelsorger aber mehr Beachtung fand als seine Arbeit für das Märkische Kirchenblatt, obwohl er in dessen Ausgaben überdurchschnittlich häufig mit Aufsätzen oder kurzen Beiträgen vertreten war. 65 Die vermutete überregionale politische Bedeutung der Vereinszeitschrift Der Arbeiter gab ähnlich wie bei der Germania — wenngleich in bescheidenerem Umfang — den Anlaß zur näheren Erforschung. Als Organ des in Berlin ansässigen Verbandes der katholischen Arbeitervereine66 wurde die Wochenschrift im Rahmen mehrerer Untersuchungen über den Gewerkschaftsstreit als Quelle für die offiziellen Positionen der sogenannten Berliner Richtung herangezogen. 67 Wäh-

" Ernst Thrasolt, Eduard Müller, 135—143. « A l f r e d Donders, P. Bonaventura O. Pr. 1862—1914. Ein Lebensbild, 5. u. 6. Aufl., Freiburg i. Br. 1923. " Der Verband hatte mehrmals den Namen gewechselt. A b 1903 trug er aus Rücksichtnahme gegenüber anderen bestehenden Verbänden den Namenszusatz „(Sitz Berlin)". Lucian Kudera, Der Gewerkschaftsstreit der deutschen Katholiken in der Publizistik (1900—1914), Diss. phil. Münster 1957; Rudolf Brack, Deutscher Episkopat und der Gewerkschaftsstreit 1900—1914 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 9), Köln und W i e n 1976; Horstwalter Heitzer, Georg Kardinal Kopp und der Gewerkschaftsstreit 1900—1914 (Forschungen und Quellen zur Kirche und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 18), Köln und Wien 1983. 67

26

Einleitung

rend diese Untersuchungen wegen ihres Schwerpunkts in den Jahren von 1900 bis 1914 von vornherein auf die Geschichte des Arbeiter im 19. Jahrhundert verzichtet haben, muß derselbe Verzicht in einer Untersuchung, die sich anhand der Fachorgane mit der katholischen Arbeiterbewegung beschäftigt, als Lücke besonders bedauert werden. 68

68

Michael Berger, Arbeiterbewegung und Demokratisierung. Die wirtschaftliche,

politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung des Arbeiters im Verständnis der katholischen Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Deutschland zwischen und 1914, Diss. phil. Freiburg i.Br. 1971.

1890

I

Die Periodika des Germania- Verlags 1. Germania und

Germania-Verlag

1890 konnte die Germania bereits auf zwei Jahrzehnte journalistischer Wirksamkeit zurückblicken. Sie war die erste Berliner katholische Tageszeitung und erschien seit dem 1. Januar 1871 regelmäßig für 7 M a r k pro Q u a r t a l 1 sechsmal in der Woche, seit dem 1. O k t o b e r 1881 sogar in zwei täglichen Ausgaben. 2 Der Kaufmann E d m u n d Eirund und der ehemalige Legationsrat Friedrich von Kehler, die diesen Schritt gemeinsam mit dem Schlossermeister Johannes Strobel durch die Gründung einer Sozietät am 19. N o v e m b e r 1870 ermöglicht hatten, gehörten zu den führenden Persönlichkeiten unter den Katholiken Berlins und blieben bis zum Ende des Jahrhunderts auch die beiden wichtigsten Repräsentanten der Germania. E d m u n d Eirund (1833—1902) wurde nach der U m w a n d l u n g der Sozietät in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1872 Direktor des neuen Germania-Verlags.3 Mit seiner Person stellte er das Bindeglied zwischen der Zeitung und dem Berliner katholischen Vereinswesen dar: Er war bereits am 2. August 1852 an der Gründung des Katholischen Gesellenvereins beteiligt gewesen und hatte dort das A m t des Schriftführers und des Vizepräses bekleidet. 4 Er trat als Mitbegründer und Förderer der A k a d e m i e des katholischen Gesellenvereins in Erschei-

Seit dem 1. Oktober betrug der Abonnementpreis der Germania stellungsgebühr nur noch 3,75 Mark. 1

exklusive Zu-

2 Zu den wichtigsten Daten vgl. die Zusammenfassung von Klaus Martin Stiegler, Germania, in: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.), Deutsche Zeitungen des 1 7 . - 2 0 . Jahrhunderts (Publizistisch-historische Beiträge 2), Pullach 1972, 299—301. 3

„Director Edmund Eirund f " , in: Germania, N r . 241, Fr., 17. Oktober 1902, 1.

Festschrift zur goldenen Jubelfeier des katholischen Gesellenvereins Berlin, 3—5; Todesanzeige des katholischen Gesellenvereins in der Germania, N r . 241, Fr., 17. O k t o b e r 1902, Beil., 2. 4

30

I. Katholische Zeitungen und

Zeitschriften

nung, wirkte im Berliner Katholischen Kaufmännischen Verein und im Katholischen geselligen Verein und betätigte sich auch in den Kirchenvorständen der St. Michael- und der Liebfrauenkirchengemeinde. 5 Edmund Eirund stand seit der Gründung eines Zentralkomitees der Berliner katholischen Vereine im Jahr 1888 bis zu seinem Tod im Jahr 1902 an dessen Spitze. 6 Friedrich von Kehler (1820—1901) war seit dem Jahr 1872 Vorsitzender des Aufsichtsrats des Germania,-Verlags und wirkte darüber hinaus mehrere Male auch in der Redaktion der Zeitung mit. 7 Als Mitbegründer der Zentrumsfraktion des preußischen Abgeordnetenhauses hatte er sich bereits als engagierter Politiker profiliert. 8 Obwohl er sich als Abgeordneter von Wahlkreisen verschiedener katholischer Regionen seit 1870 ins Preußische Abgeordnetenhaus und seit 1873 regelmäßig in den Reichstag wählen ließ, wirkte er bis 1898 in erster Linie für den Zusammenhalt und die Stärkung des Zentrums in Berlin. 9 Diese Arbeit verband Friedrich von Kehler, der erst mit 29 Jahren zum katholischen Glauben konvertiert war, mit einem vielfältigen Engagement in unterschiedlichen Organisationen des Berliner Katholizismus: als Mitglied des Kirchenkollegiums und Vorsitzender des Kirchenvorstands von St. Hedwig, als Mitbegründer und Förderer verschiedener Vereine wie des Geselligen Vereins und

5 „Director Edmund Eirund f", in: Germania, Nr. 241, Fr., 17. Oktober 1902, 1; „Der Tod des Herrn Director Edmund Eirund", in: Germania, Nr. 242, Fr., 18. Oktober 1902, Beil., 1. 6 Festschrift zum 25. Berliner Jubiläums-Vereinstage (Zentral-Komitee der katholischen Vereine, Heft 1), hg. von Erich Linnarz, Berlin 1919, 4; allerdings konnte — wie fälschlich ebd., 12, angegeben — Eirund den Vereinstag der Berliner Katholiken am 18. November 1902 schon nicht mehr geleitet haben. 7 Kurzfristig wirkte Friedrich von Kehler sogar als Chefredakteur (Klemens Löffler Geschichte der katholischen Presse Deutschlands, 56). 8 Vgl. Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung, sowie zur allgemeinen Geschichte des neueren und neuesten Deutschland 1815—1914, Bd. 3: Das neue Zentrum und der Kulturkampf in Preußen 1870—1880, Köln 1927, 125—132; Hans Joachim Reiber, Die katholische deutsche Tagespresse unter dem Einfluß des Kulturkampfes, 112. ' „Legationsrath a. D. Friedrich v. Kehler", in: Germania, Nr. 225, III, So., 30. September 1900, 1. A m längsten (1877—1898) vertrat Friedrich von Kehler im Abgeordnetenhaus den Wahlkreis Sieg-Mühlheim-Wipperfürth und im Reichstag (1873-1898) den Wahlkreis M.-Gladbach (ebd.).

Die Periodika des Germania-Verlags

31

des Katholischen Lesevereins, als Initiator eines Berliner Caritasverbandes durch den Zusammenschluß der Berliner Vinzenzkonferenzen und schließlich als Ehrenvorsitzender des Zentralkomitees der katholischen Vereine Berlins. 1 0 Die G r ü n d u n g der Germania

vollzog sich während des deutsch-

französischen Krieges. Weil sie damit zu einem Zeitpunkt relativer gesellschaftspolitischer

Ruhe

stattfand,

entsprach

sie

nicht

dem

T r e n d der E n t w i c k l u n g der übrigen katholischen Presse in Deutschland. 1 1 Die Motive für die Zeitungsgründung lassen sich nicht eindeutig rekonstruieren, und die wenigen Anhaltspunkte

erscheinen

v o r d e m H i n t e r g r u n d des ersten Quartals widersprüchlich. 1 2 Die Erkenntnis, daß die Herausgeber der Germania

gar nicht die „bewußte

A b s i c h t " gehabt hätten, ein Zentralorgan für den Kulturkampf zu gründen, wurde in zusammenfassenden Rückblicken häufig von den E i n d r ü c k e n überlagert, welche die Zeitung während ihrer Tätigkeit in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hinterlassen hatte. 1 3 Ein K o m p r o m i ß bestand in dem Versuch, die Gründung der Germania

auf das spektakuläre Ereignis des Moabiter Kloster-

„Legationsrath a.D. Friedrich v. Kehler", in: Germania, Nr. 225, III, So., 30. September 1900, 1; Hans Warren, Laien bauen am Bistum Berlin, 23f.; „Das fünfzigjährige Jubiläum des Berliner St. Vinzenzvereins", in: Germania, Nr. 153, So., 8. Juli 1900, Beil., 1. " Vgl. Michael Schmolke, Zur Gliederung der katholischen Pressegeschichte Deutschlands, in: Communicatio Socialis 3 (1970), 312f., 317. Allerdings sollten antikatholische Tendenzen in der Diskussion, die über die Frage der päpstlichen Infallibilität in lehramtlichen Entscheidungen begleitend zum Vatikanum bereits seit 1869 in der Öffentlichkeit geführt wurde, nicht unterschätzt werden (vgl. dazu Rudolf Morsey, Probleme der Kulturkampf-Forschung, in: Historisches Jahrbuch 83 [1964] 222f.). 10

Vgl. die neueren Darstellungen von Klaus Martin Stiegler (Germania, 299f.) und Josef Lange (Die Stellung der überregionalen Tagespresse zum Kulturkampf in Preußen, 84), die sich hierbei aber im wesentlichen an den Ausführungen von Herrmann Orth („50 Jahre 'Germania'", in: Jubiläumsausgabe der „Germania", 17. Dezember 1920) und Klemens Löffler (Geschichte der katholischen Presse Deutschlands, 52—54) orientieren. Zur Gründungsphase vgl. auch Bodo Rolika, Die Belletristik in der Berliner Presse des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Sozialisationsfunktion unterhaltender Beiträge in der Nachrichtenpresse (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 51), Berlin 1985, 397. Rolika schreibt treffend von einer „unentschiedenen Anfangsphase" (ebd.). 12

" „Von der Wiege der Germania", in: Germania, Nr. 301, III, Di., 31. Dezember 1895, 1.

32

I. Katholische Zeitungen und Zeitschriften

sturms im August 1869 zurückzuführen.14 Dieser v o n

Gewalttätig-

k e i t e n b e h e r r s c h t e P r o t e s t v o n A n g e h ö r i g e n des l i b e r a l e n

Bürger-

t u m s gegen die N i e d e r l a s s u n g des D o m i n i k a n e r o r d e n s

Moabit

in

k o n n t e n ä m l i c h als Beleg f ü r d e n v o r g e z o g e n e n B e g i n n des K u l t u r k a m p f s i n B e r l i n g e w e r t e t w e r d e n , aus d e m sich das Z e i t u n g s g r ü n d u n g s m o t i v d e r A b w e h r v o n selbst ergab. 1 5 A l s W i d e r s p r u c h gegenü b e r d i e s e m M o t i v e r s c h e i n t d a n n allerdings die p r o n o n c i e r t s ö h n l i c h e H a l t u n g d e r Germania

ver-

unter ihrem ersten C h e f r e d a k t e u r

F r i e d r i c h P i l g r a m ( 1 8 1 9 — 1 8 9 0 ) , dessen r e d a k t i o n e l l e r T ä t i g k e i t sein N a c h f o l g e r P a u l M a j u n k e „eine A r t ' n a t i o n a l - k a t h o l i s c h e r ' T e n d e n z " u n t e r s t e l l t e 1 6 u n d d e n K a r l B u c h h e i m später als B e w u n d e r e r

Bis-

marcks charakterisierte.17 D i e R e d a k t e u r e , die F r i e d r i c h P i l g r a m f o l g t e n , p a ß t e n die nia

Germa-

an die D y n a m i k i n d e r h e i ß e n P h a s e des K u l t u r k a m p f s w ä h r e n d

So im Jubiläumsartikel „Zum Silber-Jubiläum der Germania", in: Germania, Nr. 1, III, Mi., 1. Januar 1896, 1. Zum Moabiter Klostersturm vgl. Hans Warren, Vor 100 Jahren: Der Moabiter Klostersturm, in: Petrus-Kalender. Jahrbuch für das Bistum Berlin, Berlin 1969, 32—36, 106—110; Meinolf Lohrum, Die Wiederanfänge des Dominikanerordens in Deutschland nach der Säkularisation 1856—1875 (Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie, Theologische Reihe, Bd. 8), Mainz 1971, 166—175; Ernst Thrasolt, Eduard Müller. Der Berliner Missionsvikar. Ein Beitrag zur Geschichte des Katholizismus in Berlin, der Mark Brandenburg und Pommern, hg. von Alfons Erb, Berlin 1953, 185-193. 15 „Zum Silber-Jubiläum der Germania", in: Germania, Nr. 1, III, Mi., 1. Januar 1896, 1. Der Autor dieses Artikels widersprach sich allerdings, indem er an anderer Stelle feststellte, daß sogar Paul Majunke im Frühjahr 1871 seine Arbeit als Chefredakteur der Germania in dem Bewußtsein aufgenommen hätte, zur Mithilfe an einer Friedensarbeit berufen gewesen zu sein (ebd., 2). Vgl. dazu den Artikel „Von der Wiege der Germania", in: Germania, Nr. 292,1, Mi., 18. Dezember 1895, lf. Die Ansicht, daß die Germania bereits als Kulturkampfgründung zu verstehen sei, konnte sich dennoch durchsetzen (vgl. auch die Position von Meinolf Lohrum, Die Wiederanfänge des Dominikanerordens in Deutschland nach der Säkularisation 1856—1875, 125 und 175). 16 Paul Majunke, Geschichte des „Culturkampfes" in Preußen-Deutschland, Paderborn und Münster 1886, 127. 17 Karl Buchheim, „Germania", in: Staatslexikon, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 3, Freiburg 61959, Sp. 796. Zur Person von Friedrich Pilgram vgl. Heinrich Getzeny, Einführung zu: Friedrich Pilgram, Physiologie der Kirche, Mainz 1860, Neuauflage 1931, I—XXX; Walter Friedberger, Die Geschichte der Sozialismuskritik im katholischen Deutschland zwischen 1830 und 1914 (Regensburger Studien zur Theologie 14), Frankfurt/M., Bern und Las Vegas 1978, 73—75. M

Die Periodika des Germania- Verlags

33

der siebziger und achtziger J a h r e an und wurden schließlich selbst zu Protagonisten der Auseinandersetzungen. 1 8 V o r allem Paul Majunke ( 1 8 4 2 — 1 8 9 9 ) war es zu verdanken, daß die Germania

sich während

seiner redaktionellen Tätigkeit v o m M ä r z 1871 bis z u m

Oktober

1878 z u m führenden katholischen Kampfblatt im Kulturstreit entwickelt hatte. 1 9 Paul Majunke war zuvor bei der Kölnischen

Volkszei-

tung tätig gewesen, wegen seines unversöhnlichen Standpunkts gegenüber den liberalen Kritikern des Vatikanums aber in einen Konflikt mit dem auf Mäßigung bedachten Verleger Joseph B a c h e m geraten. 2 0 Bei der Germania, arbeiten.

Unbeirrt

von

konnte Paul Majunke endlich ungehindert zahlreichen

Prozessen

bemühte

er

sich,

„geschickt in der Polemik und allzeit schlagfertig und z u m Kampfe gerüstet" nach dem Grundsatz zu verfahren, „jeden H i e b zurückzugeben". 2 1 Die hohe Zahl der Prozesse, welche die Germania,

dieser

Vorgehensweise zu verdanken hatte, wurde v o n katholischen Zeitgenossen als Beweis für die Tüchtigkeit der Redakteure gewertet. 2 2 Gemessen daran war die Germania

mit 120 Verurteilungen in der

" Zur Stellung der Germania im Kulturkampf und zu den einzelnen Redakteuren vgl. Josef Lange, Die Stellung der überregionalen Tagespresse zum Kulturkampf in Preußen (1871—1878), Bern und Frankfurt a. M. 1974. Eine Zusammenstellung der Redakteure bringt Klaus Martin Stiegler, Germania, 299f. 19 Vgl. Klaus Martin Stiegler, Germania, S. 301, sowie die zeitgenössische Beurteilung von Leo Woerl, Welt-Rundschau über die katholische Presse zu Neujahr 1878, Würzburg 1878, 106f. Majunkes eigene Zusammenfassung des Kulturkampfs (Geschichte des „Culturkampfes" in Preußen-Deutschland, Paderborn und Münster 1886) stellte seinen Standpunkt am deutlichsten heraus. Im Gegensatz zu Pilgrams Tätigkeit sah Majunke erst in seiner eigenen journalistischen Arbeit die korrekte Vertretung des Zentrumsstandpunkts (ebd., 127). 20 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung zwischen Paul Majunke und Karl Bachem in den Artikeln „Erklärung", in: Germania, Nr. 28, II, Di., 4. Februar 1896 1, und „Zur Erklärung des Herrn Dr. Majunke", in: Germania, Nr. 34, II, Di, 11. Februar 1896, lf. S. auch Hermann Cardauns, Fünfzig Jahre Kölnische Volkszeitung. Ein Rückblick zum goldenen Jubiläum der Zeitung am 1. April 1910, Köln 1910, 27f. 21 Leo Woerl, Welt-Rundschau über die katholische Presse zu Neujahr 1878, 106. So war Paul Majunke im Jahr 1874 zu einem Jahr Gefängnis und 600 Mark Geldbuße verurteilt worden. 22 So lautete das Urteil von Leo Woerl (Die Pressverhältnisse im Königreich Preussen, Würzburg 1881, 640) über den Gen??