Kierkegaard und Wittgenstein: "Hineintäuschen in das Wahre" 9783110200911, 9783110175677

Steadfastly resisting established practice in academic writing, Søren Kierkegaard emphasizes the indispensability of &qu

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German Pages 415 [418] Year 2002

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Teil I. VorWorte und VerAntwortung
Teil II. Sagen und Zeigen
Teil III. Anfang Angst Anapher
Teil IV. Wittgensteins ‚Sprung‘
Teil V. Dämonie und Erratum. Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi
Backmatter
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Kierkegaard und Wittgenstein: "Hineintäuschen in das Wahre"
 9783110200911, 9783110175677

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Kierkegaard Studies Monograph Series 7

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the

Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser

Monograph Series 7 Edited by Hermann Deuser

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Mariele Nientied

Kierkegaard und Wittgenstein „Hineintäuschen in das Wahre“

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser Monograph Series Volume 7 Edited by Hermann Deuser

The Foundation for the Søren Kierkegaard Research Centre at Copenhagen University is funded by The Danish National Research Foundation.

앝 Printed on acid-free paper which falls within the guidelines of the ANSI 앪 to ensure permanence and durability.

Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the Internet at ⬍http://dnb.ddb.de⬎.

ISBN 3-11-017567-3 ISSN 1434-2952 © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin All rights reserved, including those of translation into foreign languages. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopy, recording or any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher. Printed in Germany Disk conversion: OLD-Satz digital, Neckarsteinach Cover design: Christopher Schneider, Berlin

Dem Andenken meines Vaters

Inhalt Dank ............................................... Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI 1

Teil I I. I. 1.

VorWorte und VerAntwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. 1. 1. ‚Theorie‘ und Aporie ‚indirekter Mitteilung‘ . . . . . . . . . I. 1. 2. Praxis und Aporie ‚indirekter Mitteilung‘. . . . . . . . . . . . I. 2. Frau Notabene und ihr encliticon Nikolaus . . . . . . . . . . I. 3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte. . . . . . . . . . .

15 19 21 35 49 61

Teil II II. II. 1. II. 1. 1. II. 2. II. 3. II. 3. 1.

Sagen und Zeigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peirce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deixis: Verbalsprachliche Indexicals . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. . . . . . . . … quia plus loquitur inquisitio quam inventio … (Augustin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 3. 2. Wegweiser: Heimatkunde für Begriffe . . . . . . . . . . . . . . II. 3. 3. ‚so‘ – ein umstandsloses Umstandswort . . . . . . . . . . . . .

79 90 97 101 106 108 121 130

Teil III III. III. 1. III. 2.

Anfang Angst Anapher: Der Begriff Angst . . . . . . . . . . Die ersten fünf Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einleitung: Gift und Gegengift . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 142 150

VIII III. 2. 1. III. 2. 2. III. 3. III. 4. III. 5. III. 6.

Inhalt

Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegengift: ‚grammatische Klärungen‘ . . . . . . . . . . . . Caput I, §1: Die Anfänge der theologischen Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlangensprache und Babel (§§ 4-6) . . . . . . . . . . . . Biblische Anfänge: Exkurs über Genesis 1-3 . . . . . . Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse . . . . .

150 158 166 172 181 193

Teil IV IV. IV. 1.

Wittgensteins ‚Sprung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 1. Sehen und Sehen-als. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 2. Deuten: kaiserlose Kleider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 3. Methodisches Intermezzo: Morphologie statt Klassifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 4. Erleben von Bedeutung: Wörter mit Gesicht statt Rechnerei mit Begriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 5. Blindheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 6. Grenzen des Aspektwechsels für den ‚Sprung‘: Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 2. Zugabe: Wittgensteins Philosophieren als Aspekt – wechselprovokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit IV. 3. 1. Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3. 2. Glaube und seine Physiognomie. . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3. 2. 1. Zweifel und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3. 2. 2. Parallelen zu Glauben und Zweifel bei Kierkegaard. IV. 3. 2. 3. Triftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 3. 3. Bekehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203 208 216 224 234 239 245 250 254 262 263 273 286 291 295 302

Teil V V. V. 1. V. 1. 1.

Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi . . . Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern . . Zugabe: Jacques Derrida mit Furcht und Zittern in Donner la mort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311 318 327

Inhalt

IX

V. 2. Der Begriff Angst: Dämonie in ihrer Affinität zum Glaubensritter‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. 3. Die Krankheit zum Tode: dämonische Maieutik . . . . . . . . V. 4. alter ego Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. 5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Literaturliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

389

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

342 349 357

Dank gilt Anselm Haverkamp für geduldige Förderung und Hent de Vries für das Zweitgutachten. Mit der Aufnahme in das Graduiertenkolleg „Repräsentation Rhetorik Wissen“ der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) wurde mir ein Promotionsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zuteil, außerdem großzügige Reisegelder. Den Herausgebern der Kierkegaard Studies – Monograph Series sowie dem Verlag Walter de Gruyter bin ich für die Aufnahme meiner Arbeit verpflichtet. Vom Søren Kierkegaard Research Centre in Kopenhagen habe ich einen Druckkostenzuschuß bekommen. Ich habe in vielen Diskussionen dazulernen können; gründliches Feedback verdanke ich Julia Dietrich, George Pattison und Klaus von Stosch. Schließlich danke ich noch den vielen Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern, die durch unterschiedliche Sorten von Unterstützung und Interesse die Entstehung dieses Buches begleitet und befördert haben.

Einleitung Ich habe in den Schriften Kierkegaards gelesen & das hat mich noch mehr beunruhigt, als ich es schon war. Wittgenstein am 13.2.1937, Denkbewegungen S. 77.

Der Ausgangspunkt meiner Arbeit ist Søren Kierkegaards Diagnose der Unumgänglichkeit von ‚indirekter Mitteilung‘ für die Kommunikation existentiell relevanter Wahrheit: Zugrunde liegt das Problem, daß ein argumentativ schlüssiges und terminologisch gesichertes Sprechen notwendigerweise abstrakt und allgemein sein muß, um kontext- und sprecherindifferent Gültigkeit zu haben. Die Kehrseite von Theoriebildung in Theologie und Philosophie ist, daß die Einzigartigkeit und Komplexität der Daseinsbedingungen des um Wahrheit bemühten Menschen nicht berücksichtigt werden können. Wahrheit gibt es für Kierkegaard jedoch nur nach Maßgabe der spezifischen existentiellen Koordinaten des einzelnen Menschen, welche nicht nur einzigartig sind, sondern auch Veränderungen unterliegen. Dazu kommt, daß Søren Kierkegaard zufolge der Angelpunkt aller Wahrheitsfindung in der persönlichen Gottesbeziehung des Menschen liegt, weswegen eine Transzendenz unabdingbar ist. Folglich wird eine Instanz, die allen menschlichen Denk- und Sprechvermögen als inkommensurabel entzogen bleibt, aber dem einzelnen Menschen sich im Glaubensvollzug eröffnet, zur entscheidenden Größe. Der Mitteilende findet sich in dem grundsätzlichen Paradox, etwas zur Sprache bringen zu wollen, das sich seiner Verfügbarkeit in zweifacher Hinsicht entzieht: Die existentielle Aneignung des Mitgeteilten läßt sich nicht durch die Mitteilung hervorrufen oder stellvertretend durch den Gesprächspartner vollziehen. Sie erledigt sich nicht durch das intellektuelle Begreifen der Botschaft, sondern wird dadurch erst als Aufgabe in ihrer Dringlichkeit zur lebenspraktischen Umsetzung richtig virulent. Die religiöse Qualifizierung des Anzueignenden entzieht sich also nicht nur der Aussagbarkeit, sondern darf sich nicht im Besprechen(wollen) erschöpfen. Ihre Realisierung allerdings lokali-

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Einleitung

siert Kierkegaard in der unveräußerlichen ‚Innerlichkeit‘ des einzelnen Menschen, deren Qualität anderen verborgen bleiben muß. Damit gilt es, die Rede für fremden Sinn zu öffnen, so daß Raum bleibt für die je persönliche Akzeptanz der Wahrheit, welche erst in ihren Auswirkungen auf den Lebensvollzug glücken kann. Gefragt ist folglich eine Logik der Alterität, die den Anderen nicht im Sinne eines zweiten derselben Art auffaßt1, sondern ihm Raum läßt für eine Andersheit2, derer sich der Mitteilende nicht in seiner Rede zu bemächtigen versucht. Kierkegaards Bemühen um ein ‚Nichtidentisches‘, wie in Adornos Anverwandlung mit und gegen Hegels allumfassende Synthese, kann weder im Text noch in der Kunst, wohl aber im glaubenden Vollzug gelingen. Mit diesem Anliegen steht Kierkegaard der Tradition der Negativen Theologie nahe, allerdings ist Negation nicht seine einzige Maßnahme zur Flexibilisierung von Prädikationen und Öffnung der kategorialen Schemata der Sprache. Die einschlägigen Probleme der negativen Prädikation will Kierkegaard vermeiden: einerseits eine dialektische Kontrastbindung des Negierten an sein Gegenteil, andererseits eine Entleerung des Gottesbegriffs, die unklar werden läßt, um wen es geht und ob nicht auch eine Existenzbehauptung zu negieren ist. Zudem teilt er nicht den Optimismus derer, die ihren negativen Weg beschreiben und anderen anbieten, da sie eine mystische Union für erreichbar halten, bei welcher Glauben in höheres Wissen übergeht. Während eine solche Gotteserfahrung sich unter Suspension der Alltagsrealität ereignet, geht es Kierkegaard um die Transformation der konkreten, je eigenen Wirklichkeit. Auch die von Kierkegaard inspirierte und doppelsinnig gemeinte Frage nach der ‚Rede von Gott‘, wie sie Karl Barth in den zwanziger Jahren aufwarf, ist zwar verwandt, aber nicht belangvoll für meine Problemstellung: Barth war es um das Selbstverständnis der Theologie und den Anspruch des Theologen zu tun, während es mir darum geht, wie ein sich aller Rede entziehendes, aber für sie konstitutives Anderes alle philosophischen und sprachlichen Bemühungen affiziert. Bereits diese flüchtige Skizze der Ausgangsproblematik läßt erkennen, daß sich das Kierkegaardsche Programm der ‚indirekten Mitteilung‘ als paradoxale Konstellation herausstellt, die dem performativen Widerspruch einer sich selbst abschaffenden Mitteilung aus1 2

Vgl. lateinisch „alter“: der Andere, Zweite; französisch: „autre“; griechisch „τερος“. Vgl. lateinisch „alius“: irgend ein Anderer, Fremder; französisch: „autrui“, griechisch: „λλος“.

Einleitung

3

gesetzt ist: Einerseits geht es um die Propaganda einer religiösen Botschaft als verbindlich für jeden Menschen, andererseits ist genau das eine höchstpersönliche Angelegenheit, die sich allen Äußerungsformen mit kriterieller Ausweisbarkeit und intersubjektiver Kenntlichkeit entzieht; vielmehr muß sie sich je neu ereignen. Damit ist eine neue Version von Mitteilung erforderlich, die den Anspruch aufgibt, ‚etwas‘, einen durch die Vermittlungsprozesse konstant bleibenden sinnhaften Gehalt, durch die Rede auf Andere verlustlos übertragen zu können. Die Geschlossenheit und Stabilität einer Proposition ist nicht anzustreben, vielmehr gilt es, die Rede zu flexibilisieren und zur Provokation neuer und fremder Sinnfindung dienstbar zu machen. Meine Arbeit zielt darauf, die textuellen und sprachlichen Maßnahmen dieser Programmatik zu untersuchen und ihre Funktionsweisen herauszustellen. Wenn Kierkegaard beispielsweise Pseudonyme sprechen läßt, Ironie verwendet oder Ambivalenzen ansetzt, macht er Anleihen bei literarischen Sprachformen, ohne aber wie dort von der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit entbinden zu wollen. Weder nur illustrativ noch autonom fungierende literarische Stilfiguren lassen die Gegenüberstellung von argumentativen und ästhetischen Texten unbrauchbar werden, ohne sie obsolet zu machen: Beispielsweise der Untertitel von Furcht und Zittern, Dialektische Lyrik, legt Etikettierungen nahe wie ‚Dichterphilosoph‘ und spielt auf ein literarisch-philosophisches Mischgenre an, das sich bei vielen anderen Autoren seit den ersten Texten der abendländischen Tradition auch finden läßt. Ich meine, daß sich dies für die einzelnen Texte Kierkegaards spezifizieren läßt, denn die explizite Theoriefeindlichkeit zeitigt textuelle Konsequenzen, die sich untersuchen lassen: Zu fragen ist, wie die Indienstnahme ästhetischer Mittel zu religiösem Zweck, also das klassische Procedere von Erbauungsliteratur, die Aporie, oder den Balanceakt, wagt zwischen deutlich zu vertretender Botschaft und deren Preisgabe zugunsten fremder, möglicherweise heterogener Akzeptanz. Der bei Kierkegaard eröffnete Spielraum für hermeneutische Aktivitäten provoziert neues und anderes Verstehen, ohne daß dies grundsätzlich als Mißverstehen zu beklagen wäre. Aber gerade diese Freisetzung für fremdes Verstehen glückt gegebenenfalls mißlicherweise gerade dadurch, daß das Anliegen des Sprechers nicht Resultat der Kommunikation ist. Obschon diese Problemkonstellation auf Sprache fokussiert, habe ich noch keinen triftigen Grund genannt, Ludwig Wittgenstein als Partner für Kierkegaard zu wählen und mit ‚und‘ zu verknüpfen, als

4

Einleitung

läge beider Verbindbarkeit auf der Hand. Das Gegenteil ist der Fall. Søren Kierkegaard und Ludwig Wittgenstein haben weder eine akademische Disziplin noch eine Epoche, geschweige denn eine Schule oder einen Diskussionszusammenhang gemeinsam. Sie gehören in zwei unterschiedliche Jahrhunderte und Kulturkreise, zudem kümmern sie sich um ungleichartige Angelegenheiten. Beider Rezeption und ihre schulenbildenden Folgen, die Existenzphilosophie und dialektische Theologie auf der einen, die (vor allem sprach-)analytische Philosophie auf der anderen Seite, sind nicht nur geographisch disparat verlaufen, sondern deren jeweilige Vertreter hielten (und halten zum Teil heute noch) einander für indiskutabel. Eine Beeinflussung Wittgensteins durch Lektüre Kierkegaardscher Texte ist naheliegend, weil Wittgenstein Schriften Kierkegaards zur Kenntnis genommen hat. Aufschlußreich dafür ist zweierlei: Erstens hat Wittgenstein die Zeitschrift Der Brenner in einer Zeit gelesen, als einige von Theodor Haeckers Kierkegaard-Übersetzungen dort erschienen. 1914 wollte Wittgenstein einen großen Teil seines Erbes anonym an mittellose Künstler und Intellektuelle verschenken. Er wandte sich an den Herausgeber des Brenner, Ludwig von Ficker, um mit dessen Rat und Kontakten die dafür geeigneten Kandidaten zu finden. Abgesehen von den drei ‚höchstdotierten‘, nämlich Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Carl Dallago, ließ Wittgenstein von Ficker freie Hand bei der Vergabe der Gelder; einen der geringeren Beträge bekam auch Theodor Haecker. Nach dieser Transaktion wurden Wittgenstein 1915-1921 alle Nummern des Brenner zugeschickt.3 Zudem erschließt sich eine Rezeption Kierkegaardscher Texte durch Wittgenstein aus den Tagebüchern, aus Notizen, die posthum unter dem Titel Vermischte Bemerkungen zusammengestellt publiziert wurden, sowie aus einigen Äußerungen Freunden gegenüber. In diesen Fällen läßt sich Wittgensteins tiefe Wertschätzung feststellen,

3

1914 wurde „Der Pfahl im Fleische“ und die „Kritik der Gegenwart“ im Brenner publiziert, beide Texte sind 1988 nochmal in Wien als Buch erschienen. Im gleichen Jahr erschien ein Auszug aus den Vorworten und 1915 eine der Gelegenheitsreden, „An einem Grabe“, unter dem Titel „Vom Tode“. 1916-1918 gab es kriegsbedingt keine Ausgaben. Am 5.8.1921 schreibt Wittgenstein an Engelmann, daß er sich vom Brenner distanziert habe. Danach gibt es noch andere Kierkegaard-Übersetzungen im Brenner, vornehmlich Tagebucheinträge und Reden der letzten Lebensjahre. Diese Informationen verdanke ich Monika Seekircher vom Brenner-Archiv in Innsbruck.

Einleitung

5

die durchaus in Superlativen ihren Ausdruck findet4. Doch obschon Wittgensteins persönliche Bewunderung sein Leben lang anhält, hat sie in seinen akademischen Bemühungen keine (nachweisbare) Wirkung gezeitigt. In den Texten, in denen Wittgenstein philosophisch arbeitet und welche er teilweise für eine Publikation vorbereitet hat, finden sich kaum Spuren seiner Kierkegaard-Lektüre. Sicher ist gerade im Fall Wittgenstein keine Trennschärfe zwischen privaten und akademischen Texten zu behaupten, doch meine ich, in ersteren weniger argumentatives Potential als Meinungsbekundungen zu finden. Wittgenstein gibt wieder, was er bei Kierkegaard gelesen hat, oft stimmt er dem zu und schließt Beschreibungen seiner Stimmung und emotionalen Befindlichkeit an. Solche Stellen sind interessant zu lesen, ich zitiere sie ergänzend, aber basiere keine Agrumentation darauf. Die faktische Verbindung zwischen Kierkegaard und Wittgenstein verdient Aufmerksamkeit vor allem in biographischem Interesse – aber da sehr wohl. Allein aus diesem Befund geht hervor, daß Kierkegaard und Wittgenstein kaum für ‚Einflußforschung‘ etwas hergeben; genauso wenig eignen sie sich für einen Vergleich, welcher die Leistungen des einen mit denen des anderen mißt und sie als Konkurrenten im Umgang mit einer Sachfrage auffaßt. Auch eine instrumentelle Indienstnahme Wittgensteinscher Sprachphilosophie für das oben skizzierte Thema wäre unangebracht; Wittgenstein ist kein Sekundärautor, vor allem nicht für religiöse Themen. Die Frage nach der Vermittlung stellt sich für die Kombination meiner Autoren neu und muß sich von Friedrich Nietzsches trefflicher Pointierung herausfordern lassen – auch wenn dieser Autor im folgenden keine Rolle mehr spielen wird. „Gegen die Vermittelnden Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen.“5

Vermittlung – so gibt dieses Zitat zu bedenken – läuft Gefahr, zwei Größen einander gemäß zu machen und deren spezifische Qualität zu 4

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Vgl. beispielsweise Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche, Hg.: Rush Rhees, Frankfurt 1991; außerdem die Biographien. Besonders viel Erwähnung findet Kierkegaard in den Denkbewegungen. Tagebücher von 1930-1932, 1936-1937, herausgegeben und kommentiert von Ilse Somavilla, Frankfurt 1999. Die Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch 228; Kritische Gesamtausgabe (Hg.: Colli/Montinari) Berlin/New York 1973, 5. Abteilung, Band 2, S. 189.

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Einleitung

nivellieren, auf ein Mittelmaß zu bringen und so zu mißachten. Ein forcierter Annäherungsversuch disparater Autoren kann keinem von beiden gerecht werden. Eine Vermittlung, der das Mittelnde fehlt, gerät selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit und muß sich Befürchtungen, die in jedem Vergleich die Gleichmacherei sehen, stellen. Dagegen gilt es zu zeigen, wie die Dopplung des Horizonts unter Bezugnahme auf zunächst disparate Autoren den Blick nicht unscharf machen muß. Gerade unter Einbezug des theologisch weitgehend abstinenten Wittgenstein wird deutlich, daß die ausgehend von Kierkegaard gewonnene Problemkonstellation sprachliches Funktionieren überhaupt in seinen vielfältigen Spielarten befragen und untersuchen läßt. Die suggestive und mißverständliche Rede vom ‚Indirekten‘ läßt sich spezifizieren, so daß mit Wittgenstein die unterschiedlichen Leistungen von Sprache gegeneinander konturiert werden können. Die gezielte Umwegigkeit indirekter Rede läßt das Ideal des Direkten fragwürdig werden. Ohne eine parallelisierend abgleichende Lektüre für fruchtbar zu halten und weniger über Kierkegaard und Wittgenstein als viel mehr mit ihnen arbeitend, lassen sich zudem Konvergenzen und Komplementaritäten aufzeigen, die eine gegenseitige Erhellung und Aufschluß über die Funktionsweisen von Sprache ermöglichen. Meine Arbeit gliedert sich in fünf Teile, von denen drei sich vornehmlich Kierkegaard widmen, während der zweite und vierte Wittgenstein diskutieren. Der Aufbau ist flexibel, die Verzahnung der Teile und Kapitel durch meine Reihenfolge ist nicht zwingend. Es handelt sich um unterschiedliche Anläufe mit meist interdisziplinärem Vorgehen, um dem Syndromcharakter des Problems ‚indirekter Mitteilung‘ Rechnung zu tragen. Eine erste Diagnose der Erfordernis ‚indirekter Mitteilung‘ anhand von drei Beispielen in meinem ersten Teil läßt deutlich werden, daß die textuellen und sprachlichen Mittel, die diesem Anliegen geschuldet sind, darauf zielen, eine eindeutige Lektüre zu verunsichern. Damit wird eine Entscheidung provoziert, die eine der möglichen Lesarten favorisiert, was der erste Schritt einer für existentielle Wirksamkeit unabdingbaren ‚Aneignung‘ ist. Die Pseudonymsetzungen erweisen sich als nur eine von vielen Maßnahmen, eine verantwortliche AutorInstanz zu verweigern, um einzig den Leser zur Autorität seiner Sinnfindung zu machen: Die Sprecherposition ist nur provisorisch besetzt, denn der Autor als fiktive Figur ist jeder Zurechenbarkeit entzogen. Allerdings taucht schon hier die Frage auf, ob Kierkegaards Insistieren

Einleitung

7

auf einer vollkommen unkenntlichen ‚verborgenen Innerlichkeit‘, die sich nie zuverlässig äußert, dazu führt, jegliche Art von Kommunikation ad absurdum zu führen. Es deutet sich bereits in der Ausgangskonstellation an, was letztlich eingeräumt werden muß, nämlich daß sich Religiosität (und jedes andere Fürwahrhalten) in der Lebensführung ausdrückt, sich zeigt. Dieses ‚sich Zeigen‘ gewinnt mit Rückgriff auf Wittgenstein (Teil 2) Kontur, erfordert freilich eine Nachzeichnung der Gegenüberstellung und Komplementarität von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ in ihren Modifikationen: In seiner frühen Philosophie macht Wittgenstein den Unterschied zwischen ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ auf, indem er die Bedingungen sinnvoller Sagbarkeit in seinem Tractatus logico-philosophicus herausarbeiten will. Was er mit ‚Zeigen‘ meint, bleibt nur ausgegrenzt und wird nicht eigens qualifiziert. Man kann es als Sammelname für alle Sorten von Sprachgebrauch, die nicht den Bedingungen sinnvollen Sagens gehorchen, auffassen und diese ex negativo zu rekonstruieren versuchen. So fallen alle Wertfragen – seien es ethische, ästhetische oder religiöse – unter diesen Titel, aber auch die für jedes Sagen unabdingbare Grundfunktion, nämlich die Abbildung der Wirklichkeit: Ein wahrer Satz sagt etwas über die von ihm besprochene Tatsache, indem er eine strukturelle Isomorphie zu ihm aufweist, welche wiederum nicht aussagbar ist, sondern sich zeigt. Da der Text des Tractatus selbst den in ihm elaborierten Standards sinnvoller Sagbarkeit nicht genügt und metasprachliche Überlegungen anstellt, fällt er seinem eigenen Unsinnsverdikt zum Opfer. Damit ließe er sich als Beispiel des zeigenden Modus auffassen, um davon die Verfahren des Zeigens abzuleiten. Obschon Wittgenstein in seinem zweiten, späteren Ansatz davon absieht, Sprache auf eine Grundfunktion zu reduzieren, bleibt die gegenseitige Angewiesenheit von Sagen und Zeigen (implizit und modifiziert) virulent. Da er aber hier erst recht eine ‚Grammatik des Zeigens‘ schuldig bleibt (und bleiben muß), so daß wieder unbesprochen bleibt, was ‚Zeigen‘ eigentlich ausmachen kann, ist es hilfreich, die in den Philosophischen Untersuchungen gebotenen sprachliche Verfahren semiotisch ausgeweitet zu untersuchen. Unter Zuhilfenahme des Semiotikers Charles Sanders Peirce und des Linguisten Karl Bühler läßt sich die Spezifik zeigender Zeichen charakterisieren, so daß deren Relevanz sich auch beim späten Wittgenstein verfolgen läßt. Sprachliche Zeichen gewinnen ihre Bedeutung durch interne Relationen im Codeganzen und behalten diese relativ stabil, so daß Bedeutung arbiträr ist und konventionell geregelt verbürgt wird. Anders als solche sa-

8

Einleitung

genden Zeichen sind zeigende höchst kontextsensitiv und haben keine feste Bedeutung, sondern gewinnen diese erst in der jeweiligen Situation. Obschon sie auf etablierte Praktiken angewiesen sind, um überhaupt funktionsfähig zu sein und als Zeichen verwendet zu werden, verdankt sich ihre Leistung immer neuer Aktualisierung im Hier und Jetzt der konkreten Umstände und läßt den Referenten dementsprechend gewinnen. Statt der stellvertretenden Leistung sagender Zeichen stehen Zeige-Zeichen nicht für Abwesendes, sondern sie sorgen dafür, daß Offensichtliches und Präsentes neu arrangiert wird und verweisen auf es in seiner vollen Komplexität und Partikularität. So wird es möglich, den Wahrnehmungsraum anders zu sehen, ohne daß sich an oder in ihm etwas ändert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß Kierkegaard und Wittgenstein sagende Zeichen, also Verbalsprache, zeigend verwenden, d. h. sie lassen die Semantik durch Pragmatik beeinflussen, prägen oder gar bestimmen. Bei beiden gewinnt das Wie der Vermittlung dem Was gegenüber Priorität, so daß jede Äußerung einer (existentiell-wirksamen oder lebenspraktisch erfolgreichen) Lokalisierung bedarf, um signifikant zu werden. Ich untersuche, wie Wittgenstein die Notwendigkeit eines handlungsrelevanten öffentlichen Kontexts und die Einbettung in die ‚Lebensform‘ für die Verstehbarkeit von Sprache nicht nur herausstellt, sondern auch in seinen Texten für deren Verständnis unverzichtbar werden läßt. Sprachliche Zeichen vermögen für Sinn nicht mehr zu verbürgen, sie bedürfen einer aktualisierenden Leistung, an welcher die Relevanz des Gesagten sich zeigt und so erst bewahrheitet. Damit ist es die zeigende Qualität von Sprache, die eine konkrete Einbettung – bei Kierkegaard: Aneignung – erforderlich macht und erst dadurch sinnkonstitutive Konsequenzen zeitigt. Nicht nur transzendente Unsagbarkeiten, wie das berühmte ‚Mystische‘ beim frühen Wittgenstein, sondern auch jeder Normalfall des Alltäglichen ist ohne Berücksichtigung dieser Funktionsweise von Sprache nicht zu besprechen. Das religiöse Absolute jenseits menschlichen Begreifens stellt die Sprache vor eine vergleichbare Herausforderung wie die vortheoretische Erfahrung der Realität in ihrer viel zu komplexen Mannigfaltigkeit. Dem läßt sich dadurch begegnen, daß Sagen und Zeigen nicht rigide einander ausschließend gegenübergestellt werden. Mit der Erarbeitung der semiotischen Implikationen stellen sich zeigende Modi als unabdingbar für jedes Sagen heraus – eine Einsicht, die im Peirceschen Zeichenmodell vorformuliert wird. Sowohl Wahrheitsanliegen als auch das instrumentelle Verwenden von Sprache im Alltag vollziehen sich immer neu und sind situiert, mittig, in bestehenden aber veränderlichen Strukturen. Eine solche Zwi-

Einleitung

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schen-Befindlichkeit, wie Kierkegaard sie als ‚inter-esse‘ die menschliche Existenz qualifizieren läßt, ist ihrer Voraussetzungen und ihres Anfangs nicht mächtig, sondern verdankt sich Kontingenzen, etablierten Praktiken, faktischen Gegebenheiten und bestehenden Determinanten. Dies einzusehen hat die Konsequenz, das eigene Operieren immer auch unkalkulierbaren Faktoren anheimzustellen und die dynamische Bewegtheit auch des eigenen ‚inter-esse‘ mitzuvollziehen. Wie es zu dieser Konstellation hat kommen können, findet theologisch seinen Ausdruck im Dogma der Erbsünde: Gegen Gottes Willen eine Initiative zu starten, um die Ebenbildlichkeit mit Gott auf eigene Faust zu realisieren, läßt von Gott abfallen und zieht Strafen nach sich: alle Komponenten menschlicher Existenz sind die Folge dieses ersten Falls. Kierkegaard widmet dem seinen Begriff Angst, welcher den dritten Teil meiner Arbeit beschäftigt und gleichsam nachträgt, was die Situation, die ‚indirekte Mitteilung‘ nötig macht, heraufbeschworen hat und nachhaltig zeichnet. Das Hauptanliegen dieses als akademischer Traktat maskierten Textes ist es, alle Arten von Theoretisierungsversuchen über Sünde als verfehlt zu verabschieden. In einem analog zu Wittgensteins ‚grammatischen Klärungen‘ verfahrenden Procedere macht sich Kierkegaard daran herauszustellen, welche Akzentuierungen die Sünde in Theologie, Philosophie und Psychologie erfährt. Dabei stellt sich heraus, daß jede Disziplin zur Erklärung dieses Mißstands beiträgt, doch ohne sein Eintreten plausibilisieren zu können. Macht man die Sünde nämlich zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung, so lenkt man von der eigenen Betroffenheit ab und verstellt und verdrängt durch Termini und Argumente, was präsent und der Fall ist. Sprache nimmt dafür eine Schlüsselfunktion ein, denn in ihrem hermeneutischen Bemühen zur Rekonstruktion eines vergangenen Falls, dessen Auswirkungen bis heute akut sind, läßt sie verkennen, selbst zu exemplifizieren, was lieber nur besprochen werden sollte. Dies argumentiert Kierkegaard im Begriff Angst nicht explizit, sondern er läßt es vollziehen: der vom Leser erwartete Aufschluß bleibt aus und statt dessen wird das Scheitern allen Begreifens erlebt, was einen (hermeneutischen) Bemächtigungsversuch als neuen Fall instantiiert. Ein Exkurs über den biblischen Genesistext untersucht, wie dort Anfänge vorkommen und welche Rolle Sprache dabei spielt. Spätestens wenn die Schlange spricht, hat Sprache nämlich bereits ihre Funktion verloren, ein zuverlässiges Mittel der Darstellung von Abwesendem zu sein und ist potentiell lügnerisches, immer auch ambivalentes Zeichen. Viele der Kierkegaardschen zentralen Vokabeln in der Angstabhandlung sind qua Zeichen postlapsarisch gezeichnet und sind

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auch und gerade dann, wenn sie als Begriffe herangezogen werden (so z. B. ‚Angst‘ und ‚Geist‘) überdeterminiert und hoffnungslos doppeldeutig. Damit versagt Sprache eine kriterielle Ausweisbarkeit wahrer Rede sowie eine Garantie sinnvollen Sprechens; vielmehr ist sie nur wahrheitsfähig, wenn sie den Anspruch definitorischer Sicherbarkeit und kontextindifferent stabiler Bedeutung aufgibt. Die zeigenden und sagenden Sprachfunktionen machen nicht nur eine Ausweitung über die Verbalsprache hinaus auf Semiotik erforderlich, sondern greifen auch auf epistemologische Konsequenzen über (Teil 4): Deutlich wurde, daß ein zeigendes Zeichen die Aufmerksamkeit auf die präsente Konstellation refokussiert und so das Gegebene zu einem anderen werden läßt, ohne an ihm auch nur ein Detail zu ändern oder von etwas zu abstrahieren. Dies läßt sich auch im großen Stil und mit weltanschaulicher Tragweite andenken, so daß Kierkegaards berühmt gewordener ‚Sprung‘ neu diskutabel wird. Zwei Themen bei Wittgenstein sind dafür aufschlußreich: Im zweiten Teil seiner Philosophischen Untersuchungen gibt es ein Kapitel zum Aspektwechsel. Ausgangspunkt ist das aus der Gestalttheorie geborgte Erlebnis, daß etwas auf mehrere Weisen gesehen werden kann, ohne daß sich auf der manifesten Ebene des Gesehenen eine Änderung feststellen läßt. Wenn man in einem Vexierbild plötzlich etwas erkennt, wenn man bei einer Zeichnung Vorder- und Hintergrund wechseln lassen kann oder wenn ein- und dasselbe Wort zweierlei Funktionen und Bedeutungen im Satz haben kann, wird ein sicherbar Identisches zum ganz Anderen. Auf paradoxe Weise koinzidieren Identität und Andersheit, ohne daß dafür ein ausschlaggebendes Moment auszumachen wäre. Wittgensteins Beispiele in diesem Kapitel sind sowohl optische als auch musikalische, verbale und künstlerische und entziehen sich einer einhelligen Theoretisierbarkeit. Diese Heterogenität entspricht der für Gestalten charakteristischen Transponierbarkeit und läßt es zu, von der Mikroebene der Kippfiguren auf die umfassende Ebene einer Weltsicht überzugehen. Analog zum Paradigmenwechsel, wie ihn Thomas Kuhn versteht, handelt es sich um aspekthafte Sicht der ganzen Welt, was religiöse Brisanz gewinnen kann. Explizit ist Bekehrung Thema von Wittgensteins ganz späten Arbeiten, die unter dem Titel Über Gewißheit posthum publiziert wurden. Ausgehend von der epistemologischen Problematik eines gegen skeptische Einwände zweifelsresistent aufgebauten Wissens, kommt Wittgenstein dazu, Gewißheit mit Glauben und nicht mit Wissen zu korrelieren. Glaube gewinnt den Status des umfassenden Modus, dank dessen sich Selbstverständlichkeiten etablieren und Grundlosig-

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keiten akzeptieren lassen. Dadurch erst kann Wissen, das Objektivität und Begründbarkeit verpflichtet ist, möglich werden, weil erst nach Maßgabe des geglaubten Weltbilds die Standards für Rationalität etablierbar sind. Wissen muß begründbar sein und sich objektiv ausweisen lassen, Glaube hingegen ist in allen Handlungen und der Einstellung zur Welt als ganzer implizit wirksam und kann auch gegen alle ‚guten‘ Gründe fortbestehen. Aufschlußreich dafür, was jemand glaubt, ist nicht, was er sagt, sondern wie er lebt zeigt, was es mit seinen Äußerungen auf sich hat. Mit Wittgenstein läßt sich die Auffassung einer ‚religiösen Physiognomie‘ erarbeiten, welche unverkennbar diagnostizierbar ist, aber nicht durch einen Merkmalskatalog, vor allem nicht durch ein explizites Bekenntnis und die Befolgung bestimmter Rituale, eindeutig und erschöpfend charakterisierbar ist. Eine Bekehrung betrifft diese fundamentale Ebene, die sich keiner sicheren Begründbarkeit verdankt, aber dafür verantwortlich ist, was jemand als Grund gelten läßt. Damit zeichnet sie sich vor allem dadurch aus, daß sie sich nicht in zwingender Konsequenz vollzieht und daß man sich ihr verweigern kann. Trotz ihrer disparaten Anliegen kommen Wittgenstein und Kierkegaard zu einer ähnlichen Akzentuierung und Wertschätzung des Glaubens, welcher in seiner epistemologischen Qualität von religiösem Glauben nicht wesentlich differiert. Er ermöglicht Fürwahrhalten von Gewißheiten und lebenspraktische Bewältigung trotz des theoretisch nicht zu überwindenden Skeptizismus bei beiden. Damit erfährt die traditionelle (neuzeitliche) Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen eine Reformulierung, die nicht nur die kognitiven Aspekte dieser Modi des Fürwahrhaltens einbezieht. Mein letzter Teil greift die im ersten Teil eröffnete Problematik ‚indirekter Mitteilung‘ wieder auf: Das oben skizzierte Szenario von Kierkegaards ‚indirekter Mitteilung‘ mit der Schlüsselfunktion von verborgener Innerlichkeit steht schon bei oberflächlicher Betrachtung quer zu Wittgensteins ‚Privatsprachenargument‘: Wittgenstein macht darauf aufmerksam, daß es keinerlei Aufschluß über ‚Inneres‘, also Gefühle, Gedanken, Schmerzen oder Vorstellungen, eines anderen Menschen geben kann, als die Weisen, wie es sich ausdrückt, offensichtlich wird, sich zeigt. Die Korrelation von inneren Vorgängen mit äußeren Anzeichen ist auf ihre Korrektheit nicht sicher prüfbar; sie erweist sich dabei als irreführendes Modell, welches sich am Besitz eines Gegenstandes orientiert. Vielmehr ist dieser Dualismus von innen und außen aufzugeben, denn der Ausdruck von Schmerzen beispielsweise ist von diesen nicht isolierbar. Kierkegaards Auffassung

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von religiöser Innerlichkeit operiert auf weiten Strecken mit der innen/außen Dichotomie und gerät ad absurdum, wenn nicht die Ausdrucksqualität, das kaum mißverständliche und hochkomplexe „sich Zeigen“ einer Gesinnung im Leben des Einzelnen, letztlich Oberhand gewinnt. Ich zeichne nach, wie Kierkegaard die Dissoziation von innen und außen in aller Radikalität ausspielt und durch die konsequenten Ambivalenzen sowie zeigende Sprachverwendung Gefahr läuft, jede Mitteilung ad absurdum zu führen: Die aufgegebene Botschaft wird nicht dem Gesprächspartner zur Aufgabe eigener Sinnfindung, sondern sie wird preisgegeben der Indifferenz eines sich durchweg enthaltenden, selbst zunichtemachenden Autors. Kierkegaard droht zu verspielen, was die spielerische Freisetzung von Bedeutung motiviert hat, nämlich die ernsthafte und verbindliche Aneignung mit lebensprägender Relevanz. Spätestens dann, wenn die äußerliche Konformität mit einer areligiösen und scheinreligiösen Umgebung die Dringlichkeit authentischen Existierens vergessen zu machen droht, muß sich das Gottesverhältnis eines Menschen zeigen, um nicht mit seinem dämonischen Doppelgänger verwechselt zu werden. Schließlich muß Kierkegaard deshalb – in aller Vorsicht – vereindeutigende Maßnahmen zulassen und auf textueller Ebene sich zeigen lassen, worum es (ihm) eigentlich geht. Freilich bleibt wie bei Wittgenstein eine eindeutige und sichere Ausweisbarkeit anhand von bestimmbaren Merkmalen versagt. Doch gelingt eine Beglaubigung zeigender Zeichen durch deren Verwendung in einer existentiell relevanten Rolle. Ich führe anhand von mehreren Beispielen vor, wie sich bei Kierkegaard das religiöse Anliegen textuell zeigt und zu vereindeutigenden Maßnahmen führt. Gelingt ein Text ästhetisch, so steht er für sich und verliert die Verweisungsfunktion auf ein Höheres, dessen er nicht habhaft werden kann. Ein Werk, das den Meister lobt, lobt nicht Gott. In diesem Grunddilemma christlicher Ästhetik findet sich Kierkegaards Schreiben, es läuft Gefahr, die zum Zwecke der Erbauung eingesetzten ästhetischen Mittel als solche zu schätzen oder die Texte zur Grundlage für argumentative theologische oder philosophische Erörterung zu machen. Deswegen läßt Kierkegaard Störfaktoren einbrechen, welche erratisch sich dem Gesamtzusammenhang verweigern und jede argumentative Rekonstruktion auflaufen lassen. So soll die ästhetisch oder akademisch indifferente Rezeption scheitern, so daß auf die religiöse, nicht darstellbare Dringlichkeit aufmerksam gemacht werden kann. Wenn schließlich Jesus Christus selbst, wie Kierkegaards Schriften, zum ‚Zeichen des Widerspruchs‘ stilisiert wird, gibt Kierkegaard

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seine Aktivität des Schreibens dezidiert als seinen Modus der Nachfolge aus. Indem er das macht, privilegiert er eine Lesart, beeinträchtigt damit die Authentizität der imitatio und verrät paradoxerweise das eigentliche Anliegen genau dadurch, daß er es bekennt. Aber auch diese Schwächung der Wirksamkeit und Charakteristik ‚indirekter Mitteilung‘ ist ihm nur zu bewußt, weswegen er den religiösen Klartext, die letzten definitiv klärenden Worte über seine Autorschaft als Werkzeug der göttlichen Vorsehung, in die Anführungsstrichelchen fremder Rede setzt und posthumer Publikation vorbehält.

Teil I VorWorte und VerAntwortung So bedürfen auch solche Unterhaltungen, wie die gegenwärtige, wenn Männer darin begriffen sind, wie die meisten unter uns sich zu sein rühmen, keiner fremden Stimme und keiner Dichter, welche man nicht einmal befragen kann über das, was sie sagen, so daß auch die, welche ihrer in ihren Reden erwähnen, teils sagen, dies habe der Dichter gemeint, teils wieder etwas anderes, indem sie von einer Sache reden, welche sie nicht auszumitteln vermögen; sondern solcher Unterhaltung entschlagen sie sich und unterhalten sich selbst durch sich selbst, indem sie sich in eigenen Reden aneinander versuchen und versuchen lassen. Solche, dünkt mich, sollten ich und du lieber nachahmen und, die Dichter beiseite setzend, aus uns selbst miteinander reden, um die Wahrheit und uns zu erforschen. Sokrates in Platons Protagoras 347 e Wann immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen zu begreifen trachtete, hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt. Theodor W. Adorno, 1. Satz in Kierkegaard

Als Ludwig Wittgenstein zwischen 1920 und 1926 in niederösterreichischen Dörfern als Volksschullehrer arbeitete, bekam er immer wieder Ärger mit Eltern, deren Kinder er im Unterricht geschlagen hatte. Es handelte sich nämlich nicht um eine Maßnahme zur Disziplinierung von Rabauken, sondern um Wittgensteins reflexartige Reaktion auf Unverständnis und Begriffsstutzigkeit seiner Schüler. Aufsehen erregte weniger die Tatsache, daß es im Unterricht körperliche Züchtigung gab, als vielmehr, daß auch artige Mädchen davon betroffen waren. Als schließlich ein kränkelnder Junge nach einer Ohrfeige kollabierte, gab dieser Vorfall Wittgenstein Anlaß, die Tätigkeit als Volksschullehrer zu beenden.1 1

Darüber berichten Biographen, z. B. Ray Monk Wittgenstein. The Duty of Genius, London/New York 1991, S. 232f. und 370 sowie Konrad Wünsche Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein, Frankfurt 1985, besonders S. 134-146.

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Diese biographische Episode zeugt von der Hilflosigkeit dessen, der sich nicht mitteilen kann, und illustriert die (immer nachher zutiefst bedauerte) Unfähigkeit, damit anders umzugehen, als das in den Philosophischen Untersuchungen diskutierte „mit einem Schlag erfassen“ wortwörtlich genommen für effektiv zu halten. Die vielzitierte „Abrichtung“ erweist sich vor diesem Hintergrund als zu simpel und unzureichend; nicht nur in den niederösterrreichischen Dörfern hat sie sich nicht bewährt, um Verstehen beizukommen.2 Der Lehrer ist darauf angewiesen, daß der Schüler irgendwann selbständig erwartungsgemäß reagiert, denn nur das ist kriteriell für fremdes Verstehen. Es macht keinen Sinn, nach einem seelischen Vorgang oder einer geistigen Tätigkeit zu fragen, denn die läßt sich weder nachweisbar finden noch kontrollieren.3 Wenn Lehre und Mitteilung glücken, so daß beim anderen ankommt, worauf es ankommt, geschieht das trotz einer nicht eliminierbaren Unberechenbarkeit und Unvermittelbarkeit zwischen eigenem und fremdem Verstehen und der irreduziblen Asymmetrie zwischen erster und dritter Person. Entsprechendes gilt für Empfindungen und alles, was man geneigt ist, ‚innen‘ im Körper als verborgen zu lokalisieren, wie das ‚Privatsprachenargument‘4 zu bedenken gibt. Religiöse ‚verborgene Innerlichkeit‘, die sich nicht zwingend, zuverlässig und allgemeinverständlich äußert und bei Søren Kierkegaard den Kern existentieller Wahrheit ausmacht, kann demzufolge kein Thema sein und entfällt der Lehrbarkeit. Darin sind sich Kierkegaard und Wittgenstein, der in seiner frühen Phase dezidiert alle Sinnund Wertfragen (seien sie ethisch, ästhetisch oder religiös) aus dem Erklärbaren, theoretisch Faßbaren und Sagbaren ausschließt, grundsätzlich einig5. 2 3 4

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Vgl. PU 138f., 191, 318. Zur Abrichtung PU 5, 27; Z 383, 419. Vgl. PU 146, 153ff. PU 243-315. Abgesehen von den vielen Aufsätzen hierzu gibt es eine ausführliche Diskussion sowohl Wittgensteins als auch seiner Interpreten bei Severin Schroeder Das Privatsprachenargument. Wittgenstein über Empfindung und Ausdruck, Paderborn etc. 1998. Einschlägig hierfür ist der Vortrag über Ethik, wo vor der Versuchung gewarnt wird, relative Werturteile absolut auszudehnen und über die Welt als ganze zu befinden. Vgl. zudem die letzten Sätze des Tractatus sowie Wittgenstein und der Wiener Kreis, S. 116f.: „Wenn man mir irgendetwas sagt, was eine Theorie ist, so würde ich sagen: Nein, nein! Das interessiert mich nicht. Auch wenn die Theorie wahr wäre, würde sie mich nicht interessieren – sie würde nie das sein, was ich suche. Das Ethische kann man nicht lehren. Wenn ich einem anderen erst durch eine Theorie das Wesen des Ethischen erklären könnte, so hätte das Ethische gar keinen Wert.“

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Gleichsam wider bessere Einsicht unternimmt Kierkegaard, anders als Wittgenstein, dennoch den Versuch, das zu kommunizieren, was sich jeder Mitteilbarkeit entzieht. Seiner in den Papirer geäußerten Forderung nach einer „christlichen Redekunst“ nach dem Modell der aristotelischen Rhetorik6 hat er zwar nur ansatzweise theoretische Konzipierung folgen lassen7, doch schlägt sie sich in seinen Texten als diverse Maßnahmen ‚indirekter Mitteilung‘ nieder. Sie wird durch das auch bei Wittgenstein aufkommende Dilemma des Lehrenden erforderlich, nämlich die Selbständigkeit und freie Entwicklung des Lernenden zu wollen, aber dadurch unweigerlich die Standards vorzugeben und Kontrolle auszuüben. Allein mit dem Vorhaben, einem anderen etwas beibringen und mitteilen zu wollen, bewegt sich der Lehrer auf einem Terrain, das ihn nichts angeht und über das er letztlich machtlos bleibt. Dazu kommt, daß das letztlich religiöse Anliegen sich als transzendente Wahrheit allen Denkversuchen entzieht und nur als je persönliches, unveräußerliches Gottesverhältnis realisierbar ist. Ich werde im folgenden nachzeichnen, wie Kierkegaard unter Rückgriff auf die sokratische Maieutik einerseits und seine existentiell akzentuierte christliche Anthropologie andererseits zu diesem Befund einer Hermeneutik unter unmöglichen Bedingungen kommt. Dies läßt sich gut anhand des Pseudonyms Johannes Climacus skizzieren, denn der diskutiert die Unumgänglichkeit von Maßnahmen ‚indirekter Mitteilung‘ wie Kierkegaard in seinen Vorlesungsentwürfen unter Einbezug der Grundlagen der Kierkegaardschen Existenzauffassung mit Kontrastbindung an Hegel (I.1.1.). Danach werde ich vorstellen, wie das Climacus-Pseudonym mit seinem Befund umgeht und versucht, die Autorität von Autorschaft zu verweigern, keine Aussage 5

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VB S. 525 (1946) „Das Christentum sagt unter anderem, glaube ich, daß alle guten Lehren nichts nützen. Man müsse das Leben ändern. (Oder die Richtung des Lebens.) […] eine gute Lehre nämlich muß einen nicht ergreifen; man kann ihr folgen, wie einer Vorschrift des Arztes. – Aber hier muß man von etwas ergriffen und umgedreht werden. – (D. h. so verstehe ich‘s.) Ist man umgedreht, dann muß man umgedreht bleiben. Weisheit ist leidenschaftslos. Dagegen nennt Kierkegaard den Glauben eine Leidenschaft.“ Pap. VI A 17 (1845). Es gibt in den Papirer allerhand Bezüge zu Aristoteles und auch in den publizierten Texten finden sich teilweise explizite Spuren einer AristotelesLektüre. Man müßte sich darum eigens kümmern, es ist eine echte Forschungslücke. Ich zähle dazu die nur entworfenen Vorlesungen über ethisch-religiöse Mitteilung von 1847 (Pap. VIII 2 B 79-89). Erstmals vollständig in deutscher Übersetzung erschienen diese Entwürfe 1997 als eigenes Bändchen in Tim Hagemanns Übersetzung. Auszüge hat Gerdes 1963 im 2. Band der Tagebücher, S. 113-127, präsentiert.

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zu machen und seinem Text jegliche Relevanz abzusprechen (I.1.2). ‚Indirekte Mitteilung‘ erweist sich als zutiefst ironische Angelegenheit, die nicht nur negiert, also etwas sagt, um das Gegenteil zu meinen, sondern sagt und nicht sagt durch die Art ihres Vollzugs. Zwei extreme Manifestationsformen davon stelle ich anhand der folgenden Beispiele vor, um das Spektrum der ‚Indirektheit‘ in den Schriften Kierkegaards zu eröffnen: Das Pseudonym Nikolaus Notabene will mit seiner Schriftstellerei keine ‚Sache‘ verhandeln, weswegen er nur Vorworte schreibt. (I.2.) Aber der Versuch einer bloßen Prozedur mit inhaltlichem Leerlauf erscheint als Buch und vermag der mit dieser Institution einhergehenden Funktionsweise nicht zu entkommen. Gerade Vorworte nämlich entscheiden über Eigentliches und grenzen Uneigentliches aus, sie sind der Ort, an dem Autorschaft nicht umhin kann, diese ihre Dynamik zu verantworten. Das Gegenextrem sind die autonym publizierten erbaulichen Reden Kierkegaards: In ihrem Bemühen darum, reinen Gehalt zu präsentieren, nämlich Gottes Wort in seiner Forderung und Dringlichkeit, wird hier die Indirektheit auf die Spitze getrieben und ad absurdum geführt, da sie mit (fremder) Explizitheit ineinsfällt: Es werden viele gängige Formulierungen aus dem Gesangbuch und der dänischen Bibel verwendet, die dem Zeitgenossen allzu vertraut waren, sich semantisch totgelaufen haben und deshalb belanglos bleiben, solange sie nicht Teil religiöser Lebensweise sind. Alle drei Beispiele verweigern eine Aussage oder klammern jeden möglichen Gehalt ein und wirken wie Rahmungen, die Verbindlichkeit zu suspendieren versuchen. Auf unterschiedliche Weise wirken sie dem, was sie propagieren, durch ihr spezifisches Procedere entgegen, was sich in einigen der operablen Arten von ‚indirekter Mitteilung‘ mit Wittgenstein aufgreifen und weitergehend charakterisieren läßt: Eine davon ist die Unterscheidung von Sagen und Zeigen, die im anschließenden Teil II meiner Arbeit behandelt wird. Kierkegaards Texte sind keine, die Sinn transportieren und verlustlos übermitteln, sondern sie funktionieren nur, wenn der Leser durch die von Kierkegaard immer wieder beschworene ‚Aneignung‘ das Gelesene zu sinnvollen Zeichen werden läßt. Das kann nur gelingen, wenn eine Kontextualisierung vorgenommen wird, die die konkrete existentielle Situiertheit des einzelnen Lesers für die Sinnproduktion konstitutiv einbindet. Damit verschiebt sich die entscheidende Leistung von der Semantik zur Pragmatik, so daß verbalsprachliche Zeichen bei Kierkegaard (und vergleichbar bei Wittgenstein) eher die Charakteristiken zeigender als sagender Zeichen erfüllen.

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition Johannes Climacus ist der Philosoph unter den Pseudonymen, denn ihm schrieb Kierkegaard die Philosophischen Brocken sowie die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken zu. Darin findet die Hegel-Polemik ihre konzentrierteste sowie ausführlichste Darstellung und die dialektische wie terminologische Erbschaft des Deutschen Idealismus ihren prägnantesten Niederschlag. Da Kierkegaard auf dem Titel als Herausgeber erscheint und die Pseudonymsetzung erst kurz vor der Drucklegung erfolgte, spricht man in der Forschung von einem ‚unechten‘ Pseudonym und möchte eine Nähe zur Position von Kierkegaard ‚selbst‘ vermuten. Diese Einschätzung läßt sich dadurch stützen, daß Climacus eine Meta-Ebene einnimmt, insofern er alle anderen Pseudonyme und deren Schriften charakterisiert und beurteilt. In den posthum publizierten Schriften über sich selbst sowie einigen Tagebucheinträgen räumt Kierkegaard Climacus den Status eines „Wendepunkts“8 seiner Schriftstellerei ein, da mit ihm ein Resümee und Abschluss pseudonymer Texte geplant war. Dazu kommt, daß Kierkegaard sich am Ende des zweiten Bandes der Nachschrift zu allen Texten bekennt und so die Pseudonymisierung bricht. Allerdings bleibt es nicht bei dieser klaren Schnittstelle, weil mit Anti-Climacus ein noch späteres Pseudonym konzipiert wurde. Ohnehin ist die Trennung der autonymen und pseudonymen Schriften aus noch zu erörternden Gründen (s. u. I.3.) wenig hilfreich. Für meinen Zusammenhang ist Climacus wichtig, weil er, wie Kierkegaard in seinen Vorlesungsentwürfen, die Mitteilungsproblematik diskutiert: Wieweit läßt sich die Wahrheit lehren? Mit dieser Frage wollen wir beginnen.9

Emanuel Hirsch übersetzt: Inwiefern kann die Wahrheit gelernt werden? Mit dieser Frage wollen wir den Anfang machen.10

Da das dänische Verb ‚at lære‘ sowohl lernen als auch lehren heißt, hat Kierkegaard bereits im ersten Satz seine Pointe untergebracht: Sein Vorbild ist die sokratische Maieutik, derzufolge niemand dem 8 9

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SS S. 27 / SV XIII, 523 u. ö. PB S. 8. Ich zitiere die Übersetzung von Hans Rochol, Philosophische Bissen, Hamburg 1989. S. 7 / SV IV, 179 / SKS 4, 218.

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anderen ein Lehrer sein kann, da es kein Gefälle der Wahrheitskompetenz gibt, das sich durch zwischenmenschliche Kommunikation beheben ließe. Ausgehend von der platonischen Anamnesis-Auffassung versteht Sokrates seine Funktion in Analogie zur Tätigkeit einer Hebamme, die den entscheidenden Prozeß zwar begleitet und fördert, aber nicht selbst ‚gebärend‘ hervorbringt11. Unter christlichen Voraussetzungen allerdings kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß jeder Mensch die Wahrheit in sich trägt, welche lediglich zu aktivieren oder aktualisieren wäre, im Gegenteil: Wahrheitsfähigkeit ist durch die Sünde verlorengegangen; was es in sich durch maieutische Provokation zu entdecken gilt, ist genau dies12. Einzig Gottes Gnade kann dem abhelfen. Die Gefahr ist, der Illusion zu erliegen, ein anderer Mensch könne dazu förderlich sein und mehr als einen Anlaß bieten für seinen Gesprächspartner. Ein Anlaß, so hieß es schon in Entweder-Oder, ist zufällig und belanglos, aber paradoxerweise als Initialzündung notwendig. Er gehört unabdingbar zu dem, was durch ihn hervorgebracht wird, ist ihm aber gleichzeitig äußerlich und nicht entscheidend für das Veranlaßte. Er ist also keine Ursache und kein Grund, aus dem alles konsequent folgt, sich nur noch nach einem festen Plan entwickelt. Eine Schöpfung ist ein Hervorbringen aus dem Nichts, der Anlaß dagegen ist das Nichts, das alles zur Erscheinung kommen läßt.13

Der gute Lehrer muß einem Mißverständnis seiner Leistung vorbeugen und auf seine Ohnmacht bezüglich fremder Wahrheitsfindung hinweisen, indem er den Lernenden von sich wegorientiert und auf die je eigene existentielle Problematik aufmerksam werden läßt. Soll der Lehrer der Anlaß sein, der den Lernenden erinnert, so kann er ja nicht dazu beitragen, daß er sich erinnert, daß er die Wahrheit eigentlich weiß, denn der Lernende ist ja die Unwahrheit. Dasjenige, woran sich zu erinnern der Lehrer ihm dann zum Anlaß werden kann, ist, daß er die Unwahrheit ist. Durch diese Besinnung aber ist der Lernende ja gerade von der Wahrheit ausgeschlossen, mehr denn als er sich in Unwissenheit darüber befand, daß er die Unwahrheit sei. Auf diese Weise stößt also der Lehrer den Lernenden, gerade indem er ihn erinnert, von sich fort, nur mit dem Unterschied, daß der Lernende, indem er so in sich selbst hineingekehrt wird, nicht entdeckt, 11

12 13

In AUN I, 196ff. / SV VII, 172ff. versucht Climacus Platon und Sokrates zu trennen, indem er die Auffassung der Erkenntnis als Erinnern als letzte Gemeinsamkeit und Ort der Trennung auffaßt: Platon schlage daraufhin den Weg der ‚Spekulation‘ ein bzw. zeichne ihn vor, während Sokrates die Existenz stark gewichte. PB 14 / SV IV, 185 / SKS 4, 223 und AUN I, 199 / SV VII, 175. EO I, VI „Die erste Liebe“, S. 271ff. der dtv Taschenbuchausgabe München 1993; bei Hirsch S. 252 / SV I, 210 / SKS 2, 230.

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daß er vorher die Wahrheit gewußt hat, sondern seine Unwahrheit entdeckt, ein Bewußtseins-Akt, hinsichtlich dessen der sokratische Gedanke gilt, daß der Lehrer nur der Anlaß ist, wer er im übrigen auch sein mag, selbst wenn er ein Gott ist; denn meine eigene Unwahrheit kann ich nur durch mich selbst entdecken, denn erst wenn ich es entdecke, ist es entdeckt, vorher nicht, und wenn es die ganze Welt wüßte.14

Die maieutische Tätigkeit wird also noch ausgeübt, wenngleich das Resultat kein positives sein kann, sondern im Gegenteil in der Einsicht in die Unmöglichkeit eines solchen besteht. In seinem Buch über Adler greift Kierkegaard die Schwangerschaftsmetapher auf, wenn er problematisiert, wie ein Mensch, der eine Offenbarung erlebt hat, einerseits allen davon erzählen will und andererseits dadurch den Fehler begeht, seine spezifische Religiosität zu äußern, d. h. sie äußerlich, allgemein und zum diskutablen Gesprächsthema macht. Aber mitgeteilt werden soll ja doch dieses Außerordentliche, es soll in die Wirklichkeit, in die bestehenden Verhältnisse hineingestellt werden, die Schweigsamkeit soll es nicht vertreiben, wie man eine Leibesfrucht abtreibt.15

Bei dieser Problemkonstellation ergibt sich die Frage, ob das maieutische Modell nunmehr untauglich geworden ist, da es keine dritte Möglichkeit zuläßt, oder ob es verfehlt ist, der durch es aufgemachten Alternative entgehen zu wollen. Genau dieses Dilemma steht im folgenden zur Debatte, wenn zunächst die Koordinaten skizziert werden, die die indirekte Mitteilung notwendig machen, und dann deren unterschiedliche Funktionsweisen untersucht werden.

I.1.1. ‚Theorie‘ und Aporie ‚indirekter Mitteilung‘ In der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken widmet sich Climacus der Mitteilungsproblematik von der existentiellen Konstellation ausgehend. Ohne dies vom christlichen Hintergrund der Sünde her motivieren zu müssen und ohne ein ‚etwas‘ zu hypostasieren, das sich der Sagbarkeit entzöge, kommt er zu der Unausweichlichkeit einer ‚indirekten Mitteilung‘: Er operiert mit der Gegenüberstellung von subjektiv und objektiv, wobei ersteres den Existierenden qualifiziert und dessen ganz spezifische, konkrete und je eigene Daseinsbedingungen meint. Diese sind nicht nur höchst individuell, d. h. aller allgemeinen Aussagbarkeit entzogen, sondern auch im Werden begriffen, also veränderlich. 14 15

PB S. 13 / SV IV, 184 / SKS 4, 222f. Hervorhebung im Original. BÜA 37f. / Pap.VII 2B S. 60.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Während das objektive Denken gegen das denkende Subjekt und dessen Existenz gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als existierender wesentlich an seinem eigenen Denken interessiert und existiert in ihm. Deshalb hat sein Denken eine andere Art von Reflexion, nämlich die der Innerlichkeit, die des Besitzes, wodurch es diesem Subjekt und keinem anderen angehört. Während das objektive Denken alles aufs Resultat abstellt und der ganzen Menschheit zum Betrügen durch Abschreiben und Hersagen des Resultats und des Fazits verhilft, stellt das subjektive Denken alles auf das Werden ab und läßt das Resultat aus, teils weil es eben dem Denker gehört, da er den Weg hat, teils weil er als Existierender ständig im Werden ist, was ja jeder Mensch ist, der sich nicht wie ein Narr dazu hat verleiten lassen, objektiv zu werden, oder dazu, unmenschlicherweise die Spekulation zu werden.16

Mit polemischen Seitenhieben gegen Hegels System wird darauf insistiert, daß ein Existierender kein Resultat formulieren kann. Sprache ist wie Denken notwendig abstrakt, fixiert und allgemein17 und kann mit dem Sein, das werdendes Dasein ist, nicht zur Deckung kommen, es sei denn, sie vermag für Zukünftiges, Unabsehbares offen zu sein. In den Papirer heißt es: Das ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß man das Leben rückwärts versteht. Aber darüber vergißt man den anderen Satz, daß man vorwärts leben muß.18

Jede Äußerung muß sich deshalb als vorläufige und je persönliche zu verstehen geben, d. h. den Anspruch unterlaufen, der mit ihr als Akt einhergeht. Das soll durch ‚Doppelreflexion‘ gelingen: Wenn der eine etwas vorträgt und der andere sich wörtlich zu dem gleichen bekennt, so nimmt man von ihnen an, daß sie einig sind und einander verstanden haben. Gerade weil der Vortragende nicht auf die Doppelheit des Gedanken-Daseins aufmerksam ist, kann er auch nicht auf die Doppelreflexion der Mitteilung aufmerksam werden. Er ahnt daher nicht, daß diese Art von Einigkeit das größte Mißverständnis sein kann, und natürlich auch nicht, daß ebenso, wie sich der subjektiv existierende Denker durch die Doppelheit selbst frei gemacht hat, der springende Punkt der Mitteilung gerade darauf beruht, den anderen frei zu machen.19

Climacus meint nicht die Reflexion der Reflexion, wie sie im Deutschen Idealismus als Spekulation kultiviert wurde: Es ist kein Denken, das auf sich selbst als seinen Gegenstand zurückkommt und so eine Einheit von Denken und Gedachtem ermöglicht, sondern eine Reflexion, die im existentiellen Vollzug gedoppelt wird, also das individuelle Leben prägt. Die entscheidende Leistung kann nicht stellvertretend 16 17 18 19

AUN I, 65 / SV VII, 55. Hirsch übersetzt ‚at sætte i‘ (wörtl.: einsetzen) mit ‚abstellen‘. AUN II, 172 / SV VII, 404; vgl. Pap. X 2 A 235 (1849) Pap. IV A 164. AUN I, 66 / SV VII, 57. Was Hirsch mit ‚der springende Punkt‘ übersetzt, heißt ‚Meddelelsens Hemmelighed‘, also das Geheimnis der Mitteilung, s. u. AUN I, 71.

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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vollbracht werden, da nur der jeweils Existierende von sich aus und aus freier Entscheidung die zweite Bewegung vollziehen kann, indem er das für wahr Erkannte aneignend umsetzt. Deutlich gibt es zwei zu unterscheidende Momente: erstens die Mitteilung als Akt mit informativem Gehalt, zweitens die Trennung der Gesprächspartner voneinander und vom Thematisierten. Dies entspricht der Beschaffenheit der Existenz, die kein Selbst im Sinne einer substantiellen und integeren Entität ist, sondern die immer wieder neu zu leistende Aufgabe, Extreme zusammenzuhalten, Widersprüche auszuhalten (wie vor allem die anthropologischen Schriften Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode entwickeln). Die so entstehende Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit, Körper und Seele etc. läßt sich nicht dauerhaft und abschließend regeln, sondern bleibt virulent. Das Selbst als Verhältnis20 zwischen solchen Polen ist keine identisch bleibende Entität, es läßt sich nicht mittels Denkoperationen stabilisieren, denn die machen nur eine Komponente aus und leisten keine umfassende Vermittlung. Nur Leidenschaft21 vermag die unüberbrückbaren Widersprüche auszuhalten, um für kurze Zeit eine konkrete Einheit zu erlangen. Damit ist die hervorragende Leistung des ‚subjektiven Denkers‘ gerade nicht Denken, sondern ein spezifischer Umgang damit, der auch die vom Denken unkontrollierbaren Elemente des Selbst gelten läßt. In bezug auf die Existenz geht es daher nicht an, die Differenzen in Richtung auf das Denken zu einen; denn die vorwärtsschreitende Methode entspricht nicht dem, als (qua) Mensch zu existieren. In der Existenz gilt es, daß alle Momente auf einmal zur Stelle sind. In bezug auf die Existenz steht das Denken gar nicht höher als die Phantasie und das Gefühl, sondern ist diesen nebengeordnet.22 20

21 22

Es gibt weitreichende Parallelen zur theologisch relevanten Bestimmtheit des Menschen beim späten Schelling, den Kierkegaard 1841 in Berlin hörte. Dazu gehört das Selbst aufgefaßt als Relationengefüge, dessen Relata gleich wesentlich sind und sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Sie rearrangieren sich im Laufe der Zeit und bleiben auch über den Tod hinaus bestehen, insofern, als die Relationen zu Gott und von Gott ausgehend nicht unterbrochen werden und eine glückliche neue Fügung der vorherigen Verkehrungen Auferstehung als neu aber doch in Kontinuität mit der Persönlichkeit vor dem Tod auffassen läßt. Die soteriologische Ohnmacht ist eine wichtige Gemeinsamkeit von Kierkegaard und Schelling gegen Hegel. Kierkegaards Briefe aus der Berliner Zeit zeugen von anfänglicher Begeisterung für Schelling, die aber bald abebbte und in Enttäuschung umschlug. Im Februar 1842 schreibt er an seinen Bruder: „Schelling salbadert ganz unerträglich. […] Seine ganze Potenzenlehre bekundet höchste Impotenz.“ B 104f. Vgl. AUN II, 54f./SV VII 303f. AUN II, 51 / SV VII; 300.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Die Negativität, die im Dasein ist, oder richtiger: die Negativität des existierenden Subjekts (die sein Denken wesentlich in adäquater Form wiedergeben muß) ist in der Synthese des Subjekts begründet, daß es ein existierender unendlicher Geist ist. Die Unendlichkeit und das Ewige sind das einzige Gewisse, aber indem es im Subjekt ist, ist es im Dasein, und der erste Ausdruck dafür ist seine Trüglichkeit und dieser ungeheure Widerspruch, daß das Ewige wird, daß es entsteht. (…) Das Trügerische der Unendlichkeit besteht nun darin, daß in jedem Augenblick die Möglichkeit des Todes vorhanden ist.23

Die genannte Synthese ist keine im Sinne des Deutschen Idealismus, sie negiert nicht die Negation, sondern weist auf deren unüberwindbare Macht hin. Vergleichbar mit Marx und Adorno streitet Kierkegaard der Dialektik die Macht ab, wirkliche (bei ihm: existentielle) Widersprüche vermitteln zu können; eine ‚Aufhebung‘ im Hegelschen Sinne gelingt Kierkegaard zufolge nur abstrakt, d. h. wenn Wirklichkeit gedacht und so in Möglichkeit verwandelt wird24. Er unterscheidet die ‚quantitative Dialektik‘ des Denkens von einer ‚qualitativen Dialektik‘, die eine Kluft zwischen Denken und (Da)sein markiert und dadurch nicht bewältigt hat. Sie ist somit eine negative Dialektik, sie muß „die Wunde der Negativität offen[halten]“25. Die menschliche Befindlichkeit als inter-esse26, als zwischen Antithesen lokalisiert und ohne den eigenen Anfang und das eigenen Ende im Griff zu haben, ist keine stabile Größe und dem muß jede existentiell wirksame Wahrheit gemäß sein. Selbstsein ist eine Forderung und Aufgabe, der immer neu nachgekommen werden muß. Die Mitteilung muß deshalb vom Negativen gezeichnet und für die Widersprüche und Veränderungen des Daseins offen sein. Zudem muß ein Resultat vermieden werden, indem kein eindeutiger Gehalt, kein Was geboten wird, sondern aufgegeben, im Sinne einer zu leistenden Aufgabe. In den Vorlesungsentwürfen spricht Kierkegaard von einer ‚Könnens-Mitteilung‘ im Gegensatz zu einer ‚Wissens-Mitteilung‘, die über einen Gegenstand etwas aussagt und unabhängig 23 24

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26

AUN I, 74 / SV VII, 63. AUN II, S. 1-19 / SV VII, 257-273. Karl Löwith hat sich dem gewidmet in Von Hegel zu Nietzsche, 1939 u. ö., wo das dritte Kapitel den Titel trägt: „Die Auflösung von Hegels Vermittlungen durch die Entscheidungen von Marx und Kierkegaard“. AUN I, 77 / SV VII, 66. Vgl. Pap. VII 2 A 84 (1846): „Alles dreht sich darum, den Unterschied zwischen quantitativer und qualitativer Dialektik absolut zu machen. (…)“ AUN II, 15 / SV VII, 270: „Für den Existierenden ist das Existieren sein höchstes Interesse, und die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit. Was Wirklichkeit ist, kann in der Sprache der Abstraktion nicht angegeben werden. Die Wirklichkeit ist ein inter-esse zwischen der Abstraktion hypothetischer Einheit von Denken und Sein.“

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vom Sprecher und dessen Wirklichkeit stimmt.27 Die existentielle Wirksamkeit stellt sich ein, wenn die Form der Mitteilung eine künstlerische ist und den Realitätsbezug suspendiert, aber neu – je nach den Daseinsbedingungen des Individuums – stiften läßt. Eben das ist Aneignung (dän.: tilegnelse): Überall, wo in der Erkenntnis das Subjektive von Wichtigkeit ist, wo also die Aneignung die Hauptsache ist, da ist die Mitteilung ein Kunstwerk, sie ist doppeltreflektiert, und ihre erste Form besteht gerade in dem Ränkevollen, daß die Subjektivitäten gottesfürchtig auseinandergehalten werden müssen und nicht gerinnend in Objektivität zusammenlaufen. Dies ist das Abschiedswort der Objektivität an die Subjektivität. Die gewöhnliche Mitteilung, das objektive Denken hat keine Geheimnisse, erst das doppelt-reflektierte subjektive Denken hat Geheimnisse, d. h. all sein wesentlicher Inhalt ist wesentlich Geheimnis, weil er sich nicht direkt mitteilen läßt.28 Objektiv wird akzentuiert: was gesagt wird; subjektiv: wie es gesagt wird.29

Grundsätzlich gehört Kunst wie das Denken in das ‚Phantasie-Medium‘ im Gegensatz zur Wirklichkeit30, da die Kunst Möglichkeiten entwirft ohne Rücksicht auf die Realität und da sie – wie abstraktes Denken – Geschlossenheit zu konstruieren vermag. Wenn Kierkegaard ‚ästhetisch‘ sagt, meint er nicht die schönen Künste im engeren Sinne oder eine Theorie darüber. Vielmehr erweitert er das Ästhetische auf jegliche Form von Möglichkeit, die neben anderen unverbindlich entworfen wird und durch Denken oder Phantasie zustandekommt. So gibt es allerhand Textstellen, die Metaphysik als ‚ästhetisch‘ bezeichnen, Hegelianismus ohnehin. (Als Existenzweise aufgefaßt, wie sie z. B. in Entweder-Oder vorgestellt wird, ist der Ästhetiker jemand, der scheut, Verpflichtungen und Verbindlichkeiten einzugehen und sogar die Faktizität der eigenen Bedingtheiten, also die kontingenten aber unabänderlichen Faktoren seiner Existenz, nicht wahrhaben will. Er verhält sich zu seiner eigenen Wirklichkeit wie zu einer Fiktion oder einem gedanklichen Konstrukt.) 27

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Pap. VIII 2 B 83, S. 158. Vgl. Wittgensteins Tractatus 4.112: „(…) Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit (…)“. Mit bezug auf die eingangs erwähnte Lehrer-Schüler Situation könnte man für Wittgenstein sagen, daß jede Wissens-Mitteilung dann erfolgreich ist, wenn sie sich als Könnens-Mitteilung als wirksam bewährt. AUN I, 71 / SV VII, 60. Was Hirsch mit ‚ränkevoll‘ übersetzt ist dän.: ‚underfundig‘, schlau, hinterlistig, verschmitzt, subtil, hintergründig. AUN I, 193 / SV VII, 169. Der Satz ist im Original durch gesperrten Druck hervorgehoben. Pap. VIII 2 B 83.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Spekulativ-phantastisch und ästhetisch-phantastisch hat man eine positive Abgeschlossenheit im System und im fünften Akt des Dramas, aber eine solche Abgeschlossenheit besteht nur für phantastische Wesen.31

Anders als spekulative Philosophie aber gibt Kunst nicht vor, die Wahrheit des Wirklichen zu fassen, sie ist keine Wahrsagerei, sondern per definitionem künstlich, „Trug und Kunst“32. In Musik und bildender Kunst hat man es verhältnismäßig leicht, da man bereits am Medium erkennt, daß es sich um Künste handelt. Nicht so bei Sprache, sie dient meist als Kommunikationsmittel und Handlungsinstrument und nur unter bestimmten Umständen und/oder in spezifischen Formen wird sie zur Kunst. Um festzumachen, was poetische Sprache im Unterschied zu den anderen Funktionen ausmacht, hat sich die aristotelische Poetik bis heute als einflußreich erwiesen: Kriterien für Literarität sind die Entbindung von der Sorge um Wahrhaftigkeit in der Fiktion sowie das nutzenfreie Sprechen. Als Darstellung im vollen Doppelsinn des dänischen ‚fremstilling‘, das auch Herstellung heißt, ist das Ästhetische in und mit Sprache keine Nachahmung, die der Realität verpflichtet bleibt, sondern eine eigene, neue Angelegenheit. Sprache vermag damit sowohl spekulativ-phantastisch als auch ästhetisch-phantastisch zu sein. Nun geht es aber darum, die existentielle Wirklichkeit zu verändern, weswegen der ästhetische Schein genutzt, aber nicht beibehalten werden darf. Somit darf ein Text nicht autonom und intransitiv bleiben, sondern muß in eine kommunikative, sogar appellative Funktion rückgebunden werden, muß Wirkung zeitigen außerhalb der Ebene der Darstellung. Kierkegaards Anleihen bei (vor allem romantischen) Dichtern läßt ihn nicht zu einem von ihnen werden.33 Auch die Auffassung der Kunst als Darstellungsform der Wahrheit, wie sie im Deutschen Idealismus philosophiefähigen Status erlangt, 31 32 33

AUN I, 114 / SV VII, 100. AUN I, 68 / SV VII, 58. Die romantische Poetisierung des Lebens als ästhetische Freiheitspraxis, die die Welt anverwandelt nach eigener Vorstellungskraft, ist Kierkegaards Einschätzung zufolge kein Selbstvollzug, da alle kontingenten Bedingungen, denen man nie entkommen kann, ignoriert werden. Vgl. dazu die Diskussion von Friedrich Schlegels Lucinde im BI S. 292-307 / SV XIII, 357-370 / SKS 1, 321-334: Wenn das Programm ‚poetisch leben‘ von verwirklichenden Konsequenzen absieht und keine verbindliche Realisierung verantwortet, ist sie purer Genuß einer „in Reflexion gefesselte[r]n Persönlichkeit“. Sylvia Walsh versucht zu erarbeiten, wie sowohl die ethische als auch die religiöse Existenzform nur dank einer ästhetischen Leistung gelebt werden können und deshalb lange kein ironischer Ästhetizismus sein müssen. Living poetically. Kierkegaard‘s existential Ethics, Pennsylvania 1994.

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wäre, wie man in Anlehnung an Heidegger formulieren könnte, Existenzvergessenheit. Beide, der romantische Dichter wie der Philosoph, müßten Kierkegaard zufolge konsequenterweise Selbstmord begehen, da ihr eigenes Dasein für die virtuos entworfenen Möglichkeiten keinerlei Rolle spielt.34 Mit „religiöser Schriftsteller“35 bezeichnet Kierkegaard sich treffend weder als Dichter noch als Denker. Die Doppelreflexion darf weder argumentativ noch expressiv sein, sie soll weder interesseloses Wohlgefallen noch ästhetischen Genuß36 bieten. Es darf sich weder um autontome Wortkunst noch um nur illustrativ zur Erläuterung von Argumenten verwandte Sprachformen handeln. Die dar- und hergestellten Möglichkeiten müssen einen Wechsel zur Wirklichkeit provozieren, d. h. eine Aneignung, die verwirklichende Umsetzung mit sich bringt. Was in bezug auf das Allgemeine groß ist, darf daher nicht als Gegenstand der Bewunderung, sondern muß als Forderung dargestellt werden. In der Form der Möglichkeit wird die Darstellung eine Forderung. Anstatt, wie es gewöhnlich geschieht, das Gute in der Form der Wirklichkeit darzustellen, daß der und der wirklich gelebt und es wirklich getan hat, und auf diese Weise den Leser in einen Betrachter, einen Bewunderer, einen Abschätzer zu verwandeln, soll es in der Form der Möglichkeit dargestellt werden; dann ist es dem Leser so nahe wie möglich gelegt, ob er darin existieren will.37

Was (begrifflich) gedacht oder (fiktiv) dargestellt ist, ist möglich und korrespondiert nicht mit der Wirklichkeit, sondern kann handelnd in sie überführt werden. Genau das ist es, was ein ‚Sprung‘ leistet, denn die Akzeptanz einer Möglichkeit, die zu ihrer Verwirklichung führt, läßt sich nicht auf der Ebene der Möglichkeiten entscheiden und plausibilisieren. Ganz zentral ist Kierkegaards Rückgriff auf die aristotelische Auffassung der κ νησις: Der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit ist, wie Aristoteles richtig lehrt, κ νησις, eine Bewegung. Dies läßt sich in der Sprache der Abstraktion überhaupt nicht sagen oder in ihr verstehen, da diese eben der Bewegung weder Zeit noch Raum geben 34 Vgl.

AUN II, 9 / SV VII, 264; AUN I, 188 / SV VII, 164. BI 305 / SV XIII, 368 / SKS 1, 332. 35 SS 11ff./SV XIII, 539ff. 36 Vgl. AUN II, 55 / SV VII, 304: „Doch ist der subjektive Denker nicht Dichter, wenn er auch zugleich Dichter ist; nicht Ethiker, wenn er auch zugleich Ethiker ist; aber er ist zugleich Dialektiker und wesentlich selbst existierend, wohingegen die Existenz des Dichters im Verhältnis zum Dichtwerk unwesentlich ist, und ebenso die des Ethikers im Verhältnis zur Lehre und die des Dialektikers im Verhältnis zum Gedanken. Der subjektive Denker ist nicht Wissenschaftler, er ist Künstler. Existieren ist eine Kunst.“ Zu Kants ‚interesselosem Wohlgefallen‘ vgl.: AUN II, 13f./SV VII, 268 Fußnote. 37 AUN II, 63 / SV VII, 311.

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I. VorWorte und VerAntwortung

kann, welche die Bewegung voraussetzen oder welche die Bewegung voraussetzt. Da gibt es ein Anhalten, einen Sprung.38

Wenn nun eine verantwortliche und verwirklichende Wahl getroffen wird, ist das Kierkegaard zufolge eine ethisch qualifizierte Tat: Anders als der Ästhetiker realisiert der Ethiker seine Freiheit, indem er Verbindlichkeiten eingeht und sich Möglichkeiten zu eigen macht.39 Ethisch sind also nicht nur Gesetze, die aufschlußreich über gutes Handeln sind und wie bei Kant universalisierbar sein müssen, sondern bereits die verantwortliche Übernahme der eigenen Wirklichkeit mit ihren Möglichkeiten. Um das zu provozieren, bekommt die ästhetische Form eine appellative Funktion, welche existenzprägende Wirksamkeit als Ziel hat. Während in der romantischen Hermeneutik die „subtilitas intelligendi“ (Verstehen) und die „subtilitas explicandi“ (Auslegen) die dominierende Rolle spielten, ist bei Kierkegaard die – für pietistische Erbauungsliteratur charakteristische40 – „subtilitas applicandi“ für den Wert des Mitgeteilten und das Gelingen der Mitteilung ausschlaggebend. Als Propaganda mit anderen, von der literarischen Kunst geborgten, Mitteln, wie es in meinem Kapitel über die erbaulichen Reden (I.3.) ausführlicher zu besprechen sein wird, ist Erbauungsliteratur das passende Genre für das Kierkegaardsche Anliegen „Hineintäuschen in das Wahre“41. Der für Sinn entscheidende Faktor verschiebt sich von der semantischen Ebene auf die pragmatische42, so daß der Text nicht mehr dafür 38

39

40

41 42

AUN II, 46 / SV VII, 298. Vgl. PB Zwischenspiel § 1 „Das Werden“. Quer durch Kierkegaards Schriften spielt dies eine maßgebliche Rolle, wird aber meist nur hereinzitiert. Auch in dieser Hinsicht bedarf es einer Untersuchung Aristoteles-Kierkegaard. Wilfried Greve nennt sein Buch Kierkegaards maieutische Ethik und akzentuiert diese ethische Stoßrichtung der indirekten Mitteilung. Anders als Lesarten, die Kierkegaard als Dichter in romantischer Tradition verstünden oder andere, die die spezifische Form der Texte zugunsten eines herauszuarbeitenden argumentativen Gehalts ignorierten, soll die Wirkungsabsicht nicht von der Theoriebetrachtung getrennt werden, die Auslegung nicht von der Forderung nach Aneignung entkoppelt werden. (S. 21) Dabei meint Greve, die frühen pseudonymen Texte chronologisch als kontinuierliche Stufenfolge von Existenzstadien verstehen zu können, so daß sich ein „Theorieganzes“, eine „systematisch eigenständige Konzeption des Ethischen“ abgewinnen ließe (S. 35f.). Hans-Georg Gadamer (a. a. O.) Teil II, 2, 2 „Die Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems“, S. 312f. SS 6 / SV XIII, 495 und AUN II, 95f./SV VII, 337f. So auch Poul Lübcke „Kierkegaard and indirect communication“, in History of European Ideas, eds. Ann Loades and George Pattison, No. 12, 1990, pp. 31-40.

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verbürgt, welche Konsequenzen seine Erschließung tatsächlich hat. Der Leser von Kierkegaards Texten soll wie George Steiners „Bürger des Unmittelbaren“ auf Kunst nicht durch Distanznahme durch Sekundäres, Parasitäres, nämlich Interpretation, Kritik und Besprechung reagieren, sondern den neu gewonnenen Sinn in eigener Kreativität selbst verkörpern. So wird die „Immunität des Indirekten“43 in einer Hermeneutik, die ihre Resultate verantwortet, gebrochen und kulminiert in der Gegenwart von Sinn. Allerdings – und das bleibt wichtig – manifestiert sich Verantwortlichkeit in Steiners „Politik des Primären“44 wiederum in Kunst, welche nur dann authentisch ist, wenn sie sich einer Transzendenz in einem letztlich religiösen Sinn verdankt.45 Bei Kierkegaard hingegen leistet Kunst immer nur eine Pseudo-Transzendenz, die ihrer Scheinhaftigkeit wegen für den Vollzug des Glaubens als wahre Transzendenz preisgegeben werden muß. Mir scheint, daß das, was Kierkegaard für den religiösen Glauben nicht müde wird zu betonen, auf die Kunst des 20. Jahrhunderts, die sich beispielsweise weitgehend vom Ideal der geschlossenen Form verabschiedet, zutrifft. Aus diesen Gründen sind für Kierkegaards Zweck nicht alle Arten des künstlerischen Wie als Maßnahmen indirekter Mitteilung taug43

44 45

George Steiner Real Presences, London 1989; dt.: Von realer Gegenwart, München 1990, S. 35 und 59. Ebd., S. 17. In seinem gleichnamigen Aufsatz im Band No Passion spent, London 1996, pp. 20-39, bezieht sich Steiner explizit auf Kierkegaard, wenn er versucht, den „autistic echochambers of deconstruction“ (p. 31) etwas entgegenzuhalten, das nicht das gewohnheitsbedingte pragmatische Fortsetzen akademischer interpretativer Bemühungen trotz aller Sinnzerstäubung ist: Jedes Lesen vollziehe sich mit dem Postulat des Sinnvollen und verdanke sich einem „leap into sense“ (p. 35), einer Transzendenz, einem ungedeckten Zugeständnis. Man behandle einen Text, „als ob“ er sicher Wahrheit vermittle und Sinn verkörpere. So verantworte Lektüre, was sie tut und binde ihre Resultate an ethische Forderungen. Letztlich vollzieht sich Verstehen nach Steiner dank einer religiösen Dimension, wie sie in den Anfängen der Hermeneutik als Bibelexegese noch unbestritten gewesen sei, aber bei jeder Lektüre unabdingbar bleibe. „Personally, I do not see how a secular, statistically based theory of meaning and value can, over time, withstand eiher the deconstructionist challenge or its own fragmentation into liberal eclecticism. I cannot arrive at any rigorous conception of a possible determination of either sense or stature which does not wager on a transcendence, on a real presence, in the act and product of serious art, be it verbal, musical, or that of material forms. Such a conviction leads to logical supposition which are exceedingly difficult to express clearly, let alone demonstrate. But the possible confusion and, in our present climate of approved sentiment, the inevitable embarrassment which must accompany any public avowal of mystery, seems to me preferable to the slippery evasions and conceptual deficits in contemporary hermeneutics and criticism.“ p. 38.

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I. VorWorte und VerAntwortung

lich. Eine kommt dadurch zustande, daß Äquivokationen gebracht werden, so daß sich mehrere Lesarten anbieten, die einander anullieren und zur Entscheidung für eine von ihnen herausfordern. Wenn der in meinem letzten Kapitel zentrale Anti-Climacus das Problem der Mitteilung aufgreift und reformuliert, beschreibt er dieses Funktionieren der Doppelreflexion wie den später mit Wittgenstein zu besprechenden Aspektwechsel: Die mittelbare [dän.: indirecte] Mitteilung kann sein eine Mitteilungskunst, welche die Mitteilung verzwiefacht. Die Kunst besteht somit eben darin, sich selbst (den Mitteilenden), rein objektiv betrachtet, zu einem Niemand zu machen, und dann ohne abzubrechen, qualitative Gegensätze als eins zu setzen. Das ist es, was einige pseudonyme Verfasser die Doppel-Reflexion der Mitteilung zu nennen pflegen. Z. B. ist es mittelbare Mitteilung, Scherz und Ernst so zusammenzusetzen, daß die Zusammensetzung ein dialektischer Knoten ist, – und so selber niemand sein. Möchte einer mit dieser Art Mitteilung zu tun haben, so muß er selbst aus sich den Knoten lösen. Oder auch: Verteidigung und Angriff der Art zur Einheit bringen, daß keiner unmittelbar ersehen kann, ob man angreift oder verteidigt, so daß der eifrigste Anhänger und der ärgste Feind der Sache, beide einen Verbündeten in einem vermuten können – und so selber niemand sein, ein Abwesender, ein objektives Etwas, kein persönlicher Mensch.46

Die Pseudonymsetzungen Kierkegaards lassen sich vor diesem Hintergrund als eine Maßnahme dieser Doppelreflexion verstehen: Sie sind Kunstfiguren weil künstliche Subjekte, sie sind fiktiv und keine wirklichen Menschen, zudem sprechen sie nicht allgemein, sondern ihre immer deutlich markierte persönliche Auffassung aus. Dadurch gelingt es, einen Standpunkt des existierenden Individuums einzuräumen, also eine origo der Rede, ohne diese wirklich zu besetzen und zurechenbar zu machen. Und ich achte es deshalb als meinen Verdienst, daß ich durch Anbringen gedichteter Persönlichkeiten, die „Ich“ sagen, mitten in der Wirklichkeit des Lebens (meine Pseudonyme) dazu beigetragen habe, die Zeitgenossen womöglich daran zu gewöhnen, wieder ein „Ich“, ein persönliches „Ich“ reden zu hören (und nicht jenes phantastische reine Ich und seine Bauchrednerei).47

Wenn sie dann noch allesamt betonen, von dem Besprochenen nichts zu verstehen, geben sie sich die Rolle des Redners, wie er in Platons 46

47

EC 135 / SV XII, 124. Anti-Climacus kontrastiert die Doppelreflexion mit der Reduplikation, bei der der Mitteilende für das, was er sagt, mit seinem Leben einsteht, wie Christus es getan hat. Dazu mehr in Teil V.5. Pap. VIII B 88. Vgl. Pap. VIII A 602: Pseudonyme lassen „Ich“ sagen in einer Zeit, wo abstrakte Wahrheitsvermittlung Objektivität zum Standard erhebt und existentielle Bindung zu kappen versucht wird. Vgl. Pap. X 1 A 531.

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Gorgias48 beschrieben wird: Ohne Sachverständiger zu sein, äußert sich der Redner und hat durch seine Überredungskunst Erfolg bei Unwissenden. Er hat keine Lehre zu bieten, aber tut so als ob. Im Unterschied zu den Sophisten aber wird genau diese Dynamik von den Pseudonymen nicht nur eingestanden, sondern sehr betont und durch Maßnahmen der ‚indirekten Mitteilung‘ (wie die gerade zitierten Ambivalenzen) unüberlesbar. Damit dienen die fremden Stimmen, auf die man sich nicht berufen kann, – wie Sokrates es in meinem Motto aus dem Protagoras bemängelt – gerade der Wahrheitssuche. Climacus muß die von Sokrates verworfenen Maßnahmen aufgreifen, um dem sokratischen Anliegen unter existentiellen (bzw. christlichen) Bedingungen treu bleiben zu können. Da das, worum es geht, eben nicht – wie Schleiermacher übersetzt – ‚auszumitteln‘ ist, weil es keine intersubjektiv auszumachende Allgemeinheit und objektiv verstehbare Lehre sein kann, hilft ein als Täuschung kenntlicher persönlicher Standpunkt genau diesen zu vermeiden und freizuhalten, um vom Leser besetzt und aktualisiert zu werden. Bei existentiellen Angelegenheiten läßt sich Standpunktindifferenz nicht durchhalten, dementsprechend bieten Vieldeutigkeiten keine eindeutige Lektüre an. Sogar mit seinen Studenten, für die er die Vorlesungen zur Mitteilung konzipiert hat, wollte Kierkegaard diesen Effekt erzielen und sie in die Vorlesung einbeziehen, sie zu quasi-Pseudonymen machen, und in ihnen unvereinbare Positionen aufkommen lassen. Ich werde mich bemühen, das Dargestellte ab und an vor Ihnen geschehen zu lassen; ein einzelnes Mal werde ich mir vielleicht ganz vorsichtig erlauben, Sie mehr szenisch auf gewisse Weise dazu zu gebrauchen, in der Entwicklung eine eigenen Rolle zu übernehmen, dazu erbitte ich mir im voraus Ihre Einwilligung. – Der Vortrag wird versuchen, alles so weit wie möglich gegenwärtig zu machen, Ihnen womöglich den Eindruck zu verschaffen, daß Sie zu gleicher Zeit die entgegengesetztesten Gedanken haben.49

Eine solche Verstörung ist den Kopenhagener Theologiestudenten erspart geblieben; Kierkegaard hat diese Vorlesungen nie ausgearbeitet und gehalten, nie inszeniert im Rahmen akademischer Institution. Anzunehmen ist, daß wenn das, was der Rede wert ist, sich nicht im Vorlesungsstil kommunizieren läßt, auch die Rede über diese Unmöglichkeit davon betroffen ist. Während Kierkegaard keinen Gedanken daran verschwendete, dogmatische, systematische oder fundamentaltheologische Themen anzubieten, scheint zumindest als lehrbar in Frage zu kommen, wie diese Gehalte – wenn nicht als Wis48 49

453-465, Hamburg 1993, S. 207-219. Pap. VIII B.

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I. VorWorte und VerAntwortung

sen – zu vermitteln und anzueignen sind. Dennoch scheint die Einklammerung religiöser ‚substantieller‘ Aussagen bei der Besprechung der ethisch-religiösen Mitteilung im akademischen Lehrbetrieb und an der theologischen Fakultät sich nicht so rigoros vornehmen zu lassen, wie in den pseudonymen Texten.50 Und auch dort – so wird sich zeigen – verweist die Art der Ein- bzw. Ausklammerung hinreichend aufschlußreich auf das argumentative gehaltvolle Ausgegrenzte. Die Dialektik aller negativen Theologie und apophatischen Rede bleibt auch dann noch wirksam, wenn man nicht deren unsagbares Eigentliches, sondern die Maßnahmen es nur indirekt zu bedeuten, besprechen will.51 Kierkegaards Äquivokationen und Pseudonymisierung wissen sich in der Tradition der sokratischen Ironie, die das Risiko des Mißverständnisses gezielt heraufbeschwört, um nicht schlimmer, nämlich als 50

51

Kierkegaard hat allerdings auch eine Vorlesung über Liebe geplant (s. u. Teil V.1.1. und Pap. VIII 1 A 82) und Lateintutorien abgehalten. Als er seine Dissertation, wie vor ihm nur sein alter ego Adler, in dänischer anstatt lateinischer Sprache schreiben wollte, bat er in einem Brief an den König darum, in dieser Hinsicht die akademische Tradition brechen zu dürfen. Diesem Brief beigefügt war ein Gutachten des Lateinprofessors, dessen Studenten Kierkegaard mitbetreute, woraus hervorging, daß nicht mangelnde Sprachkenntnisse der Grund für das Bittgesuch waren. Lübcke (a. a. O., p. 38) argumentiert, daß direkt über indirekte Mitteilung zu sprechen möglich sei, weil damit keine existentielle Entscheidung bezweckt werde, es handele sich um eine andere Art des Sprechakts. I. U. Dalferth unternimmt einen großangelegten Versuch, sprachanlytische Ansätze für die Theologie fruchtbar zu machen. Dabei will er so vorgehen, daß die Untersuchung nicht ihrerseits von Gott redet und somit „materialiter“ keinen eigenen Beitrag leistet. Dalferth erhofft sich von dieser metatheologischen, formalen Klärung vorgefundener „Rede von Gott“ Aufschluß darüber, was logisch sinnvoll gesagt werden kann und was nicht. Damit vertritt er erst die Ansicht, daß sich das Wie unter Ausklammerung des Was besprechen läßt, weil sich Inhalt und Form („Gegebenheitsweise“) trennen lassen, um wenig später Rückschlüsse vom Wie auf das Was ziehen zu können und z. B. Revisionen aufgrund von Widersprüchen zu veranlassen. Die Spannung in dieser Argumentation ergibt sich durch die Trennung von Form und Inhalt bei gleichzeitiger Einsicht, daß Gott nur in sprachlicher Gegebenheitsweise für uns manifest ist. Zudem greift er auf die von der analytischen Philosophie vorgegebenen Standards von Widerspruchsfreiheit zurück und setzt voraus, daß sie auch Gott gemäß sind. Religiöse Rede von Gott, München, S. 20f. Vgl. Manfred Frank, der rechtfertigen will, Stil in der Philosophie zu behandeln: „Die Philosophie bezieht sich ja, wenn sie vom Stil handelt, wie eine Metasprache auf ihn als auf ihr Objekt. Sollte der Stil den Demarchen der wissenschaftlichen Behandlung entgleiten, so kann die Philosophie die Gründe dafür aufzeigen, ohne selbst von ihnen betroffen zu sein. Es wäre einfach ein category mistake zu glauben, die Philosophie des Stils sei unwissenschaftlich, weil es ihr Gegenstand ist.“ Stil in der Philosophie, Stuttgart 1992, S. 47.

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Wahrheitsinstanz, mißverstanden zu werden52. Bereits die frühen platonischen Dialoge mit aporetischem Ende und der Präsentation einander unterwandernder Positionen machen sich dieselbe Taktik im Dienste der Maieutik zunutze und verzichten auf methodisch gesicherte klare Ergebnisse. Dezidiert und stärker noch sieht Kierkegaard sich genötigt, Methode um der Wahrheit willen preiszugeben und damit das Risiko massiven Mißverstehens heraufzubeschwören. Es ist insofern gerade das Richtige, daß man nicht verstanden wird; denn dadurch ist man ja gegen Mißverstehen gesichert.53

Längst ist eine paradoxe Konstellation erreicht: Wenn Kommunikation darauf zielt, die Unmöglichkeit intersubjektiver Wahrheitsvermittlung oder -generierung deutlich werden zu lassen, unterläuft sie paradoxerweise den eigenen Vollzug. Wird sprachlich die Effektivität und Möglichkeit von Vermittlung in Frage gestellt, ist genau diese dabei noch beansprucht. Die von Heidegger und Gadamer prominent gemachte hermeneutische Zirkularität54 ist gesprengt und gleichzeitig genutzt, weil gesucht wird, was nicht im Suchen als bereits gefundenes, sondern als längst verlorenes antizipiert ist. Wenn trotzdem gesprochen wird, ist die Zirkularität als vitiöse Dynamik, die ihr eigenes Scheitern zelebriert und nichts anderes mehr vermag, wirksam. Es ergibt sich ein Szenario, dessen Durchführbarkeit zumindest problematisch ist: Einen Mann auf der Straße anzuhalten und stillzustehen, um mit ihm zu sprechen, ist nicht so schwierig, wie im Vorbeigehen einem Vorbeigehenden etwas sagen zu sollen, ohne selbst stillzustehen oder den anderen aufzuhalten, ohne ihn bewegen zu wollen, denselben Weg zu gehen, sondern ihn gerade anzuspornen, seinen eigenen Weg zu gehen: und so ist gerade das Verhältnis von einem Existierenden zu einem Existierenden, wenn die Mitteilung die Wahrheit als Existenzinnerlichkeit betrifft.55

Die Übermacht des Wie, die alles Was absorbiert, mag zwar darin erfolgreich sein, jede verbindliche Aussage zu verweigern, aber sie gibt 52

53 54

55

Darüber hat Kierkegaard seine Dissertation Über den Begriff der Ironie unter ständiger Rücksicht auf Sokrates geschrieben, worüber man ausführlich handeln könnte. Vgl. John Vignaux Smyth A Question of Eros: Irony in Sterne, Kierkegaard and Barthes, Florida State Press 1986. AUN I, 75f./SV VII, 65. Sein und Zeit, Tübingen 1986 (1926) Einleitung, Erstes Kapitel, §2 u. ö., S. 5ff. Wahrheit und Methode, Zweiter Teil II 1 a) „Der hermeneutische Zirkel und das Problem der Vorurteile“, S. 270ff. a. a. O. AUN I, 271 / SV VII, 236. Vgl. FZ 74 / SV III, 128: Der Glaubende ist nicht so eitel, anderen den Weg weisen zu wollen.

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dafür auch jede Gewähr auf, tatsächlich die Wahrheitsfindung zu befürworten. Wenn es nunmehr zweierlei Varianten des Mißverständnisses gibt, deren eine zu verwerfen ist, weil sie sich als Verkündigung von Wahrheit meint, ist deren Alternative gezielter Zweideutigkeiten nicht minder gefährlich. Das Schicksal des Sokrates und sein Status zwischen dem Vertreter platonischer Lehre und Sophisterei, weswegen er seit jeher mal hier, mal dort zugeordnet wurde, trifft in ähnlicher Variante die Kierkegaardsche Schriftstellerei. Die ironische Zwiespältigkeit ist ‚bifrontisk‘56 wie es im Dänischen heißt, ist janusköpfig, und läuft Gefahr, die Wahrheit, die sie zur Aneignung freigibt, mit ihrem Gegenteil verwechseln zu lassen. Wenn Zeitgenossen Sokrates als sonderbar, τοπος, wörtlich: ortlos, befanden, verkennen sie dessen eigentliches Anliegen und fallen auf den mit der Ironie notwendigerweise einhergehenden Betrug der Indifferenz, der Standpunktlosigkeit, herein57. Wenn objektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird objektiv auf die Wahrheit als einen Gegenstand reflektiert, zu dem der Erkennende sich verhält. Es wird nicht auf das Verhältnis reflektiert, sondern darauf, daß es die Wahrheit, das Wahre ist, wozu er sich verhält. Wenn das, wozu er sich verhält, bloß die Wahrheit, das Wahre ist, so ist das Subjekt in der Wahrheit. Wenn subjektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird subjektiv auf das Verhältnis des Individuums reflektiert; wenn nur das Wie dieses Verhältnisses in Wahrheit ist, so ist das Individuum in der Wahrheit, selbst wenn es sich so zur Unwahrheit verhielte.58 Das Wie der Wahrheit ist gerade die Wahrheit.59

Wenn das Wie der Wahrheit derart mächtig wird, geraten alle Gehalte der christlichen Lehre in Gefahr. Gegen Fanatismen unterschiedlichster Art ist keine Handhabe möglich, wenn es allein darauf ankommt, wie man sich zu dem für wahr Befundenen verhält. Climacus sieht diese Konsequenz sehr deutlich: Wenn einer, der mitten im Christentum lebt, in Gottes Haus, in des wahren Gottes Haus hinaufgeht, mit der wahren Vorstellung von Gott in seinem Wissen, und nun be56 57

58 59

AUN I, 82 / SV VII, 70. Vgl. AUN I 75f. / SV VII, 65. Kierkegaards Ironieschrift zeichnet die unterschiedlichen Sokratesse nach und spricht in Hegelschen Tönen von Ironie als „unendlicher absoluter Negativität“. Vgl. „These VIII: Die Ironie als die unendliche und absolute Negativität ist die leichteste und unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität.“ These VI: „Nicht allein, daß Sokrates sich der Ironie bedient hat: er ist vielmehr der Ironie dermaßen hingegeben gewesen, daß er selbst ihr Opfer ward.“ BI 3 / SV XIII, 99f. / SKS 1, 65. AUN I, 190 / SV VII, 166. Der ganze Absatz ist im Original gesperrt gedruckt. AUN II, 24 / SV VII, 278.

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tet, aber in Unwahrheit betet; und wenn einer in einem Abgötterei treibenden Lande lebt, aber mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit betet, obwohl sein Auge auf dem Bilde eines Götzen ruht: Wo ist dann am meisten Wahrheit? Der eine betet in Wahrheit zu Gott, obgleich er einen Götzen anbetet; der andere betet in Unwahrheit zu dem wahren Gott und betet daher in Wahrheit einen Götzen an.60

Soweit darf es nicht kommen; „zutiefst in der Gottesfurcht lauert wahnwitzig die launenhafte Willkür, die weiß, daß sie selbst den Gott hervorgebracht hat.“61 Was passiert, wenn das der christlichen Wahrheit ensprechende Wie von allen Sachfragen und aller Vernunft entkoppelt ist, mußte Kierkegaard an seinem Kommilitonen Adler miterleben: Der meinte, von Gott selbst eine Offenbarung erlebt zu haben und wollte diese neue Lehre allen verkünden. Er mußte sich einem Verfahren der Kirche unterziehen und wurde vom Amt suspendiert (s. u. mein Teil V. 4.). Nicht erst im offenen und polemischen Angriff gegen die dänische Staatskirche 1854/55, auch nicht in den Schriften über sich selbst, die um 1848 entstanden und mit Kierkegaards Ostererlebnis und seinem Entschluß „zu sprechen“ in Zusammenhang stehen, sondern bereits mit Furcht und Zittern 1843 zieht Kierkegaard die Notbremse und rettet seine Schriften aus der dämonischen Ambivalenz zwischen der ästhetischen Indifferenz und der absoluten Dringlichkeit des Religiösen. Seine Weisen der Vereindeutigung kommen in meinem letzten Teil zur Sprache.

I.1.2. Praxis und Aporie ‚indirekter Mitteilung‘ Nicht nur Sokrates, sondern jeder, der sprechen will, ohne damit Autorität zu beanspruchen, steckt mittendrin in der skizzierten Aporie: Climacus will als vorzügliches Beispiel für diese Problematik Lessing anführen, dem es gelungen sei, Scherz und Ernst ineins zu setzen62, aber konsequenterweise kann er sich nicht auf jemanden als Autorität berufen, der keine Wissensmitteilung vornimmt und nichts verkündet, ohne das Gegenteil gleichzeitig zu verkünden. Ein solches Zitat ist paradoxes Instrument der Verunmöglichung seiner selbst, denn hier ist Vorbildhaftigkeit nicht operabel, sondern gerade zu eliminieren. Climacus führt dies vor und ad absurdum, 60 61 62

AUN I, 192 / VII, 168. PB 44/ 43 / SV IV, 212 / SKS 4, 250. AUN I, 61f. / SV VII, 51ff.

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I. VorWorte und VerAntwortung

denn das, wofür er Lessing heranzieht, ist durch diesen nicht verbürgt, damit nicht einmal belegbar. Ohne denn zu wagen, mich auf Lessing zu berufen, ohne zu wagen, ihn mit Bestimmtheit als Gewährsmann anzugeben (…) gedenke ich nun darzustellen, was ich – hol mich der Teufel – auf Lessing zurückführe, ohne sicher zu sein, daß er sich dazu bekennt; was ihm in schabernackischer Ausgelassenheit unterzuschieben ich mich nahezu versucht fühlen könnte, daß er es nämlich gesagt habe, wenn auch nicht direkt; wofür ich ihm voller Bewunderung danken zu dürfen in anderer Weise schwärmerisch wünschen könnte; was ich wiederum mit stolzem Auf-das-meine-Halten und Selbstgefühl nur aus Generosität auf ihn zurückführe; und womit ich dann wieder fürchte ihn zu beleidigen und zu beschweren, wenn ich seinen Namen damit in Beziehung bringe.63

Dieselbe Aporie betrifft auch Climacus‘ eigene Rede, begibt er sich schon durch den Akt des Schreibens und Veröffentlichens in die Position dessen, der kommuniziert, mitteilen will, zitiert werden kann und als Autor mit Autorität herangezogen werden kann. Um dieses zu markieren, setzt er die eigene Argumentation auf zwei Seiten penetrant gleichsam in Klammern: Gesetzt* ( [Fußnote:] Ich sage bloß: gesetzt, und unter dieser Form darf ich ja das Gewisseste und das Widersinnigste bringen; denn selbst das Gewisseste wird ja nicht als das Gewisseste gesetzt, sondern wird nur als das Angenommene gesetzt, um die Sache zu klären; und selbst das Widersinnigste wird ja nicht wesentlich gesetzt, sondern als angenommen, um das Konsequenz-Verhältnis zu beleuchten.) also es wollte jemand folgende Überzeugung mitteilen: die Wahrheit ist die Innerlichkeit; es gibt objektiv keine Wahrheit, sondern die Aneignung ist die Wahrheit. Gesetzt, er besäße Eifer und Begeisterung, um es sagen zu können; denn wenn die Leute das hörten, dann wären sie gerettet. (…) Ja dann wäre seine Aussage gerade ein Resultat. – Gesetzt, es wollte einer mitteilen, daß alles Rezipieren ein Produzieren sei; gesetzt, er wiederholte es so häufig, daß dieser Satz sogar auf Vorlagen fürs Schönschreiben gebraucht würde: dann hätte er freilich seinen Satz bestätigt bekommen! (…) Gesetzt, er hätte doch noch soviel Verstand, daß er etwas merkte von dem Widerspruch, der darin liegt, daß er dies direkt mitteilte, und er es also gegen ihr Schweigeversprechen mitteilte: was dann?64

Prompt redet Climacus weiter und propagiert die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Mitteilung. Man könnte meinen, er bemüht – wie Goneril in Shakespeare‘s King Lear65 – den Unsagbarkeitstopos, um besonders effektiv und nachdrücklich sagen zu können. Schon im Vorwort bittet Climacus darum, nicht zitiert zu werden und freut sich, daß die Philosophischen Brocken kaum Beachtung ge63 64 65

AUN I 64 / SV VII, 55. AUN I, 69ff. / VII 59ff. Ich habe die Tirade stark gekürzt. „Sir, I love you more than words can wield the matter.“ (Act 1, Scene 1)

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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funden haben, also nicht als bedeutungsvolles Buch in den Kanon des Lesenswerten- und Zitierfähigen aufgenommen wurde: Das einzige, was ich fürchte, ist Sensation, besonders, wenn sie anerkennend ist. Obgleich die Zeit freisinnig, liberal und spekulativ ist, obgleich die heiligen Forderungen der persönlichen Rechte von manch einem liebwerten, mit Akklamation begrüßten Wortführer verfochten werden: so scheint man mir doch die Sache nicht dialektisch genug aufzufassen. Sonst würde man kaum die Anstrengungen der Auserwählten mit lärmendem Jubel, mit dem neunfachen Hurra um Mitternacht, mit Fackelzügen und anderen störenden Eingriffen in die persönlichen Rechte belohnen. Jeder soll, so scheint es recht und billig, in den zulässigen Dingen die Erlaubnis haben zu tun, was ihn gelüstet. Der Eingriff wird erst voll und ganz zu einem Eingriff, wenn das, was der eine tut, den anderen verpflichten will, auch etwas zu tun. Jede Mißfallensäußerung ist daher zulässig, weil sie nicht verpflichtend in das Leben eines anderen eingreift.66

Deswegen hält Climacus es auch für in Ordnung, auf der Straße nicht gegrüßt zu werden, um nicht verpflichtet zu sein, ebenfalls den Hut zu lüften und freut sich, daß keiner ihn bewundert, da das ein sicheres Indiz wäre, mißverstanden zu sein. Entsprechendes gilt für Zitate, mit denen man sich auf andere beruft, welche dagegen vollkommen machtlos sind. Entlehnt ein Schriftsteller eine Idee von einem anderen Schriftsteller, ohne ihn zu nennen, und macht aus dem Entlehnten etwas Verkehrtes, so begeht er keinen Eingriff in die persönlichen Rechte des anderen. Nennt er ihn dagegen, womöglich sogar mit dem Ausdruck der Bewunderung, als den, dem er – das Verkehrte – verdanke: dann ist er in hohem Grade lästig.67

Zwischen diesem Vorwort und dem Schluß liegen 537 Seiten in der dänischen Ausgabe. In vielen Kapiteln wird diskutiert, wie ein Mensch ins rechte Verhältnis zur christlichen Wahrheit kommt, da dies keine Wissensfrage ist. Nach dem Schluß dieser Überlegungen erfolgt ein Widerruf des Ganzen, in dem sich Climacus für unzuständig und fachlich inkompetent erklärt, da er selbst kein Christ ist68. Wieder erfolgt die Bitte, nicht zitiert zu werden, wie ein gesteigertes Echo des im Vorwort abgestrittenen Anspruchs auf Autorität. Zusätzlich zur Pseudonymisierung bildet dies eine Einklamme66 67 68

AUN I, 4f. / SV VII, S. VII. AUN I, 6 / SV VII, S.VIII. AUN II, 331 / SV VII, 537 ANHANG VERSTÄNDIGUNG MIT DEM LESER Der Unterzeichnete, Johannes Climacus, der dieses Buch geschrieben hat, gibt sich nicht für einen Christen aus; er ist vollauf damit beschäftigt, wie schwierig es sein muß, es zu werden; noch weniger aber ist er einer, der, nachdem er Christ gewesen ist, dadurch, daß er weiter geht, aufgehört hat, es zu sein.

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I. VorWorte und VerAntwortung

rung69 all dessen, was mühevoll und seitenstark zu Bedenken gegeben wurde (und nicht nur bändeweise Sekundärliteratur, sondern auch den Existentialismus incl. Heidegger, mitinitiiert hat). Also ist das Buch überflüssig, darum mache sich auch niemand die Beschwer, sich auf es zu berufen; denn wer sich darauf beruft, hat es eo ipso mißverstanden. (…) Vor allen Dingen bewahre denn der Himmel das Buch und mich vor jeder anerkennenden Gewaltsamkeit, daß ein brüllender Parteigänger es anerkennend zitiert (…)70

Zitate sind – wie Berufungen auf jemanden – anmaßende Einverleibungen fremder Worte bei gleichzeitiger zweifacher Autorisierung: Der Zitierte wird in seinem Status als Autorität affirmiert, der Zitierende versucht sich seinerseits zur Autorität zu erheben, indem er den Zitierten zum Bürgen macht. Wieder einmal wird darauf insistiert, einen publizierten Text nicht als öffentliche Angelegenheit zu sehen, keine Verpflichtung damit einzugehen, keine Ansprüche geltend zu machen. In Austinscher Terminologie gewendet versucht Climacus, die illokutionäre Dimension zu tilgen, d. h. die Rolle der Äußerung unbestimmt zu lassen. Was bleibt, ist einerseits die Lokution, d. h. der Text, wie er vorliegt, in einem handlungsrelevanten Vakuum, ohne damit eine verpflichtende Tat zu vollziehen. Andererseits bleibt die Perlokution, d. h. der Effekt der Äußerung auf Leser- bzw. Hörerseite und in dessen Autorisierung. Ob diese Wirkung vom Sprechenden/ Schreibenden beabsichtigt war, wird gezielt unklar gelassen, denn die (nicht-linguistische) Konvention, kraft derer eine Äußerung als Tat gilt, wird streitig gemacht. Was gesagt wird, vor allem, wie es gesagt wird, wirkt dem Sagen als verbindlichem Akt entgegen. Es gibt nur Vorworte und Antworten, wobei die Vorworte Anworten und die Antworten Vorworte sind. Der Text vermittelt nicht dazwischen, sondern hält diese Instanzen auseinander. Zur ‚Grammatik‘ eines gedruckten Erzeugnisses gehört, daß es gelesen wird und daß Rechenschaft dafür verlangt werden kann. Deswegen ist die Instanz des Lesers für Climacus vom Geschriebenen zu lösen, so daß das Lesen zu einem eigenen, unabhängigen Akt wird, der 69

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In Entweder – Oder gibt es eine Herausgeberfiktion mit einer wilden Geschichte, die durchschaubar ist und wie Climacus‘ widerspruchsvolle Einklammerungen wenig überzeugend wirkt: Ein Mann kauft antiquarisch einen Sekretär, den er eines Tages mit dem Beil in Stücke hackt, weil eine Schublade klemmt, in der dringend benötigtes Geld ist. Dabei tritt ein Geheimfach zutage, in dem Manuskripte zweier namenloser Verfasser stecken. Diese Texte bilden den Korpus von EO. EO I S. 3-16 / SV I, V-XVI/SKS 2, 11-22 . AUN II, 332 / SV VII, 538.

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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eine Autorisierung des Gelesenen leistet.71 Schreiben ist dann ohne alle Gewähr, es gibt nur die Veranlassung zu fremder produktiver Aktivität, ohne sie zu bestimmen, steuern oder gar erzwingen zu wollen. Ein Buch zu schreiben und herauszugeben, wenn man nicht einmal einen Verleger hat, der in Verlegenheiten kommen könnte, daß es nicht verkauft würde, ist ja ein unschuldiger Zeitvertreib und Vergnügen, ein privates Unternehmen in einem wohlgeordneten Staat, der Luxus toleriert (…)72 „Nur das Positive ist der Eingriff in die persönliche Freiheit eines anderen“ (vgl. das Vorwort) das Negative ist die Höflichkeit, von der nicht einmal hier gesagt werden kann, daß sie Geld koste, denn das tut nur die Herausgabe, und selbst wenn man unhöflich genug wäre, das Buch den Leuten aufschwatzen zu wollen, so wäre es doch nicht gesagt, daß jemand es kaufte.73

Dies ist ein vorsichtiger Verweis auf Kierkegaard ‚selbst‘ in der pseudonymen Schriftstellerei, denn der Herausgeber der Climacus-Schriften ist Kierkegaard. In diesem Zusammenhang nur beiläufig, ohne Namen, ins Spiel gebracht, handelt es sich um ein Vorzeichen für das nach dem Climacus-Text abgedruckte Bekenntnis, mit dem Kierkegaard sich zu allen Schriften als Verfasser outet und die Pseudonymisierung begründet. Hier taucht die Frage nach der Herausgeberschaft nur eng gekoppelt mit dem Thema Buchmarkt auf, erscheint als ein Aspekt folgender Argumentation: Eine ökonomische Beziehung verpflichtet, ist eine Tauschhandlung, die für Wert Gegenwert impliziert und einklagen läßt. Diese reziproke Verbindung zum Leser wird aber hier nicht vom (fiktiven) Autor eingegangen, sondern von dessen Stellvertreter in organisatorischen Angelegenheiten, dem Herausgeber. Aber auch der stiehlt sich aus der Verantwortung, indem er sie eingeht: Ein Kauf macht den Leser zum gleichberechtigten Partner. Mit der Bereitschaft, Geld auszugeben, mißt der Leser dem Text von sich aus Wert bei und macht ihn konvertibel. Das Erstandene ist seins, der Umgang damit steht ihm frei, die Beziehung zum Autor und Herausgeber ist mit dem Kauf sowohl eingegangen als auch abgeschlossen. Das Buch 71

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Matustík bringt dafür den Gegensatz von authorship und authoring (in Postnational Identity, pp. 203-228.) „Kierkegaard‘s works allow us to grasp the ramifications of his authorship only from the perspective of the self-transforming activity of a reader/author (i. e. self-authoring).“ AUN II, 333f. / SV VII, 539. Vgl. Johannes de silentio, der Autor von Furcht und Zittern, der sich als „Extraschreiber“ bezeichnet: „Er schreibt, weil dies ihm ein Luxus ist, der an Behaglichkeit und Evidenz gewinnt, je weniger da kaufen und lesen, was er schreibt.“ SV III, 59. AUN II, 334 / SV VII, 540.

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I. VorWorte und VerAntwortung

verschwindet in den Lesarten und ist keine Instanz, die möglichen Antworten entgegenstünde, vielmehr geht sie in ihnen auf, ist nur durch sie. Die intellektuelle Konvertibilität steht dem Käufer ebenso zu wie die ökonomische, es gibt keine unverantwortete Antwort. Mit der Aneignung, die sprachgeschichtlich das Zu-eigen-machen eines Besitzes war, wird die in der Kunst spielerisch74 freigesetzte, suspendierte Beziehung zwischen Wort und Bedeutung, Botschaft und Sprecher, wieder neu geleistet, so daß eine Rückbindung (lat.: religo) der möglichen Gehalte an die faktischen Koordinaten des Lesers statthat und Geltung und Verbindlichkeit neu vollzieht und etabliert. Insofern taugt die ökonomische Wertzuordnung nicht uneingeschränkt, da das Anzueignende kein Besitz ist, kein Gegenstand, der identisch bleibt, wenn er den Besitzer wechselt. Wenn das Selbst ein flexibles Relationengefüge ist, wenn die Aneignung dem gemäß sein soll, muß sich das zu eigen gemachte auch reorganisieren, um eigen werden zu können. Das dänische Wort für Aneignung, tilegnelse, heißt in seiner ersten Bedeutung zu-eigen-machen (eines Besitzes), aber auch im übertragenen Sinne: widmen. Insofern sind die Texte Kierkegaards dem Leser zugeeignet, d. h. zugemutet, denn er muß die Aneignung erst noch leisten. Bei Kierkegaard tritt die Rede von der Aneignung in Konkurrenz zum maieutischen Modell und ist damit nicht in einer harmonisierenden Lesart vereinbar. Diese für Kierkegaard typische Metaphernkollision erfordert, jede interpretatorische Leistung in ihrer nur beschränkten Relevanz mit anderen widerspruchsvoll zu konfrontieren. Hier ist es dadurch gegeben, daß die Aneignung und Verwirklichung produktiv 74

Smyth (a. a. O. pp. p. 118-144) greift die Entgegensetzung von Arbeit und Spiel auf, wobei ersteres sowohl durch den Staat und seine Ordnungen, als auch die Sophisten, die sich bezahlen lassen, vertreten werde. Die dafür notwendigen Festsetzungen von Wert werden durch die sokratische Ironie spielerisch unterlaufen, indem ein Rest von Unbestimmtheit allen Berechenbarkeiten trotzt und deshalb die Macht habe, sie insgesamt zu unterlaufen. p. 123 „(…) it continually exhibits (…) the shadow of play in the heart of work itself. The most immediate signs (negative determinations) of the Socratic activity are therefore not textual but „external“ or contextual and involve, at least to a certain extent, a withdrawal or detachment from contextual obligations (…)“ Wichtig für meine Diagnose des Durchbrechens des Spiels in der Aneignung ist die Fußnote 5, p. 122: „The Danish Virkelighed, like the English work and the Old English wycran, derives from the Indo-European root Werg, „to do or to work“. The economic sense of irony‘s resistance to „actuality“ is well expressed by Kierkegaard‘s claim that Socratic irony not only reduces knowledge to ignorance but also reduces „the sphere of action“ to „total barrenness“ (…) where the Danish word translated by „barrenness“ literally means „impecuniousness““.

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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ist und das Angeeignete neu werden läßt, es ist eine Wiederholung in dem hochproblematischen Sinne, wie in Kierkegaards Schrift mit dem gleichen Titel präsentiert.75 Insofern paßt die Schwangerschaftsmetapher, wo das ‚Innerliche‘ und ‚Eigene‘ zugleich ein Neues und Anderes ist, das als solches zutagetritt und umwertet. Während bei Geld und Wissen der Wert konstant bleibt, wenn es den Besitzer bzw. Kopf wechselt, entscheidet bei Wahrheit die Art des ‚Erwerbs‘ und sein ‚Besitzer‘ darüber.76 Nicht kalkulierbare Tauschgeschäfte, sondern ein Wagnis lassen eine Aneignung vollziehen, wodurch die Wirklichkeit mit allen bisher gültigen Zuordnungen zu einer anderen wird.77 Aber wie bei der Doppelreflexion bleibt eine performative Widersprüchlichkeit durch die Abwehr aller Vermittlungsleistung mittels einer sprachlichen Äußerung. Immerhin gibt Climacus dies und manches andere zu verstehen und schreibt nicht für die Schublade. Sein Interesse daran, daß der Leser ihn nicht als Lehrmeister mißversteht, sondern in der sokratischen Pose des Nichtwissenden bzw. Nichtglaubenden als Lernenden begreift78, ist für den Text so vital, daß dem Leser darin ein Ort zukommen muß. Um deswegen die eigenständige und vom Buch vollkommen zu lösende Aneignungsleistung nicht beeinträchtigen zu 75

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Allein drei Bände der Kierkegaard Studies Monograph Series sind dem Thema Wiederholung gewidmet: D. Glöckner Kierkegaards Begriff der Wiederholung, 1998; N. N. Eriksen Kierkegaard‘s Category of Repetition, 2000; T. Beyrich Ist Glauben wiederholbar? 2001. Diese Hochkonjunktur in den vergangenen Jahren läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß sich mit diesem Thema Kierkegaard auch für Verbindungen mit Heidegger, Derrida, Nietzsche und Deleuze als anschlußfähig erweist. Ich komme in meinen Teilen III.2.2 und V.1. darauf zurück. Besonders im Vergleich mit Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900) erweist sich die nur bedingte Brauchbarkeit der ökonomischen Metapher: Geld vermittelt, schafft Distanz zwischen Person und Besitz, objektiviert den Tausch. Eine Funktion wird Substanz und eine Relation kristallisiert sich in fixiertem Wert. AUN II, 134 / SV VII, 370. So würde ich den ‚Marktplatz-Rahmen‘ von Furcht und Zittern einschätzen: Sowohl im Vorwort als auch im Epilog geht es darum, daß das wirklich Wertvolle den ökonomischen Gesetzen nicht gehorcht und deren Suspension erfordert. Begriffliches Denken und Geld geraten in dieselbe Struktur der Berechenbarkeit und garantierten Wertigkeiten. Dagegen ist Gottes Forderung gegen alle solchen Sicherheiten als absolut inkommensurabel herauszustellen. „[…] so ist mein Versuch eo ipso ohne Bedeutung, und nur zu meinem eigenem Vergnügen, wie es ja sein muß, wenn ein das Existieren Lernender, der doch nicht andere kann lehren wollen […], etwas vorträgt, was man eben so von einem Lernenden erwarten kann, der wesentlich weder mehr noch weniger weiß, als was ungefähr jeder Mensch weiß, nur daß er etwas davon bestimmter weiß, und dafür in bezug auf vieles, was jeder Mensch weiß oder zu wissen glaubt, mit Bestimmtheit weiß, daß er es nicht weiß.“ AUN II, 337 / SV VII, 542.

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I. VorWorte und VerAntwortung

müssen, konzipiert ihn Climacus nur als impliziten Leser, der nötig ist, um den Text funktionieren zu lassen, und der wie der Autor in ihm absorbiert wird. Im Rahmen seiner ‚Privatangelegenheit‘ Schriftstellerei ist ein Leser vonnöten, aber nur als „stille Fiktion und ganz privates Vergnügen“, im Rahmen dessen, was der Text anlegt und erfordert. Er [der eingebildete Leser] versteht einen mit einem Male und Stück für Stück, er besitzt die Geduld, Zwischensätze nicht zu überspringen (…) er kann ebenso lange aushalten wie der Verfasser, er kann verstehen, daß das Verstehen das Widerrufen ist, die Verständigung mit ihm als einzigem Leser ist ja gerade der Widerruf des Buches, er kann verstehen, daß ein Buch schreiben und es widerrufen etwas anderes ist, als es zu schreiben unterlassen, daß ein Buch schreiben, das keine Bedeutung für jemand fordert, doch etwas anderes ist, als es ungeschrieben sein lassen; und desungeachtet, daß er sich einem immer fügt und einem nie zuwiderhandelt, kann man doch mehr Respekt vor ihm haben als vor den lärmenden Widersprüchen eines ganzen Lesesalons; aber dann kann man auch ganz im Vertrauen mit ihm reden.79

Dieser selbstentworfene und vollkommen kontrollierte Leser, der mit dem ‚wirklichen‘ gar nichts zu tun hat und genausowenig existiert, wie Climacus, ist der Adressat der Anrede des Climacus, in der er mit allem Nachdruck auf den letzten drei Seiten auf seinem Status ohne alle Autorität insistiert: „Mein lieber Leser!“80 Dieser Climacus hat seinen Namen nicht verdient, weil er einen Aufstieg auf vielen Seiten vorführt, aber am Ende disqualifiziert81. Johannes Climacus war ein Asket des sechsten Jahrhunderts, der ein Handbuch verfaßt hat, das eine Anleitung zum spirituellen Aufstieg bietet. Auf 30 Stufen wird jeweils ein Laster eliminiert und eine Tugend neu 79 80 81

AUN II 335 / SV VII, 541f. Ebd. Es gibt außer dem Pseudonym Johannes Climacus noch einen gleichnamigen Held einer fragmentarischen Erzählung Kierkegaards: Es ist ein junger Mensch, der leidenschaftlich philosophiert, aber zu der Einsicht kommt, daß durch dialektische Operationen historische Kontingenz und Zufälle, damit wichtige Determinanten der eigenen Existenz, nicht einzubegreifen sind. Das cartesische Programm des methodischen Zweifels, das der Protagonist der Erzählung nachzuvollziehen versucht, läßt ihn nicht zu einem absoluten Anfang des Philosophierens kommen, sondern führt in einen Regreß, der an der existentiellen Situation von Johannes vorbeigeht. Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est Pap. IV B 1 (1844). Eine deutsche Übersetzung bringt Hirsch im Anhang zu den PB, S. 109-159. Dieser Zweifler wird weiter unten in meinem Kapitel IV. 3.2.2. noch thematisch. Sicher kann man Bedenken anmelden, ob dieser junge Mann mit dem Autor der PB und AUN identisch ist. Aber bei der Vielzahl der Pseudonyme und Helden ist es ein starkes Argument, daß Kierkegaard den Namen Johannes Climacus zweimal einsetzt, einmal als Autor, einmal als Protagonist einer Erzählung. Außerdem ergeht es beiden ähnlich.

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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gewonnen. Ein entsprechendes Unterfangen mißlingt dem Kierkegaardschen Climacus, der zu der Einsicht kommt, daß es keine schrittweise Annäherung an die Glaubenswahrheit geben kann. Radikaler als der tractarische Wittgenstein, der ebenfalls die Leitermetapher82 aufgreift, wird hier nicht einmal eine instrumentelle Tauglichkeit der stufenweisen (bzw. dialektischen) gedanklichen Progression zuerkannt. Die Nachschrift ist eine Leiter, die nicht einmal dazu nützlich ist, höher oder weiter zu kommen, sondern sie dient einzig dazu, ihre Untauglichkeit als Maßnahme für das Anliegen des Christwerdens vorzuführen. Auch dies ist der klassische Gestus der Ironie von Sokrates über Friedrich Schlegel bis zur Moderne (und weiter), insofern die Ironie vor der eigenen Leistung und Fähigkeit nicht halt macht.83 Wie viele der bislang diskutierten Termini, die Climacus aus dem Hegelianismus aufgreift, hält auch sein eigener Name nicht, was er ver82

83

T 6.54 „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ Sicher kann man hier auch Jakobs Traum von der Himmelsleiter im Alten Testament (Genesis 28, 10-22) assoziieren. James Conant erinnert an den bei Climacus hintergründig hereinzitierten Dialog zwischen Jacobi und Lessing: Jacobi wolle wie der tractarische Wittgenstein und Climacus die Grenze des vernünftig Einsehbaren (respektive Sagbaren) angeben und meine, das definitiv klären zu können und Lessing den Punkt angeben zu können, der wie ein Sprungbrett wirkt und den Sprung quasi-automatisch folgen läßt. Lessing frage ironisch nach Jacobis Hilfe, um darauf hinzuweisen, daß Jacobi die Problematik verkennt: Indem er die Grenzlinie verbindlich und allgemeingültig ziehen wolle, sei er den von ihm bekämpften rationalen Theologen näher als er eingestehe. Er versuche, auch das, was er als dem Denken entzogen behauptet, noch durch den Verstand durch Ausgrenzung qualifizieren zu können. Genau diese Gefahr betreffe den Tractatus und die Nachschrift gleichermaßen, weswegen das Wegwerfen der Leiter in T 6.54 sowie der Widerruf am Ende der Nachschrift die Funktion der Lessingschen Ironie übernehme. Mit dieser Deutung kann Conant zu einer weitestgehenden Annäherung zwischen dem Tractatus und den Philosophischen Untersuchungen kommen, die er in einer langen Fußnote ausführt. (p. 224, note 87) („Kierkegaard, Wittgenstein and Nonsense“ in Pursuits of Reason. Festschrift für Stanley Cavell eds.: Cohen/Putnam/Guyer Texas 1993, pp. 195-224). Anders als Conant sehe ich die Tauglichkeit des Tractatus nicht insgesamt in aller Radikalität verworfen, wie es in der Nachschrift geschieht. Allein die selbstbewußte Ankündigung im Vorwort, widerspricht dem: „Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.“ Obschon unbestritten ist, daß mit der Leistung des Tractatus die wirklich wichtigen Fragen nicht behandelt werden, hält Wittgenstein viel von der Art, wie er sie ausgeklammert hat. Jedenfalls scheint er sich nicht alle Knochen zu brechen, weil die Leiter zu keinem tragfähigen Ort gelangen ließ und den Kletternden beim Umfallen mitreißt.

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I. VorWorte und VerAntwortung

spricht. So, wie der subjektive Denker zwar denkt, aber vor allem Leidenschaft braucht, so, wie die Doppelreflexion keine zweifache, selbstreflexive Reflexion ist, so, wie die Synthese des Selbst eigentlich das Aushalten eines Widerspruchs ist und so, wie die qualitative Dialektik keine Vermittlung leistet, sondern deren Unmöglichkeit markiert, ist Climacus keiner, der eine Klimax aufbaut und den Gipfel erreicht. Statt dessen werden Hegels Begriffe, wie Adorno es sogar vom ‚Sprung‘ meint, „durch aggressiven Gebrauch undeutlich gemacht“84. Doch steckt mehr dahinter: dieser Etikettenschwindel ist gezielt, er ruft die etablierten Bedeutungen auf, um sie zu unterwandern, wie es Kierkegaard in seiner Dissertation85 bei Sokrates diagnostiziert: die Frucht nicht pellen, sondern aushöhlen. Die Konfrontation mit dem Vertrauten, das hinterrücks zum anderen geworden ist, täuscht (zunächst) und läßt eine Veränderung eher vollziehen als der direkte Angriff. Damit ist die Ironie als Paradebeispiel indirekter Mitteilung ein homöopathisches Mittel, das das Symptom kuriert, indem der Erreger modifiziert gegen es eingesetzt wird. Gegen den bei seinen Zeitgenossen diagnostizierten „Sinnentrug“ sieht Kierkegaard explizite Kritik für ineffizient an, weswegen er zu ‚ästhetischen‘, aus der Dichtkunst entliehenen, Maßnahmen greifen muß, d. h. trügerischen, die der Existenzweise der Indifferenz gemäß sind. (Aber, wie oben skizziert, ist auch ohne verdorbene Mitmenschen die Ebene der Möglichkeit, also die abstrakte oder ästhetische, die einzige, auf der sich Menschen treffen können.) Mit unmittelbarem Angriff bestärkt man einen Menschen im Sinnentrug und zugleich erbittert man ihn. […] Der religiöse Schriftsteller muß denn also zuerst sehen, in Rapport mit den Menschen zu kommen. Das heißt, er muß mit einer ästhetischen Leistung anfangen. Das ist sein Handgeld. Je glanzvoller die Leistung ist, umso besser für ihn. Sodann muß er denn seiner selbst sicher sein, oder richtiger (was das Sicherste ist und das einzig Sichere) in Furcht und Zittern sich zu Gott verhalten, damit nicht etwa das Umgekehrte geschehe, dergestalt, daß nicht er der wird, der andre in Fahrt bringt, sondern die andern die, welche Macht über ihn gewinnen, so daß er damit endet, selber im Ästhetischen stecken zu bleiben. Er muß mithin alles in Bereitschaft haben, um, freilich 83

84 85

Richard Raatzsch diagnostiziert im Tractatus zwei unvereinbare Lesarten, eine analytische und eine existentialistische, deren erste Klarheit ohne Tiefe, während die andere Trübheit und dafür große Fragen angehe. Er zeichnet diese unvereinbaren Aspekte als logischen versus psychologischen bei Frege nach. Er schlägt vor, den Tractatus zweistufig zu verstehen und die beiden Stufen im Sinne der Kierkegaardschen Ironie aufeinander zu beziehen. So entstehe ein „praktischer Widerspruch“, der zwar nicht gelöst, aber dafür ausgestellt werden könne. „Klarheit, Tiefe, Ironie“, in Wittgenstein Studies, 2-97, pp. 15ff. A. a. O., S. 128. BI 45 / SV XIII, 140 / SKS 1, 106.

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ohne Ungeduld, so behende wie möglich, eben wenn er sie dahin gebracht hat mitzugehen, das Religiöse an den Tag zu geben, sodaß die gleichen Menschen mit dem Schwunge der Hingebung an das Ästhetische, hart auf das Religiöse auflaufen.86

Dieses Zitat benennt die große Gefahr der Indienstnahme von Kunst für religiöse Zwecke, wie es für Erbauungsliteratur charakteristisch ist: Der Leser könnte auf halber Strecke, im Genuß am schönen Schein, steckenbleiben und nie verbindliche Konsequenzen eingehen. Das Schöne gewinnt Selbstzweck und wird folgenlos rezipiert, was dazu führt, daß Rezeption zum ästhetischen Konstruktionsprinzip wird.87 Kierkegaards erbauliche Reden versuchen ebenfalls dem vorzubeugen, indem sie stilistisch wie argumentativ weitestgehend zurückgenommen werden und nicht die Alternative ästhetische oder religiöse, sondern nur die zwischen religiöser oder gar keiner (bzw. belangloser) Rezeption zulassen (I. 3.). Climacus markiert den vorläufigen Endpunkt der pseudonymen Schriftstellerei, in der in fast jedem Text der Versuch unternommen wurde, eine qualitative, durch Denken und Sprechen nicht zu plausibilisierende Grenze, besser: Kluft, zu lokalisieren und aus den Bemühungen des Autors wegen dessen Unzuständigkeit und Inkompetenz auszuschließen. Immer ist die Dringlichkeit und Aporie indirekter Mitteilung Teil der Problematik, so daß niemand den Status eines Lehrers beanspruchen kann. Wichtig ist, daß sich die unüberbrückbare und unvermittelbare, aber alles entscheidende Kluft nicht an konsistenten Termini festmachen läßt: In Entweder-Oder besteht sie zwischen der ästhetischen Existenzweise und der ethischen, welche – wie bei Kant – Religiosität wesentlich einbegreift. In Furcht und Zittern ist es die Inkommensurabilität zwischen dem Ethischen und dem Religiösen, in den Stadien und der Wiederholung die ästhetisch-religiöse Alternative. Climacus schließlich geht am weitesten, indem er eine heidnische Religiosität A (die er durch Sokrates vertreten sieht) von einer spezifisch christlichen Religiosität B unterscheidet und sich an der Schwelle zwischen beiden lokalisiert. Wie alle Pseudonyme begreift er sich damit atopisch wie Sokrates und muß das redlicherweise bekennen. Die Tatsache, daß jede Schrift eine radikale Distinktion herausarbeitet, daß sich diese Distinktionen 86

87

SS 37f. / SV XIII, 531f. Vgl. SS 38: Wie Sokrates will Kierkegaard die Leute da finden, wo sie sind. Hans-Robert Jauß schildert die ‚Geburt der Rezeptionsästhetik aus der Indienstnahme der Kunst zu Erbauungszwecken‘ in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1997, besonders S. 172-181.

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I. VorWorte und VerAntwortung

aber nicht gegeneinander aufrechnen lassen, macht es schwierig, die Existenzstadien ästhetisch-ethisch-religiös wie einen Entwicklungsprozeß in Analogie zu einem Bildungsroman, der in seiner stärksten Variante durch Hegels Phänomenologie des Geistes exemplifiziert wird, aufzufassen.88 Vielmehr erlaubt auch die Gesamtkonzeption der pseudonymen Schriften nicht, ohne forcierte Lesart, zu terminologischen Fixpunkten zu gelangen. Eher scheint die Botschaft zu sein: ganz gleich wer es ist, der redet, welche Differenzierungen er vornimmt und anhand von welchen Themen er sie elaboriert, die wirklich wichtige Entscheidung ist nur seine eigene, er kann sie nicht begründen und sein eigentliches Anliegen, die authentische Existenz seines Lesers, kann er nicht befördern. Was er aber leisten kann, ist durch seine nur fiktiv einnehmbare Positionierung zwischen zwei inkommensurablen existentiellen Möglichkeiten, die Entscheidung zwischen diesen erforderlich machen. Der Rückgriff sowohl auf die im 19. Jahrhundert gebräuchliche philosophische Terminologie und Methode als auch auf Stilelemente romantischen Schreibens, geschieht, um deren Ineffizienz in christlichen Angelegenheiten vorzuführen. Solche paraphilosophischen89 88

89

Dies wurde bereits mehrfach unternommen und findet sogar Zustimmung in Pap. VII 1 A 106 (1846): „Es ging mir darum, die verschiedenen Existenzstadien darzustellen, und zwar möglichst in einem Werk – und so betrachte ich die ganze pseudonyme Hervorbringung.“ Mark C. Taylor Journeys to Selfhood. Hegel & Kierkegaard, University of California Press 1980. Taylor findet bei Hegel wie Kierkegaard die Diagnose der Geistlosigkeit und Entfremdung bei den Zeitgenossen und den Versuch, durch eine dialektische Progression und eine Verschränkung von Anthropologie und Christologie zu einem authentischen Selbst zu führen. Unterschiede sieht Taylor erstens in der Vorstellung des wünschenswerten Zustands, nämlich sei es für Kierkegaard das, was bei Hegel als ‚unglückliches Bewußtsein‘ firmiert und zu überwinden sei. (Was meines Erachtens nicht stimmt: Die ‚unendliche Resignation‘ in FZ entspricht dem eher.) Zweitens in der Art der Therapie, die bei Hegel eine notwendige Sukzession der Reflexion und bei Kierkegaard Imagination ohne feste Abfolge sei. Wilfried Greve (a. a. O.) sieht auch ein System der Daseinsmöglichkeiten in Stufenfolge, aber er thematisiert deutlich, welche Komplikationen in der Chronologie auftauchen und eine reibungslose Kontinuität schwierig machen. Außerdem berücksichtigt er die Ausrichtung der Schriften und gruppiert sie als ästhetische, dialektische und psychologische. Diesen Terminus habe ich in Alastair Hannays Kierkegaard, London 1982, gefunden, Chapter 1 „A Kind of Philosopher“, pp. 8-12. Hannay meint, Kierkgaard sei insofern kein Philosoph, als es ihm ums Christsein gehe, was er anti-Hegelsch außerhalb des Denksystems verortet. Aber er trage zur Philosophie bei, indem er deren Aufgaben und Vorgehensweise einordnet mit Bezug auf die religiösen, wirklich relevanten Fragen, die dabei außen vor bleiben müssen. Damit gebe es einen Beitrag zur Philosophie, der aber weder philosophisch noch metaphilosophisch sei.

I.1. Johannes Climacus: Etikettenschwindel in maieutischer Tradition

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Traktate lassen darauf aufmerksam werden, wo die Zuständigkeit argumentativer Schlüssigkeit endet und irritieren die Denkgewohnheiten und Ansprüche von Philosophie und Theologie. Damit wird die Aufmerksamkeit umgelenkt auf die eigene existentielle Befindlichkeit, in der man verfehlt, was man längst als wahr eingesehen hat. Mit dem Widerruf nach dem Schluß der Nachschrift ist das Buch noch nicht zu Ende: Kierkegaard ‚selbst‘ übersteigt den Meta-Kommentar seines Pseudonyms durch ein Outing, in dem er sich zu allen bisher erschienenen Schriften als Autor bekennt. Eine erste und letzte Erklärung Der Form und Ordnung halber anerkenne ich hiermit, was realiter kaum für jemand ein Interesse haben kann zu wissen, daß ich, wie man sagt, der Verfasser bin von(…)90

Es folgt eine Auflistung aller Pseudonyme und ihrer Texte. „Ich, wie man sagt,“ stellt im folgenden klar, daß nicht äußere Gründe, wie etwa Zensur und Schutz der Person, für die „Pseudonymität oder Polyonymität“91 namhaft zu machen sind. [das] Gesamtwerk selbst, das um der Replik, um der psychologisch variierten Individualitätsverschiedenheit willen dichterisch die Rücksichtlosigkeit hinsichtlich (der Darstellung) des Guten und Bösen, der Zerknirschung und der Ausgelassenheit, der Verzweiflung und des Übermutes, des Leides und des Jubels usw. forderte, die nur von der psychologischen Konsequenz ideell begrenzt ist, welche sich keine faktisch wirkliche Person in der sittlichen Begrenzung der Wirklichkeit erlauben darf oder sich kann erlauben wollen.92

„Das Dichterische“ also erlaubt weiterzugehen als in „Wirklichkeit“ sittlich vertretbar ist. Das Argument lautet, daß die Fiktion Spielräume erschließt, Möglichkeiten zuläßt, ohne Verbindlichkeiten einzugehen. Wohl wissend, daß Publiziertes Eigendynamik hat und der Autorkontrolle entzogen ist, erlaubt die Fiktion von vornherein viele Deutungen. Zudem ruft ein ästhetischer Text kontroverse Lesarten hervor, die mit seiner Anlage stimmig sein können ohne durch sie kontrollierbar zu sein. Damit enthebt Kierkegaard – anders als Climacus – seine Schriften aller existentiellen Relevanz und ethischen 90

91 92

AUN II 339 / SV VII, 545ff. Hervorhebung im Original. Bezeichnenderweise hat dieser Text in der dänischen Ausgabe keine Seitenzahlen und ist durch stark verkleinerten Druck vom Text des Climacus abgehoben. Josiah Thompson berichtet (in Kierkegaard, New York 1973, p. 132), Kierkegaard habe diese Seiten zurückgehalten und erst zum Drucker gegeben, als das Buch fast fertig war (wie bei den meisten Titelblättern, wo die Pseudonyme als Autoren auftreten). Ebd. AUN II, 339 / SV VII, 545. Hirsch übersetzt ‚frembringelse‘, Hervorbringung, Erzeugung, Schaffen, Produkt mit ‚Gesamtwerk‘.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Wirkungsmacht, er ignoriert, was Aneignung in ihrem emphatischen Sinne ausrichten soll und beschreibt seine Texte wie einen Roman des psychologischen Realismus. Er nimmt eine nochmals gesteigerte Distanzierung von seinen fiktiven Autoren vor, denn sie seien autonomer als Romanfiguren. Denn mein Verhältnis ist noch äußerlichr als das eines Dichters, der Personen dichtet und doch selbst im Vorwort der Verfasser ist. Ich bin nämlich unpersönlich, oder persönlich in dritter Person, ein Souffleur, der dichterisch Verfasser hervorgebracht hat, deren Vorworte wiederum ihr Erzeugnis sind, ja deren Namen es sind. Es ist also in den pseudonymen Büchern nicht ein einziges Wort von mir selbst; ich habe keine Meinung über sie außer als Dritter, kein Wissen um ihre Bedeutung außer als Leser, nicht das entfernteste private Verhältnis zu ihnen, wie dies zu haben denn auch unmöglich ist zu einer doppelt-reflektierten Mitteilung.93

Kierkegaard bittet darum, bei Zitaten den Namen des jeweiligen Pseudonyms zu nennen94 und hat sichtliche Schwierigkeiten, eine Bezeichnung für sich, der er ja nur „der Form und Ordnung halber“ und „wie man sagt“ Verfasser ist, und das auch nur in „juristischer und literarischer“95 Hinsicht. Die Gelegenheit scheint dazu einzuladen, ja es beinahe […] zu fordern: nun so will ich sie benutzen zu einer offenen und direkten Äußerung, nicht als Verfasser, denn das bin ich ja nicht in der Weise, sondern als derjenige, der die Arbeit damit gehabt hat, daß die Pseudonyme das werden konnten.96

Kierkegaard benimmt sich wie seine Pseudonyme, wenn er einen Widerspruch heraufbeschwört, indem er die Instanz, die einen Redeakt vollzieht, wegzudefinieren versucht und jede Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit anulliert. Weder ein Autor noch ein Leser bleiben übrig; der Text ist entkoppelt und autonom, er bleibt als einzige Instanz, als ein Versuch, Antworten zu bewirken ohne Verantwortung zu riskieren. Kierkegaard treibt das Paradox auf die Spitze, wenn er sich, wie Climacus es im Widerruf getan hatte, mit einer Bitte an den Leser wendet und sowohl Autor als auch Leser als verschwindend behauptet, beide aber als Instanzen durch den Akt des Bittens affirmiert: Bei meinem Leser, wenn ich von einem solchen reden darf, würde ich mir im Vorbeigehen ein vergeßliches Gedenken ausbitten, ein Kennzeichen dafür, daß er meiner gedenkt, weil er meiner als jemandes gedenkt, den Bücher nichts angehn, was das Ver93 94 95

96

AUN II, 339f. / SV VII 546. Hervorhebungen im Original. AUN II, 341 / SV VII, 547. AUN II, 341 / SV VII, 546. In den Schriften über sich selbst will er sich ebenfalls als Leser, nicht als Verfasser verstanden wissen. SS 10 / SV XIII, 501. AUN II, 342 / SV (VII), (548).

I.2. Frau Notabene und ihr encliticon Nikolaus

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hältnis fordert, gleichwie die Würdigung dafür hier aufrichtig dargebracht wird im Augenblick des Abschieds (…)97

Die ganze Enthüllungsaktion ist wie die Theorie und Praxis indirekter Mitteilung bei Climacus ein Insistieren auf ihrer eigenen Unmöglichkeit bei gleichzeitigem Vollzug. Daß damit immer noch kein definitives Wort gesagt wurde, will eine Tagebucheintragung von 1849 klarmachen: NB NB Ein unmittelbares Wort über mich selbst habe ich bisher nicht ausgesprochen: die Nachschrift zur ‚Abschließenden Nachschrift‘ hat nichts dergleichen enthalten, ich übernahm bloß die Verantwortung für die Pseudonyme und sprach hypothetisch („nach dem, was ich verstanden hatte“) über ihre Gedanken. Erklärungen über die Struktur der Pseudonyme, wie sie sich in der Nachschrift finden, sind von einem Dritten […]98

I.2. Frau Notabene und ihr encliticon Nikolaus Nachschrift für diejenigen Leser, welche vom Lesen des Vorworts vielleicht Schaden haben könnten: sie können das Vorwort ja überspringen, und sprängen sie etwa gleich so weit, daß sie diese Abhandlung mit übersprängen, so mag auch dies ganz gleich sein. Aus den Papieren eines noch Lebenden99 zwischenVorwort und Haupttext

hast du nicht gemerkt, daß es etwas mitten inne gibt, zwischen der Weisheit und der Torheit? Diotima, Symposion 202a

Climacus muß sich ständig widersprechen, weil er allerhand zu denken gibt und dieser seiner Leistung für das eigentliche Anliegen alle Rele97 98

99

AUN II, 343 / SV VII, 548. Hervorhebung im Original. Pap. X1 A 161 (1849), T 3, 196. Siehe auch Pap. X 1 A 126, eingeleitet mit dreifachem ‚NB‘. Die in diesem Kapitel diskutierte Problematik der Autorschaft hat deutliche Parallelen mit der Diagnose vom Tod des Autors, wie sie angestoßen von Gadamers Hermeneutik im französischen Poststrukturalismus radikalisiert wird. Merold Westphal widmet sich dem und stellt als entscheidenden Unterschied heraus: Bei Kierkegaard müsse der Autor sich um Gottes willen zunichte machen, bei den Franzosen (R. Barthes, M. Foucault, J. Derrida) kollabiere die Analogie zwischen Autor und Gott als kreative, souveräne und sinnstiftende Instanzen nach Nietzsches ‚Tod Gottes‘. „Kierkegaard and the Anxiety of Authorship“, in International Philosophical Quarterly, vol. XXXIV, No. 1, Issue No. 133, 1994, pp. 5-22. „wider seinen Willen herausgegeben von S. Kierkegaard Kopenhagen 1838“ heißt es auf dem Titelblatt. (ES, 45 / SV XIII, 50)

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I. VorWorte und VerAntwortung

vanz abspricht. Deutlich wurde, wie sehr er sich an den polemisch bekämpften Hegelianismus anlehnen muß, um dessen Anspruch zu unterlaufen. Nikolaus Notabene ist ein Pseudonym, das diese Aporie extrem steigert und damit vollkommen in Abhängigkeit dessen bleibt, dem nicht anheimzufallen das Ziel ist: Er will ein Buch schreiben, das keines ist, das keinen Gegenstand hat und keine Aussage macht, ein Manifest gegen Erkenntnisansprüche. Dazu schreibt er nur Vorworte ohne zugehörige Haupttexte und publiziert die als Buch, das die Institution einer Publikation wahrt, aber durch den inhaltlichen Leerlauf ad absurdum führt. Das ‚Vorwort‘ ist – wie ‚Metaphysik‘ oder ‚Poststrukturalismus‘ – bestimmt durch negativen Bezug auf ein anderes. Ohne positive spezifische Qualifizierung wird so eine Ausgrenzung zum einzigen Charakteristikum. Damit ist die Relation zu dem, wovon es ausgegrenzt ist, gleichzeitig gekappt und notwendig zur Identifizierung. Anders als in der Einleitung ist die Art der Beziehung in keiner anderen Weise als durch Negation gekennzeichnet100. Es bleibt damit Spielraum für alles Uneigentliche, lediglich die Kontrastbindung zum Eigentlichen unabdingbar inbegriffen. Traditionellerweise geschieht dies dadurch, daß eine lokalisierende Stellungnahme zum folgenden ‚eigentlichen‘ Wort im Hinblick auf Autor, Leser, andere Texte vorgenommen wird. Der Standort, von dem aus die zu verhandelnde Sache avisiert wird, wird markiert, d. h. nachher eingenommen, um nicht mehr befragt oder legitimiert zu werden, damit das Thema entwickelt werden 99

100

Die Papiere eines noch Lebenden sind eine Kritik eines Romans von Hans-Christian Andersen und Kierkegaards erste eigenständige Publikation. Der Titel ist dadurch zustande gekommen, daß Kierkegaards Vater überzeugt war, für seine Sünden von Gott dadurch gestraft zu werden, daß seine Kinder vor ihm sterben. Als der Vater 1838 starb, war Kierkegaard erstaunt, noch zu leben und sogar als Autor an die Öffentlichkeit zu treten. Allerdings verweigerte Heiberg, der Hegelianer unter den Professoren und Hauptgegner der satirischen Vorworte, die Andersen-Kritik Kierkegaards in seiner Zeitschrift zu publizieren: sie war sehr lang und in einer Diktion, die dem Andersen-Stil und -Horizont vollkommen unangemessen war. (Ihr Hauptargument ähnelt der Diagnose über Adler, die ich in V.4. bespreche. Außerdem werde ich im Kapitel ‚Weltbild‘ darauf zurückkommen (IV. 2. 1.)) Durch den Tod des Vaters hatte Kierkegaard genug geerbt, um es auf eigene Kosten publizieren zu können. Jacques Derrida unterscheidet in seinem Aufsatz „Buch-Ausserhalb. Vorreden/Vorworte“ (in Dissemination, Wien 1995, S. 25) mit Blick auf Hegel Einleitungen als systematischer von den durch historisch-kontingente Umstände geprägten Vorreden/Vorworten, die sich mit jeder Auflage additiv steigern.

I.2. Frau Notabene und ihr encliticon Nikolaus

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kann101. Damit ist das Vorwort der Ort der Abgrenzung, Konstituierung und Absicherung, alle die Sache gefährdenden Faktoren werden ruhiggestellt oder verabschiedet, sind aber noch virulent102. Als Grenze des Eigentlichen ist das Vorwort nicht ‚Wort‘, sondern Ermöglichungsraum für Worte, paradoxerweise in Worten. Diese Dynamik exponiert das Pseudonym Nikolaus Notabene mit seinen Vorworten103: Es gibt derer acht, denen eines vorangestellt ist, das die oben skizzierte Funktion erfüllt und das Gesamtunterfangen des Buches vorstellt und legitimiert, es macht damit Vorworte zur ‚Sache‘: Nikolaus Notabene charakterisiert das Vorwort als Ort des Unbedeutenden, was unterschiedlichste Parallelen finden kann: Vorreden tragen das Gepräge des Zufälligen ebenso wie Dialekte, Idiome, Provinzialismen; sie sind, in ganz anderem Sinne als die Schriften, der Herrschaft der Mode unterworfen, sie wechseln gleich den Kleidertrachten.104

Gerade deshalb bieten sie aber eine Möglichkeit eigener Qualität, sie erlauben, das zugunsten des Eigentlichen Verschwiegene, Verdrängte und Ausgeschiedene zutage treten zu lassen. Nikolaus spielt mit dem Gedanken, sich ausschließlich auf das Studium von Vorworten zu spezialisieren, um so (Foucault antizipierend) eine Art Gegen-Geistesgeschichte des Unterdrückten durch alle Jahrhunderte und Sparten zu erschließen. Allerdings bricht er die Überlegungen dazu ab, da er „des gelehrten Apparats“105 ermangele. Bereits hier schlägt sich die Dialektik 101

102

103

104 105

Jean-Marie Schaeffer („Note sur la préface philosophique“, in Poétique 69, Paris 1987, pp. 35-44) führt Derridas Unterscheidung weiter, wenn er Einleitung und Vorrede unterschiedlichen kommunikativen Status zuweist: In der Vorrede sei der Autor noch nicht Philosoph, sondern außerhalb des Philosophischen und Autor wie jeder andere, der kommunizieren will. Hegels Absage an Vorreden in Vorreden zeuge von einem Unbehagen daran, nur Autor sein zu müssen und das absolute Wissen in andere Buchtitel einreihen zu müssen. „La vérité ne saurait exister à côté d‘autres écrits, partageant avec eux un même espace communicationnel.“ Derrida knüpft an Flaubert an, wenn er „die Vorrede in ihrem klassischen Begriff [… als] die kritische Instanz des Textes“ bezeichnet (Hervorhebung im Original) S. 35 Fußnote 15. Vorworte. Unterhaltungslektüre für einzelne Stände je nach Zeit und Gelegenheit (V) Samlede Værker Band V, Seiten 5-71, Søren Kierkegaards Skrifter Band 4, S. 463527 plus Kommentar in K4, S. 531-627, in der Ausgabe von Hirsch im selben Band wie der am gleichen Tag publizierte Begriff Angst, S. 171-239. Das erste Vorwort, welches ich im folgenden bespreche, gehörte zu den Texten, die Wittgenstein durch den Brenner kennengelernt haben könnte, es war 1914 in Haeckers Übersetzung dort erschienen. V 173 / V 5 / SKS 4, 467. V, 174 / SV V, 6 / SKS 4/468.

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des zur Debatte stehenden nieder: Uneigentliches zum Eigentlichen zu erheben bleibt dem Eigentlichen verfallen; eine leerlaufende Konvention läßt sich nicht von ihrer anerkannten performativen Rolle lösen. Nikolaus diagnostiziert die Tendenz, auf Vorworte zu verzichten und polemisiert gegen den Hegelianismus, wo „man das Buch mit der Sache beginnt und das System mit dem Nichts“106. Empört über den illusionären Anspruch, die Schwelle vereinnahmen zu können und damit Uneigentliches zunichte zu machen, Voraussetzungen entweder zu eliminieren oder einzubegreifen, startet Nikolaus sein Gegen-Projekt: Dieser Stand der Dinge hat mir Anlaß gegeben, darauf aufmerksam zu werden, daß Vorworte eine ganz eigne Art von literarischem Erzeugnis sind, und da dieses nun verstoßen ist, wird es höchste Zeit, daß es sich wie alles andre emanzipiere. Auf diese Art kann es noch wieder gut werden. Das Inkommensurable, das man in älterer Zeit in dem Vorwort zu einem Buch niederlegte, kann nun seinen Platz in einem Vorwort finden, das nicht mehr Vorwort zu einem Buche ist. (…) mein Verdienst ist es, die Sache mit dem Bruch ernst zu nehmen.107

Die ‚Sache‘ des Nikolaus ist also eine Verweigerung der Autorität sinnvoller und bedeutsamer Schrift, ist der Bruch mit der Sache; die hier zu konstatierende Aporie, sachen-los zu schreiben, benennt er und versucht sie zu bewältigen: Das Vorwort als solches, das emanzipierte Vorwort, darf also keine Sache abzuhandeln haben, sondern muß von Nichts handeln, und insofern es von etwas zu handeln scheint, muß dies doch ein Schein und eine vorgetäuschte Bewegung sein.108

Nichts zur Sache zu machen ist Schein (s. u. Angst109), Täuschung, Künstlichkeit. Nikolaus qualifiziert solche Art von Vorworten als „ly106 107

108 109

Ebd. Ebd., Im Kommentarband wird auf Pap. V B 74, 5 hingewiesen, wo Kierkegaard mit dem Bruch auf die Spaltung in Links- und Rechtshegelianer hinweist. Er nennt sich in einem Atemzug mit Feuerbach, wenn es darum geht, „es mit dem Bruch ernstzunehmen“. SKS K4, 567f. V, 175 / SV V, 7 / SKS 4/469. Mein 3. Teil wird den am selben Tag wie die Vorworte erschienenen Begriff Angst thematisieren, eine bis heute von Theologen gerne zum Thema Freiheit, Sündenfall und Dogmatik herangezogene Schrift (In den letzten Jahren wurde allein in Deutschland mindestens dreimal theologisch darüber promoviert). Für meinen Zusammenhang ist bedeutsam, daß dort dieselbe Dynamik herrscht, wie in den (in der Literatur kaum zur Kenntnis genommenen) Vorworten, nämlich daß das Wie (Angst, die keinen Gegenstand hat, da es in Eden Sündigkeit noch nicht geben kann) dem Was (erste Sünde) vorausgeht und sein Eintreten provoziert, beschwört, hervorruft, möglich macht (den (vorausgesetzten) Unterschied zwischen Gut und Böse erst herstellt). Vgl. Derridas Rede von „semantischer Nachträglichkeit“ und „signifikanter Überstürzung“ (a. a. O., S. 28, 37, u. ö.)

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rische“, denn sie insistieren auf ihrer eigenen Scheinhaftigkeit, im Gegensatz zu den üblichen, „vulgären“ und „zeremoniellen“, die sich als uneigentlich verstehen und in den Dienst der nachfolgenden und antizipierten Sache stellen. Er läßt eine Kette von Analogien folgen, um diese Spezifik vergleichbar zu machen. Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam die Türglocke eines Manns ziehen um ihn zu foppen; gleichsam am Fenster einer jungen Maid vorbeigehn und das Pflaster begucken, es heißt gleichsam mit dem Stock Lufthiebe tun nach dem Winde, gleichsam den Hut schwenken, obschon man niemanden grüßt. Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam etwas getan haben, das dazu berechtigt, eine gewisse Aufmerksamkeit zu beanspruchen, gleichsam etwas auf dem Gewissen haben, das die Verantwortlichkeit reizt; gleichsam eine Neigung zum Tanze verraten, wiewohl man sich nicht bewegt (…)110

Jede Maid weiß die Effizienz solcher Maßnahmen zu schätzen und wird es sich nicht nehmen lassen, immer dann am Fenster zu posieren, wenn der Bursche vorbeikommt, um sie gezielt zu ignorieren. So gerät Nikolaus – wovon Nietzsche allenfalls (alp)träumen würde – mitten in die Stube der Maid. Die lange Reihung seiner Analogien führt unwillkürlich mehr und mehr dahin, Vorworte mit unbedeutsamen Details, die der erste Schritt zu einem Neuen und Großen sind, zu vergleichen. Nahezu unmerklich endet er schließlich bei einem ‚etwas‘, dessen Existenz nicht zu leugnen ist und dessen Verbindlichkeit keine Ausflucht duldet: Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam angekommen sein, in der traulichen Stube stehen, die sehnsüchtig begehrte Gestalt grüßen, im Lehnstuhl sitzen, die Pfeife stopfen, sie anzünden – und so unendlich viel mit einander zu reden haben. Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam an sich selber bemerken, daß man im Begriff ist sich zu verlieben, daß die Seele in süßer Unruhe ist, das Rätsel aufgegeben, jedes Begebnis ein Wink für die Auflösung. Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam den Zweig der Jasminlaube zur Seite biegen und sie gewahren, die da heimlich sitzt: meine Liebe.111

Seine euphorische Reihung hat Nikolaus zum Thema gebracht, zum eigentlichen Grund seiner Abstinenz von Themen, weswegen er aus dem Rahmen der Vorwortschreiberei fällt: Er endet in Verbindlichkeiten, die seine bisher verschwiegenen Voraussetzungen aufkommen lassen. Da genau die im Vorwort ihren Ort haben, „zu Hause sind“112, erläutert er sie im folgenden: Ein klassischer Vorwortschreiber sollte so konsequent sein, die ‚Sache‘ nicht aufkommen zu lassen, 110

111 112

V, 175f. / SV V, 7 / SKS 4, 469. (stark gekürzt) Hirsch übersetzt ‚Fortrolighed‘ (wörtl.: Vertraulichkeit) mit ‚Verantwortlichkeit‘. Eigentlich geht es um etwas, was man vertraulich weitererzählen möchte; vgl. SKS K4, 568. V, 176 / SV V, 8 / SKS 4, 469f. V, 177 / SV V, 8 / SKS 4, 470.

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er ist ein „leichtsinniger Taugenichts“, „Guten Tag und lebe wohl in einer Person“113, Verpflichtung meidend und amoralisch. Sich selbst nimmt Nikolaus aus von dieser Klassifizierung, er fällt heraus aus dem von ihm charakterisierten Wesen des Schreibers von Unwesentlichem, treibt er doch seinerseits Unwesen mit dem Unwesen: Gerade ein Gelübde ist es, das ihn zum Vorwortschreiber verpflichtet, denn er hat seiner Frau Abstinenz gegenüber dem Schreiben von Büchern versprochen. Jene nämlich betrachtet das „Gelüste [… zur] schriftstellerischen Arbeit“114 als Konkurrenz zu sich, als „vornehme Art von Untreue“115, die sich im Laufe des Textes als „schlimmste Art von Untreue“116 herausstellt, da Nikolaus auch bei physischer Anwesenheit nicht bei ihr, bei der ‚Sache‘, vielmehr bei einer anderen ‚Sache‘ ist. Damit ist Nikolaus zwischen zwei Absoluta eingespannt, die ihre je eigene Logik mit umfassendem Anspruch einfordern. Obschon Nikolaus sich in die „Methode ehelichen Zusammenlebens eingeübt“117 hat, regt sich die Lust zu schreiben in unvereinbarer Konkurrenz dazu. Das führt so weit, daß Nikolaus‘ Ehefrau „den Krieg erklärt“118, sich auf keinerlei Argumentation, keine Vermittlung einläßt; sie miß- bzw. gebraucht Papier zu anderen Zwecken, was für Nikolaus schlimmer als Zensur ist, und erklärt Gelehrtendispute (wie viele von Kierkegaards Pseudonymen) zu „Luxusartikeln“ und „Neckerei“119. Trickreich verführt sie Nikolaus dazu, das Geschriebene selbst zu verbrennen, indem sie seinem Vorschlag zustimmt, ihr daraus vorzulesen, sich also wie Climacus zum Schein einläßt auf die ‚terms‘ des anderen, um diesen besser vernichten zu können: Sie nahm meinen Vorschlag so freundlich wie möglich auf, sie hörte zu, sie lachte, sie bewunderte. Ich glaubte, es sei alles gewonnen. Sie trat zu dem Tisch, an dem ich saß, legte ihren Arm vertraulich um meinen Hals, bat mich, einen Passus noch einmal vorzulesen. Ich fange zu lesen an, halte das Manuskript so hoch, daß sie mir mit dem Augen folgen kann. Vortrefflich. Ich bin aus dem Häuschen, aber noch nicht ganz heraus aus jenem Passus, als das Manuskript plötzlich lichterloh brennt. Ohne daß ich es bemerkt

113 114 115 116 117

118 119

V, 176 / SV V, 8 / SKS 4, 470. V, 177 / SV V, 8 / SKS 4, 470. V, 180 / SV V, 12 / SKS 4, 474. V, 181 / SV V, 13 / SKS 4, 475. V, 177 / SV V, 8 / SKS 4, 470. Meine Übersetzung. Hirsch übersetzt dän: ‚Methode‘ mit ‚Kunst‘ und verschleift damit, wie Wissenschaft (Methode) und Begehren sich unterwandern, Plätze tauschen. V, 178 / SV V, 9 / SKS 4, 471. V, 178 / SV V, 10 / SKS 4, 472.

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hatte, hatte sie eins der Lichter unter das Manuskript geschoben. Das Feuer hatte die Übermacht, es war nicht zu retten, mein einleitender Paragraph ging in Flammen auf – unter allgemeinem Jubel, denn mein Weib jubelte für uns beide (…) Ich konnte kein einziges Wort anbringen.120

Nikolaus ist ausgetrickst. Mit nicht geringerem Ausschließlichkeitsanspruch als Hegels System läßt sich die Gattin scheinbar ein, doch nur als Taktik, um den anderen außer Gefecht zu setzen. Längst hatte sie alles Intellektuelle auf seine materielle Seite reduziert, durch Zweckentfremdung von Papier. Nur konsequent geht sie zum finalen Schritt über, der Vernichtung dieser materiellen Basis. Der erledigte Nikolaus spricht ihr Vollmacht/Autorität (myndighed 121) zu, weil sie – anders als Nikolaus und Climacus – nicht auf Maßnahmen zurückgreift, die ihrer Sache nicht gemäß sind, keine Autorschaft anstrebt, ein Nichts der Wissenschaft und deren bedrohliches Anderes bleibt. Ihre Beweisführung ist gleichsam eine Beschwörung der Natur. (…) Ihr Beweisgang geht frisch von der Hand – und zum Herzen, aus dem er eigentlich kommt. In dieser Hinsicht hat sie mich gelehrt zu verstehen, wie ein Katholik erbaut werden kann durch einen lateinischen Gottesdienst; denn ihr Beweisgang ist, als solcher betrachtet, das, was Latein ist für den, der es nicht versteht, und doch erbaut sie mich stets, rührt und bewegt mich.122

Nikolaus ist überwältigt, ohne zu verstehen wieso und ohne zu merken, daß es nichts zu verstehen gibt. Er versucht, seiner Frau Argumente zu unterstellen, damit er dem entgegnen kann123. Doch gelingt es ihm nicht, die zirkuläre Logik der Vereinnahmung zu sprengen, die sich als „fixe Idee“124 gegen alle Rede immunisiert. Nikolaus bleibt keine Wahl, als sie zu präsentieren, indem er seine Frau zitiert (was in den Kierkegaardschen Schriften ein seltenes Privileg ist, es bevölkern zwar immer wieder zauberhafte Fräulein die Szenen, bleiben aber meist stumm): (…) ich glaube nicht, daß du zum Schriftsteller taugst – dahingegen, ja lach nur ein bißchen über mich, dahingegen hast du Genie und Talent und außerordentliche Begabung dafür, mein Mann auf eine solche Art zu werden, daß ich dich ohne Unterlaß bewundern würde, während ich selbst mit Freuden meine eigne Geringheit fühlte und dir 120 121

122 123 124

V, 179 / SV V, 11 / SKS 4, 472. V, 179 / SV V, 10 / SKS 4, 472. Sie hat also das, was die Pseudonyme wie Kierkegaard ständig von sich weisen. V, 180f. / SV V, 12 / SKS 4, 473f. V, 181 / SV V, 12 / SKS 4, 475. V, 182 / SV V, 13 / SKS 4, 474.

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meine Liebe mit nichts als Danken ausdrückte.“ Sie ließ sich jedoch nicht darauf ein, das Argument auszuführen.125

Daß darin kein Argument steckt, daß es also nichts gibt, das man ‚ausführen‘ könnte, geht Nikolaus nicht auf. Stattdessen sieht er seine Autonomie in Gefahr und befürchtet, „das encliticon zu einem Nichts“126 zu werden, ein lebendiges Vorwort zu einem nicht existierenden Buch. Ob es ein lächerlicher Kompromiß ist, wenn er nur Vorworte schreibt, oder ein Widerstand, da die Vorworte ein Buch ergeben, das publiziert wird und im Buchhandel erhältlich ist, bleibt offen. Ich berief mich in dieser Hinsicht auf analoge Fälle, wie daß Männer, die ihrer Frau versprochen hatten, nie mehr Tabak zu schnupfen, zum Entgelt die Erlaubnis bekommen hatten, so viele Tabaksdosen zu besitzen als sie wollten. Sie nahm den Vorschlag an, vielleicht in der Meinung, es sei unmöglich, ein Vorwort zu schreiben, wenn man kein Buch schreibe (was ich ja nicht darf) (…)127

Wohl wissend, daß dies keine Analogie ist, daß der Vergleich hinkt und manipulativ ist, beteuert Nikolaus gleichzeitig „unversehrte(s) Gewissen“,128 hält es aber für angebracht, das ganze Buchprojekt ohne Wissen seiner Frau, dem “hostis domesticum“129, auf dem Lande zu realisieren. Noch also ist ungeklärt, ob es gelingt, einen eigenen Raum zwischen den beiden Absoluta zu ertrotzen, gleichwohl ist klar, daß es keine Vermittlung geben kann, wie allein die vielen Kriegsvokabeln indizieren. Hinterrücks ist er allem treu geblieben, dem er zu entkommen bestrebt war, muß dabei aber die jeweiligen Standards verletzen, so daß faule Kompromisse seine Spezialität werden: Durch seine schlechten Analogien, unwirksamen Maßnahmen und Widersprüche hat Nikolaus, ohne es zu wollen, unter Beweis gestellt, daß seine Frau Recht hat, wenn sie seine Gelehrsamkeit geringschätzt. Andererseits hat Nikolaus durch die Publikation einen Ort in der Gelehrtenwelt eingenommen und stellt deren unausweichliche, ermächtigende Funktionsweise durch Leerlauf aus. Seine im Text versprengten lateinischen Vokabeln sind wie Inseln des Akademischen, zu welchen sich Nikolaus nur kurz flüchten kann. Indem er weder Herr seiner Rede noch seines Hauses ist, indem er viele Seiten in Druck gibt und keinen Gegenstand hat, exemplifiziert Nikolaus, was wissenschaftlichen Diskursen 125 126 127 128 129

V, 182f. / SV V, 14 / SKS 4, 475. V, 182 / SV V, 13 / SKS 4, 474. V, 183 / SV V, 14 / SKS 4, 475. V, 183 / SV V, 14 / SKS 4, 476. V, 183 / SV V, 14 / SKS 4, 475.

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nicht eliminierbar ist, nämlich „mitten inne zwischen Weisheit und Torheit“ (vgl. Motto von Diotima) zu sein.130 Drastischer als bei Climacus kommt hier die Paradoxie von Autorschaft zutage: Texte verfassen, sprachliche Aktivität jeder Art bewegt sich in der Zone, wo aus Nichtigkeiten Sachen werden, was Produkt einer vor-worthaften Tätigkeit ist, die Uneigentliches ausgrenzt und Eigentliches entstehen läßt, selbst aber von beidem gezeichnet ist. Vorworthafte Tätigkeiten haben illokutive Macht, wie alle Worte, die immer auch Antworten sind und andere Antworten provozieren. Auch und gerade Vor-Worte ändern Konstellationen, stiften Verbindlichkeiten und Verantwortlichkeiten. Über das weitere Schicksal Nikolaus‘ Notabenes kann nur spekuliert werden: Als pseudonymer Autor verschwindet er, seine Vorworte werden von Johannes Climacus, der alle Pseudonyme kurz charakterisiert, in einem Nebensatz als „heiteres Büchlein“131 erwähnt und (bezeichnenderweise) auf einen Gegenpol zum „dozierenden“ Begriff Angst reduziert. Allenfalls aufgelöst in die Anonymität seiner Initialen N. N. und so angesprochen von Constantin Constantius in seinem Brief an den „wirklichen Leser“132 der Wiederholung bleibt etwas von Nikolaus, er wird zur Leserschaft schlechthin. Unter Umständen sind seine Initialen ins Lateinische übersetzt zum Autor des Tagebuchs „Schuldig“? – „Nicht schuldig?“ in den Stadien geworden, nämlich Quidam, irgendeiner. Dessen Tagebuch wäre der Versuch zu imaginieren, was aus Nikolaus geworden wäre, wenn er nicht geheiratet hätte. Seine Frau, die namenlos bleibt, habe ich in Verdacht, dieselbe Funktion zu erfüllen wie das ebenfalls namenlose Mädchen in der Wie130

131 132

Die acht Vorworte nach diesem Metavorwort werde ich nicht behandeln. Ihre Pointe ist die, vorzuführen, wie eine negative Ausgrenzung dem Ausgegrenzten verfallen bleibt und wie Diskurse aus Nichtigkeiten Sachen machen und deshalb täuschen, da sie ihre eigenen Ermächtigungen nicht thematisieren. Bevorzugter Gegner, dem Nikolaus nicht entkommt und dessen er bedarf wie jeder parasitäre satirische Text, ist Heiberg, der Hegelianer, dessen Kritiken zu Kierkegaards Texten aus der Sicht des Autors jedesmal die Pointe verpassen (vgl. Fußnote 99 zum Motto dieses Kapitels, S. 49f.). Als encliticon zum Hegelianismus wie zu seiner Ehefrau besetzt Nikolaus genau die Schnittstelle zwischen Wissen und dessen (Ab-)grund. Wichtig für meinen Teil 3 ist, daß das siebte dieser Vorworte eigentlich der Angstabhandlung vorangestellt werden sollte. Kierkegaard hat es aber hier miteingereiht, also emanzipiert, „um die Aufmerksamkeit von der Sache zu lenken“ Pap. V B 71. Dieses Vorwort ist länger als das schließlich der Angstabhandlung vorangestellte und erschöpft sich fast in Hegel-Polemik. AUN I, 265 / SV VII, 229. W 91 / SV III, 257 / SKS 4, 89.

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I. VorWorte und VerAntwortung

derholung (und die in meinem Kapitel über Furcht und Zittern zu besprechende Agnete): Diese Frauenfiguren bleiben beide ohne positive Charakteristiken, sie sind kein persönliches, menschliches Gegenüber, kein alter ego, sondern besetzen die Stelle des inkommensurablen, schlechthin Abwesenden – was aber ihrer Macht keinen Abbruch tut. In ihrer nur negativen Prädizierbarkeit sind sie eine uneingestandene Analogie133, die nie explizit wird, aber ermöglicht, den bei aller apophatischen Rede mittransportierten substanzmetaphysischen Strukturen auszuweichen. Damit leistet wieder das Ästhetische, was das Religiöse sich verkneifen muß, nämlich eine quasi-Transzendenz vollziehen zu lassen, dadurch daß das im Text Uneinholbare als Frau figuriert und präsent werden kann. Stellvertretend und wenn so aufgefaßt falsch muß dies in Kombination mit einer Negation und nur als Schein auftreten und vermeidet so eine Rede von Gott mit kataphatischen wie apophatischen Mißlichkeiten.134 An den Kierkegaardschen Ausweichmanövern wird deutlich, daß die Alternative zwischen positiver und negativer Theologie keine glückliche ist, denn sie beruht auf der aristotelischen Substanzmetaphysik, die Attribute für Akzidentien zuoder absprechen läßt. Sobald der christliche Gott ins Spiel kommt, geht dies nicht mehr auf, was spätestens bei Thomas von Aquin unübersehbar wird. Mit impliziten, schlechten oder negierten Analogien, (vgl. auch mein Kapitel über Furcht und Zittern, V. 1. ) erzielt Kierkegaard zwar keinen Aufschluß, aber zunächst eine erhöhte Komplexität der Verfahren. Damit beschäftigt man sich erst einmal mit diesem Pro133

134

Als explizite Analogie gibt es immer wieder Liebesverhältnisse bei Kierkegaard, die das Gottesverhältnis verdeutlichen sollen, um aber letztlich als unzureichender und verfehlter Vergleichsversuch verworfen zu werden. Meist ist die Verbindung unmöglich aufgrund größtmöglicher Standesunterschiede (Königssohn-armes Mädchen), die aber den absoluten Unterschied zwischen Gott und Mensch nie klarmachen können, denn der übersteigt jeden zwischenmenschlichen Maßstab. Vgl. AUN II, 163 / SV VII, 396; PB 25f. / IV, 195f.; KT Kapitel II, B. C., S. 120f., Adler S. 116/ 133ff., Kleine Schriften 1848/49 S. 49f. / SV XI, 25; S. 80 / SV XI, 60. Für die anthropologische Behandlung des Unterschieds von Mann und Frau in der Krankheit zum Tode und dem Begriff Angst würde ich diese Lesart nicht aufrechterhalten, erst recht nicht mit bezug auf Kierkegaards expliziten, meist diffamierenden Äußerungen zu Frauen in den Tagebüchern. Hans Blumenberg bringt auf den Punkt, wie negative Prädikation nicht umhinkann, in positive umzuschlagen: „ Die kühnste Metapher, die die größte Spannung zu umfassen suchte, hat daher vielleicht am meisten für die Selbstkonzeption des Menschen geleistet: indem er den Gott als das Ganz-Andere von sich absolut hinwegzudenken versuchte, begann er unaufhaltsam den schwierigsten rhetorischen Akt, nämlich den, sich mit diesem Gott zu vergleichen.“ „Anthropologische Annäherung an die Rhetorik“, in Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 135.

I.2. Frau Notabene und ihr encliticon Nikolaus

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blem, ohne zu rasch erschlichene Erfolge zum Wesen Gottes für sich verbuchen zu können. Allenfalls als Verweis auf das Jenseits aller Vermittelbarkeit und Darstellbarkeit wird nie beansprucht, das zu leisten. Sowohl eine Vereinnahmung, Assimilation und Verendlichung Gottes durch positive Prädikation und Analogie als auch die Kontrastbindung an menschliche Vermögen durch dialektisch integrierende negative Prädikation läßt sich durch eine implizite und nie wirklich beanspruchte Analogie vermeiden. Ihre Leistung besteht darin, den Text zu öffnen, indem sein Scheitern unmißverständlich wird.135 Für diese meine Lesart kann ich allenfalls phonetische ‚Evidenz‘ anführen, nämlich mit Bezug auf Kierkegaards Nachdichtung des platonischen Symposion, das den Titel In Vino Veritas136 trägt. Zu diesem Gastmahl sind die Pseudonyme aus Entweder-Oder und der Wiederholung geladen und tauschen sich über Frauen aus. Es geht reihum wie bei Platon, wobei ausnahmslos die Unberechenbarkeit, Unqualifizierbarkeit und Unfaßbarkeit der nicht mitredenden, abwesenden Frauen bemängelt wird. Die vordergründig misogyn erledigte, aber jeden Beitrag dominierende und durch keinen erschöpfte oder in den Griff bekommene „Qvinde“ (Frau), deren ‚d‘ phonetisch geschluckt wird wie der enklitische Nikolaus, klingt fast wie das lateinische ‚vino‘ im Titel, besonders, wenn man sich einen Latein sprechenden Dänen vorstellt und Kierkegaards ostentativer Forderung, seine Texte laut zu lesen, gerecht wird. Versteht man die Initialen N. N. als Aufforderung „nomen nominandum“, so möchte man fast Nikolaus Notabenes Frau, der als einziger in Kierkegaards Texten ‚myndighed‘ zugesprochen wird, Diotima nennen.137 (PS: Meist werden die bei Kierkegaard in den Texten figurierenden Frauengestalten mit der überstrapazierten Entlobten Kierkegaards, Regine Olsen, identifiziert, besonders das Mädchen in der Wiederholung. Abgesehen davon, daß das auf der Hand liegt, gibt man so der Biographie das letzte Wort. Das könnte man auch auf interessantere 135

136 137

Jacques Derridas Éperons. Les Styles de Nietzsche (1973; dt.: „Sporen. Die Stile Nietzsches“, in: W. Hamacher (Hg.) Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt 1986, S. 131-166) mußte hier nicht Pate stehen. Man kommt nicht nur kierkegaardintern dahin, sondern zu einer diametral entgegengesetzen Bewertung der Frau-Wahrheit, die sich gegen alle Repräsentationsversuche und durch deren Scheitern behauptet. SLW, 7-90 / SV VI, 13-83 / SKS 6, 15-84. In dem Sammelband Feminist Interpretations of Søren Kierkegaard, eds. Céline Léon + Sylvia Walsh, Pennsylvania 1997, bleibt die Frau von Nikolaus Notabene in 14 Aufsätzen auf 327 Seiten unerwähnt.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Weise: Die Mädchen könnten helfen, das in allem, was von Kierkegaard schriftlich erhalten ist, mit aller Gewalt total ignorierte ‚Mädchen‘ zu verschweigen: Ane Sørensdatter Kierkegaard, geborene Lund. Die war (Dienst-)mädchen138 im Hause Kierkegaard und wurde die zweite Frau von Kierkegaards Vater. Über das Verhältnis Kierkegaards zu seiner Mutter weiß man folglich nur, was Zeitgenossen berichten (wohingegen Vater Kierkegaard nachdrückliche und eindeutig identifizierbare Spuren in publizierten wie unpublizierten Texten hinterläßt). Die wenigen Hinweise lassen auf eine extrem enge Beziehung schließen.139 Vor diesem Hintergrund ist auffallend, wie oft bei Kierkegaard an entscheidenden Stellen Dienstmädchen auftauchen: Sie sind es, die die richtigen Wörter parat haben und das Schreiben weiterbringen, nicht aber die Lektüre kluger Bücher. Worüber man in Büchern vergeblich Belehrung gesucht, darüber geht einem plötzlich ein Licht auf, wenn man ein Dienstmädchen zu einem andern Dienstmädchen reden hört; einen Ausdruck, den man vergebens seinem eignen Hirn hat abquälen wollen, vergebens in Wörterbüchern gesucht hat, selbst in den wissenschaftlichen, den hört man im Vorübergehen […]140

Die besondere Relevanz der Sprache seiner Mutter, der Muttersprache, wird auch in der Tatsache deutlich, daß Kierkegaard seine Doktorarbeit auf Dänisch schrieb, entgegen den akademischen Gepflogenheiten nicht auf Latein. In der Nachschrift bekennt sich Climacus dazu, „nach Frauenzimmerart das Wichtigste in einem Postscriptum [zu] sage[n]“.141 Besonders beim Kirchgang gilt Kierkegaards Interesse den Dienstmädchen, er vermutet echte religiöse Zerknirschung, als er eines Tages 138

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Dänisch ‚pige‘ für Mädchen wird auch kurz für ‚tjenestepige‘ , Dienstmädchen, verwendet. Die Berichte von Zeitgenossen hat Bruce Kirmmse gesammelt und ediert: Søren Kierkegaard truffet. Et liv set af hans Samtidige København 1996. Auf S. 273 berichtet Martensen von seiner Mutter, die Kierkegaard nach dem Tod seiner Mutter traf und meinte, sie habe noch nie jemanden so maßlos trauern sehen. Auf S. 314 berichtet Brøchner von einer Beschreibung des 15jährigen (!!!) Søren, er sei ein unartiger, verwöhnter Junge, der immer am Rockzipfel seiner Mutter hinge. (Brøchners Erinnerungen an Søren Kierkegaard gibt es in deutscher Übersetzung von Tim Hagemann, Frankfurt 1997, die entsprechende Stelle ist auf S. 25.) Ich will hieraus keine Schlußfolgerungen ziehen, es geht darum, die Regine-Geschichte nicht immer wieder zum Schlüssel zu machen und so mit Rückgriff auf die Biographie zu verschenken, was allerhand hergeben könnte. Stadien auf des Lebens Weg II, 519 / SV VI, 453f. / SKS 6, 449. AUN I, 9 / SV VII, 3.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

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eine weinen sieht: „Die Dienstmädchen sind mir überall der liebste Menschenschlag.“142)

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich letzter Satz in Entweder-Oder Christlich muß nämlich alles, alles zur Erbauung dienen. Die Art von Wissenschaft, die nicht letzten Endes erbaulich ist, ist eben dadurch unchristlich. Die Krankheit zum Tode, Vorwort Das sind ‚christliche Reden‘, denn die Lebens-Äußerung der Rede ist, nach dem, wie ich es verstehe, die wesentliche oder wesentlich entsprechende Form für das Christliche, das Glaubens- und Überzeugungssache ist. Pap. VII 1 B 192, 32 Ich selbst war vom ersten Augenblick an erbaulicher Schriftsteller. Pap. X 2 A 605, vgl. SS, 9 / SV XIII, 499. Mit der linken Hand reichte ich Entweder-Oder hinaus in die Welt, mit der rechten zwei erbauliche Reden; aber sie griffen alle oder so gut wie alle mit ihrer Rechten nach der linken Hand. SS, 32 / XIII, 527.

Diese vielen Zitate aus unterschiedlichen Texten bekennen einstimmig, daß das Schreiben erbaulicher Reden Kierkegaards eigentliches Element ist. Synchron mit jeder pseudonymen Schrift gingen religiöse, meist als erbauliche betitelte143, Reden in Druck, die autonym publiziert wurden. Doch werden diese Texte weit weniger rezipiert, auch in akademischen Kontexten werden sie selten besprochen.144 142

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Pap. V A 17. Noch andere Dienstmädchen-Vorkommnisse u. a. FZ III, 89 / SKS 4, 133 sowie AUN I, 14 / SV VII, 7. 1847 und 1848 gibt es jeweils eine Serie mit sieben „christlichen Reden“. Außerdem gibt es „Reden beim Altargang am Freitag“, „Gelegenheitsreden“ und „fromme Reden“. Die jeweiligen Unterschiede sind für mich nicht von Belang. Langsam ziehen die erbaulichen Reden die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich: Das Kierkegaard Studies Yearbook 2000 ist vor allem ihnen gewidmet. Die Autoren der unterschiedlichen Beiträge können ihnen zu großen Themen wie Feminismus, Tod, Sittlichkeit, Sprachtheorie, Kontingenz, Zeitlichkeit etc. etwas abgewinnen. Es finden sich in dem Band auch Informationen zur Rezeptionsgeschichte in Dänemark, Deutschland, Frankreich, England, Amerika und Japan.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Ganz typisch ist beispielsweise Adornos Einschätzung dieser Texte als Ort des „positiv Christlichen“ in der Funktion eines Korrektivs der philosophischen pseudonymen Schriften145. Obschon allein die Pseudonymisierung einen Hinweis auf allergrößte Vorbehalte gegenüber sprachlicher Mitteilbarkeit gibt und das Anliegen existentieller Wahrheit immer wieder als aller Verallgemeinerbarkeit entzogen behauptet wird, stellen sich gerade die ‚indirekt mitgeteilten‘ Themen als theoretisch anschlußfähig und diskutabel heraus. Das wird daran liegen, daß es sich bei den Reden um stilistisch wenig innovative und argumentativ unergiebige Erbauungsliteratur handelt146. In der Tradition pietistischer Unterweisung werden Standardformeln aus der dänischen Bibel und dem gebräuchlichen Gesangbuch verwendet, zudem dominieren alltagssprachliche Wendungen und der Satzbau ist unkompliziert. Kierkegaards erbauliche Reden geben keinen Anlaß zu spitzfindigen Differenzierungen in theologischem oder philosophischem Zusammenhang, sie verwenden keine Wörter so originell, daß sie Karriere machen und zu philosophischen Termini werden. (Wie ‚Angst‘, die es sogar bis Heidegger geschafft hat.) Ironische Spitzen gegen den Hegelianismus sucht man genauso vergebens wie das für Kierkegaard charakteristische Jonglieren mit Theoremen, die zu seiner Zeit im Umlauf waren. Statt dessen werden Bibelstellen meditiert, anhand von Beispielen illustriert und mit den üblichen Empfehlungen christlicher Lebensführung versehen. Nach den vorherigen zwei Kapiteln stellen sich folgende Fragen: Wieso gibt es bei Kierkegaard zwei Sorten von Text, deren eine philosophisch wie theologisch ergiebig ist, aber pseudonym publiziert wurde, während die andere unspektakulär und nahezu langweilig in 145

146

„Nach solcher Auffassung muß das Christliche von Anbeginn selbständig und abgesetzt der Philosophie gegenübertreten; Philosophie wird vor die paradoxe Aufgabe gestellt, sich selbst wieder an den verlorengegangenen Platz der Ancilla Theologiae zu versetzen und abdizieren.“ „Kierkegaards Lehre von der Liebe“ (1940) „Erste Beilage“ zu Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, (1933) Frankfurt 1986, S. 217. Dazu mehr in V.1.1. Der Theologischen Realenzyklopädie (Berlin/New York, Band X, 1983) sind die Stichwörter ‚Erbauung‘ und ‚Erbauungsliteratur‘ 65 Seiten wert. Kierkegaard wird im Rahmen einer kleingedruckten Aufzählung in drei Sätzen erwähnt, während beispielsweise Goethes Werther aufgrund seiner säkularisierten Erbauungselemente auf zwei Seiten besprochen wird. (Das Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart München 1986 Bd. 2, S. 541 zum Terminus ‚Erbauung‘: „Erbauung ist eine heillos verschlissene dem Sprach- und Vorstellungsbereich der Christenheit fremde, ja ärgerliche oder lächerliche Vokabel geworden. Ihr ist schwerlich aufzuhelfen.“)

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

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der Diktion ist, aber mit dem Namen des Autors versehen der Öffentlichkeit übergeben wird? Mit Rekurs auf einige Andeutungen Kierkegaards und angeregt durch erste Versuche in der jüngeren Kierkegaardforschung147 werde ich argumentieren, daß die erbaulichen Reden eine eigene Art der Indirektheit aufweisen, die einerseits in Kontinuität mit den anderen Texten steht, aber andererseits die Indirektheit auf die Spitze treibt und ad absurdum führt, weil sie mit (fremder) Explizitheit ineinsfällt. Wenn sich die pseudonymen Schriften charakterisieren lassen als textuelles Sowohl-Als auch, deren Ambivalenzen eine vereindeutigende Lektüre eines Entweder-Oder provoziert, so kann man argumentieren, daß die religiösen Schriften eine solche existentielle Entscheidung unabdingbar machen. Der Leser ist einer, der bereits in der Kirche steht und eingesehen hat, daß er mit seinen eigenen Vermögen die Wahrheit nicht erlangen kann. Anders als bei Sokrates ist für Kierkegaard zwischen Einsicht und Tat bzw. Vollzug eine Blockade von Trotz und Resignation, die die Umsetzung des für wahr befundenen mit allen Implikationen vereiteln könnte. Es bedarf keinerlei intellektueller Leistung mehr, auf der Ebene ist alles klar.148 Während 147

148

Zwei Beispiele dafür: George Pattison: „Who is the Discourse? A Study in Kierkegaard‘s Religious Literature“, in Kierkegaardiana 16, Kopenhagen 1993, S. 28-45. „This paper might, therefore, contribute to supporting the suggestion that his best works and most fruitful insights transcend this duality in such a way that even the direct is indirect, that is, that even the „direct communication“ of the religious writings turn out to be somewhat „indirect“ after all. Certainly we must conclude that it is rhetorically much more complex than it might at first seem.“ p. 31f. Außerdem: „A Dialogical Approach to Kierkegaard‘s Upbuilding Discourses“ in Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, Berlin/New York 1996, S. 185-202. Michael Strawser „The Indirectness of Kierkegaard‘s Signed Writings“, in International Journal of Philosophical Studies 3/1995, S. 73-90. Vgl. Alastair Hannay, a. a.O., p. 208 und Hermann Deuser „Religious dialictics and Christology“, in The Cambridge Companion to Kierkegaard, pp. 376-396. Diese beiden meinen, die Reden wenden sich an jemanden, der in der Stufenfolge des Climacus Religiosität A verkörpert. Das läßt sich mit Climacus ‚selbst‘ stützen: Wenn Johannes Climacus eine Kommentierung und Einordnung aller pseudonymen und autonymen Schriften unternimmt (Blick auf ein gleichzeitiges Bemühen in der dänischen Literatur, in AUN I 245-296 / SV VII, 212-257) streitet auch er den erbaulichen Reden Predigt-Status ab, denn dort werden nur „Immanenzkategorien“, nicht aber christliche verwandt. (Ebd., S. 250 / SV VII, 216f.) In einer Fußnote klärt er, daß auch die Reden ein „ästhetisches Moment“ haben und unterscheidet sie von Dichtung: „Nur bleibt der entscheidende Unterschied zwischen dem Dichter und dem erbaulichen Redner bestehen, daß der Dichter kein anderes Telos hat als die psychologische Wahrheit und die Kunst der Darstellung, während der Redner zugleich hauptsächlich das Ziel hat, alles in das Erbauliche hinüberzuführen.“ (Hervorhebung im Original).

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I. VorWorte und VerAntwortung

bei den pseudonymen Schriften die subtilitas applicandi dem Gehalt des Mitgeteilten seinen Wert zukommen läßt, ist sie bei den erbaulichen Rede die einzig relevante Größe. Es gibt nichts Neues zu lesen oder denken149, weswegen es umso dringlicher ist, das Bekannte zu leben. Die Reden lassen sich nicht rezipieren mit Genuß am schönen Schein oder als Herausforderung zu argumentativer Leistung, sondern sie sind entweder im religiösen Lebensvollzug umzusetzen, oder belanglos. Die Gefahr, wie sie in I.1. mehrfach aufkam, nämlich daß die Indienstnahmen der Kunst für religiöse Zwecke diese nie erreichen läßt, weil eine ästhetische Lesart auch geht, wird hier dadurch ausgeschaltet, daß eine Rezeptionsart, die des Glaubens, klar privilegiert wird. Deshalb erschöpfen sich die Reden darin, Bibelworte zu präsentieren und repetetiv einzuschärfen. Sie lenken keinerlei Aufmerksamkeit auf stilistische Eigenarten, plausible Argumente oder gar rhetorische Brillanz, so daß Sprache sich als Topos zu erkennen gibt und leere Formeln aufdringlich werden.150 Der in den Philosophischen Brocken von einem imaginierten Leser gemachte Plagiatsvorwurf „Du redest wie ein Buch“151 trifft die Reden allemal und allesamt. Als perfekte Maske, persona,152 erschöpfen sie sich in der Präsentation fremder Worte und machen ernst damit, den Autor verschwinden zu lassen, zu nichts zu machen, obschon sein Name alles autorisiert. Sie 148

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Damit lokalisiert Climacus die erbaulichen Reden (wie seine eigenen Texte) vor dem Sprung. (Was hier mit ‚hinüberführen‘ übersetzt ist, heißt im Dänischen ‚sætte over‘ – übersetzen, z. B. mit einem Schiff). Vgl. AUN II, 249f. / SV VII, 470 und AUN II, 343f. / SV VII, 548. Vgl. Hermann Deuser Sören Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen. Voraussetzungen bei Hegel. Die Reden von 1847/48 im Verhältnis von Politik und Ästhetik, München 1974, S. 217. Auf den Seiten 199-242 analysiert Deuser die Reden, um seine These zu untermauern, daß in diesen Jahren Kierkegaards Paradox sich dialektisch niederschlage, d. h. politische, gesellschaftliche Konsequenzen zeitige, obschon die niemals das Anliegen Kierkegaards gewesen seien. PB Kapitel IV S. 67 / SV IV, 232 / SKS 4, 269 „(…) ja, du redest wie ein Buch, und was für dich ziemlich schlecht ist, wie ein ganz bestimmtes Buch; denn du hast jetzt wieder, ob mit oder ohne dein Wissen, einige Worte mit einschlüpfen lassen, die dir nicht gehören, und die du dem Redenden auch nicht in den Mund legst, die aber allen bekannt sind, nur mit dem Unterschied, daß du den Singular statt des Plurals gebrauchst. Die Bibelworte (denn es sind Bibelworte) lauten so (…)“ Man könnte sogar so weit gehen, die autonym veröffentlichten Texte für die am meisten indirekten zu halten, weil dort die ‚fremden Worte‘ dominieren. Sogar für Kierkegaards Dissertation läßt sich so argumentieren, wenn man bedenkt, wieviele ‚Hegelsche Kompromisse‘ er hat eingehen müssen, um an der Universität Kopenhagen überhaupt promoviert zu werden.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

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bieten keine Chance, sich an Philosophemen oder Theologemen abzuarbeiten, um die absolute Entscheidung des Glaubens als solche zu plausibilisieren und von intellektuellen Operationen mithilfe von ihnen abzusetzen oder sich an sprachlichen Spielereien zu erfreuen. Während die indirekt mitgeteilten ästhetischen Schriften ihre Vorläufigkeit betonen und immer wieder deutlich machen, die eigentliche religiöse Entscheidung nicht repräsentieren oder herbeiführen zu können, sind die religiösen Schriften ein Appell, die Bibel beim Wort zu nehmen und die Dringlichkeit der Forderung Konsequenzen ziehen zu lassen. (…) wir wollen verweilen bei den Worten selbst, und gleich wie alle andre Liebe in der Welt gepriesen worden, so wollen wir entfalten und preisen jene Liebe, welche Macht hat, das Wunderbare zu tun, daß sie deckt der Sünden Mannigfaltigkeit. Wir wollen sprechen als zu Vollkommenen. Wäre da einer, der sich nicht vollkommen fühlte, die Rede hat doch keinen Unterschied gemacht. Wir wollen unsere Seele ausruhn lassen in dem apostolischen Wort, welches keine trügerische poetische Wendung ist, kein allzu kühner Gefühlsausbruch, sondern ein verläßlicher Gedanke, ein vollgiltiges Zeugnis, das da, um verstanden zu werden, wortwörtlich genommen werden muß.153

Alle semantischen Ambivalenzen sind überwunden, es geht darum, wie es mit Rekurs auf den Jakobusbrief acht Mal auf einer Seite heißt: „eins zu wollen“154. Angesprochen sind „Wankelmütige“, die in der dänischen Bibel „Tvesindede“, also Zwiespältige, anders gesagt: Ironiker sind und es nicht bleiben wollen/sollen. Diese Reden sind keine Mitteilungen, sie erübrigen sich, sie sind ersetzbar durch Bibellektüre, vor allem aber durch Gebet und religiöse Lebensführung. Sie sind das andere Extrem des Zungenredens, weil sie die längst bekannten Sätze immer wieder bringen und 152

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Vgl.: Der junge Mann in der Wiederholung versucht, nur noch durch Zitate und Sprichwörter zu kommunizieren: S. 74 / SV III, 237 / SKS 4, 70f. „Mit den Menschen rede ich nicht; jedoch, um nicht alle Gemeinschaft mit ihnen abzubrechen, sowie um ihnen nicht für ihr Geld Geschwätz zu bieten habe ich einen Haufen Verse gesammelt, kernige Aussagen, Sprichwörter, kurze Sinnsprüche von jenen unsterblichen griechischen und römischen Schriftstellern, die durch alle Zeiten hin bewundert worden sind.“ Er ist das ästhetisch-heidnische alter ego des Schreibers von Erbauungsliteratur. Drei erbauliche Reden 1843 (am selben Tag erschienen wie Furcht und Zittern und Die Wiederholung) im Anhang der Wiederholung 3R43, 106 / SV III, 277 / SKS 5, 68f. Es geht um die Epistelstelle Die Liebe wird decken der Sünden Mannigfaltigkeit. ERG, 11 / SV VIII, 119; Vgl. Jakobus 4,8 „Naht euch zu Gott, so naht er sich zu euch. Reinigt die Hände, ihr Sünder, und heiligt eure Herzen, ihr Wankelmütigen.“

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I. VorWorte und VerAntwortung

dadurch semantisch entleeren155. In den Papirer156 bezeichnet Kierkegaard das Zungenreden als die eigentliche christliche Sprache, die qualitativ von allen menschlichen Sprachen unterschieden ist: Jene sind „Diebes-Sprachen“, ein Mißbrauch großer Worte, die man existentiell nicht bewahrheitet, nicht lebt. Christliches reden kann dieselben Worte gebrauchen wie Alltagssprache, nur „transponiert“ es sie auf eine andere Ebene157. Dementsprechend verweigern die Reden extremer als die pseudonymen Texte wortreich jede (neue) Aussage und suspendieren radikaler die Mitteilungslogik semantischer Tauschgeschäfte. „Die Rede hat doch keinen Unterschied gemacht“ heißt es im Zitat. Die oft beschworene ‚Unkenntlichkeit‘158 der religiösen Existenz erreicht hier ihren Höhepunkt, denn sie wird deckungsgleich mit dem Formelrepertoire, mit dem jeder Däne des 19. Jh. durch Familie, Schule und gesellschaftlichen Umgang vertraut war. Ich werde im folgenden einige Parallelen zwischen den pseudonymen und autonymen Schriften herausarbeiten, um auf die oben angesprochene Kontinuität hinzuweisen. Trotzdem werde ich nicht dafür plädieren, die Unterscheidungen zwischen ästhetisch-religiös und direkt-indirekt für die Diskussion der Texte aufzugeben und zugunsten einer prinzipiellen Indirektheit zu nivellieren; vielmehr macht es Sinn, deren Manifestationsformen und Funktionsweisen zu unterscheiden und untersuchen. Zunächst einmal ist bemerkenswert, daß Kierkegaard plante, die Drei Reden zu gedachten Gelegenheiten von 1845 von einem seiner Pseudonyme, nämlich Johannes de silentio, dem Autor von Furcht und Zittern, herausgeben zu lassen. (Mit ihm hatte Kierkegaard viel vor, er sollte zudem das geplante Buch Etwas über erbauliche Rede155

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Wittgenstein nimmt dies als Beispiel für „Bedeutungserleben“: Philosophische Untersuchungen II Kapitel xi S. 553 „[…] Was ginge z. B. dem ab, dem die Aufforderung, das Wort ‚sondern‘ auszusprechen und es als Zeitwort zu meinen, nicht verstünde, – oder einem, der nicht fühlt, daß das Wort, wenn es zehnmal nach der Reihe ausgesprochen wird, seine Bedeutung für ihn verliert und ein bloßer Klang wird?“ Dazu mehr in Teil IV, 2. Pap. XI 2 A 37 und XI 2 A 128. Auffallend ist immer wieder, daß Kierkegaard auf musikalisch-akustische Phänomene und auch Bilder, Wahrnehmbares ausweicht, um das Entscheidende außerhalb des Sagbaren zu verlagern. Vgl. vor allem seine Betonung der ‚Stimme‘ und ‚Stimmung‘, s. u. Teil III.2.2. Am prominentesten ist der spießige Postbote in Furcht und Zittern: Ihm merkt man nicht an, daß er die unendliche Resignation durchgemacht hat und die Endlichkeit zurückbekam.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

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kunst mit einiger Hinsicht auf die Rhetorik von Aristoteles autorisieren159 und die Schriften über sich selbst herausgeben. Vgl. mein Schlußkapitel) Es gibt dazu zwei entworfene Vorworte,160 in denen Johannes als Freund des Magister Kierkegaard auftritt und sich gegen die Praxis der Predigt wendet, sie sogar umwendet: In den eigentlichen Gelegenheitsreden kann man nicht so gut dazu kommen, etwas zu sagen, weil man diese bestimmten Personen vor sich hat. Daher wird es hier umgekehrt gemacht: die aufgegebenen Persönlichkeiten werden von der Rede gegeben.161

Mit einer ähnlichen Geste wie der andere Johannes162, nämlich Climacus, enthebt auch dieser die Texte der Realität und die eigene Leistung aller Relevanz: Das Vorwort soll nur ein „Schmutztitel“ sein, „der nicht mit eingebunden werden soll“. Obschon diesmal die Autorschaft Kierkegaards nicht abgestritten wird, weil das Pseudonym nur als Herausgeber auftritt, nimmt der die Verantwortung auf sich: Hat jemand etwas einzuwenden, so möge er sich wenden an mich, den Unterzeichneten, Johannes de silentio, und lasse den Herrn Magister samt seinen Reden aus dem Spiel: er versucht auf jegliche Weise zu verhindern, daß diese Gegenstand für Bereden und insbesondere Kritik werden.163

Mit vertauschten Rollen dasselbe Spiel: Autor und Herausgeber werden von Pseudonym und Verfasser besetzt, mit dem Ziel, den Text aller Zurechenbarkeit zu entziehen. Allerdings ist diesmal jede argumentative Auseinandersetzung unerwünscht, Kritik ist der falsche Modus, sie trifft weder die Worte des Autors noch die des Herausgebers. Nun läßt sich gut argumentieren, daß sich all das in den unveröffentlichten Papieren abspielt und die Reden tatsächlich ausnahmslos autonym erscheinen. Aber ein Blick in ihre Vorworte läßt dort eine quasi-pseudonyme Funktion auffinden und ein rezeptionsästhetisches Textmodell, das genau auf der Linie des bisher besprochenen liegt und es radikalisiert: Die parallel zur pseudonymen Schriftstellerei entstandene und publizierte Serie religiöser Reden hat Vorworte, die am Vorwort der ers159 160 161 162 163

Pap. VI A 146 (1846). Pap. VI B 128 und 133; vgl. Hirschs Anmerkung 156 S. 218f. Pap. VI B 128. Eine Überlegung wert wäre, daß auch der Verführer so heißt und der Evangelist. Pap VI B 128.

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I. VorWorte und VerAntwortung

ten beiden, die 1843 mit Entweder-Oder in Druck gingen,164 modelliert sind. Kierkegaard markiert die aus dem Archetyp übernommenen Formulierungen oft mit Anführungszeichen als Selbstzitat oder verweist gar nur auf das Vorwort von 1843165. Bemerkenswert ist an den Reden mit ihren Vorwort-Varianten, daß sie – wie der Widerruf des Climacus – metatextliche Überlegungen anstrengen und ebenfalls das Modell einer trotz des Textes weil gerade durch ihn unmöglichen und blockierten Mitteilung vertreten.166 Obschon hier nicht das Genre einer (para)philosophischen Abhandlung aufgerufen wird, gilt auch für die erbaulichen Reden persönliche Aneignung als bedeutungsstiftender Vollzug. Wieder wird Vollmacht/ Autorität (dän.: myndighed) abgestritten und der Status als Rede im Unterschied zur Predigt betont:167 Eine Predigt mag sich von solchen Reden in keiner Weise unterscheiden, sie ist aber ein Genre, das Mitteilbarkeit von Wahrheit durch einen professionellen und institutionell bemächtigten Interpreten suggeriert. Der Verfasser will kein Lehrer sein, sondern zieht sich nach der Publikation zurück, versteckt 164

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2R43, SV III, 11, meist mit EO pubiziert, z. B. EO 2/2 der Hirsch-Ausgabe, S. 381. Die neue kritische Ausgabe Søren Kierkegaards Skrifter weicht davon ab und gruppiert die Reden eines Jahres zusammen. Der 5. Band besteht nur aus Reden, darin befinden sich auch diese beiden (S. 9-56), außerdem der Vorwort-Prototyp (S. 13). Diese editorische Entscheidung läßt sich als Plädoyer dafür lesen, die pseudonymen und autonymen Texte zu trennen. Hirsch ordnet sie einander zu, weil einige von den Reden den pseudonymen Texten das „Geleit abzugeben bestimmt sind“ (Erbauliche Reden 1843/44, S. VII) 1849 wird EO zum zweiten Mal aufgelegt, worauf Kierkegaard in den beiden Serien mit je drei Reden dieses Jahres explizit Bezug zum Vorwort der Reden von 1843 nimmt. (Als ob jemand, der die erste Auflage besitzt, sich eine zweite kauft und in der ersten das Vorwort nachschlagen könnte. Ob hier in der Phase der beginnenden polemischen Auseinandersetzung mit der Staatskirche und der dänischen Gesellschaft Selbstironie vorliegt, müßte man näher untersuchen.) Besonders bemerkenswert ist der Verzicht auf ein eigenes Vorwort und Zitate aus vorherigen in der erbaulichen Rede von 1850: „Vorwort Vgl. das Vorwort zu den Zwei erbaulichen Reden 1843 den 12. Dezember 1850“ EER, 4 / SV XII, 243ff.) Im Vorwort zu den Zwei Reden zum Altargang am Freitag 1851 nimmt er sogar explizit Bezug auf sein Outing im Anhang an den Climacus-Widerruf. RAF, 19 / SV XII, 267. Das läßt sich freilich biographisch so einordnen, daß Kierkegaard noch keine kirchliche Ermächtigung zu predigen bekommen hat. Vgl. Pap. IV B 143; außerdem Hirsch in seinen Anmerkungen zu den Reden.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

69

sich, will vergessen sein168 oder ist verreist169. Das Buch wird auf Wanderschaft geschickt und seinem Schicksal überlassen. In stark personifizierenden Formulierungen werden die Risiken der Reise und die Suche nach dem Leser wie eine Partnersuche beschrieben: Nach dem einen oder andern kleinen Mißverständnis, dieweil es sich hatte täuschen lassen durch eine flüchtige Ähnlichkeit, traf es endlich auf jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dankbarkeit meinen Leser nenne, jenen Einzelnen, der freundwillig genug ist, sich finden zu lassen, freundwillig genug, es entgegenzunehmen (…)170

In anderen Reden ist der Leser sogar Bräutigam171 des Buches oder er nimmt es bei sich auf und läßt es wohnen172. Wie bei Climacus bekommt der Text Autonomie und sogar Eigendynamik, er ist der Kontrolle des Autors entzogen. Besonders die Personifizierung, Wanderschaft und Partnerschaft mit dem Leser funktionieren wie Pseudonymisierung173 und lassen das Verweigern von Verfasser-Verantwortung stark deutlich werden. Noch mehr betont wird dies, wenn die Risiken der Reise genannt werden, so Mißverständnis und Täuschung wie in diesem Vorwort. Einmal ist von einem Raubvogel die Rede174, der sich des Buches bemächtigt, einmal wird die Hilflosigkeit und Mangelhaftigkeit175 der Rede herausgestellt, auch als Luftgebilde und Tagtraum176 vermag sie verkannt zu werden. Die mögliche Ursache hierfür wird nur in einem Vorwort geboten „(…) daß Redenkönnen eine zweideutige Kunst ist, und selbst das die Wahrheit sagen können eine gar zweifelhafte Vollkommenheit.“177 Gleichwohl gibt es noch Hoffnung, auch hier liegt sie in der persönlichen und produktiven Aufnahme durch den Leser: 168 169 170

171 172

173

174 175 176 177

So in 3R44, 143 / SV IV, 121 / SKS 5, 231. 2R44, 94 / SV IV, 73 / SKS 5, 183. „hiin Enkelte, hvem jeg med Glæde og Taknemlighed kalder min Læser“ ist die fast zur Floskel werdende Vorwort- Wiederholung Kierkegaardscher Reden. Da „hiin“ sowohl männlich als auch weiblich sein kann, wird es zumindest in den frühen Reden als Anrede an Regine Olsen gedeutet, bevor der „Einzelne“ zum Kierkegaardschen Kampfausdruck gegen die „Masse“ wird. Dazu mehr in meinem Kapitel V.1.1. Vgl. DRG 113 / SV V, 175 / SKS 5, 389. „at modtage“ (entgegennehmen) ist häufiges Verb. Von Wohnung ist die Rede in 4R43, 3 / SV IV, 7 / SKS 5, 113 und 4R44, 3 SV V, 79 / SKS 5, 289. Vgl. George Pattison, der das Vorwort von 1843 mit den Anliegen des Assessor Wilhelm in EO. vergleicht. Vgl. . „„Who“ is the Discourse? A Study in Kierkegaard‘s Religious Literature“, in Kierkegaardiana 16, Copenhagen 1993, S. 28-45. 3R43, 101 / SV III, 271 / SKS 5, 63. DRG, 113 / SV V, 175 / SKS 5, 389. ERG, 9 / SV VIII, 117. 3R44, 143 / SV IV, 121 / SKS 5, 231.

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I. VorWorte und VerAntwortung

Ein jeglicher tue das Seine, der Leser mithin das Meiste. Die Bedeutung liegt in der Aneignung. Daher die freudige Hingebung des Buches.178

Hier hat das Buch seine Lebendigkeit und Aktivität als Wanderer/in eingebüßt und ist auf die Initiative des Lesers angewiesen, um Bedeutung zu haben. Stärker noch: Sobald er [Leser] es [Buch] nämlich entgegengenommen, hat es aufgehört zu sein: es ist nichts für sich selbst und durch sich selbst, sondern alles, was es ist, ist es nur für ihn und durch ihn.179

In einigen Vorworten wird die Aufforderung gemacht, laut zu lesen, allerdings nicht, damit andere es auch verstehen können: [mein Leser], der laut für sich selber liest, was ich schreibe in Stille, der mit seiner Sprache den Zauberbann der Schriftzeichen löst, der mit seiner Stimme an den Tag ruft, was die stummen Buchstaben gleichsam auf der Zunge haben, aber nicht auszusprechen vermögen ohne mancherlei Mühe, stammelnd und stückweis, in seiner Stimmung die gefangenen Gedanken erlöst, die nach Befreiung sich sehnen […]180

Daß Schriftzeichen Gedanken gefangen halten und die Stimme sie wieder befreien kann, klingt nach Paulus181 und ist – u. a. durch Luther, der Gnade dem Gesetz gegenüber geltend machen will – prominent geworden. Meist wird dies im Interesse einer Hermeneutik zitiert, die sich eines Textes bemächtigt und an ihm das Wahre zu retten beansprucht in polemischer Wendung gegen buchstabentreue Unvernunft.182 Im Kontext der Kierkegaardschen Erbauungsreden geht es aber um eine je individuelle Verlebendigung, Atem einhauchen, der die Institutionalisierung religiöser Wahrheit durch ‚biologische‘ Belebung wieder rettet. Auch in den Vorlesungsentwürfen zu Mitteilungsproblematik beruft sich Kierkegaard darauf, daß persona von ‚per so178 179 180

181 182

DRG, 113 / SV V, 175 / SKS 5, 389. Hervorhebung im Original. 4R44, 3 / SV V, 79 / SKS 5, 289. 3R43, 101 / SV III, 271 / SKS 5, 63. Vgl. 3R44, wo der Leser „dem Gesagten Gelegenheit gibt, die kalten Gedanken wieder in Brand“ zu versetzen. S. 143 / SV IV, 121 / SKS 5, 231. Vgl. Jochen Hörisch Die Wut des Verstehens, Frankfurt 1988 bes. Kapitel 4, S 36-46. Vgl. 2 Kor 3,6 „ Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Ein klassisches Beispiel ist Hegel der frühen Jenaer Zeit, der eine massive Kantkritik lanciert und dies dadurch zu legitimieren versucht, daß er den „Keim des Spekulativen“ (Glauben und Wissen, 1802) dort aufspürt und erst richtig zu Ehren kommen läßt. In der ‚Vorerinnerung‘ der Differenzschrift (1801) heißt es: „Die Kantische Philosophie hatte es bedurft, daß ihr Geist vom Buchstaben geschieden und das rein spekulative Prinzip aus dem überigen herausgehoben wurde, was der räsonierenden Reflexion angehörte oder für sie benutzt werden konnte.“ S. 15, Berlin 1986. Vgl. andere Beispiele bei Hörisch, a. a. O.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

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nare‘ kommt und auf den Einzelnen angewiesen ist, der mit seiner Stimme zum Leben erweckt und Bedeutung erst gelingen läßt.183 Wieder erweist sich die Rede von Aneignung und Bauen als irreführend, indem sie an den Besitz einer Sache oder die ein für alle Male geleistete architektonische Struktur denken läßt und die notwendige, immer neue Belebung unterschlägt. Daß lautes Lesen nicht im Sinne einer kommunikativen Situation184 gemeint ist, sondern ausschließlich die eigene Erbauung befördern hilft, verdeutlichen diese Zitate. [Leser], welcher mit bereitem Willen langsam liest, aufs neue liest und welcher laut liest – um seiner selbst willen.185 Mein lieber Leser! Lies womöglich laut! Tust du es, so laß mich dir dafür danken; tust du es nicht bloß selber, bewegst du auch andre dazu, so laß mich jedem im Besonderen danken, und dir wieder und wieder! Du wirst, falls du laut liesest, am kräftigsten den Eindruck empfangen, daß du einzig mit dir selbst zu tun hast, nicht mit mir, der ich ja „ohne Vollmacht“ bin, auch nicht mit anderen, was ja Zerstreuung wäre.186

Erbauung seiner selbst war für Paulus so verpönt wie Zungenreden, denn es ging darum, die christliche Gemeinschaft zu formieren, etablieren, stabilisieren.187 Der dem Hausbau verpflichtete Terminus entstand in der Situation der Urkirche, Petrus wird zum Fels und Funda183 184

185 186

187

81 Pap. VIII 2 B 82, 10. George Pattison meint hier eine dialogische Öffnung konstatieren zu können. Er will dadurch erreichen, daß dem notorischen Vorwurf, Kierkegaard propagiere einen Individualismus und biete eine Hegel noch übersteigernde absolute Subjektivität, etwas entgegnet werden kann. In einer Art Lese-Experiment faßt er eine der Reden von 1843 als an Regine Olsen adressiert auf, wobei es darum geht, die Auflösung der Verlobung in religiöser Dimension aufzufassen. Obschon dies nicht erlaube, eine soziale Makro-Struktur auf Kierkegaard zu basieren, gelingt Pattison zufolge eine dialogische, also mikro-soziale Gesprächssituation. „A Dialogical Approach to Kierkgaard‘s Upbuilding Discourses“ (a. a. O.) ERG 9 / SV VIII, 117. Dies ist das ganze Vorwort, ein Echo davon findet sich in der zweiten Folge dieser Reden: ZS, 123 / SV XII, 375 . Hirsch vermutet in einer Anmerkung, daß die „seltsam pathetische Bitte an den Leser, laut zu lesen“ darauf zurückzuführen ist, daß Kierkegaard als Prediger versagt zu haben meinte und ihm die schriftlich ausgefeilte Kunstrede mehr liege als die schlichte religiöse Rede. Der Leser solle dies durch lautes Lesen kompensieren (S. 247). 1 Kor 14, 2-4 „Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde.“

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I. VorWorte und VerAntwortung

ment für die neue Kirche188 ernannt und setzt die bis heute fortgesetzte Tradition des Papsttums in Gang. In Briefen an die Korinther189, Epheser und Römer wird immer wieder die architektonische Metapher aufgegriffen. Allerdings wechselt sie sich ab mit der organischen von der Kirche als Leib Christi und wird sogar damit kombiniert. Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens.190

Hier findet sich wieder eine Konfrontation zweier Konnotationsfelder, die Kierkegaard in seinen Vorworten aufgreift, indem Architektur (Erbauung) und Lebendigkeit (lautes Lesen, Verinnerlichen) zusammengebracht werden191. Er anverwandelt sich ein zentrales Merkmal biblischer Texte, wenn er auch in den pseudonymen Schriften Metaphern verwendet, deren Interpretation nicht ungestört vonstatten gehen kann, sondern durch die Implikationen anderer Metaphern konterkariert werden.192 Allerdings ist der Effekt nicht mehr wirksam, wie in der Urkirche: Wenn Kierkegaard mehr als achtzehnhundert Jahre später in Kopenhagen Theologie studiert, ist die Situation eine andere: So gut wie jeder Däne ist Lutheraner, die Kirche ist nicht nur etabliert, sondern auch mächtig. „Christenheit“ nennt Kierkegaard verächtlich was er daran diagnostiziert: Die eigentliche Wahrheit christlichen Selbstverständnisses, nämlich als Sünder vor Gott zu stehen und ohne Gottes Gnade nichts zu sein, ist durch gesellschaftlich konventionalisierte Religiosität ins Vergessen geraten. Immer wieder und zunehmend polemisch beklagt er den „Sinnentrug“193 seiner Zeit, die Ritu188 189 190 191

192

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Mt 16,18. Vgl. z. B. 1 Kor 3, Röm 15,20. Vgl. Eph 4,11f. Hervorhebung von mir. Vgl. die Rede vom „lebendigen Stein“ in 1 Petrus 2,4. Wenn Richard Rorty (Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1980, chapter VIII, 2 pp. 365ff.) auf den angestaubten Terminus ‚edification‘ zurückgreift, um Philosophie zu betiteln, die keine Ansprüche systematisch-universeller Epistemologie mehr stellt und „knowing of essences“ nicht mehr anstrebt, bleibt er in dieser Metaphorik, aber er versucht sie durch eine andere zu konterkarieren. Bemerkenswert ist, daß auch er zu paradoxen Formulierungen kommt, weil die erbaulichen/aufbauenden Philosophen welche sind, die Gebäude einreißen: „Great systematic philosophers, like great scientists, build for eternity. Great edifying philosophers destroy for the sake of their own generation.“ Auch das wird in meinen V. Teil wichtig werden: Kierkegaards textuelle Imitatio als erklärtermaßen religiöse Wiederholung verrät ihr Anliegen indem sie es bekennt. Vgl. SS 7 / SV XIII, 496, Fußnote.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

73

ale äußerlich zu vollziehen und das Christsein mit der dänischen Nationalität einhergehend automatisch zu erwerben. Angesichts dieser Mißverhältnisse kann eine Erbauung im Sinne der Urkirche nicht mehr nötig sein, befindet man sich gleichsam in hoffnungslos verbauten Zuständen. Aber auch für sein Projekt, „das Christentum wieder einzuführen – in die Christenheit“194, greift Kierkegaard zu der homöopathischen Maßnahme, indem er das formelhafte (aber biblisch verbürgte) Sprechen der Gewohnheitschristen in seinen Reden aufgreift. Anders als in den pseudonymen Schriften kann das Symptom aber nicht als Gegengift wirksam sein, wenn die Unkenntlichkeit weitestgehend und un-ironisch durchgehalten wird. Schließlich muß auch Kierkegaard einsehen, daß verborgene Innerlichkeit kein Paradox sein kann, dessen Wahrheit sich nie zeigt, da sie dann in der öffentlichen Aufmerksamkeit untergeht wie seine Reden. Da, wo Kierkegaard sich und seiner Aufgabe ganz konsequent treu bleibt, nämlich in den religiösen Reden, zu denen er mit seinem Namen stehen kann, weil er da die Selbstvernichtung des Autors einlöst, muß er wirkungslos bleiben und mit der bekämpften Belanglosigkeit ineinsfallen. 1848 ist das Jahr, in dem er eine Staffel seiner Reden mit „Hinterrücks verwunden – Zur Erbauung“195 betitelt und diesen Titel folgendermaßen kommentiert: Das Christliche bedarf keiner Verteidigung, ihm ist nicht gedient mit einer Verteidigung. – Es ist angreiferisch; es verteidigen ist von allen Verfälschungen die am wenigsten zu verteidigende, die allerverkehrteste, und die gefährlichste – sie ist die unbewußt heimtückische Verräterei. Das Christliche greift an, und in der Christenheit greift es selbstverständlich hinterrücks an.196

Die Betitelung ist symptomatisch, weil sie das Anliegen der erbaulichen Reden in aller Vehemenz und Hilflosigkeit klar macht: Verletzt werden kann nur, was belebt ist. Eine längst erbaute und verbaute Institution, der im Laufe der Jahrhunderte lebendige Religiosität abhanden gekommen ist, kann höchstens zerstört, nicht aber durch Verletzung wiederbelebt werden. Deshalb wird Kierkegaard die Vereindeutigung seiner Texte in ihrer dialektischen, d. h. gesellschaftlichen Konsequenz schließlich wirksam werden lassen und zum öffentlichen Angriff auf die dänische Staatskirche übergehen. Gerade die erbaulichen Reden zeigen durch ihre Radikalität, wie verborgene Innerlichkeit, die an nichts kenntlich ist, auf der manifesten Ebene nichts als leere Wiederholungen bringen kann und nichtssa194 195 196

SS 35 / SV XIII, 530. CR, 172 / SV X, 163. Ebd., S. 172 / SV X 164.

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I. VorWorte und VerAntwortung

gend bleibt. Stärker noch als die pseudonymen Texte machen die erbaulichen Reden ernst mit der Diskreditierung der Funktionstüchtigkeit sprachlicher Mitteilung in Wahrheitsangelegenheiten. Bereits das Pseudonym Constantin Constantius hatte durch seinen Namen, mehr aber noch durch seinen Text, exemplifiziert: Wiederholungen vollziehen sich kraft der Grundbedingung funktionierender Kommunikation, nämlich der Wiederholbarkeit von sprachlichen Zeichen. Immer wieder fällt Constantin darauf herein, durch scheinbar garantierte Wiederholungen – durch sprachliche Wendungen, Theateraufführungen und numerische Identitäten – die existentielle, d. h. produktive und zu leistende aber nie voraussagbare weil auf göttliche Gnade angewiesene Wiederholung, sicherstellen zu wollen. So endet die Wiederholung mit einer sprachlichen, textuellen, darstellerischen Kapitulation als Fazit: Eine Wiederholung läßt sich nicht leisten, da Sprache nur allgemein und abstrakt wiederholt und einen Einzelfall nicht anders als als Manifestation einer Regel zur Darstellung bringt. Damit verweist Constantin die authentische Wiederholung, die immer mehr ist als ein Beispiel, weil sie immer auch Ausnahme ist, auf die Ebene sprachlich nicht einholbarer, nicht repräsentierbarer weil präsenter Wirklichkeit.197 Eine Wiederholung ist die imitatio eines exemplum, welche nur als neues exemplum gelingen kann.198 Die Diskreditierung des Redens zugunsten stummen Vollzugs hat in den pseudonymen Texten Tradition: Johannes der Verführer schätzt an Frauenmündern weniger die Fähigkeit zu reden als die zu küssen199 und Constantin Constantius, als Gastgeber eines nachgespielten (wiederholten?) platonischen Symposium, zieht das Schmatzen beim Essen seiner Authentizität wegen jedem Tischgespräch vor. Nur konsequent ist es, daß es ganz kurze Reden200 gibt, die keine andere Funktion haben, als vor dem Abendmahl zu diesem überzugehen, d. h. den sakramentalen Vollzug der Vereinigung mit Christus zu initiieren, aber nie besprechen oder adäquat darstellen wollen. Der Hörer wird eingestimmt, zum Altar orientiert, und aufgefordert, die 197

198

199 200

„Auf Dauer wird man ihrer überdrüssig, dieser ewigen Rederei von dem Allgemeinen und dem Allgemeinen, die sich wiederholt bis hin zur langweiligsten Fadheit. Ausnahmen sind da.“ Die Wiederholung S. 94 / SV III, 261 / SKS 4, 93. Hans Robert Jauß unterscheidet zwei Arten der imitatio: die mechanische Nachahmung als Regelfolgen und die freie Nachfolge. Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik S. 185-190. EO I, 362 / SV I, 307 / SKS 2, 325. CR, 267-318 / SV X, 247-317. Es gibt auch 1849 und 1851 Serien von Reden beim Altargang am Freitag.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

75

Einsetzung des Abendmahls mitzuvollziehen. Für die religiösen Reden gilt in besonderem Maße, daß Kommunikation sich nur im Vollzug, in der Kommunion, erfüllen kann und ihre Wahrheit außerhalb ihrer eigenen Operationen hat, zu diesen übergehen lassen muß. „Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein, sonst betrügt ihr euch selbst.“ So Jakobus 1,22. Damit landet man schließlich wieder bei Wittgenstein: Wenn sich die Wahrheit jeder Rede erst im Lebensvollzug einstellt, zeigt sie sich so. Damit gilt sogar für Kierkegaards verborgene Innerlichkeit letztlich, daß in den Praktiken offenbar wird, was die Äußerungen zu bedeuten haben und welche Rolle sie spielen. Andernfalls könnte Kierkegaard seinen Zeigenossen nichts vorwerfen, auch eine scheinbare Indifferenz eines Gewohnheitschristentums könnte das incognito des authentisch Religiösen sein. Die seit dem ersten Satz von Entweder-Oder verunsicherte Korrelation von Innerem und Äußerem darf nicht in vollkommener Arbitrarität enden, auch, wenn die Kenntlichkeit des Religiösen nie berechenbar wird. Mit Wittgenstein wird deutlich werden, daß, obschon sich diesbezüglich keine Irrtumsresistenz erlangen läßt, grundsätzliche Zweifel an den religiösen Praktiken anderer Menschen abstruser sind als Vertrauen auf deren Wahrhaftigkeit. Daß sich die lebenspraktische Auswirkung aller allgemeinen Aussagbarkeit entzieht und an keine bestimmten Formen der Rede gebunden sein darf, vermeidet, daß die Frage nach der korrekten Wiedergabe den erbaulichen Effekt überlagert und alle Aufmerksamkeit auf Art und Inhalt des Gesagten gerichtet ist. In der klassischen Erbauungsliteratur gibt es eben kein Merkmal des Klassischen: Mit unterschiedlichen Genres, ohne belehrenden Anspruch und ohne Bindung an spezielle (z. B. kirchlichinstitutionelle Befugnis) hat Erbauung das Ziel frommer Unterweisung. Sie kann sich in Alltagsgesprächen, durch Briefwechsel, Lektüre der Bibel oder der Beschäftigung mit Heiligenlegenden ereignen und muß einfach genug sein, um nicht das Verstehen201, sondern den geleb201

Kaum verwunderlich ist es, wenn Hegel im Zuge seines polemischen Rundumschlags in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes Erbauung als Gegesatz zur Einsicht verwirft und in einem Zusammenhang mit Gefühl und Ekstase der Wissenschaft und begrifflicher Durchdringung entgegenstellt. „Wer nur Erbauung sucht, wer seine irdische Mannifgaltigkeit des Daseins und des Gedankens in Nebel einzuhüllen und nach dem unbestimmten Genusse dieser unbestimmten Göttlichkeit verlangt, mag zusehen, wo er dies findet; er wird leicht selbst sich etwas vorzuschwärmen und damit sich aufzuspreizen die Mittel finden. Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“ (S. 13 der kritischen Edition von Bonsiepen und Heede 1980, Vgl. S. 45 zur dialektischen Darstellungsweise)

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I. VorWorte und VerAntwortung

ten Vollzug in den Mittelpunkt zu stellen. Deshalb kann es auch passieren, daß eine schlechte Rede erbaut oder gar eine irreligiöse.202 Wie bei allen Gebrauchstexten entscheidet deren erfolgreiche Anwendung über Qualität. Die semantische Entleerung der erbaulichen Reden Kierkegaards steht damit in allerbester Tradition und erfordert eine Umfunktionierung sprachlicher Zeichen von sagender, repräsentierender, stellvertretender Leistung auf eine Zeigefunktion, die die Aufmerksamkeit vom Zeichen auf Präsentes, nämlich den zu leistenden Vollzug, die Applikation, weiterlenkt. Deswegen können zeigende Zeichen nicht lügen; entweder sie gelten als Zeichen hier und jetzt oder sie sind keine Zeichen. Eine religiöse Rede darf das, wovon sie handelt, nicht als abwesend, vergangen oder zukünftig nur darstellen oder in der falschen Auffassung der Aneignung das, worum es geht, als einen noch nicht eigenen Besitz verstehen lassen. In seinem Buch über Adler bemängelt Kierkegaard genau das an einem schlechten Prediger, der „sich wehr[en]t durch die Übermacht des Gegenwärtigen […] als sei das, was er sagen soll, etwas, was er immer erst holen muß“203. Ganz explizit bringt Kierkegaard einen Vergleich mit zeigendem Zeichen: […] und wie ein Kind einen Zeigestock braucht, um nicht einen einzelnen Buchstaben zu übersehen, so sollte man, falls das Leben eine tiefere Bedeutung bekommen soll, sich nicht daran gewöhnen, alles allgemein zu verstehen, nicht darin hasten, alles verstehen zu wollen, sondern geduldig nach dem Zeigestock sehen, der immer auf einen selbst weist.204

Deshalb kann Kierkegaard die Leistung seiner Reden auch treffend mit einem nicht-verbalsprachlichen Beispiel klarmachen: Die Näherin eines Altartuchs gibt sich alle Mühe, es kunstvoll und perfekt zu gestalten für die heilige Zeremonie. Dennoch wäre es falsch, wenn ein Betrachter die Geschicklichkeit der Frau würdigte und ihre Kunstfertigkeit bewunderte; es geht darum, diese Leistung abwesend zu machen, ohne Effektivität einzubüßen: Denn die heilige Bedeutung konnte sie nicht in das Tuch hineinwirken; die konnte sie auch nicht aufnähen wie einen Schmuck mehr. Diese Bedeutung liegt nämlich im Betrachter und im Verständnis des Betrachters, wenn er, in der unendlichen Ferne der Abgeschiedenheit, über sich selbst und über seinem eigenen Selbst die Näherin und das ihre unendlich vergessen hat.205 202 203 204 205

Pap. VI B 133. BÜA, 121f. 3R44, 185f. / SKS 5, 270. ERG, 9 / SV VIII, 117.

I.3. Die erbaulichen Reden und ihre Vorworte

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(…) was nur da sein kann, um übersehen zu werden, was nur da sein kann – nicht um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern vielmehr damit nicht sein Fehlen störend die Aufmerksamkeit auf sich lenke.206

206

Ebd., S. 10 / SV VIII, 117.

Teil II Sagen und Zeigen Eine Rede zu verstehen ist das eine, das Deiktische darin zu verstehen, ist das andere. Der Begriff Angst 166 / SV IV, 408 / SKS 4, 442. Sage ich denn jetzt etwas? Porfiri PetrovicÐ

Rodion Raskolnikov ist der Protagonist von Dostojevskijs Roman Verbrechen und Strafe (alias Schuld und Sühne, bzw. Transgression und Züchtigung). Er hat eine Theorie entwickelt, die besagt, daß es zwei Arten von Menschen gibt: gewöhnliche und außerordentliche. Letztere seien in der Lage, eine Idee zu entwickeln, welche die Menschheit voranbringt, weswegen die Umsetzung der Idee auch auf Kosten der gewöhnlichen Menschen erfolgen könne. Fortschritt, so Raskolnikovs Überzeugung, muß Opfer in Kauf nehmen, und das kann beispielsweise die Tötung weniger wertvoller Menschen rechtfertigen. Um diese Auffassung zu beglaubigen und sich selbst zu beweisen, ermordet Raskolnikov eine Pfandleiherin, bei der er notgedrungen auch selbst Gegenstände versetzt hat, mit einem Beil. Sein Freund empfiehlt ihm Tage später, sich bei der Polizei zu melden, um seine Pfänder zu bekommen. Um sich nicht verdächtig zu machen, geht Raskolnikov tatsächlich zu Porfiri PetrovicÐ, dem mit der Aufklärung des Mordes beauftragten Kommissar. Porfiri gibt sich leutselig und schwätzt über dies und das mit Raskolnikov, von dem er bereits durch dessen Freund und die Fortschrittstheorie gehört hat. Allerdings hat er einen Tick, ein Zucken der Augenbraue, was der panische Raskolnikov als Zuzwinkern deutet, welches ihm anzeigt, daß Profiri alles weiß. Seine fiebrige Phantasie und nachhaltige Verwirrung macht alles am Verhalten und der Rede Profiris, vor allem aber das unwillkürliche Zucken der Augenbraue, zum Indiz und läßt ihn in den Gedanken hineinsteigern, daß er längst des Mordes verdächtigt wird. Tatsächlich äußert Porfiri keinerlei Vermutungen, im Gegenteil, er wehrt sogar ab, jemals Raskolnikov als Mörder in Betracht gezogen zu haben, als der damit herausplatzt und

80

II. Sagen und Zeigen

dem Kommissar eine Verdächtigung unterstellt. Er entschuldigt Raskolnikovs Ausbruch und verwirrte Rede mit dessen Nervosität und verstörter Gemütslage und nimmt einen anderen fest. Erst ganz zum Schluß meint Porfiri, er habe es geahnt, aber keine hinreichenden Indizien gehabt. „Aus hundert Kaninchen wird niemals ein Pferd und aus hundert Verdachtsmomenten niemals ein Beweis“1 sagt er. Erstaunlich ist, daß die häufigste Lesart dieses Romans, auch bei literaturwissenschaftlichen Profis, keinerlei Zweifel hegt, daß Porfiri tatsächlich von Anfang an den richtigen Verdacht hat und nur darauf hinarbeitet, Raskolnikov zum Geständnis zu bewegen. Daß diese ganze Interpretation an nichts anderem als an der zuckenden Augenbraue festzumachen ist, daß sie Raskolnikovs wahnwitziger Phantasie entspringt und sich außerhalb von dessen inneren Monologen durch nichts stützen läßt, scheint nicht zu stören. Wollte man eine Lesart versuchen, die für Porfiris Arglosigkeit spricht, so hätte man es nicht schwer. Die Gespräche sind keine Verhöre, Raskolnikov wird nicht aufs Revier bestellt sondern kommt freiwillig und jedes Mal läßt der Kommissar ihn wieder laufen. Alle Indizien, die im Laufe des Romans auf Raskolnikov als Täter hindeuten, hat dieser selbst beigesteuert. Dennoch wird er nicht festgenommen, sondern stellt sich freiwillig – nachdem seine Beichtmutter, die Prostituierte Sonja ihm das nahegelegt hatte, nachdem deren Nachbar zu verstehen gegeben hatte, daß er die Beichte mitangehört hat und sein Wissen ausnutzen könnte, und nachdem Porfiri klargemacht hatte, daß er Raskolnikov für den Mörder hält, aber keine Beweise hat. In dostojevskijtypischer Übersteigerung zeigen diese zentralen Episoden des Romans, wie etwas zum Zeichen gemacht wird und wie ihm maßlos wichtige Bedeutung zugemutet wird. Nicht nur die zuckende Augenbraue Porfiris, sondern jeder Schritt, den er tut, sogar jeder Blick eines Fremden auf der Straße und das Gezwitscher der Vögel werden für Raskolnikov Träger derselben Botschaft: Du hast gemordet und wir wissen es. Ganz anders der Kommissar, der zuläßt, daß ihm etwas auffällt, aber übervorsichtig ist mit Schlußfolgerungen und der gelernt hat, jedes Wort „in zwiefachem Sinne“2 aufzufassen. Ihm ist klar, wie verfänglich es ist, zu meinen, daß sich etwas irgendwie sicher zeigt und wie wenig ein Zeichen dafür verbürgen kann, eindeutig und zuverlässig zu sein. Die übereindeutige Interpretation von Nichtigkeiten einerseits und die Vorbehalte, etwas als Zeichen für etwas 1 2

6. Teil Kapitel 2, in der Übersetzung von H. Röhl, Berlin und Weimar 1990, S. 582. Ebd., S. 585.

II. Sagen und Zeigen

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gelten zu lassen andererseits, markieren die extremen Pole dessen, was in diesem Teil meiner Arbeit im Ausgang von der Gegenüberstellung von Sagen und Zeigen bei Wittgenstein zu besprechen ist. Dieser Unterschied kommt im Tractatus auf, wird aber nicht ausgearbeitet: Es geht nur um die Bedingungen sinnvoller Sätze; alles, was den Kriterien hierfür nicht entspricht, wird ausgegrenzt. In anderen Texten kommt die Gegenüberstellung von Sagen und Zeigen nicht mehr als Thema vor, doch – so will ich argumentieren3 – bleibt sie auf transformierte Weise virulent. Um dies zu erarbeiten, erweist es sich als hilfreich, semiotische Ansätze hinzuzuziehen, nämlich den von Charles Sanders Peirce und den von Karl Bühler, obschon Wittgenstein eine semiotische Ausweitung seiner Überlegungen zur Sprache nicht selbst vorgenommen hat.4 3

4

Einer der ersten, der Kierkegaard und Wittgenstein in eine Relation gebracht hat, war Paul Holmer. Er plädiert ebenfalls dafür, die Wittgensteinsche Unterscheidung von Sagen und Zeigen auch in späteren Texten noch zu finden: „Wittgenstein: ‚Saying‘ and ‚Showing‘“ in Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, Heft 3, Band 22, 1980, pp. 222-235. In Karl Bühlers Sprachtheorie (Jena 1934) wird die Komplementarität des „Zeigfeldes“ und „Symbolfeldes“ behauptet, wobei keines auf das andere reduzibel ist. (Vgl. z. B. S. 119 der Ausgabe von 1982, wo Bühler die Notwendigkeit einer „Zweifelderlehre“ herausstellt). Bezeichnenderweise handelt es sich hier um ein Thema, das (analytische) Philosophen (so beispielsweise Russell, Quine) wie Linguisten (u. a. Benveniste und Jakobson) bearbeitet haben. Es ist zu vermuten, daß Wittgenstein Bühler in den 20er Jahren in Wien kennengelernt hat: Sowohl Karl Bühler als auch seine Frau waren bekannte Psychologen und standen mit Wittgensteins Schwester Margarete Wittgenstein-Stonborough in Kontakt. Wittgensteins Neffe hat 1928 eine Doktorarbeit eingereicht, die von Bühler betreut worden war. Außerdem gehörte die Kinderpsychologie von Bühler (1916) zum Curriculum Wittgensteins, als er 1919/20 in Wien zum Volksschullehrer ausgebildet wurde. Achim Eschbach hat über die Verbindung zwischen Wittgenstein und Bühler gearbeitet und vermutet, daß die Transformation von Wittgensteins Ansatz sich einer unausgewiesenen Bühler-Lektüre verdankt. Im 750seitigen Big Typescript liest Eschbach eine „semiotisch fundierte Sprachtheorie“, die Wittgenstein geholfen habe, vom Tractatus Abstand zu nehmen. Karl Bühler‘s theory of language, ed. Achim Eschbach, Amsterdam/ Philadelphia 1988, pp. 385-406. In einem anderen Aufsatz findet Eschbach bei Peirces „Synechismus“, Bühlers „synchytischen Begriffen“ und Wittgensteins „Familienähnlichkeit“ eine gemeinsame Alternative zur Bestimmtheit von Bedeutung und zur Forderung nach der Eliminierung von Vagheit. Er erarbeitet die Relevanz von Vagheit für die Anwendbarkeit von Zeichen in einer konkreten Situation und zeigt, wie hinreichende Bestimmung Kontur gewinnt, so daß das Zeichen operabel ist. So werde das Repräsentationsmodell obsolet. „Verstehen und Interpretation. Karl Bühlers synchytische Begriffe und Wittgensteins Familienähnlichkeiten“, in Bühler-Studien 2, Hg.: A. Eschbach, Frankfurt 1984, S. 175-206.

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II. Sagen und Zeigen

Während er eine ‚Grammatik des Zeigens‘ schuldig bleibt – und bleiben muß – ist eine Semiotik des Zeigens bereits geleistet: Sagende Zeichen (‚symbols‘ bei Peirce, ‚Nennwörter‘ bei Bühler) lassen durch ihre Situierung im Code und Beziehungen und Differenzen zu anderen Zeichen ihre Bedeutung Kontur gewinnen. Damit sind sie auf das Systemganze angewiesen und funktionieren nach Maßgabe ihres Ortes und ihrer Rolle darin. Sie sind hinreichend allgemein und fixiert, um verstehbar zu sein und kontextindifferent konstant und zuverlässig zu denotieren. Sie werden durch den jeweiligen Referenten in der konkreten Äußerungssituation nicht affiziert, sondern subsumieren diesen als Fall ihrer Denotation.5 Diskrete Einheiten lassen sich mit Bedeutungen korrelieren, Wörter kann man im Lexikon nachschlagen. Die Verbalsprache ist das beste Beispiel hierfür, sie verbürgt durch den semantischen Gehalt ihrer Elemente für Bedeutung und besteht aus Zeichen, die für etwas Abwesendes stehen, es vertreten und vermitteln. Zeigende Zeichen hingegen ‚tragen‘ keine feste Bedeutung, weil sie je nach Kontext neu referieren. Relativ nicht zum Zeichensystem sondern zu ihrer Lokalisierung im Wahrnehmungsraum und Verwendung durch Sprecher gewinnen sie erst im Vollzug unter den Bedingungen des hier und jetzt ihre Bedeutung, werden u. U. erst dann zu Zeichen. Dafür muß das, worauf sie sich beziehen, präsent sein, so daß die spezifische Leistung nicht die Stellvertreterfunktion, sondern die Neufokussierung der Aufmerksamkeit ausmacht. Sie sind kontextsensitive Variablen, die nicht Bedeutung haben, sondern eine Rolle spielen. Ich meine, daß Kierkegaard und Wittgenstein Sprache zeigend verwenden, weil sie ihr nicht zutrauen, etwas korrekt zu erfassen und Abwesendes verlustlos und kontextindifferent zu vermitteln. Ein Mittel nämlich hat nicht nur die Macht, Bedeutung zu übertragen, sondern läuft Gefahr, falsch zu sein, zu verstellen und zu lügen, einen Referenten vorzutäuschen, den es gar nicht gibt. Aber auch dann, wenn er existiert, geht er nicht in dem auf, was sprachlich bezeichenbar ist und notwendigerweise von der jeweiligen Einzigartigkeit abstrahieren muß. Zeigende Zeichen hingegen referieren nur dann, wenn sie situativ eingebunden eine aktuelle Verweisungsrolle spielen und nach Maßgabe 5

Ich verwende ‚Denotation‘ als attributiv auflösbare semantische Bedeutung des Zeichens, wie es sie durch den Code gewinnt, d. h. unabhängig von der außersprachlichen Wirklichkeit. ‚Referenz‘ hingegen ist nur gegeben, wenn Sprache auf Wirklichkeit transzendiert wird und ihre Bedeutung erst dadurch, in der pragmatischen Anwendung, gewinnt.

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dessen, für den sie als Zeichen fungieren. Sie orientieren im Offensichtlichen und erlauben „attention to particulars“6, wie sie zudem durch den wichtigen Status der Beispiele in Wittgensteins Abschnitten als aller explizierbaren Regel unabsorbierbar zur Diskussion kommt. Wenn Kierkegaard, wie oben deutlich wurde, Pseudonyme verwendet, besetzt er den Ausgangspunkt der Rede, die Origo, nur provisorisch. Dies ist auch der Fall bei einer fiktiven Realität, z. B. einer Romanhandlung, wo eine Erzählerfigur die Instanz ist, zu welcher relativ alles Erzählte organisiert wird. Sie bietet den Bezugspunkt für alle Verweisungen und ermöglicht, was Bühler eine „Deixis am Phantasma“7 nennt. Doch anders als bei einer fiktiven, aber zuverlässigen Orientierungsinstanz stellen sich Kierkegaards Pseudonyme als nur scheinbare Bezugspunkte heraus und erfordern, daß der Leser die Origo selbst besetzt und alle Zeichen nach seiner existentiellen Konstellation referieren läßt. Solche indexikalisch funktionierenden Texte, bei denen die sinnproduktive Aktivität in Abhängigkeit der spezifischen Situation der Gesprächspartner zu leisten ist, ähneln als Textsorte eher einem Dialog als einem monologischen, wissenschaftlichen Traktat, der allgemeinverbindlich Aussagen vornimmt. Ich meine, daß sich beim späten Wittgenstein etwas Vergleichbares feststellen läßt, so daß auch hier Sprache in ihrer zeigenden Qualität verwendet werden muß und akzentuiert wird. Dies läßt sich nicht nur an der Bindung von Bedeutung an den Gebrauch zeigen, sondern auch an der Textgestalt von Wittgensteins Bemerkungen, die Abschnitte zusammenstellen, aber diese nicht in einen eindeutigen Argumentationszusammenhang stellen. Auch hier gilt Kierkegaards „jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste“ , so daß sich Verstehen nicht so sehr als Reaktivierung eines konstanten Vorhandenen betreiben läßt, sondern vielmehr als produktives Neugewinnen von Bedeutung, die sich nicht standpunkt- und kontextindifferent halten kann. Was 6

7

Vgl. die gleichnamige Aufsatzsammlung zu Wittgenstein, herausgegeben von Peter Winch und D. Z. Phillips, 1989. Cora Diamond weist darauf hin, daß genau dies einen Roman als „realistisch“ bezeichnen läßt. The Realistic Spirit, MIT press 1995, p. 40. Bühler ist zuversichtlich, daß bei „anschaulicher Schilderung“ (S. 126) eine Orientierung auch im imaginierten Szenario klappen kann. Er ist bestrebt, das „sich Versetzen“ vom realen ins imaginierte Zeigfeld vom „Entrücktsein“ eines Wahnsinnigen zu unterscheiden und will „Deixis am Phantasma“ von Träumereien scharf unterschieden wissen. (Vgl. a. a. O., S. 133f.) Damit beschäftigt sich die „deictic shift theory“, z. B. im Sammelband Deixis in Narrative eds.: J. F. Duchan, G. A. Bruder, L. E. Hewitt, New Jersey 1995.

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bei Wittgenstein der Sprachgebrauch ist, funktioniert ähnlich wie Kierkegaards ‚Aneignung‘. Bei Kierkegaard und Wittgenstein werden andere als die klassischen deiktischen Wortarten8 zu zeigenden Wörtern, nämlich ganz zentrale Begriffe. Sie bekommen eine kontextsensitive Offenheit, die definitorische Sicherbarkeit vereitelt, d. h. sie sind keine Termini im Wortsinn, keine Endpunkte der Semiose mit finaler Bedeutung. So bleibt eine der traditionellen Forderungen philosophischer Rede nicht nur aufgrund von Fehlern uneingelöst, sondern wird als Ideal fragwürdig.9 Ein Exkurs über Hegels erstes Kapitel in der Phänomenologie des Geistes läßt deutlich werden, daß auch hier die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen operativ ist und auf welche Weise die vorher erarbeitete Spezifik von Deiktika zu eliminieren versucht wird. Wenn Hegel im Untertitel und seinem Text von „das Diese“ spricht, will er die Flüchtigkeit der Referenz abschaffen und – wie bei der (danach mit Wittgenstein zu diskutierenden) hinweisenden Definition – ein Zeigen zum Ausgangspunkt für Objektkonstitution werden lassen. Dennoch wird ein Blick auf Hegels Vorgehen klar machen, daß dieser von Kierkegaard eher aus- und weggeschimpfte und von Wittgenstein ignorierte Philosoph beträchtliches Problembewußtsein bzgl. Sagen und Zeigen erkennen läßt – wenngleich er dagegen anarbeitet. 8

9

Vgl. Gabriele Maria Diewald Deixis und Textsorten im Deutschen, Tübingen 1991. Auf der Basis von Bühler wird hier überzeugend versucht, anhand der Frequenz und Distribution von Deiktika Merkmale zu gewinnen, die Textsorten unterscheiden lassen. Obschon die hier erarbeiteten Klassifikationen im Einzelnen für mich nicht von Belang sind, taugen sie als Instrument und Hintergrund meiner These: Kierkegaard wie Wittgenstein schreiben mit der Maske einer kontextindifferenten Textsorte eines akademischen Buchs („schriftlicher Monolog“) Texte, die der Textsorte eines face-toface Dialogs angehören. Bezeichnenderweise läßt sich das bei den beiden nicht mit einer linguistischen Analyse feststellen, da das zeigende Funktionieren nicht an Deiktika gebunden ist. Vgl. P. M. S. Hacker, der seine Vorgehensweise bei der ausführlichen Kommentierung der PU rechtfertigt: „[…] use, grammar and criteria. Neither in this volume, nor in the companion volume, nor in the companion volume of essays is there any general sustained discussion of any of these three crucial notions. The explanation is straightforward. Although it is true that the term ‚use‘ in vacuo is too nebulous to give much guidance, Wittgenstein‘s employment of it is by no means nebulous: in each context the point is clear. Relative to each context we have, in the exegis, tried to explain in detail what he meant. […] it should be clear enough that the whole of this book and its compaion volume of essays […] is concerned, either directly or obliquely, with exploring the significance and ramifications of Wittgenstein‘s revolutionary association of the meanings of linguistic expressions with their uses in the actions and transactions of human beings.“ p. xix der paperback edition 1997. Hervorhebung von mir.

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Um über Zeigen bei Wittgenstein sprechen zu können, macht es Sinn, vier Arten zu unterscheiden, die ich im folgenden kurz vorstellen werde. Wie oben gesagt, tut Wittgenstein selbst nichts dergleichen, doch er nutzt aus, daß das Verb ‚zeigen‘ eine ganze Bandbreite an funktionalen Stellen aufweist. Wittgensteins Tractatus formuliert das Ziel, die Bedingungen sinnvoller Sagbarkeit zu bestimmen10. Sämtliche Arten der Sprachverwendung, die der hier erarbeiteten Abbildtheorie nicht entsprechen, gelten als Unsinn oder Sinnlosigkeit insofern sie Aussagen vortäuschen über etwas, das sich nur zeigen kann und keine Tatsache ist. Mit dem traditionellen Gestus negativer Theologie endet der Tractatus mit dem Hinweis auf ein (bedeutungsschwangeres) Schweigen, dem alle Werturteile und Beschreibungen von Transzendentem anheimfallen sollen. Sogar die für Offenbarungen typische Formel „es zeigt sich“ findet sich hier, bei der Rede vom „Mystischen“, das nicht einzelne Konstellationen von Tatsachen in der Welt sondern deren Existenz im Ganzen betrifft.11 Es muß ausgegrenzt werden, wie alle Wertungen und die Einstellung zur Welt als ganzer, was Wittgenstein in einem vielzitierten Brief mit Bedauern bekundet: Es gehe ihm um das Ethische, welches das Eigentliche sei und in einem ungeschriebenen zweiten Teil seines Tractatus zu verorten sei.12

10

11 12

Vgl.Vorwort zum Tractatus S. 9 „Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“ T 4.115 „Sie [die Philosophie] wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.“ Vgl. den Brief an Russell vom 19.8.1919 „Die Hauptsache ist die Theorie über das, was durch Sätze – d. h. durch Sprache – gesagt (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann. Dies ist, glaube ich, das Hauptproblem der Philosophie.“ Ludwig Wittgenstein Briefwechsel, hrsg. B. F. McGuinness/G. H. von Wright, Frankfurt 1980 S. 88. T 6.44 und 6.522. Der berühmte Brief an von Ficker, Oktober oder November 1919: „(…) der Sinn des Buches ist ein Ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe, weil er Ihnen vielleicht ein Schlüssel sein wird: Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige.“ Vgl. Briefe, 96f.

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Gelesen als Plädoyer für etwas Ineffables, das sich jeder Mitteilbarkeit und dem menschlichen Denkvermögen entzieht, ist der Schluß des Tractatus das, was man als erstes im Sinne einer Parallele zu Kierkegaards ‚indirekter Mitteilung‘ assoziiert. Allerdings nährt Wittgensteins konsequente Weigerung, näher klarzustellen, was er mit diesem Zeigen meint und wie sich das manifestiert, ein Mißverständnis, das bei beiden Autoren gleichermaßen irreführt, aber naheliegt: Man könnte meinen, es gäbe allerhand Gegenstände, von denen einige sprachlich korrekt sagbar, mitteilbar wären, andere aber nicht, weil Sprache defizitäres Medium für absolute Angelegenheiten wäre. Um den menschlichen Vermögen nicht zuviel zuzumuten, um sie nicht zu überfordern mit Themen, die jenseits ihrer Grenzen lokalisierbar sind, sei eine Kapitulation die konsequente Reaktion. Zeigen als vages Andeuten eines ineffablen Gegenstands wäre dann der letzte, sich defizitär und hilflos wissende Versuch, noch eine Bezugnahme darauf zu starten. Doch bereits der Tractatus läßt (mindestens noch13) eine andere Art des Zeigens aufkommen, welche sich darin nicht erschöpft: Ein wahrer Satz bildet eine Tatsache ab, indem er eine strukturelle Isomorphie zu ihr aufweist. Das, was zwischen beiden übereinstimmt und kraft welchem das Abbild-Verhältnis einer sinnvollen Aussage besteht, nennt Wittgenstein „logische Form“. Als Möglichkeitsbedingung von Sagbarkeit hat diese transzendentalen Status und ist selbst nicht eine Tatsache, über die Aussagen gemacht werden können. Satz und Tatsache weisen sie auf, insofern zeigt sie sich.14 Metasprache ist somit ebenfalls Unsinn, denn wenn man über sprachliches Funktionieren eine Aussage macht, behandelt man es wie eine Tatsache in der Welt. Nur konsequent ist es deshalb, wenn der Tractatus seinem eigenen Unsinnsverdikt zum Opfer fällt, weil er 13

14

Wie viele Arten des Zeigens sich im Tractatus unterscheiden lassen, ist je nach Interpret und dessen Fragerichtung unterschiedlich. Bei gebotener Ausführlichkeit ist eine Bezugnahme auf Russel und Frege unabdingbar. Ich will darauf nicht eingehen, denn es geht darum, daß das Thema des Buches die Bedingungen sinnvoller Sagbarkeit sind und daß das Zeigen nur widerspruchsvoll ausgegrenzt wird. T 4.12 „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu müssen – die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt.“ T 4.121 „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.“

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die in ihm elaborierten Standards sinnvoller Sagbakeit in den eigenen Prozeduren mißachtet. An dieser Stelle wird Zeigen zur selbst-dementierenden Geste; das Programm, die Bedingungen sinnvollen Sagens ein- für allemal klären zu wollen, muß sich in letzter Konsequenz ad absurdum führen. Nicht nur dann, wenn man Themen vornimmt, die nicht verifizierbar sind und beispielsweise Werturteile beinhalten und die Welt als Ganze betreffen (Ethik, Ästhetik, Religion), sondern auch dann, wenn man auf einer Meta-Ebene sprachliches Operieren besprechen will, verstößt man gegen Sagbarkeit. Noch vor den pathetischen Schlußsätzen, nämlich bereits im Vorwort wird dies reflektiert und ein zeigender Status bekannt15. Dieser ‚existentialistische‘ Rahmen hat den an der analytischen Sprachlogik interessierten ersten Lesern des Tractatus, darunter Russell und die Mitglieder des Wiener Kreises, immer schon zu schaffen gemacht; sie stießen sich daran, daß das Schweigen am Ende ‚über‘ etwas ist und kein leeres Verstummen. Sie verweigern Wittgensteins grundsätzliche Auffassung, daß das, was sich nicht klar und sinnvoll sagen läßt, eigentlich der Rede wert sein soll. Tatsächlich kann man die beiden Lesarten des Tractatus gut trennen, aber schwer vereinbaren.16 Dies schlägt sich auch in expliziten 15

16

Und zwar gleich zwei Mal: „Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt – wie ich glaube – , daß die Fragestellung dieser Probleme auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht. […] so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind.“ James Conant zählt alle Möglichkeiten auf, damit umzugehen und plädiert dafür, keine zwei Stufen oder Ebenen anzunehmen, um nicht wertvollen Unsinn von blankem Nonsens unterscheiden und kriteriell ausweisen zu müssen. (a. a. O., p. 198f. s. o. Teil I.1.2.) Gegen Conant argumentieren J. Lippitt und D. Hutto für die Annahme verschiedener Arten von Nonsens, so daß es durchaus Sinn mache, von einem signifikanten zu sprechen. Conants Betonung des therapeutischen Anliegens beim frühen wie späten Wittgenstein erkläre nicht, wie ein so drastischer Stilwechsel zustande kommt und warum uns die ethischen, ästhetischen und religiösen Fragen wichtig sind. Die Alternative sei eine „developmental reading“, mit welcher aus dem Tractatus zu lernen sei, daß logischer Unsinn von anderer Qualität sei als religiöser etc. Aus diesem Grund sei Wittgenstein dazu übergegangen, Äußerungen je nach ihrer Rolle in einem Kontext zu beurteilen. Wie bei Kierkegaards Einschätzung der Inkarnation als Paradox werde so eine Neueinschätzung unserer Rationalitätsstandards initiiert. Bei der entsprechenden Lebensweise, sei die Absurdität des Religiösen keineswegs Nonsens; Conant könne das nicht honorieren, weil er an der rigiden Auffassung aus dem Tractatus festhalte. „Making sense of Nonsense. Kierkegaard and Wittgenstein“, in Proceedings of the Aristotelian Society, 1998, pp. 263-286.

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Widersprüchen innerhalb des Textes nieder, wenn z. B. Sagen und Zeigen einerseits in einem Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, („Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.“17) und andererseits in Komplementarität („Der Satz zeigt, was er sagt […]“18). Ohne dies im Einzelnen nachzuzeichnen, wird bereits an dieser skizzenhaften Rekonstruktion deutlich, daß unsagbar einerseits das Allerhöchste, andererseits das Alltägliche und Normale ist.19 Zeigen ist der Modus, der alle sprachlichen Funktionen umfaßt, die nicht Aussagen über eine Tatsache sind. Gleichzeitig ist es unabdingbar für jedes Sagen. Wenn Wittgenstein in seinem zweiten Ansatz, den Philosophischen Untersuchungen, dafür plädiert, sprachliches Funktionieren zu pluralisieren, wird die schon im Tractatus uneindeutige Qualität des Zeigens in Ergänzung, Komplementarität und Opposition zum Sagen nicht obsolet, obschon sie kaum Thema wird. Die Grenze zwischen dem sinnvoll Sagbaren und dem, was sich (nur) zeigt, wird nicht relativiert, sondern rigoros wie vorher zum Ziel der Klärungen. Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckungen irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen.20.

Wittgenstein macht sich daran, herauszufinden, wie Überstrapazierungen des (sprachspielrelativ) sinnvoll Sagbaren zu (krankhaften und schmerzhaften) philosophiestiftenden Konsequenzen führen und auf einer Grenzmißachtung beruhen: Praxisintegrierte und im alltäglichen Gebrauch unproblematische Ausdrücke werden abstrakt aufgefaßt und zum Anlaß theoretischer, allgemeiner und metaphysischer Überlegungen. Ich werde versuchen, zu erarbeiten, daß eine Quelle solcher intellektuellen Operationen darin besteht, daß zeigend funktionierende Wörter zu sagenden gemacht werden, d. h. kontextenthoben zu Begriffen stilisiert und fixiert werden, um festumrissene Bedeutung zu gewinnen und theoriefähig zu sein. Demnach verdankt Philosophie sich einer teilweisen Ignoranz gegenüber den spezifischen Leistungen sprachlicher Zeichen im Handlungszusammenhang 17 18 19

20

T 4.1212. T 4.461. Michel de Certeau findet deshalb in Wittgenstein einen Verbündeten, wenn es darum geht, das Anonyme, Alltägliche, die kaum faßbare Kreativität des Konsums der Massen, zu beschreiben. Vgl.: Kunst des Handelns, Berlin 1988, besonders S. 46-54 (L‘invention du quotidien 1. Arts de faire, Paris 1980). PU 119.

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einer hier und jetzt und nie wieder genauso vorkommenden Situierung. Solche Zeichen ‚tragen‘ keine Bedeutung, sondern spielen eine Rolle, die dadurch Bedeutung entstehen lassen kann, daß etwas als Denotat in Frage und ins Spiel kommt. Wenn Sprache zeigend wirksam ist, läßt sich sinnvolles Sprechen neu und je anders initiieren, aber nicht dauerhaft kontrollieren und garantieren. Dies läßt sich nicht auf die Repräsentationsfunktion (sagender) Propositionen reduzieren, deren Wahrheit oder Falschheit feststellbar wäre. Was ‚sich zeigt‘ oder worauf man zeigt, ist schließlich keine Maßnahme mangels sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten, die in Schweigen kulminiert. Vielmehr ist gerade Zeigen nur kraft vermittelnder Instanzen, d. h. anderer Zeichen, möglich, von denen jedoch keine so funktioniert, daß sie Bedeutung bestimmt und transportiert. Gerade die zeigende Leistung bedarf eines Handlungszusammenhangs und provoziert zur weiteren Bestimmung Folgezeichen. Für mich wichtig sind auch diesmal zwei Arten des Zeigens: Zum einen beginnt das Buch mit einem Augustinuszitat, anhand von welchem die Verknüpfung von Sprache und Welt durch eine Zeigegeste vorgestellt wird, also mittels einer hinweisenden Definition. Wittgenstein problematisiert dies wenn es als Initialzündung der Verknüpfung von Wort und Gegenstand mißverstanden wird, woran sich die Funktionsweise des Zeigens (im Sinne von ‚pointing‘) diskutieren läßt: Einerseits ermöglicht es variable, situativ gebundene Referenz auch auf etwas, das sich nicht definieren läßt. Andererseits ist dies vorraussetzungsreich und bedarf weiterer etablierter Praktiken und Codes. Zum anderen – und damit in Zusammenhang – verlagert sich die für alles Sagen konstitutive Zeige-Leistung auf die Lebenspraxis, in der Äußerungen eine Rolle spielen und eingebunden sind. Wittgenstein gibt zu bedenken, daß man auf Bedeutung nicht zeigen kann21, doch zeigt sich, was es mit einer sprachlichen Äußerung auf sich hat, darin, wie sie kontextualisiert und in Handlungen integriert ist. Hier geht es nicht um ein Zeigen auf etwas, sondern ein sich Zeigen an dem hochkomplexen Zusammenspiel von Sprache, Handeln und Kontext. Mit einer solchen Akzentuierung sprachlichen Funktionierens verschiebt sich die für Bedeutung entscheidende Leistung von der Semantik auf die Pragmatik, wie es vergleichbar in Kierkegaards Erbauungsliteratur der Fall ist. Weniger die codifizierten Gehalte und mit einer formalen Textstruktur verbundenen typischen Genreimplikatio21

Vgl. Vorlesungen 1930-35, Frankfurt 1989, S. 184/26.

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II. Sagen und Zeigen

nen, als die Verwendung im konkreten Fall und Leben ist aufschlußreich dafür, was als Zeichen gilt und wie es sinnvoll wird. Da sich das nicht durch Rekurs auf die Wörter erschließt und schon klar wurde, daß Zeigen den Wahrnehmungsraum der Äußerungssituation einbezieht, um referieren zu können, kommt eine Diskussion zeigender Zeichen nicht aus, ohne deren Leistung als „sehen lassen“ oder „sich blicken lassen“ zu akzentuieren. Eine Neufokussierung der Aufmerksamkeit läßt die aktuelle Konstellation zu einer anderen werden, ohne an ihr etwas zu ändern. Wittgensteins wiederholte Aufforderungen, hinzuschauen, anstatt zu denken22, seine Forderungen nach Übersicht und Klarheit23 sowie sein Bekenntnis zum Offensichtlichen24 lassen sich als Provokationen auffassen, Denken an die konkrete Lebenswirklichkeit rückzubinden. Kierkegaards aus der Bibel geborgtes „Siehe!“ ließe sich in diesem Sinne wortwörtlich nehmen und als Ausdruck des Erstaunens dessen werten, dessen Welt zu einer anderen geworden ist, ohne daß sich auch nur eine Kleinigkeit als ausschlaggebender Auslöser nominieren läßt. In meinem Teil IV komme ich mit Wittgensteins Überlegungen zum Aspektwechsel darauf zurück, wie die Wahrnehmung einen solchen plötzlichen Wechsel eines Ganzen passieren läßt.

II.1. Peirce Words alone cannot do this.25 man schreibt überhaupt nichts anderes als Zeichen, kein Wort, keinen Satz, sondern lauter Ausrufungs- und Fragezeichen. Kierkegaard, Pap. III A 222 (1841)

„We think only in signs.“26 Peirce zufolge ist nicht nur jede intellektuelle Anstrengung, sondern auch jede Handlung und Auseinanderset22 23 24 25

26

PU 66, 435 u. ö. PU 122, 133 u. ö. PU 126, 129, 153, 415, 435, u. ö. Collected Papers of Charles Sanders Peirce (CP), Band 2 , Cambridge 1932/ 2.287. Der üblichen Zitationsweise gemäß gebe ich eine Zahlenreihe an, deren erste den Band der CP markiert und nach dem Punkt die Nummer des Abschnitts folgen läßt. (also keine Seitenzahlen) CP 2.302.

II.1. Peirce

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zung mit der Wirklichkeit, zeichenhaft vermittelt und konstituiert. Deshalb ist es geboten, semiotische Prozesse in ihren Funktionsweisen zu klären. Peirce faßt ein Zeichen als irreduzible triadische Relation zwischen drei Größen auf: Ein (materialer) Zeichenkörper („sign“) steht für etwas („object“) und die Beziehung zwischen beiden wird durch ein Drittes, den „interpretant“ vermittelt und geregelt.27 Prinzipiell kann alles als Zeichen gelten und für alles stehen, damit es aber tatsächlich so fungiert und in welcher Hinsicht, bedarf es einer solchen dritten Instanz, die die Seite der Rezeption ausmacht. Erst als vollständige Triade ist ein Zeichen effektiv als Verbindung zwischen Sprache und Welt bzw. durch Zeichen generierte Konstitution von Wirklichkeit.28 Trotz des Interpretanten gibt es keine Garantie dafür, daß ein Zeichen die Wirklichkeit wahr und richtig repräsentiert, weswegen jeder Interpretant zum Träger einer neuen Triade wird und sich eine semiotische Kette von Folgezeichen ergibt29. Peirce denkt einen „finalen Interpretanten“, der mit regulativem Status am Ende eines solchen Prozesses steht, also wenn die Wirklichkeit richtig und vollständig erfaßt ist. 27

28

29

CP 2.228; 2.274 „A Sign, or Representamen, is a First which stands in such a genuine triadic relation to a Second, called its Object, as to be capable of determining a Third, called its Interpretant, to assume the same triadic relation to its Object in which it stands itself to the same Object. The triadic relation is genuine, that is its three members are bound together by it in a way that does not consist in any complexus of dyadic relations.“ In seinen knappen Bemerkungen zum Zeichen in der Einübung im Christentum liegt Kierkegaards Augenmerk genau hier: „ […] das Zeichen ist nur für den, der weiß, daß es ein Zeichen ist, und streng genommen, nur für den, der weiß, was es bedeutet; für jeden andern ist das Zeichen das, was es unmittelbar ist. – Selbst wenn es keinen gibt, der Dies oder Das zu einem Zeichen gemacht hat, und keine Abrede mit jemand darüber besteht, daß es ein Zeichen sein solle, selbst dann gilt es: wo ich etwas Auffallendes sehe und es ein Zeichen nenne, ist die Bestimmung durch Reflexion eingetreten.“ EC S. 126 / SV XII, 116f. Stacey Elizabeth Ake hat die Parallelen zwischen Peirces Zeichentheorie und dem Zeichenverständnis Kierkegaards in der Einübung herausgearbeitet: „Some Ideas Concerning Kierkegaard‘s Semiotics: A Guess at the Riddle Found in Practice in Christianity“ in Kierkegaard Studies Yearbook 1997, pp. 169-186. CP 2.303 „Anything which determines something else (its interpretant) to refer to an object to which itself refers (its object) in the same way, the interpretant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum.“ In CP 2.229 unterscheidet er drei „branches“ der „science of semiotic“ von denen eine „pure rhetoric“ genannt wird: „It‘s task is to ascertain the laws by which in every scientific intelligence one sign gives birth to another, and especially one thought brings forth another.“

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II. Sagen und Zeigen

Für meine Belange ist es wichtig, daß Peirce getreu seinen drei Kategorien30 drei Arten von Referenz unterscheidet: Im „icon“ verbinden sich Zeichen und Objekt durch eine gemeinsame Eigenschaft, eine Ähnlichkeit oder Analogie, die eine Möglichkeit der Beziehung bietet, aber nicht in einem vollständigen, gültigen Zeichen enden muß31. Das einfachste Beispiel dafür ist eine Abbildung. Der „index“ kommt durch eine tatsächlich existierende Relation zweier Instanzen zustande, beispielsweise Krankheitssymptome oder Rauch als Zeichen für Feuer32. Das „symbol“ schließlich ist ein Zeichen, das sein Objekt kraft geltender Konvention (Gesetz, Regel) vertritt, so wie die Verbalsprache33. Allerdings gibt es keinen der drei Referenzmodi, ohne daß die anderen auch wirksam wären.34 So ist ein Stück Stoff nur dann ein Farbmuster, wenn es kraft einer Konvention so benutzt wird35; eine Photographie ist zwar durch eine physikalische, faktisch-kausale Einwirkung entstanden, referiert aber über Ähnlichkeit. Symbols sind auf ikonische und indexikalische Leistungen angewiesen, um ihre Beziehung zur Welt, die sie darstellen, auszuweisen36. So kann ein Buch eine imaginierte Welt beschreiben, ohne daß das den Zeichen anzumerken wäre. Das gilt ähnlich für Theoriebildungen, bei denen Zeichen-Folgezeichen-Relationen dominieren und mit zunehmender Abstraktheit der Objektbezug marginal wird. Texte, die mit Wahrheitsanspruch verknüpft sind, d. h. Sprache auf Wirklichkeit 30

31 32

33 34

35

36

CP 8.328 (Brief an Lady Welby) und CP 1.300-1.353. Die Zahl drei ist bei ihm fast magisch; sie dominiert nicht nur die Semiotik, wo sich die möglichen Zeichenklassen durch immer neue Unterteilungen in Dreiergruppen ergibt. Er treibt diese Klassifizierungen unterschiedlich weit, meist kommt er auf 10, aber auch auf z. B. 66 (z. B. CP 2.254 und CP 2.243 note). CP 2.274-2.282: „purely by virtue of its quality“. CP 2.283-2.291. „real connection with the object“. Wenn Peirce in CP 2.283 von einer „existential relation“ spricht, verwendet er sogar einen an Kierkegaard gemahnenden Terminus. CP 2.292-2.302. „rule, habit, general law, regularity, contract, convention“ In CP 4.448 hält Peirce ein Zeichen für perfekt, das alle drei Referenzarten als „blended as equally possible“ bietet. Es wäre verführerisch, immer wieder Parallelen zu Wittgenstein aufzuführen, hier beispielsweise PU 16 „[…] Es ist das Natürlichste, und richtet am wenigsten Verwirrung an, wenn wir die Muster zu den Werkzeugen der Sprache rechnen. […]“ CP 2.295 „Let the sentence, then, be „Ezekiel loveth Huldah.“ Ezekiel and Huldah must, then, be or contain indices; for without indices it is impossible to designate what one is talking about. Any mere description would leave it uncertain whether they were not mere characters in a ballad; but whether they be so or not, indices can designate them.“

II.1. Peirce

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hin transzendieren oder sie mit ihr verflechten, bedürften zeigender Modi. Damit scheinen die drei Referenzarten letztlich wieder ineinander zu kollabieren, wobei einzig die pragmatische und konventionelle Ebene regelt, was etwas zu einem Zeichen macht: Ähnlichkeiten kann man zwischen allem und jedem feststellen37 und die wenigsten faktischen Bezüge zwischen zwei Instanzen lassen die eine zum Zeichen für die andere werden (Beispielsweise gehört allerhand medizinische Forschung dazu, etwas zum Symptom für eine Krankheit zu deklarieren). Auch die auf den ersten Blick einfach und direkt funktionierenden icons und indices scheinen nur deshalb Zeichen zu sein, weil sie als solche genommen werden, d. h. kraft einer Konvention. Eine Ähnlichkeit oder Kausalrelation sind damit bloße Potentiale für eine mögliche Aktivierung im semiotischen Prozess.38 Um dennoch nicht alles auf den Interpretanten zu schieben, versucht Peirce einen „outward clash“ zu denken, der unvermittelt und störend in die zeichenvermittelnden und -vermittelten Operationen einbricht. Jedes neue Zeichen muß den hier sich geltend machenden „brute facts“ gerecht zu werden versuchen, kann aber nie mehr als eine Hinsicht adäquat greifen. Deshalb verdankt sich die eben geschilderte Dynamik neuer Triaden der Wirklichkeit, an der sich Zei-

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Umberto Eco beispielsweise lanciert (in Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, Kap. 3.6, S. 254-288) eine Kritik der Ikonizität, derzufolge auch bei ikonischen Zeichen kulturelle Korrelationen ausschlaggebend seien, allenfalls gestützt durch „grundlegende [n] Mechanismen der Wahrnehmung“ (S. 287). Damit problematisiert er die Annahme von Analogie, Ähnlichkeit oder Motiviertheit des Zeichens durch seinen Gegenstand. Ecos „Definition wirklicher Ähnlichkeit“ zufolge ist das Bild nicht mit seinem Gegenstand ähnlich, sondern mit einem „vorher kulturalisierten Inhalt“. Die verfehlte Auffassung von Ikonizität sei Symptom für einen unhaltbaren Zeichenbegriff: „Der Begriff ‚Zeichen‘ führt dann zu Schwierigkeiten, wenn er mit dem der elementaren Einheiten und festen Korrelation gleichgesetzt wird; denn es gibt ‚Zeichen‘, die aus der Korrelation einer sehr unpräzisen Ausdrucks-Textur mit einem großen und unanalysierbaren Inhalts-Bereich resultieren und es gibt Ausdrucksmittel, die je nach Kontext einen unterschiedlichen Inhalt übermitteln und damit demonstrieren, daß Zeichen das transitorische Resultat prozessualer und situationell bedingter Festsetzungen sind (…) Was wir bis jetzt identifizieren konnten, waren nicht Zeichentypen, sondern Erzeugungsmodi von ZeichenFunktionen.“ Vgl. dazu Catherine Z. Elgin „Index and icon revisited“, in Peirce‘s Doctrine of Signs. Theory, Applications, and Connections, eds: Vincent M. Colapietro, Thomas M. Olshewsky, Berlin/New York 1996.

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II. Sagen und Zeigen

chen abarbeiten, ohne davon losgelöst in einen Regreß zu geraten39. Ein Zeichen etabliert sich nur dann, wenn es sich angesichts dieser Störfälle des Realen zumindest für eine Weile bewährt und die Basis ist für Folgezeichen, die ebenfalls erfolgreich sind. So gedacht gelingt es Peirce, Sprache nicht zu einem geschlossenen Universum zu machen, das keine Ansprüche auf Wahrheit erlaubt. Die drei Instanzen, ohne deren Relationen kein Zeichen zustande kommt, binden Denken, Welt und die Aktivität auf komplexe und vielfältige Weise ineinander ein, so daß einerseits Referenz nicht preiszugeben ist, aber deshalb kein naives Abbildverhältnis vertreten werden muß. „(…) everything which is present to us is a phenomenal manifestation of ourselves. This does not prevent its being a phenomenon of something without us, just as a rainbow is at once a manifestation both of the sun and of the rain.40 39

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Nimmt man sich den „outward clash“ etwas genauer vor (CP 7.597-7.688), so stellt sich Wahrnehmung als Ort der initiierenden Konfrontation von intellektuellen Operationen und der Wirklichkeit dar. Peirce gerät in dieselbe Schwierigkeit wie empiristische Ansätze, wenn er versucht, das, was Wahrnehmung ausmacht, in sensorisch Gegebenes („percepts“) und Urteile darüber („perceptual judgements“) zu zerlegen. Auch bei ihm ist ein Aspektwechsel (CP 7.647, 5.183) Anlaß dafür, beide Komponenten wieder zu fusionieren zu „percipium“ (CP 7.643). Er gibt die künstliche Trennung auf und sieht ein, daß keine Erfahrung „purely confrontial“ (CP 7.653) ist. 5.283 Auch dies findet eine Parallele in Wittgenstein, wenn es darum geht, ihn in der Alternative Idealismus-Realismus zu lokalisieren. Genau das nämlich muß fehlschlagen, da weder Sinnesdaten, Fakten, konzeptuelle Schemata, Ideen oder sonstwas den Status eines Primats, das gegeben ist, hat. (Vgl. dazu z. B. David Bloor „Linguistic idealism revisited“, in The Cambridge Companion to Wittgenstein, pp. 354-382. Außerdem Cora Diamond: The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy and the Mind, MIT Press 1995) John K. Sheriff (in The Fate of Meaning Princeton 1989) sieht dieses Modell als Alternative zu den auf binären Oppositionen basierenden strukturalistischen und poststrukturalistischen Zeichentheorien. Er sieht den Vorteil, bestimmbare Bedeutung nicht preisgeben oder unendlich aufschieben zu müssen. Damit ließe sich ein Objekt des Zeichens, die Wirklichkeit als Gegenstand von Rede und Bildern, zurückgewinnen. Zeichen involvierten Sprache, Handlung und Welt, sie seien verkörperte Bedeutungen und erlaubten es, Wahrheitsansprüche zu verfolgen, die mehr sind als Fürwahrhalten. Verbindliche Bedeutung bemesse sich an ihrem Kontakt mit der Wirklichkeit und komme nicht dadurch zustande, daß willkürlich und gewaltsam wirklichkeitsindifferente Substitutionsprozesse von Zeichen gestoppt werden. In seiner Conclusion sieht Sheriff darin die Überlegenheit von Peirce gegenüber Derrida, der eine der laut Peirce möglichen Zeichenarten verabsolutiere: das „argument“, das ein symbol als symbol repräsentiert und damit die Strukturiertheit von Struktur thematisiert. Dieser Zeichentyp marginalisiere den Wirklichkeitsbezug so stark, daß semiotische Prozesse entkoppelt von jeglicher Bewährung an dem, was der Fall ist, wucherten.

II.1. Peirce

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Realität ist nicht semiotisch absorbierbar, sondern widerständiges Moment, das nur durch indexikalische Bezugnahme im irreduzibel komplexen hier und jetzt einer singulären Situation flüchtig bedeutet werden kann und sich in allen Konzeptualisierungen als Störfaktor aufdrängt und bemerkbar macht. Sie wird nie gesagt sein, provoziert aber Sagen dadurch, daß sie sich zeigt. Da beim Zeigen kein Sinn aufkommt, der es erlaubt, daß ein Zeichen für Abwesendes steht, kann Mißtrauen bzgl. adäquater Darstellung, also eine hermeneutische Differenz, nicht aufkommen. Wenn oben als Basis für ein indexikalisches Zeichen eine faktische Verbindung zweier Relata angegeben wurde, ist das nur die eine Seite: Wie bei der gerade skizzierten Problematik der Realitätsbeziehung funktioniert es auch umgekehrt: Ein Zeichen etabliert erst die Verbindung mit einem Objekt und stellt damit das durch das Zeichen gemeinte Objekt erst her41. Ein Index hat die Aufgabe, die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, nicht aber es zu vertreten. „Anything which focusses the attention is an index.“42 Auch das geht so weit, daß die Aufmerksamkeit das Objekt erst aktiviert oder herstellt: „(…) it directs attention to an Object by which its presence is caused.“43 Damit kommt die Triade erst dadurch zustande, daß der Rezipient mitmacht und sie vollzieht44. Entsprechend ist die hier erforderliche Stimmung („mood“) imperativisch im Gegensatz zu den indikativischen Symbols. „Some indices are more or less detailed directions for what the hearer is to do in order to place himself in direct experiential or other connection with the thing meant.“45 Die besondere Leistung eines Index, das erst durch aktuellen Vollzug und situativ gebunden zum Zeichen werden kann, ist es, auch auf Singularitäten, auf allgemeiner Denotation entschlüpfender Partikularitäten, Bezug nehmen zu können.46 Während symbols aufgrund ih-

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Vgl. die changierenden Formulierungen: CP 2.248 „being really affected by that Object“ „put him [the hearer ] in real connection with the object“ CP 8.178. Wichtig ist hierbei, daß Peirce ein zeicheninternes („immediate“) Objekt von einem externen („dynamical“) Objekt unterscheidet: Ersteres ist „für uns“ und die einzige Weise, Wirklichkeit zu ‚haben‘. „An sich“ bleibt das Objekt unfaßbar, aber die Semiose durch Widerstand leitend. (CP 4.536). CP 2.285. Vgl. 2.287 „To carry the attention to the right object“. CP 2.256. In CP 2.234 unterscheidet Peirce triadische Relationen als „comparison“, „performance“ und „thought“, womit er die Referenzarten qualifiziert. CP 2.288. CP 2.301f.

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II. Sagen und Zeigen

rer konventionellen Regelhaftigkeit allgemein sein müssen, sind Indices je neu und anders zu aktualisieren. Sie sind offen für Anderes, ohne es von vornherein zu qualifizieren und zu bestimmen. Indices may be distinguished from other signs, or representations, by three characteristic marks: first, that they have no significant resemblance to their objects; second, that they refer to individuals, single units, single collections of units, or single continua; third, that they direct the attention to their objects by blind compulsion. But it would be difficult if not impossible, to instance an absolutely pure index, or to find any sign absolutely devoid of the indexical quality. Psychologically, the action of indices depends upon association by contiguity, and not upon association by resemblance or upon intellectual operations.47

Wenn Peirce die Unmöglichkeit von „pure indices“ konstatiert, verweist er – ähnlich wie Wittgenstein in seiner Besprechung der hinweisenden Definition – auf die Relevanz etablierter Zeigepraktiken. Damit schwenkt er wieder auf die Seite der kulturellen Codierung. Obschon Zeigezeichen neue Konstellationen bewirken und in die Rede kommen lassen, stiften sie nicht Bedeutung „ex nihilo“. Besonders akut ist dies bei Indices, die in symbolischen Zeichensystemen vorkommen, also Wörtern, die Zeigefunktionen haben: deiktische Partikel und Pronomina. Als Bestandteile sprachlicher Codierung sind sie zwar semantisch leer und haben flüchtige Referenten, doch bedürfen sie prädikativer Anteile, um ihre Funktion zwischen Semantik und Pragmatik erfüllen zu können. Deshalb lassen sie sich qualifizieren als Wörter, deren Rolle festgelegt ist, die aber nie zu stabiler Bedeutung kommen.48 47 48

CP 2.306. Die Zeitschrift für Semiotik Band 1/1999 widmet sich dem Schwerpunkt „Die Indexikalität der Erkenntnis“. Die von Helmut Pape einleitend skizzierte Stoßrichtung der unter diesem Thema versammelten Aufsätze ist der Versuch, die Irreduzibilität des Indexikalischen für die Erkenntnis herauszuarbeiten, ohne deshalb deren Objektivität gefährdet zu sehen. Da alles Wissen eines bedeutungsrelevanten Bezugsrahmens (Personen und Kontexte) bedürfe, sei die indexikalische Komponente unabdingbar, allerdings ohne deshalb in Relativismus zu führen: Als gleichzeitig Handlungen und Darstellungen stiften indexikalische Äußerungen den Zusammenhang zwischen Sprache und Welt. Diese Welt sei eine gemeinsam erfahrbare, da die indexikalischen Aussagen mehrerer Sprecher ineinander überführbar seien. So gelinge intersubjektiver Austausch, der autonomen Sinn entstehen lasse und somit Objektivität, die nicht mit der Situation, in der sie sich ausgebildet hat, schwinde. Mit einer hier anknüpfenden Argumentation ließe sich den Aporien indirekter Mitteilung bei Kierkegaard allerhand entgegnen. Wenn der Bezugsrahmen einer indexikalischen Äußerung sich durch Zuschreibung der Gesprächspartner diesen zugänglich werden läßt, entsteht durch eine intersubjektive Aktion gemeinsamer Sinn. Die Einschränkung der Radikalität von Sinnfindung für den Einzelnen, wie sie Kierkegaard notgedrungen letztlich zuläßt (s. u. V.1.1 und V.5.), ergäbe sich dann schon an dieser Stelle, bei spezifischen Funktionsweisen zeigender Zeichen.

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II.1. Peirce

II.1.1. Deixis: Verbalsprachliche Indexicals49 demonstrare necesse est stare pro nomibus non est necesse50 „So this is love?“

In der Linguistik unterscheidet man starke und schwache Deixis51: Letztere geht mit jeder Äußerung einher, beispielsweise über das Tempus einer Verbform. Starke Deixis dagegen funktioniert vor allem indexikalisch, weil eine semantische Leerstelle aussteht und durch kontextabhängige Referenz52 gefüllt werden muß. Diese Leerstellen werden mit Demonstrativpronomina, Personalpronomina und deiktischen Partikeln besetzt, und diese markieren die Schnittstelle von Semantik und Pragmatik. Über die jeweilige Anwendung wird Denotation vollzogen und entsteht der gemeinte Sinn. Like a Simple Simson he says, „The chimney of that house is on fire.“ „What house?“ asks the other. „oh, a house with green blinds and a verandah,“ replies the simpleton. „Where is the house?“ asks the stranger. He desires some index which shall connect his apprehension with the house meant. Words alone cannot do this. The demonstrative pronouns, „this“ and „that“ are indices. For they call upon the hearer to use his powers of observation, and so establish a real connection between his mind and the object; and if the demonstrative pronoun does that – without which its meaning is not understood – it goes to establish such a connection; and so is an index.53

In diesem Beispiel soll deutlich werden, daß Deiktika semantisch unterdeterminiert sind und ohne Zeigegeste und Einbindung des Wahrnehmungsraums keinerlei Aufschluß bieten. Sie können nicht beschreibend oder behauptend eingesetzt werden, sondern referieren 48

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Kierkgaard würde sich dem mit dem Verweis auf die absolute Transzendenz Gottes verweigern. Zudem ist die so gewonnene Intersubjektivität nur auf Kosten eines Zugeständnisses an fremden Sinn zu gewinnen, so daß die Unhintergehbarkeit von Äußerungen der ersten Person nicht mehr besteht. Gemeint ist, was bei Bühler „Zeigwort“ (a. a. O. Teil II S. 79-148) und bei Jakobson „shifter“ heißt („Shifters and Verbal Categories“, in On Language, London/Cambridge (Mass.) 1990, eds: L. R. Waugh / M. Monville Buston, pp. 386-392). Bühler, a. a. O., S. 120. Vgl. Diewald (a. a. O., S. 45-62 Kapitel 3 „Zeigen“ und „Nennen“). Josef Stern sieht darin eine von mehreren Parallelen zwischen Demonstrativa und Metaphern. „Metaphor as Demonstrative“, in Journal of Philosophy, 12/1985 pp. 677-710. CP 2.287.

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II. Sagen und Zeigen

direkt im gegebenen konkreten Fall54, wie Eigennamen sind sie singuläre Termini55. Damit sind indexicals die sprachlichen Zeichen, die nicht nur Besonderes, das eines Allgemeinen fähig ist, bezeichnen, sondern auch Singuläres, das in seiner Spezifik und Komplexität allen Begriffen entwischt. Anders als jede noch so komplexe und detaillierte Beschreibung, die immer auch auf mehreres mit denselben Eigenschaften zutreffen könnte, vermag ein Zeigezeichen auf ein einziges, präsentes und konkretes Einzelding Bezug zu nehmen – wenngleich jenes dadurch nicht erfaßt wird. The index asserts nothing; it only says „There!“ It takes hold of our eyes as it were, and forcibly directs them to a particular object, and there it stops. Demonstrative and relative pronouns are nearly pure indices, because they denote things without describing them […]56

Auch hier weigert Peirce sich, ‚pure indices‘ zu denken, in einem der obigen Zitate hält er solche sogar für unmöglich: Viele der indexikalischen Wörter haben (anders als die stumme Geste) prädikative Anteile57 und können nicht beliebig eingesetzt werden. So ist ‚heute‘ übersetzbar in ‚an diesem Tage‘ und Inbegriff aller Tage, an denen es zur Zeitindikation gesprochen werden kann. Obschon damit nicht eine dauerhafte Verbindung von Wort und Denotat geleistet wird, gibt es ein Minimum an Festlegung, welches die Hinsicht des Zeigens eingrenzt58. Trotz ihrer Allgemeinheit und semantischen Unterdeterminierung sind Deiktika nicht für alles beliebig zu verwenden, da ihre Rolle59 Teil des Codes ist. Auch nicht-verbalsprachliche Zeigezeichen, so beispielsweise ein Wegweiser oder der ausgestreckte Zeigefinger, müssen in ihrer Funktion bekannt sein, um wirksam sein zu 54 55

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Vgl. Bühler a. a. O., S. 119 „Determination von Fall zu Fall“ Die wichtigsten Beiträge zur Debatte über Eigennamen hat Ursula Wolf zusammengetragen in Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse, Frankfurt 1993. Der Unterschied zwischen Deiktika und Eigennamen ist, daß letztere ihr Denotat nicht mit raumzeitlichen Veränderungen wechseln. Deshalb kann ein Name gut durch eine Beschreibung, die charakteristische Eigenschaften auflistet, ersetzt werden. Auch die Zuordnung von Name und Benanntem läßt sich (wenn nicht durch eine Zeigegeste mit Deixis) durch eine solche Beschreibung leisten. Der Unterschied zwischen Name und Beschreibung besteht darin, daß es einzigartige Individuen gibt, die nicht restlos in Prädikation auflösbar sind, sie sind benennbar, aber ineffabile. CP 3.361. Roman Jakobson spezifiziert deshalb Deiktika unter Rückgriff auf Peirces Terminologie als „indexical symbols“ (a. a. O., p. 388) Diewald (a. a. O.) teilt Deiktika davon ausgehend in lokale, temporale und personale ein (Entsprechend Bühlers Grundzeigwörter). Zur Rolle vgl. PU 30 und 53.

II.1. Peirce

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können. Wichtig ist, daß eine Rolle nicht zwingend mit einem bestimmten Zeichenkörper verknüpft ist, sondern von unterschiedlichen verbalen und nichtverbalen Zeichen erfolgreich gespielt werden kann. Ich kann mit einem Stift, einer Blume oder den Augen auf etwas im Wahrnehmungsraum zeigen und kann im dunklen Raum meine Position durch jedes Geräusch indizieren, nicht nur durch den Satz „Ich bin hier.“ Darin zeigt sich wieder die Dominanz der Pragmatik beim Zeigen, die nahelegt, nicht nur bei den linguistisch als deiktisch klassifizierten Wortarten, sondern bei einer spezifischen Funktions- und Wirkungsweise von Zeigen zu sprechen. Besonders im Rahmen von sprachphilosophischen Projekten, die um eine Idealsprache bemüht sind, läßt sich eine „Ausrottungsabsicht“60 indexikalischer Elemente bemerken. Um Sprache rein beschreibend zu konzipieren und aller situativen Relativität zu entheben, gab es unterschiedliche Versuche, alle verbalsprachlichen Indexicals durch eine Beschreibung zu ersetzen, so daß alle Sätze kontextenthoben reformuliert werden können und frei wiederholbar sind.61 Damit wird eine Sprache sub specie aeternitatis zu konstruieren versucht, die nicht nur Kontingenzen ignoriert, sondern auch alle pragmatischen Aspekte eliminiert: Der illokutive Charakter vieler Sätze ist an Deiktika gebunden und handlungsrelevante Konsequenzen von Äußerungen bleiben unberücksichtigt, da sie ihre Relevanz aus der Positionierung beziehen.62 Auch der tractarische Wittgenstein ist bemüht, die spezifische Qualität des Zeigens, nämlich die Sprache zu dy60

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So Bühler (a. a. O.) S. 104f. Zu nennen wäre Hans Reichenbach, der indexicals „token reflexive words“ nennt und argumentiert, daß sie sich auf den Satz, in dem sie stehen, beziehen. Damit sei der Referent im und mit dem Sprechakt gegeben, die sprachliche Äußerung verweise auf sich. Elements of Symbolic Logic, New York 1947. Bertrand Russell nennt indexicals „egocentric particulars“ (in An Inquiry into Meaning and Truth, New York 1940) und betont, daß es sich um sprecherrelative Wörter handele, die sich durch eine Beschreibung des Sprechers ersetzen ließen. Allerdings räumt er ein, daß eine elementare Zeigefunktion (‚this‘) bei allen Reformulierungen irreduzibel bleibe und der Ansatzpunkt jeder Referenz die „knowledge by acquaintance“ sei. (The Philosophy of Logical Atomism (1918), Mysticism and Logic (1963)) Bezeichnend dafür ist die Debatte unter den Mitgliedern des Wiener Kreises darüber, wie man zu Protokollsätzen kommt, welche die Basis aller wissenschaftlichen Erkenntnis formulieren. Moritz Schlick will von Erlebnisaussagen ausgehen, was Otto Neurath für psychologistisch hält. Neurath will alle Erlebnisqualitäten intersubjektiv ausdrücken, was die Folge hat, alle indexicals zu eliminieren. „Die Brücke, auf die du zusteuerst, hält nicht.“ Dies Äußerung ist eine Warnung und wird die Angeredete dazu veranlassen, einen anderen Weg zu nehmen. Vgl. CP 5.491 und 5.476, wo Peirce von einem „habit-change“ als Effekt spricht.

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namisieren, flexibilisieren und den Code zu erneuern, durch den Rekurs auf Beschreibbarkeit eliminieren zu wollen: Entweder ein Ding hat Eigenschaften, die kein anderes hat, dann kann man es ohne weiteres durch eine Beschreibung aus den anderen herausheben, und darauf hinweisen; oder aber es gibt mehrere Dinge, die ihre sämtlichen Eigenschaften gemeinsam haben, dann ist es überhaupt unmöglich auf eines von ihnen zu zeigen. Denn, ist das Ding durch nichts hervorgehoben, so kann ich es nicht hervorheben, denn sonst ist es eben hervorgehoben.63

Peirce antizipiert in einer Fußnote solche Vorhaben als unhaltbar und weist auf die irreduzible Leistung von lokalen und temporalen Verhältniswörtern hin: If a logician had to construct a language de novo – which he actually has almost to do – he would naturally say, I shall need prepositions to express the temporal relations of before, after, and at the same time with, I shall need prepositions to express the spatial relations of (…) above, below, before, behind, and I shall need prepositions to express motions into and out of these situations. For the rest, I can manage with metaphors. […] But when we examine actual languages, it would seem as though they had supplied the place of many of these distinctions by gestures. The Egyptians had no preposition nor demonstrative having any apparent reference to the Nile. Only the Esquimos are so wrapped up in their bearskins that they have demonstratives distinguishing landward, seaward, north, south, east, and west.64

Die beiden irreduziblen Bestandteile und Funktionsweisen jeder Sprache sind diesem Zitat zufolge die Positionierung in Raum und Zeit auf der einen und Metaphernbildung auf der anderen Seite. Peirce weist darauf hin, daß Verhältniswörter weniger durch symbols als durch Gesten65 ersetzbar sind. Die Eskimos in seinem Beispiel scheinen in ihrer Körpersprache behindert und als Ersatz Verbalsprache quasi-gestisch einzusetzen. Damit ist die Ausbildung eines semantischen Codes mit Hilfe von Metaphern gleichsam die Kompensation eines Defizits beim Zeigen, also Resultat einer verhinderten Bewegung im Wahrnehmungsraum. Sagen erschleicht sich 63 64 65

T 2.02331. CP 2.290 note 1. Vilém Flusser versucht in seinem Buch Gesten. Versuch einer Phänomenologie (Frankfurt 1995; 1.Auflage 1991) eine Definition der Geste: „Die Geste ist eine Bewegung des Körpers, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt.“ (S. 8) Flusser sieht Bedarf einer „Theorie der Interpretation von Gesten“ in der diese als „kodifizierte Sinngebung“ aufgefaßt werden. (S. 9) Beispielsweise sei eine Bewegung des Körpers aus Schmerz ein Symptom; eine Geste sei es, wenn durch sie der Schmerz ausgedrückt werde und kodifiziert zur Darstellung komme. Stimmungen ließen sich in Gebärden ausdrücken („Gestimmtheit“), d. h. in ästhetische Formen umsetzen, was Sinn und Bedeutung stifte und Informationen übermittele.

II.2. Exkurs: Hegel

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damit seine Legitimität, denn der Bezug zum Referenten ist nicht ausweisbar. Deutlich wird wieder, daß indexicals die Schwelle zwischen Verbalsprache und noch nicht Bedeutetem besetzen, sie verknüpfen Beschreibung (symbolische Ebene) mit faktischer Umgebung66. Die Eskimos sind ein Beispiel dafür, wie eine schlechtere Alternative zum Zeigen dieses ersetzt und zu Benennungen der Himmelsrichtungen führt. Wie ein freiwilliger Eskimo versucht Hegel genau diesen Prozess als Initialzündung zur Gegenstandskonstitution und Bewußtseinsformation auszunutzen. Ihm könnte entgegenkommen, daß Demonstrativpronomina im Deutschen zum Artikel werden können und eine Substantivierung von Adjektiven und Verben unterstützen. Damit wird die Welt gegenständlich und durch Bennenung sprachlich verfügbar, ohne der Okkasionalität des Daseins sowie der zeitlichen und räumlichen Lokalisierung Rechnung zu tragen. Hegels Bemühen zielt darauf, begrifflich Uneinholbares ins Sagbare zu retten, allerdings nicht ohne die Brisanz der Unterscheidung von Sagen und Zeigen zu erkennen und selbst operabel zu machen.

II.2. Exkurs: Hegel Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern67

Peirce macht Hegel den Vorwurf, durch seine Auffassung von „Aufheben“ die symbolische Ebene alles andere überlagern zu lassen68. Wie Kierkegaard (und die Jung- bzw. Linkshegelianer) vermißt Peirce damit die Verankerung des Denkens in der (existentiellen) Realität. Wie in Teil I. 1. vorgestellt, hält das Pseudonym Johannes Climacus die spekulative Philosophie für ‚phantastisch‘, weil die konkrete Wirklichkeit des Denkenden irrelevant ist und läßt den Hegelianer die Konsequenz ziehen: Selbstmord69. Dabei zeigt ein Blick auf das 66

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Geste und Deixis ergänzen sich: Je weniger semantisch determiniert ein Wort ist, desto nötiger werden zusätzliche Zeichen. Man könnte eine Geste paralinguistisch nennen und ein indexical paragestisch. Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 70 (PhG). Ich gebe die Seitenzahl der kritischen Edition von Bonsiepen und Heede (1980) an. CP 8.268. Siehe Teil I.1.1.

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II. Sagen und Zeigen

erste Kapitel der Phänomenologie des Geistes (entsprechendes gilt für die Wissenschaft der Logik), daß das Problembewußtsein Hegels hier einiges zu bieten hat. Bereits der Titel des Anfangskapitels ist aufschlußreich: „Die sinnliche Gewißheit; oder das Diese und das Meinen“. Hegel überdehnt (wieder einmal) den korrekten Sprachgebrauch, diesmal, indem er ein Demonstrativpronomen substantiviert. Damit kehrt er die Verwendungsweise von Pronomina, nämlich für (anstelle von) Nomen zu stehen um: aus einem bloßen Zeigen soll ein Gegenstand der Erkenntnis werden, das Pronomen geht seinem Bezugswort voraus und bekommt den Status eines Antecedens. Die Ausgangssituation ist die unmittelbare Eingebundenheit in die mannigfaltige Umgebung. Das Bewußtsein ist noch nicht seinen Inhalten entgegengestellt und es gibt kein Wissen, das sich auf bestimmbare Gegenstände bezieht. Damit handelt es sich um eine Vorstufe von Wissen und Bewußtsein, eine sinnlich-rezeptive Offenheit für alles, ohne Distanz, ohne Abstraktion. Sie [die sinnliche Gewißheit] hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich.70

Noch gibt es keine begrifflich unterscheidbaren Qualitäten und keine bipolare Subjekt-Objekt-Struktur, keine Selektion und Konzentration. […] das Bewußtsein seinerseits ist in dieser Gewißheit nur als reines Ich; oder Ich bin darin nur als reiner Dieser, und der Gegenstand ebenso nur als reines Dieses. Ich, Dieser, bin dieser Sache nicht darum gewiß, weil Ich als Bewußtsein hiebei mich entwickelte und mannigfaltig den Gedanken bewegte. Auch nicht darum, weil die Sache, deren ich gewiß bin, nach einer Menge unterschiedener Beschaffenheiten, eine reiche Beziehung an ihr selbst, oder ein vielfaches Verhalten zu andern wäre.71

Symptomatisch ist, daß Hegel nur ex negativo diesen Zustand qualifizieren kann, denn jede positive Bestimmung setzt Vermittlung und Reflexion voraus, damit der Reichtum eingeschränkt wird durch Abstraktion. Das nicht-qualifizierende „Diese“ soll wie ein Platzhalter sowohl für spätere Gegenstände als auch das Bewußtsein dienen, aber noch unbestimmt, ohne deren spezifische Qualität zu besitzen. Doch mit der Frage „Was ist das Diese?“72 beginnt der dialektische Umschlag – bzw. er stellt sich als bereits begonnen heraus, denn die sinnliche Gewißheit widerspricht sich: ‚Dies‘ denotiert nur ‚hier und jetzt‘, 70 71 72

PhG 63. PhG 63. Hervorhebungen im Original. PhG 64.

II.2. Exkurs: Hegel

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also aktuell und lokalisiert. Allerdings ist damit keine Bestimmung gewonnen, denn zu einem anderen Zeitpunkt oder an einem anderen Ort ändert sich alles. Die eindeutige, direkte und umfassende Bezugnahme ist also nur kurzzeitig, sie vergeht und ist deshalb nur scheinbar. Demonstrativa sind so allgemein, daß sie gleichgültig sind gegen ihre möglichen und heterogenen Referenten, sie bringen keine dauerhafte Bedeutung mit sich und lassen sich für das Bewußtsein und seinen Gegenstand gleichermaßen einsetzen. Die unmittelbare Bezugnahme auf das, was sich sinnlich darbietet, ist folglich nicht konkret, sondern nur abstrakt und leer möglich, seine Mannigfaltigkeit bleibt angedeutet und gezeigt, aber ungesagt. „[…] so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnliches Sein, das wir meinen, je sagen können.“73 Es gibt kein unvermitteltes Wissen vom Besonderen und die sinnlichrezeptive Offenheit kennt keinen Gegenstand. Wenn mit demselben ‚hier‘ zwei spezifische Orte bezeichnet werden können, ist ein Unterschied implizit, eine Veränderung hat sich vollzogen, ist aber dem Wort nicht anzumerken. Dazu Hegelsche Prosa: Diese reine Unmittelbarkeit geht also das Anderssein des Hier, als Baums, welches in ein Hier, das Nichtbaum ist, das Anderssein des Itzt, als Tages, das in ein Itzt, das Nacht ist, übergeht, oder ein anderes Ich, dem etwas anderes Gegenstand ist, nichts mehr an. Ihre Wahrheit erhält sich als sich selbst gleichbleibende Beziehung, die zwischen dem Ich und dem Gegenstande keinen Unterschied der Wesentlichkeit und Unwesentlichkeit macht, und in die daher auch überhaupt kein Unterschied eindringen kann.74 Das Hier, welches aufgezeigt werden sollte, verschwindet in andern Hier, aber diese verschwinden ebenso; das aufgezeigte, festgehaltene und bleibende ist ein negatives Dieses, das nur so ist, indem die Hier, wie sie sollen, genommen werden, aber darin sich aufheben; es ist eine einfache Komplexion vieler Hier. Das Hier, das gemeint wird, wäre der Punkt; es ist aber nicht, sondern, indem es als seiend aufgezeigt wird, zeigt sich das Aufzeigen nicht unmittelbares Wissen, sondern eine Bewegung, von dem gemeinten Hier aus durch viele Hier, in das allgemeine Hier, zu sein, welches wie der Tag eine einfache Vielheit der Itzt, so eine einfache Vielheit der Hier ist.75

Vor allem im zweiten Zitat wird deutlich, daß auch bei Hegel der Unterschied zwischen Sagen und Zeigen eine Rolle spielt: Das Hier ist nur aufgehoben, das heißt es ist nicht, es kann nicht gewußt werden und das Aufzeigen referiert eher auf Flüchtiges, auf eine Bewegung, als auf einen Gegenstand. Zeigen ist auf Dauer wirkungslos ohne beschreibende, allgemeine Begriffe. Damit wird deutlich, daß Zeigen es mit Veränderlichem (Schein) und Sagen es mit dem Sein zu tun hat. 73 74 75

PhG 65. PhG 67. PhG 68.

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II. Sagen und Zeigen

Es wird das Itzt gezeigt; dieses Itzt. Itzt; es hat schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird; das Itzt, das ist, ist ein anderes, als das gezeigte, und wir sehen, daß das Itzt eben dieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu sein. Das Itzt, wie es uns gezeigt wird, ist es ein gewesenes; und dies ist seine Wahrheit; es hat nicht die Wahrheit des Seins. Es ist also doch dies wahr, daß es gewesen ist. Aber was gewesen ist, ist in der Tat kein Wesen; es IST nicht, und um das Sein war es zu tun.76

Die Wahrheit des sinnlich aufgenommenen, unqualifizierbaren Moments ist seine Flüchtigkeit; sieht man seinen Status als gewesen und nicht seiend ein, so ist es negiert und aufgehoben. Insofern kann es Thema sein, nicht aber durch (positive) Aussagen, die Verallgemeinerung mit sich bringen. Jede Verneinung des Unmittelbaren ist eine Vermittlung, die es durch Bestimmung einbegreift.77 Wenn der Wissenschaft diese Forderung, als ihr Probierstein, auf dem sie schlechthin nicht aushalten könnte, vorgelegt wird, ein sogenanntes dieses Ding, oder einen diesen Menschen, zu deduzieren, konstruieren, a priori zu finden oder wie man dies ausdrücken will, so ist billig daß die Forderung sage, welches dieses Ding oder welchen diesen ich sie meine; aber dies zu sagen ist unmöglich.78 Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen, angehört, unerreichbar ist. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern; die seine Beschreibung angefangen, könnten sie nicht vollenden, sondern müßten sie andern überlassen, welche von einem Dinge zu sprechen, das nicht ist, zuletzt selbst eingestehen würden.79

Damit bringt er eine Kritik des prinzipiellen Anspruchs von Sagbarkeit, an der Kierkegaard seine Freude gehabt hätte – hätte dieser sie ernsthaft zur Kenntnis genommen. Allerdings ist das nicht das letzte Wort: Hegel will alles sagen, was wahr ist und deklariert – brachial und gegen das eigene Problembewußtsein – alles Unsagbare zum Unwahren, das allenfalls negiert im Begriff aufgehoben, seine Berechtigung als Gewesenens hat. Es ist nicht Manko der Begriffe, wenn sie Singularitäten nicht erschöpfend beschreiben können, sondern Symptom für Mangel an der Sache ist das, was an ihr nicht sagbar ist. Unsagbares verliert ontologisch wie epistemologisch Wahrheitsfähigkeit. […] daher, was das Unaussprechliche genannt wird, nichts anderes ist, als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte.80 76 77 78 79 80

PhG 67. Darin liegt auch die Krux der negativen Theologie. PhG 66. PhG 70. Ebd.

II.2. Exkurs: Hegel

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Nun hat dieses Kapitel nicht nur thematisch, sondern in der dialektischen Bewegtheit seiner Argumentation ebenso wie in Hegels Überdehnung der Grenzen des Sagbaren vorgeführt, wie ernst Hegel auch das nimmt, was als Gewesenes zu negieren und als Unwahres aufzuheben ist. Seiner Programmatik zufolge und in seinen Texten macht er sich immer wieder daran, den Schein in seiner Wahrheit zu erfassen und auf den Begriff zu bringen. Das ganze Buch involviert nicht-absolute Bewußtseinsgestalten in den Prozeß des Geistes als dessen notwendigerweise anzunehmende aber zu überwindende Manifestationen. Als dialektisch bewegter, widerspruchsvoller Prozeß ist dies der Weg zum Absoluten und deshalb zu ihm gehörig. Sich der Problematik bewußt, daß Sprache qua ihrer Funktionsfähigkeit verallgemeinert und fixiert, versucht er, sie bewegungsfähig zu machen: Seine Überlegungen zum „spekulativen Satz“ dienen dazu, die in philosophischen Texten unabdingbare Urteilsform zu dynamisieren81.

81

Es gibt hierzu gute Sekundärliteratur (z. B. Günter Wohlfahrt Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel, Berlin/New York 1981), deshalb nur kurz die Hauptlinie der Argumentation: Die Urteilsform im normalen Satzbau könne dem spekulativen Denken nie gerecht werden, weil sie ein stabiles Subjekt brauche, dem dann flexible Prädikate zugesprochen werden. Das ließe das Subjekt wesenhaft unbestimmt, denn die Prädikate seien austauschbare und irrelevante Akzidenzien. Durch den „spekulativen Satz“ versuche Hegel, die bei jeder Äußerung sich vollziehende Fixierung in Dynamik zu versetzen: Die Akzidenzien erwiesen sich als substanziell und umgekehrt. „Der feste Boden, den das Räsonnieren an dem ruhenden Subjekte hat, schwankt also, und nur diese Bewegung selbst wird der Gegenstand. […] Formell kann das Ganze so ausgedrückt werden, daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält. – Dieser Konflikt der Form eines Satzes überhaupt, und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Akzente statt findet.“ Vgl. Phänomenologie des Geistes, Vorrede S. 44ff., Hamburg (Meiner) 1988, (S. 42ff. der kritischen Edition). Auch der vieldiskutierte und problematische Anfang von Hegels Wissenschaft der Logik weist hohes Problembewußtsein gegenüber sprachlicher Mitteilung auf; Hegel meidet die Urteilsform, er beginnt mit einem Anakoluth. Wie in der PhG steht „reines Sein“ am Anfang, wieder besteht die Unmöglichkeit, ohne Bestimmungen sprachlich zu formulieren. Zudem ist dem Haupttext eine vielseitige Anmerkung vorangeschickt, die sich dem Anfangen widmet und – wie in der Phänomenologie – vor dem Problem der immer schon vermittelten Unmittelbarkeit steht. Auch hieran hätte sich Kierkegaard mit Zustimmung abarbeiten können.

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II. Sagen und Zeigen

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen Das Wesen der Religion kann offenbar nicht damit zu tun haben, daß geredet wird, oder vielmehr: wenn geredet wird, so ist das selbst ein Bestandteil der religiösen Handlung und keine Theorie. Es kommt also auch gar nicht darauf an, ob die Worte wahr oder falsch oder unsinnig sind. Die Reden der Religion sind auch kein Gleichnis; denn sonst müßte man es auch in Prosa sagen können. Anrennen gegen die Grenzen der Sprache? Sprache ist ja kein Käfig. Wittgenstein82 Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat Rilke83

Die Philosophischen Untersuchungen geben sich im Vorwort als Zeichnungen von einer Reise durch kartographisch unerschlossenes Gelände zu erkennen. Das Resultat ist ein Album voller Skizzen, die zwar dasselbe Gebiet betreffen, aber keine Gesamtschau bieten. Bereits in den Vorlesungen von 1933/34 bringt Wittgenstein ein topographisches Verständnis von Philosophie: Es ist etwas Wahres an Schopenhauers Ansicht, daß die Philosophie einen Organismus bildet und daß ein Buch über Philosophie, das Anfang und Ende hat, eine Art Selbstwiderspruch darstellt. Eine Schwierigkeit mit der Philosophie ist, daß wir keine Übersicht [engl.: „synoptic view“] haben. Die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, sind von der Art, wie wir sie mit der Geographie eines Landes hätten, für das wir keine Karte haben, oder nur eine Karte isolierter Teilstücke. Das Land, von dem hier die Rede ist, ist die Sprache und die Geographie ist ihre Grammatik.[…]84 82

83

84

Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann aus dem Nachlaß herausgegeben von B. F. McGuinness, Frankfurt 1989, Suhrkamp Werkausgabe Band 3, S. 117. Hervorhebungen von mir. Mit dieser Bemerkung vom 17.12.1930 bezieht Wittgenstein sich auf seine Formulierung im Vortrag über Ethik von 1929 oder 30: „Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über Ethik oder Religion zu schreiben oder zu reden. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos.“ S. 18f. 9. Duineser Elegie. Ob Wittgenstein die Elegien seines Stipendiaten Rilke gekannt hat, weiß ich nicht. Von den vielen Dankesbriefen der Künstler, an die sein Erbe verteilt worden war, war Rilkes der einzige, der ihn nicht angewidert hat. Vgl. Brian McGuinness Wittgensteins frühe Jahre, S. 325. Vorlesungen von 1933/34, notiert von Alice Ambrose (auch genannt Das Gelbe Buch) Frankfurt 1984, herausgegeben und übersetzt von Joachim Schulte, S. 199.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

107

Sogar darin findet sich eine Übereinstimmung mit Kierkegaards Anliegen: Das hoffe ich mit meinen Schriften zu erreichen: eine so genaue Zeichnung vom Christlichen und dessen Stellung in der Welt zu hinterlassen, daß ein edler, begeisterter Jüngling hier eine so genaue Karte über die Verhältnisse finden kann, wie etwas Topographisches von den berühmtesten Instituten. Ich selbst hatte nicht so einen Verfasser zur Hilfe. Den alten Kirchenlehrern mangelte es an der einen Seite, sie kannten die Welt nicht.85

Die Reisebilder der PU sind situativ entstanden und geprägt von der jeweiligen Lokalisierung in der durchreisten Gegend. Die Positionen sind mobil und führen zu unterschiedlichen Sichtweisen mehrerer Themen. Mangels einer Perspektive, erst recht sub specie aeternitatis, erheben sie sich nicht zu einem umfassenden Überblick; später im Text ist gar die Rede von einem Labyrinth86. All dies wird als Scheitern beklagt: „Ich hätte gern ein gutes Buch hervorgebracht. Es ist nicht so ausgefallen […]“87

85 86

87

Pap. IX A 448 (1848) PU 203 „Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.“ In seinem Wittgenstein-Dictionary weist Glock auf den Unterschied zwischen Geologie und Geographie hin, erstere geht in die Tiefe der Erde, letztere bleibt an der Oberfläche der Formationen und entspräche Wittgensteins Verfahren, p. 155. S. 231ff. der oben genannten Werkausgabe. Es gibt viele Versionen dieses Vorworts; in vielen wird die Schwierigkeit bekundet, eine Reihenfolge zu erstellen. Seine Überlegungen hielt Wittgenstein zum Lehren für geeignet, nicht aber als ‚Buch‘. Die fragmentarische, gestückelte Form der Abschnitte, die die Philosophischen Untersuchungen ausmachen, entspricht Wittgensteins Arbeitsweise: Er hat seine Notizen immer wieder zerschnitten und neu arrangiert. Die als Zettel publizierten Abschnitte sind tatsächlich welche, nämlich eine Zusammenstellung aus zerschnittenen Papieren. An dieser Technik sowie an Wittgensteins theoriefeindlichen Äußerungen entzündet sich ein Rechtfertigungsbedarf der Kommentatoren, die eine Gliederung vornehmen, argumentative Zusammenhänge herausstellen und grundlegende Thesen des ganzen Buches formulieren. Vgl. P. M. S. Hacker / G. P. Baker (Oxford 1980, paperback 1997 pp. 4-15) und Eike von Savigny in der Einleitung zu seinem Kommentar (Frankfurt 1988, S. 1-30). Manfred Frank sieht darin eine fragmentarische Form, die ein Analogon in der frühromantischen Verfehlung des Absoluten durch die Endlichkeit der Darstellungsmittel hat. Damit wäre auch Wittgenstein auf ein systematisches Ganzes aus. Frank stützt diese Sicht durch Rekurs auf Tagebucheinträge, in denen Wittgenstein Bemühungen zu einem Hauptwerk erkennen lasse. „Statt sie [Wittgensteins FragmentSammlungen] als Teile verschiedener Werke zu behandeln, täte man besser, sie als Entwürfe eines nie vollendeten Werks zu behandeln, das System werden wollte und

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II. Sagen und Zeigen

Ein Vergleich mit dem Vorwort des Tractatus läßt darauf aufmerksam werden, daß hier wie dort kein Status eines Lehrwerks beansprucht wird, sondern der Leser zu eigenem Denken angeregt werden soll, Wittgensteins Texte sind ein do-it-yourself kit. Dazu gehört der in beiden Vorworten gemachte Versuch des Autors, seinen Text zu enteignen. Allerdings lassen sich auch Unterschiede ausmachen, die nicht nur in einem arg geschrumpften Selbstvertrauen bestehen: Die im Tractatus eingesetzte Leitermetapher, die in die Vertikale führt und zu einer richtigen Sicht88 führt, wird von einem – um im Bild der Reise und Topographie zu bleiben – „Wegweiser-Status“89, also einer mittigen Lokalisierung, abgelöst. Ich könnte sagen: Wenn der Ort, zu dem ich gelangen will, nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf, dahin zu gelangen. Denn dort, wo ich wirklich hin muß, dort muß ich eigentlich schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht.90

II.3.1. … quia plus loquitur inquisitio quam inventio … (Augustinus)91 Möge Gott dem Philosophen Einsicht geben in das, was vor allen Augen liegt. Wittgenstein, VB S. 539 (1947) 87

88 89

90 91

unter wechselnden Titeln nur in verschiedenen Stadien und in immer neuen Abschattungen als das eine und selbe work in progress uns entgegenblickt.“ S. 107 „Über Stil und Bedeutung. Wittgenstein und die Frühromantik“, in Stil in der Philosophie, Stuttgart (reclam) 1992, S. 86-115. T 6.54. Hilary Putnam benutzt diese Metapher ebenfalls, nicht nur um Wittgenstein zu qualifizieren, sondern anhand von dessen Philosophieren das von ihm favorisierte Procedere vorzustellen. „Die einzige mir bekannte Möglichkeit, ein besseres philosophisches Vorgehen aufzuzeigen, besteht darin, daß man sich auf eine bestimmte Art von Lektüre einläßt, eine Lektüre der Schriften einiger Philosophen, die trotz ihrer Fehler und Mängel – und welcher Philosoph wäre frei von Fehlern und Mängeln? – den Weg weisen und Beispiele geben für die Möglichkeit der philosophischen Reflexion über unser Leben und unsere Sprache, ohne in leichtfertige Skepsis oder absurde Metaphysik, überspannte Parawissenschaft oder überspannte Parapolitik zu verfallen, sondern sich ernsthafte und grundehrliche Gedanken der schwierigsten Art zu machen.“ (Für eine Erneuerung der Philosophie (= Gifford Lectures 1990) Stuttgart 1997, Kapitel 7 „Wittgenstein über den religiösen Glauben“, S. 181) Allerdings verzichtet auch Putnam darauf, die Funktionsweise dieses Zeigens näher zu untersuchen, obschon sich daraus Kapital schlagen läßt. VB S. 460 (1930). Zettel 457 (… weil die Untersuchung mehr sagt als die Entdeckung …)

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

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Wittgenstein beginnt seinen Text nach dem Vorwort mit einem lateinischen Zitat aus den Confessiones des heiligen Augustinus: Dort wird beschrieben, wie der Verfasser als Kind Erwachsene dabei beobachtet, etwas zu benennen, indem auf eine Sache gezeigt wird und gleichzeitig der Name für diese Sache geäußert wird. Diese Szene wird als ursprüngliche bzw. initiierende Erklärung der Verknüpfung von Sprache und Welt verstanden, wodurch sich ein Sprachlernprozeß erklären läßt. In den folgenden, in der Wittgenstein-Literatur ausführlich kommentierten Abschnitten liefert Wittgenstein eine Diskussion der hinweisenden Definition als Ur-Stiftung von Bedeutung und Alternative zur Merkmaldefinition. So macht er darauf aufmerksam, daß nicht alle Wörter Namen für Gegenstände sind und daß Sprache andere Funktionen hat, die das Benennen nicht nur relativieren, sondern seinen Primat einbüßen lassen. Die Zentralstellung der gegenstandsbezeichnenden Ausdrücke (Namen und Substantive) ist nicht selbstverständlich und ist theoretisch folgenreich und einseitig.92 Vor allem läßt das die für jedes Verstehen konstitutiven lebenspraktischen Kontexte ignorieren und läßt die Welt zu einer Ansammlung von Gegenständen werden.93 In dieser Hinsicht kommt Deiktika besondere Relevanz zu, denn sie sind ohne Einbezug von Praxis nicht effektiv. Ein Symptom der verkürzt aufgefaßten und deshalb irreführenden Auffassung einer hinweisenden Definition ist es, Deiktika und Eigennamen für austauschbar oder zumindest funktionsäquivalent zu halten. Was benennt aber z. B. das Wort „dieses“ im Sprachspiel (8), oder das Wort „das“ in der hinweisenden Erklärung „Das heißt …“? – Wenn man keine Verwirrung anrichten will, so ist es am besten, man sagt garnicht, daß diese Wörter etwas benennen. – Und merkwürdigerweise wurde von dem Worte „dieses“ einmal gesagt, es sei der eigentliche Name. Alles, was wir sonst „Name“ nennen, sei dies also nur in einem ungenauen, angenäherten Sinn. Diese seltsame Auffassung rührt von einer Tendenz her, die Logik unserer Sprache zu sublimieren – wie man es nennen könnte. Die eigentliche Anwort dar92

93

Z. B. PU 23 zählt die Mannigfaltigkeit der möglichen Funktionen von Sprache auf, vgl. 27. Newton Garver weist darauf hin, daß nicht einmal der Tractatus eine vollständige Analyse in einfache Elemente, Namen und Gegenstände vorschlägt. Vielmehr mache sich bereits durch den Satz als einfachsten Zusammenhang der Namen ein Kontextprinzip geltend, das unumgänglich sei. „Die Unbestimmtheit der Lebensform“, in Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Hg. W. Lütterfels und A. Roser, Frankfurt 1999, S. 37-52. Vgl. Cora Diamonds Versuch zu klären, was im Tractatus der Unterschied zwischen Satz und Name ist. „Throwing the Ladder away“, Chapter 6 in The Realistic Spirit, a. a. O., pp. 179-204.

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II. Sagen und Zeigen

auf ist: „Name“ nennen wir sehr Verschiedenes; das Wort „Name“ charakterisiert viele verschiedene, miteinander auf viele verschiedene Weisen verwandte, Arten des Gebrauchs eines Worts; – aber unter diesen Arten des Gebrauchs ist nicht die des Wortes „dieses“. Es ist wohl wahr, daß wir so oft, z. B. in der hinweisenden Definition, auf das Benannte zeigen und dabei den Namen aussprechen. Und ebenso sprechen wir, z. B. in der hinweisenden Definition, das Wort „dieses“ aus, indem wir auf ein Ding zeigen. Und das Wort „dieses“ und ein Name stehen auch oft an der gleichen Stelle im Satzzusammenhang. Aber charakteristisch für den Namen ist es gerade, daß er durch das hinweisende „Das ist N“ (oder „Das heißt ‚N‘“) erklärt wird. Erklären wir aber auch: „Das heißt ‚dieses‘, oder „Dieses heißt ‚dieses‘“? Dies hängt mit der Auffassung des Benennens als eines, sozusagen, okkulten Vorgangs zusammen. Das Benennen erscheint als eine seltsame Verbindung eines Wortes mit einem Gegenstand. – Und so eine seltsame Verbindung hat wirklich statt, wenn nämlich der Philosoph, um herauszubringen, was die Beziehung zwischen Namen und Benanntem ist, auf einen Gegenstand vor sich starrt und dabei unzählige Male einen Namen wiederholt, oder auch das Wort „dieses“. Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert. Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgend ein merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe eines Gegenstands. Und wir können so auch das Wort „dieses“ gleichsam zu dem Gegenstand sagen, ihn damit ansprechen – ein seltsamer Gebrauch dieses Wortes, der wohl nur beim Philosophieren vorkommt.94

Implizit gegen Russell macht Wittgenstein sich dafür stark, die spezifische Leistung von Deiktika im Unterschied zu Eigennamen herauszustellen, obschon beide in vergleichbaren Satzkonstellationen vorkommen95: Namen lassen sich auch bei abwesendem Träger96 sinnvoll verwenden, Deiktika nicht. Namen sind durch Deiktika mit Zeigegeste erklärbar, aber nicht umgekehrt. Damit könnte man sagen, 94

95

96

PU 38. Im Braunen Buch (in Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch) Frankfurt 1989 (1. Auflage Oxford 1958-1969) S. 157ff.) weist Wittgenstein darauf hin, daß die Funktion des Wortes ‚jetzt‘ eine andere sei, als einem Zeitpunkt einen Eigennamen zu geben, denn es sei keine Zeitangabe. Vgl. Hacker p. 226 (1980) „An indexical expression does not differ from the corresponding name as a hammer from a mallet, but as a hammer from a nail.“ PU 44 „Wir sagten: der Satz „Nothung hat eine scharfe Schneide“ habe Sinn, auch wenn Nothung schon zerschlagen ist. Nun, das ist so, weil in diesem Sprachspiel ein Name auch in der Abwesenheit seines Trägers gebraucht wird. Aber wir können uns ein Sprachspiel mit Namen denken (d. h. mit Zeichen, die wir gewiß auch „Namen“ nennen werden), in welchem diese nur in der Anwesenheit des Trägers gebraucht werden; also immer ersetzt werden können durch das hinweisende Fürwort mit der hinweisenden Gebärde.“ PU 45 „Das hinweisende „dieses“ kann nie trägerlos werden. Man könnte sagen: „Solange es ein Dieses gibt, solange hat das Wort ‚dieses‘ auch Bedeutung, ob dieses nun einfach oder zusammengesetzt ist.“ – Aber das macht, das Wort eben nicht zu einem Namen. Im Gegenteil; denn ein Name wird nicht mit der hinweisenden Geste verwendet, sondern nur durch sie erklärt.“

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

111

daß Namen insofern sagend sind, als sie feste Bedeutung haben und ihr Denotat vertreten, während ein Demonstrativpronomen immer ‚nur‘ zeigt. Ich habe diesen Absatz in voller Länge zitiert, weil in ihm deutlich wird, wie eine Konfusion bzgl. Sagen und Zeigen mitverantwortlich dafür ist, daß mentalistische Theorien aufkommen und wie die „oberflächengrammatisch“97 identische Positionierbarkeit von Namen und Deiktika philosophische Geisteskrankheiten98 verursacht. Mit einer seiner prominentesten Formulierungen, nämlich der Rede von der feiernden Sprache als für philosophische Probleme verantwortlichem Faktor, illustriert Wittgenstein den Philosophen als einen, der jedes Vertrauen in die Funktionsfähigkeit sprachlicher und sozialer Vollzüge verloren hat, weil er die Verknüpfung von Sprache und Welt theoretisch sichern will und dabei auf einen mentalen Prozeß zurückgreift. Wenn deiktisch funktionierende Wörter wie Namen unter die Benennungsfunktion subsumiert werden, sollen auch sie Bedeutungen fixieren und die Relation zwischen Sprache und Welt stabilisieren. Der Vollzug des immer neuen und jeweils situationsspezifisch und sprecherrelativ anderen handlungsintegrierten Sprechens wird durch das Resultat eines mit Benennung versehenen und als Entität fixierten Dings überlagert. Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.) Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns gesprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre Verwendung steht nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren!99

Wenn Benennen zum einzigen Modell avanciert und eine essentialistische Definition von Sprache formulieren läßt, kann die Welt nur reifiziert aufgefaßt werden, was der erste Schritt einer Substanzmetaphysik ist. Dies ist charakteristisch für ein Philosophieren, das kontextindifferent und sprecherunabhängig die faktische Welt allgemein zu beschreiben versucht und sich nach dem Modell naturwissenschaftlicher Forschung versteht.

97 98

99

In PU 664 unterscheidet Wittgenstein Oberflächengrammatik und Tiefengrammatik. Ganz deutlich in Z 714: „Man könnte sich eine Geisteskrankheit denken, in welcher Einer Namen nur in Anwesenheit ihrer Träger gebrauchen und verstehen kann.“ Vgl. Z 715+61. PU 11.

112

II. Sagen und Zeigen

„Ich“ benennt keine Person, „hier“ keinen Ort, „dieses“ ist kein Name. Aber sie stehen mit Namen in Zusammenhang. Namen werden mittels ihrer erklärt. Es ist auch wahr, daß die Physik dadurch charakterisiert ist, daß sie diese Wörter nicht verwendet.100

Bereits mit Peirce und Bühler war besprochen worden, daß die Stärke zeigender Zeichen, nämlich Kontextsensitivität und die Dominanz der Pragmatik, was eine Bezugnahme auf Partikuläres ermöglicht, eine Kehrseite besitzt, nämlich daß dieser Flexibilität wegen nicht eindeutig ist, worauf gezeigt wird. Der Geste läßt sich nicht ablesen, in welcher Hinsicht das, worauf gezeigt wird, gemeint ist, ob seine Form, Farbe, Anzahl, etc. zur Debatte steht. Man kann nun einen Personennamen, ein Farbwort, einen Stoffnamen, ein Zahlwort, den Namen einer Himmelsrichtung, etc. hinweisend definieren. Die Definition der Zahl Zwei „Das heißt ‚zwei‘“ – wobei man auf zwei Nüsse zeigt – ist vollkommen exakt. – Aber wie kann man denn die Zwei so definieren? Der, dem man die Definition gibt, weiß ja dann nicht, was man mit „zwei“ benennen will; er wird annehmen, daß du diese Gruppe von Nüssen „zwei“ nennst! – Er kann dies annehmen; vielleicht nimmt er es aber nicht an. Er könnte ja auch, umgekehrt, wenn ich dieser Gruppe von Nüssen einen Namen beilegen will, ihn als Zahlnamen mißverstehen. Und ebensogut, wenn ich einen Personennamen hinweisend erkläre, diesen als Farbnamen, als Bezeichnung der Rasse, ja als Namen einer Himmelsrichtung auffassen. Das heißt, die hinweisende Definition kann in jedem Fall so und anders gedeutet werden.101

Die folgenden Abschnitte weisen darauf hin, daß nicht nur die Hinsicht, in der auf etwas gezeigt wird, unsicher ist, sondern auch die Geste in ihrer spezifischen Rolle und Funktion unverstanden bleiben kann. Eine hinweisende Definition kann nur wirksam sein, wenn sie als Akt des Benennens aufgefaßt wird und als Basis für dauerhafte Verknüpfung von Ding und Namen gilt. Dies aber hat eine etablierte Praxis mit geltenden Regeln als Voraussetzung und bleibt theoretisch mißverständlich obschon praktisch erfolgreich. Ein ‚bloßes‘, autonomes Zeigen stabilisiert keine Denotationsbeziehung und leistet keinen Schritt zu einer operablen Semantik, denn die Rolle einer solchen Geste muß verstanden werden. Man könnte also sagen: Die hinweisende Definition erklärt den Gebrauch – die Bedeutung – eines Wortes, wenn es schon klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll. Wenn ich also weiß, daß Einer mir ein Farbwort erklären will, so wird mir die hinweisende Eklärung „Das heißt ‚Sepia‘“ zum Verständnis des Wortes verhelfen. – Und dies kann man sagen, wenn man nicht vergißt, daß sich nun allerlei Fragen an das Wort „wissen“, oder „klar sein“ anknüpfen.

100 101

PU 410. PU 28, vgl. 33.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

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Man muß schon etwas wissen (oder können), um nach der Benennung fragen zu können. Aber was muß man wissen?102

Damit verschiebt sich das Verständnis der Bedeutung eines Wortes von einem individuellen mentalen, ‚magisch‘ anmutenden Akt der Assoziierung von Wörtern und Dingen oder der Emanation von Sinn aus dem Zeigen103 auf die pragmatische Ebene eines öffentlichen Handlungszusammenhangs, wie die sogenannte „Gebrauchstheorie der Bedeutung“104 klarmacht. Daß dies weniger eine Sprachtheorie ist, als das Abgewöhnen einer ihrer dominanten Ausgangsfragen durch den Hinweis auf die Vielfalt möglicher Funktionen der Sprache als und mit Handlungen, haben viele Interpreten betont. Daß das auch in den Philosophischen Untersuchungen nicht die grundsätzliche Pro102

103

104

PU 30. Vgl. Das Gelbe Buch (in Vorlesungen 1930-35, Teil 2: 1933/34, Frankfurt 1989, S. 199-241) „Eine hinweisende Definition ist eigentlich gar keine Definition. Die hinweisende Definition ist nur eine einzige Regel der Verwendung eines Worts, und eine Regel reicht nicht aus, um die Bedeutung anzugeben. […] Das heißt, wer die Bedeutung eines Wortes aufgrund einer solchen Definition erlernen soll, der muß schon wissen, für was für eine Art von Ding es steht. […] Die hinweisende Definition ist dann von Nutzen, wenn man nur eine einzige Leerstelle ausfüllen muß.“ S. 201f. Daß dies daran beteiligt war, Wittgensteins Auffassung der Grammatik als unabhängig von Korrelation mit einer als außersprachlich vorgestellten Wirklichkeit zu entwickeln, zeigt Philosophische Grammatik S. 313f.: „Die „Verbindung der Sprache mit der Wirklichkeit“, etwa durch die hinweisende Definitionen, macht die Grammatik nicht zwangsläufig (rechtfertigt die Grammatik nicht). Denn diese bleibt immer nur ein frei im Raume schwebender Kalkül, der nur erweitert, aber nicht gestürzt werden kann. Die „Verbindung mit der Wirklichkeit“ erweitert nur die Sprache, aber zwingt sie zu nichts.“ Sowohl die Auffassung der Grammatik als Kalkül als auch die Rolle der hinweisenden Definition sind in dieser Übergangszeit noch nicht konsequent durchdacht. PU 36 „Und wir tun hier, was wir in tausend ähnlichen Fällen tun: Weil wir nicht eine körperliche Handlung angeben können, die wir das Zeigen auf die Form (im Gegensatz z. B. zur Farbe) nennen, so sagen wir, es entspreche diesen Worten eine geistige Tätigkeit. Wo unsere Sprache uns einen Körper vermuten läßt, und kein Körper da ist, dort, möchten wir sagen, sei ein Geist.“ PU 43 ist ein Abschnitt, auf dem diese Bezeichnung basiert: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt.“ Ansätze dazu finden sich bereits im Tractatus: z. B. 3.262 „Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung. Was die Zeichen verschlucken, spricht ihre Anwendung aus.“ T 3.326 „Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muß man auf den sinnvollen Gebrauch achten.“

114

II. Sagen und Zeigen

blematik ruhen läßt, und zumindest einen der darin aktiven Protagonisten zu neuen Fragen inspiriert, ebenfalls. Um all diese Bedenken auf den Weg zu bringen, bedarf es jedoch keines Zitats aus einer kirchenväterlichen Autobiographie, die den Titel Bekenntnisse trägt und als eine der berühmtesten Bekehrungsschilderungen kanonischen Status in der Weltliteratur hat105. Erst recht nicht mit Bezugnahme auf eine Stelle mit Kindheitserinnerungen, ohne elaborierte sprachphilosophische Argumentation und im lateinischen Original.106 Auch dann nicht, wenn der Autor selbst zu Bekenntnissen vor Freunden geneigt hat107 und im Vorwort eines 105

106

107

Stanley Cavell macht sich darüber Gedanken („Notes and Afterthoughts on the Opening of Wittgenstein‘s Investigations“, pp. 125-186 in Philosophical Passages: Wittgenstein, Emerson, Austin, Derrida, Oxford/Cambridge (Mass.) 1995). Ihm gehe es nicht nur darum, die Irritationen zu besprechen, die dieser Anfang mit sich bringe, sondern auch darum, den eigenen Anfang und den der Philosophie überhaupt neu zu bedenken und das in zweifacher Hinsicht: Sein über Jahre wucherndes Wittgenstein-Buch The Claim of Reason diskutiere den Anfang der PU nur an und bedürfe eines solchen Essays. Außerdem ist Cavell durch autobiographische Arbeiten auf das Thema des Anfangs gestoßen und hat dies mit Wittgenstein überlegt. pp. 126f. Auch Anthony Kenny sieht Wittgensteins Vorgehen mit Augustin nicht sinnvoll damit legitimierbar, daß so eine sachliche Diskussion in Gang kommt. Vielmehr diagnostiziert er hier, wie auch bei Wittgensteins Umgang mit Frege, eine „misrepresentation“: „I draw attention to Wittgenstein‘s treatment of Augustine and Frege because I want to suggest that his carelessness as a critic affected not only his discussion of his admired predecessors but also his later polemic against his own early work. I wish to claim that his own later statements about the Tractatus sometimes misrepresent it and mask the considerable continuity between his later views and his earlier views.“ „The Ghost of the Tractatus“, in Understanding Wittgenstein, ed.: G. Vesey, London 1974, p. 4. Der Hinweis, Wittgenstein habe die PU nicht so publizieren wollen und hätte in einer Überarbeitung sicher einen anderen Anfang geboten, läßt sich mit textkritischen Untersuchungen entkräften: Dieser Anfang war lange unangetastet und scheint von Wittgenstein wohlplaziert zu sein. Dazu: Alois Pichler Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Zur Textgenese von §§ 1-4, Bergen 1997. Zudem taucht Augustins Sprachlernstelle sowohl am Anfang des Braunen Buchs auf als auch im Gelben Buch. Vgl. Das Blaue Buch, Frankfurt 1989, S. 117ff. und Vorlesungen 1930-35, a. a. O., S. 204. Ray Monk berichtet darüber in seiner Biographie (Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, London 1990, p. 368f.) „For both Rowland Hutt and Fania Pascal, listening to the confession was an uncomfortable experience. In Hutt‘s case the discomfort was simply embarrassement at having to sit in a Lyons Café while opposite him sat Wittgenstein reciting his sins in a loud and clear voice. Fania Pascal, on the other hand, was exasperated by the whole thing. Wittgenstein had phoned at an inconvenient moment to ask whether he could come and see her. When she asked if it was urgent she was told firmly that it was, and could not wait ‚If ever a thing could wait‘, she thought, facing him across the table, ‚it is a confession of this kind and made in this manner.‘“

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

115

anderen seiner Bücher kundtut, er hätte am liebsten „zur Ehre Gottes“108 geschrieben. Vor allem wird bei näherem Hinsehen deutlich, daß Augustin sowohl in der zitierten Stelle als auch in einer seiner im eigentlichen Sinne zeichentheoretischen Schrift De Magistro kein guter Kandidat ist für das, was Wittgenstein angreift: Dem Zitat ist zu entnehmen, daß der kleine Augustin nur deswegen lernen kann, weil er beobachtet, wie die Erwachsenen sich bewegen, welche Gesten und Mimik mit ihrem Sprachgebrauch einhergehen und wie Sprache mit Handlungen kontextuell verwoben ist. Er lernt nicht (nur), weil ihn jemand beiseite nimmt und die stereotype Formel „Dies ist …“ bar aller lebenspraktischen Relevanz auf isolierte Dinge anwendet, sondern weil er mitbekommt, wie „wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen“ die Wörter operieren. Das von Wittgenstein im Anschluß an Augustin diskutierte „primitive Sprachspiel“ (PU 2ff.) ließe sich viel stärker der Kritik der Einseitigkeit unterziehen – zumal ein mechanisches Reagieren hergenommen wird, um eine „vollständige primitive Sprache“ vorzustellen. Wittgenstein entnimmt der augustinischen Erinnerung über Spracherwerb eine Sprachauffassung, die übersteigert ist, und konfrontiert sie mit einer nicht weniger übersteigerten Gegenauffassung: der ‚Abrichtung‘, welche theoretisch nichts leistet und nicht einmal erfolgreich darin ist, reformulierte Fragen nach der Ausbildung und dem Wesen von Sprache abzuwehren. Ein auch nur oberflächlicher Blick in De Magistro läßt die wichtige Pointe erkennen, daß Wörter und andere Zeichen machtlos sind, wenn es darum gehen soll, Neues mitzuteilen, zu lehren. Bestenfalls können Zeichen auf etwas verweisen, das der andere schon kennt, also erinnern helfen oder auf etwas im Wahrnehmungsraum hinweisen. Dann aber sind sie auch bei Augustin nicht so mächtig, alle Mehrdeutigkeit eliminieren zu können und die Hinsicht mitzuteilen. Augustin geht es darum, alle menschlichen Lehrmittel für untauglich zu erklären, weil dem Lernenden nur Gott Einsicht gewährt.

108

Philosophische Bemerkungen, Werkausgabe Band 2, Frankfurt 1984. Auch hier beginnt das Buch mit Augustinus, nämlich im Motto. Im Vorwort (S. 7) heißt es: „Ich möchte sagen, ‚dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben‘, aber das wäre heute eine Schurkerei, d. h. es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen reinigen, als er selbst davon rein ist.“

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II. Sagen und Zeigen

Also belehre ich, obgleich ich Wahres sage, nicht einmal den, der Wahres anschaut; er wird nämlich nicht durch meine Wörter belehrt, sondern durch die Sachen als solche, die ihm offenkundig sind, weil Gott sie ihm innerlich eröffnet; deshalb könnte er, würde er nach ihnen gefragt darüber auch Antwort erteilen.109

Wie in Kierkegaards Philosophischen Brocken steht die Wahrheitsfähigkeit eines Menschen nicht in der Macht eines anderen Menschen (s. o. I. 1.). Damit droht auch De magistro, welcher – wie viele Abschnitte der PU – aus einem Dialog zwischen Lehrer und Schüler besteht, in einem performativen Widerspruch zu kollabieren – wie die Texte des Climacus und der Tractatus. Aber analog zum Status des Lehrers als ‚Anlaß‘ bei Kierkegaard hat der augustinische Magister zwar nicht die Fähigkeit, den Lernerfolg sicherzustellen oder zu bewirken, wohl aber vermag er auf das Entscheidende zu verweisen. Der gute Lehrer vermittelt kein Wissen, sondern orientiert die Aufmerksamkeit des Schülers, indem er Fragen stellt, die das bereits vorhandene Wissen klar werden lassen und auf Gottes Hilfe bei der Einsicht zu hoffen veranlassen. Ich habe nämlich, indem ich die Sache als solche gelernt habe, nicht fremden Wörtern Glauben geschenkt, sondern meinen eigenen Augen; den Wörtern habe ich jedoch vielleicht Glauben geschenkt, um aufzumerken, d. h. um mit dem Blick zu suchen, was ich sehen sollte.110

Immer wieder fällt das Wort „admonitio“, Aufforderung, als Charakterisierung der Tätigkeit des Lehrers: Ich habe in der Tat durch die Aufforderung deiner Wörter gelernt, daß der Mensch durch Wörter lediglich aufgefordert werden kann zu lernen und daß es ganz unwahrscheinlich ist, daß durch das Sprechen ein bedeutender Gedanke des Sprechenden zum Vorschein kommt.111

Damit kann die Spannung gemindert werden, Zeichen sind ‚bloß‘ Mittel, die zwar nicht Wahrheit übertragen, aber hinweisen, zeigen, aufmerksam machen auf das, was wir sehen können, bereits kennen, gelernt haben, sowie auf Gott als unseren Schöpfer. Sprache kann ih-

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Augustinus De magistro. Über den Lehrer, Stuttgart 1998, Buch 12.40, S. 107. Ebd., Buch 10.35, S. 99. Vgl. Jason P. Drucker „Teaching as Pointing in ‚The Teacher‘“ in Augustinian Studies 28-2 (1997), pp. 101-132. „If using language is like pointing, as I have tried to argue, it delivers one into the space of meaning but does not unproblematically reveal it. […] the sign only announces meaning and does not deliver it.“ p. 121 „ speech is an ‚invitation‘ for a person to enter into himself so that he may acquire knowledge of the truth he already knows.“ p. 118. Buch 14, 46, S. 119; vgl. 11,36, S. 101.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

117

ren Gegenständen nicht adäquat sein, sie erfassen und bestimmen. In De Magistro stellt Augustin diese indexikalische Qualität auch seiner eigenen Texte nicht explizit heraus, wohl aber in De Doctrina Christiana: Bei diesem Buch handelt es sich um ein Regelwerk, das den Umgang mit der Heiligen Schrift anleiten soll. Eingangs antizipiert Augustin mögliche Kritiken seines Buches und versucht sie zu entkräften. Am meisten beunruhigt ist er über Einwände von Seiten der Charismatiker, die meinen, Gott sorge für das rechte Schriftverständnis, nicht aber von Menschen ausgedachte Regeln. Dagegen kontert Augustin, indem er den Status seiner Texte als zeigend herausstellt: Er vergleicht sie mit einem ausgestreckten Zeigefinger, der auf die Gestirne deutet, „intento digito demonstrarem“112. Ein solcher Finger bedarf in zweierlei Hinsicht der Ergänzung: erstens dessen, dem die Sterne gezeigt werden, er muß hinsehen. Zweitens muß Gott für gute Sehkraft sorgen. Ganz im Sinne Wittgensteins weist Augustin darauf hin, daß auch Charismatiker ihre Muttersprache von anderen Menschen und durch Gewohnheit gelernt haben, auch wenn ihnen die Wahrheit durch unmittelbare göttliche Eingebung zuteil wurde. Polemisch unterstellt er ihnen, nur gegen menschliche Lehrer zu sein, wenn es jemand anderes ist, als sie selbst. Dies aber hält Augustin für gefährlich: selbsternannte Autoritäten können leichter in die Irre führen als er, der er nur ein Instrumentarium für eigene Wahrheitsfindung bereitstellen wolle: nicht Vorleser sei er, sondern Leselehrer. Kurzum, Augustin arbeitet sich wie Kierkegaard am Problem der Mitteilung und der autorisierten Rede von Gott ab. Ihnen beiden kommt entgegen, die Leistung der Sprache als zeigend zu verstehen, denn dann besteht Offenheit für göttliches Wirken wie für die eigene Leistung des Schülers. Wenn also auch bei Augustin Sprache nicht vermittelt, sondern höchstens verweist, wenn sie dabei unsicher als Medium ist und nur funktioniert, wenn andere Faktoren das Gelingen sicherstellen, wenn dabei die Handlungen und Konventionen der Sprachgemeinschaft eine wichtige Rolle spielen, möchte man meinen, Wittgenstein mache einen Verbündeten in der Sache zum Gegner. Sein Buch beginnt mit einem faux pas, einem verfehlten Anfang, einem Mißgriff, weil eine argumentativ schwache Stelle zum Ausgangspunkt kritischer Überlegungen gemacht wird und vollkommen unberücksichtigt bleibt, daß der Zitierte Niveauvolles an anderer Stelle zu bieten hat. Diese un112

Corpus Christianorum Series Latina XXXII, 1970, Prooemium 3, S. 2.

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II. Sagen und Zeigen

professionelle und an so exponierter Stelle unverzeihliche Art läßt sich allenfalls dadurch retten, daß nicht auf der argumentativen Ebene das Entscheidende zu finden ist. So ist es einleuchtend, das Genre Bekenntnisliteratur durch die Philosophischen Untersuchungen vertreten zu sehen: Es geht darum, Versuchungen zu widerstehen, die wie die oben andiskutierten auf sprachlichen Analogien beruhen, denen theoretisch-philosophisches Potential beigemessen wird. Die Verführbarkeit durch mißverstandene Grammatik wäre damit die Basis aller philosophisch-anmaßenden Allgemeinheitsansprüche.113 Dagegen muß mit und gegen Augustin die Vielfalt möglicher Weisen des Sprachgebrauchs vorgeführt werden, um die Frage obsolet zu machen, wie ein separates Reich von Zeichen mit der Welt in Verbindung kommen kann.114 Wittgenstein meidet mit dem uneingeleiteten Zitat einen eigenen Anfang und macht fremde Worte zu den ersten. Sicher gewinnt er mit dem verfehlten Anfang eine zu kritisierende Position, gegen die er 113

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Auch dies hat Stanley Cavell angeregt: „Inacessible to the dogmatics of philosophical criticism, Wittgenstein chose confession and recast his dialogue. It contains what serious confessions must: the full acknowledgement of temptation […] and a willingness to correct them and give them up. In confessing you do not explain or justify, but describe how it is with you. […] like Freud‘s therapy, it wishes to prevent understanding which is unaccompanied by inner change.“ p. 70f. in: „The Availability of Wittgenstein‘s later Philosophy“ (pp. 44-72 in Must we mean what we say 1976) In The Claim of Reason weist Cavell darauf hin, daß ein Bekenntnis nicht immun gegen Kritik sei, sondern sogar stärker dazu herausfordere als ein Beweis (p. 20). Weiter noch geht Shields (a. a. O.), wenn er betont, daß die von Wittgenstein aufgespürten philosophischen Fehler nicht auf Illusionen beruhten, denen man anheimfällt, sondern willentliche Mißachtungen gegebener Grenzen und Umstände sinnvollen Sprechens seien. Er überhöht diese Strukturen zu gottgegebenen, weswegen philosophische Aufladung Resultat der Verführbarkeit, also Sünden seien. Mit einer – wie ich finde – eher dem späten Heidegger angemessenen Diagnose schließt Shields „grammar“ und „will of God“ kurz (p. 47, 66 u. ö.). Richard Eldridge widmet das fünfte Kapitel seines Leading a human Life. Wittgenstein, Intentionality and Romanticism Chicago and London 1997, diesem Thema: „Augustine‘s Misbegotten Conversion: Proposal and Rebuke – §§ 1-38“. In der Sprachlernszene sieht Eldridge eine Antizipation der Bekehrung, denn hier wie dort sei eine vergleichbare Macht („active power of thinking“ pp. 125ff.) vonnöten. Allerdings hält er Augustinus, wie er sich als Bekehrten beschreibt, für unglaubwürdig, weil zu verkopft und unmenschlich. Eben diese Diagnose treffe auch für die Sprachlernszene zu und provoziere Wittgensteins Interesse und Antwort: Nicht die Beherrschbarkeit der Verbindung von Sprache und Welt durch den Denkenden, sondern die Akzeptanz von Vorgegebenem (kulturellen Praktiken), sowie Risiken und Ängsten ließen Bekehrung vollziehen und sich Gottes Gnade öffnen. (mehr zur Bekehrung s. u. Teil IV.2.3.).

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

119

sein Sprachverständnis konturieren kann;115 darüber hinaus führt er vielfach vor, was seine Argumente deutlich werden lassen sollen: Er lokalisiert sich mittig, in einer längst bestehenden zeichentheoretischen Diskussion und greift seinerseits auf bestehende Codes und Praktiken zurück. Selbst die Auswahl der zitierten Textstelle läßt mit einem Pronomen beginnen, das einen Rückbezug auf ein Antecedens erfordert, das zum Verständnis in Klammern ergänzt werden muß.116 Oder – wie Cavell sagt – Wittgenstein läßt sich anreden und antwortet, obschon die zitierte Stelle keine ansprechende, bemerkenswerte ist, sondern eher ein Pausieren, Stoppen, Irritiertsein117, Verweigern von Argumentation und theoretische Ohnmacht. Wittgensteins ‚eigene‘ erste Worte sind Übersetzungen dieses Zitats. Damit führt er vor, wie Augustin Spracherwerb vorstellt: Es ist das Modell eines Reisenden, der in ein fremdes Land kommt und die ihm unbekannte Sprache durch Analogieschlüsse aus Verhaltensweisen und der eigenen Muttersprache plausibilisiert.118 In der Philosophischen Grammatik gibt es dementsprechend die Charakterisierung der hinweisenden Definition als Regel einer Übersetzung, nämlich von Gebärdensprache in Wortsprache. Dadurch wird ihr der Nimbus genommen, einen Anfang setzen zu können.119

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Die oben bereits erwähnten Kommentare von von Savigny und Baker/Hacker sehen die Funktion dieses Eingangszitats darin, ein primitives, vortheoretisches Sprachverständnis zu bieten, um einen Ansatzpunkt zu haben. „cum ipsi (majores homines) appellabant rem aliquam […]“ a. a. O., S. 237. Cavell setzt dies in Zusammenhang mit PU 123 „Ein philosophisches Problem hat die Form: „Ich kenne mich nicht aus.““ Ein Erklärungsnotstand und Ratlosigkeit bzgl. der Frage, wo die Begriffe herkommen, habe zur Folge, daß Wittgenstein zu beschreiben versucht, wo die Wörter herkommen. p. 156 „[…] Wittgenstein, for all his repudiation of philosophical „theory“ , intermittently if not continually provides rigorous descriptions of his own practice, which you might call his (or the text‘s) theory of itself (presumably not of itself alone).“ PU 32 ist ein expliziter Kommentar zu Augustin: „Wer in ein fremdes Land kommt, wird manchmal die Sprache der Einheimischen durch hinweisende Erklärung lernen, die sie ihm geben; und er wird die Deutung dieser Erklärungen oft raten müssen und manchmal richtig, manchmal falsch raten. Und nun können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. (…)“ Vgl. Z 191: „Das Wissen wird eben nicht durch Worte übersetzt, wenn es sich äußert. Die Worte sind keine Übersetzung eines Andern, welches vor ihnen da war.“ PG S. 88, IV, 45.

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II. Sagen und Zeigen

Die fremde Sprache – nicht zuletzt mit der Dignität einer jahrhundertelang prominenten Gelehrtensprache – konfrontiert auch den Leser mit einer der Schwierigkeiten der zu diskutierenden Problematik: Auch der des Lateinischen Mächtige muß als erste Leistung eine Übersetzung machen, also mit mehreren Sprachsystemen umgehen. Er erfährt am eigenen Lesen die Angewiesenheit auf existierende und etablierte Strukturen, um Neues anzueignen. Was Wittgensteins Unbehagen an Augustin viel stärker wecken müßte als die zitierte Stelle, sind die Sätze unmittelbar davor: Der kleine Augustin hat das Problem, sich nicht äußern zu können, d. h. seine ureigenen, d. h. gottgegebenen, privaten und im Innern verborgenen Wünsche, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle anderen mitteilen zu können. Er ist kognitiv autark und intellektuell bereits entwickelt, aber isoliert wie ein cartesisches Ich, oder, wie Fergus Kerr vielleicht überspitzt meint, er exemplifiziert den verlorenen Sohn als conditio humana.120 Was ihn zur Sprache drängt, ist die Not, die sprachfrei bereits bestehenden mentalen Archetypen anderen zugänglich zu machen. Klar wird mit Wittgenstein, daß man den Anfang nicht absolut gewinnt und nicht durch schrittweises Rückverfolgen erschließen kann, weil Sprache immer schon da ist und prägt. Das ist aber kein Hinderungsgrund für Neues, im Gegenteil: Anders als durch eine unmögliche, ein für alle Mal ex nihilo benennende Aktion gelingt es durch Zeigen, mit bestehendem Wissen und Sagbarem Neues und noch nicht Gewußtes ins Spiel zu bringen. Die Einsicht in unumgehbare Voraussetzungen verhindert damit nicht deren Transformation, sondern eröffnet gerade den Spielraum dafür. Versteht man Wörter als zeigende Zeichen, so kann man ihre Leistung im Sinne eines Peirceschen Index als refokussieren, immer wieder rezentrieren und neu arrangieren verstehen. Sogar Wittgensteins Satz: „Das Neue (Spontane, ‚Spezifische‘) ist immer ein Sprachspiel.“121 verliert so seinen Schrecken. 120

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Fergus Kerr Theology after Wittgenstein, Oxford/New York 1986, p. 40. In diesem Buch will Kerr deutlich machen, wie sehr auch die Theologie unseres Jahrhunderts noch vom cartesischen Bewußtseinsmodell geprägt werde. Sie hänge dem metaphysichen Mythos eines körperlosen und in sich geschlossenen Selbst nach, worauf viele ihrer Probleme beruhten. Mit Wittgenstein ließe sich dem Abhilfe schaffen. Cavell (in Notes and Afterthoughts … a. a. O.) betont die Einsamkeit des Kindes als Beobachter einer fremden Praxis und vergleicht seine Hilflosigkeit mit Irresein und Verwirrung. PU II xi S. 570.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

121

Am Anfang der Philosophischen Untersuchungen steht keine gezielte Kritik an der Augustinschen Position. Wie oben klar wurde, bietet die zitierte Stelle keine theoretisch anspruchsvolle Sprachphilosophie und Wittgensteins ‚Antwort‘ kontextualisiert und flexibilisiert das Zitierte, ohne es als belanglos, obsolet oder irrig abzulehnen. Damit macht er nicht nur ein modifiziertes Verständnis des Zeigens stark, sondern auch im textuellen Procedere virulent. Ganz im Sinne der Climacus-Kierkegaardschen ‚Doppelreflexion‘122 führt Wittgenstein das mit der Kindheitsszene einhergehende Problempotential vor und läßt es den Leser vollziehen. Die anfangsuntaugliche Zeigegeste wird in ihren spezifischen Qualitäten miterlebt bzw. ‚miterlesen‘. Gleichzeitig wird die zugrundeliegende Überzeugung eines zeitlichen oder sachlichen Primats des eigenen Denkens und Fühlens zugunsten zwischenmenschlicher Interaktion entthront: Direkt nach der augustinischen, nahezu autistischen Beobachtungs- und Lernszenerie schickt Wittgenstein jemanden zum Einkaufen. [Ohne es übertreiben zu wollen: Wenn der erste Schritt ein faux pas ist, der einen der wichtigsten Vertreter in der Debatte um die Erbsünde unpassenderweise hereinzitiert und zur Autorität in Angelegenheiten macht, um die es eigentlich nicht geht, wird der Rückgriff auf vergangene Fälle unter der Hand zum eigenen, neuen Fall. Genau das wird in meinem dritten Teil über Kierkegaards Begriff Angst ausführlicher zur Sprache kommen.]

II.3.2. Wegweiser: Heimatkunde für Begriffe Die Begriffe haben nämlich ebenso wie die Individuen ihre Geschichte und vermögen es ebenso wenig wie diese der Gewalt der Zeit zu widerstehen, aber bei alledem und mit alledem behalten sie gleichwohl eine Art Heimweh nach ihrer Geburtsstätte. Kierkegaard, BI S. 7 / SV XIII, 106 / SKS 1, 71. Wenn Sie abends nach Hause gehen, interpretieren Sie dann den Weg? Sergiu Celibidache

Der suggestive Terminus ‚Sprachspiel‘ läßt vermuten, sinnvolles Sprechen lasse sich durch Regelkonformität feststellen. Dies würde voraussetzen, daß regelgemäße Wortverwendung kontrollierbar und unter

122

AUN I, 64-72 / SV VII 55-62, s. o. Teil I.1.1.

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II. Sagen und Zeigen

Angabe von Kriterien legitimierbar wäre.123 Hinter dieser Auffassung steht der Glaube an durchgängige Bestimmbarkeit von Bedeutung und eindeutig regulierbare Klärbarkeit richtiger Regelanwendungen. Wittgenstein bringt ein klassisches Gedankenexperiment, das absurd genug ist, Gedankenexperimente in ihrer methodischen Leistung zu ironisieren124 und deutlich zu machen, daß vollkommene Reglementierung für funktionierende Sprache weder möglich noch nötig ist. Ich sage: „Dort steht ein Sessel“. Wie, wenn ich hingehe und ihn holen will, und er entschwindet plötzlich meinem Blick? – „Also war es kein Sessel, sondern irgend eine Täuschung.“ – Aber in ein paar Sekunden sehen wir ihn wieder und können ihn angreifen, etc. – „Also war der Sessel doch da und sein Verschwinden war irgend eine Täuschung.“ – Aber nimm an, nach einer Zeit verschwindet er wieder, – oder scheint zu verschwinden. Was sollen wir nun sagen? Hast du für solche Fälle Regeln bereit, – die sagen, ob man so etwas noch „Sessel“ nennen darf? Aber gehen sie uns beim Gebrauch des Wortes „Sessel“ ab; und sollen wir sagen, daß wir mit diesem Wort eigentlich keine Bedeutung verbinden, da wir nicht für alle Möglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausgerüstet sind?125

Die Spielanalogie leistet einen Vergleich mit geregelter Praxis, wobei Spielräume durch Lücken im Reglement sowie die Unmöglichkeit, die Anwendung einer Regel ihrerseits zu reglementieren, dem tatsächlichen Funktionieren keinen Abbruch tun, im Gegenteil. […] daß wir nämlich in der Philosophie den Gebrauch der Wörter oft mit Spielen, Kalkülen nach festen Regeln, vergleichen, aber nicht sagen können, wer die Sprache gebraucht, müsse ein solches Spiel spielen.- Sagt man nun aber, daß unser sprachlicher Ausdruck sich solchen Kalkülen nur nähert, so steht man damit unmittelbar am Rande eines Mißverständnisses. Denn so kann es scheinen, als redeten wir in der Logik von einer idealen Sprache. Als wäre unsre Logik eine Logik, gleichsam, für den luftleeren Raum. […]126 Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt. Aber wie schaut denn ein Spiel aus, das überall von Regeln begrenzt ist? dessen Regeln

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T 3.261 „Jedes definierte Zeichen bezeichnet über jene Zeichen, durch welche es definiert wurde; und die Definitionen weisen den Weg. Zwei Zeichen, ein Urzeichen, und ein durch Urzeichen definiertes, können nicht auf dieselbe Art und Weise bezeichnen. Namen kann man nicht durch Definitionen auseinanderlegen. (Kein Zeichen, welches allein, selbständig eine Bedeutung hat.)“ Shields (a. a. O., p. 91) meint, Wittgenstein zufolge dürfen Logik und Religion keine Hypothesen aufstellen, sondern den Befund beschreiben und die darin virulenten Begriffe klären. Hypothesen nämlich könnten unterschiedliche Interpretationen erfahren und sich empirisch bestätigen. Allerdings seien sie nützlich für die Therapie philosophischer Verwirrung, denn sie führten das „anything goes“ theoretischen Wildwuchses vor und ad absurdum. PU 80. PU 81.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

123

keinen Zweifel eindringen lassen; ihm alle Löcher verstopfen. – Können wir uns nicht eine Regel denken, die die Anwendung der Regel regelt? Und einen Zweifel, den jene Regel behebt – und so fort? […]127

Sollen Regel und Anwendung in einem geregelten Verhältnis stehen, so gerät man in einen Regreß. Der Mangel an theoretischer Absicherung und die uneliminierbaren Unwägbarkeiten bei jeder Regelanwendung aber lassen überhaupt erst zu, daß ein konkreter Einzelfall mit einer Regel in Zusammenhang gebracht werden kann. Nicht eine korrekte und überprüfbare Interpretation der Regel, die sich gegen alle möglichen Mißverständnisse absichern läßt, sondern Beispiele im praktischen Handlungskontext geben Aufschluß über die Regel und lassen andere Fälle128 zuordnen. Um eine Praxis festzulegen, genügen nicht Regeln, sondern man braucht auch Beispiele. Unsre Regeln lassen Hintertüren offen, und die Praxis muß für sich selbst sprechen.129

Wenn die Praxis für sich selbst spricht, werden keine Propositionen formuliert, sondern Fälle aufgezeigt. Wenn das, was Beispiele als Regelanwendung gelten läßt, sich nicht allgemein festmachen und sichern läßt, ist dies kein Defizit. Beispiele stellen die Regel nicht dar, sondern sind Manifestationen ohne die sie nicht wäre. „Aber reicht denn nicht das Verständnis weiter als alle Beispiele?“ – Ein sehr merkwürdiger Ausdruck, und ganz natürlich! Aber ist das alles? Gibt es nicht eine noch tiefere Erklärung; oder muß nicht doch das Verständnis der Erklärung tiefer sein? […]130

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PU 84. Cavell: „When Wittgenstein, or at this stage any philosopher appealing to ordinary language, „says what we say“, what he produces is not a generalization (though he may, later, generalize), but a (supposed) instance of what we say. We may think of it as a sample. The introduction of the sample by the words „We say …“ is an invitation for you to see whether you have such a sample, or can accept mine as a second one. One sample does not refute or disconfirm another […]“ The Claim of Reason, p. 19. ÜG 139. Vgl. Z 439ff., 444, 555. PU 209. Vgl. Matthias Kroß „Philosophieren in Beispielen. Wittgensteins Umdenken des Allgemeinen“ in Mit Sprache spielen, Hgg.: H. J. Schneider und M. Kroß, Paderborn 1999, S. 169-187. Er unterscheidet den Status von Beispielen bei Wittgenstein, Adorno und Derrida: „Wittgensteins Untersuchung zur Exemplarität des Exemplarischen richtet sich darauf, an der Beispielverwendung die Normativität der im Beispielgebrauch vollzogenen Gleichsetzung dessen, wovon das Beispiel konkret handelt, und dem, worauf es deutet, zu zeigen, gleichsam die Gestik der Beispielsverwendung deutlich zu machen. Daran anknüpfend gibt es für Wittgenstein – und, wie ich meine, auch für uns – ein Weiterdenken nach dem Fall von der Höhe des Allgemeinen, ohne die Gefahr eines Rückfalls in die Metaphysik.“ S. 174.

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II. Sagen und Zeigen

[…] „Aber wie hilft mir dann eine Erklärung zum Verständnis, wenn sie doch nicht die letzte ist? Die Erklärung ist dann ja nie beendet; ich verstehe also noch immer nicht, und nie, was er meint!“ – Als hinge eine Erklärung, gleichsam, in der Luft, wenn nicht eine andere sie stütze. Während eine Erklärung zwar auf einer andern, die man gegeben hat, ruhen kann, aber keine einer anderen bedarf – es sei denn, daß wir sie benötigen, um ein Mißverständnis zu vermeiden. Man könnte sagen: Eine Erklärung dient dazu, ein Mißverständnis zu beseitigen, oder zu verhüten – also eines, das ohne die Erklärung eintreten würde; aber nicht: jedes, welches ich mir vorstellen kann. […] Der Wegweiser ist in Ordnung, – wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt.131

Wittgenstein vergleicht eine Regel mit einem Wegweiser, dessen spezifisches Funktionieren nicht auf einer allgemeingültigen und lückenlosen Ableitung von Sicherheiten beruht, sondern aus seiner Situierung hervorgeht. Eine Regel steht da wie ein Wegweiser. – Läßt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe? Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein? Aber wo steht, in welchem Sinne ich ihm zu folgen habe; ob in der Richtung der Hand, oder (z. B.) in der entgegengesetzten? – Und wenn statt eines Wegweisers eine geschlossene Kette von Wegweisern stünde, oder Kreidestriche auf dem Boden liefen, – gibt es für sie nur eine Deutung? – Also kann ich sagen, der Wegweiser läßt doch keinen Zweifel offen. Oder vielmehr: er läßt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.132

Wenn er hier viele Fragen hintereinanderschaltet, führt er vor, daß zu einem Zeigezeichen gehört, uneindeutig133 zu sein und nie zweifelsresistent werden zu können. Wie bei der hinweisenden Definition ist korrekte Anwendung nicht garantierbar, aber durch bestehende Praxis und die jeweiligen Umstände hinreichend erschließbar. Trotzdem kann derjenige, der „querfeldein geht“ den kürzesten Weg finden und am schnellsten ankommen. Damit hat ein solches Zeichen ‚selbst‘ keine Bedeutung isoliert von konkreten Vorkommnissen in Fällen, weswegen eine Deutung nicht weiterhilft. „Es liegt alles schon in …“ Wie kommt es, daß der Pfeil zeigt? Scheint er nicht schon etwas außerhalb seiner selbst zu tragen? – „Nein, es ist nicht der tote Strich; nur das Psychische, die Bedeutung kann dies.“ – Das ist wahr und falsch. Der Pfeil zeigt nur in der Anwendung, die das Lebewesen von ihm macht. Dieses Zeigen ist nicht ein Hokuspokus, welches nur die Seele vollziehen kann.134 131 132 133

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PU 87. PU 85. Vgl. PU 185 „[…] als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur damit, daß er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung zur Fingerspitze.“ PU 454.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

125

„Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgendeine Deutung mit der Regel zu vereinbaren.“ – Nein, so sollte es nicht heißen. Sondern so: Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht. „Also ist, was immer ich tue, mit der Regel vereinbar?“ – Laß mich so fragen: Was hat der Ausdruck der Regel – sagen wir, der Wegweiser – mit meinen Handlungen zu tun? Was für eine Verbindung besteht da? – Nun, etwa diese: ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf dieses Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun. Aber damit hast du nur einen kausalen Zusammenhang angegeben, nur erklärt, wie es dazu kam, daß wir uns jetzt nach dem Wegweiser richten; nicht, worin dieses Dem-Zeichen-Folgen eigentlich besteht. Nein; ich habe auch noch angedeutet, daß sich Einer nur insofern nach einem Wegweiser richtet, als es einen ständigen Gebrauch, eine Gepflogenheit gibt.135

Die Rede von „Abrichtung“ und „blindem Regelfolgen“136 scheint menschliches Handeln auf Reiz-Reaktions-Schemata zurückzuführen137. Reflexion und Deutungsprozesse, die eine Entscheidung zur Folge haben, scheinen freien Willen und zurechenbare Sprachverwendung auszuzeichnen, aber sie werden in Wittgensteins vehementer Insistenz darauf, daß keine hermeneutischen Anstrengungen zwischen Zeichen und passender Verwendung liegen, ausgeschaltet. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sie nie berechtigterweise stattfinden oder überhaupt vorkommen. Wittgenstein geht es darum, solchen Deutungen den Status eines Sonderfalls zu geben, der dann eintritt, wenn es Probleme und Irritationen gibt. Wie Gadamer sieht er in einer Interpretation ein Symptom für Mißtrauen138, welches sich philosophisch als Skeptizismus niederschlägt. Um zweifelsresistent korrekte Regelanwendung zu erreichen, muß jedes Wort isoliert eine festumrissene Bedeutung haben, mit definitorischer Sicherbarkeit 135 136 137

138

PU 198. PU 219. Shields (a. a. O., p. 28+45) greift hierfür Robert Ackermanns Terminus (in Wittgenstein‘s City, Cambridge Mass. 1988) der „one-step-hermeneutics“ auf: Ein Wort hat den Horizont seiner Bedeutung im Gebrauch und bedarf keiner interpretierenden und regreßanfälligen Schritte, um operabel zu sein. [Weil damit Wortbedeutung direkt klar ist, müßte man es vielleicht eher „no-step-hermeneutics“, oder noch eher „no-hermeneutics“ nennen.] Wahrheit und Methode, Tübingen 1965. S. 319 „Interpretieren muß man überall, wo man dem, was eine Erscheinung unmittelbar darstellt, nicht trauen will.“ Auch Gadamers Rückgriff auf Aristoteles und die Gegenüberstellung des „bedürftigen Allgemeinen“, wie es das durch konkrete Fälle erst zu erfüllende Gesetz kennzeichnet, dem „perfekten Allgemeinen“ der techne, deren eidos von vornherein voll bestimmt ist, wäre hier eine interessante Parallele („Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles“ S. 295-307.).

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II. Sagen und Zeigen

und kontextindifferent, dafür jedoch „in der Luft hängend“, wie es in einigen der obigen Zitate heißt. Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – „Wissen“, „Sein“, „Gegenstand“, „Ich“, „Satz“, „Name“ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.139

Alle intellektuellen Operationen, also Deutungen, Reflexionen und Theoretisierungsversuche erfolgen bei stillgelegter Praxis und „leerlaufender“140 Sprache. Flexibel zeigende Wörter, die im konkreten Handlungszusammenhang eindeutig und operabel sind, werden dann zu Begriffen mit Allgemeingültigkeit. Nicht das findet statt, daß sich dieses Symbol nicht mehr deuten läßt sondern: ich deute nicht. Ich deute nicht, weil ich mich in dem gegenwärtigen Bild heimisch fühle. Wenn ich deute, so schreite ich auf dem Gedankenweg von Stufe zu Stufe.141 Ich will eigentlich sagen, daß die gedanklichen Skrupel im Instinkt anfangen (ihre Wurzeln haben). Oder auch so: das Sprachspiel hat seinen Ursprung nicht in der Überlegung. Die Überlegung ist Teil des Sprachspiels. Und der Begriff ist daher im Sprachspiel zu Hause.142

Durch die hier wie oben bereits eingesetzte Metapher der Heimat von Wörtern läßt Wittgenstein philosophietypische Aktivitäten wie Entfremdungsprozesse erscheinen, wie einen zu behebenden Mißstand. Es wird deutlich, daß nicht in der permanenten Zwischenschaltung von Reflexionen Freiheit liegt, sondern darin, dies nur im Bedarfsfalle zu tun. Wer mit Sprache zurechtkommt, ist – anders als der Philosoph – nicht auf ein Muster reduziert, weil er immer deuten könnte. Daß er es faktisch nicht (bzw. nur wenn nötig) macht, läßt auf Beheimatung, sich Auskennen, schließen. Dies aber ist nur gewährleistet kraft einer Flexibilität, die nicht gegeben ist, wenn Begriffe exakt sind. Wenn Wittgenstein immer wieder sein Anliegen als „begriffliche Klärung“ beschreibt, ist es ihm nicht darum zu tun, Termini zu gewinnen, die wesenhaft definierbar sind. Vielmehr geht es umgekehrt genau um die notwendige Verschwommenheit, das Changieren eines Wortes, das die Anwendung erst gelingen läßt und jedes

139 140

141 142

PU 116. PU 132 „[…] Die Verwirrungen, die uns beschäftigen, entstehen gleichsam, wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet.“ Vgl. 507. Z 234. Z 391.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

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Beispiel zum Vorbild macht, welches zu neuen und anderen Beispielen anregt. Wittgenstein bringt Farbmuster als Beispiel: Die Frage nach dem „reinen Grün“ führt auf die falsche Fährte und appliziert ein Ideal, das es unmöglich macht, Grüntöne zu akzeptieren. Die Farbprädikate funktionieren nur dann, wenn man Abweichungen für wesenhaft hält.143 Die zunächst einleuchtende Wertung privilegiert die Furcht vor Behaviourismus und Fehldeutungen als besonders bewußt und reflektiert, ist aber nach Wittgenstein primitiver als Alltagsverhalten, das reibungloses Funktionieren akzeptieren kann, auch ohne Theorie. […] Wir sind, wenn wir philosphieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.144

Um an dieser Stelle nicht kapitulieren zu müssen, vorsichtige Anfragen bzgl. der Rettung von Philosophie von Cavell: In Wittgenstein‘s view the gap between mind and world is closed, or the distortion between them straightened, in the appreciation and acceptance of particular human forms of life, human „convention“. This implies that the sense of gap originates in an attempt, or wish, to escape (to remain a „stranger“ to, „alienated“ from) those shared forms of life, to give up the responsibility of their maintenance. (Is this always a fault? Is there no way of becoming responsible for that? What does a moral or intellectual hero do?)“145

Abschließend will ich nochmal darauf hinweisen, daß begriffskonstitutive Entfremdung von Wörtern damit zusammenhängt, daß versucht wird, alles zeigende Potential in sagendes umzuwandeln. Drastisch wird das, wenn Wittgenstein ein zeigendes Zeichen nahezu personifiziert und als hilflos porträtiert, wenn es keine Praxis gibt, in die es integriert ist: Erkläre einem, die Zeigerstellung, die du aufgezeichnet hast, solle ausdrücken: die Zeiger dieser Uhr stünden jetzt so. – Die Unbeholfenheit, mit der das Zeichen, wie ein Stummer, durch allerlei suggestive Gebärden sich verständlich zu machen sucht – sie verschwindet, wenn wir erkennen, daß es aufs System ankommt, dem das Zeichen angehört. […]146

143 144 145 146

PU 71ff. PU 194. Der kleine Augustin wäre der Prototyp dieser Entfremdung, s. o. Notes and Afterthoughts … (a. a. O.) p. 109. Z 228. Etwas irreführend mag sein, daß von einem System die Rede ist. Daß es sich nicht um ein Gedankenkonstrukt handelt, wird weiter unten, im Kapitel über „Weltbild“ und „Bekehrung“ in Über Gewißheit näher erläutert.

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II. Sagen und Zeigen

Ein aus dem Fall entrücktes zeigendes Zeichen ist keines mehr. Jede Bedeutung, die ihm isoliert zukommt, ist künstlich und nicht praktikabel. […] Wer den Wegweiser findet, sucht nun nicht nach einer weiteren Instruktion, sondern er geht. […]147

In vielen der zitierten Abschnitte klang Wittgensteins Diagnose nicht neutral, sondern mißbilligend. Zumindest die gängige Wertung des naiven Alltagssprechens im Gegensatz zur klaren und wohlüberlegten Philosophensprache wird umgekehrt. In einigen Bemerkungen aus Über Gewißheit verstärkt er die abwertende Akzentuierung und redet von einer Anmaßung. Es ist seltsam: Wenn ich, ohne besonderen Anlaß, sage „Ich weiß“, z. B. „Ich weiß, daß ich jetzt auf einem Sessel sitze“, so erscheint mir die Aussage ungerechtfertigt und anmaßend. Mache ich aber die gleiche Aussage, wo ein Bedürfnis nach ihr vorhanden ist, so scheint sie mir, obgleich ich ihrer Wahrheit nicht um ein Haar sicherer bin, als vollkommen gerechtfertigt und alltäglich.148 In ihrem Sprachspiel ist sie nicht anmaßend. Sie steht dort nicht höher als eben das menschliche Sprachspiel. Denn da hat sie ihre eingeschränkte Anwendung. Wie ich aber den Satz außerhalb des Zusammenhangs sage, so erscheint er in einem falschen Lichte. Denn dann ist es, als wollte ich versichern, daß es Dinge gibt, die ich weiß. Worüber Gott selbst mir nichts erzählen könnte.149

Daß eine Äußerung im Sprachspiel eingeschränkt anwendbar ist, heißt nicht, daß sie in irgendeiner anderen Weise uneingeschränkt sinnvoll und wahr wäre. Der Verweis auf „Gott selbst“ bringt den Extremfall eines maximalen Wissens mit maximaler Sicherheit. Danach zu streben wäre ein falsches Ideal, nicht weil menschliches Denken und Sprechen endlich und immer ungenügend wären, sondern weil der ideale Zustand kein abgehobener, allgemeinverbindlicher und theoretisch fundierbarer ist.150 In seinen wenigen und nur andeutenden Erwähnungen läßt Wittgenstein die religiöse Brisanz dieser Problematik erahnen: Als Lehre aufgefaßt und ohne dementsprechende Lebensform sind religiöse Sätze hilflos wie ein umgefallener Wegweiser. Noch so ausgeklügelte Theoreme, beispielsweise über das Wesen Gottes, sind belanglos,

147 148 149 150

Z 277. ÜG 553. ÜG 554. Schon im Tractatus weigert sich Wittgenstein, die Alltagssprache als defizient aufzufassen, um eine vollkommen klare und eindeutige künstliche Idealsprache zu erfinden. Vgl. 5.5563.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

129

wenn daraus keine existenzformierenden Verhaltensweisen hervorgehen151. Statt dessen wird eine unpassende Grammatik, nämlich eine Was-ist-Frage, angewandt und nach dem objektiven Gehalt der christlichen Lehre gefragt. Gottes Existenz als Faktum, das sich als wahr oder falsch herausstellen kann, zu diskutieren, verkennt, daß die Annahme der Existenz Gottes lebensformprägende Relevanz besitzt und sich nicht in einem indifferenten Wissen wie über die Existenz von Gegenständen erschöpft. Wie du das Wort „Gott“ verwendest, zeigt nicht, wen du meinst, sondern was du meinst.152 Wie ein Wort verstanden wird, das sagen die Worte allein nicht. (Theologie).153

Drury berichtet: Noch später war es, als Wittgenstein mir einmal erzählte, einer seiner Schüler habe ihm geschrieben, er sei zum Katholizismus übergetreten, und er – Wittgenstein – sei zum Teil für diese Konversion verantwortlich, weil er es gewesen sei, der dem Betreffenden zur Lektüre Kierkegaards geraten habe. Wittgenstein sagte mir, er habe in seinem Ant-

151

152 153

Das könnte nicht Kierkegaardscher sein. Kierkegaard hat keinerlei sachliche Einwände gegen die Lehre des Christentums, er wäre nie auf die Idee gekommen, einen theologischen Aufsatz zu schreiben. Doch sieht er sie in seiner Gegenwart entfremdet und entstellt, weil sie nicht gelebt wird, sondern zu metaphysischem Denksport geworden ist. Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I, 475, Frankfurt 1994, 6.Auflage. Z 144. Vgl. PU 373: Nochmal eingeklammerte Theologie, in Verbindung mit einer so zentralen Angelegenheit wie Wittgensteins Auffassung von „Grammatik“ als Sprachspiel in Verbindung mit zugehörigen Handlungsweisen: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)“ Paul Holmer (The Grammar of Faith) versuchte bereits Mitte der 50er Jahre, Wittgenstein und Kierkegaard in diesem Sinne zusammenzudiskutieren. Vgl. Richard Bell (ed.) Grammar of the Heart, San Francisco 1988. Holmer zufolge läßt sich ‚Grammatik‘ im Wittgensteinschen Sinne gut auf religiöse, moralische und emotionale Dimensionen ausweiten. Obschon damit öffentliche Praktiken einen wichtigen Status bekommen, läßt sich ein Kierkegaardsches Anliegen damit verfolgen, nämlich wird die Intellektualisierung von Religiosität verhindert, wenn gelebte Praxis hinreichend gewürdigt wird. Theologie sei dann das, was sagbar und als Gehalt angebbar ist, wodurch aber nicht der spezifische Modus angeeigneter Wahrheit durch Wissenschaft ersetzt wird. Das wäre wie Sprache, wenn sie leerläuft bei Wittgenstein. Vgl. auch D. Z. Phillips in Chapter 4 von Wittgenstein and Religion (a. a. O.), wo es darum geht, einerseits religiöse Fragen nicht analog zum erkenntnistheoretischen Realismus zu behandeln, andererseits aber auch nicht die Klärung des Gehalts der religiösen Lehre zu suspendieren und keine Handhabe gegen Fanatismen mehr zu haben.

130

II. Sagen und Zeigen

wortbrief geschrieben: „Erzählt mir jemand, er habe sich die Ausrüstung eines Seiltänzers gekauft, bleibe ich so lange unbeeindruckt, bis ich sehe, was er damit anstellt.“154

II.3.3. ‚so‘ – ein umstandsloses Umstandswort In meinen Überlegungen zum Anfang der Philosophischen Untersuchungen hatte ich versucht, klarzumachen, daß und wie Wittgenstein seine Diskussion mitvollziehen läßt. Ähnliches läßt sich für die notwendige Einbettung zeigender Zeichen in eine Praxis sagen: Wittgenstein formuliert Sätze, die so, wie sie da stehen, unverständlich und unbrauchbar sind: Er verwendet – oft durch Kursivdruck hervorgehoben – das Umstandswort ‚so‘ (oder ‚das‘) um auf Handlungs- oder Verhaltensweisen hinzuweisen, die zur ‚Grammatik‘ einer Äußerung gehören, aber nie expliziert werden. Während sich die Art der Handlung durch das Verb bestimmen läßt, bleibt uneinholbar, wie diese Tätigkeit in der jeweiligen Situation vollzogen wird. Die für einen erklärbaren Vergleich übliche Klammerfunktion „so … wie“ ist bei Wittgensteins ‚so‘ nicht gegeben, denn die Fortsetzung fehlt. Es ist wie ein Deuten ohne ‚auf‘, ohne daß etwas präsent wäre, worauf hingedeutet wird. Was ergänzend aufschlußreich ist, erschließt sich normalerweise aus der Situation. „Wie kann ich einer Regel folgen?“ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, daß ich so nach ihr handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: „So handle ich eben.“ […]155

Da die Umstände unerwähnt bleiben, weil dem ‚so‘ jede Ergänzung fehlt, zeigt sich erst, wie konstitutiv sie für das Verständnis sind. Als Mangel sind sie umso dringlicher in ihrer Funktion als erforderlich präsent. So rechnet man, unter solchen Umständen behandelt man eine Rechnung als unbedingt zuverlässig, als gewiß richtig.156 So rechnet man. Und Rechnen ist dies. Das, was wir z. B. in der Schule lernen. Vergiß diese transzendente Sicherheit, die mit deinem Begriff des Geistes zusammenhängt.157

154

155 156 157

Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, Hg. Rush Rhees, Frankfurt 1992 (Oxford 1981), S. 131. PU 217 Auch: PU 190, 217, u. ö. ÜG 39 ÜG 47

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

131

Das auch in den Philosophischen Untersuchungen verwendete Beispiel Rechnen ist deshalb besonders eindrucksvoll, weil der Nachweis, daß jemand eine Regel korrekt anwendet, nur über dessen erwartungsgemäßes Fortfahren erbracht werden kann. Das durch ‚so‘ indizierte und zu aktualisierende Zeigen ist adverbial, d. h. es betrifft keine Sache, sondern eine Tätigkeit. Handlungen lassen sich schlecht mit einem Begriff und einer hinweisenden Geste erklären, dafür aber mit einer Vorführung, einer Verkörperung, mit einem Beispiel. Was ist ‚eine Regel lernen‘? Das. Was ist ‚einen Fehler in ihrer Anwendung machen‘? – Das. Und auf was hier gewiesen wird, ist etwas Unbestimmtes.158 Das schaut so aus; das schmeckt so; das fühlt sich so an. „Das“ und „so“ müssen verschieden erklärt werden.159 „Du kannst dabei einmal an das denken, einmal an das, einmal es als das ansehen, einmal als das, und dann wirst du‘s einmal so sehen, einmal so.“ – Wie denn? Es gibt ja keine weitere Bestimmung.160

Das letzte Zitat ist besonders drastisch, denn es bringt diese deiktischen Wörter geballt, ohne damit geringsten Aufschluß zu erlangen. Nicht nur Prozesse, die als mental aufgefaßt werden, wie Rechnen als Beispiel für Regelfolgen, sondern auch Empfindungen, Absichten, Erlebnisse und unbeschreibliche Eindrücke werden dadurch umso offensichtlicher im akuten Vollzug lokalisiert (und aus dem unzugänglichen ‚Inneren‘ gerettet). Das Erlebnis ist diese Stelle, so gespielt (so, wie ich es etwa vormache; eine Beschreibung könnte es nur andeuten).161 Was ist Furcht? Was heißt „sich fürchten“? wenn ich‘s mit einem Zeigen erklären wollte – würde ich die Furcht spielen. 162 Der Inhalt der Erlebnisse. Man möchte sagen „So sehe ich Rot“, „So höre ich den Ton, den du anschlägst“, „So fühle ich Vergnügen“, „So empfinde ich Trauer“, oder auch „Das empfindet man, wenn man traurig ist; das, wenn man sich freut“, etc. Man möchte eine Welt, analog der physikalischen, mit diesen So und Das bevölkern. Das hat aber nur dort Sinn, wo es ein Bild des Erlebten gibt, worauf man bei diesen Aussagen zeigen kann.163 158 159 160 161 162 163

ÜG 28. PU II viii, S. 507. PU II xi / S. 530. PU II vi. PU II ix BPP I 896.

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II. Sagen und Zeigen

Was all diese Zitate deutlich machen, ist, daß ohne Fälle keine Regel plausibilisierbar ist. Auch vermeintlich mentale oder ‚innere‘ Prozesse sind untrennbar von ihren konkreter Manifestationen, die sich nicht auf theoretischer Ebene hinreichend qualifizieren lassen. Wenn das, worauf gezeigt werden kann, nichts anderes als Handlungen und Verhaltensweisen ist, so kann es zwar nicht gesagt, aber vorgeführt werden. Wie bei der von Kierkegaard geforderten Imitatio, die keine Nachahmung sein kann, sondern nur ein neues Exemplar, ist ein Vorführen in Wittgensteins Sinne mehr als ein Zeichen, das für etwas anderes steht; es ist selbst ein Vorkommnis. Wenn Wittgenstein die physikalische Welt voller Gegenstände durch eine ‚deiktische‘ Gegenwelt ergänzen will, meint man sich fast in einem dem Tractatus vergleichbaren Szenario einer sagbaren Tatsachenwelt und einem Pendant, das sich nur zeigen läßt bzw. zeigt. Doch gilt das physikalische Paradigma einer Welt, die aus Gegenständen besteht, nicht mehr, denn sie stiftet die problematischen Analogien, denenzufolge man Gefühle, Gedanken und Schmerzen ‚hat‘ wie man ein Auto besitzt. Die mit Deiktika bevölkerte Welt ist eine, in der die Dynamik von Aktionen irreduzibel ist. Dann nämlich sind solche Wörter selten problematisch, weil sie dann in einem Kontext stehen, der aufschlußreich genug ist. Genau dieses reibungslose Funktionieren eines Zeigens (bzw. sich-Zeigens), das keiner verbalsprachlichen Explizierbarkeit bedarf, um sinnvoll zu sein, ist, worum es Wittgenstein zu tun ist. […] Oder soll ich sagen daß wir einfach nicht in Schwierigkeiten kommen? Oder daß uns fast immer alles in Ordnung zu sein scheint? So denken wir. So handeln wir. So reden wir darüber.164

Wenn Wittgenstein terminusuntaugliche Wörter immer wieder verwendet und zwar gerade, weil das im philosophischen Text nichts bringt, aber in der Praxis alles leistet, weist er weniger auf die Defizienz der deiktischen Sprachfunktion hin, als auf deren irreduzible Leistung. Sie ist es, die Sprache und Lebenszusammenhang integriert und Äußerungen mit und als Handlungen wirksam werden läßt. Erst in abstrakten theoretischen Bemühungen werden Zeichen kontextfrei aufgefaßt und wird der Versuch gemacht, eindeutige und vollständige Denotation dem Wort allein zuzumuten. Es wird von Praxis isoliert und entfremdet, weswegen man erst auf die Idee kommen kann, ihm nicht zu trauen und damit in Fundierungsnot gerät. Typisch für 164

Z 309.

II.3. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen

133

Philosophen ist es deshalb Wittgenstein zufolge, innezuhalten und Sicherheit gewinnen zu wollen. Aber gerade das macht sie noch fremder in der Welt, hilflos und sogar verrückt. „Es ist doch so – „sage ich wieder und wieder vor mich hin. Es ist mir, als müßte ich das Wesen der Sache erfassen, wenn ich meinen Blick nur ganz scharf auf dies Faktum einstellen, es ganz in den Brennpunkt rücken könnte.165 Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen „Ich weiß, daß das ein Baum ist“, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.“166

Schließlich stellt sich Wittgenstein noch richtig lächerlich vor, wie Philosophen auch die Zeigegeste mißverstehen und aufladen, indem sie sie zusätzlich als ikonisches Zeichen nehmen: Denke dir, die Menschen pflegen auf Gegenstände immer in der Weise zu zeigen, daß sie mit dem Finger in der Luft gleichsam einen Kreis um den Gegenstand beschrieben, dann könnte man sich einen Philosophen denken, der sagte: „Alle Dinge sind kreisrund; denn der Tisch sieht so aus, der Ofen so, die Lampe so“ etc., indem er jedesmal einen Kreis um das Ding schlägt.167

Ähnlich wie eine Reifizierung als Konsequenz der hinweisenden Definition findet hier so etwas wie eine ‚Verkreisung‘ statt, weil die Art des Zeigens als abbildend aufgefaßt wird, weswegen ihr Aussagen über die Form des Gegenstands abgewonnen werden. Damit wird es in seiner spezifischen Leistung, nämlich Präsentes neu zu fokussieren und die Aufmerksamkeit von sich auf seinen Referenten zu lenken, verkannt. Wittgensteins Philosophen werden im Zeichendeuten virtuos wie Dostojevskijs Raskolnikov, in vielen Beispielen zeigen sie Desorientierung, Fixiertheit, ja Besessenheit, wie dieser. Entgegen allen anderen Anzeichen avanciert etwas zu einem Zeichen mit nur einer klaren Bedeutung, was die Komplexität des tatsächlichen Funktionierens genauso verkennen läßt wie die für Sprachgebrauch konstitutive Mehrdeutigkeit und Unsicherheit.

165 166 167

PU 113 ÜG 467. Z 443.

Teil III Anfang Angst Anapher Et multi ante nos vitam istam agentes, praestruxerant aerumnosas vias, per quas transire cogebamur multiplicato labore et dolore filiis Adam. Augustinus Wittgensteins Motto zu den Philosophischen Bemerkungen Ich kann doch nicht in den Gedanken, durch Worte, eine Voraussicht erschleichen von etwas, das ich nicht kenne. Wittgenstein Zettel 262

Das (ana)phorische Zeigen ist ein besonderes und unterscheidet sich von den im vorigen Teil besprochenen Arten der Deixis laut Bühler wie Selbstmord vom Mord.1 Es ist nämlich ein Zeigen in „innendienstlicher Funktion“2 und verweist textintern, es nimmt also nicht Bezug auf etwas Wirkliches im Wahrnehmungsraum oder einer fiktiven Realität. Die Anapher verweist auf ein früheres Wort, ihr Antecedens, welches referiert; sie referiert selbst nur durch es, also indirekt. Obschon das, worauf gezeigt wird, kotextuell ist, werden dafür dieselben Wörter verwendet wie bei jeder Deixis. Die spezifische Leistung textphorischen Zeigens besteht darin, dem Textganzen eine Struktur zu verleihen, die über die automatische Reihung von Sätzen im Redefluß hinausgeht. Brüche des Symbolfeldes können durch die Anapher, die auch als „Gelenkwort“3 bezeichnet wird, integriert werden. Bühler vergleicht dies mit den Mitteln des Films, wo Standpunktwechsel und Perspektivbrüche durch Schnitte vorgenommen werden, aber deshalb keinen Bruch im Ganzen der erzählten Handlung bewirken. Radikaler als beim „wandernden Auge“4 im Raum lassen sich Versetzungen vornehmen, sowohl räumlicher als auch 1

2 3 4

Karl Bühler Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, (Jena 1934) Stuttgart/New York 1982, S. 389. S. 124 „der werdende Kontext der Rede wird selbst zum Zeigfeld erhoben“. Ebd., S. 390. S. 385. S. 391ff.

136

III. Anfang Angst Anapher

zeitlicher Art. Insofern dient die Anapher als „Gängelband“5. Außerdem kann sie eine Entlastung bewirken, da man eine ausführliche Wiederholung einsparen kann, was in der Amtssprache häufig verwendet wird. Um sie verstehen zu können, muß man das bisher Gesagte präsent haben und in der Lage sein, es umzuarrangieren, um Kohärenz zu gewinnen. Wenn Kierkegaard in seiner Schrift Der Begriff Angst die Erbsünde zum Thema macht, hat er es mit einer vergleichbaren Struktur der Rückverweisung zu tun. Diese ergibt sich zunächst aus der dogmatischen Deutung des Genesismythos von der Vertreibung aus dem Paradies, wie sie Paulus in die Welt gebracht hat, durch die Idee einer vererbbaren Sündigkeit, deren einzige Rettung und Gegenstück die Erlösung durch den Kreuzestod Jesu ist. Aber auch die Erforschung dieser Problematik weist diese Struktur auf, insofern sie nicht umhin kann, die Positionen in Theologie und Philosophie, mindestens aber das erste Antecedens, den Genesistext, zu Rate zu ziehen. Um dem Anfang menschlicher Freiheit, damit Geschichte, beizukommen, bedarf es demnach der Konsultation vieler vermittelnder Vorgänger-Instanzen und darauf bezugnehmend interpretativer Leistungen. Ohne Rückversicherung und Beglaubigung mittels mindestens eines Antecedens bleiben die existentiellen Bedingungen ohne Vergewisserung bzgl. ihres Zustandekommens sinnlos und bedrohlich. Odo Marquard6 weist darauf hin, daß Hermeneutik selbst ein postlapsarisches Phänomen sei, das nötig werde, weil ein Text aus seinem Primärkontext gefallen sei und sein Sinn durch eine kompensatorische Plausibilisierung zurückgewonnen werden solle. Die mit einer Interpretation erzielte rekonstruktive Leistung soll zeigen, daß der verlorengegangene Sinn aktuell und immer noch gültig ist. Kierkegaard zufolge stellt die Maßnahme einer hermeneutischen Rekonstruktion die Distanz erst her und täuscht darüber hinweg, daß das Diskutierte auch hier und jetzt virulent ist und mich betrifft. Etwas zu einer interpretationsbedürftigen Angelegenheit zu machen, es zum Thema werden zu lassen, heißt, es durch sprachliche Äußerungen zu ersetzen und in seiner Dringlichkeit loszuwerden.

5 6

S. 123 und 397. „Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3“, in Poetik und Hermeneutik IX, München 1981, S. 53-71.

III. Anfang Angst Anapher

137

Sagen und darstellen wollen lenkt ab von dem, was präsent und der Fall ist.7 Mehr als 100 Jahre vor Susan Sontag schreibt Kierkegaard anläßlich der Erbsünde sein Against Interpretation, um darauf hinzuweisen, daß und wie theologische und philosophische Theoreme über die Erbsünde die Flucht des Akademikers vor seiner eigenen Sündigkeit sind, ähnlich wie bei Sontag Interpretation als Rache des Intellekts an der Kunst und Zähmung der durch sie provozierten Beunruhigungen beschrieben wird.8 Doch bespricht der Text dies nicht (nur) wie der Essay von Sontag, sondern er gibt sich selbst als ein Traktat zur Erbsünde und enttäuscht die damit einhergehenden Erwartungen, so daß der Leser das von Horaz geborgte „de te fabula narratur“9 durch das Scheitern seiner Verstehensversuche erfährt. Das geschieht, indem der Gegenstand der Abhandlung sich als nichts herausstellt, das zu Nichts avanciert und als Pseudo-Gegenstand das Eintreten des Besprochenen provoziert. Was Nikolaus Notabene mit seinen Vorworten, die am selben Tag publiziert wurden, drastisch und explizit thematisch werden läßt, trifft für den sich als wissenschaftliche Abhandlung gebenden und als solcher bis heute rezipierten Begriff Angst nicht weniger zu, nämlich ein Buch über Nichts zu sein. Der pseudonyme Autor Vigilius Haufniensis sieht sich mit einem Schwindel im doppelten Wortsinn konfrontiert: Die Erbsünde zum Thema einer Abhandlung zu machen erschwindelt sich seinen Gegenstand, und das läßt alle Verstehensversuche in Konfusion geraten, so daß dem Denkenden schwindelig wird. Genau das ist der Zustand der Angst, der in den Mißstand der Sünde übergehen läßt, also den Referenten, den es noch nicht gibt, heraufbeschwört. Der Deckname Angst täuscht darüber hinweg, daß es hier nichts theoretisch abzuhandeln gibt, und läßt die Sünde erst begehen, ruft sie hervor. Die Akzentuierung der rekonstruktiven Leistung der 7

8

9

Man könnte hier zusätzlich biographisch arbeiten und daran ansetzen, daß und wie es Kierkegaards Vater gelungen ist, seinem Sohn einzureden, für die väterlichen Verfehlungen bestraft zu werden durch frühen Tod. (Vgl. meine erste Fußnote Teil I. 2.) Das ging bekanntlich so weit, daß Kierkegaard, nachdem von seinen sechs Geschwistern nur noch ein Bruder am Leben war, überzeugt war, daß beide nicht älter als Jesus werden. In der Nacht zu seinem 34. Geburtstag wartete er deshalb auf seinen Tod. Als sich nichts tat, ging er am nächsten Morgen zur Kirche und prüfte im Taufregister sein Geburtsdatum nach. Vgl. z. B. Rohdes Biographie Kierkegaard, Hamburg 1959, 21. Auflage 1992, S. 37-45. Against Interpretation, New York 1962; dt.: „Gegen Interpretation“ in: Kunst und Antikunst, München 1980, S. 9-18. 87 / SV IV, 343 / SKS 4, 377. Es ist aus den Satiren 1,1,70.

138

III. Anfang Angst Anapher

Hermeneutik muß sich als Applikation dabei ertappen, selbst zu exemplifizieren, wovon sie lieber nur reden würde und ihr Thema als akut und präsent im eigenen Vollzug wiederzufinden. Am Anfang steht nicht die Hermeneutik10, sondern sie fällt mit. Vigilius Haufniensis beginnt seinen Text, indem er einen eigenen Anfang verweigert und traditionelle Plausibilisierungsversuche durch Theologie, Philosophie und Psychologie aneinanderreiht. Damit versucht er, sich über die möglichen Varianten eines Antecedens seinem Thema zu nähern und muß feststellen, daß das mißlingt, weil die Sünde nicht als Referent einer theoretischen Bezugnahme taugt. Sein Procedere, das sich in Anlehnung an Wittgenstein als Variante „grammatischer Klärung“ auffassen läßt, zielt darauf herauszufinden, wie die Sünde je nach Kontextualisierung und akademischem Ansatz eine andere Akzentuierung erfährt, aber durch keine der Disziplinen hinreichend erklärbar wird. In der Topographie der Fächer bleibt die Sünde ortlos und entzieht sich jeder wissenschaftlichen Behandlung. Deshalb scheitert die Anapher, sie dreht hinterrücks ihre Gerichtetheit um und wird zur Katapher, die wie ein Platzhalter Zukünftiges vorwegnimmt, es sogar entstehen läßt. Die Dynamik des Sündigens wird durch den Kierkegaardschen Text provoziert und vom Leser vollzogen, indem der Versuch intellektueller Bemächtigung des eigenen Anfangs mittels fremder Fälle gestartet wird und sich damit als neue Sünde instantiiert. Nicht Verständnis des Falls wird erlangt, weil alle hermeneutischen Versuche zu Fall kommen und sich als Vorkommnis ihres Themas erfahren müssen. „Surprised by Sin“11 wird also nicht nur der Leser von Miltons Paradise Lost, sondern auch in der Angstabhandlung zum selben Thema finden sich Maßnahmen des „reader harrassment“. Ein interesselos-unverbindliches Nachvollziehen eines Textes, der „Not so much a Teaching as an Intangling“ ist 10 11

Jacques Derrida in seinem Jabès-Aufsatz in Die Schrift und die Differenz, S. 105. Stanley Fish Surprised by Sin. The Reader in Paradise Lost, Berkeley 1967. Die Zitate sind p. 1 + 4. John S. Tanner hat sich die Arbeit gemacht, unter dem Titel Anxiety in Eden. A Kierkegaardian Reading of Paradise Lost, zu versuchen. (New York/Oxford 1992) p. 9: „They [Milton und Kierkegaard] baptize epic poetry and dialectic philosophy and bring them, still dripping wet, to the Christian God.“ Bei beiden gehe es darum, den Bruch bzw. Sprung des Sündigwerdens trotz der postlapsarischen Darstellungsmittel nicht zu erübrigen, und beide sehen in der Schlange/Sprache die Versuchung einer durchgängigen Plausibilisierung. Vor allem mit Bezugnahme auf das Schlußkapitel will Tanner für BA das Programm des „reader harassment“, wie Stanley Fish es bei Milton diagnostiziert, nicht in dem Maße durchgeführt sehen. Vgl. dazu mein 6. Unterkapitel dieses Teils.

III. Anfang Angst Anapher

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und jeden Lektüreversuch zu einem neuen Fall werden läßt, wird vereitelt. Damit exemplifiziert der Text, was er jeder sinnvollen Besprechung entzogen behauptet, und bestätigt durch seine Existenz gleichsam vorauseilend den ersten, später als schlecht verworfenen tractarischen Anfang Wittgensteins „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“12 Sprache kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu: Als Medium der Repräsentation aufgefaßt steht sie für etwas und läßt verkennen, daß das bzgl. der Sünde notwendig eine Täuschung, ein Schwindel ist; deshalb ist sie selbst Symptom gefallener Zustände. Nicht erst mit dem Turmbau zu Babel, sondern bereits mit der Schlangenrede, die eine zuverlässige Zuordnung von Wort und Gegenstand durch Überdetermination und Ambivalenzen stört, gerät das Medium außer Kontrolle und wird gefährdend für Wahrheitsvermittlung. Hatte Adam die Tiere noch stimmig und korrekt benennen können, so fällt die Sprache schon dann, wenn sie lügnerisch sein kann und keine Wahrheit mehr verbürgt. Traut man ihr noch zu, etwas wahr und adäquat wiederzugeben, so mißachtet man den postlapsarischen Zustand, der sie zum Symptom der Sünde, vom Fall gezeichnet und Zeichen des Falls macht. Nicht erst in Elias Canettis Rede vom doppelten Sündenfall oder einer entsprechenden Korrelation bei Walter Benjamin13, sondern bereits in der Angstabhandlung bekommt die Sprache eine zwar strategisch marginalisierte, aber effektive und maßgebliche Rolle beim Fall und den neuen hermeneutischen Sündenfällen. Das läßt sich allein daraus ersehen, daß aus dem Genesistext alle Sprachkompetenz herausgekürzt werden muß, so daß die Anrede Adams durch Gott, der Vokativ, welchem nach Lévinas größte Aufmerksamkeit gebührt, weil das Wort Gottes in jedem menschlichen Antlitz mich erneut anspricht14, zum geistlosen Selbstgespräch eines debilen Adam wird. 12

T 1. Odo Marquard setzt diese listige Pointe in dem oben genannten Aufsatz am Schluß. 13 Elias Canetti Die Provinz des Menschlichen, München 1973, S. 16: „Die Geschichte vom Turm zu Babel ist die Geschichte des zweiten Sündenfalls.“ Walter Benjamin „Nach dem Sündenfall, der in der Mittelbarmachung der Sprache den Grund zu ihrer Vielheit gelegt hatte, konnte zur Sprachverwirrung nur noch ein Schritt sein.“ Walter Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ , in Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. 46; mehr dazu im Genesis-Exkurs, Kap. III.5. Schon Augustin sieht das Entstehen von Zeichen im Zusammenhang mit dem Sündenfall: Vorher habe Gott sich unmittelbar an den menschlichen Intellekt gewandt, von „innen“ belehrt. De genesi contra Manicheos I, 2c. 4 (198f.) 14 Emmanuel Lévinas Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität (Totalité et Infini, 1961) bes. S. 92 und 99. Dazu mehr in meinen Teilen V.1.1. und V.5.

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III. Anfang Angst Anapher

Wenn im Text einerseits darauf insistiert wird, daß die Sünde nicht vererbbar ist und durch einen unerklärlichen Sprung jedes Mal neu in die Welt kommt, wenn andererseits viele Seiten damit gefüllt werden, historische Kontinuität in ihren verschiedenen Ausprägungen von Angst und Sünde vorzuführen, werden zwei unvereinbare Positionen der traditionellen Debatte um die Erbsünde nebeneinandergestellt. Es findet sich kein Vermittlungsversuch, lineare und zirkulär-tautologische Argumentationsmuster koinzidieren unintegriert. Der Redefluß und die oberflächlich klar strukturierte Gliederung der Schrift täuschen darüber hinweg, daß der Text die Formen des Schlangenkörpers gleichsam abbildet und so seine Komplizität mit der Dynamik des Falls indirekt kundtut. In einem Exkurs werde ich auf die Anfangsversionen der biblischen Genesis 1-3 eingehen, um auch dort die eminent wichtige Rolle der Sprache herauszulesen. Als potentiell doppelzüngige Schlangenrede ist der postlapsarische Mißstand ihre Konstitutionsbedingung, was sie für die Schilderung des noch unverdorbenen paradiesischen Zustands disqualifiziert und erst Recht vom schöpferischen Wort Gottes in seiner performativen Allmacht abfallen läßt. Zudem handelt es sich um narrative Strukturen, die ein Ganzes mit Anfang, Ereignisverlauf und Ende entwerfen. Paul Ricœur zeigt, daß das der einzig mögliche Umgang mit der menschlichen Zeiterfahrung ist, welcher die theoretische Aporie zwar nicht behebt, aber dennoch sinnvoll strukturierend damit zurechtkommen läßt.15 Wird erzählend auf Gott Bezug genommen, so kann man nicht umhin, ihm menschliche Zeiterfahrung zu unterstellen und ihn menschlichen Handhaben unter postlapsarischen Bedingungen zu unterwerfen. Ich untersuche im Genesistext, welche Lösungen sich dort zum Anfang, zur Sprache und Zeitstruktur finden. Wenn ein Narrativ die Möglichkeit bietet, Anfang und Ende sinnvoll zu korrelieren, so bietet es auch ohne religiöse Thematik eine heilsgeschichtliche Struktur. Auch Sprache ist nicht nur Zeichen der Zwietracht, sondern verdankt jeden Äußerungsakt der Hoffnung auf Einigkeit und Verständnis. „In der Sprache berühren sich Erwartung und Erfüllung“, heißt es in den Philosophischen Untersuchungen 445. Daran schließt sich die Frage an, wie sie beispielsweise auch Kleist stellt, nämlich ob das Paradies „vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“16. Er sieht das Potential eines Anfangs, der „dreist“ und „in 15 16

Paul Ricœur Temps et récit, Paris 1983 . Heinrich von Kleist Über das Marionettentheater, Stuttgart 1984, S. 88.

III. Anfang Angst Anapher

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der Not hingesetzt“17 wurde und doch gerade so die Fähigkeit zur „Verfertigung“ erst entwickeln läßt. Der unverschämte Vorgriff auf das nicht Gewußte und Unbegriffene zwingt also nicht nur ein falsches Ende und Reue herbei, sondern befördert das Entstehen von Neuem, indem es den Spielraum des Denkbaren anders erschließt. Andererseits ist jeder solche Vorgriff ein Mißgriff, der keine radikale Offenheit erlaubt, da er zuviel hat ausschließen müssen, um gesetzt werden zu können. Wenn Derrida viele Vorträge und Texte zögerlich im Futur II beginnt, exponiert er diese Dreistigkeit eines Anfangs, der die Zukunft als vollendete anlegt und nicht umhin kann, sie zu beherrschen. Wann immer man das Wort ergreift, ist dies unvermeidlich. Da der Großteil des Kierkegaardschen Texts das Anfangen müssen in diesem Sinne diskutiert und unbestritten klarstellt, daß der Mensch ohne Gott nicht gut anfangen kann, aber schlecht enden muß, stellt sich die Frage, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, die glücken läßt, was zu Fall hat kommen müssen. Das letzte Kapitel des Begriff Angst thematisiert genau dies und macht wieder Angst zum entscheidenden Faktor: Als ‚bildende‘ funktioniert sie (wie Ironie in der Dissertation Kierkegaards) als das homöopathische Therapeutikum ihrer eigenen Symptome. Wieder ist sie ein Schwindel angesichts unendlicher Möglichkeiten, doch wird nicht eine von diesen ergriffen und als Rettung mißverstanden, sondern ein Vertrauen in fremde Möglichkeiten läßt alle Angst überwinden. Ohne einen Versuch zu machen, die ‚bildende‘ und erlösende Angst kriteriell von der in die Sünde verleitenden abzugrenzen, wird jeder Vermittlungsversuch, damit jede anmaßende Unterwerfung unter die eigenen Vermögen, unterlassen. Kierkegaard darf Sprache nach allem, was vorher in und mit seinem Text passieren mußte, weder die Darstellung der Erlösung noch die einer positiv verwirklichten Freiheit vor dem Fall zutrauen und muß dies an den Glauben verweisen. Das sehr kurze Kapitel verweist nur auf den gesunden Zustand dessen, der proleptisch auf das Heil in der eigenen Gegenwart vertraut und in der „Vorsehung ruht“, ohne sich ihrer durch eigene Vermögen bemächtigen oder versichern zu wollen. Ohne zwischengeschaltete Vermittlerinstanz läßt die Prolepse Zukünftiges in der Gegenwart unmittelbar präsent sein, ohne damit das Eintreffen des zu Erwartenden zu garantieren. Das Buch schließt mit einem Verweis auf die Grenzen der Zuständigkeit des gewählten Ansatzes. 17

ders. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, ebd., S. 94, 96.

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III. Anfang Angst Anapher

III.1. Die ersten fünf Anfänge: Titel, Untertitel, Motto, Widmung, Vorwort Es ist so schwer, den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht zu versuchen, weiter zurückzugehen. Wittgenstein, Über Gewißheit 471 (…) er will ein bißchen früher anfangen als andere Menschen, nicht bei und mit dem Anfang, sondern „im Anfang“.18 Anti-Climacus über Trotz in der Krankheit zum Tode

Als Handhabe gegen die verwirrende Vielfalt der Pseudonyme hat es sich in der Forschung etabliert, die Pseudonyme je nach Nähe zum vermuteten Standpunkt Kierkegaards einzuordnen. Der bereits in Teil I vorgestellte Johannes Climacus gilt als ‚unechtes‘, weswegen seinen Aussagen am meisten Gewicht beigemessen wird und sein Kommentar zum Begriff Angst als Anhaltspunkt zu Kierkegaards eigener Einschätzung genommen wird. Übrigens unterscheidet sich „Der Begriff Angst“ darin wesentlich von den anderen pseudonymen Schriften, daß seine Form direkt und sogar ein wenig dozierend ist. […] Die etwas dozierende Form der Schrift war unzweifelhaft schuld daran, daß sie mehr als eine der anderen pseudonymen ein bißchen Gnade vor den Augen der Dozenten fand. Daß ich diese Gnade für ein Mißverständnis halte, leugne ich nicht, und insofern freute es mich, daß gleichzeitig ein heiteres Büchlein von Nikolaus Notabene erschien.19

Ohne einen Zusammenhang zu den synchron publizierten Vorworten des Nikolaus Notabene explizit herzustellen, rückt Climacus beide Texte demonstrativ in eine Nähe, indem er sie in einem Satz erwähnt, der die Charakterisierung der Angstabhandlung als ‚direkt und dozierend‘ als verfehlt herausstellt. Daß diese Nähe darin besteht, daß beide Bücher ein Nichts zum Gegenstand machen, weil die argumentative Auseinandersetzung mit dem, worum es geht, eine falsche Maßnahme ist, führt Climacus nicht aus. Auch er versagt die Pointe und bewahrheitet dadurch vor allem, daß es auch in den Enthüllungstexten und Überblicken des Kierkegaardschen Œuvre keine Schlüssel für das Verständnis gibt. Daß die Stellen, die aufschlußreich zu sein versprechen, die zugeknöpftesten sein können und umgekehrt, wird häufig genug ignoriert. So nimmt man immer wieder 18 19

dän.: „i Begyndelsen“, also der Anfang der Bibel, Genesis 1.1. AUN I, 264f. / SV VII, 229.

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Johannes Climacus in den ersten beiden Sätzen dieses Zitats beim Wort, um die Angstabhandlung als Gegenstand einer akademischen Arbeit zu machen, und bis heute immer wieder „Gnade bei Dozenten“ finden zu lassen.20 Doch bereits der Titel läßt mißtrauisch stimmen: Wieso sollte Angst, also ein Alltagsphänomen, das allenfalls in Medizin und Psychologie diskutabel werden kann, ein Begriff sein und wissenschaftsfähige Dimension gewinnen? Der Untertitel klingt vielversprechend, stiftet aber neue Irritation: „Eine einfache psychologisch-hinweisende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde“. Es werden mehrere wissenschaftliche Disziplinen, Psychologie21, Philosophie und Theologie einbezogen, dabei soll das Ganze noch „einfach“ (dänisch: simpel) sein. Außerdem ist der Modus, oder Status, oder Zeichentyp der Abhandlung gekennzeichnet als hinweisend, zeigend22 im Gegensatz zu einer beim Thema Erbsünde zu erwartenden thesenhaft argumentie20

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22

Echos davon gibt es in der Sekundärliteratur unzählige: Beispielsweise die amerikanische Ausgabe (Princeton New Jersey 1980), übersetzt und eingeleitet von Richard Thomte und Albert B. Anderson, gibt in der „historical Introduction“ p. XV den Begriff Angst als „more didactic and direct than (…) other pseudonymous works“ aus und findet hier „an exacting analysis of concepts“. Emanuel Hirsch urteilt genauso in seiner historischen Einleitung der deutschen Übersetzung (S. VIII). Auch die neueren theologischen Arbeiten (protestantischer wie katholischer Couleur) schließen sich dem an und räumen dem BA eine Schlüsselstellung für einschlägige theologische Themen ein; vgl. Fonk, Peter Zwischen Sünde und Erlösung. Entstehung und Entwicklung einer christlichen Anthropologie bei Søren Kierkegaard, Kevelaer 1990; Bongardt, Michael Der Widerstand der Freiheit. Eine transzendentaldialogische Aneignung der Angstanalysen Kierkegaards, Frankfurt 1995 und Dietz, Walter Søren Kierkegaard. Existenz und Freiheit, Frankfurt 1993. Alastair Hannay faßt die Krankheit zum Tode und den Begriff Angst als „psychological works“ zusammen und will die Relativierung des Diskutierten durch das Pseudonym und dessen existentielle Wirklichkeit minimiert sehen: „They are direct communications offering general descriptions of conscious states.“ (a. a. O., p. 157.) Hannay kontrastiert BA mit der Wiederholung, genauso wie Stephen Crites, der ersteres als „philosophical guidebook(..), crabbed and sober“ charakterisiert, im Unterschied zu letzterem, das er als „witty, evocative and lyrical“ kennzeichnet. Dies nimmt er als Argument, um in der Wiederholung drei Auffassungen von Ewigkeit aufzuspüren, die in BA „dry, discoursive and dense“ erarbeitet werden (in International Kierkegaard Commentary 6, 1993, pp. 225ff., 242). Helmut Fahrenbach („Kierkegaard-Auslegung in der deutschsprachigen Literatur von 1948-1952“, Philosoph. Rundschau, Sonderheft Kierkegaard (Beiheft 10) 1962, S. 43) macht (wie auch andere) darauf aufmerksam, daß das, was bei Kierkegaard ‚Psychologie‘ ist, nach heutigen Standards (philosophische) Anthropologie ist. Im Dänischen: „paapegende“, „i Retning af“. Hirsch übersetzt mit ‚andeutend‘.

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renden Diktion eines theologischen Traktats. In den Entwürfen wird der wissenschaftliche Anspruch deutlicher durch ein im Untertitel eingeschobenes „schlecht und recht“ eingeschränkt.23 Auffallend ist, daß der ‚eigentliche‘ Gegenstand in den Untertitel abgeschoben, verdrängt wird und im Titel durch ein Pseudo-Thema, ein theologisches und philosophisches Unding, ersetzt wird. Das Thema Erbsünde hat also bereits angefangen, bevor es verspätet und untergeordnet manifest wird. Titel und Untertitel sind symptomatisch für das Prinzip des ganzen Buches, den mißglückten Anfang textuell zu exemplifizieren. Weiter geht es mit einem Motto, das zwei Autoritäten ins Spiel bringt: Die Zeit der Unterscheidungen ist vorbei, das System hat sie überwunden. Wer sie in unseren Tagen liebt, ist ein Sonderling, dessen Seele an etwas längst Entschwundenem hängt. Das mag so sein, doch Sokrates bleibt, was er war, der einfältige Weise, dank seiner seltsamen Art zu unterscheiden, die er selbst ausgesprochen und vervollkommnet und die erst zwei Jahrtausende später der sonderbare Hamann mit Bewunderung wiederholt hat: „Denn Sokrates war dadurch groß, daß er dasjenige unterschied, was er verstand, von dem, was er nicht verstand.“

Dieses Motto bekennt sich zu einem unzeitgemäßen Anliegen, dessen Vertreter nicht nur gestorben sind, sondern auch seltsam und sonderbar waren. Wenn Unterscheidungen vorgenommen werden, die dazu dienen, den Umfang des eigenen Verständnisses einzugrenzen, müßte dialektisch auch das Ausgegrenzte Kontur gewinnen und sich in das Begreifen einholen lassen. Gegen diese Hegelsche Auffassung der Grenze, die zu Kierkegaards Zeiten en vogue war, werden zwei als Autoritäten benannt, die die ortlose Position einnehmen, welche ein Plädoyer für das Inkommensurable nur als Offenheit für es vornehmen kann. Dadurch, daß Hamann Sokrates zitiert und beide zitiert zu den Paten der Abhandlung werden, suggeriert Vigilius eine Tradition des Atopischen, wie sie Nikolaus Notabene erwähnt aber nie versucht. Sich selbst reiht er in diese Reihe ein, indem eine Widmung an seinen Lehrer, dem verstorbenen Professor Møller „Mitwisser des Sokrates […] den ich bewundere, der mir fehlt“ anschließt.24

23

24

Pap. V B 42 (1844). Auf diesem Entwurf des Titelblatts tritt Kierkegaard noch als Autor auf. Also scheint auch die Angstabhandlung – wie die Climacusschriften – autonym geplant gewesen zu sein, man redet oft von ‚schwacher‘ Pseudonymisierung. Vgl. dazu SKS K4, 323f. In Pap. V B 46 findet sich eine sehr viel persönlichere Widmung an Møller, in der es u. a. heißt: „der mächtigen Posaune meines Erwachens, dem Vertrauten meines Anfangs, meinem verlorenen Freund, meinem Leser, der mir fehlt“.

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Noch vor dem Vorwort, mit Titel, Untertitel, Motto und Widmung sind Anfänge geboten25, die statt der durch den Titel und die Gliederung suggerierten sachlichen begrifflichen Abhandlung einen tendenziösen Charakter markieren, weil durch Autoritäten bezeugte Gegnerschaft zur Systemphilosophie bekannt wird. Das programmatische Vorhaben der Grenzziehung und Ausklammerung ist verkündet und problematisiert. Damit sind nicht nur die virulenten Kontexte – als bereits (zum Teil lange) bestehende – aufgerufen, sondern auch eine Lokalisierung und Situierung in ihnen ist vollzogen. Der eigene Anfang hat also längst angefangen, es gab ihn immer schon, er weist sich als mittendrin aus, wiederholt andere Anläufe, denen er sich verdankt. Er ist anaphorisch, muß aber sein hoffnungslos verlorenes (da verstorbenes) Antecedens im Sinne der Wiederholung neu hervorbringen. Bereits hier wird die Tücke der Anapher wirksam: Wie alle indirekte Bezugnahme eröffnet sich ein Spielraum, der für Betrügereien und Täuschungen Gelegenheit bietet: Durch den Rückverweis auf ein Antecedens wird unter Umständen davon abgelenkt, daß es den Referenten gar nicht gibt.26

24

25

26

Zur Stützung seiner These von „weak pseudonymity“ in diesem Fall deutet Thomte in einer Anmerkung (p. 223; a. a. O.) die Widmung: „The dedication to Møller is in itself evidence that The concept Anxiety is not strictly pseudonymous. By means of the pseudonym and the abbreviations in the dedication Kierkegaard concealed the privacy of his relationship to Møller.“ Immer, wenn Kierkegaard einen seiner Texte jemandem widmet (z. B. auch seinem Vater), benutzt er nicht ‚tilegne‘, das nicht nur aneignen, sondern und vor allem auch zueignen, widmen heißt. Er greift stattdessen auf ‚helliges (dette skrift)‘ zurück, das zur selben Wortfamilie gehört wie ‚at hellige‘ – heiligen und ‚hellig‘ – heilig, fromm. Poul Martin Møller wurde 1831 Philosophieprofessor an der Universität København und bald Kierkegaards Freund. Als sein Lehrstuhl neu besetzt werden sollte, war Kierkegaard, der gerade seine Dissertation einreichte, als Nachfolger im Gespräch. Bernd Henningsen hat ihm eine Monographie gewidmet: Poul Martin Møller oder Die dänische Erziehung des Søren Kierkgaard. Eine krititsche Monographie mit einer ersten Übersetzung seiner Abhandlung über die „Affectation“, Frankfurt 1973. Henningsen geht es darum, gegen die einseitige Kontextualisierung Kierkegaards in der deutschen Romantik und im Deutschen Idealismus eine skandinavische Tradition stark zu machen, deren Vertreter – allen voran Møller – sich im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Ländern durch Ideologieresistenz auszeichneten, was vor allem im politisch-sozialen Bereich eine andere, bis heute typische Linie erkennen lasse. Vgl. hierzu Roger Poole Kierkegaard. The Indirect Communication, Charlottesville 1993, pp. 83-107. Vgl. Robert Brandom „Reference explained away. Anaphoric Reference and Indirect Description“, in The Journal of Philosophy, 1984 No. 9 Vol. 81, pp. 469-492.

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Das Vorwort liest sich wie der Gestus des Widerrufs von Climacus – die Verweigerung von Autorität aufgrund von einer Unzuständigkeit für das Wesentliche: Wer die Absicht hat, ein Buch zu schreiben, der tut nach meiner Ansicht gut daran, über jene Sache, die er behandeln will, verschiedentlich nachzudenken. Er tut auch nicht schlecht daran, wenn er, soweit möglich, in Erfahrung bringt, was zuvor andere über dieselbe Sache geschrieben haben.27

Die fremden, bereits vorliegenden und bestehenden Anfänge sind vielleicht hinreichend, so daß der eigene Beitrag nicht sonderlich belangvoll sein wird; deshalb ist das eigene Buch „ohne jede Wichtigkeit […] sorglos und unbekümmert“ herauszugeben, ohne den Anspruch auf epochale Bedeutung und Wichtigkeit für alle.28 Nicht einmal Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Disziplin, einem Genre oder Fachgebiet ist zu reklamieren, Vigilius hält sich als Verfasser für einen „König ohne Land“ , womit er sich atopisch wie der ‚seltsame‘ Sokrates und der ‚sonderbare‘ Hamann lokalisiert, und will – den Zielen der horazschen Poetik gemäß „Nutzen oder Freude“ bringen. Nicht genug der Absagen, auch sich selbst demontiert Vigilius von vornherein: Sollte es eine edle Mißgunst, eine eifrige Kritik für übertrieben halten, daß ich einen lateinischen Namen trage, dann will ich mit Freuden den Namen Christen Madsen annehmen (…)

Christen Madsen war ein Bauer und Zimmermann, er lebte 17771829. Er wurde zum Leiter einer Erweckungsbewegung und landete deswegen im Gefängnis.29 Sollte Kierkegaard auf ihn anspielen wollen, so disqualifiziert er sich so als Autor. Aber noch eine andere Lesart ist möglich: ‚Christen‘ ist zu Kierkegaards Zeiten sowohl ein Vorname als auch das Wort für ‚Christ‘30; Madsen ein Allerweltsname. Der Autor gibt sich damit als Vertreter des Gewohnheitschristentums 27

28

29 30

9/279/313. Nochmal zur Zitierweise: Weil in diesem Teil fast nur aus der Angstabhandlung zitiert wird, gebe ich zuerst die Seite in der Reclam-Ausgabe an, danach die Seitenzahl der Samlede Værker Band IV und danach die von Søren Kierkegaards Skrifter, Band 4. Der Nachweis für dieses Zitat würde ausführlicher so sein: Reclam S. 9f. / SV IV, 279f. / SKS 4, 313. Kierkegaard spielt ironisch auf zwei hegelianisierende Zeitgenossen, die mit ihren Büchern eine neue Ära einläuten wollen, an, um gegen überhöhte Anspüche zu polemisieren. So laut SKS K4, 348. Seit der Orthographiereform bleibt ‚Ch‘ nur noch bei Eigennamen, weswegen im heutigen Dänisch der Christ ‚Kristen‘ ist, phonetisch allerdings immer noch homophon mit ‚Christen‘, dem Vornamen.

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zu erkennen, dessen Glauben nicht nur lediglich formal und nominell geworden ist, sondern durch gar nichts mehr verbürgt ist und nicht einmal in den Schriftzeichen des Namens verbindliche Spuren hinterläßt. ‚Vigilius Haufniensis‘ knüpft an den mittelalterlichen Namen von Kopenhagen, ‚havn‘, Hafen, an, vigilius ist der Wächter. Die Latinisierung des Namens indiziert nicht nur akademische Gelehrsamkeit, sondern spielt darauf an, daß Kopenhagen, dänisch : København, früher ‚Købmandenes Havn‘ hieß und bis 1417 vor allem Hafen und Umschlagplatz für die Residenz und Domstadt Roskilde war. Es war im Mittelalter folglich der Ort des Zueigenmachens fremder Güter und Werte, der Ort ökonomischer Tauschgeschäfte und bestimmbarer Konvertibilitätsgesetze. Als Wächter solcher Transaktionen ist der Autor derjenige, der sowohl die adäquate Umsetzung von Werten, als auch die geregelte Übersetzung (mit dem Schiff) beaufsichtigt. Mit der Preisgabe dieses Namens hätte die Alternative ‚Christen‘ das uneingestandene und nie explizite Potential, auf den eigentlichen Ort der Zuständigkeit für das zu Verhandelnde, nämlich den Dom in Roskilde, zu verweisen.31 Ein leider nur in den Entwürfen zum Begriff Angst befindlicher Absatz ist hierfür in mehrerlei Hinsicht aufschlußreich: Eine einfache Aufmerksamkeit auf den Sprachgebrauch überzeugt davon, daß man das Wort ‚Erbsünde‘ auf doppelte Weise gebraucht. Verfolgt man diese Distinktion, so kann man sich den Weg bahnen in feinste wissenschaftliche Bestimmungen, und hat zudem die Freude, Befriedigung und Sicherheit, daß man nicht, wie es zuweilen Wissenschaftlern geht, wie ein Turmwächter herunterkommt aus einem unbekannten fernen Reich und deswegen ständig mit der Alltagssprache kollidiert und ohne sich dessen be-

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Das Titelblatt von Kierkegaard Dissertation mußte (wie die Thesen) auf Latein sein, wobei die Universität Kopenhagen zu ‚universitas hafniensis‘ wird und Søren zu ‚Severinus‘ (SV XIII, 97 / SKS 1, 63). Abgesehen davon, daß Kierkegaards drei Tage vor der Mutter verstorbene Schwester Severine hieß, wäre sein Name verdeutscht Ernst Friedhof. Auf dem Titelblatt seiner Dissertation spielt sich also genau das ab, was die gesamten Schriften umtreibt: Die Universität in der Stadt des Handels ist wie ein intellektueller Umschlagplatz und gibt universale Konvertibilität vor. Im Namen des Verfassers hingegen wird die inkommensurable religiöse Dimension benannt, um die es geht, die aber mit den gegebenen (sprachlichen/intellektuellen) Mitteln qua Mittel zu verfehlen ist. (1830 bekam der 17 jährige Søren eine Empfehlung für das Studium an der Universität von seinem Lehrer. Darin heißt es, der Schüler sei lange Zeit „ohne allen Ernst“ gewesen, albern und ungeniert, er habe sich auf nichts wirklich eingelassen. In: Kirmmse Søren Kierkegaard truffet. a. a. O., S. 32) Daß in diesem Fall Nomen Omen ist, zeigt die Dissertation von Michael Theunissen Der Begriff Ernst bei Søren Kierkegaard, Freiburg 1958.

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wußt zu sein oder es zu wollen, den Genius der Sprache sowie rechtmäßige Beteiligte am gemeinsamen Eigentum zu verletzen.32

Mit dem Turm wird eine – wenn nicht die – Schlüsselszene zum Thema Sprache im Alten Testament erinnert, der Turmbau zu Babel. Mit dem Abstieg wird – wie bei Climacus und dem tractarischen Wittgenstein – das architektonisch-hierarchisch-stabile Paradigma verabschiedet und durch ein flächiges, horizontales ersetzt. Wie in den Philosophischen Untersuchungen 18, wo die Sprache mit der Metapher einer alten Stadt vorgestellt wird, geht es auch hier darum, unterschiedliche Strukturen, Muster, ‚Grammatiken‘ aus diesen heraus zu erkunden. Vigilius bekennt sich dezidiert zur Normalsprache, wie es der späte Wittgenstein kultiviert hat: Regionales ‚sich auskennen‘ tritt an die Stelle systematischer allgemeiner Ansprüche, die babylonische Vielfalt kann nicht igoriert werden und erfordert, mehr als nur eine sprachliche Funktionsweise anzuerkennen.33 Die Sicherung definitorisch klarer Termini mit kontextindifferenter Bedeutung hat den Preis der Abstraktion und Entleerung. Worte geraten unter den Verdacht der Falschmünzerei, bei der sie ihr Bedeutungsversprechen nicht mehr einlösen, da sie nur entfremdet und aus alltäglichen Funktionszusammenhängen entrückt ihre spezifische Qualität und sichere Korrelationen gewinnen. Wenn Vigilius kein Wächter der Stadt sein will, der auf einem Turm das Ganze überblickt, damit aber spezifische Differenzierungen übersieht, will er wie der Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen ein heterogenes Gebiet durchstreifen34. Doch kündigt sich bereits ein Vor32 33

34

Pap. V B 50, meine Übersetzung. Philip R. Shields stellt Wittgensteins Anliegen in den PU in einen Zusammenhang mit dem Sündenverständnis bei Augustin, wobei von Sprache Versuchungen ausgehen, die zu philosophischen Überheblichkeiten führen. Er erinnert an den BabelMythos: Ein solcher Turmbau sei kein Irrtum, der einem unterläuft, sondern die sündhafte Weigerung, die eigene Begrenztheit anzuerkennen. Darin zeige sich eine Perversion des Willens, nämlich Wörter aus ihrem gegebenen Kontext zu reißen, um sie zu Termini zu machen. Die philosophischen Bestrebungen perpetuierten dadurch den Sündefall und die Strafe sei der Verlust von Bedeutung. in: Logic and Sin in the Writings of Ludwig Wittgenstein, Chicago 1993, bes. Chapter 4. „A major theme in Wittgenstein‘s writings has to do with the various ways in which words lose their clear sense once they are removed from their natural home and pressed into metaphysical service. […] When the expression „I know“ is used without a clearly restricted application it is reminiscent of the arrogance of those building the Tower of Babel. It seems out of order, unjustified and presumptuous. The resulting confusion is a function of the proud refusal to abide by limitations that ground our expressions within meaningful human activities.“ pp. 67f. Vgl. meine Einleitung in Teil II.3., „Sagen und Zeigen“.

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behalt an, wenn er die Bereitschaft kundtut, seinen Namen auszutauschen, da er, wie die angebotene Alternative ‚Christen‘ ebenfalls nicht für den Wert einer Bedeutung verbürgen kann. Der Autor gibt sich als jemand zu erkennen, der es mit Decknamen zu tun hat und selbst davon nicht frei ist. Mit dem Namen wird auch jegliche – allein aufgrund einer Publikation – zu erwartende selbständige und vom Verfasser autorisierte und verfochtene Position dem Zufall anheimgestellt: Was menschliche Autorität angeht, bin ich Fetischist und bete mit gleicher Frömmigkeit alles und jeden an, wenn nur hinlänglich durch Trommelschlag kundgetan wird, daß ich gerade ihn anbeten soll […] Die Entscheidung übersteigt meinen Verstand – ob sie nun durch das Los oder Ballotage getroffen wird oder ob die Würde selbst reihum geht […] Weiter habe ich nichts hinzuzufügen, außer daß ich jedem, der meine Anschauung teilt, wie auch jedem, der sie nicht teilt, jedem der das Buch liest, wie auch jedem, der schon vom Vorwort genug hat, ein aufrichtiges Lebewohl zurufe.35

Die hier antizipierte Reaktion, nämlich das Buch bereits nach dem Vorwort beiseite zu legen, ist nur konsequent: Vigilius macht keine Aussagen, sondern Absagen, er gibt nicht nur seinen Namen auf, sondern auch jeden Anspruch auf Wahrheit, Entscheidungsfähigkeit, Autonomie, Personenidentität, akademische Standards und Souveränität. Die Autorität von Autorschaft wird nicht nur abgestritten, sondern pervertiert, wenn sie sich erst durch Anhängerschaft herstellt und durch keine einsehbaren Gründe legitimiert wird. Wieder geht ein Wie dem Was voraus und führt es herbei, die Dynamik der Vorworte findet hier eine Steigerung, da menschliche Autorität wie Fetischismus funktioniert, also ein Surrogat, ein Detail oder Teil des Ganzen zum Eigentlichen macht. Wir sind noch vor der Einleitung, doch bereits konfrontiert mit multiplen Anfängen36, offen bekannter Tendenz, drei Wissenschaften, drei (verstorbenen) Autoritäten, einem Hauptfeind und allerhand Enttäuschungen. Das Vorwort bietet erneute Ansagen, die Absagen sind; es ist damit als Anfang untauglich und ist in seinem letzten Satz wortwörtlich zu nehmen: Noch vor dem eigentlichen Anfang des Buches, der mit der Einleitung oder der ersten Kapitel einsetzt, hat der pseudonyme Autor sich als Instanz vernichtet und die Lektüre seines Buches als falsche Maßnahme zu erkennen gegeben. Dem Leser, dem anheimgestellt, sogar empfohlen wird, die Lektüre zu beenden, ist die nur le-

35 36

10/279/314. Für Furcht und Zittern gilt entsprechendes, aber mit anderen Mitteln. Vgl. E. Mooney Knights of Faith and Resignation, New York 1991.

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benspraktisch einlösbare Wichtigkeit benannt und und nur als Zuruf, als Appell, zu bedeuten: ein gutes Leben führen, „lebe wohl !“37.

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift III.2.1. Hegel Aber der Anfang soll nicht selbst schon ein Erstes und ein Anderes sein; ein solches, das ein Erstes und ein Anderes in sich ist, enthält bereits ein Fortgegangensein. Was den Anfang macht, der Anfang selbst, ist daher als ein Nichtanalysierbares, in seiner einfachen unerfüllten Unmittelbarkeit, also als Sein, als das ganz Leere zu nehmen. Hegel Wissenschaft der Logik I, S. 75

Die Einleitung bietet dieselbe Konfrontation zweier Herangehensweisen wie das Motto und ist gleichsam dessen zuspitzende Ausformulierung. Wieder wird unmißverständlich Gegnerschaft zur Systemphilosophie bekannt und die Notwendigkeit, Zuständigkeiten für begrenzte Bereiche zu klären, zum eigenen Ziel. Statt einer homogenisierenden Totalität, die alle Bereiche integriert, sind irreduzible Domänen mit spezifischer Grammatik zu behaupten und konturieren38. Der erste Satz ist ein halbseitiges syntaktisches Monstrum, das die Verzettelung, vor der es warnt, gleich vorführt: […] denn wenn [jede speziellere Untersuchung] vergißt, wo sie zu Hause ist, vergißt sie gleichzeitig sich selbst – was die Sprache mit sicher treffender Zweideutigkeit durch dasselbe auszudrücken pflegt -, sie wird eine andere und erreicht eine verdächtige Perfektibilität darin, alles beliebige zu werden. Wenn man es also unterläßt, wissenschaftlich zur Ordnung zu rufen und darüber zu wachen, daß es den einzelnen Problemen verwehrt bleibt, aneinander vorbeizueilen wie bei einem Wettlauf zu einer Maskerade, dann erreicht man zwar manchmal eine gewisse Geistreichigkeit, frappiert manchmal 37

38

Das funktioniert im Dänischen entsprechend: „Levvel“ ist der Imperativ von ‚at leve‘ (leben) und dem Adverb ‚vel‘ (gut, wohl). Immanuel Kants Streit der Facultäten hat ein vergleichbares Anliegen: „Es war kein übeler Einfall desjenigen, der zuerst den Gedanken faßte und ihn zur öffentlichen Ausführung vorschlug, den ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit […] gleichsam fabrikenmäßig, durch Vertheilung der Arbeiten, zu behandeln […]“ Köln 1995, S. 21. Allerdings soll das anders als bei Kierkegaard „nach irgend einem in der Vernunft, wenn gleich nur dunkel, liegenden Princip und darauf gegründetem Plan versucht“ werden (S. 25).

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

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dadurch, daß man schon in Händen hält, wovon man doch sehr weit entfernt ist, trifft manchmal auf lose Worte hin eine Übereinkunft mit dem Verschiedenartigen; indessen rächt sich dieser Gewinn im nachhinein wie alles ungesetzlich Erworbene, das sich weder bürgerlich noch wissenschaftlich besitzen läßt.39

Erneut läßt ein Rückgriff auf die ökonomische Metapher verdeutlichen, wie erzwungene Konvertibilität Wert zunichte macht: Sprache, die begrifflich aufgewertet und verallgemeinert werden soll, ohne Grenzen der Gültigkeit in spezifischen Umständen zu beachten, ist wie eine Mißachtung der geltenden Währungsgrenzen, wie zahlen mit Falschgeld, für das keine Gewähr, keine Deckung, besteht. Geld und fixierbare Wertigkeiten kleiner Elemente ist die falsche Analogie für Sprache und, wie schon Lessings Nathan wußte, für Wahrheit „als ob die Wahrheit Münze wäre!“.40 Wie bei dem von Wittgenstein diagnostizierten Leerlauf sprachspiel- und kontextenthobener Termini, werden die bedeutungsstiftenden Instanzen herausgekürzt, und Sprache aller Wirklichkeitsrelevanz enthoben. Außer Rand und Band allgemeingültig bemächtigen sich abstrakte Begriffe auch dessen, was unbegreifbar und unbegrifflich sich entzieht, sie geben umfassende Konvertibilität vor und verabsolutieren eine spezifische Wertmaßeinheit. Bereits in diesem Vergleich erscheint Sprache ambivalent, sie kann Wert/Bedeutung haben und auch vortäuschen. „Sicher treffende Zweideutigkeit“ ist Symptom dessen und wird in der folgenden Hegel-Polemik nicht nur angeprangert, sondern auch genutzt. Strategisch eingesetzt lassen Doppeldeutigkeiten nämlich geistreiche Überlegungen anstellen: Der Terminus ‚Geist‘41 ruft unmißverständlich Hegels ‚Philosophie des Geistes‘ auf, auch in Fußnoten wird dieser Bezug hergestellt. Allerdings sind geistreich42 eigentlich Witze, damit wird Kierkegaards Rede von der ‚Komik‘ Hegels wegen falscher Proportionen aufgerufen43. Statt eines ernstzunehmenden Referats folgen vier Vorwürfe, die aneinandergereiht präsentiert werden und sich eigentlich auf dänische und deutsche Hegelianer beziehen: 39 40 41 42 43

13/281/317. S. o. Zitat Pap. V B 50. 3. Aufzug, 6. Auftritt, Vers 1869. Für den dänischen Ausdruck Aand/Ånd für Geist gilt das auch. Dänisch: aandrig/åndrig hat ebenfalls die Konnotation ‚brilliant‘, ‚witzig‘. Vgl. UN 2, 57f. / VII, 306. Hier liegt nahe, Pascals Formulierung des „hinkenden Geistes“ zu assoziieren: „D‘où vient qu‘un boiteux ne nous irrite pas et un esprit boiteux nous irrite? A cause qu‘un boiteux reconnait que nous allons droit et qu‘un esprit boiteux dit que c‘est nous qui boitons.“ (Nr. 80 der Pensées, Zählung von Léon Brunschvicg, edition Jean-Claude Lattès, 1988, S. 40. In anderen Zählungen ist es Nr. 98 oder 132.)

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III. Anfang Angst Anapher

1. Anklagepunkt: Hegel meine Wirklichkeit in seiner Logik verhandeln zu können, was aber nur gehe, wenn Zufall ausgeklammert werde. Der aber sei irreduzibel Vigilius zufolge, Zufall lasse sich nicht logisch erklären, weswegen sich Hegel einer Erschleichung durch Verletzung von Grenzen schuldig mache. Jede Überlegung, was Wirklichkeit sei, ist erschwert, ja vielleicht eine Zeitlang unmöglich gemacht, weil das Wort gleichsam erst Zeit benötigt, um sich auf sich selbst zu besinnen, Zeit, um den Irrtum zu vergessen.44

Vigilius macht hier die Worte zu den Protagonisten, die mit Hegels vereinnahmendem und Konfusion stiftenden Zugriff fertigzuwerden haben. Sprache – so wird hier suggeriert – ist Instrument beim Verfolgen verfehlter und vermessener Ansprüche, hat aber gleichzeitig eine Eigendynamik, die den inflationären Verallgemeinerungen zu trotzen scheint und sich letztlich gegen sie zu behaupten vermag. 2. Anklagepunkt: Glaube gehöre in die Dogmatik, werde aber mit Logik vermischt und dort zum Unmittelbaren, das immer schon aufgehoben und vermittelt sei. Anstatt einen früheren Anfang vorauszusetzten, ignoriert sie [Dogmatik] diesen und beginnt frischweg als wie die Logik; denn diese beginnt ja gerade mit dem Flüchtigsten, was die allerfeinste Abstraktion zustande gebracht hat, und das ist das Unmittelbare. Was nun logisch gedacht richtig ist – daß das Unmittelbare eo ipso aufgehoben ist -, das wird in der Dogmatik zu Geschwätz […] 45

Gegen spekulative Religionsphilosophie, die Glauben begrifflich durchdringen will und ihn so zum absoluten Wissen er- bzw. aufheben will, macht Vigilius einen uneinholbaren, immer vorauszusetzenden Anfang geltend. Anfang als Unmittelbares gedacht – und darin ist er einig mit Hegel – läßt sich nur innerhalb von Vermittlung angehen, d. h. nur als bereits aufgehoben überhaupt thematisieren. Genau das wird am Anfang von Hegels Wissenschaft der Logik ausführlich problematisiert und bekommt sogar eine dem eigentlichen Anfang vorausgeschickte Diskussion.46 Ohne dem auch nur eine Anmerkung zu widmen, schlampt Vigilius über das Hegelsche Niveau hinweg und plädiert dafür, zwar nicht gegen Hegel dem Denken ein Unmittelba44 45

46

14/282/318. 14/282/318. Als möglische Zielscheibe dieser Polemik werden im Kommentarband der SKS genannt: Phillipp Marheineke, F. H. Jacobi, H. L. Martensen und Rasmus Nielsen, S. 351. Hegel „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ in Wissenschaft der Logik 1, Frankfurt 1993, S. 65-79. Davor stehen zwei Vorreden und eine Einleitung; so daß auch bei Hegel multiple Anfänge vorliegen.

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

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res als uneinholbare Voraussetzung zu behaupten, aber in der Ethik einen solchen Zustand anzusetzen: die Unschuld. Sie lasse sich nicht begrifflich aufheben, sondern nur durch Schuld verlieren.47 Wieder wäre eine Mißachtung von Grenzen dafür verantwortlich, daß etwas, das es im Denken nicht gibt, schlechthin abgewehrt wird und in einer anderen Disziplin, in der andere Regeln gelten, streitig gemacht wird. Unschuld kann als ethisches Spezifikum und positiver Zustand, dessen Korrelat Schuld ist, nicht zugestanden werden, wenn sie wie Unmittelbarkeit aufgefaßt wird. Die Unschuld ist Etwas, das durch Transzendenz aufgehoben wird, eben weil die Unschuld Etwas ist (wohingegen der treffendste Ausdruck für die Unmittelbarkeit jener ist, den Hegel für das reine Sein gebraucht: Nichts), weshalb dann auch, ist die Unschuld durch die Transzendenz aufgeboben, etwas ganz anderes herauskommt, während die Mittelbarkeit gerade die Unmittelbarkeit ist. Die Unschuld ist eine Qualität, sie ist ein Zustand, der sehr wohl bestehen kann, und deshalb ist das logische Eilen, ihn aufzuheben, ohne Bedeutung; dagegen sollte sich die Unmittelbarkeit in der Logik ein bißchen mehr beeilen, denn dort kommt sie immer zu spät, auch wenn sie die größte Eile hat.48

Auch Johannes Climacus geht nicht wirklich auf Hegel ein, doch bespricht er das Anfangsproblem etwas ausführlicher: Den Anfang des Systems könne man nur durch Reflexion gewinnen. Die aber sei regreßanfällig und bekomme das Unmittelbare nie zu fassen. Reflexionen bilden eine schlechte Unendlichkeit, die das verschwisterte Problem, nämlich das des Endes, mit dem des Anfangs koinzidieren lasse: Die Reflexion müsse gestoppt werden, damit es einen Anfang geben kann. Das gelingt Climacus zufolge nicht im Denken, sondern durch einen Entschluß: Ich fordere einen Entschluß. Und daran tue ich recht, denn nur so kann die Reflexion zum Stillstand gebracht werden. […] Nur wenn der Anfang, an welchem die Reflexion haltmacht, ein Durchbruch ist, so daß der absolute Anfang – durch die unendlich fortgesetzte Reflexion hindurch – selbst hervorbricht, nur dann ist der Anfang voraussetzungslos.49 Wie wäre es, wenn wir also, statt von einem absoluten Anfang zu reden oder zu träumen, von einem Sprunge redeten?50

Bei Hegel heißt es:

47 48 49 50

Allerdings erst in §3 Caput 1 Der Begriff Unschuld 42/307/341 bis 45/309/344. 44f. / 308 / 343. AUN I, 106 / SV VII, 92. AUN I, 108 / VII, 94.

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III. Anfang Angst Anapher

Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich selbst nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich sein soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.51

Auch das Zitat aus Lessings Nathan, in dem die ökonomische Metapher für Wahrheitsangelegenheiten verworfen wird, wird von Hegel aufgegriffen: Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigne Wesen gelten, deren eines drüben, das andre hüben ohne Gemeinschaft mit dem andern isoliert und feststeht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben, und so eingestrichen werden kann.52

Beiden Pseudonymen entgeht, daß bei Hegel allerhand in ihrem Sinne geboten wird und es viele Gelegenheiten gäbe, mit Hegel gegen Hegel die existentiellen Angelegenheiten geltend zu machen. Eine Fußnote bei Climacus verrät, wieso nicht einmal ein minimales Einlassen auf die polemisch erledigte Argumentation geleistet wird: Es würde zu weitläufig werden, hier zu zeigen: in welcher Weise. Oft ist es auch nicht der Mühe wert; denn wenn es einem endlich mühsam gelungen ist, einen Einwand scharf herauszustellen, so entdeckt man an der Erwiderung eines Philosophen, daß das eigene Mißverständnis nicht darin bestand, daß man die vergötterte Philosophie nicht verstehen konnte, sondern vielmehr darin, daß man sich hatte überreden lassen zu glauben, daß das Ganze wirklich etwas sei – und nicht nur ein oberflächliches Denken ohne rechten Zusammenhang, getarnt durch die anmaßendsten Ausdrücke.53

Verbale Falschmünzerei und suggestiv eingesetzte große Worte täuschen darüber hinweg, daß der einzige menschenmögliche Anfang sich vorfindet, also nicht aus einer eigenen Setzung hervorgehen kann. Nur in den Papirer entwirft Kierkegaard einen solchen ‚dänischen‘ Anfang und läßt ihn mit einem Zitat des allerberühmtesten (aber doppelt toten) Dänen beginnen, der auf das inter-esse verweist und dem Unbegreiflichen Geltung verschaffen will: Die dänische Philosophie, wenn einmal die Rede von einer solchen werden könnte, wird darin von der deutschen verschieden sein, daß sie nicht mit nichts beginnt, oder ohne irgendeine Voraussetzung, oder alles dadurch erklärt, daß sie es vermittelt, da sie mit dem Satz beginnt: daß es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die kein Philosoph erklärt hat. Dieser Satz wird dadurch, daß er in die Philosophie aufgenommen wird, das gebührende Korrektiv abgeben und zugleich eine humoristisch-erbauliche Bewegtheit über das Ganze werfen.54 51 52 53 54

A. a. O., S. 68. S. 30 der kritischen Edition Der Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1980. AUN I, 104 / SV VII, 91. Pap. V A 46. Mehr zu Hamlet s. u. Teil V.2.

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

155

Zum 3. Anklagepunkt: ‚Vermittlung‘ (bzw. ‚Synthese‘ oder ‚Mediation‘) werde mit ‚Versöhnung‘ kurzgeschlossen um letztere durch denkerische Operationen erwirken zu können. (Das liegt u. a. daran, daß Hegels dialektische Synthese in dänischen Kontexten oft mit ‚Forsoning‘ (= Versöhnung) übersetzt wird, wodurch eine neue verfängliche Doppelheit entsteht.) Wieder gehe das nur durch geistreiche Grenzverletzungen zwischen Dogmatik, Logik und Ethik, wodurch Scheinlösungen erzielt werden. […] daß er [der Autor] mit Hilfe dieser Geistreichigkeit sämtliche Rätsel gelöst hat, insbesondere für all jene, die nicht einmal in der Wissenschaft so vorsichtig sind, wie man es doch im täglichen Leben ist, wo man sich die Wörter des Rätsels erst genau anhört, bevor man es rät.55

Wieder wird Alltagssprache und der Klang der Rede zum empfohlenen Gegenmittel gegen spekulative geistreiche Vereinnahmungen und unredliche Kurzschlüsse eines totalen Erfolges willen. Die Sprache wird vermutlich ein großes Sabbatjahr halten müssen, man muß das Reden und Denken ruhen lassen, damit man am Anfang beginnen kann.56

Konsequenterweise bleibt unausgeführt, wie sprachloser Anfang gehen soll, denn genau darin liegt ein weiteres, auch nur in den Papirer namhaft gemachtes Argument: In der Sprache habe die Spekulation „ein Medium, das sie sich nicht selbst gegeben hat“ weswegen es ihr vorausgesetzt sei. Sprache sei „teils das ursprünglich gegebene, teils das sich frei entwickelnde.“57 Unvermittelt folgt der nächste und letzte Anklagepunkt: Das ‚Negative‘ werde mißbraucht, um Logik dialektisch beweglich zu machen. Gleichzeitig werde es mit dem Bösen (damit einer ethischen Größe) verwechselt und Vehikel für Transzendenz. Anstatt der Logik eine offene Stelle einzuräumen für ein Phänomen, dessen sie nicht mächtig ist, werde sie dadurch pervertiert, daß sie in vermeintliche Bewegung gebracht werde. Jede Bewegung, sofern man einen Augenblick lang diesen Ausdruck gebrauchen will, ist eine immanente Bewegung, und das heißt im tieferen Sinn keine Bewegung; davon wird man sich unschwer überzeugen, wenn man bedenkt, daß der Begriff Bewegung selbst eine Transzendenz ist, die in der Logik keinen Platz finden kann.58

55 56 57 58

15/283/318. 16/284/320. Pap. III A 11. 17/285/320.

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III. Anfang Angst Anapher

Da hilft dann das Negative, und wenn das Negative nicht helfen kann, dann können es Wortspiele und Redensarten, so als wäre das Negative selbst ein Wortspiel geworden.59

Wenn Worte zu Begriffen nicht taugen und ineffektiv in ihrer Referenzleistung geworden sind, täuscht die klangliche Ebene darüber hinweg und suggeriert noch dort Sinn, wo Sprache leerläuft.60 In Caput I,2 macht Vigilius vor, wie in einem Kinderreim Klänge zu einem Wortspiel Anlaß geben, das einen Zusammenhang vorgaukelt und so erschleicht: Pole ein Meister, Pole zwei Meister---Polizeimeister- da ist es ja, und zwar ganz natürlich durch das Vorhergehende hervorgekommen.61

Durch ähnlich sprachliche Spielereien komme Hegel vom Sein zum Wesen, was Vigilius in einer Fußnote karikiert62: nur durch das Präteritum solle ein logischer Zusammenhang vorgegaukelt werden. Ein durch kursiven Druck hervorgehobenes „ergo“ täuscht konsequente Beweisführung deutlich markiert vor, es verbindet Disparates auf groteske Weise und karikiert die unterstellte pseudo-dialektische Aufhebungsbewegung. In derselben Fußnote vermutet er im Hegelschen Denken faule Tricks und Täuschungsmanöver, die Bewegtheit vorgaukeln: Wollte sich ein Mensch der Mühe unterziehen, in der Hegelschen Logik […] sämtliche märchenhaften Heinzelmännchen und Kobolde, die als eifrige Gesellen der logischen Bewegung vorwärtshelfen, anzuhalten und zu sammeln, dann würde eine spätere Zeit vielleicht erstaunt erfahren, daß jene abgedankten Witze, als die sie dann dastehen werden, in der Logik einmal eine große Rolle spielten – nicht als beiläufige Erklärungen und geistreiche Bemerkungen, sondern als Bewegungsmeister, die aus Hegels Logik ein Wunder machten und dem logischen Gedanken Füße zum Laufen gaben […]

Vigilius beschließt die Tirade gegen Hegel als „ausführlich genug“, wohl wissend, daß er weit davon entfernt ist, sich argumentativ am Text arbeitend auseinandergesetzt zu haben. Die von Hegel geforderte ‚Anstrengung des Begriffs‘ bleibt er deswegen schuldig, weil sie

59 60

61

62

16/284/320. Vgl. Peter Fenves zum Begriff Angst in: „Chatter“ Language and History in Kierkegaard, pp. 64-112. „The Concept of Anxiety is enrolled in an „enlightenment“ project: the dispelling of magic wherever it may appear, including in the exalted realm of science“ (p. 71) „Nowhere is the grasp of „Kant‘s scepticism“ stronger than in The Concept of Anxiety. For this scepticism, like all scepticism, denies the ability of concepts to grasp everything […]“ (p. 69). 39/304/339. Das dänische Wortspiel funktioniert genauso, der Effekt bleibt in der Übersetzung. 16/284/320.

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

157

seiner Ansicht nach auf strategische Ausbeutung von Zweideutigkeiten und Wortspielen beruht. Es hieße, falsche Kompromisse einzugehen und sich durch den Mitvollzug bereits eben derselben Geistreichigkeit schuldig zu machen, der es zu widerstehen gilt. Vigilius und Kierkegaard geht es nicht um die Leistung Hegels, deren Größe unbestritten ist. In einer Tagebuchaufzeichnung wird das explizit, aber mit dem Vorwurf verbunden, einen falschen Anspruch zu erheben. Es ist auch hier das Vorwort, das den Status zu bekennen hat und in Kierkegaards Augen bei Hegel maßlos überheblich ist. Hätte Hegel seine ganze Logik geschrieben und im Vorwort geschrieben, daß es sich nur um ein Gedankenexperiment handelt, in welchem er sich an vielen Stellen vor etwas gedrückt habe, so wäre er der größte Denker geworden, der gelebt hätte. Nun ist er komisch.63

Die vier Anklagepunkte reiht Vigilius aneinander, sie sind jeweils durch (Gedanken-, Binde- ?) Striche voneinander getrennt bzw. miteinander verbunden. In allen geht es darum, daß alles im Denken vereinnahmt wird, was nur gelingen kann, wenn unredlicherweise Grenzen verletzt und umfassende begriffliche Konvertibilität hypostasiert und forciert wird. Eine entsprechende Argumentation wird nicht geboten, die vier Punkte sind Beispiele, Fälle, die mit Ausnahme des letzten durch dieselbe Wendung eingeleitet werden. Diese Wendung „naar man saaledes“64 läßt sich übersetzen mit ‚wenn man so‘ (und dann folgt der Anklagepunkt) wobei das ‚so‘ eine Art und Weise, aber auch eine logische Konsequenz indizieren kann (aufgrund der Bestandteile saa ledes, wörtlich: so führt das, folglich).65 Eine uneingeleitete Reihung ersetzt einen systematisch elaborierten Zusammenhang; die Striche und sogar die Wörter lassen unklar, welcherart die Verknüpfung zwischen den vier Punkten ist. Durch die Auswahl der Zitate habe ich die Aufmerksamkeit darauf zu lenken versucht, daß in allen vier Anklagepunkten Sprache eine Scharnierfunktion zukommt, wenngleich die als solche nicht herausgearbeitet oder prominent plaziert präsentiert wird. Wie deutlich wurde, ist die Beurteilung zweideutig: Abwechselnd in Eigendynamik, die sich der unabsorbierbaren Wirklichkeit verdankt, und als strategisch einsetzbares Instrument des spekulativen Systems akzentuiert, ist Sprache 63 64 65

Pap. 44 V A 73 / T 1, 338. 13/282/317; 14/283/318. Gisela Perlet übersetzt in der Reclam-Ausgabe mal mit ‚solcherart‘, mal mit ‚also‘; sie bringt beide Aspekte abwechselnd und versucht so den beiden möglichen Bedeutungen Rechnung zu tragen.

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III. Anfang Angst Anapher

sowohl Organ und Komplize der Verwirrung als auch des Aufschlusses, Symptom des Falls und Versprechen der Versöhnung, welches aber in der falschen ‚Grammatik‘ zur Täuschung und zum neuen Fall wird.

III.2.2. Gegengift: ‚grammatische Klärungen‘ I Marginen: med æstetisk Colorit og Observationens skarpe Conturer66

Ohne Absatz folgt auf die Hegelpolemik ein Abschnitt, der einen klassischen Einleitungstext bietet und das Anliegen des Buches vorstellt. Nach der spekulativen Selbstüberschätzung und Mißachtung von Grenzen, die sich als monströse und amorphe Reihung von Anmaßungen wie ein philosophischer Fall lesen läßt, folgt der eigene Anfang jetzt erst, mitten in der Einleitung: Die vorliegende Schrift hat sich zur Aufgabe gestellt, den Begriff ‚Angst‘ psychologisch abzuhandeln, und zwar in einer Weise, daß sie das Dogma von der Erbsünde in mente und vor Augen hat. Insofern bekommt sie es auch, wenngleich schweigend, mit der Sünde zu tun.67

Folglich hält die Sprache nun tatsächlich ein ‚Sabbatjahr‘: Ein Dogma steht zur Debatte, doch muß der eigentliche Gegenstand psychologisch angegangen und deshalb verschwiegen werden. Wieso das so sein muß, und wie das funktioniert, bleibt der Text zunächst schuldig, das ‚insofern‘ ist ein uneingelöstes Versprechen. Zunächst werden möglicherweise in Frage kommende wissenschaftliche Disziplinen im einzelnen aufgeführt und abgewimmelt. Durch das Verfahren negativer Exklusion räumt Vigilius eine freie Stelle ein, um die sein ganzer Text geht, die er aber nie so besetzt, daß sie handhabbar wäre, sondern immer wieder und immer neu provoziert und scheiternd erleben läßt.68 Gleich vorweg und danach immer wieder die Pointe: Die Sünde hat ihren bestimmten Platz, oder richtiger: sie hat gar keinen, und das ist ihre Bestimmung. Behandelt man sie an einem anderen Ort, dann verändert man sie,

66

67 68

Pap. V B 49, 16, Randbemerkung zur ‚Stimmung‘ des ganzen Texts aus den Entwürfen, nicht in die Druckfassung aufgenommen. 18/286/321. Allenfalls in einer für die Publikation gestrichenen Stelle hält Kierkegaard es für möglich, „mit der Versöhnung anzufangen“ und so „indirekt Sündigkeit erklären“ zu können. Pap. V B 53, 17.

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

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indem man sie in eine unwesentliche Reflexionsbrechung eingrenzt. Ihr Begriff wird verändert und damit zugleich jene Stimmung zerstört, die als die rechte dem richtigen Begriff entspricht, und man bekommt statt der Beständigkeit der echten Stimmung das flüchtige Gaukelspiel der unechten Stimmungen.69

Was ich bisher in Anlehnung an Wittgenstein als ‚Grammatik‘70 bezeichnet habe, wird hier Kierkegaardspezifisch erweitert: Bei Wittgenstein gehören dazu alle Faktoren, die Sprachkompetenz ausmachen und nicht nur solche, die linguistisch als regelhafte Struktur beschreibbar sind, also die für das Verständnis einer Äußerung relevanten Praktiken und die kontextuelle Lokalisierung des Sprachspiels im topographischen Ensemble.71 Darüberhinaus involviert Kierkegaard auch den Adressaten und die ‚Stimmung‘. Bereits bei der Besprechung Hegels war aufgefallen, daß es sich nicht um eine um Wertfreiheit bemühte Deskription handelt, die normative Implikati69 70

71

19/286/322. ‚Grammatik‘ gehört zu den einschlägigen Vokabeln in der Wittgenstein-Forschung, auf deren Subtilitäten ich nicht eingehe, weil an dieser Stelle nur die Kierkegaardsche Anverwandlung, besser: Antizipation, eines ähnlichen Procedere zur Debatte steht. Ich könnte auf viele Erläuterungen zur Grammatik bei Wittgenstein in der Sekundärliteratur verweisen und nenne nur Newton Garver „Philosophy as Grammar“ in The Cambridge Companion to Wittgenstein, 1996, pp. 139-170. In diesem Aufsatz wird nachgezeichnet, wie ‚Grammatik‘ die Rolle der Logik im Tractatus übernimmt und welche linguistischen, metaphysischen, naturgeschichtlichen und kritischen Potentiale sie hat. Lee Carlton Barrett (Sin and Self-Identity. Two Responses to Kant, Dissertation Yale 1984, p. 203) vergleicht Vigilius‘ Methode mit der der analytischen Philosophen (er nennt Wittgenstein, Ryle, Winch), ohne das für die eigene Argumentation zu nutzen. Er weist darauf hin, daß (auch in AUN II und Einübung im Christentum Teil 2) eine grammatische Klärung von Sünde vorgenommen wird, so daß religiöse Termini in ihrer „Heimat“ (PU 116) verbleiben, wo das spezifische Funktionieren zu verfolgen ist. Anders bei Kant und Müller, die die christliche Spezifik der Erbsünde zugunsten einer allgemeinen Anthropologie vernachlässigen. Entsprechendes gilt für Taten der Liebe, dazu vgl. Robert C. Roberts „Kierkegaard, Wittgenstein, and a Method of „Virtue Ethics““ in Kierkegaard in Post/Modernity; eds.: Westphal/Matustík, Indiana 1995, bes. pp. 148ff. H. J. Schneider legt Wert darauf, Wittgensteins Verständnis von Grammatik nicht im Sinne eines Regelwerks zu verstehen, welches auf linguistischer Basis Wort-Gruppen einteilt und Verknüpfungsmöglichkeiten beschreibt. Vielmehr sei Wittgensteinsches Spezifikum, daß ein solches ‚Gerüst‘ bei jeder Anwendung einem der (syntaktischen) Metapher vergleichbaren Übertragungsprozeß unterliege und sich deshalb nicht in Regelbeherrschung erschöpfe. Vielmehr sei gerade die nicht regelhaft beschreibbare Verwendungskompetenz ausschlaggebender Faktor für variantenreichen Gebrauch und vielerlei Funktionsweisen. „Wittgensteins Begriff der Grammatik und das Phänomen der Metapher“, in Metapher. Kognition. Künstliche Intelligenz, München 1996, S. 13-31.

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III. Anfang Angst Anapher

onen erkennen läßt, sondern darum, alle Arten der Theoretisierung als verfehlte, weil verzerrende und von der akuten Dringlichkeit im eigenen Leben ablenkende, abzuweisen. Man müsse, so heißt es in den Papirer, eine „Inlandsreise“72 unternehmen, um diesem Phänomen beizukommen. Für die Sünde gilt, daß sie höchst kontextsensitiv ist und je nach Disziplin, in der man sie zum Thema macht, anders verhandelt wird73. Es läßt sich keine feste, definitorisch sicherbare und eindeutig codierte Bedeutung angeben. Dies ist Vigilius‘ Hauptargument, demzufolge alle wissenschaftlichen Fachrichtungen eine falsche Grammatik bieten, vor allem, weil sie distanziert und uninteressiert sind: Eigentlich ist die Sünde in keiner Wissenschaft zu Hause. Sie ist Gegenstand der Predigt, wo der Einzelne als Einzelner zum Einzelnen spricht.74

Folgt man Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen, „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“75, so hat die ortlose Sünde kein wissenschaftliches Wesen, dafür aber einige unangemessene, verfehlte ‚Wesen‘, Un-Wesen sozusagen, für die „Fehler in der Modulation“76 namhaft zu machen seien. Wenn Vigilius die Predigt als passendes Genre nominiert und wie Climacus die Aneignung zur einzig relevanten Größe macht, rückt er die der Sünde angemessene Redeweise außerhalb des Regulierbaren, nämlich in die Nähe der sokratischen Gesprächskunst – und weg von seinem eigenen Text. Was Sokrates an den Sophisten tadelte, indem er auseinanderhielt, daß sie wohl sprechen, nicht aber ein Gespräch führen konnten, war eigentlich, daß sie über jedes Ding

72 73

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75 76

Pap. V B 47, 13. Stanley Cavell beschreibt es als “dialectical examination“, wenn ein Begriff sich je nach Kontext und Stanpunkt des Sprechers anders ausmacht. Auch Cavell sieht – mit Bezug auf das Buch über Adler (s. u. mein Teil V.4.) – Kierkegaards Verfahren als wittgensteinsch an, als grammatische Klärung. „Kierkegaard‘s On Authority and Revelation“, in Must we mean what we say? New York 1969. 20/288/323. Dietz (a. a. O., S. 264f.) betitelt ein Unterkapitel mit „Homiletik als der rechte Ort des Redens von der Sünde“, um eine positive Bestimmung zu leisten. In einer Fußnote ist ihm klar, daß auch das Reden über die Sünde nicht das sei, worum es gehe und verweist auf die erbaulichen Reden, sowie auf die Forderung nach Aneignung. Damit spaltet er das Kierkegaardsche Anliegen in ein wissenschaftliches und ein privat-persönlich-religiöses. PU 371. Kursivdruck von Wittgenstein. 19/287/323. Die Rede von ‚Stimmung‘ und ‚Modulation‘ erweitern die für Semantik brisanten Aspekte um die klangliche, musikalische Seite jeder sprachlichen Äußerung, die Intonation. Dazu mehr s. u. (dän. Stemning und Bestemmelse enthalten ‚stemme‘ (=Stimme) wie dt.: Stimmung und Bestimmung)

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

161

vieles zu sagen wußten und ihnen doch das Moment der Aneignung fehlte. Die Aneignung ist gerade das Geheimnis des Gesprächs.77

Man sieht einem Wort nicht an, ob es religiöse Relevanz hat, es sei denn, dies zeigt sich in der Lebenspraxis. Erst die Rolle einer Äußerung in der jeweiligen Lebensform vermag sie als religiös zu qualifizieren, nicht aber die allgemeine und semantische Ebene. Im wissenschaftlichen Kontext werden religiöse Themen zu deskriptiven Aussagen, während sie in erster Person geäußert Bekenntnischarakter haben können, Appelle oder Lebensmotti sein können. Dann fungieren sie als Felsen allen Fürwahrhaltens und haben den Status einer weltbildtragenden Gewißheit (dazu mehr im nächsten Teil). Wie Sünde in der Ethik keinen Platz hat, diskutiert Vigilius ausführlicher und bezieht in einer langen Fußnote78 die Vorgängerpseudonyme Johannes de silentio (Furcht und Zittern) und Constantin Constantius (Wiederholung) ein. Ethik habe es mit Idealen zu tun, die es zu verwirklichen gelte, was aber unmöglich sei, da die Wirklichkeit nie ideal werde. Das läge daran, daß – wie bei der Maieutik – die Bedingungen für das Gelingen nicht mehr gegeben seien. Dagegen sei auch Reue machtlos, weil sie nur im Rahmen des menschlichen Verfehlens, also Schuld, kompensieren könne. Ein Sünder hingegen verstoße nicht mit einer schlechten Entscheidung gegen das als gut akzeptierte Gesetz, sondern habe kein unverdorbenes Verhältnis zum Guten mehr. Diesen Mißstand könne nur Gott beheben. Dies ist gut mit einer Parallele zu Kant plausibilisierbar und sogar wahrscheinlich davon (mindestens) inspiriert79, nämlich durch die Auffassung von der ‚Natur des Menschen‘, wie sie im ersten Stück der 77 78

79

21/288/323. Bezeichnenderweise eröffnet Kierkegaard immer wieder in den Fußnoten NebenSchauplätze, in denen die zeitgenössische Diskussion thematisch wird: Argumentative Auseinandersetzung findet viel in Neben-Texten, Unter-Texten, HintergrundTexten (nachgelassenen Papieren und Tagebüchern) statt. Unbedingt empfehlenswert zu Kierkegaard und Kant ist Ronald M. Green The Hidden Debt, Albany 1992: Green hatte bei der Lektüre von Kierkegaards BA ein nachdrückliches déjà-vu-Erlebnis bzgl. Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Sowohl im Aufbau, als auch in den Inhalten, sogar bis in die Formulierungen hinein gingen Parallelen zwischen Kierkegaard und Kant, die fast immer unausgewiesen blieben. Green beschreibt die Arbeit an seinem Buch als ‚detective story‘ und argumentiert, daß der tiefe Einfluß Kants von Kierkegaard systematisch verschwiegen worden sei. Auch an den Stellen, wo Kierkegaards eigener Ansatz von Kants abweiche, hinterlasse eine Kenntnis der Religionsschrift (und des Streit der Facultäten) Spuren. Besondere Nähe betreffe die Sündenproblematik. Ich werde auf diese Arbeit zurückkommen.

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III. Anfang Angst Anapher

Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft diskutiert wird: Jede Handlung bemißt sich an der vor allen Einzeltaten angenommenen Maxime. Diese ist gut, wenn sie das moralische Gesetz in sich aufnimmt, und böse, wenn andere Triebfedern zu den maßgeblichen gemacht werden. Das Hauptproblem besteht darin, die ‚Gesinnung‘, die sich in der Annahme der Maxime zeigt, gleichzeitig als ‚natürlichen Hang‘ zu verstehen und für zurechenbar zu halten, also einerseits eine biologische Akzentuierung vorzunehmen, aber dafür Autonomie nicht preiszugeben. Damit bewegt sich Kant genau im Widerspruch der Erbsündenproblematik – allerdings nicht aus theologischem Interesse: Er braucht ein radikal Böses, weil seine Moralphilosophie Autonomie und gutes Handeln amalgamiert und so unfrei werden läßt. Zudem sprechen die faktisch vorkommenden bösen Taten Kants kategorischem Imperativ Hohn.80 Kant kam in Schwierigkeiten mit der Zensur, weil er der Religion einen eigenen Beitrag über Moralphilosophie hinausgehend abstritt und nur deren Vernunftwahrheit, nicht aber Offenbarungswahrheit, für wesentlich hielt. Wie schon der Titel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft indiziert, vertritt Kant einen aufgeklärten moralischen Theismus, der die Ethik zum Maßstab religiöser Wahrheit macht. Dies ist bei Kierkegaard nicht so: Die Sünde ist der Fall, an dem die Ethik sich als machtlos erweist und von einem Problem infiziert ist, das sie nicht mit eigenen Mitteln beheben kann: Im Kampf für die Realisierung der ethischen Aufgabe erscheint die Sünde nicht als etwas, das nur zufällig einem zufälligen Individuum gehört, sondern als eine immer tiefer werdende Voraussetzung, die sich tiefer und tiefer entzieht, als eine Voraussetzung, die über das Individuum hinausgeht. Jetzt ist für die Ethik alles verloren, und sie hat selbst dazu beigetragen, alles zu verlieren. Es ist eine Kategorie zum Vorschein gekommen, die vollkommen außerhalb ihres Umkreises liegt.81

Deshalb bedarf sie einer Ergänzung durch die Dogmatik, denn die setzt an mit der Wirklichkeit der Sünde, als unerklärte und unerklärbare Voraussetzung, die (im Nachhinein) gewußt werden kann. Daher wird die Dogmatik die Erbsünde nicht erklären, sondern sie erklärt sie, indem sie sie voraussetzt, vergleichbar mit jenem Wirbel, von dem die griechische Naturspe-

80

81

Vgl Christoph Schulte radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988. Außerdem: Henry E. Allison Kants Theory of Freedom, Cambridge 1990. 23f. / 291 / 325f.

III.2. Die Einleitung: Gift und Gegengift

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kulation verschiedentlich sprach, als einem bewegenden Etwas, das keine Wissenschaft erfassen kann.82

Die Sünde bleibt auch als wirkliche und aller Ethik vorausgesetzte jenseits von aller Plausibilisierung, sie ist hier ein Wirbel, d. h. unkalkulierbar, nicht kontrollierbar und nur als Grundvoraussetzung hinzunehmen. Sie übernimmt die Rolle des Fundaments, ist aber kein bißchen stabil und verläßlich, sondern affiziert sowohl meine Denkvermögen als auch Urteilsvermögen. Als maßgebliche Größe des ‚inter-esse‘ nimmt sie den Platz des in der metaphysischen Tradition zu suchenden sicheren Ausgangspunktes ein und funktioniert das Gegebene zu einer Aufgabe um, die darin besteht, die Spannung zwischen der ethischen Forderung und der Unfähigkeit, sie umzusetzen, auszuhalten. Genauso, wie das souveräne und autonome Selbst sich als widerspruchsvolles Relationsgefüge wiederfindet, ohne die Struktur, die es konstituiert, zuverlässig regeln zu können, ist seine Freiheit zu guten Taten kontaminiert. Der Spielraum für Freiheit und Verantwortung spielt sich in einer Dynamik des Falls und wieder Fallens ab. Um eine Ethik, die anders als die Antike die Sünde als Wirklichkeit mitberücksichtigt, also mit einer dogmatischen Voraussetzung ansetzt, von der griechischen unterscheiden zu können, führt Vigilius die Distinktion zwischen erster und zweiter Ethik ein: Aristoteles hat bekanntlich den Ausdruck πρτη φιλοσοφ α gebraucht und damit am ehesten das Metaphysische bezeichnet, obgleich er auch mehreres aufnahm, was nach unseren Begriffen in die Theologie gehörte. Daß man im Heidentum die Theologie auf solche Art behandeln mußte, war vollkommen in seiner Ordnung; der gleiche Mangel an unendlicher Durchreflektiertheit hat auch bewirkt, daß im Heidentum das Theater als eine Art Gottesdienst Realität besaß. Will man nun von dieser Zweitdeutigkeit abstrahieren, dann könnte man die Bezeichnung πρτη φιλοσοφ α beibehalten und darunter eine wissenschaftliche Totalität verstehen, die sich die heidnische nennen ließe, deren Wesen die Immanenz oder, griechisch gesprochen: die Erinnerung ist, und unter secunda philosophia verstünde man dann jene, deren Wesen die Transzendenz oder die Wiederholung ist.83

In meinem Anfangskapitel war bereits angeklungen, daß in der griechischen Welt die Anamnesis funktionieren konnte, d. h. Idealität ist durch Erinnerung in die Wirklichkeit zu bringen. Statt der erinnernden Integration muß unter christlichen Voraussetzungen ein neuer 82 83

25/292/327. Vigilius nimmt Bezug auf Demokrit. 26/293/328f. Kursivdruck ist übernommen. Mit Verweis auf Pap. III C 27 wird im Kommentarband K4 der SKS (S. 378) an Kierkegaards Schelling-Mitschriften erinnert, wo von secunda philosophia mit Blick auf Schellings Identitätsphilosophie die Rede ist.

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Anfang gemacht werden, der nicht nur die ideale Forderung erkennt, sondern auch einsieht, daß die Wirklichkeit für sie verdorben und auf eine Wiederholung, die Transzendenz ist, angewiesen ist.84 Bemerkenswert ist, daß Vigilius Transzendenz in die Philosophie holt, und ein Projekt anlegt, das sowohl an die metaphysische Tradition als auch an eine christliche Spezifik anknüpft. An solchen Stellen wird deutlich, daß besonders in der Gegenüberstellung von Glauben und Philosophie letztere einen Kampfausdruck gegen Hegelianismus darstellt und sich gegen die Fundierungslogik der traditionellen Metaphysik richtet. Die Bewunderung für Sokrates und die Nähe zu Wittgenstein lassen zeigen, daß es auch andere philosophische ‚Stile‘ gibt, die Kierkegaard weniger verwirft, als vielmehr selbst vertritt.85 So ist zu bemerken, daß die ‚zweite Ethik‘ nicht erklärt, wie es zum Fall kommen kann, also weder logisch noch kausal plausibilisiert: Der Begriff Sünde ist eigentlich in keiner Wissenschaft zu Hause, nur die zweite Ethik ist imstande, ihre Offenbarung, nicht aber ihre Entstehung zu behandeln.86

Als letztes wird die Zuständigkeit der Psychologie geklärt, sie kann zwar das Entstehen der Sünde erklären, aber nicht deren Wirklichkeit: Die Psychologie kann damit beschäftigt sein und sich damit beschäftigen, wie die Sünde entsteht, nicht daß sie entsteht. Sie kann es mit ihrem psychologischen Interesse so weit bringen, daß es so aussieht, als wäre die Sünde da, doch zum Nächsten, daß sie da ist, besteht ein qualitativer Unterschied.87

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Eine lange Fußnote auf den Seiten 22-24/289-291/324-327 weist darauf hin, daß in der Wiederholung die für die Sündenproblematik entscheidende Struktur bereits vorgezeichnet sei, aber nicht religiös eingelöst werde. Vigilius zitiert Constantin: „Die Wiederholung ist das Interesse der Metaphysik und gleichzeitig jenes Interesse, an dem die Metaphysik scheitert; die Wiederholung ist das Losungswort jeder ethischen Anschauung; die Wiederholung ist die conditio sine qua non für jedes dogmatische Problem.“ Hier wie an anderen Stellen, an denen dieses Thema bereits vorkam, wird deutlich, daß Kierkegaards Wiederholung sich in wichtigen Punkten von Nietzsches ‚ewiger Wiederkehr des Gleichen‘ unterscheidet. Insofern ist die Einleitung von Gilles Deleuzes Differenz und Wiederholung, München 1992 (Paris 1968), unglücklich, denn dort werden Kierkegaard und Nietzsche vor allem parallelisiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede diskutiert N. N. Eriksen im 6. Kapitel von Kierkegaard‘s Category of Repetition. A Reconstruction, Berlin/New York 2000. Wie Glauben und Philosophie sowohl bei Kierkegaard als auch bei Wittgenstein in weitestgehende Nähe rücken, so daß Philosophie zu einer epistemologischen Art von Glauben wird, ist in meinem Teil IV.2. 2 Thema. 26 / 293f. / 329. 27/294/329.

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So gesehen leistet jede Disziplin ihren Beitrag zum Thema Sünde, aber keine von ihnen ist erschöpfend. Die negative Exklusion mit dem Ziel, das Thema der Abhandlung als unerklärbar herauszustellen, ist nicht nur destruktiv, sondern gibt dem Ansatz von Vigilius eine Lokalisierung: Als ‚psychologisch-hinweisend‘ ist die Möglichkeit der Sünde die Akzentuierung, wobei ‚tendenziell‘ die dogmatische Berücksichtigung der wirklichen Fälle mitbeachtet werden soll. Vigilius trägt einerseits der ostentiv behaupteten Unerklärbarkeit Rechnung, geht aber in zwei ‚Grammatiken‘ so weit, wie diese es erlauben. Bereits im Kapitel zu Hegel war deutlich geworden, welchen Umfang die Geisteskrankheiten dieser Psychologie umschreibt und daß der eigene Text davon affiziert wird. Jede Abhandlung ist entweder zu spät oder zu früh, hat mit einem Regreß bei gleichzeitigem Progreß zu tun, und – so wird sich noch konkretisieren – ist als pseudo-Anfang Symptom dessen, was sie nicht umhin kann, auch als eigene Voraussetzung zu haben: Den schlechten Anfang schlechthin, Sündenfall. Dies war die Aufgabe der Einleitung. Das mag richtig sein, während die eigentliche Überlegung zum Begriff Angst vollkommen falsch sein kann. Ob das so ist, muß sich zeigen.88

Noch eine Verabschiedung, wieder ein Bruch. Vigilius spricht seiner Einleitung einleitende Funktion ab, es ist kein System angestrebt, zu der sie gehören könnte, es gibt kein eigentliches Ganzes und keine in Anspruch genommene Beziehung zum Leser. Wie die in den Vorworten isoliert publizierte geplante Vorrede emanzipiert er sie vom „Buch“, vom Eigentlichen, gibt sie auf. Gleichwohl wird eine stimmige Beziehung zum Thema nicht ausgeschlossen, „sich zeigen“ greift den Untertitel auf und steht in markiertem Kontrast zum sagenden Gestus, wie man ihn in Traktaten zu dieser Thematik erwartet. Tatsächlich muß dieser Text wie jedes zeigende Zeichen seine Wirksamkeit in der Applikation unter Beweis stellen und kann das Glücken nicht garantieren.

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29/296/331.

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III. Anfang Angst Anapher

III.3. Caput I §1: Die Anfänge der theologischen Traditionen Wenn man die Zeit der Dogmatik und Ethik und seine eigene so oft mit der Überlegung verschwendet hat, was denn geschehen wäre, wenn Adam nicht gesündigt hätte, dann beweist dies lediglich, daß man eine falsche Stimmung und also auch einen falschen Begriff mitbringt. Der Unschuldige kann niemals auf eine solche Frage verfallen, und wenn der Schuldige sie stellt, dann sündigt er; denn er will in seiner ästhetischen Neugier ignorieren, daß er selbst die Schuldigkeit in die Welt gebracht, selbst die Unschuld durch Schuld verloren hat. BA 44 / 308 / 342f. „Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.“ „Das ist richtig“, sagte der Geistliche, „aber so pflegen die Schuldigen zu reden.“ Kafka Der Prozeß

Kierkegaard ist konform mit der traditionellen Dogmatik, allerdings – so heißt es in einer Tagebuchaufzeichnung – müsse man etwas daraus machen89. Sie sei wie ein „trylleslot“, ein verwunschenes Schloß, bewohnt von „herrlichsten Prinzessinnen und Prinzen, die es aufzuwecken und wiederzubeleben“90 gelte, so an anderer Stelle. Handelt es sich bei der Prinzessin um die Erbsünde, so ist der wachküssende Held mit Vorläufern und Mitstreitern konfrontiert, die eine Kontroverse aufgemacht haben, welche erst im Jahr 1999 mit einem Konsens beigelegt wurde. In seinem ersten Paragraphen91 des ersten Kapitels, das er in Gelehrtenlatein ‚Caput‘ nennt, also Anfang, Kopf und Hauptstadt, widmet er sich den theologischen Positionen zur Erbsünde. Das Spannungsfeld dieser Debatten ist durch zwei extreme Positionen aufgemacht, deren eine Sünde wie ein biologisches Merkmal vererben läßt, so daß nur Adam die Wahl zwischen gut und böse hatte. Stark simplifizierend und in gebotener Kürze will ich diese Position auf Paulus zurückführen und mit Augustin in Verbindung brin-

89 90 91

Pap. X 3 A 635 (1850). Pap. II A 110 (1837), meine Übersetzung. 31/297/332. Untertitel: „Historische Andeutungen in Hinblick auf den Begriff der Erbsünde.“

III.3. Caput I §1: Die Anfänge der theologischen Traditionen

167

gen.92 Der Fall und die Konsequenz, nämlich die Vertreibung aus dem Paradies, ist dann ein nachhaltiges Verderbnis des gut geschaffenen Seins („privatio boni“), so daß die gesamte Menschheit zum Kandidaten für Versöhnung („massa damnationis“) wird. Sünde als kollektives Verhängnis läßt sich nur durch den Kreuzestod Jesu retten, weswegen die Christologie als Korrelat in der Erbsündenlehre herausragende Bedeutung gewinnt. Problematisch daran ist, daß Sündigkeit als vererbte und angeborene nicht zurechenbar ist, sondern schicksalhaft und unausweichlich „non posse non peccare“; der Gewinn ist eine heilsgeschichtliche Struktur. Die Gegenposition ist die der Pelagianer: sie erkennen jedem Menschen eine freie Entscheidungsfähigkeit zu, so daß man durch gute Taten seine Erlösung befördern kann und nicht nur die Gnade Gottes wirksame Maßnahme ist. Die Alternative – entweder Freiheit jedes Menschen zum Guten wie Bösen und dafür eine schwächere Bedeutung von Christologie und Gnade, oder Vererbung auf Kosten von Zurechenbarkeit – hat sich über die Jahrhunderte grundsätzlich gehalten und einen wichtigen konfessionellen Unterschied ausgemacht: Luthers Devise „sola gratia, sola fide“ zufolge darf man sich durch gute Taten die Erlösung nicht „verdienen“, und die kirchlichen Institutionen und Vertreter sind nicht bevollmächtigt, durch ein Ritual Gottes Vergebung stellvertretend zu vollziehen. Erst am Reformationstag 1999 wurde in Augsburg der Konsensversuch von 1530 („confessio augustana“) aufgegriffen, um ein gemeinsames Papier zur Rechtfertigungslehre von der römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Kirche zu unterzeichnen. Kierkegaard bezieht sich auf den ersten drei Seiten seines § 1 auf die Tradition und greift so erneut auf fremde, frühere Versionen zum

92

Paulus, Römerbrief 5,12-21 „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben“; siehe auch 1 Kor 15,17. Augustin De civitate dei. Buch 13, 14 (dt. Vom Gottesstaat, München 1997, 4. Auflage, S. 124) „Denn Gott, der Urheber der Naturen, nicht der Gebrechen, hat den Menschen wohl gut erschaffen, doch der, durch eigene Schuld verderbt und dafür von Gott gerecht verdammt, hat verderbte und verdammte Nachkommen erzeugt. Denn wir alle waren in jenem einen, waren damals alle jener eine, der durch das Weib in Sünde fiel, das aus ihm erschaffen ward, ehe es Sünde gab. “ Vgl. ders.: Schriften gegen die Pelagianer, Würzburg 1971, drei Bände lateinischdeutsch. Vgl. Pap. V B 53, 17

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III. Anfang Angst Anapher

Anfang als Antecedens zurück, um sie als mißraten zu verwerfen. Keine Besprechung des Falls kann aufschlußreich sein und eine Vermittlung leisten, die die entscheidende, unfaßbare Pointe der Sünde klärt. Vor allem aber lenkt man durch akademische Ambitionen von der eigenen Misere ab. Wie in der Abfertigung Hegels in der Einleitung wird auch hier kein um Klarheit bemühtes Referat der theologischen Lehrmeinungen versucht. Der erste Satz bietet gleich drei Synonyme zum Thema ‚Erbsünde‘, er fächert auf, was identisch scheint. Ist dieser Begriff identisch mit dem Begriff der ersten Sünde, Adams Sünde, dem Sündenfall? So hat man es wohl manches Mal verstanden […]93

Das Subjekt des zweiten Satzes, das ‚man‘, bleibt vorerst unerklärt, dominiert aber die ganze Seite und wird erst konkretisiert, als Vigilius beginnt, theologische Traditionen bezüglich des Sündenfall-Dogmas wild zu zitieren, aufzulisten und in geballten lateinischen Schlagwörtern zu beschwören. Es gibt keine erläuternden Herleitungen oder Argumente, auf fast drei Seiten nur gelehrte Andeutungen. Sowohl dänische Ausgaben als auch Übersetzungen dieses Textes sind gespickt mit Fußnoten, Übersetzungen und Anmerkungen, um die virtuos zitierten Quellen theologischer Traktate nachzuweisen und dem Leser, der mit dem Stand der Theologie des 19. Jahrhunderts nicht vertraut ist, einen Zugang zu ermöglichen.94 Inmitten der lateinischen Andeutungen gibt es eine penetrant wiederholte, aber nicht plausibel hergeleitete These, die Botschaft lautet: Gängigerweise wird Adams Sünde dafür verantwortlich gemacht, daß es Sündigkeit gibt auf der Welt und daß Geschichte beginnt. Dann aber gehört Adam nicht dazu, als einziger ist er geschichtslos. Zudem 93 94

31/297/332. Peter Fonk (a. a. O. Kap. 5, S. 132-163) steigt ein in die bei Kierkegaard eher persiflierte als elaborierte Argumentation, läßt sich von der vorgeführten Diktion anstecken und wirbelt plötzlich lateinische Termini. Wenn Kierkegaard – wie Fonk zeigt – weder Luther, Augustin noch Calvin intensiv studiert, sondern alle Kenntnisse und Zitate aus zweiter Hand (Karl von Hases Hutterus redivivus von 1827) herrühren und auf drei Seiten protestantische, orthodoxe und katholische Tradition abgefertigt werden, ist klar, daß Kierkegaards Anliegen nicht das einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung ist: Gezielt ausgewählte Zitate ermöglichen es, das Paradox als zentrale Figur herauszustellen um in der Polemik gegen die Hegelsche Erbsündenlehre sich auf die protestantische Orthodoxie berufen zu können; ob er damit letzterer gerecht wird, läßt sich zwar erörtern, verfehlt aber meiner Lesart zufolge genau, worum es geht. (Bemerkenswert genug ist, daß die Rekonstruktion dessen, was auf drei Seiten bei Kierkegaard aufgerufen wird, bei Fonk 30 Seiten Text erfordert.)

III.3. Caput I §1: Die Anfänge der theologischen Traditionen

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wird die Sünde zum vergangenen fremden Fall. Vigilius verwendet wieder oft den Kierkegaardschen Kampfausdruck „phantastisch“, um dies als Versuch der Abstraktion von der eigenen Wirklichkeit zu markieren. Dagegen gilt es herauszustellen, daß Adam genau wie jeder Mensch nach ihm sowohl Individuum als auch Gattung ist, was bedeutet, daß die einzelne Sünde zurechenbare Leistung des Individuums ist. Sie setzt eine neue Qualität, nämlich Sündigkeit95, welche die Gattung qualifiziert und deren Kontinuität gewährleistet. Doch ist die Sündigkeit der Gattung in ihrer linearen Geschichtlichkeit nur quantitativen Veränderungen unterworfen, während die jeweilige Sünde des einzelnen Menschen qualitativ Neues durch einen Sprung in die Welt kommen läßt. Damit wird der Unterschied zwischen Adam und jedem anderen Menschen geringer, die Last der Sünde betrifft alle insgesamt und jeden im Einzelnen, hinterläßt Spuren in der Gattung, obschon das keine Relevanz für neue Fälle hat. So versucht Vigilius, sowohl die lineare Struktur der Vererbbarkeit als auch die zirkuläre zu vertreten, ohne diese Positionen in ihrer Widersprüchlichkeit zu vermitteln. Insgesamt läßt sich dem eine Position ähnlich der bereits oben erwähnten von Kant entnehmen, denn die Vererbbarkeit wird zugunsten von Zurechenbarkeit abgeschwächt. Bei Kant wird die Erbsünde zur schlechten Gesinnung96, die eine schlechte Maxime hat aneignen lassen. Dabei bleibt ein letzter Grund für die Wahl der Maxime unangebbar.97 Bei Kierkegaard manifestiert sich die Grundlosigkeit drastisch und an prominenter Stelle, weil ein Sprung angenommen werden muß, 95

96

97

Oft behält Vigilius ‚Sündigkeit‘ für die Gattung und geschichtliche Kontinuität, innerhalb derer es nur quantitative Unterschiede gibt, vor. ‚Sünde‘ hingegen nimmt er für die immer neue, je eigene, durch einen Sprung vollzogene und qualitativ belangvolle Verfehlung des Einzelnen. Christoph Schulte (a. a. O.) weist mit Recht darauf hin, daß Kants Rede vom radikal Bösen keine säkularisierte Erbsündenlehre ist, sondern deren moralphilosophisches funktionales Substitut. Da die Überlegungen Kants aber in Kierkegaards BA eine Parallele finden und ich keine kantinternen Fragestellungen verfolgen kann, muß dieser verkürzte und verknappte Hinweis reichen. Religionsschrift (a. a. O.) z. B. S. 28, 56, 53f. „Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinierte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen Maxime erfordern würde. Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könnte.“

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der die Sünde ereignen läßt, wobei eine Plausibilisierung durch Vergangenes keinen Aufschluß bietet. Freiheit zum Guten muß zwar in Betracht gezogen werden, sie ist aber nicht mehr realisierbar, weil mit dem Fall die Fähigkeit zum unbeeinträchtigten Abwägen von Gründen abhanden gekommen ist. Wenn Kierkegaard auf die theologischen Positionen nicht eingeht, wenn er keine Argumentation leistet, sondern nur eine These ostentativ präsentiert, bildet er die lineare Struktur als durchbrochene textuell ab. Auch die Kontinuität der Geschichte, wie sie theologische Traktate konstituieren, kann nur quantitativ belangvoll sein und muß einen Bruch aufweisen, den dieser Text durch seine Einladung zu argumentativer Auseinandersetzung, ohne diese zu leisten, vollzieht. Über die Unvereinbarkeit der beiden Aspekte und Strukturen wird durch einen kontinuierlichen Redefluß, der formal den Eindruck einer wohlgegliederten und traditionell aufgebauten theologischen Abhandlung erweckt, hinweggetäuscht. Ziel ist immer wieder die Einsicht, daß es nicht um intellektuelle Widerspruchslosigkeit, sondern das eigene Involviertsein gehen muß. Teil des sündigen Mißstandes ist es, seiner selbst nicht mächtig zu sein und davon durch akademische Handhabe abzulenken. Die Suche nach dem Antecedens in Vergangenheit oder Theorie ist eine Strategie, die anaphorischen Vorkommnisse als Wiederholungsfälle zu mißachten, weswegen Vigilius sie drastisch ins Leere laufen läßt und ein Lektüreergebnis vereitelt. Fazit zur theologischen Diskussion: Sobald die Begeisterung des Glaubens und der Zerknirschung verschwindet, helfen einem derartige Bestimmungen, die es der schlauen Verständigkeit nur erleichtern, sich um die Sündenerkenntnis herumzudrücken, nicht mehr weiter.98

Eine erneute vorwurfsvolle Absage, sie kommt nicht überaschend, Vigilius ruft die theologischen Lehrmeinungen knapp und unzureichend auf, weil er sie wie Hegels Logik für eine Vermeidungsstrategie hält, für gelehrte Ablenkungsmanöver vor existentiell-interessierter Aneignung. Nach der Vorführung der theologischen Begriffe und ihrer Verabschiedung als Mißgriffe wird die Problemstellung im § 2 Der Begriff ‚Die erste Sünde‘ vertieft, nämlich, daß sich das erste Mal immer neu ereignet und es eine sündhafte Entlastung wäre, es auf Adam als „caput generis humani naturale, seminale, foederale“99 abzuschieben. Je98 99

33/300/334. 35f./301/335.

III.3. Caput I §1: Die Anfänge der theologischen Traditionen

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der Fall ist ein erstes Mal, ein caput, ein Anfang, der neu ist, also nicht die Qualität der ρχη besitzt100 oder sich als principium, also einem Anfang, der ein Gesetz vorgibt, zu erkennen gibt. Mit der ersten Sünde kam die Sünde in die Welt. Dasselbe trifft für die erste Sünde jedes späteren Menschen zu: Auch mit ihr kam die Sünde in die Welt.101

Weder Voraussetzungen, Gründe, Herleitungen oder irgendeine andere Form der Plausibilisierung wird gegeben. Dafür steht einmal mehr der Sprung und wird durch den Text und seine Brüche immer wieder instantiiert. Die Sünde kommt als das Plötzliche herein, d. h. durch den Sprung; dieser Sprung aber setzt zugleich die Qualität; doch im gleichen Moment, da die Qualität gesetzt ist, ist der Sprung in die Qualität gewandelt und von der Qualität vorausgesetzt, wie die Qualität vor dem Sprung. Dies ist ein Ärgernis für den Verstand, ergo ist es ein Mythos. Als Entgelt dichtet er selbst einen Mythos, welcher den Sprung negiert, aus dem Kreis eine gerade Linie macht, und jetzt geht alles natürlich zu.102

Geballte Qualitäten widerspruchsvoll kombiniert insistieren darauf, Sünden nicht numerisch quantitativ aufzufassen und auf Adams Untat zurückzuführen.103 Eine Erklärungsleistung ist tatsächlich nicht zu gewinnen, der Verstand ist provoziert oder kapituliert. Wir haben hier wieder das kursiv gedruckte, logische Stringenz ironisierende ‚ergo‘, es ist auch hier das genaue Gegenteil einer Folgerichtigkeit und dient dazu, genau diese zu verabschieden. Die zwei Strukturen des zirkulären und linearen Aspekts der Sünde werden nivelliert, wenn ein Theo100

101 102 103

Vgl. Emmanuel Lévinas „Humanism and An-archy“, in Collected Philosophical Papers, Dordrecht 1987, S. 127-139. p. 133 „We can speak of the „beyond the ultimate“ or of the „pre-original“ without it becoming, by virtue of this beyond or this hither side, ultimate or originary. The „hither side,“ the „pre-originary“ or the „pre-liminary“ designate (by an abuse of language, to be sure) this subjecitivity prior to the ego, prior to its freedom and its non-freedom. The pre-originary subject is outside of being, in itself. Inwardness is sealed against the other, but which, formed as a consciousness, would also be reflected in the said and thus belong to the space common to all, to the synchronic order, even if it had to be part of the most secret region of this sphere. Inwardness is the fact that in being the beginning is preceeded. But what precedes does not present itself to the free gaze that would assume ist, does not become present or a representation.“ 37/303/337. 39/304/338. 46/310/334: „Gleichzeitig könnte es so scheinen, als ob die Erklärung nun leichter fiele, wie ein späterer Mensch die Unschuld verlor. Indessen ist das nur ein Schein. Der qualitative Sprung wird weder von der höchsten noch von der niedrigsten quantitierenden Bestimmtheit erklärt, und wenn ich die Schuld eines späteren Menschen erklären kann, dann kann ich sie genausogut in Adam erklären.“

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III. Anfang Angst Anapher

rem durch den übersteigerten Anspruch eines durchgängigen Begreifens die Dynamik pervertiert und selbst in einen Mythos umschlägt. Wir wollen nun die Erzählung der Genesis genauer durchgehen, indem wir die fixe Idee, daß sie ein Mythos sei, aufzugeben versuchen und uns daran erinnern, daß keine Zeit so tüchtig in der Hervorbringung von Verstandes-Mythen gewesen ist wie die unsre, die selber Mythen hervorbringt, während sie sämtliche Mythen ausrotten will.104

Indem der Genesis-Erzählung abgesprochen wird, ein Mythos zu sein, geht es nicht darum, eine treffendere Genre-Zuordnung vorzunehmen. Vielmehr soll ihr ein höherer Status zukommen als einer ‚bloßen‘ Fiktion, wohingegen die Bemühung um eine schlüssige Argumentation als nur Zusammengereimtes disqualifiziert wird. An dieser Stelle bietet Vigilius eine Persiflage, die sich wie ein religiöses Pendant zur Dialektik der Aufklärung ausnimmt.

III.4. Schlangensprache und Babel (§§ 4-6) Clown: But indeed, words are very rascals since bonds disgrac‘d them. Viola: Thy reason, man? Clown: Troth, sir, I can yield you none without words, and words are grown so false I am loath to prove reason with them. Shakespeare, Twelfth Night Solch eines Verführers Gewalt ist die Rede, das will heißen die Lüge. EO I, 106 / SV I, 80 / SKS 2, 103.

Vigilius will den biblischen Text auf seiner Seite wissen und unterstellt in seinem § 4 Mißbrauch und strategische Auswahl und Arrangement von Zitaten, um den Sprung der Sünde durch Erklärbarkeit zu entschärfen. So zum Beispiel bei Interpretationen, die im göttlichen Verbot einen Anreiz, Anlaß oder sogar Auslöser für die erste Sünde sehen, wodurch die Realisierung der menschlichen Freiheit stattfinden konnte. Damit bekäme die Angst zudem einen Gegenstand, der ihr vorausliegt und sie provoziert. Die Annahme von Versuchung und Begierde (concupiscentia) als vermittelnde Zwischenstufe läßt das Verbot zum ersten, gottgewollten Schritt zur Emanzipation des Menschen von Gott erscheinen und ruft die felix culpa-Auffassung auf den 104

55/317/351.

III.4. Schlangensprache und Babel (§§ 4-6)

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Plan. Für Vigilius, der in diesem Zusammenhang von Baader und Usteri namhaft macht, ist das keine diskutable Lesart, sondern der Versuch, durch forcierte Bibelinterpretation den Fall psychologischen Kategorien kommensurabel zu machen. Unschuld ist also Unwissenheit, doch wie geht sie verloren? Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle alle sinnreichen und törichten Hypothesen zu repetieren, womit Denker und Projektemacher, deren Interesse an dem großen menschlichen Anliegen, das man Sünde nennt, nur ein neugieriges gewesen ist, den Anfang der Geschichte überladen haben. Zum einen will ich nicht anderer Leute Zeit vergeuden, indem ich von Erkenntnissen berichte, für die ich meine eigne Zeit vergeudet habe; zum anderen liegt das Ganze außerhalb der Geschichte in jenem Dämmerlicht, wo Hexen und Projektemacher auf einem Besenstiel und einem Wurstpeil um die Wette reiten.105 Die psychologische Erklärung darf die Pointe nicht beschwatzen, sie muß in ihrer elastischen Zweideutigkeit bleiben, aus der die Schuld im qualitativen Sprung hervorbricht.106

Auffallend aber wird im Laufe der nächsten beiden Paragraphen, daß er selbst massiv selektiv den Genesistext für sich nutzt und beträchtliche Einseitigkeiten aufkommen läßt. Er geht sogar so weit, einen „Mangel an der Erzählung“107 zu diagnostizieren und deshalb den biblischen Text umzudichten. Dies betrifft die Rolle der Sprache im Paradies, vor und nach dem Fall und somit auch im eigenen Text. Der § 5 hat den Titel des ganzen Buches und belegt den Übergang von Unschuld zum Fall mit dem Namen Angst108: Zunächst einmal 105 106 107

108

47/310/345. 49/312/347. 54/316/351 und 57/ 318/353. Timothy Houston Polk nimmt sich Kierkegaard als Bibelexeget vor und konzentriert sich dabei auf Der Liebe Tun sowie die erbaulichen Reden. Er charakterisiert Kierkegaards Gebrauch der Bibel als „canonical hermeneutics of the Rule of Faith“ (p. 18) in augustinischer Tradition. Beispiele wie dieses aus BA, wo Kierkegaard brachial und strategisch den Text der Bibel zurechtstutzt, finden bei Polk keine Besprechung. The Biblical Kierkegaard. Reading by the Rule of Faith, Macon, Georgia 1997. Green (a. a. O., p. 27f. und 166) weist darauf hin, daß auch Kant von Angst im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Freiheit spricht, nämlich im Aufsatz „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786): „Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Thieren an eine einzige gebunden zu sein. Auf das augenblickliche Wohlgefallen, das ihm dieser bemerkte Vorzug erwecken mochte, mußte doch sofort Angst und Bangigkeit folgen: wie er, der noch kein Ding nach seinen verborgenen Eigenschaften und entfernten Wirkungen kannte, mit seinem neu entdeckten Vermögen zu Werke gehen sollte. Er stand gleichsam am Rande eines Abgrundes […]“ in Der Streit der Facultäten und kleinere Abhandlungen, Köln 1995, S. 175. Es liegt nahe, mit Green davon auszugehen, daß Kierkegaard diese Stelle kannte und Angst nach langer Inkubationszeit zum Kernstück seiner Diskussion des Falls werden ließ.

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muß der Sprung uneingeschränkt und radikal bleiben, weswegen die Menschen im Paradies unwissend sein müssen. (Anders als in der von ihm verworfenen Bibelauslegung der „katholisch-verdienstvolle[n] Phantasterei“109). Seltsamerweise scheint nun Wissen die Unschuld zu affizieren, so daß die Hegel vorgeworfene Vermengung von Unschuld und Unmittelbarkeit, also der zu trennenden Bereiche von Ethik und Logik, auch im Begriff Angst selbst nicht konsequent vermieden wird. Radikal gedacht, müßten die kognitiven Vermögen und das Selbst des Menschen (hier: ‚Geist‘ genannt) erst mit dem Fall entstehen und dessen Produkte oder Konsequenzen sein. Vigilius‘ Lösung ist, alle Charakteristiken, Komponenten und Fähigkeiten menschlicher Existenz als ‚träumend‘ bereits latent vorhanden und wirksam anzunehmen, ohne ihnen Wirklichkeit und Aktualität zuzugestehen. Der Geist ist träumend im Menschen. […] In diesem Zustand gibt es Frieden und Ruhe, doch gleichzeitig noch etwas anderes, was nicht Unfriede und Streit ist, denn es gibt ja nichts, womit sich streiten ließe. Was ist es dann? Nichts. Doch welche Wirkung hat Nichts? Es gebiert Angst. Das tiefe Geheimnis der Unschuld besteht darin, daß sie gleichzeitig Angst ist. Träumend projektiert der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts, und dieses Nichts sieht die Unschuld ständig vor sich.110

Mit „Nichts“ gewinnt Vigilius einen Referenten, der sich selbst als substantielle Größe leugnet, aber den syntaktischen Ort eines „etwas“ besetzt. Damit erlaubt Sprache, eine als Substantiv maskierte Nichtigkeit als Sache vorzutäuschen, für sie Platz zu schaffen, um sie so heraufzubeschwören und dabei einen kontinuierlichen Übergang zu suggerieren und gleichzeitig verweigern.111 Aus diesem Paragraphen Sinn zu machen ist nicht unproblematisch, es geht ja gerade darum, das Paradoxe ins Unerklärliche zu retten. Wenn der „Unterschied zwischen mir und dem Anderen […] im Traum […] ein angedeutetes Nichts“112 sein soll, ist fraglich, ob das überhaupt einen Unterschied ausmachen kann. Vigilius ist in der Notlage, qualitative Differenz produzieren zu müssen, ohne sie bereits in 109 110 111

112

50/313/347. 50/313/347. Fenves (a. a. O., p. 77) „What is „discovered“ in anxiety is not simply „nothing“ but a topical „nothing“, the atopos in which the „new“ springs forward, interrupting the rule of conceptuality and likewise making history possible.“ p. 79 „In referring to itself, which is not a „thing“ and gives no point of reference, anxiety opens up the linguistic space of the self, as the relation of mind to body, but the space thereby disclosed is only linguistic.“ 50/313/347.

III.4. Schlangensprache und Babel (§§ 4-6)

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Anspruch zu nehmen. Dazu trifft er die nachhaltig rezipierte und durch Kierkegaard etablierte Unterscheidung von Angst und Furcht, denn letztere hat eine konkrete Wirklichkeit als ihren Gegenstand, erstere bezieht sich hingegen auf eine „Möglichkeit für die Möglichkeit“113. Wir bewegen uns also auf doppelter Abstraktionsstufe, ohne daß es das, wovon abstrahiert wird, geben kann. Die Antizipation der Wirklichkeit in der Möglichkeit muß unklar bleiben.114 Wieder antizipiert ein Wie das Was, denn erst die Aktualisierung macht Unterschiede signifikant und wirksam, erst der Fall trennt Gott und Mensch durch das Feuerschwert und Frau und Mann durch Sexualität. Weder darf eine notwendige Entwicklung noch freie Wahl den Sprung plausibilisieren, welcher eine Möglichkeit wirklich werden läßt und mit dem Wort „Angst“ eher markiert als aufschlußreich benannt wird115. Deshalb darf Angst nur die Stelle einer Größe mit Erklärungswert besetzen (z. B. die der concupiscentia), ohne deren Funktionsweise zu übernehmen. Angst muß zweideutig bleiben und gleichzeitig eine Plausibilisierung vortäuschen, aber nicht leisten. Der qualitative Sprung ist außerhalb jeder Zweideutigkeit, wer aber durch Angst schuldig wird, der ist unschuldig; denn was ihn ergriffen hat, war nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, eine Macht, die er keineswegs liebte und vor der er sich ängstigte – und doch ist er schuldig, denn er sank in die Angst, die er liebte, indem er sie fürchtete. Es gibt nichts Zweideutigeres auf der Welt als das […]116

Gleichzeitig schuldig und nicht schuldig geschieht der Sprung und ist gleichzeitig zweitdeutig und nicht zweideutig. Daß hieran keinerlei Argumentation anknüpfen kann ist nur konsequent, im Text folgt abrupt und ohne Markierung des Bruches eine Kurzfassung der Anthropologie, die in den folgenden Kapiteln117 ausführlicher zur Sprache kommen wird: Der Mensch ist eine Synthese aus Körper und Seele, 113 114

115

116 117

50/313/348. Wenn Bongardt (a. a. O., S. 183 Fußnote 328) Dietz vorwirft, durch Aporetisierung des Angstbegriffs nicht zur Erhellung beizutragen, stellt sich die Frage, ob die ‚Grammatik‘ des Angstbegriffs die des Erklärens ist. „In einem logischen System sagt es sich recht leicht, daß die Möglichkeit in Wirklichkeit übergeht. In der Wirklichkeit ist das schwieriger, da braucht es eine Zwischenbestimmung. Diese Zwischenbestimmung ist die Angst, welche den qualitativen Sprung ebensowenig erklärt, wie sie ihn ethisch rechtfertigt. Angst ist weder eine Bestimmung der Notwendigkeit noch der Freiheit, sie ist eine befangene Freiheit, wo die Freiheit also nicht frei in sich selbst, sondern befangen ist, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.“ 59/320/354. 52/314/349. Vor allem im Caput III, außerdem elaboriert und mit anderen Termini in der Krankheit zum Tode.

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die von Geist vollzogen wird. Solange der Geist jedoch träumt, ist der Mensch sich seiner Spaltung nicht bewußt und lebt unmittelbar. Erst mit der Sünde geschieht das krisenhafte und bewußte Auseinanderklaffen und läßt die Pole des Selbst als Widerspruch außer Balance geraten. In der Unschuld „stört“118 der noch nicht wirksame, aber als träumend vorhandene Geist wie eine „fremde Macht“ die Unmittelbarkeit. Wieder ist das Entscheidende da und gleichzeitig nicht, als träumend außer Kraft gesetzt, um dennoch latent mächtig zu sein. Wie ein Fremdkörper steht diese Antizipation im ersten Kapitel und kann in ihrer Knappheit nicht verstanden werden ohne Kenntnis der Ausführungen im dritten Kapitel. Vigilius läßt seine Anthropologie wie den träumenden Geist als noch nicht wirklich und wirksam, aber als fremd und beängstigend unter Vortäuschung gedanklicher Kontinuität bereits störend und latent da sein. Der Leser seines Textes ist noch nicht vertraut mit der Syntheseleistung des Geistes und vermag sie an dieser Stelle nicht einzuordnen. Gleichzeitig erlebt er eine erste Konfrontation mit den zentralen Termini, die in der Kierkegaard-Forschung prominent geworden sind und ihre ‚Hegelschen‘ Züge kaum verleugnen können. Unverstanden haben sie die Doppeldeutigkeit der Angst, nämlich zugleich zu faszinieren und abzustoßen. Noch gibt es die Unschuld, doch nur ein einziges Wort braucht zu ertönen, dann ist die Unwissenheit konzentriert. Dieses Wort kann die Unschuld natürlich nicht verstehen, aber die Angst hat gleichsam ihre erste Beute, sie hat anstelle des Nichts ein rätselhaftes Wort bekommen. Wenn es in der Genesis heißt, daß Gott zu Adam sagte: „Aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen“, dann ist doch klar, daß Adam dieses Wort eigentlich nicht verstehen konnte – denn wie sollte er den Unterschied zwischen gut und böse verstehen, wo der sich doch erst mit dem Genuß herausstellte.119

Ich habe die Vermutung, daß auch die Angstabhandlung ein solches Wort hat, nämlich ‚Geist‘. Bisher war es nur als Derivat und Schimpfwort zur Erledigung des ‚geistreichen‘ Hegel vorgekommen, und im oben beschriebenen ‚träumenden‘ Zustand. Dieses Wort indiziert die erst später thematischen Differenzierungen und Differenzierungsvermögen sowie die das Selbst konstituierende Synthese und darf an dieser Stelle noch nicht aktualisiert sein, um die Unwissenheit nicht zu beeinträchtigen. Dann aber – und hier liegt der Knackpunkt – darf 118 119

52/315/349. 53/315/350.

III.4. Schlangensprache und Babel (§§ 4-6)

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Adam auch keine Sprache beherrschen, denn das ließe auf die in der Unschuld noch nicht erlangte Differenzierungskompetenz schließen. Vigilius muß so radikal sein, und alle Vorkommnisse von Sprachkompetenz aus dem Genesistext eliminieren. Beispielsweise darf die Rede Gottes keine Antwort, sondern Angst als Reaktion hervorrufen, weil sonst Adam das Verbot verstanden hätte und wissend wäre. Deshalb überlegt Vigilius, den Dialog zwischen Adam und Gott als ein Selbstgespräch Adams aufzufassen, so daß eine pseudo-Sprache besteht, die nicht mitteilt, referiert, differenziert. Ich habe nun zum Schluß an die biblische Erzählung angeknüpft. Ich habe das Verbot und die Stimme der Strafe von außen kommen lassen. Damit hat sich natürlich so mancher Denker gequält. Aber diese Schwierigkeit ist nur zu belächeln. Die Unschuld kann ja sehr wohl sprechen und besitzt insofern in der Sprache den Ausdruck für alles Geistige. Insofern braucht man nur anzunehmen, Adam habe mit sich selbst gesprochen. Jener Mangel der Erzählung, daß ein anderer Adam etwas sagte, was dieser nicht versteht, fällt dann weg. Genaugenommen läßt sich aus Adams Fähigkeit zu sprechen ja nicht folgern, daß ihm das Gesagte verständlich war. Dies gilt vor allem für den Unterschied für Gut und Böse, den die Sprache zwar kennt, den es jedoch nur für die Freiheit gibt. Obwohl die Unschuld diesen Unterschied aussprechen kann, besteht er für sie nicht und hat für sie nur jene Bedeutung, die wir im Vorhergehenden gezeigt haben.120

Das Thema scheint sich nicht dadurch zu erledigen und bekommt noch eine Fußnote, die die Problematik abwimmelt und gezielt ausklammert, aber nicht ohne eine Position zu beziehen: Falls man hier noch hinzufügen will, daß dann zu fragen wäre, wie denn der erste Mensch sprechen gelernt hätte, dann will ich antworten, daß diese Frage sehr berechtigt ist, jedoch außerhalb des Umfangs dieser ganzen Untersuchung liegt. Man darf das jedoch nicht mißverstehen, so als wollte ich mir nach modernem philosophischen Brauch mit meiner ausweichenden Antwort zugleich den Anschein geben, daß ich an anderer Stelle eine Antwort geben könnte. Aber soviel steht fest: Es geht nicht an, daß man den Menschen selbst hat die Sprache erfinden lassen.121

Damit ist das Problem nicht aus der Welt (bzw. dem Paradies). Eine andere prominente Sprachverwendung Adams ist, wenn er auf Gottes Geheiß die Tiere benennt. In der Bibel klappt das reibungslos und die Namen, die Adam gibt, gelten, sie passen zu den von Gott geschaffenen Tieren. Dies muß Vigilius zu einem mechanischen Plappern machen und es in eine Randbemerkung in Klammern abschieben, damit nicht der Verdacht entsteht, Adam sei in der Lage, eine verbindliche, bedeutungskonstitutive Verbindung zwischen Sprache und Tierwelt zu stiften. 120 121

54f./316/351. 57/319/353.

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III. Anfang Angst Anapher

Adam war nun erschaffen, hatte den Tieren Namen gegeben (hier ist also die Sprache vorhanden, wenngleich in einer ähnlich unvollkommenen Weise, wie sie Kinder erlernen, wenn sie in der Fibel ein Tier erkennen)[…]122

Was als Benennen erscheint, ist also nur ein lautliches Phänomen ohne jede intellektuelle Bewältigung, es ist eine automatische imitatio. Auch das findet eine Parallele bei Kant, auch er spielt die Sprachkompetenz in einer Fußnote weitgehend herunter auf animalisches Lautgeben, einen „Trieb sich mitzutheilen“ und reduziert die machtvolle Benennungsaktion als hirnloses Nachäffen von tierischen Lauten: Der Trieb sich mitzutheilen muß den Menschen, der noch allein ist, gegen lebende Wesen außer ihm, vornehmlich diejenigen, die einen Laut geben, welchen er nachahmen und der nachher zum Namen dienen kann, zuerst zur Kundmachung seiner Existenz bewogen haben. Eine ähnliche Wirkung dieses Triebes sieht man auch noch an Kindern und an gedankenlosen Leuten, die durch Schnarren, Schreien, Pfeifen, Singen und andere lärmende Unterhaltungen (oft auch dergleichen Andachten) den denkenden Theil des gemeinen Wesens stören. Denn ich sehe keinen andern Bewegungsgrund hiezu, als daß sie ihre Existenz weit und breit um sich kund machen wollen.123

Auch bei Kierkegaard wird ein Charakteristikum des prälapsarischen Adam als Parallele einer weiter hinten im Buch diskutierten postlapsarischen Angstvariante diskutiert, nämlich der Geistlosigkeit. Aber nicht nur Adams Sprache ähnelt der des Geistlosen, sondern auch die unseres Autors Vigilius gemäß dessen Selbstcharakteristik im Vorwort124: Geistlosigkeit ist der Fall, wenn unter christlichen Bedingungen, d. h. wenn der Geist verwirklicht ist, heidnisch exisitiert wird, d. h. so, als gäbe es ihn nicht. Tückisch daran ist, daß man den Äußerungen des Geistlosen nichts anmerkt: Die Geistlosigkeit kann vollkommen dasselbe sagen, was der fruchtbarste Geist gesagt hat, nur sagt sie es nicht aufgrund von Geist. Als geistlos bestimmt, ist der Mensch eine Sprechmaschine geworden, und es steht dem durchaus nichts im Wege, daß er eine philosophische Litanei genausogut auswendig lernen kann wie ein Glaubensbekenntnis und ein politisches Rezitativ.125

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55/317/351. Thomte nimmt an, daß die Fibel Tiere mit den Anfangsbuchstaben des Alphabets präsentiert, so daß über die lautliche Ebene die Abstraktion des Buchstabenlernens vonstatten geht. (p. 235 note 50) Muthmasslicher Anfang der Menschengeschichte (a. a. O.) S. 173. Diese Parallele habe ich nicht von Green, es scheint ihm nicht aufgefallen oder erwähnenswert gewesen zu sein. Der Text schlägt diese Verbindung nicht vor, doch halte ich die folgenden Übereinstimmungen für hinreichend auffällig. 111/365/398.

III.4. Schlangensprache und Babel (§§ 4-6)

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Anders als im Heidentum (bzw. bei Adam) handelt es sich nicht um Geistesabwesenheit (bzw. ‚träumenden Geist‘), weil der Geist wirklich ist, aber keine entsprechende Relevanz bekommt. Ihre Verdammnis, aber auch ihre Sicherheit, liegt eben darin, daß sie nichts geistig versteht, nichts als Aufgabe begreift, auch wenn sie es fertigbringt, alles mit ihrer kraftlosen Klammheit zu betatschen. Wird sie ausnahmsweise einmal vom Geist berührt und beginnt für einen Augenblick wie ein galvanisierter Frosch zu zappeln, dann stellt sich ein Phänomen ein, das dem heidnischen Fetischismus vollkommen entspricht. Zwar gibt es für die Geistlosigkeit keine Autorität, denn sie weiß ja, daß es für den Geist keine Autorität gibt, doch sie selbst ist unglücklicherweise nicht Geist, und deshalb ist sie, trotz ihres Wissens, ein vollkommener Götzendiener. Sie betet einen Dummkopf und einen Helden mit derselben Ehrfurcht an, doch zuvörderst ist doch ein Scharlatan ihr eigentlicher Fetisch.126

Schon im Vorwort hatte Vigilius akademische Gelehrsamkeit mit Fetischismus in Verbindung gebracht und seine eigene Abhandlung in diesen Zusammenhang erwähnt. Schon früh hatte er seine falschen Versprechen, durch die klare Gliederung und die im Titel angekündigte Diskussion eines ‚Begriffs‘ entlarvt und seine Argumentationen als widerspruchsvoll oder nur scheinbar plausibel ausgestellt. Der Text ist dem unterworfen, was er als Schlüssel für die Gefallenheit nicht preisgeben darf: Sprache, die seit und mit dem Fall überdeterminiert und doppelzüngig ist und der der Autor in postlapsarischer Existenz nicht entkommen kann. Nun ist nur noch die Schlange übrig. Ich bin kein Freund von Geistreichigkeit und werde volente deo den Versuchungen der Schlange widerstehen, die, wie sie zu Beginn der Zeit Adam und Eva in Versuchung führte, im Laufe der Zeit die Schriftsteller versucht hat – geistreich zu sein. Ich gebe lieber offen zu, daß ich nicht fähig bin, einen bestimmten Gedanken mit ihr zu verbinden.127

Mit der Verweigerung, ‚geistreich‘ zu sein, ist an dieser Stelle (zunächst) nur der hegelianische Zugang abgewehrt, mit Blick auf die eben von mir zitierten Stellen über Geistlosigkeit aber auch die Akzeptanz des wirklich gewordenen Geistes. Der lateinisch in den Text gebrockte und durch Kursivdruck hervorgehobene Wille Gottes markiert eine Offenheit für den ganz Anderen, der in der gefallenen Rede nur zweideutig und pervertiert zu bedeuten ist. Die explizite Abstinenz von weiteren Erklärungen unterstreicht den inkommensurablen Fremdkörper noch. Wieder nur in den Entwürfen und durch einen imaginierten Gesprächspartner vermutet, gibt es Aufschluß: 126 127

112f./365/398. 57/318/353.

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III. Anfang Angst Anapher

Und wenn einer belehrend zu mir sagen wollte: „Du könntest in Übereinstimmung mit dem Vorhergehenden sagen, daß das [die Schlange] die Sprache ist“, so würde ich antworten: „Ich habe das nicht gesagt.“128

Was der publizierte Text nur nahelegt, findet sich als gestrichene Stelle in den Entwürfen explizit, aber gleichzeitig auch hier verweigert: Die Schlange wird von „Een“, von jemandem, also einem anonymisierten Gesprächspartner, mit der Sprache kurzgeschlossen und von Vigilius/Kierkegaard weder mit Zustimmung noch Ablehnung beantwortet. Statt dessen gibt es eine Antwort, die sich dezidiert enthält: Jede Stellungnahme wäre ein neuer Fall, neue Illusion, einen Schlüssel für das Verständnis des paradoxen Falles zu haben, was es zu verhindern gilt. Wie der Rekurs auf concupiscentia bietet die Schlange eine Versuchung, die Entstehung des Bösen als gottgewollte Entwicklung zu deuten, was Vigilius mit Rekurs auf Jakobus 1,13-15 mit allen Mitteln abwehrt. Als Sprache aufgefaßt, hätte diese Versuchung schon mit der Anrede Adams durch Gott ihren Einzug ins Paradies genommen. Deshalb ist genau das aus dem Genesistext zu eliminieren. Roger Poole verknüpft eine ähnliche Interpretation der Angstabhandlung mit der Beobachtung, daß Der Begriff Angst laut gelesen eine auffällige Ballung von Zischlauten bemerken läßt, wodurch sich die als gelehrte theologische Abhandlung maskierte Studie als nichts anderes herausstellt, als imitiertes Schlangengezische.129 Anders als Poole schlußfolgert, geht damit aber nicht ein argumentativ rein destruktives Ergebnis einher, welches sich darin erschöpft, fremde Interpretationen als Nonsens zu entlarven. Vor allem die Parallele zu Kant, aber auch die vielen im Verlauf des Textes aufgegriffenen Themen geben allerhand zu denken, nicht ohne klar Stellung zu beziehen und nicht ohne sich selbst als Text in der diskutierten widerspruchsvollen Thematik zu wissen: Nicht nur die zischende Sprache, sondern auch der Körper der Schlange wird durch die abwechselnd lineare und zirkuläre Diskussion abgebildet und exponiert die verführerische Gewalt der eigenen Mittel und Maßnahmen.

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Pap. V B 11, S. 113 der dänischen Ausgabe, von mir übersetzt. A. a. O., p. 100 „The text begins to generate a sacred quality, an aura of incomprehensibility.“ p. 105 „everything is run together in a massive blur of self-exceeding distinctions.“ p. 107 „the only aspect that is constant is the sibilant hiss, the hiss of the snake.“

III.5 Biblische Anfänge: Exkurs über Genesis 1-3

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III.5. Biblische Anfänge: Exkurs über Genesis 1-3 Jene Erzählung der Genesis ist die einzige dialektisch-konsequente Auffassung. Ihr ganzer Gehalt konzentriert sich eigentlich in dem Satz: Die Sünde kam durch die Sünde in die Welt. BA 38/304/338.

Ich werde im folgenden den biblischen Genesistext Kapitel 1-3 durchgehen, um das im Begriff Angst virulente (und auch bei Wittgenstein problematische) Paradox des Anfangs nachzuzeichnen. Es fällt auf, daß auch der biblische Anfang in seinen unterschiedlichen Versionen der Sprache eine wichtige Rolle zuschreibt, die die babylonische Sprachverwirrung beim Sündenfall bereits vorwegnimmt. Zudem ist der Fall nicht wirklich ein neuer Anfang, da sich im Text mindestens ein VorFall auffinden läßt, wodurch der Anfang gefallenen Menschseins verunklart wird, was alle damit einhergehenden Implikationen affiziert. 1.1. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 1.2. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. 1.3.Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. 1.4. Und Gott sah, daß das Licht gut war.130

Diese allerersten Verse der Bibel leiten eine Reihe von Schöpfungsakten ein, die dieselbe Struktur haben: Sprachliche Äußerung Gottes, Realisierung, wohlgefälliger Kommentar. Gottes Rede ist dabei im absoluten Sinne performativ, d. h. schöpferische Allmacht. 1.1. bildet demgegenüber eine Ausnahme, ein sprachlos vollzogener grundlegender Schöpfungsakt, dessen Verb im Original die konkrete Bedeutung ‚scheiden‘, ‚trennen‘ hat131. Unterscheidung, Differenzierung, Ur-Teilung also, findet zuerst statt und geht – so scheint es – auch der Sprache als diese ermöglichend voraus, bevor sie mit ihr ineins gehen kann. Als erstes wird das Licht geschaffen, es läßt sehen, ist selbst aber unsichtbar. Die Möglichkeit der Differenzierung geht dieser voraus und ermöglicht sie. (Anders als im neutestamentarischen Anfang durch Johannes: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ (Was Goethe durch Faust wieder – wie beim Anfang des Alten Testaments – als Tat übersetzen läßt.))

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Ich zitiere aus der Lutherbibel, Stuttgart 1985. So laut AT- Kommentar von Claus Westermann, 1. Teilband, 3. Auflage 1983, S. 48.

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III. Anfang Angst Anapher

Allerdings gibt es für die Übersetzung syntaktische Unklarheiten, denen zufolge dieser erste Satz auch anknüpfend lesbar ist, er kann sowohl ein Haupt- als auch ein temporaler Nebensatz sein. Was dabei auf dem Spiel steht, ist die theologische Relevanz der creatio ex nihilo, bei der Gott auf keine Voraussetzung angewiesen ist und seine Schöpfung nicht wiederholt. Nicht nur mesopotamische Schöpfungsmythen, in deren Tradition der Genesis-Text zu lokalisieren ist und denen er sich teilweise verdankt, sondern auch spätere Bibelstellen132 berichten von einem ursprünglichen Kampf der Götter oder des Gottes gegen das Chaos. Damit wären andere Götter, formlose Materie oder mehrere Prinzipien nicht nur koexistent mit dem in der Bibel erwähnten Schöpfergott, dieser wäre auch darauf angewiesen, um eine materiale Basis für seine Akte zu haben. Der Plural in 1.26 „Lasset uns den Menschen machen“ wäre dann verständlich als Anrede und nicht an die Tiere gerichtet. Feministische Forschung bezieht sich hier gerne auf den babylonischen Mythos, wo Tiamat, die Göttin des Chaos, von Marduk, dem obersten Gott, im ursprünglichen Kampf besiegt wird. 1.2 hat entsprechende Funktion, dort wird ein Vorher vom ersten Schöpfungsakt abzugrenzen versucht, in der Einheitsübersetzung ist von einer „Urflut“ die Rede. In ägyptischen Mythen133 findet sich zu Anfang eine Aufzählung vieler Aspekte konkreter Wirklichkeit, immer eingerahmt in die Formel „Als noch nicht … war, …“. Auf diese Weise wird nicht nur versucht, einen Anfang zu vermeiden, sondern auch eine erzähltechnische Schwierigkeit bewältigt: Minimale Strukturnotwendigkeit für ein Narrativ ist eine zeitliche Kontinuität, eine Abfolge von Zeitmomenten, in denen Ereignisse stattfinden können. Diese Vorher-Nachher-Sukzession läuft aber Gefahr, eine Bezugnahme auf das, was vor der Schöpfung war, zu suggerieren und wendet durch die narrative Minimalstruktur eine menschliche Zeiterfahrung auf Gott an. Obschon es noch keine Geschichte gibt – die wird erst durch den Fall initiiert – gibt es Geschichten, mindestens eine zeitliche Reihung von Ereignissen in Form eines hymnischen Berichts, um die Thematisierung dessen, was man behelfsmäßig und ex negativo „Vorgeschichte“ oder „Urgeschichte“ nennt, zu ermöglichen. Im Hintergrund dieses Arguments steht Paul Ricœurs Studie Zeit und Erzählung, wo gezeigt wird, daß menschliche Zeiterfahrung zwar nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann, – wie Augustin im Buch XI seiner Confessiones zu bedenken 132 133

Psalm 74,12-17 und 89,10-15; Jesaja 27,1 und 51,19; Hiob 26,13 und 38,8-11. Vgl. Westermann S. 64.

III.5 Biblische Anfänge: Exkurs über Genesis 1-3

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gibt – wohl aber durch eine Fabel gestaltet werden kann. Ein Narrativ strukturiert Ereignisse und macht sie dadurch vertraut, ohne die theoretische Sinnlosigkeit menschlichen Daseins so in den Griff zu bekommen134. Zwar leistet die schöpferische Nachbildung von Geschehnissen in der Fiktion keine Erschaffung von Wirklichkeit, doch ist es mehr als nur Nachahmung mit sprachlichen Mitteln: Eine Erzählung läßt (wie die Metapher) eine neue Art der Referenz auf die Wirklichkeit entstehen (anders als die Metapher aber) durch den strukturbildenden Umgang mit Zeit. Mit Anfang und Ende und einem Verlauf dazwischen135 schwindet nicht jeder Moment unrettbar im nächsten, sondern eine Spannung vom Vergangenen über die Gegenwart bis zur Zukunft integriert die disparaten Zeitpunkte. Damit gewinnt bei Ricœur Narrativität nicht nur in biblischen Texten eine heilsgeschichtliche Akzentuierung und verdankt ihre orientierungsstiftende Leistung dem Glauben an ein stimmiges Ende. So sieht Ricœur einen Zusammenhang zwischen der Krise des Erzählens im 20. Jahrhundert und dem zunehmenden Verlust von Hoffnung und Utopie.136 Quellenkritische und stilistische Untersuchungen haben gezeigt, daß die ersten Genesiskapitel auf zwei „Verfasser“ rückschließen lassen, die

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Temps et récit, Paris 1983; deutsch: Zeit und Erzählung, Band 1, München 1988. „[…] die Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie Züge der Zeiterfahrung trägt.“ S. 13. In seinem Essay „The Human Experience of Time and Narrative“ bezieht sich Ricœur auf Heidegger und dessen Diskussion der Zeit in Sein und Zeit. Besonderes Augenmerk gilt der ‚Wiederholung‘ dabei. (in Reflection and Imagination. A Ricœur Reader, ed. Mario J. Valdés, Toronto and Buffalo 1991, p. 99-116) Dies wäre der Ort für einen Exkurs über Zeit, wie sie in Caput 3 des BA vorgestellt wird: Zeit ist eine unendliche Sukzession ohne Halt, weswegen sie inhaltslos und verschwindend ist. Es gibt keine Gegenwart, die nicht sofort vergangen wäre, Vergangenes ist verloren und Zukünftiges unerreichbar. Die Ewigkeit hingegen hebt die Sukzession auf, sie ist das „unendlich inhaltsvolle Gegenwärtige“ (S. 102/356/ 389). Der „Augenblick“ läßt Ewigkeit die Zeit berühren, wodurch Geschichte möglich wird, weil die Struktur Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft entstehen kann. All dies steht natürlich im Zusammenhang mit Angst und Sündigkeit. Aristoteles, Poetik 1450b: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.“ (Übersetzung: Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1987, S. 25) Vgl. Ricœur dazu a. a. O. Kap. 2. Vgl. dazu: Kevin J. Vanhoozer Biblical Narrative in the Philosophy of Paul Ricœur. A Study in Hermeneutics and Theology, Cambridge 1990. „Ricœur makes space for faith and revelation in his general theory of narrative by sacralizing secular hermeneutics. Theological realities become ingredients in a general theory of narrative.“ p. 181.

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aus unterschiedlichen Zeiten stammen. Deshalb hat sich die Rede von zwei Schöpfungsberichten137 etabliert, wobei jeweils ein spezifischer Stil und Zweck festzustellen ist: Der bereits angsprochene erste Bericht ist jünger als der zweite und der Großteil des Pentateuch. Vom wichtigsten und entscheidenden Ereignis dieser Textgruppe ausgehend, nämlich der Rettung des israelitischen Volkes aus Ägypten durch seinen Gott Jahwe in Exodus, wird dieser Gott ‚rückwirkend‘ und unter Rückgriff auf bereits bestehende Mythen, zum allmächtigen Schöpfergott138. Der Gott Israels wird zum einzigen Schöpfer aller Menschen und der ganzen Welt, was sich durch vereinnahmende Modifizierung und Tilgung bestimmter Elemente von Anfangsversionen anderer Kosmogonien vollzieht. Die in der Bibel etablierte Variante zeichnet sich durch extreme Minimierung des Vorher aus, damit Gottes Allmacht und Souveränität so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Erst im zweiten Satz knapp erwähnt, ist es gleichsam eingeholt in den absoluten Neubeginn, ist nur durch diesen überhaupt. Gleichzeitig werden so jene (z. T. oralen) Traditionen von Schöpfungsberichten, die dem Genesis-Text vorausliegen, z. T. Prätexte dafür sind, als dessen ‚Vorher‘ ignoriert. In theologischen Kommentaren wird die Schöpfung stark getrennt vom Chaoskampf, allenfalls wird durch diesen die Macht des göttlichen Eingriffs unterstrichen. Die Geltung außerbiblischer Quellen hat sich bereits durch die strategische Minimalisierung in Vers 1.2 erledigt.139 137

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Brüche und Widersprüche werden zumeist auf die redaktionelle Zusammenführung verschiedener Schreibermilieus zurückgeführt. Ich werde die Tatsache, daß ab Vers 2.4b eine andere Erzählung anhebt, zwar nicht ignorieren, aber diese Zäsur nicht zur einzigen machen. Vgl. Westermann S. 2-9 und 90: „(…) ‚von der Mitte des Bekenntnisses her‘ wird der Anfang reformuliert.“ „Da der christliche Glaube sich nicht auf ein Anfangsgeschehen, sondern auf ein Geschehen in der „Mitte der Zeit“ gründet, muß er vom Anfang reden, weil er das Ganze meint.“ Richard Hönigswald untersucht (in: Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen, 1938; 1957 posthum publiziert) den erkenntnistheoretischen Wert von Schöpfungserzählungen, denen er „letzte Bedingungen objektiver Erkenntnis“ (S. 13) zu enthalten zutraut. Er faßt den Übergang vom Chaos zum Kosmos dialektisch. Das hat zur Folge, daß das Chaos nie ein kosmosjenseitiges Unbestimmtes sein kann, sondern gegliedert und ungegliedert zugleich ist, damit etwas aus ihm entstehen kann. Im Genesistext kulminiere dies deshalb, weil das Chaos mitgeschaffen und der Anfang absolut und ohne vorher sei. „Der Sache nach aber kann auch der Zustand vor der Lichtwerdung der kosmogonischen Gewalt des göttlichen Schöpfungswortes nicht entrückt sein. Daß Gott schöpferisch „gesprochen“ habe, erwähnen die ersten Verse zwar nicht, aber sie schließen es doch auch so wenig aus, daß die Wendung „Und Gott sprach“ auch nicht die Spur eines Bruches in dem einheitlichen Sinn des Schöpfungsberichtes bedingt.“ S. 157.

III.5 Biblische Anfänge: Exkurs über Genesis 1-3

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Der erste Schöpfungsbericht rettet sich zudem aus der Vermenschlichung Gottes, indem Gott der Zeit durch seine Taten erst den Rhythmus vorgibt, also die Chronologie erst mit den Akten seiner Schöpfung installiert. Damit wird Gott – bis auf einen letzten Rest, der sich auf die Unumgänglichkeit von (menschlicher) Sprache, die darüber berichtet, zurückführen läßt – zum allmächtigen Schöpfer. Der im zweiten Bericht geschilderte Paradiesmythos allerdings weicht davon ab: Die Erzählung ist dramatisch, nicht hymnisch, es läßt sich ein Aufbau mit Exposition, Klimax und Ende zuschreiben. Stärker als durch die strophenartigen Reihungen im ersten Bericht wirken strukturbildende Momente und gewichten den Ablauf der Zeit zu Ereignissen. Gottes Handeln wird dem der Menschen angenähert und gerät in eine vergleichbare Dynamik. Wenn er Adam erschafft, greift er erstmals auf bereits vorliegendes Material, nämlich die vorher geschaffene Erde, zurück und formt nach einem Vorbild, nämlich sich selbst. Adam ist deshalb ein sekundäres Produkt, noch vor Eva gibt es ein Remake, das zudem nicht gelungen ist. Während in Kapitel eins kein Verbesserungsbedarf bestand und jede Schöpfungstat mit einem „Und Gott sah, daß es gut war“, abgesegnet wird, ist bei der Schaffung des Mannes etwas schief gegangen: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“ (2.18). Ein Blick auf 1.27 verrät, was fehlt: Geplant war eine Ebenbildlichkeit „als Mann und Weib“. Bevor aber die Nachbesserung realisiert wird, betätigt sich Gott gärtnerisch und macht aus dem von ihm geschaffenen und bestückten Raum eine Landschaft. Dazu gehört das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen140, also eine Einschränkung Adams, gleichzeitig aber auch eine Ermächtigung: Adam benennt die Tiere auf Gottes Geheiß.141 2.19 Jahwe Gott machte aus Erde alle Tiere auf dem Feld und alle Vögel unter dem Himmel, und er brachte sie zum Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte: denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, sollte es heißen.

Der sprachliche und schöpferische Akt sind nun getrennt und werden arbeitsteilig durch die vorhandenen Instanzen geleistet. Aber immer noch gehen beide Vollzüge ineins, analog, Adam kann benennen und 140

141

Die Unstimmigkeiten zwischen dem Baum des Lebens und dem der Erkenntnis sowie die genaue Lokalisierung des Gartens und die Konsequenzen für das Verbot gehen auf unterschiedliche Quellen zurück und sind in meinem Zusammenhang nicht wichtig. Abgesehen vom Turmbau zu Babel ist dies die Stelle, die der glottogenetischen Diskussion zugrundeliegt, welche im 19. Jh. durch Darwins Evolutionstheorie eine Herausforderung der Bibel bzgl. der Sprachentstehung erfuhr.

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sein Wort gilt. Andererseits bleibt zu fragen, inwiefern dies eine eigenständige Leistung war, inwieweit Imitation Gottes oder Ausführen eines Befehls. Festzuhalten ist, daß die Benennung der Tiere zwar sowohl die Einheit zwischen Mensch und Gott als auch Adams Unschuld nicht beeinträchtigt, aber eine Differenz wirksam werden läßt: Adam spricht in Gottes Namen, ohne selbst Tiere zu schaffen. Daß sowohl Kant als auch Kierkegaard dies herunterkochen mußten, ist kaum verwunderlich: Wollte man hier die autonome Leistung Adams betonen, so daß das richtige Namengeben quasi-schöpferisch hervorruft durch Bestimmung, so könnte man dies unter Berufung auf den folgenden Vers 2.21 stützen: Adam fällt nach seiner Aktion in Ohnmacht, also einen quasi-Todeszustand, womit das göttlich in 2.17 (s. o.) Propheziehene ‚versuchsweise‘ Bestätigung fände. Ein etwas harmloserer Vor-Fall, vor dem ‚eigentlichen‘ Fall? Schon hier deutet sich die Moral der Geschichte an: Ohne Gott kann der Mensch nicht gut anfangen, sondern muß schlecht enden. Die noch funktionierende Partnerschaft von Gott und Mensch ist beeinträchtigt – paradoxerweise durch die Nähe und Ebenbildlichkeit, durch die Macht und Fähigkeiten, die der Mensch von Gott erhalten hat – und eine Irritation und Differenz kommt auf. Dies läßt sich mit Hilfe von Walter Benjamins Überlegungen zum Namengeben142 vertiefen: Wenn Adam die Tiere benennt, korrespondiere sein Sprechen mit dem schöpferischen Wort Gottes, es gehöre dazu als notwendiges Korrelat: Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht.143

Benjamin räumt dem Namen eine Sonderstellung ein, denn er diene nicht zur Mitteilung von etwas anderem: Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt.144

Keine Erkenntnis stehe zwischen Mensch und Gott, sondern die engstmögliche Verbindung werde vollzogen, wenn jemand seinen Eigennamen bekommt:

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143 144

„Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (1916) in: Walter Benjamin Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. 30-49. Vgl. S. 34 und 36. A. a. O., S. 35. A. a. O., S. 34, Kursivdruck im Original.

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Mit der Gebung des Namens weihen die Eltern ihre Kinder Gott; dem Namen, den sie hier geben, entspricht – metaphysich, nicht etymologisch verstanden – keine Erkenntnis, wie sie die Kinder ja auch neugeboren benennen. […] der Eigenname ist Wort Gottes in menschlichen Lauten. Mit ihm wird jedem Menschen seine Erschaffung durch Gott verbürgt, und in diesem Sinne ist er selbst schaffend […]145

In diesem Zitat nähert Benjamin die menschliche und göttliche Sprache weitestgehend einander an und beschreibt die Verbindung zwischen Mensch und Gott als nahezu distanzlos. Andere Formulierungen akzentuieren eine Entsprechung, die keine Komplementarität ist wie im ersten Zitat, sondern eine Nachordnung des Menschlichen deutlich machen: Der Mensch ist der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist. […] Alle menschliche Sprache ist nur Reflex des Wortes im Namen. Der Name erreicht so wenig das Wort wie die Erkenntnis die Schaffung.146

Obschon der Mensch selbst zwar nicht schöpferisch ist, ist die Verbindung zu Gott aber intakt. Erkenntnis als spezifisch menschliches Verhalten der göttlichen Schöpfung gegenüber bleibt dieser gegenüber zurück und ist auf sie angewiesen, ist „Abbild“147. Anders als Gott ist der Mensch nicht erschaffend, sondern „empfangend“148. Der Schöpfung gegenüber ist die Benennung nicht unmittelbar, sondern eine Übersetzung ist erforderlich: Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist nicht nur Übersetzung des Stummen in das Lauthafte, sie ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen.149

Benjamin sieht sich veranlaßt, schon lange vor dem Turmbau zu Babel, sogar vor dem Sündenfall, eine Sprachenvielfalt anzunehmen: Wie das stumme Wort im Dasein der Dinge so unendlich weit unter dem benennenden Wort in der Erkenntnis des Menschen zurückbleibt, wie wiederum dieses wohl unter dem schaffenden Wort Gottes, so ist der Grund für die Vielheit menschlicher Sprachen gegeben. Die Sprache der Dinge kann in die Sprache der Erkenntnis und des Namens nur in der Übersetzung eingehen – soviel Übersetzugen, soviel Sprachen, sobald nämlich der Mensch einmal aus dem paradiesischen Zustand, der nur eine Sprache kannte, gefallen ist. (Nach der Bibel stellt diese Folge der Austreibung aus dem Paradiese allerdings erst später sich ein.)150

145 146 147 148 149 150

A. a. O., S. 40f. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 41. S. 42. S. 43, Hervorhebung im Original.

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Benjamin changiert in seiner Beschreibung der Verbindung von Gott und Mensch zwischen an Identität grenzender Nähe zu einer Übersetzungsbedürftigkeit noch vor Babel und Fall. Das Namengeben ist mal Vollendung göttlicher Schöpfung, dann Reflex; es geht ohne Erkenntnis oder nur durch sie vonstatten. Erkenntnis ist mal spezifisch menschliche Leistung und Korrelat zur Schöpfungstat, dann aber auch Gottes Reaktion auf die eigenen Leistungen, wenn sie für gut befunden werden. Benjamin betont zwar die Entsprechung und Harmonie zwischen Gott und Mensch, kennzeichnet dieses Verhältnis aber zutiefst ambivalent. Auch wenn der Sündenfall deutlich als Bruch markiert ist151, macht bereits das Namengeben auf Gottes Weisung Übersetzungen nötig. Auch Benjamin problematisiert damit nicht nur Babel als Beginn der sprachlichen Vielfalt, sondern den Sündenfall als erstes Mal und suggeriert zumindest im Namengeben einen Vor-Fall. In den nächsten Versen der Bibel vergrößert sich die Trennung von Gott und Mensch: 2.23: Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.

Die Benennung ohne göttliche Weisung ist einer Steigerung der Autonomie, also der Nähe zu Gott durch eigene Souveränität, was von Gott entfremdet. Bezeichnenderweise realisiert Adam dies erst nach dem ‚eigentlichen‘ Fall (3.6). In 2.25 wird aber noch die prinzipielle Einheit betont, Adam und Eva kennen weder Scham, noch Bewußtsein, noch Differenz. 3.1. Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? 3.2 Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; 3.3 aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, daß ihr nicht sterbet.

Die Schlange radikalisiert den Prozeß der Entfremdung, wenn sie das göttliche Gebot verfälscht wiederholt. Doch als Frage formuliert handelt es sich noch nicht um eine Lüge, Eva kann im nächsten Vers korrigieren. Allerdings war sie nicht erschaffen, als diese Worte ausgesprochen wurden, sie kann sie entweder nur von Adam kennen, oder von Gott wiederholt. Vermittlung ist also bereits im vollen Gange, 151

S. 44ff. Sprache wird zum „bloßen“ Zeichen, das äußerlich mitteilt und in Geschwätz ausartet. Dazu mehr weiter unten.

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funktioniert aber noch, Eva hat es verstanden. Auch wenn die Schlange daraufhin widerspricht, lügt sie nur zum Teil: 3.4. Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 3.5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

Die Gottesebenbildlichkeit war bereits doppelt bestärkt versprochen worden (1.27), insofern spricht die Schlange quasi autorisiert. Auch wenn sie die Todesfolgen bestreitet, hat die Schlange zumindest nicht ganz unrecht: Mit dem Ungehorsam werden Adam und Eva sterblich, aber fallen nicht sofort tot um152. Das von Gott verschwiegene und durch die Schlange erstmals erwähnte Augenaufgehen wird eintreten, wenngleich nicht verbunden mit vollkommenener Ebenbildlichkeit mit Gott. Die Schlange gehört zur Schöpfung und ist nicht die am Anfang (u. U.) besiegte Urmacht, auch ist sie in der Bibel nicht eindeutig böse besetzt153. Nicht nur Ernst Bloch weist darauf hin, daß sie Gift und Heilung, Lüge und Weissagung vereint, so daß der Verstoß gegen das Verbot erst die Ebenbildlichkeit mit Gott vollendet: […] heraus aus dem bloßen Garten der Tiere, und die wirkliche Ursünde wäre es gerade gewesen, nicht sein zu wollen wie Gott.154 3.7. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

Als Gott zur Rechenschaft zieht, schiebt Adam die Schuld auf Eva, Eva schiebt sie auf die Schlange. Berechtigterweise läßt sich fragen, wo das Böse angefangen hat. Beim uneingelösten Versprechen der Ebenbildlichkeit? Hätte die sich steigernde Distanzierung von Gott, wie sie bereits vor dem Fall nachweisbar stattfindet, ohne einen Bruch zu bewirken auch gutgehen können? Wieso überhaupt gibt es eine Schlange im Paradies? All diese Fragen beschäftigen Theologen und allerhand andere bis heute und weisen den Genesistext als Mythos aus, der zunächst Fragen zu beantworten scheint, aber durch seinen „ästhetischen Überschuß“ neue aufwirft und nicht zur Ruhe

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Hans-Robert Jauß sieht im Genesismythos die Struktur der Komödie, wovon ein Element, die Verzögerungstaktik, an dieser Stelle zutrifft. Ein anderes ist das Weitergeben der Schuld nach dem Erwischtwerden. „Die Mythe vom Sündenfall (Gen.3). Interpretation im Lichte der literarischen Hermeneutik“, in Poetik und Hermeneutik IX, S. 25-35. Vgl. 2 Könige 18, 4 sowie Numeri 21. „Der Schlange zweite Betrachtung. Die Ophiten“ in Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt 1985, S. 232.

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kommen läßt.155 Genau diese Unbestimmtheit bzw. Überbestimmtheit erlaubt theoriebildende Ausschlachtung mit unterschiedlichster Stoßrichtung, die vor Umdichtungen des biblischen Textes nicht zurückschrecken. Im folgenden Vers drehen sich die Imitationsverhältnisse sogar um: Gott macht den Menschen Kleidung, eine Leistung, die Adam und Eva schon nach dem Fall (3.7) als erste eigenständige Tat erledigt hatten. Verkehrte Zustände, eine karnevaleske Welt also, so daß Gott im Nachhinein nur staunen kann und die letzte Maßnahme zur Wahrung seiner Souveränität trifft: 3.22 Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und lebe ewiglich!

Benjamin sieht den Sündenfall als Trennung des menschlichen Wortes vom göttlichen, es ist kein Name mehr sondern „bloßes Zeichen“156, das etwas außer seiner selbst mitteilen soll. Sprache bringt keine der Schöpfung ent-sprechende Erkenntnis mehr mit sich, sondern ist abstraktes Urteil, das Benjamin unter Berufung auf Kierkegaard „Geschwätz“ nennt. Sprache wird überbenannt, überbestimmt und Mittel für anderes. (Wittgensteins Versuch, im Tractatus ein Entsprechungsverhältnis von Sprache und Welt zu konzipieren, könnte man fast als Versuch der Restitution von Adams prälapsarischer Benennungskompetenz sehen. Die Philosophischen Untersuchungen hingegen bedenken die babylonische Zerstreuung der Zeichen mit, sehen also ein, daß es postlapsarisch utopisch wäre, wirklichkeitsgetreu sprechen zu können. George Steiner sieht die Leistung eines Dichters als an Adams gelungener Benennung modelliert: Dichtung sei Zeugenschaft für das, was wahr ist, sei Antwort auf die Wirklichkeit als Schöpfung, lasse das Sein zur Sprache kommen. So religiös und ethisch aufgewertet darf sie kein eigenmächtiges Zurechtfabulieren aus reiner Phantasie sein und sich von der Verantwortung gegenüber der Schöpfung lösen, „Sprachschöpfung“ werden. „The Dichter knows the enormity of his venture, the neighbourhood to blasphemy inherent in the exercise of fictional invention, of counter-creation to the divine or the unknown.“ Steiner kommt zu diesen Überlegungen, weil er sich Gedanken darü155 156

Vgl. Jauß a. a. O. Vgl. S. 44ff. Benjamin listet drei Hinsichten auf, in denen der Sündenfall für Sprache relevant ist: 1. Sprache wird Mittel und vielfach 2. „Magie des Urteils“ 3. Abstraktion und Geschwätz.

III.5 Biblische Anfänge: Exkurs über Genesis 1-3

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ber macht, wieso Wittgenstein sich immer wieder ablehnend zu Shakespeare geäußert hat. Er mutmaßt, daß das daran liege, daß Shakespeare kein Dichter, sondern Sprachschöpfer sei und eben damit seine segensreiche Macht blasphemisch ausarten lasse. „Are Shakespeares characters, at the last, more than Magellanic clouds of verbal energy turning around a void, around an absence of truth and moral substance? ‚Ich mag es nicht‘, says Wittgenstein.“157) Der Genesistext kennt mindestens noch einen Anfang, nämlich im 5. Kapitel: 5.1. Dies ist das Buch von Adams Geschlecht. Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes 5.2. und schuf sie als Mann und Weib und segnete sie und gab ihnen den Namen „Mensch“ zur Zeit, da sie geschaffen wurden. 5.3. Und Adam war 130 Jahre alt und zeugte einen Sohn, ihm gleich und nach seinem Bilde, und nannte ihn Set; […]

Es folgt eine zehn Generationen auflistende Genealogie mit genauen Altersangaben, das Schema ist: Geburt, Zeugung, Alter, Tod. Eine Genealogie158 ist (wie Annalen und Chroniken159) eine Struktur, die sich anti-narrativ gibt und alle strukturbildenden Momente an die Chronologie zurückverweisen will. Da das menschlicher Zeiterfahrung und sprachlichem Erzählen nicht entspricht, gibt es ein Minimum von Bezugspunkten, die zwar keine Ereignisse sind, die aus menschlichen Handlungen resultieren, sondern biologische Prozesse. Die Generationenfolge stiftet Relationen zwischen den Zeitmomenten und ermöglicht, eine Kontinuität durch Zeugungsketten herzustellen. Das Alte Textament schickt also auch mehrere Anfangsversionen hintereinander, die unterschiedliche Strukturen bieten und verschiedene Schwerpunkte setzen. Gleichwohl soll der ‚erste‘ Anfang absolut sein, während der ‚zweite‘ ein Narrativ bietet und der ‚dritte‘ sich 157

158 159

George Steiner „A reading against Shakespeare“ in: No Passion spent, pp. 108-128. Steiner ist sich vollkommen darüber im Klaren, daß Wittgenstein Shakespeares Genie maßlos verkennt. Trotzdem sind seine Überlegungen streckenweise (s. o. Zitat) nicht weniger tendenziös, auch an anderen Stellen trägt er Shakespeare nach, so wenig mit der Bibel zu tun zu haben. Vgl. im selben Band der Aufsatz „A Preface to the Hebrew Bible“, p. 84. Vgl. Nietzsche und Foucault; Genealogie vs. Geschichte. Hayden White in Auch Clio dichtet Oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986 und 1991. White spricht von Plotstrukturen der Geschichtsschreibung, so daß immer literarische Verfahren zur Anwendung kommen und sinnstiftend wirken. Er legt Wert darauf, daß auch Chroniken gestaltet seien und durch spezifische Formationen (Serialität) verstehbar seien, nicht aber durch „reine“ Information und Fakten.

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III. Anfang Angst Anapher

selbst als ‚Buch‘ vorstellt und reflektiert, um dann quasi im Rückblick knapp die Schöpfung zu rekapitulieren. Sprechmodi, Erzählweise und Sprachverständnisse differieren erheblich: Gab es im ersten Kapitel eine hymnische Darstellung des mit Handlung einhergehenden göttlichen Wortes und im zweiten ein dramatisch sich steigerndes Narrativ, bietet der Anfang im 5. Kapitel eine genealogische Struktur ohne Fall. Wenn die Genesis-Kommentare von ätiologisch motivierten Plausibilisierungsstrategien160 sprechen, also die Vielfalt der angebotenen Versionen und deren Unstimmigkeiten darauf zurückführen, daß versucht wird, den als mangelhaft befundenen existentiellen Zustand des Menschen rückwirkend als gefallenen begreifbar zu machen, geben sie einen entscheidenden Hinweis: Aus der Sündigkeit gesprochen kann es paradiesische Zustände nur geben, wenn man alles Schlechte wegerzählt (z. B. die Flüche nach dem Fall beschreiben menschliche Existenz). Allerdings gibt es dann keine positiven Qualifizierungen und alle Negationen transportieren ihr Negiertes mit. (Die Schlange wird verflucht, auf dem Bauch zu kriechen, hatte sie vorher wohl Beine? War sie eine richtige Schlange?) Jede Erzählweise trägt das Potential gefallener Mißstände mit sich und an sich, jede sprachliche Äußerung ist durch den Fall durch Mißverständnisse, Täuschung und Lüge angreifbar und anfangsuntauglich. Wenn mehrere Anfangsversionen geboten werden, die sich nicht strukturell vereinheitlichen lassen und in keinem Verhältnis zueinander einfügen, wird genau das exemplifiziert.161 Jede Version trägt ein mögliches Mißglücken mit sich und läßt einen funktionalen Aspekt erkennen. Ich habe zu zeigen versucht, auf welche Weisen im biblischen Text die gespaltene Zunge ambivalenter Rede sich mit wachsender Intensität und Relevanz durch den Genesis-Text verfolgen läßt, sie ist keinesfalls Spezialität der Schlange. Sie wird kulminieren im babylonischen Sprachengewirr, Heilung finden zu Pfingsten und – zumindest Kierkegaard zufolge – einen bösen Rückfall erleiden in Philosophie und Theologie als Wissenschaft.

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161

Anders als im Märchen und der Bukolik hat das Paradies in der Bibel keinen selbständigen Wert und ist so erzählt, daß es vom Fall gezeichnet ist. Die Entität der „Bibel“ verdankt sich einer schlechten Übernahme des Plural „ta biblia“. Gleichwohl läßt sich mit Genesis und Apokalypse der Versuch erkennen, Anfang und Ende zu bieten.

III.6 Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse

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III.6. Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse Die Schwierigkeit – könnte ich sagen – ist nicht, die Lösung zu finden, sondern, etwas als Lösung anzuerkennen, was aussieht, als wäre es erst eine Vorstufe zu ihr. Wittgenstein Zettel 314

Von Caput 2 bis 4, genau genommen schon beginnend mit dem Unterschied der Geschlechter in Caput 1, widmet sich Der Begriff Angst den ‚quantitativen‘ Differenzierungen zur Sünde. Vor dem Hintergrund des bisher Besprochenen ist das nur konsequent, weil der eigentliche, qualitative Unterschied, der mit dem Eintreten der Sünde in die Welt kommt, als Sprung außer aller Diskutabilität bleiben muß. Es geht folglich nunmehr um ‚Sündigkeit‘, d. h. Spielarten von Angst, wie sie nach dem Fall in der durch ihn entstandenen menschlichen Gattung aufkommen können. Dabei ist die Situation eine andere, insofern man Bescheid wissen kann über die Möglichkeit des Sündigwerdens. Damit gewinnt man zwar ein reflektiertes Verhältnis zur Sünde, doch bewältigt das deren Dynamik nicht, es kann wieder Angst aufkommen, die sich auf Nichts bezieht und fallen läßt. Außerdem gibt es eine neue Angst, eine postlapsarische, die sich nicht nur auf die Möglichkeiten neuer Fälle, sondern auch auf die der Erlösung richtet. Auf der einen Seite ist die Kontinuität der Sünde jene Möglichkeit, welche ängstigt; auf der anderen Seite ist die Möglichkeit einer Erlösung hingegen ein Nichts, welches das Individuum sowohl liebt als auch fürchtet, denn so ist das Verhältnis der Möglichkeit zur Individualität immer.162

Wie der Geist, der sowohl Hegels Anmaßungen als auch die davon geerbte Syntheseleistung des Selbst ausmacht, führt die Angst sowohl ins Verderben als auch in die Rettung, welche sich beide durch ein Nichts ankündigen. Angst ist wie ein homöopathisches Mittel, ein pharmakon163, das die Symptome sowohl hervorruft als auch kuriert164. Um das in einer 162 163

164

63/324/358. Vgl. Jacques Derrida „Platons Pharmazie“ (1968) in Dissemination, S. 69-190, Wien 1995. Dies gilt für Verzweiflung dezidiert (aber widerspruchsvoll) nicht: „Im übrigen nur eine Bemerkung, freilich eine Überflüssigkeit, die ich mir aber doch leisten will: Ich will ein für allemal darauf aufmerksam machen, daß in dieser ganzen Schrift die Verzweiflung, was der Titel ja auch sagt, als Krankheit aufgefaßt wird, nicht als Heilmit-

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III. Anfang Angst Anapher

Abhandlung mit psychologischem Ansatz darstellen zu können, ist zusätzlich zu beachten, daß der zu heilende Mißstand kein Sonderfall ist, sondern auch den, der sich auf seine Heilung versteht, den Psychologen, wie Vigilius einer ist, betrifft. Deshalb ist Sympathie vonnöten, wenn es um die Sünde und mit ihr verbundene Geisteskrankheiten geht. Sympathie soll man empfinden, doch diese Sympathie ist erst dann echt, wenn man sich recht tief eingesteht, daß allen geschehen kann, was einem Menschen geschieht. Dann erst nützt man sich selbst und anderen. Wenn ein Irrenarzt so dumm ist, daß er sich selbst für klug in alle Ewigkeit und sein bißchen Verstand gegen jeden Schaden im Leben versichert wähnt, dann ist er zwar in gewissem Sinne klüger, gleichzeitig aber auch dümmer als die Wahnsinnigen und wird gewiß nicht viele heilen.165

Das hat Konsequenzen für Darstellung im folgenden anhand von Beispielen: Es ist nicht meine Absicht, ein gelehrtes Werk zu schreiben oder meine Zeit mit der Suche nach literarischen Belegen zu verschwenden. Jenen Beispielen, die in Psychologien angeführt werden, fehlt häufig die eigentliche psychologisch-poetische Autorität. Sie stehen wie ein isoliertes, notarisch bewiesenes Faktum da, und eben deshalb weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll, wenn ein solcher einsamer Stockfisch versucht, eine Art Regel zu bilden.166

Kierkegaards Zauberwort ‚myndighed‘, hier mit ‚Autorität‘ übersetzt, wird in allen deutschen Übersetzungen dieser Stelle anders wiedergegeben: bei Hans Rochol ist es ‚Gewicht‘, bei Hirsch ‚Vollmacht‘, bei Christoph Schrempf ‚Beweiskraft‘. Es geht darum, das Faktische ‚poetisch‘ aufzubereiten167, um es aussagekräftig zu machen. Das gelingt, indem wirkliche Fälle beobachtet, diagnostiziert, aber vor allem nachgeahmt und nachempfunden werden. Die klärende Darstellung von Angst bedarf mimetischer Kompetenzen, schon hier deutet sich die 164

165 166

167

tel. So dialektisch nämlich ist Verzweiflung. So ist ja auch in christlicher Terminologie der Tod Ausdruck für das größte geistige Elend, und doch besteht die Heilung gerade darin, zu sterben, abzusterben.“ (Schluß des Vorworts, KT 4 / SV XI, 118). Man müßte hier genauer darauf eingehen, wie die Krankheitsanalogie – wie andernorts die Liebesanalogie – bemüht wird, um immer wieder eingeschränkt, verworfen, modifiziert zu werden. Die zitierte Stelle verstehe ich folgendermaßen: Verzweiflung als Krankheit ist eine, die so, wie sie ist und wirkt, hoffnungslos tödlich ist, aber das läßt sie christlich eingeordnet heilsam sein, nicht aber eine Heilung von ihr, die es nicht gibt. 64/325/359. 64f./325/359. ‚Stockfisch‘ ist meine Übersetzung, im dänischen steht ‚Stivstikker‘, was auch für einen hölzernen Menschen gebraucht wird. Wieder bietet sich ein Anknüpfungspunkt zu Aristoteles an, diesmal ist es wieder die Poetik, wo Dichtung als „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung“ (1451b, S. 29 Stuttgart 1982) aufgefaßt wird.

III.6 Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse

195

Unabdingbarkeit des Ästhetischen im Dienste eines religiösen Zweckes an (mehr dazu in Teil V.). Wenn man solcherart eine Leidenschaft beobachten will, dann wählt man sein Individuum aus. Nun gilt es Stille, Schweigen, Heimlichkeit, damit man ihm das Geheimnis ablisten kann. Danach übt man das Gelernte ein, bis man imstande ist, den anderen zu täuschen. Dann dichtet man die Leidenschaft und erscheint nun vor ihm in ihrer übernatürlichen Größe. Ist das richtig ausgeführt, dann wird das Individuum eine unbeschreibliche Linderung und Genugtuung empfinden, wie sie ein Geistesschwacher fühlt, wenn man seine fixe Idee gefunden und dichterisch aufgegriffen hat und sie nun weiter ausführt. Gelingt das nicht, dann kann das in einem Fehler der Operation begründet sein, aber auch darin, daß das Individuum ein schlechtes Exemplar gewesen ist.168

Daß sich in Sachen Fall ausschließlich, wenn nicht schlechte Exemplare, so doch Exemplare des Schlechten, anführen lassen, dürfte klar sein. Ich werde nicht auf die Spielarten der Angst eingehen, obschon einge von ihnen lohnend sind. (Zu meinen Lieblingsthemen gehört beispielsweise die Verhandlung von Zeit und Augenblick in Caput 3; auf das ‚Dämonische‘ in Caput 4 werde ich in meinem Teil V. 2. zurückkommen.). Größtenteils handelt es sich um Differenzierungsversuche, die entweder kompliziert bis zur Spitzfindigkeit oder inkonsistent sind. (So beispielsweise soll Sinnlichkeit nicht mit Sündigkeit automatisch verbunden sein, ist es aber in vielen Textstellen. Am schlimmsten betrifft das das Geschlechtervehältnis: Geist und Angst stehen in Proportionalität. Aber die Frau soll gleichzeitig mehr Angst, nicht aber mehr Geist haben als der Mann und das aufgrund ihrer größeren Sinnlichkeit.169 etc.) Der Refrain bleibt der aus Caput 1 bekannte: Alle Differenzierungen ändern nichts daran, daß Angst Sünde hervorruft, ohne daß sich dies plausibilisieren ließe. Jede neue Bestimmung betrifft nur ‚quantitative‘ Angelegenheiten und ist uneigentlich. Wie Climacus muß Vigilius den Großteil seines Buches für unwesentlich erklären, um nicht den eingangs vorgeführten ‚falschen Grammatiken‘ eine neue hinzuzufügen. Die anaphorische Struktur hat sich in ihrer geschichtsbildenden Wirksamkeit als Versuchung der Entlastung herausgestellt, was die unabdingbare Notwendigkeit der eigenen Erlösung entschärft, den eigenen Mißstand verkennen läßt. Ich gehe über zum nur acht Seiten umfassenden Abschlußkapitel, denn hier wird das seitenstark als verderblich diskutierte Un-ding 168 169

66/326/360. Vgl. 78/336/370 und 83/340/373.

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III. Anfang Angst Anapher

Angst in seiner Qualität als Therapeutikum vorgestellt. „Angst als erlösend durch den Glauben“ ist sein Titel. Der Bruch zum vorherigen ist so bemerkenswert, daß einige Kierkegaard-Interpreten, die die Schriften zu Gruppen arrangieren, einen Schnitt quer durch die Angstabhandlung machen. Bis Caput 4 gehört demzufolge die Angstabhandlung zu den anthropologischen Schriften und Caput 5 zu den theologischen.170 Textkritische Untersuchungen zeigen, daß das letzte Kapitel der Angstabhandlung lange nicht existiert hat, es gibt keine Entwürfe dazu und keine Berücksichtigung im Inhaltsverzeichnis. Erst mit der Reinschrift hat Kierkegaard es in großer Eile verfaßt.171 Tatsächlich gewinnt Angst zwar keine andere Dynamik, auch hier bezieht sie sich auf Nichts, das Möglichkeiten aufruft, doch ist sie diesmal „bildend“172 und unumgängliche Maßnahme für eine Existenz in der Wahrheit. Indem nun das Individuum durch die Angst zum Glauben gebildet wird, will die Angst eben das ausrotten, was sie selbst hervorbringt.173

Auffallend ist, daß Kierkegaard mit Angst so verfährt, wie mit Ironie in seiner Ironieschrift: Auch dort ist das letzte Kapitel kurz und beschreibt, wie Ironie von der zumindest potentiell gefährlichen, weil alles verschlingenden Macht174 zur ‚beherrschten‘ wird und ihre ‚Wahrheit‘ entfaltet. Ich werde einige Charakterisierungen der Ironie aus diesem Kapitel zitieren, weil sie sich – bis in die Metaphern hinein – im letzten Caput der Angstabhandlung wiederfinden: Die Ironie ist ein Zuchtmeister, welcher nur von dem gefürchtet wird, der ihn nicht kennt, welcher aber geliebt wird, von dem, der ihn kennt. […] Muß man darum auch warnen vor der Ironie als einer Verführerin, so muß man sie doch auch anempfehlen als eine Wegleiterin. […] hier ist die Ironie ein vortrefflicher Chirurg; denn wie gesagt, wenn die Ironie beherrscht ist, so ist ihre Funktion von äußerster Wichtigkeit, auf daß das persönliche Leben Gesundheit und Wahrheit gewinne.175

Im Begriff Angst heißt es:

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In der KT könnte man die zwei Hälften ebenso als anthropologische und theologische bezeichnen. SKS K4, 324-326 und 332. Dänisch: ‚dannende‘, nicht ‚opbyggende‘ (erbauend). 186/425/458. Auf weiten Strecken der Arbeit ist Kierkegaard Hegelsch, so in der Terminologie, wenn er Ironie als ‚unendliche, absolute Negativität‘ oft beschreibt.(z. B. BI 275 / XIII 342f., auch These VIII) BI S. 331ff. / SV XIII, 390ff. / SKS 1, 355ff.

III.6 Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse

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Die Angst wird ihm ein dienender Geist, der ihn gegen den eigenen Willen führt, wohin er will. Und wenn sie sich dann meldet, wenn sie hinterlistig tut, als hätte sie jetzt ein ganz neues Mittel des Schreckens erfunden, als wäre sie jetzt noch viel entsetzlicher als zuvor, dann zieht er sich nicht zurück, noch weniger sucht er sie durch Lärm und Verwirrung fernzuhalten, sondern er heißt sie willkommen, er begrüßt sie feierlich, wie Sokrates feierlich den Giftbecher schwenkte, er schließt sich mit ihr ein, er sagt wie ein Patient zum Operateur, wenn die Operation beginnen soll: Jetzt bin ich bereit. Dann geht die Angst in seine Seele ein und prüft alles und ängstet das Endliche und Kleinliche aus ihm heraus, und dann führt sie ihn, wohin er will.176

Diese erstaunlichen Parallelen führen nicht zu einer Deckungsgleichheit von Ironie und Angst, was bereits durch den Titel der Ironieschrift indiziert wird: „mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“ heißt es, weswegen vom antiken Leben ausgehend die bei der Angst entscheidende Qualifizierung höchstens andeutungsweise zur Sprache kommen kann. Die Ironie leistet bestenfalls, ihre negative Macht insofern zu bremsen, als die eigene Wirklichkeit angenommen werden kann (was in meinem Teil I. 1. als ethische Konsequenz der indirekten Mitteilung Thema war). Das empfohlene „poetisch leben“ wurde den Romantikern trotz genau dieser Programmatik abgesprochen, weil es von der Wirklichkeit entrücke und ins schlechte Unendliche der Phantasie ablenke. Wenn Vigilius „Kunst ist eine Antizipation des ewigen Lebens“177 zitiert, distanziert er sich davon, da so nur eine „Versöhnung in der Phantasie“ zustandekomme. […] sondern er lebt erst poetisch, wenn er selbst in der Zeit, in der er lebt, sich zurechtfindet und also in sie eingeordnet ist, positiv frei ist in der Wirklichkeit, der er angehört. 178

Indem beherrschte Ironie die eigene Wirklichkeit in ihrer unabänderlichen Faktizität und Kontingenz anerkennen läßt, ist sie anfangstauglich, darin besteht ihre spezifische Leistung, wie bei ihrem Paten, dem „bifrontisken“ Schöpfergott Janus, wie ihn z. B. Varro in seiner Kosmogonie beschreibt. Wer Ironie schlechterdings nicht versteht, wer für ihr Raunen kein Gehör besitzt, er ermangelt eben damit (eo ipso) desjenigen, das man den absoluten Anfang des persönlichen Lebens nennen könnte, er ermangelt desjenigen, das da in einzelnen Augenblicken dem persönlichen Leben unentbehrlich ist, er ermangelt des Bades der Erneuerung und Verjüngung, der Reinigungstaufe der Ironie, welche die Seele aus dem Ge-

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178

185/425/457f. 178/418/452. Vgl. AUN II, S. 13 Fußnote ***, SV VII, 268. Außerdem KT C A a a, S. 26ff./SV XI, 143ff. und EC S. 177-180 / SV XII, 173-176. Martensen und Møller kommen als Quellen dieses Zitats in Frage. BI 330 / SV XIII, 389 / SKS 1, 354.

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III. Anfang Angst Anapher

bundensein ihres Lebens im Endlichen, möge sie gleich kraftvoll und stark darinnen leben, befreit; er kennt nicht die Erfrischung und Stärkung, die darin liegt, daß man, wenn die Luft zu drückend wird, sich entkleidet und sich ins Meer der Ironie stürzt, natürlich nicht, um darinnen zu bleiben, sondern um gesund und froh und leicht die Kleidung wieder anzulegen.179 These XV. Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.180

Bezogen auf Angst kann das nicht funktionieren, die ‚Rücksicht‘, mit der man sie in Verbindung bringt, ist ein Fall, ein schlechter Anfang. Deswegen hilft dagegen nicht die eigene, verdorbene Wirklichkeit, sondern genau das, was die Ironie gefährlich machte: eine Unendlichkeit, derer man nicht mächtig ist. Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit, und nur diese Angst ist durch den Glauben absolut bildend, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt und deren sämtliche Täuschungen aufdeckt.181

Die unendlichen Möglichkeiten waren oben Ursache für einen Schwindel, der dazu führt, daß man eine von ihnen – ohne verantwortlich wählen zu können – ergreift, also erstmals seine Freiheit aktualisiert und die Sünde begeht, sich ans Endliche als Rettung zu klammern. Man kann die Angst mit einem Schwindel vergleichen. Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen muß, dem wird schwindlig. Doch was ist die Ursache dafür? Es ist in gleicher Weise sein Auge wie der Abgrund – denn was wäre, wenn er nicht hinuntergestarrt hätte? Demgemäß ist die Angst jener Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will und die Freiheit nun hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder. Weiter kann die Psychologie nicht kommen, und sie will es auch nicht.182

Das letzte Kapitel lese ich so, daß der Schwindel der Angst nicht das Endliche ergreifen läßt, sondern das Unendliche, obschon man seiner 179 180 181 182

BI 331 / SV XIII, 390 / SKS 1, 355. BI 3 / SV XIII, 100 / SKS 1, 454. 181/422/454. 72/331/365. John M. Hoberman widmet sich dem Schwindel („Svimmelhed“) in publizierten und nicht-publizierten Texten Kierkegaards und stellt seine Relevanz in zentralen Angelegenheiten heraus. Es handelt sich um einen Zustand psychischer oder religiöser Desorientierung, der ein confinium, einen Übergang markiert. „[…] the real meaning of vertigo within Kierkegaard‘s discourse must be found within the structure of a literary idiom that is itself a „producer of effects“ – in short, a poetics“. p. 208 (in International Kierkegaard Commentary 19, The Sickness unto Death, Macon 1987, pp. 185-208)

III.6 Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse

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nicht mächtig sein kann wie einer durch freie Wahl ergriffenen und verwirklichten Möglichkeit. Es handelt sich also, anders als bei der Ironie, nicht um Möglichkeiten, die das Subjekt entwirft und in denen es sich verliert, sondern fremde Möglichkeiten, derer man sich nur anvertrauen, aber nicht versichern kann. In der Wirklichkeit ist niemand so tief gesunken, daß er nicht noch tiefer sinken könnte und daß nicht so mancher tiefer gesunken wäre. Doch wer in der Möglichkeit versank, dem schwindelte, dessen Blick verwirrte sich, so daß er den Maßstab nicht faßte, den Krethi und Plethi ihm als rettenden Strohhalm reichten, sein Ohr verschloß sich, so daß er nicht hörte, wie der Marktpreis für Menschen in seinem Zeitalter war, und nicht hörte, daß er genauso gut war wie die meisten. Er sank absolut, dann aber tauchte er aus der Tiefe des Abgrunds wieder auf, leichter als alles Beschwerende und Erschreckende im Leben.183

Wieder bietet sich ein Seitenblick auf Kant an, diesmal ist es die „Analytik des Erhabenen“ in der Kritik der Urteilskraft: Anders als beim Schönen gibt es angesichts des Erhabenen kein wohlgefälliglustvolles Spiel von Sinnlichkeit und Verstand, sondern die Erfahrung des Scheiterns dieser Vermögen. Konfrontiert mit Dimensionen, die die Wahrnehmungsfähigkeit des Subjekts überfordern, erlebt dieses Schwindel, weil die Erkenntnisvermögen nicht operieren können. Doch weckt diese Kapitulation die Aufmerksamkeit darauf, daß das Subjekt zu Höherem fähig ist und sich eine „Empfänglichkeit“ und „Entwicklung sittlicher Ideen“ bemerkbar macht.184 Die Erhabenheit wird durch das Angeschaute angeregt und qualifiziert das „Gemüt“ und die „Gesinnung“ dessen, der die Natur als gewaltig erlebt, ohne sich dem unterwerfen zu müssen.185 Bei Kierkegaard ist es nur der Glauben, der aus- und festhalten läßt, was die Vermögen des Erkennens, der Einbildungskraft und der Ethik scheitern läßt. Doch wenn sich ein Individuum solcherart absolut und unendlich durch die Möglichkeit bilden soll, muß es gegen die Möglichkeit redlich sein und Glauben haben. Unter Glauben verstehe ich hier, wie Hegel es an einer Stelle auf seine Weise überaus richtig sagt: die innere Gewißheit, welche die Unendlichkeit vorwegnimmt. Werden die Entdeckungen der Möglichkeit redlich verwaltet, dann wird die Möglichkeit alle Endlichkeiten entdecken, jedoch in Gestalt der Unendlichkeit idealisieren, sie wird das Individuum in der Angst überwältigen, bis das Individuum sie wiederum in der Antizipation des Glaubens besiegt.186

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185/424/457. Immanuel Kant Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1990, S. 111. Ebd., S. 110. 183/423/456.

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III. Anfang Angst Anapher

Mit der Hilfe des Glaubens erzieht die Angst das Individuum dazu, in der Vorsehung zu ruhen.187

Die für den Glauben charakteristische Antizipation, Vorwegnahme hat proleptische Qualität: Im Akt des Glaubens ist das Erhoffte präsent, also bereits realisiert, ohne deswegen voll eingetreten zu sein. Das Kapitel ist kurz und verliert kein Wort darüber, wie Angst diese erlösende Qualität gewinnen kann und woran man das festmacht. Jeder Versuch müßte die Unmöglichkeit bekennen, daß ein der Schwerkraft unterworfener, seiner selbst nicht voll mächtiger Existierender, allenfalls zum Sprung und Tanz ansetzen kann, aber dafür ein stabileres Fundament als Wirbel und Abgrund braucht. Sich theoriebildend darüber hinwegzusetzen wäre nichts anderes als das gnadenlose Nocheinmal des Falls, eine Wiederkehr des Gleichen, bei der es nichts zu gewinnen gibt, da sie nur einen Verlust wiederholen kann. Genauso, wie sich aus den Koordinaten des Gefallenseins, d. h. der Existenz, die Frage nach einer Realisierung der Freiheit ohne dabei sündig zu werden verbietet188, kann auch die Erlösung kein sinnvoll zu besprechendes Thema sein. Getreu seiner Überzeugung, daß es für den werdenden Existierenden einen Schluß nur als Möglichkeit gibt189, daß Kunst die Antizipation nur als Phantasieprodukt erzielt und daß Verstehen sich nur auf Vergangenes richten kann, aber leben nur vorwärts geht190, bleibt nichts anderes übrig, als „gefaßt sein“191 auf das Erlösende, den eigenen Grund als Abgrund wissen und mit 187 188

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188/426/459. Vgl. S. 59/320/320: „Wenn ich hier einen Wunsch äußern dürfte, dann wollte ich wünschen, daß kein Leser so tiefsinnig wäre zu fragen: und wenn Adam nun nicht gesündigt hätte? Im gleichen Moment, da die Wirklichkeit gesetzt ist, geht die Möglichkeit nebenher als Nichts, das alle gedankenlosen Menschen in Versuchung führt. Warum kann sich die Wissenschaft bloß nicht dazu entschließen, die Menschen in Zucht und sich im Zaum zu halten! Wenn einer eine dumme Frage stellt, dann sieht man wohl zu, daß man nicht darauf antwortet, sonst wäre man ja genauso dumm wie der Frager. Das Törichte dieser Frage liegt nicht so sehr in ihr selbst, sondern darin, daß man sich damit an die Wissenschaft wendet. Wenn man damit zu Hause bliebe wie die dumme Else mit ihren Projekten und gleichgesinnte Freunde zusammenriefe, dann hätte man seine Dummheit doch einigermaßen verstanden. Aber die Wissenschaft kann dergleichen nicht erklären.“ Vgl. dazu S. 109/363/396 und 131/ 380/414, außerdem das Motto zu III.3. S. o. Kap. I.1.; AUN II, 1-19 / SV VII, 257-273. Pap. IV A 164 „Das ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß man das Leben rückwärts versteht. Aber darüber vergißt man den anderen Satz, daß man vorwärts lebt.“ Vgl. Der Titel von Jacques Derridas Aporien. Sterben – Auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefaßt sein, München 1997. (franz.: Apories. Mourier – s‘attendre aux „limites de la vérité“, Paris 1996.)

III.6 Homöopathie mit Angst und Ironie: Schlüsse

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dem Fall rechnen müssen, und ihn der Unwägbarkeit fremder unendlicher Möglichkeiten anvertrauen192.

P. S. Das der Ironieschrift im griechischen Original vorangestellte Motto von Platon lautet in Schleiermachers Übersetzung so: Es mag einer in die kleinste Pfütze fallen oder mitten in das größte Meer, so muß er doch um nichts weniger schwimmen. – Ganz gewiß. – Also müssen auch wir schwimmen und versuchen, uns aus der Geschichte zu retten, sei es in der Hoffnung, daß irgendein Delphin uns auffangen wird, oder auf irgendeine andere wunderbare Rettung.193

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Man könnte einen Vergleich anstellen mit Lévinas‘ „des-inter-esse“, einer absichtslosen Hingabe, die kein Scheitern ist, sondern dezidiert Verzicht leistet auf Erfassenwollen, Intention und Zweckgerichtetheit. Vgl. Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München 1988, S. 17, 32-43. (De Dieu qui vient à l‘idée, Paris 1982.) Politeia 453 d. Der Kontext ist die Frage, ob Frauen und Männer trotz ihrer verschiedenen Naturen sich um dieselben Angelegenheiten kümmern können. Wie der Kommentarband zu SKS 1 (S. 120ff.) illustriert, war dieses griechische Zitat nicht auf dem Exemplar, das Kierkegaard an der Universität als Dissertation einreichte, wohl aber auf dem der ersten Buchhandelsausgabe, beide 1841.

Teil IV Wittgensteins ‚Sprung‘ das Spiel kann nicht damit anfangen, daß Einer sagt: „Man kann nie wissen, was die Ursache von etwas ist?“ Aber warum soll er nicht auch das sagen; wenn er dann nur einen beherzten Schritt macht.1

Den berühmten ‚Sprung des Glaubens‘ haben Interpreten sich zusammengereimt und Kierkegaard untergejubelt. Statistische Untersuchungen haben ergeben, daß dieser Ausdruck (dän.: Troens Spring) in den publizierten Texten kein einziges Mal vorkommt. Mehr noch: Wenn das Wort ‚Sprung‘ auftaucht, ist ‚Glaube‘ eher selten und umgekehrt, beide scheinen einander auszuschließen.2 Was ich im letzten Kapitel anhand der Angstabhandlung zu erarbeiten versucht habe, wird für das Aufkommen einer solch erfolgreichen Fiktion, die sich bis heute in Lexika und Sekundärliteratur hält, mitverantwortlich sein: Die nicht auf den Begriff zu bringende Sünde kommt durch einen Sprung in die Welt3, dessen Ursache mit

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Ludwig Wittgenstein „Ursache und Wirkung. Intuitives Erfassen“ (U+W) in Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt 1995, 3. Auflage, S. 114. Alastair McKinnon „Kierkegaard and the ‚Leap of Faith‘“ in Kierkegaardiana 16, Copenhagen 1993, S. 107-125. Diese Untersuchung stützt sich auf Wortzählungen durch Computer; sie sind als Belege in einer Tabelle mit Zahlenkolonnen mitabgedruckt. McKinnon hält diese Wörter für inkompatibel und ihre Kombination für unsinnig innerhalb des Kierkegaardschen Denkens: „Very briefly, the leap is both an ontological discontinuity and, resulting therefrom, a human act by which the individual bridges that discontinuity whether, for example, by passing from the quantitative to the qualitative or from thought to existence. By contrast, faith for Kierkegaard is a relationship to or with God and, in its specifically Christian form, one which must be constantly renewed every moment of one‘s life. Hence the notion of a sudden, once-for-all leap into anything like a Kierkegaardian Christian faith is particularly incongruous and confused.“ Ebd., p. 116. Z. B. S. 39, 144, 154 / SV IV 304, 390, 398.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

dem Decknamen Angst nur benannt, aber im Grunde unerklärt gelassen wird. Dies wirkt nachhaltig als ein theoretisches Vakuum, das dogmatische, anthropologische und philosophische Fragen provoziert und Schlagwörter, Termini und Theoreme zur Bewältigung heranziehen läßt. Das letzte Kapitel hingegen thematisiert Glauben als einzigen Modus, in dem Angst ‚erlösend‘, ‚bildend‘ und ‚erziehend‘ den Umgang mit der Unendlichkeit und ihren Möglichkeiten ohne sündhafte Verstrickung für den existierenden Menschen gelingen läßt. Auch bezüglich des Begriff Angst gilt folglich intern, daß die anthropologischen Kapitel 1-4 den Sprung, aber nicht Glauben thematisieren, während das letzte, kürzeste und theologische Kapitel den Glauben ins Spiel bringt. Während Angst durchgängig vorkommt und die Ambivalenz eines homöopathischen Mittels hat, nämlich den Mißstand Sünde sowohl auszulösen als auch von ihm zu erlösen, sind der Sprung und der Glaube klar getrennt und ohne Beziehung aufeinander. Gleichwohl ist die Rede vom ‚Sprung des Glaubens‘ nicht ganz bar aller Kierkegaardschen Relevanz und keine reine Gelehrtenphantasie: beispielsweise wenn Climacus seiner dicken Nachschrift voranschickt, es gelte „den qualitativen Übergang des Sprunges vom NichtGlauben zum Glauben“4 zu vollziehen und nicht ins System einzubegreifen, gibt er ein deutliches Beispiel für die berechtigte Verwendung eines solchen Ausdrucks. Wie dem auch sei, unbestritten bleibt, daß immer wieder ein Sprung ins Ungewisse an den Schlüsselstellen der Kierkegaardschen Konzeptionen beschworen wird und als aller Vernünftelei entzogen behauptet wird. Kierkegaards Rede von der Notwendigkeit von Leidenschaft, die in ihrer besten und stärksten Variante der christliche Glaube ist, hat Interpretationen Vorschub geleistet, die diese existentiell entscheidenden, aber argumentativ ausgesparten Stellen irrationalistisch oder dezisionistisch auffassen. Daß man sich so des Sprungs genauso entledigt, wie wenn man ihn als dialektischen Überschlag seiner paradoxen Schärfe beraubt, gibt der Kierkegaard-Forschung seit jeher zu denken. Um dies nicht nochmal durchzugehen, aber der Sache nach im Visier zu behalten, will ich im folgenden versuchen, mit Wittgenstein einen qualitativen Übergang mit weltanschaulicher Tragweite anzudenken. Ich werde dafür nicht auf eine andere Gelehrtenfiktion zurückgreifen, nämlich die vom „religiösen Sprachspiel“, das bei Witt4

AUN I, 10 / SV VII, 3.

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

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genstein (so gut wie5) nirgends vorkommt und ihm wegen der fideistischen Implikationen nur schwer zu unterstellen ist.6 Dann nämlich wäre Religion eine in sich geschlossene Angelegenheit, deren Gesetze und Wahrheitsansprüche nur intern legitimierbar sind und die gegen Kritik aus anderen Sprachspielen immun wäre. Man träte in ein religiöses Sprachspiel ein wie in einen Golfclub und bräuchte Gebete und Rituale wie den Golfschläger nur zu bestimmten Zwecken und den entsprechenden Gelegenheiten. Gerade im Hinblick auf Religion erweist sich die Spielanalogie als bloße Analogie und kommt an ihre Grenze. Obschon sich mit gutem Recht sagen läßt, daß Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen die Grenze pluralisiert, geht nicht das, was im Tractatus jenseits des Sagbaren lag, nunmehr in diversen inkommensurablen Sprachspielen auf. Es kommen zwei Texte in Frage: auf der Mikro-Ebene eines optischen Phänomens ist die Aspektwahrnehmung, wie Wittgenstein sie im zweiten Teil seiner PU bespricht, eine schlagartige paradoxe Koinzidenz von gewahrter und sicherbarer Identität und radikaler Andersheit. Dies läßt sich nur diskutieren, wenn auf etwas als Ganzheit rekurriert wird und eine Bezugnahme auf ein anderes, nicht aktuelles Ganzes vorgenommen wird. Die Ausweitung der Beispiele über den visuellen Bereich auf Musik, Kunst und Sprache lassen es mich wagen, einen Gestaltwechsel auch bzgl. des Weltbildes zu diskutieren. Vergleichbar mit einem Paradigmenwechsel läßt sich so versuchen, die ganze Welt zu einer anderen werden zu lassen, ohne auch nur ein modifiziertes Detail als Initiator oder Ursache dieser Metamorphose

5

6

In den Denkbewegungen gibt es eine Stelle in Geheimschrift, die als Ausnahme gelten mag: „Eine religiöse Frage ist nur entweder Lebensfrage oder sie ist (leeres) Geschwätz. Dieses Sprachspiel – könnte man sagen – wird nur mit Lebensfragen gespielt. Ganz ähnlich, wie das Wort „Au-weh“ keine Bedeutung hat – ausser als Schmerzensschrei.“ Eintrag vom 23.2.37, S. 91. Das wird in IV.2 noch ausführlicher Thema sein. Aber bereits durch das ‚Sagen und Zeigen‘-Kapitel müßte klar sein, daß ein Zeichen, insofern es zeigend wirkt, nicht von sich aus religiös ist. Zu einer religiösen Lebensweise können unterschiedliche Sentenzen gehören und ein Gebet kann ohne spezifische Formeln auskommen. Wenn Wittgenstein also zögert, im Vorwort seiner Philosophischen Bemerkungen dieses Buch als zur Ehre Gottes verfaßt zu deklarieren, so liegt das am allerwenigsten daran, daß darin keine religiösen Themen verhandelt werden. D. Z. Phillips wurde häufig eine fideistische Lesart Wittgensteins bzgl. religiöser Angelegenheiten unterstellt; ich werde darauf zurückkommen, wie er sich dagegen wehrt. Wittgenstein and Religion, London 1993 und Belief, Change and Forms of Life, 1986.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

verantwortlich machen zu können oder eine schrittweise Entwicklung ausmachen zu können.7 Allerdings funktioniert das Umkippen des Aspekts beliebig je nach Virtuosität, sich-Auskennen und Imaginationskompetenz des Betrachters. Beim existentiell wirksamen Sprung in eine andere Weltsicht hingegen ist zu berücksichtigen, daß man sich immer in einem Aspekt befindet und nur nach dessen Maßgabe und Spielräumen einen anderen zur Kenntnis nehmen und als mögliche Alternative in Betracht ziehen kann. Die nicht zu ignorierende Asymmetrie zwischen erster und dritter Person, zwischen dem Involviertsein und der Beobachterposition, läßt sich geltend machen, indem Wittgensteins allerletzte Arbeiten, die unter dem Titel Über Gewißheit posthum publiziert wurden, hinzugezogen werden. Wittgenstein sieht Letztbegründungsforderungen als regreß- und skeptizismusanfällig an und versucht darauf zu verzichten: Wenn nicht Wissen für Gewißheit zuständig ist, sondern Glaube, gelingt es, mit Grundlosigkeit zurechtzukommen und Begründbarkeit zu ermöglichen. Das so konstituierte ‚Weltbild‘ rückt an die Stelle des fundierenden Wissens und ist anders als dieses heterogen zusammengesetzt und veränderbar. Damit wird das im Tractatus noch in der Konzeption einer sprachlichen Abbildtheorie privilegierte Bild, das in den Philosophischen Untersuchungen als Gefährdung des klaren Sehens in Mißkredit geriet, schließlich beim ganz späten Wittgenstein rehabilitiert und gewinnt neue Qualität. Als Weltbild ist es nicht insgesamt auf seine Adäquatheit prüfbar, denn die Realität ist nie weltbildindifferent gegeben. Ein Hauptinteresse meiner Untersuchung ist es, die an seiner Entstehung und vor allem seinen Veränderungen beteiligten Faktoren in die Diskussion zu bringen. Dabei wird deutlich, wie Wittgenstein die üblicherweise für das Problem des Weltbildwechsels aufgemachte Alternative von Rationalismus und Relativismus unter7

M. Jamie Ferreira (Transforming Vision. Imagination and Will in Kierkegaardian Faith, Oxford 1991) erwähnt Wittgenstein zwar kaum, vor allem nicht in dieser Hinsicht, zieht aber als Modelle für den Sprung sowohl den Gestaltwechsel als auch Metapherntheorien heran. Sie charakterisiert diese Art eines qualitativen Übergangs als „noch nicht, aber schon“ (p. 60 „not yet but already“) bei dem Imagination eine zentrale Rolle spielt: Sie erlaube es, eine Transzendenz aus immanenten Bedingungen zu projizieren und aktuell werden zu lassen. Sei das einmal vollzogen, so werde eine Möglichkeit zur einzigen Wirklichkeit. Dieser Prozeß lasse sich einerseits nicht linear rekonstruieren und als wohlerwogene Entscheidung auffassen, andererseits sei es kein beliebiges, virtuos entworfenes Phantasieprodukt. Ansatzweise findet sich ein vergleichbarer Versuch bei Charles Creegan Wittgenstein and Kierkegaard. Religion, Individuality and Philosophical Method, London 1989 pp. 60ff.

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

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läuft. Besonders die in Über Gewißheit vorgestellte spezifische Funktion des Glaubens für die Beibehaltung, Akzeptanz und den Wechsel eines Weltbilds im Ganzen (‚Bekehrung‘) ist hierfür verantwortlich. Die Kapazität zum Wechsel eines Weltbilds vollzieht sich ähnlich wie ein Aspektwechsel, nur im großen Stil. Die Möglichkeit, mit einer ganz anderen Lebensweise und Weltsicht konfrontiert zu werden, ist – wie bei der verkappten Gesellschaftskritik durch die Schilderung aus der Sicht eines Naiven oder Fremden – die wirkungsvollste Kritik: Die gelebte Alternative zum eigenen vorgeführt zu bekommen, läßt dessen Mängel umso deutlicher erkennen. Es stellt sich eine verblüffende Parallele zu den epistemologischen Implikationen der Kierkegaardschen Auffassung des Glaubens heraus, so daß die beiden Autoren von unterschiedlichen Fragestellungen ausgehend zu einer Konvergenz kommen, die nicht Wissen, sondern Glauben, der sich implizit an Handlungsweisen und Lebensformen zeigt, zum fundamentalen Modus avancieren läßt. Das hat bei beiden zur Folge, daß der religiöse weltbildrelevante Glaube nur durch seine spezifischen Gehalte, nicht aber seinen Status und seine Wirkmacht, von dem für alle Gewißheit konstitutiven, epistemologischen Glauben differiert. Sowohl der zweite Teil der Philosophischen Untersuchungen als auch Über Gewißheit sind nur Entwürfe, die Wittgenstein nicht überarbeitet hat und die posthum veröffentlicht wurden. In beiden gibt es eine Fülle von Beispielen, Analogien und Metaphern, deren Zusammenhang und argumentativer Wert nur partiell einsehbar ist. Ich sehe das – auch vor dem Hintergrund des elaborierteren ersten Teils der Philosophischen Untersuchungen8 – nicht als Mangel an, sondern als charakteristische Art des Wittgensteinschen Procedere. Sie ist für die Dynamik einer Bekehrung charakteristisch, denn dabei wird keiner der beteiligten Faktoren zum ausschlaggebenden, keiner der vielen, heterogenen Gründe zum triftigen. Wenn Wittgenstein eine Sammlung möglicher Konstellationen und Wichtigkeiten anbietet, überläßt er den Nachvollzug einem Leser, dem keine andere Wahl bleibt, als aktiv zu rezipieren und eigene Prioritäten zu setzen. „Was der Leser auch kann, das überlaß dem Leser“.9 Dem versuche ich Rechnung zu tragen, indem ich nicht um der Konsistenz willen darüberwegdiskutiere, sondern sehr viel zitiere, um 8

9

Obschon der erste Teil der PU diesmal nicht mein primärer Bezugstext ist, gibt es eine Kontinuität zu den ganz späten Texten. Ohne diese eigens zu untersuchen und eine Diagnose bzgl. des Wittgensteinschen Gesamtœuvre zu stellen, werde ich – meist in Fußnoten – parallele Stellen anführen. VB S. 560 (1848).

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

durch das Arrangement der Abschnitte zu einer Besprechung zu kommen. Eine solche Verortung des Problempotentials erkennt der wittgensteintypischen Textgestalt weitestgehende Relevanz zu und wird in einer Zugabe (IV. 2. ) enggeführt: Es gibt einige neuere WittgensteinInterpretationen, die die Aspektwahrnehmung als Modell für das in den PU verfolgte Anliegen eines anderen Sehens philosophischer Probleme bewerten. Demnach wäre die bei mir für Glauben charakteristische Dynamik von der philosophischen nicht wesentlich unterschieden, allenfalls auf inhaltlicher Ebene. Letztlich wäre das Philosophieren – dann anders als Wissen – nicht insgesamt der Begründungsforderung verpflichtet und verdankt sich einem Stil, der Offensichtliches neu arrangiert, aber nicht mehr einer Methode, die Verborgenes als das Eigentliche alles Wirklichen zutage bringt und ihre Schritte im vorhinein festlegt und kontrolliert. Wie Kierkegaards Texte sind die Wittgensteins bekehrungsfreundlich, weil sie keine Befolgung einer Argumentation erfordern, sondern das als zu leistende Lektürearbeit anheim stellen und offen bleiben für alle Überraschungen des Anderen, den der Text nicht kennen kann, aber dessen er umso dringlicher bedarf.

IV.1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi Man kann sagen: Wenn wir philosophieren, feiert nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Blick. Wittgenstein10

Seit und wegen Platon ist es eine der ersten Aufgaben des Philosophierenden, der Täuschung durch die Sinne, besonders den des Sehens, nicht zu erliegen. Das Offensichtliche steht immer unter Scheinverdacht, weswegen man von ihm absehen, abstrahieren, muß. Die strengen Standards wissenschaftlichen Wissens dürfen nicht auf Spektakeln beruhen, „Theorie ist etwas, was man nicht sieht.“11 Malerei, Traum und Wahn werden von diesem Verdikt in Mitleidenschaft gezogen, sie gelten als doppelt unwahr weil Derivate des Augenfälligen. 10

11

Manuscript Vol. XII, zitiert bei P. M. S. Hacker Meaning and Mind. An analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. 3, Oxford 1990, p. 142. Hans Blumenberg Das Lachen der Thrakerin, 1.Satz, Frankfurt 1987, S. 9.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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Anders als Naturwissenschaften, die Sichtbares immer detaillierter untersuchen wollten und dafür Instrumente besserer Optik entwickelt haben (Mikroskop, Fernrohr, Brille), scheint Philosophie sich dem Unsichtbaren aber Sagbaren zu widmen und es als Wesen des Sichtbaren zu privilegieren. Paradoxerweise modelliert sich aber gerade das Absehen vom Offensichtlichen am Hinsehen, insofern als visuelle Metaphorik und Motive des Sehens die Rede von der wahren Erkenntnis dominieren12. „Augen öffnen“, „aufklären“ und „Schau“ von Ideen sind einige Formulierungen der Tradition, um das Ziel des Philosophierens als ein das sinnliche Sehen überbietendes erkennendes Sehen zu beschreiben. Mit der Kritik des Sehens geht seine Rehabilitierung auf anderer Ebene einher. Paradigmatisch dafür sind die beiden Sehweisen im platonischen Höhlengleichnis13 oder auch die cartesischen Wachs-Experimente in der zweiten Meditation, die zugunsten einer „evidentia“, welche der geometrischen gleichzukommen beansprucht, von unzuverlässiger sinnlicher Wahrnehmung absehen lassen. „Claudam nunc oculos (…)“14. Die christliche Tradition kennzeichnet eine vergleichbare Ambivalenz dem Sehen gegenüber: Augenzeuge sein wollen gilt als Symptom des Unglaubens: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“15 Immer wieder erfolgt der Appell „Wer Ohren hat zu hören, der höre“16 und die Verurteilung der Schaulust als concupiscentia oculorum.17 Besonders das Alte Testament zeugt von Rufen und Hören als Kontaktmöglichkeit zwischen Gott und Mensch; der hörende Mensch ist einer, der gehorcht: „Du sollst Dir kein Bildnis machen.“18 12

13 14

15 16 17

18

Vgl. Ralf Konersmann (Hg.) Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 9-47; Gottfried Boehm Sehen. Hermeneutische Reflexionen, ebd. S. 272-298. Politeia 514 a – 518d. Vgl. auch Parmenides. So beginnt die 3. Meditation, nachdem in der Widmung „certissimis et evidentissimis demonstrationibus“ in Aussicht gestellt wurden. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Hamburg 1977, S. 60. Johannes 20,24-29. Lukas 14,35; 8,8. 1 Johannes 2, 16f.: „Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit. “ Wie die Privilegierung des Hörens im 15. Jahrhundert durch das Sehen abgelöst wurde, zeichnet Donat de Chapeaurouge nach: Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht, Wiesbaden 1983, Kapitel 1 „Rangstreit der Sinne“, S. 1-14. In diesem Kapitel wird deutlich, wie das Sehen Gottes auf die Erde wandert und den Menschen qualifiziert, was diesen zum Herrscher werden läßt. Durch unmittelbare Schau Gottes erübrigen sich außerdem die Mittlerdienste durch Kirche, Heilige und Priester.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Gleichwohl findet sich in beiden Testamenten die Auffassung eines höheren, erkennenden Sehens, so beispielsweise im Lukasevangelium, wo die Jünger dazu privilegiert werden, wie bei Platon die Philosophen: Seine Jünger fragten ihn, was das Gleichnis bedeute. Da sagte er: Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu erkennen. Zu den anderen Menschen aber wird nur in Gleichnissen geredet; denn sie sollen sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen.19

Die hier eingesetzte Figur des Paradox‘ entspricht dem in mehrerer Hinsicht und wird im Verhältnis zu ihrer ‚methodischen Schwester‘, der Dialektik, im folgenden noch belangvoll sein. An dieser Stelle sei nur etymologisch darauf verwiesen, daß παρ δξα nicht nur mit ‚gegen die (herrschende) Meinung‘ übersetzt werden kann: das Spektrum der Übersetzungsmöglichkeiten von δξα läßt auch ‚Schein‘ zu und transportiert damit eben diese Ambivalenz, die vom Mißtrauen erweckenden ‚bloßen Schein‘ bis zum (heiligen) Schein göttlicher Wahrheit reicht.20 Das Paradox leistet in einem Schlag eine effektvolle Erledigung der üblichen Meinung zugunsten der frappierend anmutenden höheren Wahrheit, jenseits aller Schaulust und immun gegen sie. Um die Beispiele durch ein letztes zu ergänzen, sei an Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1336 erinnert: In einer für diese Zeit gewagten Offenheit gibt Petrarca als Motivation den Wunsch an, von oben die Gegend sehen, sie selbst in Augenschein nehmen zu wollen. Die im Mittelalter als Sünde diffamierte curiositas, die u. a. durch Thomas von Aquin in eine Reihe mit den Fleischeslüsten gestellt wurde, initiiert den ersten dokumentierten Bergausflug zum Vergnügen und ein neues Erleben des Raumes als Landschaft mit Perspektive. Oben angekommen kuriert die Lektüre der Confessiones von Augustin den ersten Touristen von der genußvoll erlebten Augenlust und veranlaßt ihn zu einer Augustin nachgemachten Konversion nach innen, um sich beim Abstieg der Kultivierung des ‚inneren Auges‘ zu widmen. 19

20

Lukas 8, 9-10. Es geht um das Gleichnis vom Sämann, dessen Samen Jesus in der folgenden Auslegung als Wort Gottes verstanden wissen will, um die unterschiedlich fruchtbaren Umgangsweisen damit herauszustellen. Langenscheidts Großwörterbuch, 27. Auflage 1991 listet unter δξα folgendes: 1.a) Meinung, Ansicht, Vorstellung, Glauben α) Erwartung β) bloße Meinung, grundlose Annahme, Wahn, Einbildung, Dünkel, Schein b) Beschluß, Vorhaben, Plan c) Urteil 2. Meinung, Ruf a) guter Ruf, Ansehen, Ruhm, Geltung, Würde b) (neutestamentarisch, spätgriechisch) Herrlichkeit, Majestät, Glanz, Ehre. Die beiden Verständnisweisen von ‚Schein‘ wären 1. β) und 2.b).

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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Die Kritik des Sehens21 geht also paradoxerweise einher mit einem neuen, wahren Sehen, dessen Sinnlichkeit, damit Täuschungsanfälligkeit oder -komplizenschaft, gebannt ist. Obschon man Wahrgenommenes nicht für wahr halten will und das Sichtbare dem privilegierten Sagbaren untergeordnet wird, kann Evidenz Wahrheit ausweisen und Anschauung sowohl den (falschen) Anfang des Philosophierens markieren, als auch deren absoluter Kulminationspunkt22 sein. Wenn Wittgenstein nachdrücklich dafür plädiert, sich dem Offensichtlichen zuzuwenden und alle Ansprüche auf ein Wahres ‚dahinter‘ verabschiedet, beendet er diese Konkurrenz der Sichtweisen23. „Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären.“24 Ohne es selbst so zu akzentuieren, verzichtet Wittgenstein damit auf die Hybris der Ursünde, mehr wissen zu wollen als das Auge hergibt, mehr haben zu wollen als sich darbietet. Die visuelle Metaphorik erledigt sich damit keineswegs, wie die zentralen Forderungen nach „Übersicht“25 und begrifflicher wie grammatischer ‚Klärungen‘ andeuten: Wenn das Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen diesen Text als „Album“ voller „Landschaftskizzen“ bezeichnet, macht sich ein modifiziertes Paradigma des Sehens, nämlich eines, das der Topographie verpflichtet ist, bemerkbar.26 Weder der gewöhnliche Anblick alltäglicher Wahrnehmung noch das anspruchsvolle Anliegen des Durchblicks auf Verborgenes sind hier taugliche Modelle: Übersicht ermöglicht lokale Orientierung, ohne das Ganze kontrollieren zu können, sie bezieht den aktuellen Wahrnehmungsraum ein wie ein zeigendes Zeichen und 21

22 23

24 25 26

Die Verunglimpfung audiovisueller Medien seit den ersten Stummfilmen speist sich aus ähnlichen Argumenten. Um dagegen den pädagogischen Wert von Filmen stark zu machen sind die Autoren des Bandes Weltbilder Wahrnehmung Wirklichkeit. Bildung als ästhetischer Lernprozeß bemüht (hrsg.: Dieter Baacke/Franz Josef Röll Opladen 1995): Plädiert wird nicht etwa dafür, die Ablösung des Sehens durch Denken wieder umzukehren, sondern beide Kompetenzen zu kultivieren. Vgl. Schellings „intellektuelle Anschauung“. Fairerweise müßte man auf die wichtige Rolle der Wahrnehmung in Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie eingehen und dessen Projekt der ‚Rehabilitierung der Doxa‘ einbeziehen. PU 126. PU 122 u. ö. Vgl. auch PU 5, 66, 340 etc. Hans Blumenberg hätte also seinen Aufsatz „Licht als Metapher der Wahrheit“ getrost weiterschreiben können, er endet mit dem Beginn der Neuzeit, mit Bacon und Descartes. „Für die Neuzeit bedarf es offenbar noch des Nachweises, daß die Geschichte der Lichtmetapher hier überhaupt weitergeht.“ Studium Generale Band 10, 1957, Fußnote S. 433.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

verzichtet darauf, eine Gesamtschau von oben oder außerhalb anzustreben. Damit geht das Vorhaben einher, Selbstverständliches als solches in den Blick zu nehmen und durch neues Arrangement auf das dafür konstitutive ‚Übersehen‘ (im Sinne des mißlicherweise nicht Sehens) zu befragen. Der neue Schwung der alten Metapher gewinnt besonders im 2. Teil der Philosophischen Untersuchungen, wo in Kapitel xi27 Aspektwechsel diskutiert werden, eine eigene Qualität. Wenn einem plötzlich eine Ähnlichkeit in zwei Gesichtern auffällt, wenn man eine Zeichnung räumlich sieht oder in einem Vexierbild eine Gestalt ausmacht, sieht man dasselbe ganz anders. Ein solcher Wechsel ist weder ein dialektischer Umschlag, dessen Pole sich durch Gegensätzlichkeit aneinander konturieren und durcheinander stabilisieren, noch die variantenreiche Perspektivierung eines identischen zugrundeliegenden Substrats. Vielmehr wird Identisches mit einer anderen Identität konfrontiert, die ihm nicht entgegengesetzt ist, sondern es selbst ausmacht. Es hat so nicht nur sein Anderes, sondern koinzidiert mit sich selbst als einem Anderen. Damit ist konturiertes Sehen von ganzen Gestalten nicht preisgegeben, wohl aber durch Überdeterminierung der Elemente und Konfigurationen in seiner Eindeutigkeit irritiert, angeregt und herausgefordert. Der Aspektwechsel macht aufmerksam auf die Gestaltqualität des Wahrgenommenen, nämlich daß das Ganze sich nicht in der Summe oder Kombination seiner Teile erschöpft. Es hat andere Eigenschaften, ist von anderer Art als seine Teile; in der Gestalttheorie spricht man von Übersummativität.28 Wie beim Zeigen sind weniger diskrete Einheiten als kontextuelle Ensembles bedeutungsrelevant. Wie bei der Betrachtung von Kunstwerken ist eine reibungslose Erkenntnisleistung gestört, weil eine begriffliche Subsumtion mit Hilfe von visuellen Codes nicht (dauerhaft) stattfinden kann. Die akute Gefährdung des gewohnheitsmäßigen ‚sich-Auskennen‘ aktiviert Wahrnehmung als produktive Leistung, bei der das Auge unter Aufrufen seiner schematischen Repertoires erarbeitet, was nicht (sofort) 27

28

Einschlägig sind ebenfalls Stellen aus dem ersten Teil der PU, vor allem 491-570, außerdem aus Zettel (Z) und den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie (BPP I und II). Eine griffige und brauchbare Einleitung in die Gestalttheorie bietet Verena Mayer Semantischer Holismus. Eine Einführung, Berlin 1997, besonders Kapitel 2. Weiterführend ist der Band Foundations of Gestalt Theory, München/Wien 1988, ed.: Barry Smith, wo allerdings nur die österreichische Linie zur Debatte steht. Es gibt eine sehr ausführliche Bibliographie in diesem Band.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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erfaßbar ist. Eine solche Mobilisierung und Transformation von Gewußtem erschließt unter Beteiligung von Vorstellungskraft neue entkonventionalisierte Sichtweisen mit erkenntniserweiterndem bzw. -flexibilisierendem Potential. Als Spiel, nicht im Sinne einer regelgeleiteten Aktivität, sondern einer innovativen Leistung, die ασησις nicht in Konkurrenz zur εωρ α, das Affiziertwerden der Sinne, des Auges, nicht als schlechtere, weil scheinanfällige Alternative zur vernunftgemäß sinnvollen Erkenntnis, wirkungsvoll sein läßt, ließe sich insofern bei Wittgenstein ein Analogon zu Kant und Schiller finden.29 Wie beim Zeigen ist unsagbar nicht nur das pathetisch alle sinnlichen und vernünftigen Fähigkeiten Übersteigende, sondern auch das Normale, dessen Offensichtlichkeit seine Effizienz vergessen macht. Das Erlebnis des Aspektwechsels macht darauf aufmerksam, indem es nur sowohl sinnlich-rezeptiv als auch erkenntnisproduktiv zugleich erfolgen kann. Es unterliegt keiner regelmäßigen Zuverlässigkeit und zwingender Konsequenz, so daß man sich ihm grundsätzlich widersetzen kann. So kann der Versuch dominieren, das mögliche Neue in den etablierten Mustern unterzubringen und das Wagnis der Irritation und des Spiels nicht einzugehen. Dies wird von Wittgenstein mit „Aspektblindheit“30 quasi-pathologisch tituliert und in seiner Tragweite diskutiert. 29

30

In Kants Kritik der Urteilskraft (KU) ist Sehen kein sinnlich-rezeptiver Vorgang, sondern produktiv und in spielerisch-dynamischer Beziehung zu den Erkenntnisvermögen. Kant will dies nicht reglementiert oder garantiert wissen, sondern spricht vorsichtig davon, daß eine ästhetische Wertschätzung anderen „zugemutet“ werden kann: „Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung von Schönheit verloren. Also kann es auch keine Regel geben nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen (…) Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (…) es sinnt nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel“ (S. 25f., Hamburger (Meiner) Ausgabe 1990, S. 53f. Hervorhebungen im Original). Z. B. Rudolf Makkreel beurteilt die Einbildungskraft in der Kritik der Urteilskraft als interpretativ bzgl. der Naturordnung als ganzer. Anders als in der Kritik der reinen Vernuft gehe es nicht nur um die Konstitution von Erfahrung und Begründung, sondern die Orientierung in der Welt. Ohne gesetzgebend zu sein, lege sie dort bedeutungsvolle Verwandtschaften nahe, wo begriffliche Verknüpfung nicht zu leisten sei. Damit habe die KU keine doktrinäre Aufgabe, auch nicht die des Systemschlusses, denn ihre Leistung sei bildend, nicht synthetisch. Einbildungskraft und Interpretation, Paderborn 1991. PU II, xi S. 552/148f. (Die Seitenangabe bezieht sich auf die genannte Werkausgabe Band 1, Frankfurt 1989; hinter dem steht Schrägstrich der Abschnitt innerhalb des xi. Kapitels, von mir numeriert, um eine ausgabenunabhängige Zitation zu ermöglichen).

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Die Kennzeichnung dieses Vorgangs als ‚visuelle Metapher‘31 parallelisiert das optische mit einem sprachlichen Phänomen. Eine solche Lesart läßt sich durch den Wittgensteinschen Text decken, wenn man die vielen Arten von Beispielen im elften Kapitel berücksichtigt und die gemeinsame Charakterisierung solcher Fälle als „Neigung zum Vergleich“32 einbezieht. Nicht nur visuelle Phänomene, sondern auch solche aus Musik und Sprache finden sich dort, zudem werden Analogien gestiftet wie die zwischen Aspektblindheit und Bedeutungsblindheit33. Dies ist auch für die Gestalttheorie charakteristisch, eine Gestalt kann in unterschiedlichen Medien Ausdruck finden, sie ist transponierbar. Das hat die Kehrseite, daß eine Gestalt einer ‚materialen‘ Grundlage bedarf, seien es Wörter, Farben, Töne, etc., ohne darauf reduzierbar zu sein oder davon abzuhängen. Für die von Wittgenstein diskutierten Phänomene ist charakteristisch, daß sich die Zuständigkeit nicht eindeutig klären läßt. Die simpel anmutende ‚Gebrauchstheorie der Bedeutung‘ erfährt spätestens im Aspekte-Kapitel ein Korrektiv, indem die Komplexität sprachlichen Funktionierens über alle eindeutigen Handhabbarkeiten hinaus Thema wird. Wenn Wittgenstein Wörtern eine ‚Physiognomie‘ zuerkennt und sie wie und als Gesichter beschreibt, gewinnen sie Ausdruckqualität, die die Spielanalogie mit der Suggestion eines explizierbaren Reglements nicht zu fassen vermag. Die Interferenzen zwischen unterschiedlichen Grammatiken lassen sich nicht instrumenteller Handhabbarkeit zuliebe in den Griff bekommen, vielmehr sind sie es, die den Spielraum für sprachschöpferische und künstlerische Aktivität gewähren. Wie Aspekte auf das normale Sehen im Sinne der ασησις zurückwirken, so macht Bedeutungserleben auf die vielen Dimensionen auch im alltäglichen Sprachgebrauch aufmerksam. Dazu kommt, daß die semantische und syntaktische Ebene zwar irreduzibel sind, aber ohne Rekurs auf sinnliche Komponenten wie den Klang der Sprache oder ihr Schriftbild nicht reichen. Ähnlich läßt sich nichts retten, indem man die ‚Bilder für sich sprechen läßt‘, denn die 31

32

33

So z. B. Virgil C. Aldrich (1968), in: Anselm Haverkamp (Hrsg.) Theorie der Metapher, Darmstadt 1996, S. 142-159. Für meine Zwecke besonders inspirierend war Carl Hausmann Metaphor & Art, Cambridge University Press 1989, s. u. BPP I 317 „In allen jenen Fällen kann man sagen, man erlebe einen Vergleich. Denn der Ausdruck des Erlebnisses ist, daß wir zu einem Vergleich geneigt sind. Zu einer Paraphrase. […]“ Wittgenstein spricht wieder von ‚Verwandtschaft‘ (BPP I 1064) und diskutiert zusätzlich ‚Gestaltblindheit‘ (BPP I 170).

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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Bilder sprechen gar nicht und sind gerade deshalb für Besprechung provokant. Ein klar strukturierter Gesamtzusammenhang des Kapitels oder elaborierte Bezüge zwischen den vielen Sonderfällen wird nicht geboten; obschon dies Klärungsversuche herausfordert, wird sich kein gemeinsamer Nenner abtrotzen lassen. Angesichts der Editionsgeschichte34 des zweiten Teiles der PU gibt es hinreichend Veranlassung, anhand des vorhandenen Materials sowie Zeugnissen die Pläne Wittgensteins zu rekonstruieren. Doch liegt in der heterogenen Vielfalt (ja Obskurität) dieses Sammelsuriums auch eine Chance, wenn man bedenkt, daß in den unter Kapitel xi versammelten Abschnitten etliche an andere Wittgensteinsche Texte anknüpfen (so wird die im ersten Teil diskutierte Problematik des ‚Inneren‘ aufgegriffen und die Themen Glaube, Zweifel und Gewißheit aus Über Gewißheit angeschnitten). Obschon eine im weitesten Sinne weltanschauliche Relevanz des Aspektsehens nur in Andeutungen bei Wittgenstein zu finden ist, wird sie (oft ohne Kommentar) in der Sekundärliteratur beansprucht, z. B. dadurch, daß ein Vergleich mit Thomas Kuhns Paradigmenwechseln35 gezogen oder Heideggers In-der Welt-sein in die Diskussion gebracht wird36. Ohne die wissenschaftstheoretische Akzentuierung Kuhns oder Heideggers Daseinsanalyse näher zu diskutieren, will ich 34

35

36

Was von Anscombe, von Wright und Rhees, den Herausgebern der Philosophischen Untersuchungen, als erster Teil zusammengefaßt wurde, hat Wittgenstein größtenteils elaboriert und selbst so betitelt. Der Status des weniger gefeilten Materials, das als zweiter Teil angeschlossen wurde, ist unklar und umstritten. Vgl. Eike von Savigny und Oliver R. Scholz (Hrsg.) Wittgenstein über die Seele, Frankfurt 1996. Wittgenstein-interne Fragen, wie die, ob es nicht nur einen frühen und einen späten Wittgenstein gibt, sondern mit den ganz späten Texten auch noch einen Wittgenstein 3, werde ich nicht in Angriff nehmen. Eher wird sich eine Verknüpfung aller ‚Phasen‘ durch bestimmte Problemkonstellationen ergeben. Thomas Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1962. Kuhn konnte Wittgensteins späte Texte nicht kennen, als er dieses Buch schrieb: Wittgenstein arbeitete 1951 an den 1969 als Über Gewißheit von Anscombe und von Wright publizierten Bemerkungen. Es wird von Kuhn berichtet, daß er überrascht war, als er Ähnlichkeiten zwischen dem späten Wittgenstein und seinen Überlegungen entdeckte. Über seine Gesprächspartner Stanley Cavell und Thompson Clarke könnte er indirekt beeinflußt worden sein. So bei Stephen Mulhalls On Being in the World. Wittgenstein and Heidegger on Seeing Aspects, London 1990. Eine „more general application“ (p. 3) des optischen Aspekt-Themas läßt Mulhall zufolge Wittgenstein in die Nähe Heideggers (Sein und Zeit) rücken, ohne deshalb metaphysische Zugeständnisse machen zu müssen. Ich verdanke dieser Arbeit einiges und werde sie weiter unten diskutieren.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

vor allem anhand von Wittgensteins Einsatz optischer Metaphern auch in Über Gewißheit und dem ersten Teil der Philosophischen Untersuchungen dem nachgehen.

IV.1.1. Sehen und Sehen-als Das theoretische Verhalten ist unumsichtiges Nur-hinsehen. Heidegger Sein und Zeit § 15

Wittgenstein führt eine Distinktion ein, die zugleich erhellend und operabel, aber auch problematisierend und problematisch ist, nämlich die zwischen „stetigem Sehen“ und „Aufleuchten eines Aspekts“37: Ersteres ist der Normalfall von Wahrnehmung, bei dem ohne Zögern und Irritation etwas erkannt wird. Ein gewohnter Kontext erübrigt interpretative Vollzüge und das Gesehene ist ohne gezielte Erkenntnisleistung handhabbar. Wie beim Erlernen und Beherrschen eines Sprachspiels sind Erziehung, Gewohnheit und ‚sich auskennen‘ verantwortlich für reibungsloses Funktionieren. Ein solcher unproblematischer Vollzug angesichts einer bildlichen Darstellung hat zur Folge, daß ‚direkt‘ auf das Dargestellte Bezug genommen wird. Es ist hier nützlich, den Begriff des Bildgegenstandes einzuführen. Ein ‚Bildgesicht‘ z. B. wäre die Figur

Ich verhalte mich zu ihm in mancher Beziehung wie zu einem menschlichen Gesicht. Ich kann seinen Ausdruck studieren, auf ihn wie auf den Ausdruck des Menschengesichtes reagieren. Ein Kind kann zum Bildmenschen, oder Bildtier reden, sie behandeln, wie es Puppen behandelt.38

Daß es alternative Abbildungsweisen von diesem Gesicht geben könnte, bleibt unbeachtet, daß es sich ‚nur‘ um ein Bild handelt, spielt keine Rolle. Davon zu unterscheiden ist das Aspektsehen, denn hierbei vollzieht sich eine plötzliche Änderung: Wenn beispielsweise eine Ähn37 38

PU II xi 519/8. 520/10.

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lichkeit zwischen Gesichtern auffällt39, wenn eine geometrische Zeichnung räumlich gesehen werden kann40 oder wenn Vorder- und Hintergrund wechseln41, gibt es alternative Sichtweisen. Bekanntestes und meistdiskutiertes Beispiel ist der „Hasen-EntenKopf“42: eine einfache gezeichnete Figur läßt sich sowohl als Hase als auch als Ente auffassen. Was die Ohren des Hasen sind, sind bei der Ente der Schnabel etc. Obschon keinerlei Änderung an Formen oder Farben manifest werden, wird das Wahrgenommene als Ganzes ein anderes.

Der Aspektwechsel. „Du würdest doch sagen, daß sich das Bild jetzt gänzlich geändert hat!“ Aber was ist anders: Mein Eindruck? meine Stellungnahme? – Kann ich‘s sagen? Ich beschreibe die Änderung wie eine Wahrnehmung, ganz, als hätte sich der Gegenstand vor meinen Augen geändert. „Ich sehe ja jetzt das“, könnte ich sagen (z. B. auf ein anderes Bild deutend). Es ist die Form der Meldung einer neuen Wahrnehmung. Der Ausdruck des Aspektwechsels ist der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung, zugleich mit dem Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung.43

Das Frappierende ist, daß die Änderung stattfindet, ohne daß sich ein Anlaß dafür ausmachen ließe oder ein Kriterium als ausschlaggebendes Moment gelten könnte. Kein Detail ist tatsächlich verändert und doch wandelt sich das Ganze und mit ihm jede Kleinigkeit.44 Die Identität des Gesehenen bzgl. Form und Farbe läßt sich sichern: Wittgenstein nennt eine Kopie als Garanten dafür oder spricht

39 40 41 42 43 44

518/1. 518f./6. 541/102. 520. Wittgenstein kürzt ab: „H-E-Kopf“. PU II xi 522/21f. In BPP I 27 versucht Wittgenstein die Veränderung in die ‚Auffassung‘ zu verlagern und das identisch bleibende ‚Gesichtsbild‘ davon zu trennen. Beide zusammen machen den ‚Eindruck‘ aus. Vgl. 518. Allerdings wird diese Distinktion nicht weiter virulent, was weiter unten beim Thema ‚Deuten‘ verständlich wird.

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von kongruenten Figurationen45; dies wäre für stetiges Sehen erschöpfend, nicht aber beim Aspektwechsel: Ist also die Kopie der Figur eine unvollkommene Beschreibung meines Seherlebnisses? Nein. – Es kommt doch auf die Umstände an, ob, und welche, näheren Bestimmungen notwendig sind. – Sie kann eine unvollkommene Beschreibung sein; wenn eine Frage übrig bleibt.46

Nicht etwa ein Mangel an Exaktheit47 ist es, der eine Kopie untauglich macht, um das Entscheidende einzufangen. Wie bei den Paradigmenwechseln von Thomas Kuhn48 gibt es zwar Anomalien, die sich mit dem geltenden Paradigma nicht vereinbaren lassen, doch sind die nicht zwingend ausschlaggebend für das Eintreten des Wechsels. Deshalb bleiben die resistente Frage und die fehlende Bestimmung; es ist unklar, in welchen Zuständigkeitsbereich sie fallen.49 Auch die sprachliche Beschreibung leistet keine hinreichende Erklärung; das, was das Bild umkippen läßt, ist nicht aussagbar. Wieder markieren deiktische Partikel den Ort, an dem der Diskurs auf Uneinholbares geöffnet wird50. Ihre Hervorhebung durch kursiven Druck im Schriftbild läßt

45

46 47

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49

50

Ein Rekurs auf Netzhauteindrücke würde entsprechendes leisten. Wittgenstein nimmt davon Abstand, weil physiologische Befunde ihm zufolge allerhöchstens Redefinierungen bewirken und von der Ebene linguistischer Praxis ablenken. Zur Kongruenz PU II xi 522/18 und 528/44. PU II xi 528/44. Unter Umständen geht es sogar gerade darum, Verschwommenheit in einer Beschreibung auszudrücken: BPP I 1051.„ Wie verschwommen auch mein Gesichtsbild sein mag, so muß es doch eine bestimmte Verschwommenheit haben, so muß es doch ein bestimmtes Gesichtsbild sein. Das heißt wohl, es muß einer genau passenden Beschreibung fähig sein, wobei eben die Beschreibung die gleiche Vagheit haben muß, wie das Beschriebene.[…]“ Vgl. BPP I 1080 zum Beispiel strömendes Wasser: „[…] Genauigkeit gibt es in diesem Sprachspiel nicht.[…]“ Thomas S. Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1962, dt. Ausgabe: Frankfurt 1997; S. 141 „Was immer er dann auch sehen mag, der Wissenschaftler betrachtet nach einer Revolution noch dieselbe Welt“. Vgl. Kap. IX S. 104ff.: Weder Kumulation von Wissen noch historische Zufälle lassen sich zur hinreichenden Bedingung stilisieren. Vgl. BBP I 1118 „Ja, du kannst wohl sagen: Zur Beschreibung dessen, was du siehst, deines Gesichtsteindrucks, gehört nicht bloß, was die Kopie zeigt, sondern auch die Angabe z. B., du sähest dies ‚solid‘, das andere ‚als Zwischenraum‘. Es kommt hier eben darauf an, was wir wissen wollen, wenn wir Einen fragen, was er sieht.“ Vgl. Beispiele aus der Musik in BPP I 545f. „Wäre es denkbar, daß über zwei identischen Abschnitten eines Musikstücks Anweisungen stünden, die uns auffordern, es beim ersten Mal so, beim zweiten Mal so zu hören, ohne daß dies auf den Vortrag irgendeinen Einfluß ausüben sollte. […]“

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bereits auf Sichtbares ausweichen. Gleichwohl gelingt das Zeigen nicht, der Aspekt ist kein ‚Objekt‘ der Wahrnehmung wie der Bildgegenstand des stetigen Sehens und die Zeigewörter sind ineffektiv. „[…] Die Versuchung ist ja eben, den Aspekt mit den Worten zu beschreiben „Ich sehe es so“ ohne auf etwas zu zeigen. […]“51

Auch hier sind die kursivgedruckten ‚so‘ häufig zu finden, nur sind sie bei Aspekten nicht mit der Zeigegeste und dem Einbezug des Wahrnehmungsraumes zu ‚sättigen‘. Deshalb ist man versucht Aspektwahrnehmung als Erlebnis zu charakterisieren und wie alle Vorgänge, die sich weder beschreiben lassen noch Objekt des Zeigens sein können, als ‚innerlichen‘ Vorgang, der verborgen und nicht kontrollierbar ist, zu verstehen.52 Nahe liegt, wie bei der Diskussion um die ‚Privatsprache‘53, nach äußerlichen Kennzeichen zu suchen, die Rückschlüsse auf das Erlebte erlauben. Doch wäre dann das, worauf man zeigen kann und das die Instanz der Bezugnahme bietet, nicht das, worum es geht; man ist versucht, von einer nur indirekten Nachweisbarkeit oder Aufweisbarkeit zu sprechen. So ist es auch für die Beschreibung einer Aspektwahrnehmung charakteristisch, Vokabular aus heterogenen Bereichen heranzuziehen, auch aus solchen, die mit dem Gesehenen nichts zu tun haben, um es ‚im übertragenen Sinne‘ zu verwenden. Wenn ich einen Aspekt beschreibe, so setzt die Beschreibung Begriffe voraus, die nicht zur Beschreibung der Figur selbst gehören.54

Doch ist das insofern mißverständlich, als der Eindruck erweckt wird, dies sei eine defizitäre Maßnahme, die sich am Idealfall eines direkten Zugangs mißt und immer hinter ihr zurückbleiben muß. Dieser Gegensatz von direkt-indirekt aber erweist sich sowohl bei Empfindungen als auch Aspekten als unbrauchbar und sinnlos. Da möchte man vielleicht antworten: Die Beschreibung der unmittelbaren Erfahrung, des Seherlebnisses, mittels einer Deutung ist eine indirekte Beschreibung. „Ich sehe die Figur als Kiste“ heißt: ich habe ein bestimmtes Seherlebnis, welches mit dem Deuten der Figur als Kiste, oder mit dem Anschauen einer Kiste, erfahrungsgemäß einhergeht. Aber wenn es das hieße, dann müßte ich‘s wissen. Ich müßte mich auf das Erlebnis di51 52

53

54

BPP I 863 . BPP I 896. Vgl. PU II xi 523/23. Wenn Wittgenstein im ersten Teil der PU über Vorstellungen handelt, kommt er zu einem ähnlichen Befund, nämlich daß sich darauf nicht zeigen läßt: PU 370, 374. PU I 243-315. In BPP I 180-220 greift Wittgenstein das Privatsprachenargument auf und diskutiert es im Zusammenhang mit den Themen aus PU II xi. BPP I 1030 + 989.

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rekt, und nicht nur indirekt beziehen können. (Wie ich von Rot nicht unbedingt als der Farbe des Blutes reden muß.)55

Übertragene Bedeutung gewinnt einen eigenen, nicht übersetzbaren Status und ‚Bilder‘ werden als unersetzbare, weil unübersetzbare Ausdrucksweisen rehabilitiert, da ohne sie keine Beschreibung möglich wäre. Wie bei Vorstellungen ist dies kein Defizit und der Gebrauch des nicht prüfbaren Bildes keine schlechtere Darstellungsform, da es keine Alternative gibt.56 Vor allem bei Empfindungen vermag eine Imitation der Gestik und Mimik als Zeichen zu fungieren, so daß nur eine Instantiierung, ein neues Beispiel, die Unsagbarkeit und Unzeigbarkeit kompensieren kann. Besonders die Beispiele über ein Lächeln im Gesicht57 handeln von einem Bild, das keine Darstellung von etwas ist. Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.58 Wie ist es aber mit so einem Ausdruck: „Als du es sagtest, verstand ich es in meinem Herzen“? Dabei deutet man auf‘s Herz. Und meint man diese Gebärde etwa nicht?! Freilich meint man sie. Oder ist man sich bewußt, nur ein Bild zu gebrauchen? Gewiß nicht. – Es ist nicht ein Bild unserer Wahl, nicht ein Gleichnis, und doch ein bildlicher Ausdruck.59

Auch für die Religion sind solche Bilder unabdingbare Manifestation dessen, worum es geht, und unübersetzbare Bestandteile der Weltsicht – nicht nur deren zusätzliche und verzichtbare Illustration (s. u. IV.3 zu Weltbild und Glauben) Die Religion lehrt, die Seele könne bestehen, wenn der Leib zerfallen ist. Verstehe ich denn, was sie lehrt? – Freilich verstehe ich‘s – ich kann mir dabei manches vorstellen. Man hat ja auch Bilder von diesen Dingen gemalt. Und warum sollte so ein Bild nur die unvollkommene Wiedergabe des ausgesprochenen Gedankens sein? Warum soll es nicht den gleichen Dienst tun wie die gesprochene Lehre? Und auf den Dienst kommt es an.60

Um die irreführenden Konnotationen des „Bildes“ als etwas, das Rückschlüsse auf das Abgebildete nicht nur zuläßt, sondern auch an 55 56

57 58 59 60

PU II xi 519/7. Vgl. über primäre und sekundäre Bedeutung: PU II xi 557/166+168. PU 374. Vgl. Z 621 „[…] Vorstellungen belehren uns nicht über die Außenwelt, weder richtig noch falsch. (Vorstellungen sind nicht Halluzinationen, auch nicht Einbildungen.) […]“ Vgl. Z 627. Vgl. BPP I 899, 999, BPP II 543ff.: Verwandtschaft von Vorstellung und Aspektwahrnehmung. Dazu siehe unten 1.4 zur Physiognomie von Wörtern. PU II iv S. 496. Ebd. PU II iv 495. Vgl. PU II xi 554/155f.

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ihm abgleichen läßt, loszuwerden, spricht Wittgenstein sowohl bzgl. Empfindungen als auch Aspekterleben und Religion von einem Ausdruck: Wenn sich ein Erlebnis ausdrückt, fällt es ineins mit der Art, wie es sich zeigt. Der Ausdruck manifestiert das, was er ausdrückt, und verweist nicht außerhalb seiner oder auf ein verborgenes Inneres. Obschon dann die Frage nach der korrekten Äußerung entfällt, ist damit nicht alle Skepsis ausgeräumt: auch ein Ausdruck kann geheuchelt werden und ist nur als ‚natürliche Reaktion‘, wie sie auch Tiere zeigen61, wahrhaftiger als eine arbiträre Korrelation von Zeichen und Bezeichnetem. Doch wie immer verweist Wittgenstein darauf, daß die absolut sichere theoretische Gewähr nicht nötig ist, um einen Ausdruck richtig einzuschätzen und angemessen auf ihn zu reagieren. Die Unsicherheit hat ihren Grund nicht darin, daß er seine Schmerzen nicht außen am Rock trägt. Und es ist auch gar keine Unsicherheit in jedem besonderen Fall. Wenn die Grenze zwischen zwei Ländern strittig wäre, würde daraus folgen, daß die Landesangehörigkeit jedes einzelnen Bewohners fraglich wäre?62

Doch gibt es bei Schmerz wie Aspekterleben einen charakteristischen Ausdruck, nämlich einen Ausruf als Reaktion auf die Plötzlichkeit und Unvermitteltheit der Änderung. Ein solcher Ausdruck ist weder wahr noch falsch, sondern treffend. Wenn man beispielsweise ein Gesicht eine Weile anschaut, und plötzlich erkennt, daß es sich um einen Bekannten handelt, liegt das Paradoxe darin, daß etwas identisch bleibt, obschon es sich plötzlich ändert. Die für das ‚stetige Sehen‘ charakteristische Dauer koinzidiert mit einem abrupten Wechsel. Wenn sich keine Ursache dafür festmachen läßt, ist der Zeitpunkt der Veränderung unvorhersehbar; Wittgenstein spricht von ‚aufleuchten‘ und ‚auffallen‘63. Ich möchte sagen, daß, was hier aufleuchtet, nur so lange stehen bleibt, als eine bestimmte Beschäftigung mit dem betrachteten Objekt dauert. („Sieh, wie er blickt.“) – ‚Ich möchte sagen‘ – und ist es so? – Frage dich: „Wie lange fällt mir etwas auf?“ – Wie lange ist es mir neu?64

61

62 63 64

Wittgensteins Tierbeispiele stehen fast immer mit ‚primitiven Reaktionen‘ und unwillkürlichem Ausdruck in Zusammenhang und werden mit einer gegen-mentalistischen Stoßrichtung eingesetzt. Vgl. PU 250 u. ö. Auffallend ist zudem, daß den „Ausdruck“ oft die Adjektive „unmittelbar“ oder „primitiv“ begleiten. (Was im Tractatus ab 3.31 zum Ausdruck gesagt wird, ist mit dieser späten Verwendung nicht mehr vereinbar.) Z 556. In BPP I 508 und 1022 operiert Wittgenstein mit dem Gegensatz chronisch-akut. PU II xi 546f./126.

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„Wenn ich ihn ansehe, sehe ich immer das Gesicht seines Vaters.“ Immer? – Aber doch nicht nur auf Augenblicke! Dieser Aspekt kann andauern.65

Wieder ist Wittgenstein in der Verlegenheit, das Entscheidende nicht klar bestimmen zu können; weder das Eintreten des Augenblicks der Veränderung noch die Dauer eines ‚Aufleuchtens‘ lassen sich irgendwie qualifizieren.66 Einziges Symptom, das den Zeitpunkt markiert, ist die für das Erleben eines Aspektwechsels charakteristische Äußerungsart. Das Plötzliche schlägt sich sprachlich nieder und macht die Äußerung zu einem Ausruf, der von der Verwunderung über den Wechsel gezeichnet ist. Nur ein solcher Ausruf kann kriteriell sein für Aspektsehen, d. h. er ist wie ein Schmerzschrei aller Verifizierbarkeit entzogen und irreduzibel an die erste Person gebunden. Ich schaue auf ein Tier; man fragt mich: „Was siehst du?“ Ich anworte: „Einen Hasen.“ – Ich sehe eine Landschaft; plötzlich läuft ein Hase vorbei. Ich rufe aus „Ein Hase!“ Beides, die Meldung und der Ausruf, ist ein Ausdruck der Wahrnehmung und des Seherlebnisses. Aber der Ausruf ist es in anderem Sinne als die Meldung. Er entringt sich uns. – Er verhält sich zum Erlebnis ähnlich wie der Schrei zum Schmerz.67

Wittgenstein will darauf aufmerksam machen, daß sprachliche Äußerungen verschiedene Funktionen haben und nicht immer (verifizierbare) Behauptungen sind, die sich auf einen propositionalen Gehalt reduzieren lassen. Ein Ausruf angesichts einer plötzlichen neuen Wahrnehmung will Wittgenstein als Teil von Reaktionen und nicht als Mitteilungen über Sachverhalte, d. h. als Bekundung im Unterschied zur Beschreibung verstanden wissen. Ich will sagen, daß der natürliche, primitive, Ausdruck des Erlebnisses des Aspekts so ein Ausruf wäre, es könnte auch ein Aufleuchten der Augen sein. (Es fällt mir etwas auf!)68

Dieses Zitat läßt deutlich werden, daß eine verbale artikulierte Äußerung verzichtbar ist, ihre Rolle läßt sich auch durch eine stumme körperliche Reaktion ersetzen. Damit ist die Semantik hier – wie beim Zeigen – unerheblich für die Art des Ausdrucks und liefert keine zuverlässigen Indikatoren für die Rolle einer Äußerung. Ein- und der65

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BPP I 528. Vgl. PU II xi 548f./133. Vgl. BPP I 1021. „Es ist, als wäre der Aspekt etwas, was nur aufleuchtet, aber nicht stehen bleibt; und doch muß dies eine begriffliche Bemerkung sein, keine psychologische.“ BPP I 527 „Und wie ist es mit dem ‚Auffallen‘? Findet das in einem Moment statt, oder dauert es an?“ PU II xi 524/29. BPP I 862. Vgl. 874. Vgl. PU II xi 540/97.

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selbe Satz kann einen unartikulierten Schmerzschrei ersetzen und als Bericht eines Kranken über seinen Zustand beim Arztbesuch fungieren. Wie bei der Kopie läßt sich ein identisches Substrat sichern, ohne daß damit etwas gewonnen wäre. Die Vergleichbarkeit mit dem Schmerzverhalten bedarf aber einer Einschränkung: Denk dir den H-E-Kopf in einem Gewirr von Strichen versteckt. Einmal nun bemerke ich ihn in dem Bild, und zwar einfach als Hasenkopf. Später einmal schaue ich das gleiche Bild an und bemerke die gleiche Linie, aber als Ente, und dabei brauche ich noch nicht zu wissen, daß es beidemale die gleiche Linie war. Wenn ich später nun den Aspekt wechseln sehe, – kann ich sagen, daß dabei die Aspekte H und E ganz anders gesehen werden, als da ich sie einzeln im Gewirr der Striche erkannte? Nein. Aber der Wechsel ruft ein Staunen hervor, den das Erkennen nicht hervorrief.69

Was das Wechsel-Erlebnis von stetigem Sehen mit Erkenntnisleistung unterscheidet, ist das Staunen, welches sich nicht einem Gewinn an Informationen verdankt. Wenn das ‚sich-Auskennen‘ durch „Abwesenheit des Staunens und Zweifelns“70 charakterisiert wird, ist deutlich, daß gewohnheitsmäßiges Zurechtkommen im Rahmen geläufiger Praxis eine solche Irritation nicht kennt. Sie verdankt sich einem Mehr an Aufmerksamkeit und geht über die Erfordernisse des praktischen Lebensvollzugs hinaus. Es ist eine Sonderleistung, die unter Beteiligung von Vorstellungskraft erlaubt, aufs ‚Ganze‘ zu zielen71. Mit dem Staunen läßt Wittgenstein die Befindlichkeit assoziieren, die traditionellerweise am Anfang (und Ende?) allen Philosophierens 69 70 71

PU II xi 527f./42. BPP I 295. Deshalb halte ich es für unglücklich, einen Aspektwechsel mit dem Regelparadox kurzzuschließen, wie es Gabriele Hiltmann macht (in Aspekte sehen. Bemerkungen zum methodischen Vorgehen in Wittgensteins Spätwerk, Würzburg 1998, Kap. 3, S. 56-76.) Die beim Regelanwenden zuzugestehenden Fall-zu-Fall-Variationen sind graduell, jedes Beispiel verdankt sich trotz der uneinholbar komplexen Singularität einer Möglichkeit der Subsumtion unter ein Allgemeines, das es zu einem Besonderen macht. Damit steht es in Kontinuität mit den anderen Beispielen zu derselben Regel. Wittgensteins Rede von „Verwandtschaft“ trifft die hierfür erforderliche Gemeinsamkeit, auch wenn sie sich nicht in einem immer zutreffenden Merkmal konzentriert. Sicher passiert es, daß der hierbei unabdingbare Spielraum dazu führt, daß einseitige Beispiele die Anwendung einer Regel dominieren und auf die Regel zurückwirken, also sie subversiv umprägen. (s. u. zur historischen Änderbarkeit von Weltbildern). Aber das ist nicht die Dynamik eines plötzlichen Anderssehens eines integralen Ganzen, wie beim Aspektwechsel. Entsprechend unplausibel ist, wie Gabriele Hiltmann Wittgenstein die Devise „Alles fließt!“ unterstellt (S. 51, 74, 113, 115) aber gleichzeitig sprachliches Funktionieren generell wie ein Vexierbild begreift (S. 68).

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steht. In seinem Vortrag über Ethik hatte er vor dieser Initialzündung gewarnt72, da sie überschwängliche Fragestellungen in Gang setzt, die Antworten provoziert, die die im Tractatus erarbeiteten Bedingungen sinnvoller Sagbarkeit ignorieren. In aller Vorsicht und ohne Pathos kommt der späte Wittgenstein darauf zurück.

IV.1.2. Deuten: kaiserlose Kleider Vor allem vor dem Hintergrund empiristischer Wahrnehmungstheorien, mit denen Wittgenstein nicht zuletzt durch seine (früheren) Lehrer Russell und Moore bekannt war, ist es verführerisch, klären zu wollen, auf welcher Ebene sich der Wechsel vollzieht, auf der ‚materialen‘ oder ‚intellektuellen‘. M. a. W.: Sind es die visuellen Gegebenheiten, die zweifaches Sehen provozieren, oder ein produktives Überformen von rein rezeptiv aufgenommenen neutralen Reizatomen? Ohne auf diese Diskussion im Einzelnen einzugehen, wird mit Wittgensteins Bemerkungen deutlich, daß Fälle von Sehen-als die hier zugrundeliegende dualismusanfällige Fragestellung unterlaufen. Sehe ich wirklich jedesmal etwas anderes, oder deute ich nur, was ich sehe, auf verschiedene Weise? Ich bin geneigt, das erste zu sagen. Aber warum? – Deuten ist ein Denken, ein Handeln; Sehen ein Zustand.73

Die erste der genannten Auffassungen wäre eine, die dem Gestaltpsychologen Köhler nahe steht, denn der geht von zwei visuellen Gegenständen aus und lokalisiert mit der einheitsstiftenden Leistung durch ‚Organisation‘ die alternativen Aspekte als optische Eigenschaften auf der Ebene sensorischer Fakten. Daran ist problematisch, daß man ein ‚inneres Bild‘ annehmen muß, einen privaten Gegenstand, womit man der Mentalismusfalle ausgesetzt ist.74 Die zweite

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Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. Joachim Schulte, Frankfurt 1995, (3.Aufl.) S. 9-19. PU II xi 550/139. Vgl. Z 216 „Nicht den Aspektwechsel sieht man, sondern den Deutungswechsel.“ Z 217 „Du siehst es nicht einer Deutung, sondern einem Deuten gemäß.“ Der Einfluß von Wolfgang Köhler Gestalt Psychology: An Introduction to New Concepts in Modern Psychology (1929) auf Wittgenstein ist nachweisbar, in BPP bezieht er sich auf Köhler, vor allem, indem er dessen Auffassung der ‚Organisation‘ kritisiert: BPP I 534ff., 869 und 1113ff.

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Möglichkeit verweist auf Ansätze, bei denen neutrale Sinnesdaten durch konzeptuelle kognitive Leistungen erst zu Gegenständen der Wahrnehmung werden75. Deuten ist dann das Zuschreiben von Bedeutung, also eine aktive ‚Zutat‘ zum passiv-rezeptiven ‚Zustand‘ des Sehens. Dem entspricht das zweistufige Zeichenmodell, bei dem durch einen Akt der Interpretation dem vorhandenen Zeichen seine Bedeutung, für die es steht und die es verbirgt, zurückgewonnen wird. Der Skepsis bezüglich der korrekten Deutung ist nichts entgegenzusetzen, weil die Beziehung auf das Gedeutete nicht kontrollierbar ist76. Wittgenstein macht auf Schwierigkeiten einer Trennung von Deutung und Sehen aufmerksam: Wie ist es aber möglich, daß man ein Ding einer Deutung gemäß sieht? – Die Frage stellt es als ein seltsames Faktum dar; als wäre hier etwas in eine Form gezwängt worden, was eigentlich nicht hineinpaßt. Aber es ist hier kein Drücken und Zwängen geschehen.77

Man müßte eine Deutung als dem Sehen fremde, theoriegeladene Schemata, die beim Wahrnehmungsprozeß herangetragen und auferlegt werden, auffassen. So verstanden wäre es vergleichbar mit Hypo-

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PU II xi S. 523/25 „Wer die ‚Organisation‘ eines Gesichtseindrucks mit Farben und Formen zusammenstellt, geht vom Gesichtseindruck als einem inneren Gegenstand aus. Dieser Gegenstand wird dadurch freilich ein Unding; ein seltsam schwankendes Gebilde. Denn die Ähnlichkeit mit dem Bild ist nun gestört.“ Vgl. PU II xi 523/22 und 543/111. Auch hier könnte Karl Bühler einflußreich gewesen sein, wozu es aber keine Belege gibt. Die Gestaltwahrnehmung, Stuttgart 1913. Wolfgang Wenning stellt die These auf, daß der Schlüssel für Wittgensteins Sprachtheorien in seinen jeweiligen Sehtheorien zu finden sei: Er parallelisiert H. von Helmholtz‘ atomistischen Ansatz mit der im Tractatus vertretenen Position. Im Zuge einer ‚phänomenologischen Wende‘ der Sehtheorie verliere der Elementarsatz seine Bedeutung zugunsten einer Aufwertung des Kontextes und Wittgenstein entwickele analog zu seinem sehtheoretischen Paradigmenwechsel eine ‚holistische Bildtheorie der Sprache‘ in den PU. „Sehtheorie und Wittgensteins Sprachphilosophie“, in Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Diskussion, Berlin/New York 1985, hrsg. Dieter Birnbacher und Armin Burkhardt, S. 170-190 . Vgl. Z 229f. „Eine Deutung ist doch etwas, was in Zeichen gegeben wird. Es ist diese Deutung, im Gegensatz zu einer anderen (die anders lautet). – Wenn man also sagen wollte „Jeder Satz bedarf noch einer Deutung“, so hieße das: kein Satz kann ohne einen Zusatz verstanden werden. Ähnlich wäre es fast, wenn man beim Würfeln, wieviel ein Wurf gelten soll, durch einen weiteren Wurf bestimmte.“ PU II xi 530/54. Vgl. Z 217 (= BPP II 522) „Du siehst es nicht einer Deutung, sondern einem Deuten gemäß.“ Vgl. Z 208.

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thesenbildung über etwas, welche Prüfung und Korrekturen unterworfen ist, also eine objektive Angelegenheit ist, die sich anderen gegenüber bewähren kann und muß. Nun, die Fälle, in welchen wir deuten, sind leicht zu erkennen. Deuten wir, so machen wir Hypothesen, die sich als falsch erweisen mögen. „Ich sehe diese Figur als ein …“ kann sowenig verifiziert werden (oder nur in dem Sinne) wie „Ich sehe ein leuchtendes Rot“. Es besteht also eine Ähnlichkeit der Verwendung von „sehen“ in beiden Zusammenhängen. Denk nur ja nicht, du wüßtest im Vorhinein, was „Zustand des Sehens“ hier bedeutet! Laß dich die Bedeutung durch den Gebrauch lehren.78

Die Parallele zum Farbensehen macht die rezeptive Seite des Sehens stark und sichert Aspektsehen gegen virtuoses und unbegrenztes Zuschreiben von Deutungen, es ist keinesfalls „einer sinnlosen Form Sinn andichten“79. Wittgenstein erwähnt sogar Wahnsinn, wenn jemand alles Mögliche als etwas sieht80, dies kann uferlos ausarten und schlimmstenfalls mit kausalen Erklärungen verwechselt werden. Nun könnte man die unzähligen Möglichkeiten von Aspekten dadurch einschränken, daß bestimmte Deutungen sich in einer Kultur durchgesetzt haben und die etablierten Wahrnehmungsweisen dominieren. Der Unterschied zwischen Sehen und Sehen-als läge dann darin, daß ersteres eindeutig ist und letzteres alternative Deutungen zuläßt. Dann wäre Aspektwahrnehmung ein Sonderfall, der darauf aufmerksam werden läßt, daß es keine konzeptionslose Wahrnehmung gibt, keinen unschuldigen Blick, nichts neutral Gegebenes. Erst durch das Phänomen des Wechsels des Aspekts scheint der Aspekt vom übrigen Sehen abgelöst zu werden. Es ist, als könnte man nach der Erfahrung des Aspektwechsels sagen: „Es gab da also einen Aspekt!“81

Konsequenterweise wäre der Unterschied zwischen Sehen und Sehen-als aufzugeben, denn das auf Anhieb eindeutige stetige Sehen wäre aus kontingenten, nicht in der Wahrnehmung zu lokalisierenden Gründen alternativlos, eigentlich aber auch ein Sehen-als. Allerdings verdankt sich diese Auffassung eben jenem Dualismus zwischen Deutung und Gedeutetem, den sie zugunsten der Deutung auflöst.

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PU II xi 550/140. Z 201. BPP I 965 „Könnte man es nicht für Wahnsinn halten, wenn ein Mensch eine Zeichnung als Portrait des N. N. erkennt und ausruft „Das ist Herr N. N.!“ – „Er muß verrückt sein“, sagt man von ihm, „Er sieht ein Stück Papier mit schwarzen Strichen darauf und hält das für einen Menschen!““ BPP I 415.

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Sowohl im Tractatus82 als auch im zweiten Teil der PU83 bemüht Wittgenstein die Metapher vom bekleideten Körper, wobei die Sprache die oft irreführende, die wirkliche Natur des Denkens oder der Welt verbergende Verkleidung ist, deren Operationen es zu durchschauen gilt. Auch die Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefengrammatik84 scheint diese Dichotomie zu bemühen und ebenfalls dem Pathos des Entbergens und Entlarvens von Täuschungen zugunsten des Eigentlichen geschuldet zu sein. Aber gerade dann, wenn sich etwas zeigt oder ausdrückt, also bei Schmerz oder Aspektwahrnehmung, erweist sich diese Unterscheidung als unbrauchbar, denn die Kleidermetapher bedarf auch dann noch eines zugrundeliegenden Gegebenen, wenn sie es eliminiert: Es scheint sich hier etwas am Gesichtsbild der Figur zu ändern; und ändert sich doch wieder nichts. Und ich kann nicht sagen „Es fällt mir immer wieder eine neue Deutung ein“. Ja, es ist wohl das; aber sie verkörpert sich auch gleich im Gesehenen. Es fällt mir immer wieder ein neuer Aspekt der Zeichnung ein – die ich gleichbleiben sehe. Es ist, als ob ihr immer wieder ein neues Kleid angezogen würde, und als ob doch jedes Kleid wieder gleich sei dem andern. Man könnte auch sagen „Ich deute die Figur nicht nur, sondern ich ziehe ihr auch die Deutung an.“85 […]was wir zu sehen kriegen, ist nur (wie) ein Gewand, und wo das Bekleidete sein sollte, sehen wir eine Leere. Und dann ist man geneigt zu sagen: „Du darfst eben nicht nach einem andern Inhalt ausschauen.“ Der Inhalt der Erfahrung ist eben nur durch den spezifischen Ausdruck (der Erfahrung) zu beschreiben. Aber auch das befriedigt nicht. Denn warum fühlen wir dennoch, daß eben kein Inhalt da ist? […]86

Mangels eines identifizierbaren nackten Bekleideten stellen sich die Kleider als Verkörperungen heraus, als eigenständige Exemplare. Damit ist Deutung erledigt, was vor allem die alltäglichen Beispiele des stetigen Sehens plausibel werden lassen: 82

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T 4.002 „[…] Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen. […]“ PU II xi 570/224: „Die unsägliche Verschiedenheit aller tagtäglichen Sprachspiele kommt uns nicht zu Bewußtsein, weil die Kleider unserer Sprache alles gleichmachen. […]“ PU 664 „Man könnte im Gebrauch eines Worts eine ‚Oberflächengrammatik‘ von einer ‚Tiefengrammatik‘ unterscheiden. Das, was sich uns am Gebrauch eines Worts unmittelbar einprägt, ist seine Verwendungsweise im Satzbau, der Teil seines Gebrauches – könnte man sagen – den man mit dem Ohr erfassen kann. […]“ BPP I 33. BPP I 105.

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Zu sagen „Ich sehe das jetzt als …“, hätte für mich so wenig Sinn gehabt, als beim Anblick von Messer und Gabel zu sagen: „Ich sehe das jetzt als Messer und Gabel.“ Man würde diese Äußerung nicht verstehen. – Ebensowenig wie diese: „Das ist jetzt für mich eine Gabel“, oder „Das kann auch eine Gabel sein.“87 „Ich sehe es jetzt als ein …“ geht zusammen mit „Ich versuche, es als ein … zu sehen“, oder „Ich kann es noch nicht als ein … sehen.“ Ich kann aber nicht versuchen, das konventionelle Bild eines Löwen als Löwen zu sehen, sowenig, wie ein F als diesen Buchstaben. (Wohl aber z. B. als Galgen.)88

Diese Beispiele legen nahe, den Unterschied beizubehalten und das stetige Sehen für reibungslosen und handlungsintegrierten Sprachgebrauch, als das Funktionieren von Äußerungen und Darstellungen im Kontext von Praxis vorzubehalten.89 Worum es dabei geht, ist Sprache (bzw. Zeichen) als Instrument, dessen Funktionieren nur dann Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn Mängel und Mißverständnisse den Handlungsablauf stören. Dann tritt ein gezielter Deutungsprozeß in kraft, um die Irritation zu bewältigen und Vertrautheit wieder herzustellen. Wie alle Interpretation ist dies Symptom von Entfremdung. Obschon erst in solchen Fällen die Deutung überhaupt Thema wird und mit Aufmerksamkeit bedacht wird, ist sie stets wirksam, aber untrennbar vom Sehen, Sehen ist gedeutetes90. Es macht also keinen Sinn, amorphe Sinnesdaten als Material und Gegebenes zu unterstellen, denn die bekommt man nie neutral zu fassen. Das beim Bildgegenstand übergangene Bild kommt durch den Aspektwechsel in seiner darstellerischen Wirksamkeit erst zu Bewußtsein, aber läßt sich deshalb nicht vom Dargestellten isolieren. Damit erschüttert das Erlebnis des Aspektwechsels die unkomplizierte Inanspruchnahme von Direktheit und irritiert jeden Sehvorgang. Während man beim alltäglichen Sehen alternativlos wahrnimmt und daran glaubt, daß das Gesehene auch tatsächlich das ist, für das man es hält91, hat man bei Aspekten die Wahl: entweder man faßt einen Aspekt als dominanten auf und den anderen als zweiten, der einen unwichtigen Status hat, oder man

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PU II xi 521/13. PU II xi 539/92. Vgl. BPP I 532 „Von einem wirklichen oder gemalten Gesicht zu sagen „Ich habe es immer als Gesicht gesehen“, wäre seltsam; aber nicht: „Es war für mich immer ein Gesicht, und ich habe es nie als etwas anderes gesehen.““ Heideggers „Zeugcharakter“ des „Zuhandenen“ in Sein und Zeit (§§ 15ff.) ist genau, worum es beim ‚stetigen Sehen‘ und ‚sich auskennen‘ geht. s. o. Teil II ‚Sagen und Zeigen‘ 2. Peirce. Vgl. BPP I 869 Bedeutung wird gesehen, BPP I 20 Deutung ist primärer Ausdruck, BPP I 22 unwillkürliche Deutung. Dies habe ich von T. E. Wilkerson „Seeing-As“, in Mind 1973, pp. 481-496.

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kommt wie Wittgenstein dazu, Sehen insgesamt neu zu befragen. Dies hat zur Folge, daß man es nicht mehr wahrnehmungstheoretisch in den Griff bekommt, sondern als konzeptionelle, sinnliche und ästhetische Leistung auffassen muß. Der letzte, eingeklammerte Satz des Zitats verweist auf die besondere Qualität des Aspektsehens und seine ästhetische Komponente, die über Alltagspraxis hinausgeht. Sie hat etwas mit einer Störung gemein und bringt ein neues Sehen in die gewohnte Weise. Ohne auf Verborgenes zurückzugehen, bewirkt Aspektwahrnehmung wie Zeigen eine Refokussierung der Aufmerksamkeit auf das, was augenfällig ist. Es handelt sich um ein zusätzliches Vermögen, das auf dem normalen Sehen basiert und es dynamisiert, aber nicht wirksam sein muß. So ist es möglich, jedesmal, wenn ein Aspekt gesehen werden kann, nur einfach zu sehen, d. h. alternativlos: Man zeigt mir einen Bildhasen und fragt mich, was das sei; ich sage: „Das ist ein H“: Nicht: „Das ist jetzt ein Hase“. Ich teile die Wahrnehmung mit. – Man zeigt mir den HE-Kopf und fragt mich, was das sei; da kann ich sagen „Das ist ein H-E-Kopf“. Aber ich kann auch ganz anders auf die Frage reagieren. – Die Antwort, es sei der H-E-Kopf, ist wieder die Mitteilung der Wahrnehmung; die Antwort „Jetzt ist es ein H“ ist es nicht. Hätte ich gesagt „Es ist ein Hase“, so wäre mir die Doppeldeutigkeit entgangen, und ich hätte die Wahrnehmung berichtet.92 Wie wäre diese Erklärung: „Ich kann etwas als das sehen, wovon es ein Bild sein kann“? Das heißt doch: Die Aspekte im Aspektwechsel sind die, die die Figur unter Umständen ständig in einem Bild haben könnte.93

Deshalb ist es normal, daß auch in Fällen, in denen mehrere alternative Sichtweisen möglich sind, nur ein Aspekt vorherrscht und das Sehen zu einem stetigen macht. Zwei Personen können unterschiedliche Aspekte eines Bildes aktualisieren94 und in Streit darüber geraten, wer richtig sieht, oder eine Person kann zu verschiedenen Zeitpunkten einen anderen Aspekt desselben sehen und nicht merken, daß es sich um dasselbe Bild handelt.95 Ein Dreieck kann ja wirklich in einem Gemälde stehen, in einem anderen hängen, in einem dritten etwas Umgefallenes darstellen. – So zwar, daß ich, der Beschauer nicht sage „Das kann auch etwas Umgefallenes darstellen“, sondern „das Glas ist umgefallen und liegt in Scherben“. So reagieren wir auf das Bild.96 92 93 94 95 96

PU II xi 522/19. PU II xi 531/56. BPP I 4. BPP I 877 und 1126. PU II xi 531/57. In 531/58 weist Wittgenstein auf die Rolle von Erziehung hierbei hin. Vgl. Auch PU II xi 520/9 und 11.

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Die Frage ist, wann und wieso ein Aspekt eintritt, unter welchen Umständen er akzeptabel ist und kein Indiz für Wahnsinn. Dem Zitat zufolge leisten vereindeutigende Kontextualisierungen97 die Aktualisierung eines Aspektes. Falls jemandem das „Aufleuchten“ abgeht, kann es interpretative Hilfestellung geben. Sieht jemand nur die Ente, so kann man die Zeichnung gekippt unter lauter Hasen arrangieren und ein Sehen als Hase provozieren. Sowohl Ergänzungen des Wahrgenommenen als auch des Wissens über es können einen Aspektwechsel nahelegen; Wittgenstein vergleicht das mit Hervorhebungen im Schriftbild durch Unterstreichungen etc.98 Er geht so weit, Imperative für effektiv zu halten: Das Sehen des Aspekts und das Vorstellen unterstehen dem Willen. Es gibt den Befehl „Stell dir das vor!“ und den „Sieh die Figur jetzt so!“, aber nicht: „Sieh das Blatt jetzt grün.“99

In diesem Abschnitt ist Farbwahrnehmung nicht vergleichbar, sondern kontrastiv; Wittgenstein nimmt damit die Akzentuierung der rezeptiven Seite zurück.100 Es bedarf einer spezifischen Kompetenz, um den Wechsel der Aspekte erleben zu können, sie besteht darin, mögliche Kontexte, die nicht tatsächlich dargestellt oder aktuell vorhanden sind und eindeutig manifest werden, einspielen zu lassen.101 97

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BPP I 433 „Umgebung“. Vgl. 34: bestimmte Gesten kann man nur verstehen, wenn man ihre Rolle innerhalb einer „Zeremonie“ kennt. In 293 redet er über einen „Dunstkreis“. BPP I 992 und 422 PU II xi 551/147. Vgl. 534/70. Außerdem zum Willen: BPP I 899 und 971; BPP II 544f.; Z 621, 627. In BPP I 970 unterscheidet er zwischen Aspekten, die durch gedankliche Assoziation eintreten und dem Willen unterstehen mit anderen, die stärker durch optische Effekte provoziert werden und „automatisch“ eintreten. Vgl. BPP I 1030 „Wenn ich einen Aspekt beschreibe, so setzt die Beschreibung Begriffe voraus, die nicht zur Beschreibung der Figur selbst gehören.“ BPP I 1036 „Daß man einen Aspekt durch Gedanken hervorrufen kann, ist äußerst wichtig, obwohl es das Hauptproblem nicht löst. Ja, es ist, als wäre der Aspekt ein unartikulierter Fortklang eines Gedankens.“ PU II xi 549/137 „ Es ist beinahe, als ob das ‚Sehen des Zeichens in diesem Zusammenhang‘ ein Nachhall eines Gedankens wäre. „Ein im Sehen nachhallender Gedanke“ – möchte man sagen.“ Ein verwandtes Phänomen kam schon im ersten Teil der PU vor: Wenn man die Bedeutung eines Wortes „mit einem Schlag erfaßt“, ist es, als sei einem der mögliche Gebrauch des Wortes präsent. PU 138f., 191, 318.

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Es scheint so, als wäre in einem Satz, der z. B. das Wort „Kugel“ enthält, schon der Schatten anderer Verwendungen dieses Worts enthalten. Nämlich die Möglichkeit, jene andern Sätze zu bilden. – Wem scheint es so? und unter welchen Umständen?102 […] was ich im Aufleuchten des Aspekts wahrnehme, ist nicht eine Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen Objekten.103

Die Rede von der „internen Relation“ ist ein Relikt aus dem Tractatus. Dort ist sie eine Relation zwischen Satzstrukturen. Sie gehört notwendigerweise zu den formalen Eigenschaften und zeigt sich in der Darstellung. Sie ist das Gegenstück zur externen Relation, welche entsteht, wenn Sachverhalte Sätze darstellen, was kontingent und empirisch prüfbar ist. Eine interne Relation ist nicht kontingent, weil die Beschaffenheit ihrer Relata durch sie zustandekommt. Man kennt ein Wort, wenn man alle sinnvollen Verbindungen kennt, die es eingehen kann.104 Zudem ist es keine vermittelte Relation, die sich durch Angabe des Vermittelnden fassen ließe. Damit steht sie quer zu Strukturen wie Oberbegriff und Subsumiertes oder Vergleich. In den PU kommt die interne Relation nicht mehr vor, weil ihr Pendant, die externe Relation, entfällt bzw. rigoros neu gedacht wird: Interne Relationen wären jetzt ‚grammatische‘ und sie ergeben sich aus der Spezifik einer Praxis im Unterschied zu anderen, benachbarten oder ähnlich funktionierenden.105 Im Falle der Aspektwahrnehmung wäre das zweideutig Wahrgenommene aus seinen möglichen Grammatiken, Kontexten, isoliert, so daß unklar ist, welche Rolle aktuell ist. Die passenden sind gleichsam latent wirkungsvoll und müssen aufgerufen werden, um das Gesehene

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Z 138. PU II xi 549/136. T 4.014, 4.122-4.1251. „Eine Eigenschaft ist intern, wenn es undenkbar ist, daß ihr Gegenstand sie nicht besitzt. […]“ Vgl. Hacker Scepticism, Rules and Language, p. 104 „ That A and B are internally related implies that it is inconceivable that they should not be thus related. And we may add that it is of the essence of A and B to be thus related.“ Vgl. Hacker Vol. 2 seines Kommentars Rules, Grammar and Necessity, Oxford 1985, paperback 1999, p. 88: „What seems to be a metaphysical correspondence is actually an intra-grammatical articulation.“ […] „What appeared to be a metaphysical fitting together of entities of different types is the shadow cast by an intra-grammatical connection.“ In den Übergangsjahren der 30er Jahre findet man Wittgensteins Ungenügen an seiner Auffassung der internen Relation ausgedrückt. Vielleicht wäre eine detailliertere Studie dazu aufschlußreich für Fragen der Entwicklung des zweiten Ansatzes. Vgl. weitere Stellen in den Vorlesungen 1930-35, S. 31, 52, 57ff., 78 etc.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

verstehen zu können. Dazu bedarf es der schon häufig erwähnten ‚ästhetischen‘ Kompetenz, die sich nicht auf rezeptive Wahrnehmungsvorgänge zurückführen läßt. Den H-E-Kopf kann jemand einfach für das Bild eines Hasen halten, das Doppelkreuz für das Bild eines schwarzen Kreuzes, aber die bloße Dreiecksfigur nicht für das Bild eines umgefallenen Gegenstands. Diesen Aspekt des Dreiecks zu sehen, braucht es Vorstellungskraft.106 […] Wir sagen uns: Es ist unmöglich, daß wir, ohne in der Phantasie der Figur etwas hinzuzufügen, ein Erlebnis haben, das wesentlich mit Dingen zusammenhängt, die ganz außerhalb der Sphäre der unmittelbaren Wahrnehmung sind. […]107

Die Vorstellungskraft ist jedoch keine ausufernde Phantasie, ich kann beispielsweise nur mit Gehässigkeit den H-E-Kopf auch als meine Schwester sehen. Wittgenstein führt auch hierzu Fälle an, die die Fähigkeit zum Anderssehen überfordern und deutlich werden lassen, daß bei aller Virtuosität Aspektwahrnehmung ein sehr spezifisches und nicht willkürliches Phänomen ist. Kann ich mir den Eindruck der Bekanntschaft wegdenken, wo er ist; und hinzudenken, wo er nicht ist? Und was heißt das? Ich sehe z. B. das Gesicht eines Freundes an und frage mich: Wie schaut dieses Gesicht aus, wenn ich es als ein mir fremdes Gesicht sehe (als sähe ich es etwa jetzt zum erstenmal)? Was bleibt sozusagen von dem Anblick des Gesichts, wenn ich den Eindruck der Bekanntheit wegdenke, abziehe? – Hier bin ich nun geneigt zu sagen: „Es ist sehr schwer, die Bekanntheit von dem Eindruck des Gesichts zu trennen.“ Aber ich fühle auch, daß das eine schlechte Ausdrucksweise ist. Ich weiß nämlich gar nicht, wie ich es auch nur versuchen soll, diese beiden zu trennen. Der Ausdruck „sie trennen“ hat für mich gar keinen klaren Sinn. […] Wie, wenn man sagte: „Denke dir diesen Schmetterling, genau so wie er ist, aber häßlich, statt schön“?!108

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PU II xi 542/107. Auch das Thema Imagination wird uns weiter verfolgen: Ihre Rolle für das Religiöse ist umstritten, in der Kierkegaard-Literatur wird sie entweder in die Sphäre des Ästhetischen verwiesen und zum Produzenten belangloser Möglichkeiten oder erfährt eine Aufwertung als notwendiger Fähigkeit zur Antizipation des religiösen Stadiums aus einer nicht-religiösen Existenz. Bei Wittgenstein wie Kierkegaard kommt ihr eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, eine Metamorphose zu initiieren. Vgl. Joachim Schulte (a. a.O. Chor und Gesetz, S. 18ff.): Einbildungskraft ist für Goethe bei den Pflanzenstudien vonnöten, um von den gesammelten und übersichtlich arrangierten Pflanzengestalten zu einer Entwicklungskette zu kommen. BPP I 960 „Ich sehe etwas in verschiedenen Zusammenhängen. (Ist dies dem Vorstellen nicht verwandter als dem Sehen?)“ BPP I 21. Vgl. PU II xi 551/144: Variationen erkennen erfordert Phantasie. Z 198f.

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Die bei Aspektwechseln wirkungsvolle Vorstellungskraft verdankt sich dem Vertrautsein mit anderen Bildern, Paradigmen109, Grammatiken und Kontexten und vermag sie in die Wahrnehmung einzubringen, obschon sie nicht aktualisiert sind. Wittgenstein spricht von ‚Geläufigkeit‘ und auch hier vom ‚Beherrschen einer Technik‘110: Ich kann im Dreieck jetzt das als Spitze, das als Grundlinie sehen – jetzt das als Spitze und das als Grundlinie. – Es ist klar, daß dem Schüler, der nur eben erst mit dem Begriff Spitze, Grundlinie, etc. Bekanntschaft gemacht hat, die Worte „Ich sehe jetzt das als Spitze“ noch nichts sagen können. – Aber das meine ich nicht als Erfahrungssatz. Nur von dem würde man sagen, er sähe es jetzt so, der imstande ist, mit Geläufigkeit gewisse Anwendungen von der Figur zu machen. Das Substrat dieses Erlebnisses ist das Beherrschen einer Technik.111 Nur der ‚sieht die Aspekte H und E‘, der die Gestalten jener beiden Tiere innehat. […]112

Wer eine Sprache, einen visuellen Code, beherrscht, wendet eine Grammatik nie an, ohne die benachbarten als ausgeschlossene Alternativen mitzutransportieren. Das, was durch den Aspekt an neuer Sichtweise in die Wahrnehmung kommt und sie umkippen läßt, ist also nichts unvertraut Neues, dessen Aneignung durch den Aspekt vollziehbar wäre. Vielmehr funktioniert das Sehen-als nur dann, wenn eine gewisse Souveränität, „Geläufigkeit“ (s. o.) oder gar Virtuosität im Umgang mit längst gelernten Paradigmen und Kontexten und deren Status und Ort innerhalb des ‚Ganzen‘ besteht. Wenn das der Fall ist, ‚passiert‘ ein Aspektwechsel ohne gezielte Anstrengung der Phantasie, denn die ist ohnehin immer mit am Werke.113 Damit ist diese Virtuosität nur die Kehrseite einer Hilflosigkeit angesichts dessen, nie ohne grammatische Verstrickungen überhaupt sagen und sehen zu können. Nicht eine genialische Verknüpfung zu einer schlagenden Metapher, sondern eine quasi hinterrücks gestiftete neue Relation quer zu allen etablierte Strukturen läßt deshalb den Aspekt wechseln und wie auf einen Schmerz reagieren. Wie beim Zeigen handelt es sich um ein ‚Sehen lassen‘, das in seiner aktiv-passiven, 109 110 111

112 113

BPP I 523. PU 199. PU II xi 544/112. Vgl. 534f./71, 544/114 „ Nur von Einem, der das und das kann, gelernt hat, beherrscht, hat es Sinn zu sagen, er habe das erlebt. Und wenn das närrisch klingt, mußt du bedenken, daß der Begriff des Sehens hier modifiziert wird. (Eine ähnliche Überlegung ist oft nötig, um das Schwindelgefühl in der Mathematik zu vertreiben.) Wir sprechen, machen Äußerungen, und erst später erhalten wir ein Bild von ihrem Leben.“ Vgl. BPP I 1054 Verwandtschaften der Begriffe beherrschen. PU II xi 542/106. BPP I 317.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

produktiv-rezeptiven, sinnlich-kognitiven Zwiespältigkeit keinem Pol dieser Dichotomien zuzuordnen ist. Der phantasievollen Virtuosität, welche Aspektwahrnehmung ermöglicht, sind folglich durch etablierte Praktiken und Kontexte, die zur zweiten Natur werden, ohne die man die erste nie hat, gleichzeitig Grenzen gesetzt und Spielräume eröffnet. Der Unterschied zum stetigen Sehen liegt darin, daß zusätzlich zu den manifesten Informationen andere mögliche virulent werden und das Sehen vieldeutig machen. Obschon Wittgenstein die Analogie zur Farbwahrnehmung stark macht und es für Wahnsinn hält, wenn jemand nicht nachvollziehbare Aspekte sieht, verzichtet er darauf, die Angemessenheit eines Aspekts an der Wirklichkeit zu bemessen.114

IV.1.3. Methodisches Intermezzo: Morphologie statt Klassifikation Bevor ich Wittgensteins Ausweitung seiner Überlegungen auf Sprache diskutiere und schließlich eine weltanschauliche Tragweite versuche, will ich Bemerkungen über den Status und Anspruch der Aspekte-Thematisierung zwischenschalten. Deutlich war geworden, daß die Sonderfälle der Aspektwahrnehmung auf Sehen überhaupt zurückwirken und die gängigen wahrnehmungstheoretischen Ansätze in Frage stellen lassen. Es handelt sich nicht um ein einheitliches Phänomen, einen eindeutig qualifizierbaren Vorgang, der durch die Verwendung des Wortes ‚sehen‘ bezeichnet wird. Gewisses am Sehen kommt uns rätselhaft vor, weil uns das ganze Sehen nicht rätselhaft genug vorkommt.115 Der Begriff ‚sehen‘ macht einen wirren Eindruck. Nun, so ist er. […] Es gibt nicht einen eigentlichen, ordentlichen Fall so einer Beschreibung [des Gesehenen] – und das Übrige ist eben noch unklar, harrt noch der Klärung, oder muß einfach als Abfall in den Winkel gekehrt werden.116

Dieses Plädoyer fürs Rätsel und ‚unordentliche‘ Fälle ist unvereinbar mit dem Anspruch einer Theoriebildung mit systematischer Geschlossenheit und lückenloser Bestimmbarkeit. Die methodische Konsequenz ist gerade ein Verzicht auf strenge Methodik; von ‚sehen‘ 114

115 116

Wie bei Jakobsons poetischer Sprachfunktion wird die Referenz nicht ausgelöscht, sondern vieldeutig, verdoppelt. Roman Jakobson „Linguistik und Poetik“, (1960) in Poetik. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt 1990, S. 110ff. PU II xi 550. Vgl. BPP I 966, wo Sehen-als alles Sehen als „okkult“ auffassen läßt. PU II xi 529.

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wird in heterogenen Situationen gesprochen, so daß sich kein einheitliches Kriterium gewinnen läßt. Wie im Vorwort der PU analogisiert Wittgenstein dies mit Landschaften: Vor allem fehlt dem, der die Beschreibung versucht, nun jedes System. Die Systeme, die ihm in den Sinn kommen, sind unzureichend; und er scheint plötzlich sich in einer Wildnis zu befinden, statt in dem wohlangelegten Garten, den er so gut kannte. Es kommen ihm wohl Regeln in den Sinn, aber die Wirklichkeit zeigt nichts als Ausnahmen.117 Das Schwerste ist hier, die Unbestimmtheit richtig und unverfälscht zum Ausdruck zu bringen.118

Die hier gesuchte Vorgehensweise kann folglich keine Theorie sein, sondern erfordert lokale begriffliche Klärungen anhand alltagssprachlicher Formulierungen: […] Denn das naive Sprechen, d. h. unsere naive, normale Ausdrucksweise enthält ja keine Theorie des Sehens – zeigt dir keine Theorie, sondern nur einen Begriff des Sehens.119

Wenn Wittgenstein Theorie und Begriff einander gegenüberstellt, versteht er unter ‚Begriff‘ keine definitorisch sicherbare und klar abgrenzbare Angelegenheit.120 Weder kann dieser Objektivität und Allgemeinheit garantieren121, noch ist mit ihm immer etwas gewonnen.122 Begriffe dürfen nicht ohne ihre „Unterlage“123, das Sprachspiel, aus dem sie hervorgegangen sind, verwendet werden und begriffliche (philosophische) Untersuchungen degenerieren zu Metaphysik, wenn sie nicht klar von sachlichen Fragen getrennt werden.124 In diesem Sinne sind Begriffe verbunden mit einer weitgehenden Absage an Ursachenforschung und Kausalitätsprinzip: Unser Problem ist kein kausales, sondern ein begriffliches.125

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BPP I 557. Vgl. 558 und 1038 „ […] Ich meine: „Warum sollen wir nicht „sehen“ sagen wollen, obwohl der Vergleich mit dem Sehen in mancher Weise nicht stimmt. Warum sollen wir nicht von einer Analogie beeindruckt sein, zum Nachteil aller Verschiedenheiten. […]“ PU II xi 575. Zettel 223. Dazu PU I 71ff. s. o. Teil II. 3. 2. Wegweiser: Heimatkunde für Begriffe. Z 543 „Zu meinem Begriff gehört hier mein Verhältnis zur Erscheinung.“ BPP I 601 „Begriffe können einen Unfug erleichtern, oder erschweren; begünstigen, oder hemmen.“ BPP I 600. Z 458. PU II xi 535. Vgl. 532 und 518. Auch Z 610.

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Kausalität ist Wittgenstein suspekt, vor allem, wenn sie als wissenschaftliches Prinzip aller Gegenstandsbereiche und Prozesse unterstellt wird. Bereits im Tractatus stellt Wittgenstein (ähnlich wie Hume) klar, daß es einer Schlußfolgerung bedarf, die etwas als Ursache von einem anderen deklariert. Die Unterstellung des Kausalnexus‘ kann bestenfalls durch sich regelmäßig wiederholende Abfolgen und Konstellationen gestützt werden. Dies zu verkennen, wie es in vielen Wissenschaftsbereichen126 üblich ist, nennt Wittgenstein Aberglauben127. In einigen Abschnitten von 1937, die unter dem Titel „Ursache und Wirkung. Intuitives Erfassen“ publiziert wurden128, heißt es immer wieder, daß Intuition oder ein „Drang“ Ursachen suchen und unterstellen lassen. Drastisch: Etwas ‚Ursache‘ nennen, ist ähnlich, wie, zeigen und sagen: „Der ist schuld!“129

Nach dieser Absage an Theorie, Kausalität und anmaßende Ansprüche auf Erklärbarkeit stellt sich die Frage, was die empfohlenen ‚begrifflichen Klärungen‘ leisten und wie sie vonstatten gehen. Es hilft, noch eine Diagnose des Untersuchungsfeldes hinzuzuziehen: Es gibt hier eine Unmenge miteinander verwandter Erscheinungen und möglicher Begriffe.130 126

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In seinen Vorlesungen über Ästhetik diskutiert Wittgenstein eine Auffassung von Physik, die nicht Ursachen entdeckt und Mechanismen aufspürt, sondern „Begleiterscheinungen“ beschreibt. (in Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Bonn/Düsseldorf 1996 (engl.: Oxford 1966), S. 28-37.) Siehe T 5.136f., 6.371f. Vgl. Joachim Schulte: (in Chor und Gesetz. Wittgenstein im Kontext, Frankfurt 1990 „Glaube und Aberglaube“, S. 43-58) S. 45 „Wittgensteins These lautet, daß jeder Aberglaube im Grunde den ungerechtfertigten Glauben an den Kausalnexus in Anspruch nimmt […]“ Angesichts dieser Auffassung von Aberglauben stellt sich die Frage, mit welchem Recht man die rituellen Praktiken anderer als Aberglauben diskreditiert. Dies wird weiter unten im Zusammenhang mit Wittgensteins Frazer-Kritik zur Sprache kommen. Schulte schlägt vor, im Hinblick auf Riten keine Ursache-Wirkungs- Kette zu unterstellen, sondern eine „Choreographie“ (S. 53) nachzuzeichnen. In Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. und übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt 1989, S. 101-139. „Ursache und Wirkung“ (U+W) a. a. O., S. 103, 24.9.37. S. o. Fußnote 28 (BPP I 1038), wo weitgehende Analogiebildungen zu irreführenden Auffassungen über ‚sehen‘ verführen. Zur Annahme einer Kausalität des psycho-physischen Parallelismus vgl. BPP I 905f. „(…) Wenn das meine Begriffe von der Kausalität umstößt, dann ist es Zeit, daß sie umgestoßen werden.“ PU II xi 528/45. Vgl. BPP I 648 über allgemeine Wörter: „(…) Sie beziehen sich in der Tat auf eine Unmenge spezieller Fälle, aber das macht sie nicht härter, sondern es macht sie eher flüchtiger.“

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Ist das Auffallen Schauen + Denken? Nein. Viele unserer Begriffe kreuzen sich hier.131

Die ‚Unmenge‘ ist keine große Menge, wie sie durch fortgesetzte Addition entsteht und dadurch handhabbar wird, daß man lange genug mitzählt. Auch ist sie keine Ansammlung vieler Variationen eines Selben, das sie mit Hilfe eines Wesensmerkmals zu einer einheitlichen Menge zugehörig macht. Vielmehr ist es eine Vielfalt, deren Einheit nicht durch ein auf alle zutreffendes Prädikat angebbar ist. Die wie so häufig auch hier eingebrachte Rede von Verwandtschaft und Familienähnlichkeiten132 erlaubt es, Relationen herauszuarbeiten, so daß Zusammenhang besteht und nicht alles außer Rand und Band gerät und ins Chaotische ausartet. Gleichwohl gibt es keine strengen Ordnungsprinzipien wie kausale Folgebeziehungen, hierarchische Gliederungen und systematische Geschlossenheit. Lokale und partiell qualifizierbare Strukturiertheiten ersetzen eine Struktur als Ordnung des Ganzen. Damit erübrigt sich jeder Versuch einer Klassifikation, um systematische Ordnung zu erzielen; die in diesem Kapitel diskutierten Fälle sind eine nicht redundante Amplifikation, sie lassen sich nicht eindeutig und streng theoretisch harmonisieren. […] (Ich strebe nicht mit allen diesen Beispielen irgend eine Vollständigkeit an. Nicht eine Klassifikation der psychologischen Begriffe. Sie sollen nur den Leser in den Stand setzen, sich in begrifflichen Unklarheiten zu helfen.)133

Polemisch: (Die Klassifikationen der Philosophen und Psychologen: sie klassifizieren Wolken nach ihrer Gestalt.)134

Hilfreich ist es, statt von einer Klassifikation von einer Morphologie135 des Sehens bei Wittgenstein zu sprechen. Damit wird eine Ver131 132

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134 135

PU II xi S. 549/134. Das berühmte Beispiel „Spiel“ ist hier namhaft zu machen: Was ein Spiel ist, läßt sich nicht durch ein festes Ensemble von Regeln und Bedingungen fassen. In PU 66f. redet Wittgenstein von einem „Netz von Ähnlichkeiten“ und Fasern, die einen Faden ergeben. Vgl. BPP I 1064. PU II xi 539/91. Damit verwirft Wittgenstein auch die eigenen Bestrebungen einer Klassifikation psychologischer Begriffe, wie sie in BPP I 836 und II 63+148 nachzulesen sind. Vgl. Z 464 „Der Stammbaum der psychologischen Phänomene: Nicht Exaktheit strebe ich an, sondern Übersichtlichkeit.“ Z 462. Auch dazu J. Schulte „Zur morphologischen Methode bei Goethe und Wittgenstein“, a. a. O., S. 11-42. Vgl. Oliver R. Scholz „Wie schlimm ist Bedeutungsblindheit?“ in Wittgenstein über die Seele, hrsg. v. Savigny und Scholz, Frankfurt 1995 und 1996, S. 215f. Scholz weist auf Norman Malcolm und Peter Geach hin, denen zufolge Wittgen-

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gleichbarkeit mit Goethes Pflanzenstudien, Spenglers Geschichtsphilosophie und Köhlers Gestaltpsychologie (die Wittgenstein alle kannte und erwähnt) initiiert: Wenn Goethe Phänomene sammelt und zu ordnen versucht, strebt er keine Erklärungen an, sondern versucht einem „doppelten Ungenügen“136 gerecht zu werden: Die Suche ist nicht von einem Prinzip geleitet und läßt keines finden, in der Pflanzenkunde hat man es mit mobilen Formen und veränderlichen Gestalten zu tun, die sich zwar klassifizieren lassen, aber nicht zwingend demgemäß aufzufassen sind. Was aber tut eine begriffliche Untersuchung? Ist sie eine der Naturgeschichte der menschlichen Begriffe? – Nun, Naturgeschichte beschreibt, sagen wir, Pflanzen und Tiere. Aber könnte es nicht sein, daß Pflanzen in allen Einzelheiten beschrieben worden wären, und nun erst jemand daherkäme, der Analogien in ihrem Baue sieht, die man früher nicht gesehen hatte? Daß er also eine neue Ordnung in diesen Beschreibungen herstellt. Er sagt z. B.: „Vergleiche nicht diesen Teil mit diesem; sondern vielmehr mit jenem!“ (Goethe wollte so etwas tun.) Und dabei spricht er nicht notwendigerweise von Abstammung; dennoch aber könnte die neue Anordnung auch der wissenschaftlichen Untersuchung eine neue Richtung geben. Er sagt „Sieh es so an!“ – und das kann nun verschiedenerlei Vorteile und Folgen haben.137

Wenn Spengler138 (beeinflußt durch Goethe) sich weigert, Geschichte mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Modells für Unbelebtes zu beschreiben, plädiert er für ein dem Lebendigen verpflichtetes Paradigma139: Wie belebte Organismen sei Geschichte werdend und bedürfe eines Spielraums für dynamische Transformationen. Gegen mechanistische Abläufe, naturgesetzliche Notwendigkeit, analytische Zergliederung und Kausalität, gelte es Zufall zuzulassen, Einbildungskraft zu aktivieren und Formenreichtum schätzen zu lernen. „Natur soll man wissenschaftlich behandeln, über Geschichte soll man dichten.“140 Wenn Spengler die von ihm kontrastierten Weisen 135

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stein selbst in seinen Vorlesungen sein Unterfangen als Morphologie bezeichnet haben soll. Vgl. BPP I 889, wo Wittgenstein Goethe zitiert. So Schulte a. a. O., S. 17. BPP I 950. Oswald Spengler Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 1918 u. ö., München 1995, besonders die Einleitung und der Anfang des zweiten Kapitels. Spengler würde die Biologie zu den Naturwissenschaften zählen und erwähnt sie deshalb nicht als sein Modell. Daß aber genau das Lebendige bei ihm den Ausschlag für die Gegenüberstellung beider Paradigmata gibt, würde rechtfertigen zu behaupten, daß er Geschichte im Unterschied zu Chemie und Physik als biologisch auffasst. Auffallend ist, daß sowohl Thomas Kuhn als auch Michael Polanyi dem Lebendigen verpflichtete Metaphern und Beispiele anführen. Ebd., S. 129.

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eines Procedere zueinander ins Verhältnis setzt, denkt er das wie zwei Aspekte im großen Stil, nur ohne dieses Wort zu gebrauchen: Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes.141

Die Gestaltpsychologie schließlich insistiert auf Ganzheit, die sich nicht durch die Summe der Teile erschöpfen läßt: Damit richtet sie sich gegen die um die Jahrhundertwende populäre Elementarpsychologie, bei der die analytische Methode zum Tragen kam und alles in kleinste Elementarbestandteile zu zerlegen versucht wurde. Um dagegen ganze Gestalten geltend zu machen, wurde versucht, mit dem Begriff der ‚Organisation‘ ein drittes wahrnehmungskonstitutives Moment (neben Farbe und Form) zu behaupten142. Wittgensteins Kapitel xi des zweiten Teils der Philosophischen Untersuchungen in Anlehnung an die drei hier skizzierten Ansätze als morphologische Studie zu bezeichnen, leistet erstens, Veränderungen, Transformationen und Werden zuzulassen und zweitens, deshalb Ganzheit(en) (in einem noch zu qualifizierenden Sinn) nicht preisgeben zu müssen. Es geht darum, Alternativen aufzuzeigen, den Wechsel eines Weltbildes möglich zu machen, ohne Relativismus in Kauf nehmen zu müssen. Bestenfalls bewährt sich das, um den auch als „Metamorphose“143 charakterisierten ‚Sprung‘ bei Kierkegaard, bei dem die ganze Welt eine andere wird, ausgehend von Wittgenstein anzugehen.

IV.1.4. Erleben von Bedeutung Wörter mit Gesicht statt Rechnerei mit Begriffen Nahezu nahtlos fügen sich sprachliche (und musikalische) Beispiele ins Aspekte-Kapitel ein; Wittgenstein diagnostiziert eine „begriffliche Verwandtschaft“.144 141 142

143 144

Spengler, a. a. O., S. 10. Joachim Schulte diskutiert Wittgensteins Auseinandersetzung damit im 6. Kapitel („Gegenstände des Sehens“) in Erlebnis und Ausdruck. Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München 1987. Vgl. auch: Thorsten Jantschek „Bemerkungen zum Begriff des Sehen-als“, in: Konersmann (Hrsg.) Kritik des Sehens Leipzig 1997. Außerdem Malcolm Budd Wittgenstein‘s Philosophy of Psychology, London 1989/1991, Chapter IV „Seeing Aspects“, pp. 77-99. Vgl. KT 58 / SV XI, 172. BPP I 1064.

240

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

[…] Was ginge z. B. dem ab, der die Aufforderung, das Wort ‚sondern‘ auszusprechen und es als Zeitwort zu meinen, nicht verstünde, – oder einem, der nicht fühlt, daß das Wort, wenn es zehnmal nach der Reihe ausgesprochen wird, seine Bedeutung für ihn verliert und ein bloßer Klang wird?145

Die beiden Fälle sind – wie die Beispiele zum Sehen – unterschiedlich gelagert: Im ersten werden zwei mögliche Kontexte eines isoliert ausgesprochenen Wortes provoziert.146 Damit wird der Eindruck erweckt, das Wort habe seine Situierung im Ganzen der Sprache in sich absorbiert, so daß alle üblicherweise korrekten Verwendungsweisen latent in ihm vorhanden sind und unmittelbar präsent werden können.147 Der dem Aspektwechsel verwandte Effekt kommt zustande, weil „sondern“ in zwei Grammatiken jeweils spezifische Rollen spielt und unterschiedliche Semantiken hat. Ähnliches passiert, wenn mit einem Eigennamen der Mensch mit allen Charakteristika assoziiert wird und als einzig passender empfunden wird. […] „Mir ist, als paßte der Name ‚Schubert‘ zu Schuberts Werken und seinem Gesicht.“148

Bedeutungserleben hat es mit dem Status eines Wortes nicht nur im Ensemble des ganzen Sprachssystems zu tun, sondern auch mit anderen Dimensionen: mit Klang und Optik. So mag man Orthographiereformen nicht einfach hinnehmen149 und die Aussprache und der Tonfall beim lauten Lesen tragen maßgeblich dazu bei, wie man es auffaßt. „Wenn ich ein Gedicht, eine Erzählung mit Empfindung lese, so geht doch etwas in mir vor, was nicht vorgeht, wenn ich die Zeilen nur der Information wegen überfliege.“ – Auf welche Vorgänge spiele ich an? – Die Sätze klingen anders. Ich achte genau auf den Tonfall. Manchmal hat ein Wort einen falschen Ton, tritt zu sehr, oder zu wenig hervor. Ich merke es, und mein Gesicht drückt es aus. Ich könnte später über die Einzelheiten meines Vortrags reden, z. B. über die Unrichtigkeiten im Ton. Manchmal schwebt mir ein Bild, gleichsam eine Illustration vor. Ja, dies scheint mir zu helfen, im richtigen Ausdruck zu lesen. Und dergleichen könnte ich noch manches anführen. – Ich kann auch einem Wort einen Ton verleihen, der seine Bedeutung, beinahe als wäre das Wort ein

145 146

147

148 149

PU II xi 553/151. Vgl. PU II xi 553/152, wo das Beispiel „Bank“ in seiner Doppeldeutigkeit als Geldinstitut und Sitzmöbel aufgeführt wird; außerdem 555/161, wo „weiche“ genommen wird, einmal als Verb im Imperativ, einmal als Adjektiv. Schon im ersten Teil der PU hatte Wittgenstein die Gebrauchstheorie der Bedeutung ähnlich befragt: In den Abschnitten, in denen es um das Erfassen der Bedeutung „mit einem Schlage“ geht. (PU 138f., 191, 318) PU II xi 555/160. Vgl. PU I 171 Z 184 und PU 167.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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Bild der Sache, aus den übrigen heraushebt. (Und dies kann natürlich durch den Bau des Satzes bedingt sein.)150

Wenn sogar der Gesichtsausdruck des Sprechers im Einklang mit dem richtigen Ton steht und das Wort komplex wie ein Bild verstanden wird, ist das Erleben von Bedeutung weder mit der Spielanalogie noch mit dem Werkzeugvergleich151 zu handhaben. Deshalb greift Wittgenstein schon im ersten Teil der PU wiederholt darauf zurück, Worte mit Gesichtern zu vergleichen und von einer Physiognomie152 zu sprechen. Damit setzt er der Illusion definitiver Bestimmbarkeit von Bedeutung und Regelbarkeit aller sinnvollen Äußerungen schon dort etwas entgegen. Diese Metaphern stehen in Zusammenhang mit der Absage an das Exaktheitsideal (PU 67ff.) und bilden ein Gegenmodell zu den ganz einfachen Sprachspielen der ersten Abschnitte und eine simplifizierende Auffassung der ‚Gebrauchstheorie der Bedeutung‘153. Daß wir mit gewissen Begriffen rechnen, mit anderen nicht, zeigt nur, wie verschiedener Art die Begriffswerkzeuge sind (wie wenig Grund wir haben, hier je Einförmigkeit anzunehmen). 154

Die Rechnerei mit Begriffen beruht auf einem instrumentellen Sprachverständnis und läßt sich auf funktionierende Praxis reduzieren. Aber gerade Bedeutungserleben bringt die vielen anderen Dimensionen nicht nur als Kontext, sondern als integrierte Bestandteile 150 151 152

153

154

PU II xi 553f./154. Beide zu Beginn von PU I. Spengler macht Physiognomik als Gegenstück zur Systematik geltend und verfolgt damit das oben skizzierte Anliegen; auch hierin ließe er sich parallel zu Wittgenstein diskutieren. (a. a. O., S. 135ff.) Auch Michael Polanyi greift auf die Physiognomie zurück, wenn es darum geht, etwas zu erkennen, ohne explizite Kriterien benennen zu können. Ein Arzt muß oft nur den Patienten ansehen, um die Krankheit zu erahnen und daraufhin Untersuchungsmethoden auszuwählen. „Knowing and Being“, in Mind 1961, Bd.70, pp. 458-470. Tim Craker stellt ‚Bedeutung als Physiognomie‘ sogar der Gebrauchstheorie als diese unterminierend entgegen: Zwar sei der normale Sprachgebrauch meistens „Sprungbrett“ für Bedeutungserleben, also ihm nachgeordnet, doch gebe es eine Umkehrung: Das Kollabieren uneigentlicher und eigentlicher Rede räume der ‚Bedeutung als Physignomie‘ logischen Primat ein, denn wegen der Unübersetzbarkeit sei sie irreduzibel auf ‚Bedeutung als Gebrauch‘ und vermöge diese zu ändern. „Der Sprache ins Auge sehen: Wittgenstein und Bedeutung als Physignomie“, in Geschichten der Physiognomik, Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hgg.), Freiburg 1996, S. 535-552. BPP I 1095.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

ins Spiel. Das kann sogar dazu führen, wie im zweiten Beispiel des ersten Zitats, daß die klangliche Seite zur dominanten wird oder Assoziationen, die im normalen Sprachgebrauch keinerlei Gewicht haben, Bedeutungsnuancen mit sich bringen. Gegeben die beiden Begriffe ‚fett‘ und ‚mager‘, würdest du eher geneigt sein, zu sagen, Mittwoch sei fett und Dienstag mager, oder das Umgekehrte? (Ich neige entschieden zum ersteren. […]155

Diese Assoziationen basieren zwar auf normalen Sprachspielen, insofern sind sie sekundär, doch sind sie darauf nicht reduzibel, sie lassen sich nicht in die einfacheren Varianten rückübersetzen: Die sekundäre Bedeutung ist nicht eine ‚übertragene‘ Bedeutung. Wenn ich sage „Der Vokal e ist für mich gelb“, so meine ich nicht, ‚gelb‘ in übertragener Bedeutung – denn ich könnte, was ich sagen will, gar nicht anders als mittels des Begriffs ‚gelb‘ ausdrücken.156 Es ist aber doch wichtig, daß es alle diese Paraphrasen gibt! Daß man die Sorge mit den Worten beschreiben kann „Ewiges Düstere steigt herunter“. Ich habe vielleicht die Wichtigkeit dieses Paraphrasierens nie genügend betont. […]157

Was Wittgenstein hier eine ‚Paraphrase‘ nennt, ist eine Steigerung der Komplexität aller Bezüge und ist typisch für dichterische Sprache, die nicht in formulierbaren Regelwerken erklärbar ist. Vor einem begründbaren Urteil über das „treffende Wort“158 gibt es eine Ahnung, ein Sprachgefühl, das sämtliche Nuancen integriert und auf spielerischen Umgang mit allen erlernten Grammatiken und ihren Interferenzen beruht. Über einen feinen ästhetischen Unterschied läßt sich Vieles sagen – das ist wichtig. – Die erste Äußerung mag freilich sein: „Dies Wort paßt, dies nicht“ – oder dergleichen. Aber nun können noch alle weitverzweigten Zusammenhänge erörtert werden, die jedes der Wörter schlägt. Es ist eben nicht mit jenem ersten Urteil abgetan, denn es ist das Feld eines Wortes, was entscheidet.159 Die Worte eines Dichters können uns durch und durch gehen. Und das hängt, kausal, natürlich mit dem Gebrauch zusammen, den sie in unserem Leben haben. Und es hängt auch damit zusammen, daß wir, diesem Gebrauch gemäß, unsere Gedanken dorthin und dahin in die wohlbekannte Umgebung der Worte schweifen lassen.160

155

156 157 158 159 160

PU II xi 556/164 Vgl. 557/169 oder 533f./68f., wo es darum geht, welche Farben welchen Vokalen zugeordnet werden können. PU II xi 557/168. BPP I 853, Vgl. 871. PU II xi 554/156. PU II xi 561/187. Z 155.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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Damit beansprucht Wittgenstein ein Verstehen vor aller Interpretation, denn Erleben von Bedeutung beruht nicht auf einer kognitiven Leistung, sondern auf einer Beheimatung im komplexen Ganzen. Deshalb ist es mißverständlich, daß Wittgenstein das noch ‚Bedeutung‘ nennt.161 Wörter mit Physiognomie sind vielmehr Ausdruck, weil das, was mit ihnen einhergeht, nicht mit Verweis auf das, wofür sie stehen, zu erschöpfen ist. Gerade das Gesicht ist es, wo Empfindungen, Schmerz und auch Aspekterleben sich zeigt und zwar nicht im Sinne eines Zeichens, das im Dienste von seinem Bezeichneten steht, sondern dieses im wahrsten Wortsinn verkörpert. Besonders in den Zetteln bringt Wittgenstein Abschnitte, die man kaum lesen kann, ohne Lévinas zu assoziieren. Das menschliche Auge sehen wir nicht als Empfänger, es scheint nicht etwas einzulassen, sondern auszusenden. Das Ohr empfängt, das Auge blickt. (Es wirft Blicke, es blitzt, strahlt, leuchtet.) Mit dem Auge kann man schrecken, nicht mit dem Ohr, der Nase. Wenn du das Auge siehst, so siehst du etwas von ihm ausgehen. Du siehst den Blick des Auges.162 Ich mag den echten Blick der Liebe erkennen, ihn vom verstellten unterscheiden (und natürlich kann es hier eine ‚wägbare‘ Bekräftigung meines Urteils geben). Aber ich kann ganz unfähig sein, den Unterschied zu beschreiben. Und das nicht darum, weil die mir bekannten Sprachen dafür keine Wörter haben. Warum führe ich denn nicht einfach neue Wörter ein? – Wäre ich ein höchst talentierter Maler, so wäre es denkbar, daß ich in Bildern den echten Blick und den geheuchelten darstellte.163 161

162

163

Stephen Mulhall weist auf die Problematik hin, auch hier von ‚Bedeutung‘ (meaning) zu sprechen. (a. a. O. Chapter 2 pp. 40ff. „The physiognomy of words“). Er legt Wert darauf, daß Bedeutung unmittelbar ist und nicht auf einer Interpretation sinnloser Laute beruht. Mit einem pragmatischen Ansatz verfolgt auch Richard Shusterman dieses Anliegen eines Verstehens vor der Interpretation. Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1996, bes. S. 65-98. Vgl. PU 531 „ Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes .) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte in diesen Stellungen ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)“ PU 532 „So hat also „verstehen“ hier zwei verschiedene Bedeutungen? – Ich will lieber sagen, diese Gebrauchsarten von „verstehen“ bilden seine Bedeutung, meinen Begriff des Verstehens. Denn ich will „verstehen“ auf alles das anwenden.“ Dies ist ein typisch wittgensteinscher Begriff, der gerade nicht definit und eindeutig ist, sondern zwei Arten umfaßt. Z 222. Vgl. Totalität und Unendlichkeit (a. a. O.), S. 308 u. ö. Dazu Jacques Derrida Die Schrift und die Differenz (a. a. O.), S. 155+158. PU II xi 576/249.

244

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Nun trifft die besondere Art der Lesbarkeit von Gesichtern auch auf Wörter zu, als physiognomische sind sie fraglose Zeichen, deren Relevanz aller Interpretion und Bedeutungszuordnung trotzt. Bemerkenswert ist, daß Wittgenstein nicht nur eine Analogie zu menschlichen Gesichtern bringt, sondern daß er Sprache gleichsam anthropologisiert oder anthropomorphisiert: Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung, es habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung, – es könnte Menschen geben, denen das alles fremd ist. (Es würde ihnen die Anhänglichkeit an die Worte fehlen). – Und wie äußern sich diese Gefühle bei uns? – Darin, wie wir Worte wählen und schätzen.164 Du mußt an die Rolle denken, die Bilder vom Charakter der Gemälde (im Gegensatz zu Werkzeichnungen) in unserem Leben spielen. Und hier besteht durchaus nicht Einförmigkeit. Damit zu vergleichen: Man hängt sich manchmal Sprüche an die Wand. Aber nicht Lehrsätze der Mechanik. (Unser Verhältnis zu diesen beiden.)165 Wenn wir den Gebrauch eines Wortes beschreiben wollen, – ist es nicht ähnlich, wie wenn man ein Gesicht porträtieren will? Ich sehe es deutlich; der Ausdruck dieser Züge ist mir wohl bekannt; und sollte ich‘s malen, so wüßte ich nicht, wo anfangen. […]166 Jedes Wort – möchte man sagen – kann zwar in verschiedenen Zusammenhängen verschiedenen Charakter haben, aber es hat doch immer einen Charakter, ein Gesicht. Es schaut uns doch an. – Man könnte sich ja wirklich denken, jedes Wort sei ein kleines Gesicht, das Schriftzeichen könnte ein Gesicht sein. Und man könnte sich auch denken, daß der ganze Satz eine Art Gruppenbild wäre, so daß der Blick der Gesichter eine Beziehung zwischen ihnen hervorbrächte und das Ganze also eine sinnvolle Gruppe gäbe. – Aber worin besteht die Erfahrung, daß eine Gruppe sinnvoll ist? Und wäre es zum Verwenden des Satzes notwendig, daß man ihn als sinnvoll empfindet?167

Diese Abschnitte lassen Sprachverwendung und Satzbau fast als eine Art choreographische Konfiguration auffassen, bei der jedes Element auf seine Weise ineffabel ist. Das letzte Zitat läßt deutlich werden, daß das ehemalige Projekt Wittgensteins, das die Sprachphilosophie immer noch umtreibt, verfehlt ist: sucht man allgemeine Kriterien sinnvoller Sagbarkeit so muß man die Komplexität und ästhetische Qualität unserer Sprache ignorieren. Sowohl die Frage nach der sinnvollen Gruppe als auch die Wortwahl, daß man einen Satz als sinnvoll 164

165 166 167

PU II xi 560/184. PU II vi 501/4. „Jedes Wort – so möchte man sagen – kann zwar in verschiedenen Zusammenhängen verschiedenen Charakter haben, aber es hat doch immer einen Charakter – ein Gesicht. Es schaut uns doch an. – Aber auch ein gemaltes Gesicht schaut uns an.“ Vgl. BPP I 322 PU II xi 538/85. BPP I 944. BPP I 322. Vgl. 944.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

245

empfindet, sind mit den gängigen Auffassungen über die Sinnhaftigkeit von Sätzen nicht vereinbar.

IV.1.5. Blindheiten: Aspektblindheit, Bedeutungsblindheit, Gestaltblindheit, Ähnlichkeitsblindheit, Lächelnblindheit, Gottesblindheit Spätestens mit den Abschnitten über Bedeutungserleben kam die Frage auf, welche Relevanz die Aspektwahrnehmung und ihre Analogien haben. Die bisherige Diskussion hat die Beziehung zwischen Sehen und Sehen-als (bzw. Gebrauchstheorie und Physiognomie von Bedeutung) als aufeinander aufbauend plausibilisiert, aber eine ‚parasitäre‘ Nachordnung gleichzeitig irritiert. So war einerseits deutlich geworden, daß Vertrautheit mit alltäglichen Codes Voraussetzung ist, aber andererseits die neu gewonnenen (nicht nur) sekundären Relationen irreduzibel sind. Damit stellt sich die Frage, ob das, was in PU II xi verhandelt wird, verzichtbar ist. Wittgenstein diskutiert eine Anomalie, die Aspektblindheit, bei der genau die Fähigkeit abgeht, anders sehen zu können. (Manchmal wird in der Sekundärliteratur so getan, als handle es sich um eine fiktive Anomalie, Wittgenstein läßt das unklar. Doch gibt es sie tatsächlich, sie gehört zu den Symptomen der Schizophrenie. Anscheinend ist es sogar so, daß ein Training in Aspektwahrnehmung schizophrene Menschen wieder lebenstüchtig macht, also auch auf die anderen Symptome therapeutisch wirkt.)168 Es erhebt sich nun die Frage: Könnte es Menschen geben, denen die Fähigkeit etwas als etwas zu sehen, abginge – und wie wäre das? Was für Folge hätte es? – Wäre dieser Defekt zu vergleichen mit Farbenblindheit, oder mit dem Fehlen des absoluten Gehörs? Wir wollen ihn ‚Aspektblindheit‘ nennen – und uns nun überlegen, was damit gemeint sein könnte. (Eine begriffliche Untersuchung.) Der Aspektblinde soll die Aspekte A nicht wechseln sehen. Soll er aber auch nicht erkennen, daß das Doppelkreuz ein schwarzes und ein weißes enthält? Soll er also die Aufgabe nicht bewältigen können : „Zeig mir unter diesen Figuren solche, die ein schwarzes Kreuz enthalten“? Nein. Das soll er können, aber er soll nicht sagen: „Jetzt ist es ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund!“ Soll er für die Ähnlichkeit zweier Gesichter blind sein? – Aber also auch für die Gleichheit, oder angenäherte Gleichheit? Das will ich nicht festsetzen. (Er soll Befehle von der Art „Bring mir etwas, was so ausschaut wie das!“ ausführen können.)169 168

169

Das jedenfalls berichtet der Observer vom 1.8.1999; diese Aspektwechsel-Therapie wird in London angewandt unter dem Namen „cognitive remediation therapy“. PU II xi 551f./147. Vgl. BPP I 996

246

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Wittgensteins Schwierigkeit, die genauen Symptome des Aspektblinden festzulegen, zeugt einmal mehr davon, daß die Abgrenzung zwischen Aspektwahrnehmung und ‚stetigem Sehen‘ keineswegs griffig und klar sein kann. Wie weiter oben klar wurde, reicht stetiges Sehen aus, um im Alltag zurechtzukommen, denn Aspektwechsel verdanken sich einem darüber hinausgehenden spielerischen Umgangsweisen des Wahrgenommenen als Ganzen170. Wittgensteins Beispiele, so wenn er vom „Aroma“171 spricht oder in vielen Abschnitten Fragen stellt wie „Wohin schaut der Buchstabe F?“172, unterstützen Lesarten, die hier eine luxuriöse Spielerei diagnostizieren, die allenfalls für ästhetische Belange, wie Bedeutungserleben in der Dichtung, belangvoll werden kann. Gerade die Tatsache, daß kein Maß, kein Kriterium, keine Standards hinreichend sind, um ein Sehen-als plausibilisieren zu können, daß Wittgenstein von „unwägbarer Evidenz“173 und „feine[m]n ästhetischen Unterschied“174 spricht, läßt vermuten, daß das Ausbleiben solcher Erlebnisse gar nicht auffällt. Wenn ein feines Aufhorchen mir zeigt, daß ich in jenem Spiel das Wort bald so, bald so erlebe, – zeigt es mir nicht auch, daß ich‘s im Fluß der Rede oft gar nicht erlebe? – Denn, daß ich es dann auch bald so, bald so meine, intendiere, später wohl auch so erkläre, steht ja nicht in Frage.175

Auch die oben zitierten Abschnitte, in denen vom ‚Willen‘ zur Aspektwahrnehmung die Rede war oder wenn eine „Bereitschaft zu ei170

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172 173

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Joachim Schulte (a. a. O. in Erlebnis und Ausdruck, Kap. V ) und mit ihm Oliver R. Scholz (a. a. O. „Wie schlimm ist Bedeutungsblindheit ?“ S. 231f.) kommen zu einem beruhigenden Fazit (Scholz): „Eine eingehende Untersuchung der Stellung des Begriffs „Bedeutungserlebnis“ (sowie des Begriffs der Anomalie Bedeutungsblindheit) in den Erfahrungs- bzw. Erlebnisbegriffen, die durch entsprechende begriffliche Untersuchungen zum Aspekterlebnis und zur Aspektblindheit vorbereitet wurde, ergibt, daß Bedeutungserlebnisse, weit entfernt davon, Bedeutungsquellen, – konstituenten oder -garanten zu sein, marginale und sekundäre Phänomene sind, an denen ein mentalistischer Sprachtheoretiker nicht viel Freude haben kann. Weder sind sie für das Funktionieren der Sprache notwendig, noch sind sie im Innern verborgene, nur einer Person zugängliche Vorgänge.“ Beide halten den Vergleich mit einer wirklichen Blindheit, die für den Betroffenen als Defizit und Mangel wirksam wird, für irreführend. BPP I 22 und 100. Vgl. PU 610: „Beschreib das Aroma des Kaffees! – Warum geht es nicht? Fehlen uns die Worte? Und wofür fehlen sie uns? […]“ BPP I 12ff. u. ö. PU II xi 576/248f. PU 610. Vgl. auch seine vielen Beispiele zum Lächeln in einem Gesicht, so BPP I 1072, 1075, 1103; außerdem PU II xi 527/40, 529/48, 539/89. PU II xi 561/187. Vgl. 534f./71 und 82, wo „feine Abschattungen des Verhaltens“ zum sich Auskennen gehören. PU II xi 555f./162.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

247

ner bestimmten Gruppe von Gedanken“176 Erlebnisse der in Frage stehenden Art erst ermöglichen, unterstützen eine solche Einschätzung. Ich werde mich aber Stephen Mulhall177 anschließen, der Sehen-als eine über den expliziten Wittgensteinschen Text hinausgehende Relevanz gibt: Ihm zufolge macht es spezifisch menschliche Aktivität aus, im Gegensatz zu z. B. Automaten178. Sie sei eine Virtuosität im Umgang mit der normalen Wahrnehmung, welche sich mit Wittgenstein als ‚sich auskennen‘ beschreiben läßt und unmittelbar statthat. Sie lasse sich nicht nur als Zusatzvermögen zum normalen, alltagstauglichen Sehen oder Sprechen qualifizieren, sondern wirke auf dieses zurück und lasse es anders auffassen. […] Der ‚Aspektblinde‘ wird zu Bildern überhaupt ein anderes Verhältnis haben als wir.179 Ich treffe Einen, den ich jahrelang nicht gesehen habe; ich sehe ihn deutlich, erkenne ihn aber nicht. Plötzlich erkenne ich ihn, sehe in seinem veränderten Gesicht sein früheres. Ich glaube, ich würde ihn jetzt anders porträtieren, wenn ich malen könnte.180

Gegen Donald Davidson181 polemisiert Mulhall, indem er dessen Wahrnehmungstheorie als universale Aspektblindheit bezeichnet: Auch jeder Normalfall sei dort eine Prozedur, bei der zunächst fremde Eindrücke durch Interpretation vertraut gemacht werden. So aufgefaßt ist der Mensch fremd in seiner Welt, konfrontiert mit amorphen Sinnesdaten, die er seiner eigenen theoretischen Leistung unterwerfen müsse, um sie im Rahmen einer linguistischen Transaktion einordnen zu können. Mulhall sieht eine solche prinzipielle Unbeholfenheit, der durch Interpretation Abhilfe geschaffen wird, weil es kein stetiges Sehen gibt, als Konsequenz aus einer Metaphysik, die dem Empirismus verhaftet sei.182

176 177 178 179 180 181 182

BPP I 870. On Being in the World. Wittgenstein and Heidegger on Seeing Aspects, London 1990. BPP I 198, 202, 324, 411 u. ö. PU II xi 552/148.Vgl. BPP II 479. PU II xi 525/34. Vgl. BPP I 983. Besonders in Kap. 4 p. 91ff. Vgl. p. 106 „[…] it is important to note that this metaphysics of the given – revealed as it is by Davidson‘s emphasis upon the concept of ‚interpretation‘ – exemplifies to perfection the stance of the interlocutor in Section xi of the PI. Incapable of finding a home for the notion of continous aspect perception in his framework of thought, Davidson describes the everyday phenomenon of perceiving words and other human beings as if aspect-blindness were the normal human state.“

248

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Kontrastiv dazu zieht Mulhall Heidegger heran183: Sein und Zeit zufolge sei das vorphilosophische Alltagsverhalten immer schon verstehend und eingebunden in eine Welt, die aus sinnhaften Bezügen besteht. Vor jeder theoretischen Operation gebe es Bedeutung, die sich der jeweiligen existentielle Situiertheit184 verdanke. Damit werde die Art und Weise, wie man die Welt als Ganze und sich selbst in ihr auffaßt, nicht nur analog zu Sehen-als diskutiert, sondern damit in Verbindung gebracht: Wem Aspekte sehen und Bedeutung erleben abgehen, dessen Welt sei eine andere, ärmere und orientierungslosere. The question of the degree to which the logical geography of a language is run through with and given a unity by such similarities between linguistic structures is not one which can be answered a priori; but to the degree that it is, the aspect-blind will be fated to stumble around within it – competent to employ certain techniques, unable to grasp others, and blind to the patterning which makes such an agglomeration of linguistic suburbs into a city.[…] In his alienation from (rather than assimilation of) language, he is condemned to an improverished inner life; he lacks the second nature which language confers upon human beings.185

Die metaphysikanfällige Rede von der Welt als ganzer findet sich explizit nur im Tractatus186, in allen späteren Texten ist Ganzheit keine Totalität und deshalb mißverständlich: Das bloße Beschreiben ist so schwer, weil man glaubt, zum Verständnis der Tatsachen diese ergänzen zu müssen. Es ist, als sähe man eine Leinwand mit verstreuten Farbflecken, und sagte: so wie sie da sind, sind sie unverständlich; sinnvoll werden sie erst, wenn man sie sich zu einer Gestalt ergänzt. – Während ich sagen will: Hier ist das Ganze. (Wenn du es ergänzt, verfälscht du es.)187

Gleichwohl liefert gerade das Kapitel xi durch seine Verwandtschaft mit der Gestaltpsychologie einen vorsichtigen Vorstoß (bzw. Rückfall), denn entscheidend ist die Wahrnehmung von ganzen Gestalten. 183

184

185 186 187

A. a. O., p. 108f. Mulhall macht deutlich, daß es ihm darum gehe, der gegenseitigen Ignoranz kontinentaler und analytischer Philosophie entgegenzuwirken (p. 122) Wie weit eine solche Parallele gehen kann, diskutiert er im Hinblick auf Wittgensteins Auffassung, daß Metaphysik ‚Schatten‘ der Grammatik ist. John Hick überträgt Wittgensteins Diskussion des Sehen-als auf ein „Erfahren-als“ und kommt zu drei Modi: ästhetisch, ethisch und religiös. Damit hat er genau Kierkegaards Existenz-Stadien genannt, anscheinend ohne sich dessen bewußt zu sein. „Seeing-As and religious experience“, in Akten des Wittgenstein-Symposiums 1983, Bd. 2, Wien 1984, S. 46-52. Mulhall, a. a. O., p. 50f. Z. B. 6.43 „(…) Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“ BPP I 257. In diesem Sinne wird weiter unten ‚Weltbild‘ zu diskutieren sein.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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Wenn Wittgenstein von „Gestaltblindheit“188 spricht, imaginiert er einen Menschen, der eine Photographie wie eine Landkarte mühsam interpretiert und überträgt189, aber nicht spontan auf sie reagieren kann. Zudem überlegt er eine Art Blindheit für Gesichtsausdrücke190 sowie für Lächeln191. In den als Vermischte Bemerkungen publizierten Abschnitten gibt Wittgenstein sogar eine wissenschaftstheoretische Relevanz im Sinne meines Vergleichs mit Thomas Kuhn192: Das eigentliche Verdienst eines Kopernikus oder Darwin war nicht die Entdeckung einer wahren Theorie, sondern eines fruchtbaren neuen Aspekts.193 Nein, das Paradigma schwebte mir nicht ständig vor – aber wenn ich den Wechsel des Aspekts beschreibe, dann geschieht das mit Hilfe der Paradigmen.194

Während hier eine pragmatische Funktion ausschlaggebend ist, versucht Wittgenstein auch ein religiöses Analogon, eine Art ‚Gottesblindheit‘: Wie müßte man denn den nennen, der den Begriff von ‚Gott‘ nicht verstehen kann, nicht sehen, wie ein vernünftiger Mensch dies Wort im Ernst gebrauchen kann? Sollen wir denn sagen, er leide an einer Blindheit?195

Es bietet sich an, dem Aspektwechselphänomen sowohl eine wissenschaftstheoretische als auch weltanschauliche Lesart abzugewinnen. In den Vermischten Bemerkungen bringt Wittgenstein ein Beispiel für ein Sehen des Alltäglichen, das dieses zu einem ganz anderen werden läßt: Denken wir uns ein Theater, der Vorhang ginge auf und wir sähen einen Menschen allein in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich niederset188 189

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193 194 195

BPP I 170, vgl. BPP II 478. In PU II xi 537/82 bringt er ein ähnliches Beispiel eines Menschen, der ein Bild wie eine Werkzeichnung studiert, um einen Fall zu nennen, bei dem es sich um Wissen, nicht um Sehen handelt. PU II xi S. 546/123 „Man könnte von einem sagen, er sei für den Ausdruck in einem Gesicht blind. Aber fehlte deshalb seinem Gesichtssinn etwas? […]“ BPP I 1103: „Vor allem kann ich mir sehr wohl jemand denken, der zwar ein Gesicht höchst genau sieht, es z. B. genau porträtieren kann, aber seinen lächelnden Ausdruck nicht als Lächeln erkennt. Zu sagen, sein Sehen sei mangelhaft, fände ich absurd. Und zu sagen, daß sein subjektiver Gesichtsgegenstand eben nicht lächle, obwohl er alle Farben und Formen des meinen hat, ebenso absurd.“ Kuhn diskutiert, wie Wissenschaftler sich dem Paradigmenwechsel verweigern und die schulenbildende ‚normale Wissenschaft‘ auch dann noch verfechten, wenn Anomalien sie mit geballten Vorkommnissen scheitern lassen. VB 475 (1931). Vgl. BPP I 510, 514, 528 u. ö. BPP I 523. BPP I 213.

250

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

zen, u. s. f., so, daß wir plötzlich von außen einen Menschen sähen, wie man sich sonst nie sehen kann; wenn wir quasi ein Kapitel einer Biographie mit eigenen Augen sähen, – das müßte unheimlich und wunderbar zugleich sein. Wunderbarer als irgendetwas, was ein Dichter auf der Bühne spielen oder sprechen lassen könnte, wir würden das Leben selbst sehen. – Aber das sehen wir ja alle Tage, und es macht uns nicht den mindesten Eindruck! Ja, aber wir sehen es nicht in der Perspektive. – So, wenn E.[ngelmann] seine Schriften ansieht und sie wunderbar findet (die er doch einzeln nicht veröffentlichen möchte), so sieht er sein Leben als ein Kunstwerk Gottes, und als das ist es allerdings betrachtenswert, jedes Leben und Alles.[…]196

IV.1.6. Grenzen des Aspektwechsels für den ‚Sprung‘: Metaphern Die Ausgangsfrage meiner Besprechung der Aspektwahrnehmung bei Wittgenstein war, dem berühmten Kierkegaardschen ‚Sprung‘ beizukommen. Es bieten sich folgende Parallelen an: 1. Sprung wie Aspekt verdanken sich nicht beliebiger Zuschreibungen und willkürlicher Phantasie, weil sie dem realen Befund verpflichtet sind. 2. Beide sind nicht zwingend, man kann sie verweigern, vernachlässigen oder schlicht nicht kennen. 3. Der Kontext spielt ein in der Aktualisierung des Aspekts wie beim Vollzug des Sprunges. 4. Wille, kognitive Vermögen und Imagination sind beteiligt. 5. Die Realität ändert sich nicht, durchläuft keine Metamorphose. 6. Eine Analyse dieses Vorgangs ist nicht hilfreich wegen der Übersummativität, kein Merkmal ist als Initiator nominierbar.

196

VB S. 456 (1930). Vgl. S. 457 (1930) „[…] es besteht gar kein Grund, sich über diese Dinge zu wundern, weil sie so alltäglich sind. Wenn sich der primitive Mensch über sie wundern muß, wieviel mehr der Hund und der Affe. Oder nimmt man an, daß die Menschen quasi plötzlich aufgewacht sind, und diese Dinge, die schon immer da waren, nun plötzlich bemerken und begreiflicherweise erstaunt waren? – Ja, etwas Ähnliches könnte man sogar annehmen; aber nicht, daß sie diese Dinge zum erstenmal wahrnehmen, sondern, daß sie plötzlich anfangen, sich über sie zu wundern. Das aber hat wieder nichts mit ihrer Primitivität zu tun. Es sei denn, daß man es primitiv nennt, sich nicht über die Dinge zu wundern, dann aber sind gerade die heutigen Menschen […] selbst primitiv, wenn [… sie glauben], die Erklärung der Wissenschaft könne das Staunen beheben.“ Shields (a. a. O., p. 110ff.) geht so weit zu meinen, daß Wittgensteins Vorbehalte Erklärungen gegenüber darin mündeten, alles, auch z. B. Regelfolgen, als wundersam anzustaunen. Wie bei einer okkasionalistischen Haltung gebe es Gesetzmäßigkeiten nur dank der Gnade Gottes, nicht aber, weil dem tatsächlich kausale Relationen zugrundelägen.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

251

Doch geht dieser Vergleich nicht voll auf, es sind auch Unterschiede namhaft zu machen: Beim Aspektwechsel sind die Aspekte bekannt; der Effekt ergibt sich aus der unverhofften Koinzidenz von Vertrautem. Vor allem bei den vielen optischen Beispielen geht der Wechsel von einem zum anderen Aspekt spielend leicht und beliebig oft hin und her. Dabei bleiben die Aspekte getrennt und stören oder affizieren einander nicht. Anders beim Sprung: einmal vollzogen, wird auch die alte Sicht eine andere, sie relativiert sich. Auch wenn man zu ihr wieder zurückkehrt, ist sie dadurch bereichert, daß man eine Konkurrenzsicht kennengelernt hat, aber die vorherige vorzieht. Ein solcher Wechsel ist hochkomplex und hat viele Implikationen, er läßt sich nur mit viel Aufwand initiieren. Beim Sprung gibt es ein Risiko, ein Wagnis, ein sich Einlassen auf etwas, das vielleicht bekannt ist, aber sich erst in der existentiellen Aneignung wirklich erschließt. Darin liegt die Erfahrung eines Unvertrauten, Neuen, das man leben muß, um es wirklich zu kennen. Der Sprung ist der Metapher ähnlicher als dem Aspekt, insofern als auch die Metapher mit bekannten Paradigmen operiert, doch verdankt sie ihren Effekt einer produktiven Leistung, die neue Bedeutung generiert, sie ist ein „conceptual leap“. Damit gibt es eine Nachordnung von eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung197. Die meisten Metaphern gehen auf einen sprachschöpferischen Akt, z. B. eines Dichters oder Journalisten zurück und etablieren sich gegebenenfalls in der Normalsprache. Daran schließt sich eine Frage an, die bei den Aspekten gar nicht erst aufkommt: Wieso gibt es viele Metaphern, die schlecht sind und nicht in den Sprachgebrauch übergehen? Carl Hausmann198 widmet sich dieser Frage nach der Möglichkeit eines Neuen, das sich nicht auf die Rekombination etablierter Paradigmen reduzieren läßt: Er macht sich daran, die kreative Leistung einer metaphorischen Grenzüberschreitung angewandt auf bildende Künste und Wissenschaften zu diskutieren: Eine Metapher läßt zwei Wörter aus heterogenen Bereichen zusammenkommen, irritiert dadurch beide aufgerufenen Referenten und setzt sie in Wechselwirkung. Dadurch geht eine Transformation199 vonstatten, die einen 197

198 199

Vgl. Catherine Elgin über den Unterschied zwischen Metapher und Ambivalenz: „Metaphor and Reference“, in From a Metaphorical Point of View. A Multidisciplinary Approach to the Cognitive Content of Metaphor, ed.: Z. Radman, Berlin/New York 1995, pp. 53-75; bes. S. 56. Metaphor & Art, Cambridge University Press 1989. Aldrich (a. a. O., S. 156) spricht von „interanimation“, von gegenseitiger Beseelung; auch von „umwandelnder Fusion“ (S. 158)

252

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

neuen Referenten200 generieren läßt. Der ist allerdings kein beliebiges Konstrukt metaphorischer Aktivität, kein Resultat einer neugewonnenen Perspektive, da man zwischen gelungenen („apt“201) und mißratenen Metaphern unterscheiden kann: Erstere eröffnen neue mögliche Bedeutungen und etablieren sich bald im Sprachgebrauch. Sie bewirken einen „shock of recognition“, der einen „aftershock“202 nach sich zieht, weil der buchstäbliche Sinn affiziert wird. Woran, so fragt Hausmann im Anschluß an diese Diagnose, bemißt sich das ‚Passen‘ eines Neuen, was erfolgreiche Akzeptanz nach sich zieht, obschon die eingebrachten anerkannten Bedeutungsschemata und Codes gesprengt werden? Hausmanns Antwort erfolgt durch Rekurs auf eine ontologischen Status beanspruchende, allen Zeichen widerständige Realität, der sich mit Peirces Auffassung von indexikalischer Referenz beikommen lasse: Was an einer neuen Bedeutung ‚paßt‘, bemesse sich an einem Realen, das jedoch nie gegeben ist oder zur berechenbaren Größe als Referenz eines Zeichens oder Zeichenprozesses erfaßbar wird. Vielmehr mache sich Realität ausschließlich als Störfaktor und Widerstand203 be200

201

202 203

Eine ähnliche Stoßrichtung findet sich bei Paul Ricœur Die lebendige Metapher, München 1991 (Paris 1975), 5. Studie „Metapher und Referenz“, S. 215f.: Das literarische Kunstwerk suspendiert die Bedeutung zwar, doch stiftet es eine neue „zweiten Grades“, die sich wie bei der Metapher „aus den Trümmern“ der wörtlichen Bedeutung ergibt. Wittgenstein dazu: „Warum gerade dies Bild sich mir darbietet, ließe sich vielleicht erklären. (Denke nur an den Ausdruck und die Bedeutung des Ausdrucks ‚das treffende Wort‘.)“ PU II xi 554/156. „Wie finde ich das ‚richtige‘ Wort? Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal, als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden ihres Geruchs: Dies ist zu sehr …, dies zu sehr …, – das ist das richtige. – Aber ich muß nicht immer beurteilen, erklären; ich könnte oft nur sagen: „Es stimmt einfach noch nicht.“ Ich bin unbefriedigt, suche weiter. Endlich kommt ein Wort: „Das ist es!“ Manchmal kann ich sagen, warum. So schaut eben hier das Suchen aus, und so das Finden.“ PU II xi 560f./185. „Die Trauer dem bleigrauen Himmel ähnlich?! Und wie kann man das herausfinden? Indem man den Trauernden und den Himmel betrachtet? Oder sagt es der Trauernde? Und ist es dann nur für seine Trauer wahr, oder für die Trauer eines Jeden?“ BPP I 854; vgl. 855. So bei Elgin a. a. O., S. 70. Bei Thomas Kuhn läßt sich eine vergleichbare paradigmenresistente Größe ausmachen, die Anomalien aufkommen läßt, welche sich häufen können und so einen Paradigmenwechsel heraufbeschwören können, aber nicht müssen. Kuhn kommt zu dem Schluß, daß sich auf ein solches widerständiges Gegebenes nicht paradigma-indifferent rekurrieren läßt, er sieht die Unmöglichkeit einer “reinen Beobachtungssprache“, doch gelingt der Verzicht auf etwas, das sich keiner paradigmatischen Form verdankt, sondern auf das eine solche Anwendung findet, nicht. Vgl. vor allem S. 137ff., Kap. X.

IV. 1. Aspekte: Sehen-als in den Philosophischen Untersuchungen II, xi

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merkbar, an dem sich intellektuelle Bewältigungsversuche abarbeiten und durch die sie aus bloßer Beliebigkeit gerettet werden. Wie Peirces dynamisches Objekt handele es sich um ein begrifflich unerschöpfliches Konkretes und Individuelles, das mit jeder metaphorischen Sprengung bestehender Zeichenfixierungen neu gewonnen, aber gleichzeitig in seiner Komplexität wieder verloren gehe. Damit bleibe die Dynamik neuer Zeichenbildungen auf Kosten und dank etablierter und geschlossener Codes im Gang, ohne Gefahr, komplett ins Leere zu laufen. In Peirces Zeichenklassifikation (s. o. mein Teil II.1.) ist die Metapher eine Sorte icon, weil sie aufgrund von einer Ähnlichkeit operiert, die immer schon ‚real‘ bestand, aber erst durch die Metapher bemerkt wird. Wie ein zeigendes Zeichen leistet so die Metapher eine Refokussierung der Aufmerksamkeit, was bereichernde Konsequenzen hat.204 Hausmann versucht mit seiner Auffassung der Metapher als Quelle kreativer Neuerungen in Sprache, Kunst und Wissenschaft einerseits einen Konstruktivismus zu vermeiden, der alle Realität unseren Operationen preisgibt, andererseits die Forderung stark zu machen, daß durch eine spezifische ‚ästhetische‘ Leistung die Welt eine andere werden kann. Dem durch metaphorische Transformation neu gewonnenen Referenten kann damit ontologischer Status zuerkannt werden. Hausmanns Indienstnahme von Peirce erlaubt es, den hier zur Diskussion stehenden qualitativen Übergang von einem Aspekt zum anderen zuzulassen, ohne die nach Kierkegaard unbedingt zuzugestehende existentielle Situiertheit in ihrer Faktizität mißachten zu müssen. Mit Peirce läßt sich Wahrheit zugleich korrespondenztheoretisch (also mit einer widerständigen Realität als Korrektiv oder Störfaktor) als auch kohärenztheoretisch (so daß die Akzeptanz der Sprachgemeinschaft und geltendes Sprachverhalten entscheidend einwirken) auffassen. Wenn religiöse Rede auf ihre Metaphern hin untersucht wird, stellen sich diese oft als unübersetzbar und irreduzibel heraus, einige sind sogar absolute Metaphern in Blumenbergs Sinn.205 Hier ist die spezifische Leistung der Metapher, eine Referenz zu ermöglichen, auch

204

205

Vgl. CP 2.277. Den genauen Ort der Metapher bei Peirce sowie ihr Funktionieren in der Semiose untersucht M. C. Haley The semeiosis of Poetic Metaphor, Peirce Studies 4, Indiana University Press 1988. Mit Blumenberg arbeitet Markus Buntfuss Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, Berlin/New York 1997. Vgl. auch Janet Martin Soskice Metaphor and religious language, Oxford 1985.

254

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

wenn das, worauf sich die Rede bezieht, nicht bestimmbar, beschreibbar oder definierbar ist. Sie stößt vor in Unvertrautes und bietet einen Mehrwert an Bedeutung, der sich kaum ausmessen läßt, aber wirkungsvoll bleibt. Es lassen sich endlose Interpretationen anschließen mit gebotenem Ernst der Exegese, aber Klartext wird niemals das Resultat sein. Keine dogmatische Verhärtung vermag sich dauerhaft dieses Unvertrauten zu bemächtigen, dem man sich auch ohne vollkommenes Begreifen anvertrauen kann. Genau dies ist die Dynamik der Bekehrung, die nach der Zugabe Thema sein wird.

IV.2. Zugabe: Wittgensteins Philosophieren als Aspektwechselprovokation Mindestens drei Arbeiten, die in den vergangenen Jahren in Druck gingen, begreifen Wittgensteins Anliegen in den Philosophischen Untersuchungen als Präsentation eines Selbstverständnisses und einer anderen Vorgehensweise von Philosophie, welche sich analog zu einem Aspektwechsel beschreiben läßt.206 Damit verschiebt sich der

206

In einigen Manuskripten macht Wittgenstein selbst das auch. Judith Genova: Wittgenstein. A Way of Seeing, London/New York 1995. In diesem Buch wird der Vollzug des Wandels und der Veränderung stark akzentuiert, wohingegen Sachfragen marginalisiert werden. p. XV „Philosophers become not poets, critics or therapists for the later Wittgenstein, but performance artists whose only aim is to effect change.“ Es gehe darum, stets zu neuen Sichtweisen bereit zu sein und keine sich verfestigen und etablieren zu lassen. Erfolgskriterium sei der befreiende Effekt und die Auflösung von Beunruhigungen. (p. 13) Genova geht so weit, Wittgenstein glatt zu widersprechen, wenn sie auf PU 124 Bezug nimmt („Sie [Philosophie] läßt alles, wie es ist.“) und behauptet das Gegenteil (p. 16). Gabriele Hiltmann Aspekte sehen. Bemerkungen zum methodischen Vorgehen in Wittgensteins Spätwerk, Würzburg 1998. Hiltmann arbeitet mit der Unterscheidung von thematischen Begriffen, die in der philosophischen Argumentation diskutiert werden und operativen Begriffen, die dazu eingesetzt werden ohne eigens befragt zu werden. (S. 12f.) Wittgensteins PU lassen eine Art Aspektwechsel vollziehen, insofern der operative Faktor ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerate und vorgeführt werde. „Die hier vorgelegte Lektüre von Wittgensteins Spätwerk will zeigen, daß Wittgensteins methodisches Vorgehen in den späten Schriften einen Versuch bildet, einen ‚Text‘ ‚ohne‘ operative Schicht zu schreiben, indem die Operationalität der Sprache so eingesetzt wird, daß sie sich im Gebrauch selbst erhellen soll.“ Darin bestehe eine Möglichkeit, Sprache zu reflektieren, ohne ein Metaebene einnehmen zu müssen, denn „Sprache erhellt sich selbst“(S. 26). Allerdings – und das ließe sich mit Hiltmann gegen Genova vorbringen – liege eine Grenze in dem Wechselspiel darin, daß es ein sprechendes Subjekt gibt, das nicht in Sprache aufgeht. „Es kann

IV.2. Zugabe: Wittgensteins Philosophieren als Aspektwechselprovokation

255

Schwerpunkt der Erörterungen von sprachphilosophischen Sachfragen zu welchen der Methode und des Stils. Weniger die Lösung von Problemen, die durch den zeitgenössischen Diskussionszusammenhang virulent waren und von Wittgenstein aufgegriffen wurden, als deren Auflösung und Neufassung ergeben sich aus der spezifischen Präsentationsform der PU. Ein solcher Aspektwechsel greift tiefer als die Einmischung in interne Debatten unter Beibehaltung der strukturellen Rahmenbedingungen der philosophischen Argumentation, sie bewirkt eine Revision des Fundamentalen in dem für Glaubensangelegenheiten charakteristischen Sinne. Diese Diagnose läßt sich an mindestens zwei Charakteristika der Textgestalt und Diktion festmachen. Das Sammelsurium von Abschnitten, das sowohl in den PU als auch in ÜG den Textkorpus konstituiert, ließe sich nur für letzteren Text mit dem tentativen Charakter eines Entwurfs, der durch Wittgensteins Tod zu keiner Bearbeitung kam, ‚entschuldigen‘. Die PU sind nachweisbar zur Publikation vorbereitet und mehrfach überarbeitet, aber obschon sich dort kapitelartige Themenschwerpunkte

1

dem sprachverwendenden Subjekt nie gelingen, Sprache sich selbst auslegen zu lassen, da ein einzelnes Subjekt auf seinen Streifzügen durch den Sprachgebrauch nie alle möglichen und denkbaren Sprachorte mit der Mannigfaltigkeit ihrer Betrachtungsweisen zur Sprache bringen kann. Dieser Anspruch würde die Möglichkeit, die Standorte unbegrenzt zu wechseln, den Verlust der individuellen Subjektivität und Unsterblichkeit voraussetzen.“ (S. 28) Ernst Michael Lange Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Paderborn etc. 1998 (UTB Band 2055). Hierbei handelt es sich um eine überblickshafte, propädeutische Gesamtinterpretation der PU, welche vor allem als Kritik des T aufgefaßt wird. Lange argumentiert dafür, daß Wittgenstein ein dreiteiliges opus magnum geplant habe, deren erster Teil der T und die PU seien, der zweite die Grundlagen der Psychologie und der dritte die Grundlagen der Mathematik. Das Aspekte-Kapitel wird direkt nach der Einleitung ausführlich diskutiert, denn ihm wird ein ausgezeichneter Status für die PU im Ganzen eingeräumt: „Diese Untersuchung halte ich für ein Modell einer philosophischen Untersuchung in Wittgensteins Sinn aus mehreren Gründen: Erstens liegt in diesem Abschnitt eine Begründung für das komprehensive Verständnis des Umfangs der PU, zweitens kann die Wahrnehmung dieses terminus ad quem der PU im Bereich der Philosophie der Psychologie von Beginn an jeder Versuchung zu einem reduktionistischen Verständnis Wittgensteins, das verschiedene Formen annehmen kann (sie als verfeinerten Behaviourismus aufzufassen, sie bloß als Sprachphilosophie zu verstehen u. a.), definitiv vorbauen. Schließlich ist die Aufgabe der Philosophie selbst in Wittgensteins PU als die der kritischen Veränderung eines beirrenden Aspekts und der Aufweisung eines beruhigenden Aspekts zu verstehen […]“ S. 18.

256

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

feststellen lassen207, handelt es sich auch hier um eine Zettelsammlung. Bemerkungen wie die folgenden lassen vermuten, daß das für die Art der Untersuchungen unabdingbar ist: Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck.208 Ist es mit dem Wissen wie mit dem Sammeln?209

In Anlehnung an die Pferd-Reiter-Metapher210 könnte man sagen, Wittgenstein lasse die sprachlichen Fakten bocken, um einen Befund zu präsentieren, der es der Virtuosität des Lesers anheimstellt, ob dieser im Sattel bleibt oder nicht. Wie typisch für eine Bekehrung und den Aspektwechsel werden Faktoren aufgeführt, sich kreuzende Begriffe aufgespürt, aber eine argumentative Stellungnahme verweigert. Statt dessen bewirkt eine solche Präsentationsweise eine andere Sicht, eine neue Auffassung, des Philosophierens insgesamt: Die Unruhe in der Philosophie, könnte man sagen, kommt daher, daß wir die Philosophie falsch ansehen, falsch sehen, nämlich gleichsam in (endlose) Längsstreifen zerlegt, statt in (begrenzte) Querstreifen. Diese Umstellung der Auffassung macht die größte Schwierigkeit. Wir wollen also gleichsam den unbegrenzten Streifen erfassen, und klagen, daß es nicht Stück für Stück möglich ist. Freilich nicht, wenn man unter einem Stück einen endlosen Längsstreifen versteht. Wohl aber, wenn man einen Querstreifen darunter versteht. – Aber dann kommen wir ja mit unserer Arbeit wieder nicht zu Ende! – Freilich nicht, denn sie hat keins. (Statt der turbulenten Mutmaßungen und Erklärungen wollen wir ruhige Erwägung sprachlicher Tatsachen setzen.)211

So ein Querstreifen ist wie ein Abschnitt der Texte Wittgensteins überschaubar und handhabbar. Er ist für sich genommen unproblematisch und mutet vielleicht sogar belanglos an, da die wichtigen Vokabeln nicht vorkommen und die großen Fragen nicht auftauchen. Doch die Reihung und Kombination dieser Bemerkungen, ihre Interferenzen, Verwandtschaften und Konvergenzen gestalten sich so 207

208 209 210

211

Besonders die Kommentatoren geben sich allerhand Mühe, eine zugrundeliegende Systematik aufzuspüren und kluge Einteilungen vorzunehmen. Aber allein die Tatsache, daß es divergierende Stellungnahmen dazu gibt und ein Blick auf Peter Hackers Gliederungsschemata zeigt, daß das alles andere als eine klare Sache ist. Wenn ‚Übersicht‘ sich von selbst einstellte, bräuchte man keine Wittgenstein-Kommentare. PU 127. ÜG 539. ÜG 616 „Aber wäre es denn undenkbar, daß ich im Sattel bleibe, auch wenn die Tatsachen noch so sehr bockten?“ Z 447.

IV.2. Zugabe: Wittgensteins Philosophieren als Aspektwechselprovokation

257

komplex und uneindeutig, daß eine neue Art der Herausforderung aufkommt. Deshalb verschwendet Wittgenstein auch keinen Gedanken an eine Kritik der Tradition (die er ohnehin kaum kannte). Anstelle einer Auseinandersetzung oder das bei vielen Philosophen vorherrschende Selbstverständis, alles anders und besser zu machen und die verfehlten Lösungsversuche der Vorgänger hinter sich zu lassen, diagnostiziert Wittgenstein eine unpassende Haltung und Geste: Wer philosophiert macht oft zu einem Wortausdruck die falsche, unpassende, Geste.212 (Man sagt das Gewöhnliche, – mit der falschen Gebärde.)213

Symptomatisch für den neuen ‚Ton‘ ist der Status der Beispiele bei Wittgenstein: Anders als die meist ins Absurde gesteigerten und ironisch wirkenden Gedankenexperimente sind die Beispiele oft trivial und simpel. Gleichzeitig und andererseits sind dieselben Fälle hochkomplex und erlauben, daß man mehrere Regeln mit ihnen in Verbindung bringt (s. o. mein Teil II. 3. 2. zum Regelfolgen). Nicht ein solches Beispiel provoziert einen Aspektwechsel, sondern der Status, den Beispiele für Wittgensteins Philosophieren haben, verrät ein anderes Procedere. In einer der Lehrer-Schüler-Episoden bringt Wittgenstein zwei Arten des Umgangs mit Beispielen, deren eine die beim Lernen verwendeten und zum Regelverständnis führenden Beispiele zu den maßgeblichen macht214. Die andere determiniert nicht durch die Lernbeispiele alle weiteren, sondern weist darüber hinaus. So erkläre ich also, was „Befehl“ und was „Regel“ heißt durch „Regelmäßigkeit“? – Wie erkläre ich jemandem die Bedeutung von „regelmäßig“, „gleichförmig“, „gleich“? – Einem, der sagen wir, nur Französisch spricht, werde ich diese Wörter durch die entsprechenden französischen erklären. Wer aber diese Begriffe noch nicht besitzt, den werde ich die Worte durch Beispiele und durch Übung gebrauchen lehren. – Und dabei teile ich ihm nicht weniger mit, als ich selber weiß. Ich werde ihm also in diesem Unterricht gleiche Farben, gleiche Längen, gleiche Figuren zeigen, ihn sie finden und herstellen lassen, usw. Ich werde ihn etwa dazu anleiten, Reihenornamente auf einen Befehl hin ‚gleichmäßig‘ fortzusetzen. – Und auch dazu, Progressionen fortzusetzen. Also etwa auf . .. … so fortzufahren .... ..... ...... Ich mach‘s ihm vor, er macht es mir nach; und ich beeinflusse ihn durch Äußerungen der Zustimmung, der Ablehnung, der Erwartung, der Aufmunterung. Ich lasse ihn gewähren, oder halte ihn zurück; usw. Denke du wärest Zeuge eines solchen Unterrichts. Es würde darin kein Wort durch sich selbst erklärt, kein logischer Zirkel gemacht. 212 213 214

Z 450. Z 451. Vgl. Genova, a. a. O., p. 43: „[…] to state a rule that will function as a law is the temptation of philosophy, not its task.“

258

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Auch die Ausdrücke „und so weiter“ und „und so weiter ad infinitum“ werden in diesem Unterricht erklärt werden. Es kann dazu unter anderem auch eine Gebärde dienen. Die Gebärde, die bedeutet „fahr so fort!“, oder „und so weiter“ hat eine Funktion, vergleichbar der des Zeigens auf einen Gegenstand, oder auf einen Ort. Es ist zu unterscheiden: das „usw.“, das eine Abkürzung der Schreibweise ist von demjenigen, welches dies nicht ist. Das „usw. ad inf.“ ist keine Abkürzung der Schreibweise. Daß wir nicht alle Stellen von π anschreiben können, ist nicht eine menschliche Unzulänglichkeit, wie Mathematiker manchmal glauben. Ein Unterricht, der bei den vorgeführten Beispielen stehen bleiben will, unterscheidet sich von einem, der über sie ‚hinausweist‘.215

Die erste Art des usw. vergleicht Wittgenstein mit einer Zeigegeste, deren Funktion und Bedeutung aufgrund des Gelernten eindeutig ist. Es kann als Abkürzung aufgefaßt werden, weil man mit mehr Zeit und Fleiß die Reihe fortsetzen könnte, sie bildet eine endliche Menge. Das ins Unendliche verweisende usw. kann auf zweierlei Art aufgefaßt werden: Zum einen ist es eine Regel, deren Anwendungsfälle nicht alle aufzuzählen sind, wie beispielsweise bei den geraden Zahlen oder den Stellen von π. Hierbei kann es keine Schreibweise geben, die Vollständigkeit beanspruchen könnte.216 Aber der letzte Satz des Zitierten läßt mich das usw. ad infinitum auch als ein Zeigen auffassen, daß seine möglichen Anwendungsfälle nicht von vornherein determiniert. Es verweist auf Beispiele, die nicht auf die im Unterricht gelernten reduzibel sind und der daraus gewonnenen Regel nicht automatisch subsumierbar sind. Unter Umständen führt das sogar dazu, eine neue Regel anzunehmen oder erst zu bilden.217 215 216

217

PU 208. Die geraden Zahlen nennt Peter Hacker als Beispiel. (in: Rules, Grammar and Necessity, Vol. 2 des Kommentars, Oxford 1985, paperback 1997, p. 193) Sein Beispiel für die erste Art des usw. halte ich für unglücklich: Ein Alphabet ist zwar eine begrenzte Menge, doch läßt die sich nicht ausgehend von den ersten Buchstaben vervollständigen. Es handelt sich nicht um Regelfolgen, sondern um das auswendige Memorieren einer kontingenten, festgelegten Anzahl von diskreten Elementen. Wahrscheinlich hat er es aus Vorlesungen 1930-35, S. 110: „a, b, c, und so weiter. Hier stehen „…“ bzw. „und so weiter“ für den Rest des Alphabets: eine bestimmte Anzahl von Buchstaben. Dies ist etwas anderes als 1/3 = 0,33 … usw. Hier gibt es keine bestimmte Menge von Zahlen hinter dem Komma, und selbst für ein höheres Wesen könnte es sie nicht geben. Diese beiden Beispiele haben verschiedene Grammatiken und Regeln. 0,33 … ist kein Notbehelf, sondern es hat eine exakte Grammatik.“ Kant verhandelt in seiner Kritik der Urteilskraft den Unterschied zwischen der ‚bestimmenden‘ und der ‚reflektierenden‘ Urteilskraft. Erstere subsumiert ein Besonderes unter ein gegebenes Gesetz, letztere sucht zu einem gegebenen Besonderen ein passendes Gesetz. Vgl. Vorrede IV S. XXVIf. der 3. Auflage 1799 / S. 15f. Hamburg 1990.

IV.2. Zugabe: Wittgensteins Philosophieren als Aspektwechselprovokation

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Der Unterricht führt dazu, daß man auf Fälle aufmerksam wird, die alles Gelernte herausfordern, weil eine problemlose Reihung nicht gelingt. Gewisse Vergleiche, in die Sprache // unseren Ausdruck // aufgenommen, erzeugen in uns geistigen Schwindel.218

Die erste Auffassung des usw. mag vielleicht bei Zahlenmengen funktionieren, ebenso wie das unendliche usw. als Reihung von anderen Identischen (lat.: alter) verstanden. Das regelgefährdende usw. hingegen scheint auf Sprache zuzutreffen, denn hier läßt sich keine Regel formulieren, die über die Beispiele hinausgeht und sie kontrolliert. „Aber reicht denn nicht das Verständnis weiter als alle Beispiele?“ – Ein sehr merkwürdiger Ausdruck, und ganz natürlich! Aber ist das alles? Gibt es nicht eine noch tiefere Erklärung; oder muß nicht doch das Verständnis der Erklärung tiefer sein? – Ja, habe ich denn selbst ein tieferes Verständnis? Habe ich mehr, als ich in der Erklärung gebe? – Woher aber dann das Gefühl, ich hätte mehr? Ist es, wie wenn ich das nicht Begrenzte als Länge deute, die über jede Länge hinausreicht?219

Wenn eine Regel nur in ihren Beispielen einen Ausdruck findet, ist dieser nicht stabil und definitiv, sondern Änderungen durch neue Beispiele ausgesetzt. Vor allem die Diskussion von ‚sehen‘ hatte lauter Fälle versammelt, die nicht durch einen Paradefall illustriert werden können, sondern beständige Reformulierungen und komplexere Strukturen erforderlich machen. Die Art des Umgangs mit Beispielen hat eine antissentialistische Stoßrichtung und methodische Konsequenzen.220 Anstelle der Regulierbarkeit tritt dann die Physiognomie, mit deren Züge man vertraut sein muß, die man aber nie allgemein zu fassen bekommt. Wie kann man durch Denken die Wahrheit lernen? Wie man ein Gesicht besser sehen lernt, wenn man es zeichnet.221 218 219 220

221

Zitiert aus den Manuskripten (MS 129, 48) bei Hacker, p. 198. PU 209. Vgl. Z 295, 439, 444. Regine Munz Religion als Beispiel. Sprache und Methode bei Wittgenstein in theologischer Perspektive, Düsseldorf/Bonn 1997. Regine Munz diagnostiziert in den Texten der Übergangszeit (30er Jahre) vermehrt Beispiele religiöser Phänomene und gibt diesen eine Schlüsselfunktion für die Wandlung von Wittgensteins Vorgehen: An religiöser Sprache lasse sich das Funktionieren von Sprache überhaupt aufzeigen. Gleichzeitig und andererseits werde durch Wittgenstein ein antiessentialistischer Umgang mit Religion und eine Art deskriptiver Theologie vorgeführt. Z 255.

260

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Ein derartiges Aufzeigen von Fällen und deren undurchsichtiges Arrangement ist ein indiskutables Procedere, denn es verweigert eine Argumentation und suggeriert eine ‚methodische Bekehrung‘ ohne dafür ein stimmiges Plädoyer parat zu haben. Stattdessen verwendet Wittgenstein die visuelle Metaphorik der Aspektwahrnehmung und unterschiedliche Faktoren für deren Tauglichkeit, so z. B. den pragmatischen: (…) Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.) (…)222

Auch den Überredungsfaktor gesteht er explizit: In gewissem Sinn mache ich Propaganda für einen Stil des Denkens im Unterschied zu einem anderen. Dieser andere Stil stößt mich ehrlich ab. (…) Wieviel von dem, was wir tun, besteht darin, den Stil des Denkens zu ändern und wieviel von dem, was ich tue, besteht darin, den Stil des Denkens zu ändern, und wieviel tue ich, um andere davon zu überzeugen, ihren Denkstil zu ändern. (Vieles von dem, was wir tun, ist eine Frage der Änderung des Denkstils.)223

Daß die Propaganda für den neuen Denkstil der Dynamik einer Glaubensänderung folgt, läßt sich mit den dominanten optischen Metaphern, die wie in ÜG die Rolle der architektonischen übernehmen, verfolgen. Schon im Tractatus war es darum gegangen, „richtiges Sehen“224 zu lehren – auch um den Preis, dazu den Tractatus als Instrument, das sich selbst erübrigt, zu nutzen. Das Anliegen der Philosophischen Untersuchungen charakterisiert Wittgenstein als Bildwechsel, denn ‚Übersicht‘ ist nichts anderes als ein anderes philosophisches (Welt)bild: Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘. Daher die Wichtigkeit des Findens und Erfindens von Zwischengliedern. Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Ist dies eine ‚Weltanschauung‘?)225

222 223 224

225

PU 108. V+G S. 44f. T 6.54 „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ PU 122. Interessanterweise findet sich genau diese Stelle auch in den „Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in VÜE S. 37, allerdings ohne „Erfinden“.

IV.2. Zugabe: Wittgensteins Philosophieren als Aspektwechselprovokation

261

Wir ändern nun den Aspekt, indem wir einem System des Ausdrucks andere an die Seite stellen. – So kann der Bann, in dem uns eine Analogie hält, gebrochen werden, wenn man ihr eine andere an die Seite stellt, die wir als gleichberechtigt anerkennen.226 (…) Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten: nämlich ihn mit dieser Bilderreihe zu vergleichen. Ich habe seine Anschauungsweise geändert. (Indische Mathematiker: „Sieh dies an!“).227 Die Philosophie verändert den Aspekt. Indem sie andere Analogien aufzeigt. Zwischenglieder einschiebt, etc.228 Welcher Art war dann aber mein Irrtum; der, welchen man so ausdrücken möchte: ich hätte geglaubt, das Bild zwinge mich nun zu einer bestimmten Verwendung? Wie konnte ich denn das glauben? Was habe ich da geglaubt? Gibt es denn ein Bild, oder etwas einem Bild Ähnliches, das uns zu einer bestimmten Anwendung zwingt, und war mein Irrtum also eine Verwechslung? – Denn wir könnten geneigt sein, uns auch so auszudrücken: wir seien höchstens unter einem psychologischen Zwang, aber unter keinem logischen. Und da scheint es ja völlig, als kennten wir zweierlei Fälle. Was tat denn mein Argument? Es machte darauf aufmerksam (erinnerte uns daran), daß wir unter Umständen bereit wären, auch einen andern Vorgang „Anwendung eines Würfelbildes“ zu nennen als nur den, an welchen wir ursprünglich gedacht hatten. Unser ‚Glaube das Bild zwinge uns zu einer bestimmten Anwendung‘, bestand also darin, daß uns nur der eine Fall und kein andrer einfiel. „Es gibt auch eine andere Lösung“, heißt: es gibt auch etwas Anderes, was ich bereit bin „Lösung“ zu nennen; worauf ich bereit bin, das und das Bild, die und die Analogie anzuwenden, etc. Und das Wesentliche ist nun, daß wir sehen, daß uns das Gleiche beim Hören des Wortes vorschweben, und seine Anwendung doch eine andere sein kann. Und hat es dann beide Male die gleiche Bedeutung? Ich glaube, das werden wir verneinen.229

Die Bilder, deren Verführungskraft in den PU dadurch gebrochen werden soll, daß andere aufgerufen werden, lassen sich nicht ganz

225

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229

Michael Polanyi nimmt explizit Bezug zur Gestaltwahrnehmung und vergleicht wissenschaftliche Innovation als Integrationsleistung die die Aufmerksamkeit neu ausrichtet. Auch hier wäre Spengler zu nennen, der Weltanschauungen im Sinne kultureller Prägungen auffaßt. So sollte PU 122 dem TS 220 §99 zufolge weitergehen. Ich habe dies bei Lange gefunden (S. 127 a. a. O.), der aus Arrington/Glock Wittgenstein‘s Philosophical Investigations, London/New York 1991 G. P. Bakers Aufsatz S. 44 zitiert. Wittgenstein hält es sogar in der Mathematik für angebracht, durch Umlenken der Aufmerksamkeit auf die Verwendung der Begriffe, zu Lösungen zu kommen. Z 463. PU 144. Interessanterweise findet sich dieser Abschnitt genauso in Z 461, nur als Anrede: „Ich wollte dies Bild vor deine Augen stellen“ usw. Peter Hacker (a. a. O., p. 277) zufolge sollte PU 144 so weitergehen, vgl. Manuscript 157 (b), 14. PU 140.

262

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

abschaffen. Obschon dies nicht das Ausmaß eines Weltbilds erreicht und keine lebensformprägende Dimension annimmt, ist die Funktionsweise die gleiche. Allein der penetrante, fünfmalige Gebrauch von ‚glauben‘ im letzten Zitat weist darauf hin, daß zwischen Regel und Anwendung sowie zwischen unterschiedlichen Praktiken ein Spielraum bestehen muß, aber kein logischer Zwang. Die Wechselwirkungen zwischen den Fällen manifestiert die Regel, die aber keinen eigenständige Leistung erbringt und erst recht nicht als Kontrollinstanz taugt. Ob etwas als Regel oder Muster gilt und inwiefern, ist eben eine Frage des Sehen-als.230 Sogar seinen offiziellen Beruf, den des Architekten, faßt Wittgenstein als Arbeit an der richtigen Sehweise auf: Die Arbeit an der Philosophie ist, wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)231

Auffallend ist bei einigen der Zitate, daß der explizite Vergleich seines Philosophierens mit einem Aspektwechsel sich vor allem in den Entwürfen und Manuskripten zu den Philosophischen Untersuchungen findet, aber nicht in die spätere, verbindlichere Fassung aufgenommen wird. Mir ist nicht klar, ob sich daraus schließen läßt, daß Wittgenstein von dieser Einschätzung abgerückt ist. Oder vielleicht wollte er zunächst sein Kapitel über Aspekte richtig klar haben, um danach noch einmal auf diesen Vergleich zurückzukommen, um ihn zu präzisieren?

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit Wenn das, in dessen Besitz ich durch das Wagen kommen soll, gewiß ist, dann wage ich nicht, dann tausche ich. AUN II, 132 / SV VII, 368 The anxiety in teaching, in serious communication, is that I myself require education. And for grownups this is not natural growth, but change. Conversion is a turning of our natural reactions; so it is symbolized as rebirth. Stanley Cavell232

230 231 232

PU 74. VB 472. „The Normal and the Natural“, in: The Claim of Reason, Oxford 1979, p. 125.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

263

IV.3.1. Weltbild G. E. Moore hat versucht, common sense-Auffassungen skeptizistischen Einwänden gegenüber zu immunisieren und sie als evident sicheres Wissen aufzufassen. 1949 nahm Wittgenstein die Auseinandersetzung Norman Malcolms mit Moore zur Kenntnis und ließ sich zu eigenen Überlegungen anregen. Bis zu seinem Lebensende 1951 schrieb er Bemerkungen dazu, die 1969 unter dem Titel Über Gewißheit publiziert wurden.233 Während Moore eine Sammlung umstandslos wahrer Sätze erstellt, die zwar nicht beweisbar sind, aber wegen ihrer Evidenz als zweifelsfrei gewußte Grundlage taugen sollen, rückt Wittgenstein davon ab, Wissen für Gewißheit zuständig zu machen. Statt dessen versucht er zu zeigen, wann und wie etwas als sicher gilt, so daß es unangebracht ist, nach Gründen zu fragen und Zweifel zu erheben. Gewißheit ist für ihn nicht Resultat intellektueller Operationen, die durch widerspruchsfreie Argumentation oder Evidenz Unbezweifelbares haben finden lassen, sondern in alltäglichen Praktiken implizite Selbstverständlichkeiten.234 Durch Erziehung235 gewöhnt man sich Handlungen an, die präreflexiv bestimmte Sicherheiten als fraglos anerkannt involvieren. Sie werden gelebt ohne theoretisiert werden zu müssen, obschon das in vielen Fällen möglich wäre.

233

234

235

Vgl. G. E. Moore: A Defense of Common Sense (1925) und Proof of an External World (1939) in: Philosophical Papers, London 1959. Das Kapitel über Aspekte in PU II, xi enthält im letzten Drittel auch hierzu Abschnitte, S. 564ff., ab Abschnitt 200. Meist wird Moore von Interpreten nur als Auslöser für Wittgenstein angesehen, so daß Über Gewißheit für sich besprochen werden kann. Ausnahme: Avrum Stroll Moore and Wittgenstein on Certainty, New York/Oxford 1994. Hier wird ÜG als „running commentary“ (p. 10) der oben genannten Essays aufgefaßt, so daß Moore und Wittgenstein gleichviel Aufmerksamkeit bekommen. In meinem Teil „Sagen und Zeigen“ war deutlich geworden, daß es schon in den PU viele Stellen gibt, in denen ein starkes Plädoyer für das Offensichtliche und Selbstverständliche gegeben wird. Vgl. PU 129 „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“ Auch hier wird der Faden aus den PU aufgegriffen, vgl. die Abschnitte über Lernen und „Abrichtung“ 5f., 208, etc.

264

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Das Kind, möchte ich sagen, lernt so und so reagieren; und wenn es das tut, so weiß es damit noch nichts. Das Wissen beginnt erst auf einer späteren Stufe.236 Das Kind lernt nicht, daß es Bücher gibt, daß es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessel (zu) setzen, etc. […]237

In wenigen Abschnitten gerät dies sogar in die Nähe eines epistemologischen Naturalismus, bei dem menschliche Handlungsweisen zunächst von Tierverhalten ununterschieden sind, insofern als es keine Rechtfertigung oder Erwägung möglicher Begründungen gibt: Das heißt doch, ich will sie [die Sicherheit] als ewas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches.238 Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen wir uns auch nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen.239

Deutlich wird, daß Wissen, Erkenntnis und Handlungsweisen (incl. Sprache) durch „instinktives“ Verhalten und anerzogene Gepflogenheiten vorstrukturiert werden und dem ihr Entstehen verdanken, Derivate davon sind. Eine unmittelbare Reaktion läßt Sicherheit erkennen, ohne deshalb ein Wissen darüber vorauszusetzen; „‚Wissen‘ und

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238

239

ÜG 538. Vgl. U+W, S. 115: „Der Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels ist eine Reaktion; erst auf dieser können die komplizierten Formen wachsen. […]“. Vgl. Michael Polanyi, der von „implizitem Wissen“ (tacit knowledge) redet, dem erst nachträglich Aussagen abzugewinnen sei. Nicht nur Lernprozesse, sondern auch wissenschaftliche Innovation läßt sich Polanyi zufolge nicht auf Regelkonformität und explizierbare Vorgehensweisen reduzieren. Vgl. „The Logic of Tacit Inference“, in Philosophy, Vol. XLI No. 155, January 1966, pp. 1-18; Personal Knowledge, London and Chicago 1958. ÜG 476. Vgl. Z 416 „[…] Es ist bei ihrem Sprachspiel von Sicherheit oder Unsicherheit noch nicht die Rede. Erinnere dich: sie lernen ja etwas tun.“ ÜG 359. Vgl. 287 und 505: „Es ist immer von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß.“ ÜG 475. Vgl. Z 391 „ Ich will eigentlich sagen, daß die gedanklichen Skrupel im Instinkt anfangen (ihre Wurzel haben). Oder auch so: das Sprachspiel hat seinen Ursprung nicht in der Überlegung. Die Überlegung ist Teil des Sprachspiels. Und der Begriff ist daher im Sprachspiel zu Hause.“ Auch BPP I 151. Immer wieder bringt Wittgenstein Tierbeispiele. Vgl. PU 415 „Was wir liefern, sind eigentlich Bemerkungen zur Naturgeschichte des Menschen; aber nicht kuriose Beiträge, sondern Feststellungen, an denen niemand gezweifelt hat, und die dem Bemerktwerden nur entgehen, weil sie ständig vor unseren Augen sind.“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

265

‚Sicherheit‘ gehören zu verschiedenen Kategorien […]“240. Spezifisch menschliche Praxis wäre demnach Resultat kultureller Überformung der mit den Tieren gemeinsamen ‚natürlichen‘ Grundausstattung und Sprache wäre Verhalten241, das Begründbarkeit und Wahrheitskriterien hervorbringt. Davon ausgehend kommen etliche Wittgenstein-Interpreten dazu, von einem „praxeological foundationalism“242 zu sprechen. Damit wollen sie sagen, daß erlernte und gemeinschaftlich ausgeübte Praktiken die Rolle des Wissens als Basis für alle Arten des Fürwahrhaltens übernehmen, was sich mit Wittgenstein auch decken läßt: […] Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise.243

Demnach wäre bei Wittgenstein die traditionelle Fundierungslogik in Kraft, wie sie das epistemologische Modell in Analogie zur Architektur erfordert. Diese Lesart bietet sich insofern an, als Wittgenstein viele Male in der entsprechenden Metaphorik bleibt und von Fundament, Grund und Begründungen spricht. Aber er unterminiert dies, indem er die Hausmetapher nicht nur aufgreift, sondern ad absurdum führt, weil die Schwerkraft nicht mehr wirkt: Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.244

Zusätzlich gibt er mit dem architektonischen unvereinbare Konkurrenzmodelle an, beispielsweise eines, das durch Fliehkraft statt Schwerkraft zusammenhält: Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.245

240 241

242

243 244 245

ÜG 308, vgl. 510f. Z 545 „[…] unser Sprachspiel ist ein Ausbau des primitiven Benehmens. (Denn unser Sprachspiel ist Benehmen.) (Instinkt.)“ So beispielsweise im Titel von Rudolf Hallers Aufsatz in Inquiry 31, Oslo 1988, pp. 335-346. Auch Stroll (a. a. O.) nennt eines seiner Kapitel „Wittgenstein‘s Foundationalism“ (pp. 138-159), wobei Praktiken im Gegensatz zu Propositionen die Funktion der sicheren Basis zukommt. Anders als beim traditionellen Modell ist dann nicht Wissen die Grundlage für anderes, dadurch begründetes Wissen. ÜG 110. Vgl. 204 und 402. ÜG 248. ÜG 152.

266

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Hier wird es schwierig, eine einseitige Abhängigkeit wie bei der Fundierung festzustellen. Vielmehr denkt Wittgenstein auch ein systemisches Modell, das durch interne Relationen Kohärenz gewinnt: Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.246

Die Reziprozität der Kräfteverhältnisse läßt sich nicht in linearer Konsequenz organisieren, es gibt multidirektionale Wirkungsweisen. Elementare Propositionen werden allenfalls durch das Ganze zu Gewißheiten, aber nicht für es konstitutive Grundlagen. Es gibt keine evidenten ‚letzten Gegebenheiten‘ als Grundbausteine aller Erkenntnis, seien es Sinnesdaten, Axiome oder Elementarsätze. Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen.247 Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente.248

Die Rede vom ‚Lebenselement‘, deutlicher noch, wenn der Ausdruck „Wissenskörper“249 fällt, bringt eine organische Ganzheit ins Spiel.250 Ein solches, zusammenhängendes Ensemble aller Praktiken, incl. der sprachlichen, und der darin impliziten Selbstverständlichkeiten und Überzeugungen als umfassendes und integrierendes Ganzes nennt Wittgenstein ‚Weltbild‘: 246 247 248

249 250

ÜG 142. Vgl. 410. ÜG 225. Vgl. 274. ÜG 105. Vgl. Polanyis Beispiele aus der Biologie mit der Stoßrichtung, Lebendiges nicht regelmechanisch erschöpfend behandeln zu können. A. a. O., pp. 12f. ÜG 288. Richard Shusterman sieht eine solche auch in der Dekonstruktion unabdingbar am Werke: Obgleich jede Vorstellung einer strukturell verbürgten Einheit bekämpft, unterlaufen, abgestritten werde, bedürfe es einer solchen systemisch-relationalen Ganzheit in Hegelscher Tradition: Wenn etwas nur kraft seiner Differenzen zu anderem zu dem werde, was es ist, ist seine Identität wesentlich eine Funktion dessen, was es nicht ist und bedarf der Berücksichtigung aller Differenzen und Interrelationen im Gefüge. Genau darin sieht Shusterman ein logisches organisches Prinzip wie bei Hegel und Nietzsche. Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1996. Bes. S. 34, 44f. und 58. „Überhaupt nicht offensichtlich ist jedoch, ob die Dekonstruktion in eben ihrer Kritik der Analyse nicht selbst in den Stricken der Metaphysik gefangen ist, die sie eigentlich zu vermeiden sucht. Denn der Begriff der organischen Einheit, der ihrer Kritik zugrundeliegt, verrät offensichtlich eine machtvolle und hartnäckige metaphysische Geste ganz eigener Art.“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

267

Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.251 Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben.252

Als ‚Hintergrund‘, wie es hier heißt, ist das Weltbild kein Grund, keine Theorie, sondern Ermöglichungskontext dafür. Das Selbstverständliche ist nicht verstanden und nicht verstehbar, weil durch es Verstehbarkeit konstituiert wird. Wittgenstein nennt das Weltbild auch eine Mythologie, also eine Sammlung narrativer Strukturen, die eine Ereignisfolge nicht logisch geordnet, sondern durch den Ablauf in der Zeit zustandekommen lassen. Wie die im Exkurs des vorigen Kapitels besprochene Genesiserzählung ist ein Mythos hilfreich, um mit der Realität zurechtzukommen, sich zu orientieren, ohne den Anspruch einer korrekten Abbildung oder lückenloser Erklärbarkeit zu erheben.253 Der durch ihn gestiftete Zusammenhang prägt Überzeugungen und Lebensweisen und organisiert sie zu einer Struktur, ohne deren Wahrheit zu befragen, denn die ergibt sich aus dem, was der Mythos zu sagen hat.254 Zudem bieten Mythen einen ästhetischen 251 252

253

254

ÜG 94. Vgl. 93, 95, 162 , 167, 233, 262. ÜG 559. Vgl. 560 „Und der Begriff des Wissens ist mit dem des Sprachspiels verkuppelt.“ Wenn ein Mythos das tut, gibt er sich als Erklärung aus und verkennt seine spezifische Qualität. Ein Beispiel dafür ist aus der Sicht Wittgensteins Freuds Psychoanalyse: „Er [Freud] hat keine wissenschaftliche Erklärung eines Mythos gegeben. Er hat vielmehr einen neuen Mythos geschaffen. Der Reiz einer Behauptung, zum Beispiel, daß alle Angst eine Wiederholung der Angst des Geburtstraumas ist, ist genau der Reiz der Mythologie. […] Die Analyse richtet wahrscheinlich Schaden an. Denn obwohl man in ihrem Verlauf einige Dinge über sich selbst entdeckt, muß man einen sehr starken, scharfen und beharrlichen, kritischen Verstand haben, um die Mythologie, die angeboten und aufgezwungen wird, zu erkennen und zu durchschauen. Man ist verleitet zu sagen „Ja, natürlich, so muß es sein.“ Eine mächtige Mythologie.“ S. 73 f. in: Ludwig Wittgenstein Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben (V+G) Düsseldorf/Bonn 1996 (2. Auflage; engl.: Oxford 1966ff.) Hierbei handelt es sich um Mitschriften von Studenten. Natürlich böte sich auch an, Wittgensteins Überlegungen zu Mythos und Weltbild vor dem Hintergrund von anderen Arbeiten zum Thema zu diskutieren. Beispielsweise mit Blumenbergs Gedanken, daß der Mythos davon befreie, letzte Wahrheit zu wollen, anders als Theorie und Dogma, die Wahrheit suchen, die frei mache. Vgl. Joachim Schulte „World-picture and Mythology“, in Inquiry 31, Oslo 1988, pp. 323-334.

268

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Überschuß, der nicht eindeutige Antworten bietet, sondern zu einer Vielfalt von Auslegungen einlädt. Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln lernen.255 Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.256 Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.257

Besonders der Flußbettvergleich läßt das Weltbild zwischen Stabilität und Bewegung changieren. Man ist versucht, Neologismen zu bilden, beispielsweise ein Verbum ‚weltbilden‘ oder ‚Weltbildung‘, die sowohl das ästhetische Moment des Mythos als auch die Dynamik des Flusses assoziieren lassen258. Trotz stetiger Veränderungen ist die Identität nicht gefährdet, gleichwohl sie weder auf Grundelemente reduziert werden kann noch homogen und unveränderlich zu verstehen ist. Es stellt sich die Frage, wie solche allmählichen Veränderungen auch der stabilen Elemente zustandekommen. Möglicherweise aufschlußreich ist der Hinweis auf das in den PU diskutierte Problem Regelfolgen259: Wenn eine Regel ihre Anwendung nicht mitregelt, bleibt ein Spielraum für die Subsumtion von konkreten Anwendungsfällen unter eine Regel. Fall-zu-Fall-Variationen müssen als regelkonform gelten können, weil die irreduzible Qualität von Einzelfällen nicht erschöpfend durch eine Regel explizierbar sind, sie läßt sich nicht sagen.260 255 256 257 258

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ÜG 95. ÜG 97. ÜG 99. Vgl. auch 256. Nahe liegt Richard Rortys Gegenüberstellung von bildenden (edifying) und systematischen Philosophen in Erinnerung zu rufen. Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt 1981 (Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979) Kapitel VIII. Vgl. PU 188-242; Diesen Vorschlag habe ich gefunden bei Michael Kober Gewißheit als Norm. Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit, Berlin/New York 1993, Kapitel 4.1.2. „Zum historischen Wandel von Praktiken und Weltbildern“, S. 346f. Saul Kripke Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, Frankfurt 1987. S. 29 „Ihre Anwendung ist, wie es scheint, ein ungerechtfertigter Sprung ins Ungewisse. Ich wende die Regel blind an.“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

269

Um eine Praxis festzulegen, genügen nicht Regeln, sondern man braucht auch Beispiele. Unsre Regeln lassen Hintertüren offen, und die Praxis muß für sich selbst sprechen.261

Wenn nun eine konkrete Anwendung von Regeln nicht durch Regeln zu sichern ist, so daß Beispiele nötig sind, um sie zu exemplifizieren, können die ‚Fälle‘, die der Regel gehorchen, auf deren Geltungsbereich zurückwirken und das Ensemble von Praktiken allmählich verschieben und verändern. Es ist verführerisch, was in Über Gewißheit mit Weltbild gemeint ist, mit der ‚Lebensform‘ aus den Philosophischen Untersuchungen zu parallelisieren262. Beide erfüllen umfassende und integrierende Schlüsselfunktionen, kommen aber selten vor. Beide werden nicht definiert, sondern mit Beispielen und Metaphern ohne ausdrückliche Klärung verwendet (was natürlich intensive Beachtung durch die Sekundärliteratur nach sich zieht.) Sie teilen etliche Gemeinsamkeiten als Leitmetaphern und den Status eines umfassenden, durch Abrichtung erworbenen und danach für selbstverständlich genommenen Hintergrunds. Gleichwohl meine ich bzgl. der ‚Lebensform‘ eine stärkere Betonung des lebenspraktischen Aspekts vorzufinden, eine provokativ unspektakuläre Aufmerksamkeit auf reibungslosem Funktionieren in alltäglichen Zusammenhängen. Im Schlußkapitel meines Teil II, „Sagen und Zeigen“, hatte ich darauf hingewiesen, daß viele Abschnitte mit der lakonischen Formel „So handeln wir eben.“ schließen, was auf die konkreten, komplexen und weder explizierbaren noch stabilisierbaren Gegebenheiten verweist. Die Lebensform bietet dem Sprachspiel die für seine Verstehbarkeit unabdingbare Einbettung in nicht-verbale Zusammenhänge, insbesondere durch die irreduzible Verbindung zu Praktiken. Obschon es naheliegt, wird die Lebensform allerdings nicht als Ganzheit thematisiert.

261

262

ÜG 139. Vgl. PU 84 über die Unmöglichkeit durchgängiger Reglementierung sowie Sicherung von Anwendungen durch Regeln. Vgl. PU 201 über die Unmöglichkeit, korrekte Regelanwendung durch eine Kette von Deutungen garantieren zu können. Deutungen und Regeln führen in einen Regreß, der nie in Praxis mündet, der nie konkrete Fälle zu fassen erlaubt. Vgl. PU 71, wo klar wird, daß Unexaktheit und Unschärfe einen Begriff verstehbar machen und funktionieren lassen. Z 293 skizziert den Fall, daß einer die Regel vorgibt und ein anderer eine Anwendung macht, mit der der erste nicht gerechnet hat, die aber konform ist. Was Wittgenstein selbst vorsichtig macht: ÜG 358 „Ich möchte nun diese Sicherheit nicht als etwas der Vorschnellheit oder Oberflächlichkeit Verwandtes ansehen, sondern als (eine) Lebensform. (Das ist sehr schlecht ausgedrückt und wohl auch schlecht gedacht.)“

270

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

In Über Gewißheit hingegen kommt durch den Ausgang von traditionellen epistemologischen Fragen und die bereits im Tractatus bemühte und in den PU gefährlich gewordene Bild-Metapher eine wie auch immer vorsichtig und dynamisch verstandene Ganzheit zur Sprache.263 Anders als die radikale Pluralisierung der Sprachspiele, deren Lokalisierung vor und in dem integrierenden Kontext Lebensform kaum verhandelt wird und unterbelichtet bleibt, erfolgt hier der Versuch, zumindest andeutungsweise ein Ganzes wieder ins Spiel zu bringen. Allerdings wird es mit einer Fülle von Metaphern und Vergleichen umgeben, die nicht redundant sind, weil sie aus zu unterschiedlichen Bereichen entnommen sind und extrem disparate Konnotationen und Assoziationen einbringen. So ist die durch das „Bild“ suggerierte Ganzheit keine geschlossene, unveränderliche Totalität. Zwar lassen sich die Koordinaten eines Weltbilds ermitteln, doch geht damit keine rigide Struktur oder feste Grenze einher. Das in den PU in Mißkredit geratene Bild, das zu nicht einlösbaren Ansprüchen und übersteigerten Philosophemen verleitet264, wird in Über Gewißheit zwar rehabilitiert, aber nicht im Sinne eines Abbilds, dessen Adäquatheit sich prüfen ließe265. Unpassenderweise wird in der (besonders englischsprachigen) Sekundärliteratur häufig die Metapher eines Rahmens („framework“) bemüht, um die Funktion des Weltbilds klarzumachen. Danach liegt nahe, ein Modell zu konzipieren, das sichere äußere Bedingungen hat und dazu relative, weil dadurch bedingte interne Strukturen besitzt. Nur auf der ‚inneren‘ Ebene kämen Veränderungen und Unsicherheiten zustande. Diese Lesart ist aus zwei Gründen problematisch: Erstens spricht Wittgenstein nie von einem Rahmen. Ich habe unglückliche Übersetzungen, so wie Elizabeth Anscombes, in Verdacht, diese irreführende Metapher in die Diskussion gebracht zu haben: Wenn 263

264 265

Von Wright macht diese in den Philosophischen Untersuchungen preisgegebene Ganzheit so stark, daß er sie im Sinne des Tractatus auffaßt: „Dies [Leitmotiv, das Wittgensteins gesamtes Werk durchzieht] ist die Auseinandersetzung mit der Frage der Grenzen der Welt (und der Grenzen dessen, was man sagen und denken kann.) Im Vorwort des Tractatus heißt es: „Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt).“ Hätte er jemals ein Vorwort zu seinen letzten Schriften, die unter dem Titel Über Gewißheit veröffentlicht wurden, verfaßt, hätte er ziemlich genau dasselbe sagen können.“ Wittgenstein, Frankfurt 1986, S. 181. Vgl. PU 115, 139, 144, 171, u. ö. Dazu mehr im nächsten Unterkapitel „Glaube und seine Physiognomie“.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

271

beispielsweise das in Abschnitt 83 genannte „Bezugssystem“ als „frame of reference“ wiedergegeben wird, wird der dynamische und offene Charakter des in Frage stehenden Systems verkannt. Zweitens wäre das eine Variante einer foundationalist- Interpretation, die wenn nicht zweierlei Stufen, so doch zweierlei Status möglichen Fürwahrhaltens, deren einer durch den anderen bedingt wäre, also von ihm abhinge, veranschlagt. Obschon Wittgenstein festere von weniger festen, sichere von befragbaren Komponenten unterscheidet266, handelt es sich nicht um rigoros geltende und klar identifizierbare Differenzierungen, dauerhafte Fundierungsverhältnisse und konsistente Strukturen. Die Sicherheiten sind nie absolut und garantiert dauerhaft. Nicht nur viele Fluß- und Flüssigkeitsmetaphern koinzidieren mit der Rede vom ‚Weltbild‘ und zeichnen es aus, es gibt auch Rollentausche zwischen seinen Elementen. Das heißt z. B., es ist nicht ausgeschlossen, daß eine Hypothese den Status des weltbildtragenden Fundaments gewinnt. Kann ein Behauptungssatz, der als Hypothese funktionieren könnte, nicht auch als ein Grundsatz des Forschens und Handelns gebraucht werden? D. h. kann er nicht einfach dem Zweifel entzogen sein, wenn auch nicht einer ausgesprochenen Regel gemäß? Er wird dann einfach als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, nie in Frage gezogen, ja vielleicht nie ausgesprochen.267 Es ist nichts gewöhnlicher, als daß die Bedeutung eines Ausdrucks in der Weise schwankt, daß ein Phänomen bald als Symptom, bald als Kriterium eines Sachverhalts angesehen wird. Und meistens wird dann in einem solchen Fall der Wechsel der Bedeutung nicht gemerkt. […] 268

Wichtig ist, daß die Rolle der Hypothese wie die des Kriteriums durch das Ganze aller involvierten Praktiken verbürgt ist und nicht umgekehrt. Auch dann, wenn die Sicherheiten sich als Propositionen formulieren lassen, sind diese nicht an sich tragfähig und garantiert gewiß. Was die von Moore gesammelten und als evident sicher befundenen Sätze betrifft, so ist ihnen nach Wittgenstein nicht Zweifelsfreiheit gemeinsam, sondern die Rolle des festeren Bestandteils. Es handelt sich um Selbstverständlichkeiten, die feststehen und den Status der „unwankenden Grundlage seiner Sprachspiele“269 besitzen, wes266 267 268 269

ÜG 300: „Nicht alle Korrekturen unsrer Ansichten stehen auf der gleichen Stufe.“ ÜG 87. Z 438. Vgl. PU 79. ÜG 403. Vgl. 136f., 93, 462, 414, 155.

272

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

wegen ihre Negation weitestgehende Konsequenzen für alles andere hätte, das Weltbild würde ein anderes werden. Deskriptive Sätze – das galt schon im Tractatus – müssen bipolar sein, d. h. offen für wahr – falsch; sie müssen kontingenten Verhältnissen entsprechen. Bei Moores Sätzen hingegen liegt es fern, sie nach ihrer Wahrheit zu befragen und Zweifel zu erheben, doch es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Vor allem aber müssen auch solche Angelpunkte ihren historischen und kulturellen Wandel zugeben. Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig werden.270 Wenn aber Einer sagte „Also ist auch die Logik eine Erfahrungswissenschaft“, so hätte er unrecht. Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann.271

Verfolgt man Wittgensteins Abschnitte, in denen von „Erfahrungssätzen“ (empirical propositions) die Rede ist, so zeigt sich deren Rolle flexibel: Zunächst einmal formulieren sie, was in einem Weltbild feststeht und Gewißheiten etabliert, doch kann es vorkommen, daß sie deshalb nicht der Maßstab für die Prüfung anderer Sätze sind, sondern selbst geprüft werden. Wittgenstein führt allerhand Sätze auf, die eigentlich unbefragbar sind, aber er weist darauf hin, daß sich immer ein Kontext finden läßt, in denen auch solche Gewißheiten problematisch sind.272

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271 272

ÜG 96. Vgl. ÜG 63 „Stellen wir uns die Tatsachen anders vor als sie sind, so verlieren gewisse Sprachspiele an Wichtigkeit, andere werden wichtig. Und so ändert sich, und zwar allmählich, der Gebrauch des Vokabulars der Sprache.“ Vgl. Z 352 „Will ich also sagen, gewisse Tatsachen seien gewissen Begriffsbildungen günstig; oder ungünstig? Es ist Erfahrungstatsache, daß Menschen ihre Begriffe ändern, wechseln, wenn sie neue Tatsachen kennenlernen; wenn dadurch, was ihnen früher wichtig war, unwichtig wird und umgekehrt. (Man findet z. B.: was früher als Artunterschied galt, sei eigentlich nur ein Gradunterschied.)“ ÜG 98. Vgl. ÜG 83, 98, 109, 136, 308f., 319, 321, 401. 213 „Unsere ‚Erfahrungssätze‘ bilden nicht eine homogene Masse.“ Thomas Morawetz (Wittgenstein & Knowledge, 1978, Chapter 2 „On Empirical Propositios, Logic, Rules and Meaning“, pp. 35-62) zeichnet das nach und sieht sich veranlaßt, „methodological propositions“ als verläßlichere, absolut stabile Sicherheiten von den manchmal irritierbaren „empirical propositions“ zu unterscheiden. Z. B. „Es gibt Gegenstände“ sei in keinem Kontext zu bezweifeln. Morawetz nennt solche Sätze „pseudoempirisch“, weil sie für empirische gehalten werden aber an-

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

273

Anders als die stetigen Veränderungen im (historischen) Verlauf sind solche Rollentausche radikaler und – besonders wenn sie unbemerkt vonstatten gehen – tückischer. Man sieht einem Satz nicht an, ob er weltbildintern fundiert und deshalb diskutabel ist, oder ob er weltbildtragend und daher Maßstäbe setzend ist.

IV.3.2. Glaube und seine Physiognomie Das, was bei einem Weltbild selbstverständlichen Status hat und Wissen erst ermöglicht, muß einer anderen Logik folgen als der der Begründbarkeit, häufig spricht Wittgenstein von Glauben. Dieser Glaube läßt sich nicht an Formulierungen festmachen, denn er wird selten explizit geäußert. Statt dessen zeigt er sich darin, wie gehandelt wird, welches Weltbild die Lebensform prägt. Das Kind lernt eine Menge Dinge glauben. D. h. es lernt z. B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.273 […] er hat, was man einen unerschütterlichen Glauben nennen könnte. Dieser zeigt sich nicht durch Vernunftschlüsse oder durch Anruf von gewöhnlichen Glaubensgründen, sondern vielmehr dadurch, daß er sein ganzes Leben regelt. […]274

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274

ders als diese nie geprüft werden. Entsprechendes gilt für Stroll (a. a. O.), der absoute Gewißheit außerhalb von Sprachspielen lokalisiert und – anders als Morawetz – als vorreflexiv, nicht-propositional, also tractarisch gesprochen als ScheinSätze auffaßt. Demzufolge liege die Existenz der Welt auf dem „deepest level of certitude“ (p. 180) und sei Ausgangspunkt für alle Praktiken und Gewißheiten. Beider Anliegen ist verständlich und von Skepsis getrieben, aber sie konstruieren über Wittgenstein hinausgehend ein Ideal absolut zweifelsfreier Gewißheit. Genau besehen läßt sich mit Wittgenstein auch für methodologische Sätze keine unveränderliche Rolle festlegen: ÜG 318 „‚Die Frage kommt gar nicht auf.‘ Ihre Antwort würde eine Methode charakterisieren. Es ist aber keine scharfe Grenze zwischen methodologischen Sätzen und Sätzen innerhalb einer Methode.“ ÜG 144. Vgl. 141: „Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.)“ ÜG 170: „[…] Ja, lernen beruht natürlich auf glauben. […]“ V+G S. 76f.

274

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Ohne (zwingend) religiöse Spezifik ist Glaube somit für Gewißheit zuständig, nicht Wissen275. Anders als dieses nämlich ist er nicht auf Gründe angewiesen, sondern verleiht ihnen Triftigkeit.276 Wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch.277 Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.278 Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.279

Die Zitate machen deutlich, daß Glaube der Fundierungslogik gehorchen kann, aber nicht muß. Das mag den Anschein erwecken, Glaube sei die schwächere Alternative zum Wissen, weil ein geringerer Grad von Sicherheit beansprucht werden kann, aber keine Wahrheit. Mangels guter Begründbarkeit baut man einen Vorbehalt, eine mögliche Revidierung des Fürwahrhaltens ein, wenn man sagt „Ich weiß es nicht, ich glaube es nur.“280 Wittgenstein berücksichtigt auch diesen Sprachgebrauch und fragt, ob skeptischen Einwänden damit zu begegnen wäre, daß man nie mehr Wissen behauptet. Wie, wenn es verboten wäre zu sagen „Ich weiß“ und erlaubt nur zu sagen „Ich glaube zu wissen?“.281 Das Seltsame ist, daß ich in so einem Falle immer sagen möchte (obwohl es falsch ist): „Ich weiß das – soweit man so etwas wissen kann.“ Das ist unrichtig, aber es steckt etwas Richtiges dahinter.282

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ÜG 291: „Wir wissen, daß die Erde rund ist. Wir haben uns endlich davon überzeugt, daß sie rund ist. Bei dieser Ansicht werden wir verharren, es sei denn, daß sich unsere ganze Naturanschauung ändert. „Wie weißt du das?“ – „Ich glaube es.““ Dallas M. High Language, Persons, and Belief. Studies in Wittgenstein‘s Philosophical Investigations and Religious Uses of Language, New York 1967. p. 140: „The concept „believing“ (also „Personal backing“, „agreement in judgements“, „civil accreditation“, and „accepting the given“ ) is indispensable to all forms of speaking and thinking about the world. By this I am suggesting that the act of „believing“ is on the same logical ground with those concepts which are the bedrock of the function of language.“ In V+G geht Wittgenstein so weit, es als Aberglaube und Selbstbetrug zu bezeichnen, wenn jemand meint, seinen Glauben begründen zu können; dabei werde die spezifische Qualität des Glaubens im Unterschied zum Wissen verkannt. S. 81f. ÜG 205. ÜG 253. ÜG 166. Vgl. 560: „Und der Begriff des Wissens ist mit dem des Sprachspiels verkuppelt.“ ÜG 483, 485, u. ö. ÜG 366. ÜG 623. Vgl. 626f.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

275

Was richtigerweise ‚dahintersteckt‘ ist, daß eine Wissensbehauptung nie den Anspruch absoluter Sicherheit vertreten kann. Wittgenstein weist auf eine mögliche Situation hin, bei der man sich fragt, ob man etwas sicher weiß, oder nur glaubt, nämlich bei einer Zeugenaussage vor Gericht283. Deswegen aber immer vorsichtige Formulierungen zu benutzen284 oder gar das Wort ‚wissen‘ zu vermeiden, ist aber falsch, erstens weil die Unterschiede zwischen Glauben und Wissen sich nicht in einem graduell abgestuften Sicherheitsanspruch erschöpfen und zweitens weil bei einem grundsätzlichen sprachlich markierten Vorbehalt einem Problem Rechnung getragen wird, daß man in den meisten Fällen nicht hat, wenn man sagt „Ich weiß …“. Denken wir uns aber Leute, die dieser Sachen nie ganz sicher wären, aber wohl sagten, es sei sehr wahrscheinlich so und so und lohne sich nicht, daran zu zweifeln. So einer würde also, wenn er in meiner Lage wäre, sagen: „Es ist höchst unwahrscheinlich, daß ich je auf dem Mond war“, etc. etc. Wie würde sich das Leben dieser Leute von unserem unterscheiden? […] Ist es nicht nur, daß sie über gewisse Dinge etwas mehr reden als die Anderen?285

Die Tatsache allerdings, daß sie andere Formulierungen benutzen und mögliche Zweifel stets mitartikulieren, läßt sie abweichen vom normalen Sprachgebrauch: Sie meiden eine etablierte Grammatik nicht deshalb, weil sie sie nicht kennen, sondern weil sie sie im Licht einer philosophischen Problematik interpretieren, die im Alltag keine Rolle spielt. Eine Unsicherheit bezüglich des eigenen Namens oder der Existenz eines Baumes, den man gerade sieht, würde beim „Irrenarzt“286 zu einer behandlungsbedürftigen Diagnose führen. Wer verweigert, dem eigenen normalen ‚sich auskennen‘ zu trauen und keinen Irrtum, keine Lüge riskieren will, nimmt Wörter auf eine Weise genau, die die Spezifik der Alltagssprache verkennt: Es gehört zur Grammatik von Wissen, daß es revidierbar ist aufgrund einer Prüfung durch andere. Wittgenstein betont, daß eine Wissensbehauptung die Sicherheit des Sprechers zu erkennen gibt, aber deshalb keinen Anspruch auf Wahrheit erfüllt. Dieser läßt sich aber überprüfen, denn Wissen ist von anderen nachvollziehbar, anhand von Gründen zu stützen und läßt sich objektiv feststellen.

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ÜG 485. In ÜG 86, 116, 176 gibt Wittgenstein Alternativen für Moore, damit dessen Wissensbehauptungen ihren mißverständlichen Status verlieren. ÜG 338, vgl. 339. ÜG 355, vgl. 357 und 425.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Daß kein Irrtum möglich war, muß erwiesen werden. Die Versicherung „Ich weiß es“ genügt nicht. Denn sie ist doch nur die Versicherung, daß ich mich (da) nicht irren kann, und daß ich mich darin nicht irre, muß objektiv feststellbar sein.287 „Ich weiß …“ sagt man, wenn man bereit ist, zwingende Gründe zu geben. „Ich weiß“ bezieht sich auf die Möglichkeit des Dartuns der Wahrheit. […]288

Wenn eine Wissensbehauptung für Wahrheit verbürgen könnte, könnte man nicht sinnvoll sagen „Ich glaubte zu wissen, daß …“289. Wenn man einen Wissensanspruch erhebt, und dieser stellt sich als unberechtigt heraus, so hat es sich nicht um Wissen gehandelt. Gleichsam rückwirkend erlischt Gewußtes, wenn es sich als falsch erweist und wird zu „nur Geglaubtem“.290 Damit tritt der Sprecher der Wissensbehauptung erst dann als Origo der Äußerung in die Diskussion, wenn alles gegen die Wahrheit seiner Behauptung spricht. Anders beim Glauben: Wenn ich in der Vergangenheit etwas fälschlicherweise geglaubt habe, so ändert sich daran nichts. Mehr noch: Ich kann an meinem Glauben festhalten, auch wenn alle Gründe dagegen sprechen (quia absurdum). Also nicht nur die Grundlosigkeit läßt sich durch Glauben und nicht Wissen bewältigen, sondern auch die Verweigerung der Anerkennung von Gründen läßt sich mit Glauben vereinbaren und stützt diesen sogar. Wer sagte, er sei durch Angaben über Vergangenes nicht davon zu überzeugen, daß irgend etwas in Zukunft geschehen werde, – den würde ich nicht verstehen. Man könnte ihn fragen: was willst du denn hören? Was für Angaben nennst du Gründe dafür, das zu glauben? Was nennst du denn ‚überzeugen‘? Welche Art des Überzeugens erwartest du dir? – Wenn das keine Gründe sind, was sind denn Gründe? – Wenn du sagst, das seien keine Gründe, so mußt du doch angeben können, was der Fall sein müßte, damit wir mit Recht sagen könnten es seien Gründe für unsre Annahme vorhanden. Denn wohlgemerkt: Gründe sind hier nicht Sätze, aus denen das Geglaubte logisch folgt. Aber nicht, als ob man sagen könnte: fürs Glauben genügt eben weniger als für das Wissen. – Denn hier handelt es sich nicht um eine Annäherung an das logische Folgen.291

Damit bekommt Wissen einen objektiven, öffentlich verhandelbaren und zwingenden Charakter, während Glaube subjektiv ist, mehr Spielraum hat und sich auf keine Gründe und Beweise einlassen muß. Eine Glaubensäußerung hat Bekenntnischarakter und, wie ein Versprechen, starke performative Züge. Eher expressiv als deskriptiv ist 287 288 289 290 291

ÜG 15. Vgl. 175, 243, 415, 484, 487, 555, 574. ÜG 243. ÜG 21. ÜG 42. PU 481. Vgl. 482: Der Maßstab eines guten Grundes ist selbst nicht begründet. 483: „Ein guter Grund ist einer, der so aussieht.“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

277

sie aufschlußreich über die Gewißheiten des Sprechers, ohne eine Möglichkeit der Prüfung durch andere wirksam werden zu lassen. […] Wenn Moore die bekämpft, die sagen, so etwas könne man eigentlich nicht wissen, so kann er es nicht tun, indem er versichert: Er wisse das und das. Denn das braucht man ihm nicht zu glauben. Hätten seine Gegner behauptet, man könne das und das nicht glauben, so hätte er ihnen antworten können: „Ich glaube es.“292 Wenn Einer etwas glaubt, so muß man nicht immer die Frage beantworten können, ‚warum er es glaubt‘; weiß er aber etwas, so muß die Frage „Wie weiß er es?“ beantwortet werden können.293 Liegt es denn in meiner Macht, was ich glaube? Oder was ich unerschütterlich glaube? Ich glaube, daß dort ein Sessel steht. Kann ich mich nicht irren? Aber kann ich glauben, daß ich mich irre? Ja, kann ich es überhaupt in Betracht ziehen? – Und könnte ich nicht auch an meinem Glauben festhalten, was immer ich später erfahre?! Aber ist nun mein Glaube begründet?294

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß es im Tractatus keinen einzigen Satz gibt, der aus der ersten Person gesprochen wird, weil die Sprecherposition für Aussagen über Tatsachen nicht relevant sein darf.295 In seinem Vortrag über Ethik wechselt Wittgenstein am Ende in die erste Person und mißt dem große Bedeutung bei: Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein. Durch das, was sie sagt, wird unser Wissen in keinem Sinne vermehrt. Doch es ist ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein, das ich für mein Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde.296 Ich habe in meinem Vortrag über Ethik am Schluß in der ersten Person gesprochen: Ich glaube, daß das etwas ganz Wesentliches ist. Hier läßt sich nichts mehr konstatieren; ich kann nur als Persönlichkeit hervortreten und in der ersten Person sprechen.297

Die Irreduzibilität der ersten Person bei Kierkegaards Pochen auf „subjektiver Wahrheit“ und die Unabdingbarkeit von persönlicher „Aneignung“ war in meinem ersten Teil ausführlich zur Sprache gekommen. In den Zetteln geht Wittgenstein in Kierkegaards Sinn am 292

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ÜG 520. Vgl. 245: „Zu wem sagt Einer, er wisse etwas? Zu sich selbst oder zu einem Andern? Wenn er‘s zu sich selbst sagt, wie unterscheidet es sich von der Feststellung, er sei gewiß, es verhalte sich so? Es gibt keine subjektive Sicherheit, daß ich etwas weiß. Subjektiv ist die Gewißheit, aber nicht das Wissen. […]“ ÜG 550. Vgl. 175: „ „Ich weiß es“, sage ich dem Andern; und hier gibt es eine Rechtfertigung. Aber für meinen Glauben gibt es keine.“ ÜG 173. Vgl. BPP 1, 107. T 5.632 „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.“ VüE S. 19. WWK S. 117.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

weitesten mit der religiösen Brisanz dieser Problematik und schreibt einen lakonischen Kommentar, um deren Status unmißverständlich zu klären: „Gott kannst du nicht mit einem Andern reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist.“ – Das ist eine grammatische Bemerkung.298

Wittgenstein wäre nicht Wittgenstein, wenn eine trennschafte Gegenüberstellung von Glauben und Wissen deckungsgleich mit den Dichotomien subjektiv-objektiv, expressiv-deskriptiv, performativ-konstativ, 1. Person-3. Person etc. operabel wäre und ein für alle Male Klarheit brächte. In etlichen Abschnitten diskutiert Wittgenstein Glauben deshalb als ‚psychologisches‘ Phänomen, das nicht mitgeteilt wird, sondern sich ausdrückt wie ein Erlebnis oder eine Empfindung und wie diese sich an Verkörperungen ablesen läßt. Was jemand glaubt, geht demnach nicht vornehmlich daraus hervor, was er sagt, sondern daraus, wie er sich verhält, was er tut.299 Obschon in Weltbildfragen, wie sie in Über Gewißheit zur Sprache kommen, die Gegenüberstellung hilfreich ist, ist auf den Gebrauch der Wörter ‚glauben‘ und ‚wissen‘ kein Verlaß. Es gibt Fälle, in denen sie synonym sind und eine Glaubensäußerung sowenig Sinn macht, wie eine Wissensäußerung.300 Oder sie wirken unterschiedslos als Indikator einer Behauptung und sind überflüssig: Der Satz „Ich glaube, daß es regnet“, ist eine Behauptung wie „Es regnet“ oder „Ich weiß, daß es regnet.“ In allen Fällen bezieht sich der Satz auf das Wetter. Nicht aber, wenn ‚glauben‘ in der dritten Person oder in der Vergangenheit verwendet wird: „Er glaubte, daß es regnet.“ bezieht sich auf das Fürwahrhalten

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Z 717. Es würde sich auch bei dieser Problematik anbieten, andere Autoren zu konsultieren: Beispielsweise Michel de Certeau und Gianni Vattimo kommen nicht umhin, bei Glaubensfragen die erste Person unabdingbar zu finden: Ersterer untersucht mystische Texte, z. B. von Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz. „Mystic Speech“, in Heterologies, Manchester University Press 1986, pp. 80-100. Vattimo schildert seine Wiederentdeckung seiner religiösen Tradition, ertappt sich dabei, dies nicht unpersönlich diskutieren zu können und sieht einen Bezug zu seiner Philosophie der „schwachen Ontologie“ und „Ethik der Gewaltlosigkeit“. Davon ausgehend versucht er zu erarbeiten, wie postmetaphysisches Denken Strenge entwickeln kann, ohne universale Ansprüche zu erheben. Credere di Credere, deutsch: Glauben-Philosophieren, Stuttgart 1997, besonders S. 7, 34f., 42f. 75, 83, 108. Z 469-472, BPP I, 470-478 u. ö. ÜG 486: „„Weißt du, oder glaubst du nur, daß du L. W. heißt?“ Ist das eine sinnvolle Frage? Weißt du, oder glaubst du nur, daß, was du hier hinschreibst, deutsche Worte sind? Glaubst du nur, daß „glauben“ diese Bedeutung hat? Welche Bedeutung?“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

279

eines Menschen ohne über das Wetter eine Behauptung aufzustellen. Aber auch jede andere Formulierung bei jeder anderen Äußerung ist nicht eine sprecherindifferente Proposition, die kontextindifferent eine Tatsache wahr oder falsch abbildet. „Das schmeckt gut“, mag felsenfest stimmen und nicht gelogen sein, aber verbürgt genausowenig für objektive Richtigkeit wie „Ich weiß, ich kann das alles alleine.“ „Ich scheine zu wissen“, macht genauso wenig Sinn wie „Ich scheine zu glauben“. „Ich glaube 12 ✕ 12=144“, bekennt kaum etwas und läßt sich öffentlich und nach objektiven Kriterien kontrollieren. Wenn man an jemanden glaubt, ist Vertrauen, Anerkennung und Zutrauen im Spiel, es ist ein qualitativ anderer Glaube als der Glaube, daß etwas der Fall ist. Asymmetrien wie diese lassen das sogenannte „Mooresche Paradox“ aufkommen, das Thema des x. Kapitels im zweiten Teil der PU ist: Der Satz „Es regnet, aber ich glaube es nicht“, ist Wittgenstein zufolge kein Widerspruch, sondern Unsinn: Hier ist Irrtum grammatisch ausgeschlossen, unabhängig davon, wie das Wetter ist, was bei Wissen anders wäre. Ein logisches Problem ergibt sich nur dann, wenn die spezifischen Grammatiken von ‚glauben‘ nicht differenziert werden: Es wird in strenger Analogie unter Mißachtung der unterschiedlichen Rollen aufgefaßt und nach einem unflexiblen Schema konstruiert: Eine Proposition kann gewußt, geglaubt, verworfen etc. werden und das von unterschiedlichen Personen zu unterschiedlichen Zeiten, doch ändert sie dadurch nicht ihren ‚Gehalt‘. Oder Glaube wird als Name für einen mentalen Zustand genommen, ohne in Betracht zu ziehen, daß er in der ersten Person Präsens dasselbe leistet, wie eine Behauptung, d. h. auf die Wirklichkeit zielt, ohne eine Brechung durch die Art des Fürwahrhaltens und den Sprecher mitzumelden.301 Man kann den eigenen Sinnen mißtrauen, aber nicht dem eigenen Glauben. Gäbe es ein Verbum mit der Bedeutung ‚fälschlich glauben‘, so hätte das keine sinnvolle erste Person im Indikativ des Präsens.302

Demzufolge entsteht Moore‘s Paradox deshalb, weil ein Satz, der in der dritten Person sowie in der Vergangenheit Sinn macht, in der ersten Person Präsens konstruiert wird, obschon das dem Sprachgebrauch zuwiderläuft. So entsteht eine typisch philosophische Verwirrung, indem durch Assimilation verschiedener Rollen unter eine von

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PU II x 517 „Verschiedene Begriffe berühren sich hier und laufen ein Stück Wegs miteinander. Man muß eben nicht glauben, daß alle Linien Kreise seien.“ PU II x 514.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

ihnen dazu führt, einem unsinnigen Satz den Status einer ernstzunehmenden logischen Problematik zu unterstellen.303 Wie in den Philosophischen Untersuchungen ist auf der Ebene der Worte ohne Berücksichtigung der Umstände und Handlungen des Sprechers keine Klarheit zu gewinnen, vor allem, wenn philosophisch aufgeladene Vokabeln wie ‚wissen‘ kontextfremde Angelegenheiten in den alltäglichen Sprachgebrauch bringen.304 Man muß zeigen, daß auch wenn er nie die Worte gebraucht „Ich weiß, …“, sein Gebaren das zeigt, worauf es uns ankommt.305

Daß gerade ‚glauben‘ ein Verb ist, an dem die Schemata nicht applizierbar sind, an dem sich die Zuordnung von Behauptung und Bekundung von Fall zu Fall unterschiedlich ausmacht, wobei es meist Mischformen gibt, die zwar performativ sind, aber deshalb nicht aller deskriptiven Momente entbehren306, so daß der propositionale Gehalt nicht von der Rolle zu trennen ist, wird spätestens dann für Kierkegaard relevant, wenn religiöser Glaube das Thema ist. Besonders fatal aber ist es, zu ignorieren, daß die Akzentuierung bei Aussagen mit ‚glauben‘ wechseln kann und nur schwer rein performativ oder rein konstativ, expressiv oder assertorisch aufzufassen ist. Wer glaubt, macht nicht nur über sein Fürwahrhalten eine Aussage, sondern auch über die Welt, er macht nicht nur eine Aussage, sondern auch eine Be303

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Kent Linville macht eine Art theoretischer Aspektblindheit dafür verantwortlich, daß die Einseitigkeit, mit der Glauben schon bei Descartes und bis hin zu Moore‘s Paradox aufgefaßt wird, zu einer philosophischen Fragestellung werden kann. „Wittgenstein on „Moore‘s Paradox““, in Wittgenstein. Sources and Perspectives, ed.: C. G. Luckhardt, Thoemmes Press 1979 und 1996, pp. 286-302. p. 301: „Undeniably, beholding M [= der Satz „Es regnet aber ich glaube es nicht.“] in philosophical reflection we are presented pictures which incline one to claim that although M is dead in speech and communication, it lives in thought.“ ÜG 406 „Das, worauf ich abziele, liegt auch in dem Unterschied zwischen der beiläufigen Feststellung „Ich weiß, daß das …“, wie sie im gewöhnlichen Leben gebraucht wird, und dieser Äußerung, wenn ein Philosoph sie macht.“ Vgl. Z 405ff. ÜG 427. Vgl 428ff. und PU 340. Joachim Schulte widmet sich dem Kapitel x der PU II in seinem Aufsatz „Es regnet, aber ich glaube es nicht“ und rekonstruiert Wittgensteins Argumentation bzgl. Moores Paradox aufgrund seiner Überzeugung, daß es eine gibt und Wittgenstein nicht nur ‚zeigt‘. Er versucht, die subjektiven Elemente herauszukürzen, was ebensowenig gelingt, wie die objektiven zu eliminieren. Wittgenstein über die Seele, Hg. von Savigny/Scholz, Frankfurt 1995, S. 194-212. High (a. a. O., p. 151) „‚Believe‘ in its various uses is, perhaps, an ‚amphibious‘ verb, sharing both assertive intensity of ‚state‘ and the performative intensity of ‚promises‘“.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

281

kundung. Aus einem Gebet lassen sich die Charakteristika Gottes gewinnen und die Frage stellen, was es für ein Gott sein muß, zu dem ein Mensch in dieser Weise reden kann. Andererseits ist mit dem Wechsel von der Anrede zur Aussage eine Schlußfolgerung problematisch: Beispielsweise redet Jesus Gott als Vater an und lehrt seine Jünger, es ebenfalls zu tun. Daraus läßt sich aber nicht zwingend folgern, daß Gott männlich ist. Gottes Wirklichkeit ist nicht in einer Wesensbestimmung faßbar, sondern sie stellt sich ein, wenn der Gläubige eine Relation zu ihm hat. Dennoch heißt das nicht, daß sie Resultat eines performativen Aktes ist, da die Reaktionen der Gläubigen hinter ihr zurückbleiben müssen. Wittgenstein kann kein Fideismus unterstellt werden, weil die in religiöser Rede implizite Sachhaltigkeit keine nur sprachspielinterne Relevanz hat, sondern in andere Zusammenhänge überführt werden kann und beispielsweise rational diskutiert werden kann. Doch kann kein Begründungszusammenhang durch Plausibilität allein veranlassen, daß jemand sich zu einer Religion bekennt. Wittgensteins Beispiel von der Sprache als alter Stadt mit unterschiedlich alten und strukturierten Vierteln307 macht deutlich, daß Sprachspiele nicht hermetisch sind, obschon sie sich nicht restlos aneinander angleichen lassen. Ansonsten würde sich eine Theologie auf der Basis Wittgensteinscher Sprachaufassung erübrigen.308 Andererseits darf eine solche Theologie nicht verkennen, daß sie nur eine Seite des Religiösen zu fassen bekommt, weil sie den gelebten Glauben deskriptiv und argumentativ zum Thema macht. Aufschlußreich hierfür ist, wie Glaube und Bilder sich zueinander verhalten, insofern als bereits oben deutlich wurde, daß das Weltbild ein Bild ist, das kein Abbild ist. Das wird besonders deutlich, wenn Wittgenstein Glaube und Repräsentation diskutiert: 307

308

„ […] Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ PU 18. Klaus von Stosch Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz. Untersuchungen zur Verortung fundamentaler Theologie nach Wittgenstein, Regensburg 2001. Hier wird Wittgensteins Rede von „Theologie als Grammatik“ beim Wort genommen und ausbuchstabiert. Ein zentrales Problem ist im Rahmen einer katholisch-theologischen Wittgensteinlektüre, universale Gültigkeit von Glaubenssätzen angesichts der Pluralität von Sprachspielen zu denken. Die Unbedingheit des Liebesgebotes beispielsweise lasse sich nicht an ihrer nur unvollkommenen Realisierung im Leben der Gläubigen ablesen, damit komme eine sprachspielpraxeologische Fundierung nicht in Frage.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

„Im Grunde beschreibe ich mit den Worten ‚Ich glaube …‘ den eigenen Geisteszustand, – aber diese Beschreibung ist hier indirekt eine Behauptung des geglaubten Tatbestands selbst.“ – Wie ich, unter Umständen, eine Photographie beschreibe, um das zu beschreiben, wovon sie eine Aufnahme ist. Aber dann muß ich noch sagen können, daß die Photographie eine gute Aufnahme ist. Also auch: „Ich glaube, daß es regnet, und mein Glaube ist verläßlich, also verlasse ich mich auf ihn.“ – Dann wäre mein Glaube eine Art Sinneseindruck. Das Wort ‚Gott‘ gehört zu den frühesten, die gelernt werden – Bilder und Katechismen usw. Aber nicht mit den gleichen Folgen wie bei Bildern von Tanten. Man hat mir das, [was die Bilder abbilden] nicht gezeigt.309

Wie beim Zeigen ist im Glauben der Sprecher involviert und Origo irreduzibel. Entsprechendes gilt für die Wirklichkeit, in welcher, mit welcher und über welche etwas geglaubt wird. Da sich beide Komponenten nicht voneinander trennen lassen, kommt das Problem, Referenz zu sichern, gar nicht erst auf, denn das Weltbild bildet die Welt nicht ab, sondern organisiert das, was mich umgibt, zu einem Ganzen, zu meiner Welt. Deshalb handelt es sich um ein Bild, das nicht gedeutet wird, sondern Verwendung findet, wirksam ist und sich in der Art und Weise zu leben zeigt. Auch hier gilt: Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es. […]310

Die lebenspraktische Einbindung setzt gleichzeitig der Virtuosität Grenzen: Nicht jedes Bild ist mit den anderen Sprachspielen eines Menschen vereinbar und in seiner Welt zu beheimaten. Kriterien wie Nützlichkeit, Plausibilität, Pragmatik und Kompatibilität mit dem kulturellen Umfeld sind mitentscheidend für die Akzeptanz und Lebbarkeit eines Bildes. Entsprechendes gilt für den Umgang mit Bildern, die zur religiösen Praxis gehören und Riten prägen, ohne begründbar oder stringent zu sein. Wittgenstein bringt als Beispiel Michelangelos Erschaffung des Adam in der Sixtinischen Kapelle: Wenn wir es sähen, würden wir bestimmt nicht glauben, es mit der Gottheit zu tun zu haben. Das Bild muß in einer ganz anderen Art gebraucht werden, wenn wir den Mann in dem merkwürdigen Laken ‚Gott‘ nennen sollen und so weiter. Du könntest dir vorstellen, daß die Religion mit Hilfe dieser Bilder gelehrt würde. „Natürlich, wir können uns nur mit Hilfe der Bilder ausdrücken.“ Das ist sehr seltsam … Ich könnte Moore die Bilder einer tropischen Pflanze zeigen. Es gibt eine Technik des Vergleichs zwischen Bild und Pflanze. Wenn ich ihm das Bild von Michelangelo zeigte und sagte: „Ich kann dir natürlich nicht den richtigen Sachverhalt zeigen, nur dieses Bild“ … die Absurdität

309 310

V+G S. 83. PU 432.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

283

besteht darin, daß ich ihm nie die Technik, dieses Bild zu gebrauchen beigebracht habe.311

Josef Simon weist darauf hin, daß sich nur ein einfaches fremdes Sprachspiel und Bild beschreiben und vorstellen läßt, nicht aber die Komplexität der eigenen Lebensform mit ihrem Weltbild. So entsteht auch bezüglich des Eigenen eine Fremdheitserfahrung, da es sich nicht darin erschöpft, was sich beschreiben läßt. Auch das Beschreiben selbst ist ein Spiel, das, während es gespielt wird, nicht beschreibbar ist. So leistet die korrekte Beschreibung einer Praxis nie den Schritt, der vonnöten ist, um an ihr teilzunehmen.312 Da religiöse Bilder, wie das Weltbild, eine andere Rolle spielen als Abbildungen, kann man ihnen nicht widersprechen, sie nicht übersetzen. Man könnte überrascht sein, daß denen, die an die Wiederauferstehung glauben, nicht die gegenüber stehen, die sagen: „Nun vielleicht.“ Hier spielt der Glaube offenbar vielmehr diese Rolle: Angenommen, wir sagen, daß ein bestimmtes Bild immerfort die Rolle spielt, mich zu ermahnen, oder ich denke immerfort an das Bild. Hier würde ein sehr großer Unterschied zwischen den Leuten bestehen, für die sich das Bild immer im Vordergrund befindet, und denen, die es überhaupt nicht nutzen.313 Nimm an, jemand ist krank und sagt: „Dies ist eine Strafe“, und ich sage: „Wenn ich krank bin, denke ich ganz und gar nicht an Strafe.“ Wenn du sagst: „Glaubst du das Gegenteil?“ – du kannst es das Gegenteil glauben nennen, aber es ist völlig verschieden von dem, was wir normalerweise das Gegenteil glauben nennen würden. Ich denke anders, in einer anderen Weise. Ich sage mir andere Dinge, ich habe andere Bilder.314

Obschon sich für Glauben kein Grund ausmachen lassen muß, kann ein Bild am Grunde dieser Überzeugung liegen315 und so starke le311

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V+G 87f. Zur Technik: „Man kniet & schaut nach oben & faltet die Hände & spricht, & sagt man spricht mit Gott, man sagt Gott sieht alles was ich tue; man sagt Gott spricht zu mir in meinem Herzen; man spricht von den Augen, der Hand, dem Mund Gottes, aber nicht von andern Teilen des Körpers: Lerne daraus die Grammatik des Wortes „Gott“! […]“ Denkbewegungen S. 90. „Lebensformen. Übergänge und Abbrüche“, in Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Hg. W. Lütterfels und A. Roser, Frankfurt 1999, S. 190-212, besonders S. 202 und 206. Simon meint ebenfalls, daß der Wechsel einer Lebensform sich wie ein Aspektwechsel auffassen lasse. V+G 79. V+G 77. PU II, 215 / S. 568 „„Ich kann nicht wissen, was in ihm vorgeht“ ist vor allem ein Bild. Es ist der überzeugende Ausdruck einer Überzeugung. Es gibt nicht die Gründe der Überzeugung an. Sie liegen nicht auf der Hand.“

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

benspraktische Auswirkungen haben, daß es Selbstverständlichkeiten etabliert, die fraglos gelten. Ein in uns festes Bild kann man freilich dem Aberglauben vergleichen, aber doch auch sagen, daß man immer auf irgend einen festen Grund kommen muß, sei er nun ein Bild, oder nicht, und also sei ein Bild am Grunde alles Denkens zu respektieren und nicht als ein Aberglaube zu behandeln.316

Hier wird deutlich, daß der Status von Bildern in den Religionen dem des Weltbilds entspricht, so daß religiöser Glaube von ‚epistemologischem‘ nicht grundsätzlich unterschieden ist. Der Atheist verzichtet nicht auf Bilder, sondern hat andere und kann deshalb dem Religiösen nicht abgewöhnen, welche relevant zu machen. Hier wie da sind die Bilder keine Derivate, die sich an der Wirklichkeit messen lassen oder mit einem abgebildeten Substrat vergleichen lassen, hier wie da prägen sie die Lebensweise und sind für Verstehbarkeit und sich auskennen von eminent wichtiger Bedeutung. Da sie ausschlaggebend dafür sind, wie sich das Leben dessen, der sie annimmt, gestaltet, sorgen sie mit dafür, wie dessen Welt ist. Sie sind weder beliebige Interpretationen eines Gegebenen, das identisch bleibt, auch wenn es anders interpretiert wird, noch durch Adäquatheitsforderung an die Wirklichkeit zu binden. Wenn Wittgenstein Gewißheit und Glaube wie das ‚stetige Sehen‘ im Kapitel über Aspekte als Fragen der ‚Einstellung‘ thematisiert, gibt er weder der ‚subjektiven‘ Seite noch der ‚objektiven‘ den Primat. Als ich mich auf diesen Stuhl setzte, glaubte ich natürlich, er werde mich tragen. Ich dachte gar nicht, daß er zusammenbrechen könnte. Aber: „Trotz allem, was er tat, hielt ich an dem Glauben fest, …“ Hier wird gedacht, und etwa immer wieder eine bestimmte Einstellung erkämpft.317 Ich will sagen: Es ist nicht so, daß der Mensch in gewissen Punkten mit vollkommener Sicherheit die Wahrheit weiß. Sondern die vollkommene Sicherheit bezieht sich nur auf seine Einstellung.318

Aus den auf diesen Seiten skizzierten Funktionsweisen von Bildern und Glauben wird deutlich, daß nicht die Verwendung bestimmter Formeln und die Teilnahme an Ritualen dafür aufschlußreich sein können, ob jemand religiös ist oder nicht. Betrachtet man eine religiöse Zeremonie isoliert von dem sonstigen Leben der Teilnehmer, so kann man Heuchelei sowenig erkennen wie eine Lüge an den verwendeten 316 317 318

VB S. 567f. (1949). PU 575. ÜG 404.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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Worten. Die Spielanalogie erweist sich als zu eng, da sie an einen begrenzten Geltungsbereich und ein nur darin applizierbares Reglement denken läßt. Wie D. Z. Phillips gegen Fideismus-Lesarten herausstellt, handelt es sich um Bilder, die sich insgesamt in der Lebensweise als prägend wirksam zeigen. Religiosität spielt in jedem Sprachspiel, in jeder Verhaltensweise des Gläubigen eine Rolle, auch wenn das im Einzelnen kriteriell nicht festzumachen ist und die Formel „Ich glaube“ tausenderlei bedeuten kann. „Various events and activities in human life can be celebrated in ritual or brought before God under the aspect of prayer.“319 Um den weltanschaulichen Aspekt eines Menschen herauszufinden würde es demnach nicht ausreichen, was er auf eine entsprechende Frage hin zur Antwort gibt. Vielmehr müßte man in seinem Alltagsleben unter Einbezug aller wichtigen Handlungen, Sprachspiele und Rituale aufpassen, welches Fürwahrhalten sich im Ganzen zeigt. Es dürfte unmöglich sein, in sämtlichen Aspekten des Lebens konsequent zu heucheln. Wenn Wittgenstein von einer „Physiognomie des Glaubens“ analog von einem Gesicht spricht, wird deutlich, daß Religiosität alle anderen Sprachspiele affiziert und die Lebensform im Ganzen prägt, obschon sie nicht kriteriell dingfest zu machen ist. Eine Physiognomie erlaubt das komplexe Ineinander unterschiedlicher Züge und verschiedener Spiele. Nun könnte man aber so sagen: Das Gesicht eines Menschen ist durchaus nicht immer dieselbe Gestalt. Es ändert sich von Minute zu Minute; manchmal wenig, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Dennoch ist es möglich, das Bild seiner Physiognomie zu zeichnen. Freilich, ein Bild, auf dem das Gesicht lächelt, zeigt nicht, wie es weinend aussieht. Aber es läßt darauf immerhin Schlüsse zu. – Und so wäre es auch möglich, eine Art ungefähre Physignomie des Glaubens (z. B.) zu beschreiben.320

Wie auch die Pointe des Privatsprachengarguments erkennen läßt, ist Wittgenstein zuversichtlich, daß Gefühle, die Einstellung, der Glaube und das Denken kein verborgenes ‚Inneres‘ sind, dessen äußere Korrelate man in ihrer Zuverlässigkeit hinterfragen sollte. Vielmehr gibt es auch hier eine Ausdrucksqualität, bei der Zeichen und Bezeichnetes ineinsfallen und die den gängigen Leib-Seele-Dualismus unterminiert. 319

320

D. Z. Phillips Wittgenstein and Religion, London 1993. Besonders Chapter 5 „Religious Beliefs and Language Games“, p. 56-78; p. 87. Z 514. Vgl. Denkbewegungen S. 65f. „Sah die Photographien der Gesichter Corsischer Briganten & dachte: diese Gesichter sind zu hart, & meines zu weich als daß das Christentum darauf schreiben könnte. […]“

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Das Bewußtsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewußtsein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse Rührung, Dumpfheit, usf. Das Licht im Gesicht des Andern. Schaust du in dich, um den Grimm in seinem Gesicht zu erkennen? Er ist dort so deutlich wie in deiner eigenen Brust. […]321 „Das Bewußtsein ist so deutlich in seinem Gesicht und Benehmen, wie in mir selbst.“322

Wittgenstein hat zur „Physiognomie des Glaubens“ nicht mehr gesagt. Aber ich meine, sein Anliegen wird deutlich, es liest sich wie ein common sense Gegenvorschlag zu Kierkegaards dualistischem und unzuverlässig-dialektischen Modell radikal verborgener Innerlichkeit. In meinem Teil V werde ich darauf eingehen, daß Kierkegaard nicht umhin kann einzugestehen, daß sich Religiosität in dieser Weise zeigt – auch wenn fremde Gottesverhältnisse den Einzelnen nichts angehen und es gegen Heuchelei keine theoretisch sichere Handhabe gibt. IV.3.2.1. Zweifel und Glaube Ich lese die Abschnitte über Glauben bezüglich des Weltbilds so, daß Glaube der Wissen umfassende und es ermöglichende Modus ist, denn durch ihn wird Grundlosigkeit bewältigt und Begründungen werden möglich. Damit verliert Wissen die metaphysische Tragweite (oder Metaphysik ihre Allgemeingültigkeit), denn keine Spielart des Wissens ist universal und rein objektiv. Es ist, als ob das „Ich weiß“ keine metaphysische Betonung vertrüge.323 Der Satz „Ich weiß …“ drückt also hier die Bereitschaft aus, gewisse Dinge zu glauben.“324 Was ich weiß, das glaube ich.325

Wittgenstein geht aber deshalb nicht – wie Heidegger und Nietzsche – dazu über, ‚Metaphysik‘ wie ein Schimpfwort weiterzuverwenden und -betreiben. Vielmehr widmet er sie um, so daß sie unspektakulär aus

321 322 323 324 325

Z 220. Z 221. ÜG 482. ÜG 330. ÜG 177. Thomas Kuhn spricht auch von dem „Glauben an ein Paradigma“ (a. a. O., S. 90), auch von „Vertrauen“ (S. 38), der „Annahme“ (S. 116, 121) oder dem „Übertritt in ein anderes Paradigma“ (S. 33). Im Englischen heißt es oft „commitment“.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

287

der Grammatik hervorgeht und den Status der ‚logischen Form‘ aus dem Tractatus übernimmt. Wie alles Metaphysische ist die Harmonie zwischen Gedanken und Wirklichkeit in der Grammatik der Sprache aufzufinden.326 Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.327

An Denis Diderots lakonischem Artikel „Métaphysique“ im 21. Band der Encyclopédie hätte Wittgenstein sicher seine Freude gehabt: C‘est la science des raisons des choses. Tout a sa métaphysique & sa pratique: la pratique, sans la raison de la pratique, & la raison sans l‘exercice, ne forment qu‘une science imparfaite. Interrogez un peintre, un poète, un musicien, un géometre, & vous le forcesez à rendre compte de ses opérations, c‘est-à-dire à en venir à la métaphysique de son art. […]Il n‘y a guere que ceux qui n‘ont pas assez de pénétration qui en disent du mal.

Der mit der Umgewichtung des Wissens einhergehende ‚epistemologische‘ Glaube ist zwar nicht unbedingt ein religiöser, doch funktioniert er wie dieser328, so daß Wittgensteins religiöse Beispiele keine Sonderfälle sind. Wenn Einer sagte: „Die Erde hat nicht schon lange …“ – was würde er antasten? Weiß ich‘s? Müßte es ein sozusagen wissenschaftlicher Glaube sein? könnte es kein mystischer sein? Muß er damit unbedingt geschichtlichen Tatsachen widersprechen? Ja, selbst geographischen?329 Aber was Menschen vernünftig oder unvernünftig erscheint, ändert sich. Zu gewissen Zeiten scheint Menschen etwas vernünftig, was zu andern Zeiten unvernünftig schien. U. u. Aber gibt es hier nicht ein objektives Merkmal? Sehr gescheite und gebildete Leute glauben an die Schöpfungsgeschichte der Bibel, und andere halten sie für erwiesenermaßen falsch, und diese Gründe sind jenen bekannt.330

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Z 55. PU 371. Wenn Norman Malcolm meint, es läge eine Analogie in Wittgensteins Philosophieren und einem religiösen Standpunkt darin, daß Erklärungen ein Ende finden, will er gleichzeitig zu viel und zu wenig: Der in ÜG gemeinte Glaube ist wie religiöser insofern er mit Grundlosigkeit zurechtkommen hilft und Wissen aufkommen läßt. Hier bedarf es keiner Analogie. Andererseits können Erklärungen auf vielerlei Weise zuende kommen, ohne daß damit irgendeine inhaltliche Religiosität einherginge. Wittgenstein: A religious Point of View? London 1993; besonders der Essay von Peter Winch, pp. 95-135. ÜG 236. ÜG 336. Vgl. ÜG 239

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Wenn der Kaufmann jeden seiner Äpfel ohne Grund untersuchen wollte, um ja recht sicherzugehen, warum muß er (dann) nicht die Untersuchung untersuchen? Und kann man nun hier von Glauben reden (ich meine, im Sinne von religiösem Glauben, nicht von Vermutung)? Alle psychologischen Wörter führen hier nur von der Hauptsache ab.331

Wenn der hier gemeinte Glaube sich eher virtuos zu Gründen und Prüfungen verhält, ist er auch nicht durch Zweifel und Widerspruch erschütterbar und Letztbegründung erübrigt sich als Desiderat: Wenn etwas geschähe (wenn z. B. jemand mir etwas sagte), was dazu angetan wäre, mir Zweifel daran zu erwecken, so gäbe es gewiß auch etwas, was die Gründe solcher Zweifel selbst zweifelhaft erscheinen ließe, und ich könnte mich also dafür entscheiden, meinen alten Glauben beizubehalten.332 Wenn wir überhaupt auf den Glauben hin mit Sicherheit handeln, sollen wir uns dann wundern, daß wir an vielem nicht zweifeln können?333 Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben.334

Zweifel wird weltbild- und sprachspiel-intern, er ist angewiesen auf bezweifelbares ‚Substrat‘ und ist wie ein Fehler Korrelat des Wissens, also einer von mehreren Weltbildkomponenten.335 Wissen und Zweifel sind Gewißheit nachgeordnet und brauchen einen Ort im Sprachspiel, um sinnvoll zu sein. Denn wie kann das Kind an dem gleich zweifeln, was man ihm beibringt? Das könnte nur bedeuten, daß es gewisse Sprachspiele nicht erlernen könnte.336 […] Muß ich nicht irgendwo anfangen zu trauen? D. h. ich muß irgendwo mit dem Nichtzweifeln anfangen; und das ist nicht, sozusagen, vorschnell aber verzeihlich, sondern es gehört zum Urteilen.337

331 332 333 334

335

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ÜG 459. ÜG 516. ÜG 331. Vgl. 449: „Es muß uns etwas als Grundlage gelehrt werden.“ ÜG 160. Vgl. Z 410: „Man kann erst zweifeln, wenn man Gewisses gelernt hat; wie man sich erst verrechnen kann, wenn man rechnen gelernt hat. (…)“ Z 411-421. V+G S. 80, zum Jüngsten Gericht: „Wir sprechen nicht von Hypothesen oder von hoher Wahrscheinlichkeit. Auch nicht von Wissen. […] Es ist tausendmal von intelligenten Menschen gesagt worden, daß die Unbezweifelbarkeit in diesem Fall nicht ausreicht. Selbst wenn es genauso viele Beweise wie für Napoleon gäbe. Denn die Unbezweifelbarkeit würde nicht ausreichen, mein ganzes Leben zu ändern.“ ÜG 283. Vgl. 310f., 314ff. 329, 492. Lehrer gewöhnen Zweifel ab. ÜG 150. Vgl. 600: „Was für einen Grund habe ich, Lehrbüchern der Experimentalphysik zu trauen? Ich habe keinen Grund, ihnen nicht zu trauen. Und ich traue ihnen. Ich weiß, wie solche Bücher entstehen – oder vielmehr, ich glaube es zu wissen […]“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

289

Der skeptische Zweifel ist genaugenommen keiner338, denn er mißachtet seine Spielregeln und operiert losgelöst von seinem Ermöglichungskontext, macht keinen Unterschied in der Praxis339. Gegen skeptischen Zweifel hatte Wittgenstein schon im Tractatus zu bedenken gegeben: Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.340

Ausgehend von Fällen der Lüge, Täuschung oder des Irrtums schließt der Skeptiker auf die theoretisch nie auszuschließende Möglichkeit falscher Sicherheiten. Dabei verkennt er seine eigenen Konstitutionsbedingungen und fällt sich selbst zum Opfer. […] Ein Zweifel, der an allem zweifelte, wäre kein Zweifel.341 Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.342

Der ortlose und maßlose Zweifel des Skeptikers ignoriert die konstitutive Eingebundenheit, den parasitären Charakter und das Angewiesensein jedes Zweifels auf Gewißheit. Damit ist er Wittgenstein zufolge weniger berechtigt, als das sich Verlassen auf Selbstverständlichkeiten solange man zurechtkommt. Was ich zeigen muß, ist, daß ein Zweifel nicht notwendig ist, auch wenn er möglich ist. Daß die Möglichkeit des Sprachspiels nicht davon abhängt, daß alles bezweifelt werde, was bezweifelt werden kann. […]343 Und daß mir etwas feststeht, hat seinen Grund nicht in meiner Dummheit oder Leichtgläubigkeit.344

„Let us not doubt in philosophy what we do not not doubt in our hearts“345 heißt es bei Peirce, an dem Wittgenstein auch in anderer

338

339 340 341 342 343 344 345

U+W S. 108: „[…]„Das Spiel kann nicht mit dem Zweifel anfangen“ heißt: wir würden es nicht ‚Zweifel‘ nennen, wenn das Spiel damit anfinge.“ S. 114 „Der Zweifel muß irgendein Gesicht haben.“ ÜG 524 T 6.51. ÜG 450. Vgl. 625: „[…] Ein Zweifel ohne Ende wäre nicht einmal ein Zweifel.“ ÜG 115. Vgl. 232 und 354. ÜG 392. ÜG 235. CP 5.265.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Hinsicht hätte Freude haben können. Es gibt ernstzunehmende pragmatische und lebenspraktische Einwände gegen Skeptizismus: D. h. Die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.346 D. h. es gehört zur Logik unsrer wissenschaftlichen Untersuchungen, daß Gewisses in der Tat nicht angezweifelt wird.347 […] Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.348

Die skeptische Position wird abgewehrt, ohne in ihrer epistemologischen Dringlichkeit Berücksichtigung zu finden. Der typische Einwand gegen den Skeptiker wird auch von Wittgenstein stark gemacht, nämlich daß die alltäglichen Handlungen des Skeptikers darauf schließen lassen, daß er nicht alles bezweifelt oder daß sein Zweifel keine lebenspraktischen Konsequenzen erlaubt. Damit muß der Skeptiker seinen Zweifel existentiell bewältigt haben oder ignorieren, um ihn intellektuell formulieren zu können. Die faktische Geltung von Überzeugungen als allem Zweifel enthoben und als notwendiger Umstand für jedes Handeln und Erkennen hat der Befürchtung, daß es kein zweifelsresistent begründbares Wissen gibt, nichts entgegenzusetzen. Wenn Wittgenstein Sicherheit von Wissen löst, bindet er sie an eine bestimmte Funktion im Ganzen349, ohne damit über die Realität eine Aussage zu machen. Die Unabdingbarkeit von Gewißheiten taugt nicht als erkenntnistheoretischer Legitimationsgrund und die Anerkennung von Fraglosigkeiten ist keine metaphysische Letztbegründung. Wittgenstein nimmt sowohl die Skepsis als auch Moores Anliegen ernst, doch geht er nicht auf die traditionellen Maßnahmen und Ansprüche ein, wenn er kein Wissen bzgl. Gewißheit reklamiert.350 346 347 348

349 350

ÜG 341. Vgl. 519. ÜG 342. ÜG 343. Interessanterweise bringt Wittgenstein in PU 108 die Metapher der Angeln ebenfalls verbunden mit einem pragmatischen Anliegen: „[…] Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt) […]“ ÜG 637. Norman Malcolm nennt einen Aufsatz „Wittgenstein‘s Scepticism“ und hebt darauf ab, daß in dreierlei Hinsicht der Skeptizismus in ÜG nicht entkräftet, sondern vertreten werde: 1. Auch in Fällen, in denen man Zweifel ausschließt, kann man sich irren. 2. Gewißheit gibt es nur, wenn man Autoritäten glaubt. 3. Man weiß nie, ob die eigene zweifelsfreie Gewißheit nicht von anderen in Frage gestellt wird ( in Inquiry 31/1988, pp. 285ff.).

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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Will ich also sagen, daß die Sicherheit im Wesen des Sprachspiels liegt?351 Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt, „auf etwas verlassen kann“.)352 Worauf kann ich mich verlassen?353 Das Wissen gründet sich am Schluß auf Anerkennung.354 Ist mein Verständnis nur Blindheit gegen mein eigenes Unverständnis? Oft scheint es mir so.355

Aber es ist deutlich geworden, daß die Blindheit notwendig ist, um ein Bild operieren zu lassen, so daß das Befragen dieser Funktionsweise nur aufgrund einer neuen, anders gelagerten Blindheit sich vollziehen kann.356 Einsicht gibt es nur auf Kosten von Leerlauf und die Frage nach Bedeutung ist ein Symptom der Krise effektiver Praxis. IV.3.2.2. Parallelen zu Glauben und Zweifel bei Kierkegaard Obschon Kierkegaards Anliegen ein religiöses ist, kommt er zu epistemologischen Implikationen, die mit Wittgensteins Auffassung des Glaubens konvergieren. Auch er stellt Glauben und Wissen einander gegenüber, wobei ersterer subjektiv und persönlich, letzteres objektiv und intersubjektiv überprüfbar ist. Auch er schränkt die Zuständigkeit des Wissens stark ein und macht den Unterschied zwischen Glauben als Modus des Fürwahrhaltens und religiösem Glauben nicht zu einem grundsätzlichen. Gewußtes kann nur dann wahr werden, wenn es glaubend angeeignet lebensformprägenden Status gewinnt, nicht aber dadurch, daß es sich theoretisch schlüssig formulieren läßt. Somit spielt eine religiöse Doktrin wie bei Wittgenstein eine regulative Rolle, d. h. sie hat nur in zweiter Linie den Charakter einer Aussage, die sich existenzindifferent diskutieren und prüfen läßt.357 In den Philosophischen Brocken vom Pseudonym Johannes Climacus geht es darum, die historische Distanz zum Ereignis der Mensch351 352

353 354 355 356 357

ÜG 457. ÜG 509. Vgl. PU II, xi 220 / S. 569 “„Aber schließt du eben nicht nur vor dem Zweifel die Augen, wenn du sicher bist?“ – Sie sind mir geschlossen.“ ÜG 508. ÜG 378. ÜG 418. Vgl. PU 219 u. ö. zum blinden Regelfolgen; außerdem Simon, a. a. O., S. 190ff. Vgl. Stephen M. Emmanuel „Kierkegaard on doctrine: a post-modern interpretation“, in Religious Studies 25/1989, pp. 363-378.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

werdung Gottes als unwichtig für die Schwierigkeit des Glaubens herauszustellen: Der Zeitgenosse Jesu konnte zwar Augenzeuge sein, doch lasse ihn das lange nicht die Brisanz erkennen, die mit dem Prediger Jesus einhergeht. Die Gottessohnschaft und Erlöserqualität lasse sich nicht aus eigenen Kräften erkennen, weswegen der unmittelbare Zeuge nicht allen späteren Generationen gegenüber im Vorteil sei. Beide werden nur durch Gottes Einwirkung wahrheitsfähig und Schüler Christi. Deshalb sei man heute nicht darauf angewiesen, daß die früheren Zeugen glaubwürdig gewesen seien, denn nicht ihnen solle geglaubt werden. Aber daß das Entscheidende nicht gewußt werden kann, sondern des Glaubens bedarf, betreffe jedes historische Ereignis und jede Wirklichkeit: Da etwas Vergangenes unveränderlich sei, scheine es sicher und als Gegenstand des Wissens unproblematisch. Das täusche aber darüber hinweg, daß es sich nicht notwendigerweise hat ereignen müssen, da eine Wirklichkeit nicht zwingend aus einer Möglichkeit hervorgehen müsse. Wie im § 1 des IV. Kapitels, wo es unter Rückgriff auf die aristotelische Diskussion der κ νησις um das Werden ging, handele es sich dabei nicht um die Veränderung eines bereits Bestehenden, sondern um eine freie Verwirklichung einer Möglichkeit. Der Übergang vom nicht-Sein zum Sein ändere weder eine Möglichkeit noch die Wirklichkeit, sondern sorge dafür, daß eine Möglichkeit wirklich wird. Das sei nicht herleitbar und unverständlich. Deshalb müsse das entsprechende „Organ“ im Umgang mit Gewordenem auch ein „Akt der Freiheit“358 sein, also Glaube. Der Gleichzeitige möge also zwar seine Augen aufmachen usw., aber er achte genau auf die Schlußfolgerung. Unmittelbar kann er nicht erkennen, daß es geworden ist, aber er kann auch nicht mit Notwendigkeit erkennen, daß es geworden ist; denn der erste Ausdruck des Werdens ist gerade die Unterbrechung der Kontinuität. In dem Augenblick, da der Glaube glaubt, daß es geworden ist, geschehen ist, macht er das Geschehene und Gewordene im Werden zweifelhaft, und das So des Geschehenen und Gewordenen im möglichen Wie des Werdens. Der Schluß des Glaubens ist keine Schlußfolgerung, sondern ein Entschluß, und deswegen ist der Zweifel ausgeschlossen.359

358 359

PB S. 80ff. / SV IV, 236ff. / SKS 4, 273ff. PB S. 82f. / SV IV, 247 / SKS 4, 282f. Wittgenstein wird die Philosophischen Brocken gekannt haben, in seinen Tagebüchern findet sich ein Echo, denn er diskutiert, wie einem historischen Ereignis ewige Bedeutung zukommen kann. Denkbewegungen S. 65 + 71. Dies lohnt kein Zitat und keine Erörterung, weil Wittgenstein sich im Rahmen der Kierkegaardschen Überlegungen bewegt und auch auf dessen Vokabeln zurückgreift, z. B. das Paradox.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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Wie Hume360 plädiert Kierkegaard für eine Vorsicht gegenüber Schlußfolgerungen, die ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis unterstellen lassen und suggerieren, eine notwendige Entwicklung habe stattgefunden. Wie bei Wittgenstein ist Glaubenswahrheit objektiv nicht zu sichernde Gewißheit und vielleicht sogar theoretisch unhaltbar, doch wird sie sogar gegen alle Gegengründe, kraft des Absurden, festgehalten (allerdings dramatischer formuliert als bei Wittgenstein): Ohne Risiko kein Glaube. Glaube ist gerade der Widerspruch zwischen der unendlichen Leidenschaft der Innerlichkeit und der objektiven Ungewißheit.361 Statt der objektiven Ungewißheit besteht hier die Gewißheit, daß das objektiv gesehen das Absurde ist, und dieses Absurde, festgehalten in der Leidenschaft der Innerlichkeit, ist der Glaube.362

Dieses Insistieren auf Innerlichkeit läßt sich zwar nicht mit Wittgensteins Auffassung einer Physiognomie des Glaubens vereinbaren, doch gibt es auch bei Wittgenstein eine Stelle in den Notizen, die in Kierkegaards Richtung geht, vor allem der letzte Satz in Klammern: […] Wenn ich aber WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit, nicht Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube. Und der Glaube ist der Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften, gleichsam mit ihrem Fleisch und Blut, muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt. Man könnte sagen: Die erlösende Liebe glaubt auch an die Auferstehung; 360

361 362

Vgl. dazu Robert L. Perkins „Kierkegaards erkenntnistheoretische Präferenzen“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Hg. Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt 1979, S. 385-407. Perkins will zeigen, daß Kierkegaards Polemik gegen Philosophie eigentlich nur gegen spekulativen Idealismus gemünzt sei und daß er dabei mit Humeschen Argumenten operiere. Deshalb könne man von einer „existentiellen Erweiterung des Empirismus“ sprechen. David R. Law betitelt ein Kapitel mit „Kierkegaard‘s epistemology“ und konstatiert einen Skeptizismus. Sein Buch Kierkegaard as Negative Theologian zeigt, daß Kierkegaard zwar kaum von den negativen Theologen direkt beeinflußt worden sei, doch sich als „more apophatic“ als jene qualifizieren lasse. Oxford 1993. AUN I, 195 / VII, 170. AUN I, 201 / VII, 176. Eine ausführlichere Beschreibung des Glaubens bei Kierkegaard kann ich mir sparen, weil sie sich in vielen Büchern findet, auch in Einführungen. Ein Beispiel sei genannt: Louis Pojman: Kierkegaard‘s Philosophy of Religion, San Francisco 1999, besonders Kapitel 7-10. Dieses Buch ist deshalb typisch, weil es sich an den gängigen Vorwürfen des Voluntarismus, Irrationalismus und Fideismus abarbeitet. Der Autor ist bemüht, teilweise kritisch gegen Kierkegaard vorzugehen und soviel Vernunft in den Glauben zu bringen, daß die Gefahr zu bannen ist, jeden Unsinn zum Gegenstand einer leidenschaftlichen Affirmation des Absurden zu machen. Es kommen fast alle möglichen Gegenmeinungen vor.

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hält auch an der Auferstehung fest. Was den Zweifel bekämpft, ist gleichsam die Erlösung. Das Festhalten an ihr muß das Festhalten an diesem Glauben sein. Das heißt also: sei erst erlöst und halte an Deiner Erlösung (halte deine Erlösung) fest – dann wirst du sehen, daß Du an diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du dich nicht mehr auf die Erde stützt, sondern am Himmel hängst, Dann ist alles anders und es ist ‚kein Wunder‘, wenn Du dann kannst, was Du jetzt nicht kannst. (Anzusehen ist freilich der Hängende wie der Stehende, aber das Kräftespiel in ihm ist ja ein ganz anderes und er kann daher ganz anderes tun, als der Stehende.)363

Auch die Qualifizierung des Glaubens als Leidenschaft findet sich bei Wittgenstein: Es kommt mir vor, als könne ein religiöser Glaube nur etwas wie das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem sein. Also obgleich es Glaube ist, doch eine Art des Lebens, oder eine Art, das Leben zu beurteilen. Ein leidenschaftliches Ergreifen dieser Auffassung. […]364

In Kierkegaards fragmentarischer Erzählung Johannes Climacus oder de omnibus dubitandum est365 macht sich ein junger Philosoph daran, à la Descartes einen sicheren Ausgangspunkt des Denkens durch den Zweifel zu finden. Es gelingt ihm nicht, durch Reflexion aus einem Regreß zu kommen, um endlich anfangen zu können. Er scheitert daran, durch das Denken zu dem zu kommen, was schon da ist, nämlich er selbst in seiner existentiellen Situation.366 Nur Glaube vermag dem etwas entgegenzusetzen und ist immun gegen die Teufelskreise von Wissen und Zweifel. Obschon theoretisch nicht zu bewältigen, läßt sich glaubend mit Skeptizismus umgehen, ohne dadurch jegliche Unsicherheit zu tilgen. Wie bei Wittgenstein stellt sich Zweifel erstens als abhängig von ungefragt Akzeptiertem heraus, ist zweitens weder objektiv noch verallgemeinerbar zu bekämpfen und drittens anfangsuntauglich. Natürlich sind die Unterschiede zwischen Kierkegaard und Wittgenstein trotz aller Konvergenzen beachtlich: Wittgenstein räumt Erziehung und kultureller Prägung einen wichtigen Stellenwert ein. Das leidenschaftliche Festhalten an einer paradox anmutenden Wahrheit gibt es zwar bei ihm, doch als Extremfall des weltbildkonstitutiven Fürwahrhaltens. Wie stark auch pragmatische Faktoren bei der Akzeptanz eines Weltbilds einspielen, zeigt das nächste Kapitel.

363 364 365

366

VB S. 496 (1937). VB S. 541 (1947). Pap IV B 1, dt. im Anhang von Hirschs Übersetzung der Philosophischen Brocken S. 109-192. Vgl. AUN II, 1-64 / SV VII, 257-312.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

295

IV.3.2.3. Triftigkeit Die Diskussion um den Skeptizismus führt an der Frage vorbei, wie Geglaubtes sich als Weltbild hält und wie es zu der basalen, aber grundlosen Anerkennung kommt. In Über Gewißheit lassen sich viele Faktoren finden, die hier wirkungsvoll sein könnten, aber keine sichere Handhabe, die einen von ihnen zu einem triftigen Grund werden läßt. Ist dies nicht ganz so, wie man einem Kind den Glauben an einen Gott, oder daß es keinen Gott gibt, beibringen kann, und es je nachdem für das eine oder andere triftig scheinende Gründe wird vorbringen können?367

Zunächst einmal kann man mit den geltenden Praktiken und Verhältnissen zufrieden sein, weil sie funktionieren. Wittgenstein sieht selbst die Gefahr, daß ihm der Pragmatismus als „Weltanschauung in die Quere“368 kommt. We are satisfied that the earth is round.369 Das Bild der Erde als Kugel ist ein gutes Bild, es bewährt sich überall, es ist auch ein einfaches Bild – kurz, wir arbeiten damit, ohne es anzuzweifeln.370 Mein Leben besteht darin, daß ich mich mit manchem zufriedengebe.371 Das Sprachspiel bewährt sich. Das mag die Ursache sein, warum es gespielt wird, aber nicht der Grund.372

Eine Ursache hat eine Wirkung, die Beziehung zwischen beiden ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und auch dort eher eine Unterstellung als eine nachweisbare Notwendigkeit373. Ein Grund hat eine Folge und kann zur Rechtfertigung herangezogen werden, weil es auch hätte anders verlaufen können. Die Ursachen, warum wir einen Satz glauben, sind für die Frage, was es denn ist, das wir glauben, allerdings irrelevant; aber nicht die Gründe, die ja mit dem Satz grammatisch verwandt sind und uns sagen, wer er ist.374

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ÜG107. ÜG 422. ÜG 299. ÜG 147. Vgl. 170: „[…] Und kann man nun sagen: Wir messen unser Vertrauen so zu, weil es sich so bewährt hat?“ ÜG 344. ÜG 474.Vgl. BPP I, 46. ÜG 603. Zur Unterscheidung von Grund und Ursache vgl. ÜG 74 und 429. S. o. Aspekte-Kapitel, Unterkapitel IV.1.3. „Methodisches“. Z 437.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Ursachen scheinen dem Geglaubten äußerlich und nur von einer Fragerichtung her aufschlußreich, die hier nicht zur Debatte steht. So mag Abrichtung Ursache für das Entstehen eines Weltbilds sein, kommt aber nicht zwingend als Grund in Frage, es auch beizubehalten. Zufriedenheit ist ebenfalls ein möglicher Grund, auch Konformität mit den geltenden Konventionen: Wir sind dessen ganz sicher, heißt nicht nur, daß jeder Einzelne dessen gewiß ist, sondern, daß wir zu einer Gemeinschaft gehören, die durch die Wissenschaft und Erziehung verbunden ist.375 Was ein triftiger Grund ist, entscheide nicht ich.376

Gewißheit ist so verstanden kein (mentaler) Zustand des einzelnen Menschen, sondern die aus gemeinsamen Handlungen resultierenden Selbstverständlichkeiten, aus denen sich das Weltbild erschließen läßt. Die normative Macht der gesellschaftlich herrschenden Handlungsweisen und Begründungsmodi setzt die Standards für Normalität und Gesundheit; Abweichungen werden zu (Geistes-)Krankheiten: Jeder ‚vernünftige‘ Mensch handelt so.377 Könnte ich nicht eben verrückt sein und das nicht bezweifeln, was ich unbedingt bezweifeln sollte.378 Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht.379 Wenn Einer mir sagte, er zweifle daran, ob er einen Körper habe, würde ich ihn für einen Halbnarren halten. Ich wüßte aber nicht ihn davon zu überzeugen, daß er einen habe. Und hätte ich etwas gesagt und das hätte nun den Zweifel behoben, so wüßte ich nicht wie und warum.380

In einem kafkaesken Szenario malt Wittgenstein sich aus, wie es um seine Gewißheiten stünde, wenn alle anderen Menschen dagegen sprächen, so daß er zum Verrückten werden müßte: […] Wäre es nicht möglich, daß Menschen zu mir ins Zimmer kämen, die Alle das Gegenteil aussagten, ja, mir ‚Beweise‘ dafür gäben, so daß ich plötzlich wie ein Wahnsinni375 376 377

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ÜG 298. ÜG 271. ÜG 254. Vgl. 229 „Unsere Rede erhält durch unsere übrigen Handlungen ihren Sinn.“ Entsprechend in PU über Sprachspiel und Lebensform. ÜG 223. Moores Zweifel (z. B. wenn er seine Hände anschaut und gewiß sein will, daß es seine Hände sind) gerät in Wittgensteins Diskussion manchmal in die Nähe einer Geistesstörung. ÜG 220. Vgl. 71 und 323. ÜG 257. Vgl. auch ÜG 281 und 155 sowie Z 393.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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ger unter lauter Normalen, oder ein Normaler unter Verrückten, allein dastünde? Könnten mir da nicht Zweifel an dem kommen, was mir jetzt das Unzweifelhafteste ist?381

Wittgenstein nähert sich einer kulturrelativistischen und konventionalistischen Auffassung. Ich will sagen: eine ganz andere Erziehung als die unsere könnte auch die Grundlage ganz anderer Begriffe sein.382

Hierher gehört Wittgensteins Kritik an dem Ethnologen Frazer: Ihm wirft er vor, das wissenschaftliche Paradigma zum Maßstab aller Weltbilder gemacht zu haben und deshalb Kulturimperialismus zu betreiben. Die Folge davon ist, daß Mythen und religiöse Praktiken als Irrtümer diskreditiert und intellektualistisch reduziert werden.383 Solche Töne legen nahe, das Weltbild als eine Interpretation gegebener Tatsachen aufzufassen, so daß den Möglichkeiten im Zugriff auf die Realität durch diese keinerlei Widerstände entgegenstehen. Man könnte auf die Idee kommen, ein mit Virtuosität und Größenwahn begabter Mensch könne Weltbilder und entsprechende Praktiken frei erfinden und nicht nur für sich akzeptieren, sondern auch mit Hilfe von geschickter Propaganda anderen verkaufen. (Daß es einem seiner ehemaligen Mitschüler der Linzer Realschule gelang, sämtliche Grußformeln des deutschen Sprachraums durch „Heil Hitler!“ zu ersetzen und Praktiken zu etablieren, die bis dahin als verbrecherisch galten, hat Wittgenstein nie diskutiert.)384 381

382 383

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ÜG 420, vgl. 421, 275, 502, 503: „[…] Wenn nun aber alle Andern mit mir im Widerspruch wären und sagten, es wäre nie ein Baum gewesen, und wenn alle andern Zeugnisse gegen mich sprächen – was nützte es mir dann noch, auf meinem „Ich weiß …“ zu beharren?“ Z 387. Vgl. BPP I, 643, s. u. Vgl. „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“, in Ludwig Wittgenstein Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften Hrsg. und übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt 1995 (3. Auflage) S. 29-46. „Die Taufe als Waschung. – Ein Irrtum entsteht erst, wenn die Magie wissenschaftlich ausgelegt wird.“ S. 32. Vgl. dazu: Brian R. Clack Wittgenstein, Frazer and Religion, N. Y./London 1999. Clack geht es darum, Wittgensteins Relevanz auch für nicht-theistische und nichtchristliche Religion herauszuarbeiten. Frank Gioffi Wittgenstein on Freud and Frazer, Cambridge 1998. In den „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“ denkt er es mit Bezug auf den Beltanekult an, hält es aber kaum für durchsetzbar: „Eine Überzeugung liegt jedenfalls den Annahmen über den Ursprung des Beltanefestes – z. B. – zu Grunde; die ist, daß solche Feste nicht von einem Menschen, sozusagen aufs Geratewohl erfunden werden, sondern eine unendlich viel breitere Basis brauchen, um sich zu erhalten. Wollte ich ein Fest erfinden, so würde es baldigst aussterben oder aber solcherweise modifiziert werden, daß es einem allgemeinen Hang der Leute entspricht.“ (a. a. O., S. 44)

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Als D. Z. Phillips gefragt wird, ob man nicht mit zeitgemäßen, neuen Bildern den religiös zunehmend indifferenten Engländern wieder auf die Sprünge helfen könne, verweist der darauf, daß diese Bilder keine „bloßen“ Bilder sind, die auf einer Erfindung beruhen und deren Gehalt sich auch anders darstellen ließe.385 Auch kann ein (kollektiver) Dezisionismus oder Konstruktivismus nicht mit Wittgenstein konzipiert werden, ebenfalls keine Konsenstheorie386 der Wahrheit. Er bedenkt, daß die Realität einem Weltbild widerspenstig wird und es in Frage stellen läßt, da Tatsachen mit dafür verantwortlich sind, welche Begriffe aufkommen: Ja aber hat denn die Natur hier gar nichts mitzureden?! Doch – nur macht sie sich auf andere Weise hörbar. „Irgendwo wirst du doch an Existenz und nicht-Existenz anrennen!“ Das heißt aber doch an Tatsachen, nicht an Begriffe.387 Wäre es aber nicht möglich, daß etwas geschähe, was mich ganz aus dem Geleise würfe? Evidenz, die mir das Sicherste unannehmbar machte? oder doch bewirkte, daß ich meine fundamentalsten Urteile umstoße? (Ob mit Recht oder Unrecht, ist hier ganz gleich.)388

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Von 1903 bis 1905 besuchten Wittgenstein und Hitler die Linzer Realschule. Obschon beide 1889 geboren worden waren, waren sie nicht in einer Klasse; Wittgenstein war eine nach oben, Hitler eine nach unten versetzt. Es gibt ein Foto, auf dem die beiden (wahrscheinlich) mit anderen Schulkindern gruppiert zu sehen sind. Dieses Bild ist auf dem Umschlag eines 431 Seiten dicken Buches mit dem Titel The Jew of Linz. Wittgenstein, Hitler and their secret battle for the mind, London 1998 (deutsch: Der Jude von Linz, Ullstein-Verlag 1998). Der Autor Kimberley Cornisch ist darauf aus zu beweisen, daß Hitlers Initialzündung für seinen Judenhaß in der Schulzeit, wie sie in Mein Kampf berichtet wird, eine Streiterei mit Wittgenstein gewesen sei. Außerdem sei die Nazi-Ideologie durch eine Auseinandersetzung mit Wittgensteins Denken zustandegekommen, vor allem durch das Verschwinden des individuellen Subjekts. Schließlich gebe es zu denken, daß Wittgenstein 1935 ein Lehrstuhl an der Universität Kazan angeboten worden war und daß er Russisch lernte. In Cambridge habe er aus seinen Schülern insgeheim Kommunisten gemacht, damit aus ihnen Spione rekrutiert werden sollten. Die Thesen dieses Buches sind allesamt abstrus und an den Haaren herbeigezogen. In einem BBC-Radiointerview, abgedruckt in Wittgenstein and Religion (a. a. O.) Chapter 8. PU 241 „So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?“ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.“ Z 364. Vgl. Z 350, 352. ÜG 517.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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Aber wäre es denn undenkbar, daß ich im Sattel bliebe, auch wenn die Tatsachen noch so sehr bockten?389 Soll ich sagen: Wenn auch plötzlich eine Unregelmäßigkeit im Naturgeschehen einträte, so müßte das mich nicht aus dem Sattel heben […]390

Mit den neuen Metaphern der Geleise und dem bockenden Pferd bringt Wittgenstein Argumente, die Thomas Kuhn stark macht: Kuhn tendiert dazu, einen Paradigmenwechsel durch „Anomalien“, die sich nicht in das gültige Paradigma integrieren lassen, zu motivieren. Gleichwohl verläuft die tatsächliche Aufgabe des Paradigmas „nicht kumulativ“391 und zwingend, weswegen ein Gelehrtenstreit zwischen Anhängern der alten Schule und Neuerern typisch für den Wissenschaftsbetrieb ist. Wittgenstein dramatisiert einen Extremfall durch phantastische Übertreibung: Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe? wenn ich etwa sähe, wie Häuser sich nach und nach ohne offenbare Ursache in Dampf verwandelten; wenn das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, lachte und verständliche Worte redete; wenn Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten. Hatte ich nun recht, als ich vor allen diesen Geschehnissen sagte: „Ich weiß, daß das ein Haus ist“ etc., oder einfach „Das ist ein Haus.“ etc.?392

Wittgensteins übersteigerte Gedankenexperimente sind zumeist Karikaturen von absurd-absoluten Forderungen in der Philosophie. Die Stoßrichtung ist eine doppelte: Erstens zeigt er, daß sich für jede auch noch so unwahrscheinlich scheinende Konstellation ein Kontext finden läßt, der sie diskutabel macht und Zweifel berechtigterweise hervorruft.393 Zwei-

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ÜG 616. Vgl. 617 „Ich würde durch gewisse Ereignisse in eine Lage versetzt, in der ich das alte Spiel nicht mehr fortsetzen könnte. In der ich aus der Sicherheit des Spiels herausgerissen würde. Ja, ist es nicht selbstverständlich, daß die Möglichkeit eines Sprachspiels durch gewisse Tatsachen bedingt ist?“ BPP I, 643 „Kann ich denn aber nun sagen, daß, wenn dies die Tatsachen wären, die Menschen diese Begriffe hätten? Doch gewiß nicht. Wohl aber dies: Denke nicht, daß unsere Begriffe die einzig möglichen, oder vernünftigen sind; wenn du dir ganz andere Tatsachen, als die, die uns ständig umgeben, vorstellst, so werden dir andere Begriffe als die unsern natürlich erscheinen.“ ÜG 619. A. a. O., S. 104. ÜG 513. Vgl. Z 393 „Man kann sich leicht Ereignisse vorstellen und in allen Einzelheiten ausmalen, die, wenn wir sie eintreten sähen, uns an allem Urteilen irre werden ließen.[…] Das Wichtige aber für mich daran ist, daß es zwischen einem solchen Zustand und dem normalen keine scharfe Grenze gibt.“

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

tens will er darauf hinweisen, daß es keine vernünftigen Entgegnungen gegen eine Überstrapazierung des Möglichen gibt, wenn man absolute Sicherheit verlangt. Aber auch ohne ein verwegen ausgedachtes Szenario insistiert Wittgenstein, daß auch Naturwissenschaft, Mathematik und Kausalitätsannahmen ‚Glaubenssachen‘ sind und damit keinen sichereren Status haben als alle anderen Arten von Erklärungsversuchen: Wenn der Satz 12✕12=144 vom Zweifel ausgenommen ist, dann müssen‘s auch nichtmathematische Sätze sein.394 Dem mathematischen Satz ist gleichsam offiziell der Stempel der Unbestreitbarkeit aufgedrückt worden. D. h.: „Streitet euch um andere Dinge; das steht fest, ist eine Angel, um die sich euer Streit drehen kann.“395 […] Aber was würde nun das heißen: „Wenn auch alle Menschen glaubten, 2✕2 sei 5, so wäre es doch 4.“ – Wie sähe denn das aus, wenn alle Menschen dies glaubten? – Nun, ich könnte mir etwa vorstellen, sie hätten einen anderen Kalkül, oder eine Technik, die wir nicht „rechnen“ nennen würden. Aber wäre das falsch? (Ist eine Königskrönung falsch? Sie könnte von uns verschiedenen, Wesen höchst seltsam erscheinen.)396

Aber wie im Kapitel „Sagen und Zeigen“ bereits angesprochen, kommt man nicht dazu, etwas einfaches als ‚Gegebenes‘ zu finden, nach dessen Maßgabe alle Interpretationen, Überzeugungen und Institutionalisierungen vonstatten gehen. Deshalb kann eine Induktion 393

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395 396

ÜG 622 „[…] Ich kann mir zu jedem dieser Sätze Umstände vorstellen, die ihn zum Zug in einem unserer Sprachspiele machen, wodurch er alles philosophisch Erstaunliche verliert.“ Ein typisches Überdehnen von Sprachspielgrenzen im Zuge eines konsequenten philosophischen Weiterfragens, das schließlich in Absurditäten endet, führt PU II, xi 204 / S. 565 vor: „„Ein neugeborenes Kind hat keine Zähne.“ – „Eine Gans hat keine Zähne.“ – „Eine Rose hat keine Zähne.“ […] (Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre.)“ Viele der von Wittgenstein diagnostizierten philosophischen Irrwege gehen darauf zurück, daß Analogien gezogen und überbewertet werden. Vgl. Wittgensteins Vorwürfe gegen Freud: „Wenn ein Traum interpretiert wird, könnten wir sagen, wird er in einen Kontext eingefaßt, in welchem er aufhört, rätselhaft zu sein.“ V+G S. 66. Er geht sogar so weit, es für Betrug zu halten, daß Freuds Erklärungen, die reizvoll genug sind, um angenommen zu werden, als ‚eigentliche‘ Zusammenhänge verkauft werden: „Die Anziehungskraft gewisser Arten von Erklärung ist überwältigend. Zu gewissen Zeiten ist die Anziehungskraft einer bestimmten Art von Erklärung größer, als man sich vorstellen kann. Besonders eine Erklärung der Art ‚Das ist in Wirklichkeit nur dies.‘“ S. 40. ÜG 653. Vgl. ÜG 50, 77, 82, 212, 217 u. ö.: Will man die Richtigkeit einer Rechnung durch Prüfung sichern, gerät man in einen Regreß, da auch die Prüfung zu sichern ist etc. ÜG 655. Vgl. 340 und 499. Außerdem zur Sicherheit der Physik ÜG 602 und 605. PU II xi S. 573.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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nur funktionieren, wenn sie als Schlußverfahren aufgefaßt wird, das Regeln formulieren läßt397. Wittgenstein nimmt den ‚strengen‘ Wissenschaften den Nimbus der Zuverlässigkeit und Sicherheit. Nicht nur Kausalität und logische Operationen, sondern auch empirische Forschung verliert ihre Neutralität. Symptomatisch hierfür ist, wie ambivalent Wittgenstein Erfahrung einschätzt: Aber ist es nicht die Erfahrung, die uns lehrt, so zu urteilen, d. h., daß es richtig ist, so zu urteilen? Aber wie lehrt‘s uns die Erfahrung? Wir mögen es aus ihr entnehmen, aber die Erfahrung rät uns nicht, etwas aus ihr zu entnehmen. Ist sie der Grund, daß wir so urteilen (und nicht bloß die Ursache), so haben wir nicht wieder einen Grund dafür, dies als Grund anzusehen.398 […] denn die Erfahrung ist ein zweimünziger Freund, der bald dies bald ein anderes sagt.399

Das zweite Zitat ist von Kierkegaard. Was Erfahrung „sagt“ oder „lehrt“, geht nicht unbestritten von ihr aus, sondern muß aus ihr geschlußfolgert werden. Wie man das macht, ist nicht vorgegeben. Wenn einer sagt, er werde keine Erfahrung als Beweis des Gegenteils anerkennen, so ist das doch eine Entscheidung. Es ist möglich, daß er ihr zuwiderhandeln wird.400

Man könnte widerspruchsvoll von einem ‚grammatischen Naturalismus‘ sprechen, da das Erste immer schon komplex ist und der maßgebliche Faktor nie eindeutig bestimmbar ist. Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.401

397 398 399

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ÜG 287, 499, 618f.Vgl. PU 324f. ÜG 130. Vgl. 274. SV III, 31. Solche Parallelzitate ließen sich mehrere finden, es wäre vor allem Fleißarbeit. ÜG 368. PU 654. Vgl. PU II xi 572/234 „Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen.“ Vgl. PU 655 und 656 „[…] Sieh auf das Sprachspiel als das Primäre! […]“ Joachim Schulte widmet sich dieser „Hinnahme“ in einem Aufsatz und qualifiziert sie als „qualitativen Sprung“: „Die Einstellung der Hinnahme, auf die Wittgenstein hinauswill, enthält beide Elemente – sowohl das Trotzige als auch das Phlegmatische oder gar Fatalistische –, aber sie enthält diese Elemente in einer dialektischen Mischung, die einen qualitativen Sprung bedeutet. […] Diese für unsere Lebensform bezeichnenden Tatsachen müssen wir als Gegebenheiten hinnehmen – das ist der Akt der Demut. Aber in dem Entschluß, es im expliziten Gegensatz zu anspruchsvolleren Theorien bei diesen Tatsachen zu belassen, aus ihrer übersichtlichen Darstellung etwas zu machen und auf diesem Wege philosophische Einsichten zu vermitteln, liegt, wie ich meine, ein gehöriges Maß an Trotz.“ „Die Hinnahme von Sprachspielen und Lebensformen“, S. 156-170 in Der Konflikt der Lebensformen, Hg. Lütterfels/Roser.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

IV.3.3. Bekehrung Angesichts der bisher angesprochenen möglichen Faktoren, die ein Weltbild beeinflussen können, stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit eines wertenden Vergleichs, einer Wahl und einem Wechsel des Ganzen. Einerseits war deutlich geworden, daß die erste Person irreduzibel ist und die eigene Lebensweise Selbstverständlichkeiten impliziert, die gelten, ohne Wissen zu sein. Damit wäre auch das Weltbild ein Bild, das „gefangenhält“402, weil es die Standards der Beurteilungen vorgibt, so daß Weltbilder inkommensurabel wären. Andererseits war deutlich geworden, daß Alternativen anderer Kulturen oder Vorkommnisse die Gewißheit irritieren und andere Selbstverständlichkeiten plausibler, attraktiver oder tauglicher erscheinen lassen. Beispiele dafür, daß es auch anders geht, sind effektiver als jede Kritik, die nur die Mängel des akzeptierten Weltbildes aufzählt, ohne eine Alternative zu verkörpern. Die traditionellerweise unter dem Gegensatz Rationalismus-Relativismus403 verhandelte Problematik stellt sich hier auch, ist aber nur bedingt dem Wittgensteinschen Ansatz gewachsen. Letztlich gelingt es nicht, Wittgenstein auf eine Seite zu schlagen, was daran liegt, daß der Wechsel eines Weltbilds sich als Bekehrung vollzieht, die sich nicht darin erschöpft, daß das „conceptual framework“404 ein anderes wird. 402 403

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PU 115. Vgl. die Diskussion von Wittgensteins ‚Lebensform‘ zwischen den Polen multikulturell und monistisch in: Lütterfels/Roser (Hg.) Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt 1999, besonders die Einleitung S. 7-16. In der Sekundärliteratur wird ein Weltbildwechsel allenfalls als „Rahmenwechsel“ thematisiert. So bei Morawetz (a. a. O., S. 119-137, Chapter 6), der zu einem rigorosen Ausschließlichkeitsverhältnis kommt: Entweder man teile Praktiken und habe gemeinsame Kriterien und Begründungsstandards oder nicht. Im ersten Fall könne man evaluieren, im zweiten nicht. Morawetz ist selbst damit nicht zufrieden, da er aus Erfahrung viele andere Fälle kennt. Ich denke, sein Fehler liegt darin, der Heterogenität des Weltbildes nicht hinreichend Berücksichtigung zuteil werden zu lassen und es zu intellektualisieren. p. 129 „[…] any change of position involves not so much a weighing of new evidence as an alteration of a conception of evidence, i. e., a conversion.“ Stroll (a. a. O. Kapitel X „Folk Theory, Standing fast, and Scepticism“, pp. 160-181) verneint rigoros, daß es bei Wittgenstein eine Änderung des Selbstverständlichen gibt. Er bezeichnet Wittgenstein und sich selbst als „rupturalist“, wobei common sense Gewißheiten, die den Status des absolut Sicheren haben, vor-propositional seien und nicht durch wissenschaftlichen Fortschritt theoretisierbar, falsifizierbar oder revidierbar seien. Nur die radikal autonom aufgefaßte Philosophie könne sich damit beschäftigen und herausfinden, wie solche Gewißheiten zwar die Basis allen Wissens seien, aber durch dieses keine Rückwirkung erführen. Damit ignoriert Stroll

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

303

Zunächst finden sich bei Wittgenstein Hinweise, die deutlich machen, daß man nicht umhin kann, die eigenen Begründbarkeiten und Werte zu den maßgeblichen zu machen, weil es keine unabhängigen, lebensformindifferenten und weltbildneutralen Maßstäbe gibt: Angenommen, wir träfen Leute, die das nicht als triftigen Grund betrachteten. Nun, wie stellen wir uns das vor? Sie befragen statt des Physikers etwa ein Orakel. (Und wir halten sie darum für primitiv.) Ist es falsch, daß sie ein Orakel befragen und sich nach ihm richten? – Wenn wir dies „falsch“ nennen, gehen wir nicht schon von unserem Sprachspiel aus und bekämpfen das ihre? Und haben wir Recht oder Unrecht darin, daß wir‘s bekämpfen? Man wird freilich unser Vorgehen mit allerlei Schlagworten (slogans) aufstützen.405

Wittgenstein konstatiert die unumgehbare Privilegierung des eigenen Weltbilds, wenn es mit einem anderen inkompatibel ist, und daraus resultierende Konflikte: Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.406

Wieder könnte man Wittgenstein fideistisch auffassen, so daß Glaube ein bestimmtes Weltbild mit entsprechender Lebensform und zugehörigen Sprachspielen zugänglich macht, was aber von ‚außen‘ unverständlich und nicht beurteilbar bleiben muß.407 Es gibt sogar drastische Abschnitte, in denen andere Menschen wie der berühmte Löwe aus dem zweiten Teil der PU408 vollkommen unverständlich bleiben müssen und sogar deshalb in ihrem Menschsein fragwürdig werden. 404

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völlig, daß und wie sich historischer Wandel sowohl in common sense Auffassungen als auch in den Wissenschaften vollzieht und daß es Rückkopplungen zwischen beiden gibt, beispielsweise durch die Fülle populärwissenschaftlicher Fernsehsendungen, Magazine, Zeitungsartikel und Bücher. ÜG 609f. Vgl. 338, 132. ÜG 611. Vgl. 284. Das wird z. B. von Lars Hertzberg vertreten „The Kind of Certainty is the Kind of Language Game“, in Wittgenstein. Attention to Particulars, Hg.: D. Z. Phillips, Peter Winch, 1989 pp. 92-111. Sein Titel ist ein Zitat aus PU II, xi S. 569, wo wieder die Beispiele Schmerz und Mathematik herangezogen werden, um sprachspielrelative Sicherheiten zu behaupten, die sich nicht gegeneinander verrechnen lassen oder auf denselben mentalen Zustand zurückzuführen sind. Hertzberg überträgt ‚Sehen-als‘ auf Urteile über andere Menschen: Unsicherheit sei kein Mangel an Wissen, da fremde Welten keine Wissensfrage für mich seien. [Einwand: man kann sich bzgl. Menschen täuschen, sonst gäbe es keine Heiratsschwindler, nicht aber bzgl. Aspekten.] „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“ PU II xi 568.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

‚Diese Menschen hätten nichts Menschenähnliches.‘ Warum? – Wir könnten uns unmöglich mit ihnen verständigen. Nicht einmal so, wie wir‘s mit einem Hund können. Wir könnten uns nicht in sie finden. Und doch könnte es ja solche, im übrigen menschliche, Wesen geben.409

Symptomatisch ist die Einschränkung im letzten Satz. In anderen Abschnitten sieht Wittgenstein Verhaltensweisen und Praktiken als Anknüpfungspunkte an, um sich eine fremde Welt plausibel zu machen. […] Denke, du kämst als Forscher in ein unbekanntes Land mit einer dir gänzlich fremden Sprache. Unter welchen Umständen würdest du sagen, daß die Leute dort Befehle geben, Befehle verstehen, befolgen, sich gegen Befehle auflehnen, usw.? Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten.410

Andererseits: Chinesische Gebärden verstehen wir so wenig, wie chinesische Sätze.411

Die Beobachtung fremder Menschen läßt Rückschlüsse auf deren Grundüberzeugungen zu und macht auf die eigenen erst aufmerksam. Der Zugang zu fremden Selbstverständlichkeiten verdankt sich Beobachtung, Analogieschlüssen und Plausibilisierungsversuchen, d. h. er ist nicht durch implizite Selbstverständlichkeiten gesichert. In Kierkegaards Worten: nur die eigene Existenz ist meine Wirklichkeit, die der anderen nur Möglichkeit für mich, d. h. ich kann darüber Bescheid wissen, beobachten, aber nicht wirklich verstehen, was es letztlich damit auf sich hat.412 Ein fremdes Weltbild kann ich nachvollziehen, auch wenn ich es nicht lebe, doch restlos und authentisch wird es dadurch nie. Doch muß es irgendeine Übersetzbarkeit geben, weil fremde Weltbilder als Alternativen zum eigenen zur Kenntnis genommen werden, sogar als schwächere Alternativen – wie ein historisch überholtes Modell – durchschaut und integriert werden können. Interessanterweise ist Wittgensteins Beispiel dafür eines, das der technische Fortschritt längst eingeholt hat und genau umkehrt: Woran wir glauben, hängt von dem ab, was wir lernen. Wir alle glauben, es sei unmöglich, auf den Mond zu kommen; aber es könnte Leute geben, die glauben, es sei möglich und geschehe manchmal. Wir sagen: diese wissen Vieles nicht, was wir wissen. Und sie mögen ihrer Sache noch so sicher sein – sie sind im Irrtum, wir wissen es. 409

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Z 390. In Zettel 384-390 versucht Wittgenstein sich vorzustellen, wie Menschen so erzogen werden, daß sie keine Empfindungen zeigen. In Z 371 ist es eine Gesellschaft von Tauben und in 372 eine von Schwachsinnigen. PU 206. Z 219. AUN II 17 / SV VII, 271.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

305

Wenn wir unser System des Wissens mit ihrem vergleichen, so zeigt sich ihres als das weit ärmere.413

Die Abschnitte lassen einen in einer Pattsituation414, weder ein Rationalismus noch ein Relativismus ist mit Wittgenstein eindeutig zu haben. Ich denke das liegt daran, daß ein Weltbild nicht hermetisch geschlossen ist und keine aus nur einem Prinzip exklusiv aufgebaute Totalität bildet. Vielmehr besteht es aus einem Konglomerat, einem ‚Körper‘ oder ‚Netz‘ miteinander in Beziehung stehender Diskurse und Praktiken, es ist ein System mit Subsystemen und Veränderbarkeit. Da fließende Übergänge nicht nur historisch, sondern auch lokal vonstatten gehen, ist es möglich, Teile eines Weltbildes oder einer Lebensform gemeinsam zu haben und deshalb andere Teile nachvollziehen zu können. Besonders das, was Wittgenstein als ‚natürliche‘ Faktoren nicht aufgibt, so z. B. Schmerzverhalten, verbindet auch bei unterschiedlichsten kulturellen Prägungen. Deshalb diskutiert Wittgenstein dies niemals auf theoretischer Ebene, bei allen Gemeinsamkeiten mit Kuhn handelt es sich bei ihm nicht um ein wissen(schaft)stheoretisches Phänomen. Vielmehr ist bemerkenswert, daß viele seiner Beispiele religiöse Lebensweisen betreffen, und er sogar von Bekehrung spricht: […] warum sollte ein König nicht in dem Glauben erzogen werden, mit ihm habe die Welt begonnen? Und wenn nun Moore und dieser König zusammenkämen und diskutierten, könnte Moore wirklich seinen Glauben als den richtigen erweisen? Ich sage nicht, daß Moore den König nicht zu seiner Anschauung bekehren könnte, aber es wäre eine Bekehrung besonderer Art: der König würde dazu gebracht, die Welt anders zu betrachten. Bedenke, daß man von der Richtigkeit einer Anschauung manchmal durch ihre Einfachheit oder Symmetrie überzeugt wird, d. h.: dazu gebracht wird, zu dieser Anschauung überzugehen. Man sagt dann etwa einfach: „So muß es sein.“415

Wittgenstein liefert Merkmale, die eine solche Aktion befördern, nämlich Einfachheit, Symmetrie und (behauptete) Sicherheit416. Die ersten beiden leisten wenig Aufschluß: Es müßte weltbildübergrei-

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ÜG 286. Allerdings haben die Mondreisen Wittgenstein beschäftigt, vgl. ÜG 106, 108, 111. Dieses einerseits-andererseits findet sich auch in den Vorlesungen über religiösen Glauben, als es darum geht, ob man einen Menschen verstehen kann, der an das Jüngste Gericht glaubt: „Warum sollte nicht eine Lebensform in einer Äußerung des Glaubens an ein Jüngstes Gericht kulminieren? […] Wenn Mr. Lewy religiös ist, und er sagt, daß er an das Jüngste Gericht glaubt, dann wüßte ich nicht einmal, ob ich behaupten kann, ihn zu verstehen oder nicht. Ich habe das gleiche wie er gelesen. In einem höchst wichtigen Sinn weiß ich, was er meint.“ V+G S. 81. ÜG 92. Vgl. ÜG 262 und 239. Michael Kober spricht hier von „theorie-ästhetischen Gründen“ , a. a. O., S. 343.

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

fende Standards für Einfachheit und Symmetrie geben, um diese für die Wahl eines Weltbilds zum Kriterium machen zu können. Außerdem wäre das Entwicklungsmuster bei allen Menschen ohne Variation so: erst Erziehung, dann Vereinfachung. Der letzte Satz bringt eine andere Ebene ein: Eine Setzung, eine affirmative Behauptung, die die Evidenz des Gegebenen als Stütze reklamiert. Deshalb verwundert es nicht, wenn Wittgenstein Bekehrung und Überredung in einem engen Zusammenhang bringt: Ich sagte, ich würde den Andern ‚bekämpfen‘, – aber würde ich ihm denn nicht Gründe geben? Doch; aber wie weit reichen die? Am Ende der Gründe steht die Überredung. (Denke daran, was geschieht, wenn Missionare die Eingeborenen bekehren.)417

Irrtumsresistenz verliert ihre epistemologische Dignität, wenn sie wie der Verweis auf Evidentes als Überredungsstrategie eingesetzt wird: Der Satz „Ich kann mich darin nicht irren“ wird sicher in der Praxis gebraucht. Man kann aber bezweifeln, ob er dann in ganz strengem Sinne zu verstehen ist, oder ob er eher eine Übertreibung ist, die vielleicht nur zum Zweck der Überredung gebraucht wird.418 „Ich kann mich darin nicht irren; und schlimmstenfalls mache ich aus meinem Satze eine Norm.“419

Aber auch solche Foucaultschen Töne bleiben nicht ohne Gegenbeispiele, die ihnen entgegenwirken: Ich habe ein Recht zu sagen „Ich kann mich hier nicht irren“, auch wenn ich im Irrtum bin.420 „Ich kann mich darin nicht irren“ kennzeichnet einfach eine Art der Behauptung.421

Diese Art der Behauptung zeigt die höchste Gewißheit des Sprechers an, aber verbürgt deshalb keinerlei Wahrheit. Ich lese diesen Abschnitt wie die oben zitierten zum Glauben ohne oder wider Gründe weniger als Plädoyer für Verblendung, als einen Hinweis auf emphatischen Anspruch auf Gewißheit bei gleichzeitiger Einsicht, daß sie nie absolut sein wird. Das hier gemeinte Recht ist dadurch verbürgt, daß es ohne Ver417

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ÜG 612. Von Wright (a. a. O., S. 186 ff.) regt an, eine soziologische Lesart anzuschließen, derzufolge divergierende Interessen und Wertsetzungen Ideologien entstehen ließen, die zum Weltbildwechsel führten. Kuhn spricht auch von „Überredung“ als Anlaß für Paradigmenwechsel, nicht Zuwachs an Wissen (vgl. a. a. O., S. 106). ÜG 669. ÜG 634. ÜG 663. Vgl. 404: Sicherheit ist Frage der Einstellung. Vgl. PU 289: „[…] Ein Wort ohne Rechtfertigung gebrauchen, heißt nicht, es zu Unrecht gebrauchen.“ ÜG 631.

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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trauen auf Gewisses über dem Abgrund einer begründungslogischen Unmöglichkeit gar keine Handlungen und Sprache gibt. Stärker noch wird dies, wenn Wittgenstein in typisch religiöser Diktion und ohne Ironie und Anführungszeichen eine höhere Autorität Einfluß nehmen läßt: Aber könnte nicht eine höhere Autorität mir versichern, daß ich nicht die Wahrheit weiß? So daß ich sagen müßte: „Lehre mich!“ Aber dann müßten mir die Augen aufgetan werden.422

Auffallend ist, daß die visuellen Metaphern dominieren und eine andere Sicht an die Stelle von Falsifikation oder Korrektur tritt. ‚Glaube‘ und ‚Anschauung‘ sind oft nahezu synonym, was die Bekehrung in die Nähe eines Aspektwechsels rückt. Wir wissen, daß die Erde rund ist. Wir haben uns endgültig davon überzeugt, daß sie rund ist. Bei dieser Ansicht werden wir verharren, es sei denn, daß sich unsere ganze Naturanschauung ändert. „Wie weißt du das?“ – Ich glaube es.423 Weitere Versuche könnten die früheren nicht Lügen strafen, höchstens unsere ganze Betrachtung ändern.424

Damit wird das architektonische Modell, das für Wissen auch bei Wittgenstein maßgeblich ist, durch das optische in seinem umfassenden und weltbildtragenden Status abgelöst, so, wie bei Kierkegaard, wo eine Revision [Re-vision] des Fundamentalen anstelle einer neuen Information, eines Wissenszuwachs‘, empfohlen wird.425 Durch die nur durch Glauben zu bewältigende Grundlosigkeit am Grund von Begründbarem (Wissen) sind Weltbilder nicht alternativlos sondern sogar als Ganze auszuwechseln. Weder absolute Inkommensurabilität noch restlose Verrechenbarkeit, weder Rationalismus noch Relativismus, weder Naturalismus noch Kulturrelativismus können dafür den Schlüssel liefern. Die Dynamik des Änderns setzt eine Virtuosität voraus, bei der ασησις ihre Relevanz für εωρ α zurückgewinnt und – wie beim Aspektwechsel – nicht verborgene Gründe erschließt, sondern offensichtliche Konstellationen neu arrangieren hilft. Weil da keine Absolutheitsansprüche erhoben werden, ist eine Änderung auch dann nicht destruktiv, wenn sie das Sicherste betrifft:

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ÜG 578. Vgl. 493 „Ist es also so, daß ich gewisse Autoritäten anerkennen muß, um überhaupt urteilen zu können?“ ÜG 291. ÜG 292 Pap. VIII 2 B 89, S. 188 (1847, Vorlesungsentwürfe zur ethisch-religiösen Mitteilung).

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IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

Ich könnte fortfahren: „Nichts auf der Welt wird mich vom Gegenteil überzeugen!“ Das Faktum ist für mich am Grunde aller Erkenntnis. Ich werde anderes aufgeben, aber nicht das.426 Dieses „Nichts auf der Welt …“ ist offenbar eine Einstellung, die man nicht gegenüber allem hat, was man glaubt oder dessen man sicher ist.427 Es ist damit nicht gesagt, daß wirklich nichts auf der Welt imstande sein wird, mich eines anderen zu überzeugen.428

In dieser ganzen Diskussion war auffallend, daß Wittgenstein vor allem Fragen formuliert, im Konjunktiv spricht und Formulierungen der ersten Person verwendet. Wie beim Zeigen ist der Standpunkt irreduzibel und keine Allgemeinverbindlichkeit und Beweisbarkeit zu gewährleisten. Ohne dies im Sinne Kierkegaards als existentielle Wirklichkeit zu qualifizieren, wird Wittgenstein den damit einhergehenden Forderungen formal gerecht. Dazu gehört sein Bemühen, Theoriebildung zu vermeiden und die für Glauben charakteristische Grundlosigkeit offenzuhalten. Er verweigert so, sowohl einen einzigen Faktor als Ursache oder triftigen Grund für einen Wechsel des Weltbildes verantwortlich zu machen, als auch ein einfaches Gegebenes als Basis alles anderen anzusehen. Damit führt er allerhand mögliche Anlässe vor, die in Kierkegaards Sinne (Vgl. I. 1.) weder als Ursache noch als Grund von sich aus triftig sind. Symptomatisch ist der folgende Abschnitt, in dem er eine Frage formulieren läßt, deren Antwort deutlich als ihn überzeugende markiert und in wörtlicher Rede gegeben wird. Die allgemeine Aussagbarkeit des Fundamentalen wird damit in sein Weltbild verlagert und – wie durch Kierkegaards Pseudonyme – als Stimme unter vielen präsentiert. Die Frage ist doch die: „Wie, wenn du auch in diesen fundamentalsten Dingen deine Meinung429 ändern müßtest?“ Und darauf scheint mir die Antwort zu sein: „Du mußt sie nicht ändern. Gerade darin liegt es, daß sie ‚fundamental‘ sind.“430 426 427 428 429

430

ÜG 380. ÜG 381. ÜG 382. Im Manuskript 176 S. 43 (von Wright-Katalog 1969) heißt es in diesem Eintrag statt „Meinung“ „Anschauung“, was die Seh-Metaphorik von Weltbild und Aspekten weiterführt. In seinen „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“ ist Meinung eindeutig paradigmaintern verstanden, so daß sie nicht mit Glauben, der ein Weltbild sichert, ineinszusetzen ist. Genau das wird zum Vorwurf. ÜG 512. Vgl. 516 „Wenn etwas geschähe (wenn z. B. jemand mir etwas sagte), was dazu angetan wäre, mir Zweifel daran zu erwecken, so gäbe es gewiß auch etwas, was die Gründe solcher Zweifel selbst zweifelhaft erscheinen ließe, und ich könnte mich also dafür entscheiden, meinen alten Glauben beizubehalten.“

IV.3. Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit

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Dieser Abschnitt zeigt wie kein anderer, wie Wittgenstein das Fundamentale seiner Spezifik beraubt, um Spielraum für mögliche Alternativen und sogar den Trotz des gegen alle ‚guten‘ Gründe Glaubenden gelten zu lassen. Wenn Abrichtung, Erziehung, Instinkt, die normsetzende Gesellschaft, überredende Agitatoren, Begründungen, Evidenz, Tatsachen und Entscheidungen als Kandidaten für triftige, d. h. Gewißheit etablierende Faktoren in Frage kommen, ohne daß einer von ihnen die anderen notwendigerweise aussticht, ist für die Bekehrung vor allem charakteristisch, daß man sie verweigern kann. Das Seltsame ist, daß, wenn schon ich es ganz richtig finde, daß Einer den Versuch, ihn mit Zweifeln in dem Fundamente irrezumachen, mit dem Wort „Unsinn!“ abweist, ich es für unrichtig halte, wenn er sich verteidigen will, wobei er etwa die Worte „Ich weiß“ gebraucht.431

Wie in diesem Teilkapitel deutlich geworden ist, meint ‚fundamental‘ keine durchgängige Begründungskette, die auf absolut sicher Gewußtem aufbaut, denn das ist Fundamentalismus, der eine Struktur monopolisiert. Vor allem die pervertierte Hausmetapher, bei der die Schwerkraft nicht mehr funktioniert, weil statt dessen Reziprozität und Dynamik zusammenhalten, zeigt, wie Wittgenstein über Fundamente redet und sie außerhalb der dazu passenden Metaphorik, also subversiv, verwendet, durch andere Modelle unterläuft. Fundamental ist nur, was sich ändern läßt, so daß mangelnde Bekehrungsbereitschaft, ein Festhalten an dem durch Abrichtung erworbenen Weltbild unter Mißachtung aller Alternativen und Gegenfaktoren, wie weltanschauliche Aspektblindheit ist. (Fast will man es als ‚incognito‘ im Kierkegaardschen Sinne werten, daß Wittgenstein von 1930-1936 im Wiener Adressbuch als Architekt gelistet wurde. (Bei dem von Wittgenstein für seine Schwester mitge431

ÜG 498. Vgl. ÜG 361 und 368. Vgl. Denkbewegungen S. 82f. „Es ist nun ferners das wahr, daß ich nicht durch Überlegungen etwas zu etwas Rechtem machen kann, was mir in meinem Herzen als Possen erscheint. Keine Gründe der Welt könnten z. B. beweisen, daß meine Arbeit wichtig & etwas ist, was ich tun darf & soll, wenn mein Herz – ohne einen Grund – sagt, ich habe sie zu lassen. Man könnte sagen: „Was Possen sind, entscheidet der liebe Gott.“ Aber ich will diesen Ausdruck jetzt nicht gebrauchen. Vielmehr: Ich kann mich, & soll mich, durch keine Gründe überzeugen, daß die Arbeit, z. B., etwas Rechtes ist. (Die Gründe, die Menschen mir sagen würden, – Nutzen, etc – sind lächerlich). – Heißt das nun, oder heißt es nicht, daß meine Arbeit & Alles, was ich sonst genieße, ein Geschenk ist? D. h., daß ich nicht darauf ruhen kann, als auf etwas Festem, auch abgesehen davon, daß es mir durch Unfall, Krankheit, etc. genommen werden kann. […]“

310

IV. Wittgensteins ‚Sprung‘

bauten Haus in der Wiener Kundmanngasse waren das Fundament und die Pläne bereits da, weil zunächst Paul Engelmann der beauftragte Architekt war. Wittgenstein hat nach und nach die Leitung übernommen.) Architektur verewigt und verherrlicht etwas. Darum kann es Architektur nicht geben, wo nichts zu verherrlichen ist.432)

432

VB S. 548 (1947 oder 1948).

Teil V Dämonie und Erratum Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi beinahe nur ein Dichter1 Wer die Menschen nicht verführen könnte, kann sie auch nicht erlösen. Dies ist eine Reflexionsbestimmung. Papirer IX A 383.

Wenn Texte sowohl als Verteidigung als auch als Angriff derselben Angelegenheit herangezogen werden können, provozieren sie zwar wie beim Aspektwechsel die Entscheidung für eine Aktualisierung, doch dürfen sie nicht die Privilegierung von einer der möglichen nahelegen. Der Maieutiker nimmt genau deshalb seinen eigenen Standpunkt zurück, weil wahrheitsfähige Mitteilung nur angeeignet vollzogen werden kann. Der Mitteilende will sich nicht den Anschein geben, sich einer für ihn unverfügbaren Wahrheit zu bemächtigen und gibt sie deshalb als eindeutige preis und für neues und fremdes Wahrnehmen frei. Die strenge Inkommensurabilität fremder Gottesverhältnisse würde andernfalls jede wahrheitsrelevante religiöse Rede verbieten. So arbeitet Kierkegaard seinem religiösen Anliegen notgedrungen gerade dann entgegen, wenn er die Forderung nach seiner Verwirklichung angemessen (dar)stellen will. Andeutungsweise waren aber bisher hin und wieder vereindeutigende Maßnahmen aufgefallen, die im folgenden im Fokus meiner Untersuchung stehen sollen. Es lassen sich drei Sorten unterscheiden, deren erste sich im Sinne der Wittgensteinschen ‚Physiognomie des Glaubens‘ auffassen läßt: Auch bei Kierkegaard gibt es Stellen, an denen sich die Innerlichkeit ausdrückt und zeigt, ohne daß sich das Ent-

1

SS, 14 / SV XIII, 507.

312 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi scheidende genau kriteriell festmachen ließe. Ich will zwei Beispiele zitieren, das erste ist Sokrates‘ Glaube an die Unsterblichkeit: Betrachten wir Sokrates! Heutzutage pfuscht ja jeder an einigen Beweisen herum, der eine hat mehr, der andere weniger. Aber Sokrates! Er stellt das Problem objektiv problematisch hin: wenn es eine Unsterblichkeit gibt. Dann war er also, verglichen mit einem der modernen Denker von drei Beweisen, ein Zweifler? Keineswegs! Denn für dieses „Wenn“ setzt er sein ganzes Leben dran, er wagt zu sterben, und er hat sein ganzes Leben mit der Leidenschaft der Unendlichkeit so eingerichtet, daß es als annehmbar befunden werden mußte – wenn es eine Unsterblichkeit gibt. Gibt es einen besseren Beweis für die Unsterblichkeit der Seele?2

Kierkegaard räumt dem sich-Zeigen des Glaubens in der Lebensform des Individuums an dieser Stelle sogar den Status eines Beweises ein, doch das veranlaßt ihn nicht, zu diskutieren, ob das mit seiner Auffassung von radikal verborgener Innerlichkeit konfligiert. Bei meinem zweiten Beispiel ist die Irritation größer; es handelt sich um eine der erbaulichen Reden, nämlich die über die Episode in Lukas 7,37ff.: Eine Sünderin sucht Jesus im Haus des Pharisäers auf, sie wäscht ihm die Füße mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihren Haaren, küßt und salbt sie aus lauter Zerknirschung über ihre Sünden. Kierkegaard will diese Frau als Vorbild hinstellen, sieht sich aber veranlaßt, vorher zu klären, daß man „Gottseligkeit von einem Weibe lernen“3 könne. Paradoxerweise ist es hier wie auch bei Maria4 vor allem das Schweigen, das sich lernen lasse: Die Sünderin sage nichts und tue nichts, aber an ihr werde klar, daß ihr alles gleichgültig geworden sei, außer der Vergebung ihrer Sünden. Kierkegaard insistiert darauf, daß die Frau nichts tut, schildert aber ausführlich und den Text von Lukas ausschmückend, was sie tut: Sie kauft teures Öl zum Salben, sie platzt in ein Haus, in dem sie unerwünscht ist, sie weint bitterlich und zeigt Demut. Um die Vorbildfunktion noch zu steigern, dichtet Kierkegaard wieder einmal den Bibeltext um: vielleicht habe die Frau ja vor lauter Zerknirschung nicht mitbekommen, daß ihr vergeben worden sei. Ihre Qual sei nicht zu lindern, weil erst durch Jesu Tod und Auferstehung Vergebung für alle gleichsam als Vorschuß geleistet worden sei. Diese Rede ist deshalb interessant, weil Kierkegaard ausführlich und dramatisch schildert, wie sich die richtige Gesinnung der Sündern in ihrem Verhalten ausdrückt, aber gleichzeitig nicht zulassen will, daß irgendeine Handlung aufschlußreich sein 2 3 4

AUN I, 192 / VII, 168. EER, 1-16 / SV XII, 243-259. SV XII, 249. Auch in Furcht und Zittern kommt Maria einmal kurz vor, dort ist sie das einzige Beispiel, das einem Vergleich mit Abraham standhält. s. u. Teil V.1.

V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi

313

kann. In dieser Rede ist die Spannung deutlich, die in dem SokratesBeispiel vermieden wird, weil klar und mehrfach behauptet wird, man könne sehen, daß ein Mensch voller Leid über seine Sünde ist. Dies steigert sich noch in einer anderen Rede über diese Bibelstelle, bei der es vor allem um Lukas 7, 47 geht: „Derhalben sage ich dir, ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet.“5 Noch deutlicher als an den bisher zitierten Stellen erlaubt Kierkegaard einen Ausdruck der religiösen Innerlichkeit, der nicht an Ritualen, Worten oder Bekenntnissen festzumachen ist, aber sich unmißverständlich zeigt: „Sie spricht nichts, ist somit auch nicht was sie spricht, sondern sie ist, was sie nicht spricht, oder was sie nicht spricht, das ist sie, sie ist selbst die Bedeutung, gleich einem Bilde […]“6 Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen, z. B. die Rede „An einem Grabe“, in der der Redner die Gottesfurcht des Verstorbenen preist, was voraussetzt, daß er darüber Bescheid weiß und ein fremdes Gottesverhältnis beurteilen kann.7 Auch Der Liebe Tun ließe sich namhaft machen, es beginnt mit einer Besprechung von Lukas 6, 44, wo es um die Kenntlichkeit eines Baumes an den Früchten geht.8 Daneben gibt es eine zweite Sorte, die sich die Dialektik von innen und außen zunutze macht, ohne sie als zuverlässige Korrelation gelten zu lassen: Leiden wird in einigen Texten zum Merkmal des Gottesverhältnisses, allerdings ist es ein negatives Merkmal, das nicht zwingend für Kenntlichkeit sorgen kann. Hier taucht wieder die Spannung auf, weil Kierkegaard sich nicht einig werden kann, ob er ein Kriterium gelten lassen will, es aber schließlich zögernd tut, vor allem, um seine eigenen schriftstellerischen Ambitionen als imitatio Christi stilisieren zu können. Ich werde darauf im letzten Unterkapitel (V. 5.) zu sprechen kommen. Die dritte Sorte ist Hauptgegenstand dieses Teils meiner Arbeit, denn an ihr läßt sich das Changieren Kierkegaards besonders gut beobachten: Es handelt sich um das ‚Dämonische‘, es ist das Gegenstück zur verborgenen Innerlichkeit und wie diese nicht kenntlich. Beide sind Verschlossenheiten, die sich nicht zuverlässig äußern und deshalb miteinander verwechselbar sind. Die strukturelle Vergleichbar5

6 7 8

Diese Rede gehört zu einer der Serien von Reden beim Altargang am Freitag, hier handelt es sich um die drei von 1849, die bei Hirsch der Krankheit zum Tode zugeordnet werden, KT, 155-163 / SV XI, 271-280. KT 159f. / SV XI, 277. DRG, 174 / SV V, 228. LT 7ff. / SV IX, 9ff. Gleichwohl verweigert Kierkegaard stets, die Religiosität von anderen Menschen zu beurteilen.

314 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi keit dieser Extreme treibt die Ambivalenz von ästhetisch und religiös auf die Spitze und droht der Unentscheidbarkeit das letzte Wort zu geben. Doch unterscheidet sich das Dämonische vom Religiösen dadurch, daß es irgendwann unfreiwillig offenbar wird. Kierkegaards Texte, die wegen ihrer vielen Doppeldeutigkeiten ebenfalls Gefahr laufen, dämonisch zu sein, entlarven sich gleichsam selbst, indem sie Störfaktoren aufweisen, die jede stimmige Interpretation vereiteln. Mit einer uninterpretierbaren Stelle, einem Fehler, Erratum, arbeitet Kierkegaard (zugestandenermaßen) auch seiner eigenen Begabung als Verfasser entgegen und macht Ernst mit der religiös geforderten Selbstvernichtung. Insofern ihm etwas unterläuft, das dem Gelingen seiner Werke entgegensteht, ist er kein Autor, der seiner Themen mächtig ist und sie verantworten kann. Doch da dies vielen seiner Pseudonyme passiert und die erratischen Stellen wohlplaziert genau die Probleme markieren, an denen der Horizont des Pseudonyms nicht mehr ausreicht, sind sie Teil des Kalküls des Autors Kierkegaard. Störfälle sind ein notwendiger Faktor, der dafür sorgt, daß die Indienstnahme ästhetischer Mittel für religiöse Zwecke nicht in unverbindlicher ästhetischer Rezeption stecken bleibt und nichts als Genuß am schönen Schein oder abstrahierende Gelehrsamkeit zur Folge hat. Nur die gestörte Darstellung ist der religiösen Forderung tauglich, da sie nicht Wiedergabe zu sein vorgibt, sondern eine Aufgabe zur Verwirklichung offenläßt. Bislang waren als Spielarten des Indirekten Ambivalenzen, fremde Worte, Ironie, Interferenzen und zeigende Zeichen vorgekommen. Diese provozieren hermeneutische Bewältigung, die Entscheidung für eine der möglichen Lesarten. Auch wenn in Kierkegaards Texten Argumentationslinien einander unterlaufen und Wörter mehrerlei Bedeutung erlauben, lassen sich Plausibilisierungen vornehmen; gerade das spezifische Procedere hat sich in vielen der vorherigen Kapitel als aufschlußreich erwiesen. Ein Erratum aber widersetzt sich sogar irritierter Lektüre, es ist nicht mehr als ästhetisches Mittel einzuordnen, sondern vereitelt sogar das spielerische Verunsichern von Eindeutigkeit. Es ist der Grenzfall des literarischen Kunstgriffs, denn es ist ein Fehler, der den Text schlecht macht und auch Versagen des Autors sein könnte. Da Kierkegaard in diesem Sinne sogar dem biblischen Text einen schlechten Stil mit sprachlichen Mängeln und Ungereimtheiten nachsagt, stellt er andererseits aber seine Produktion in die Tradition der höchsten Autorität, die ein Schriftstück für den Christen haben kann. Die Verweigerung von Autorität mithilfe eines drastischen Mißlin-

V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi

315

gens verkehrt sich und wird zur Anmaßung: Gerade der Entzug von Autorschaft mit sinngebietender Macht findet sein Analogon im oft abwesenden und unberechenbar wirkenden biblischen Gott. Dämonisch ist bei fast allen Pseudonymen etwas, es sucht die Schriften nahezu heim und auch die Papirer.9 Das Tagebuch des Verführers in Entweder-Oder I sollte sogar unter dem Titel: Ein Versuch im Dämonischen von Johannes Mephistopheles10 publiziert werden. Im Begriff Angst, Furcht und Zittern und der Krankheit zum Tode findet es nicht nur Erwähnung oder adjektivische Verwendung, sondern wird substantiviert (dän.: det Dæmoniske) zur Bezeichnung einer extremen Verzweiflungsart oder Angstvariante. Ich werde diese drei Bücher im Hinblick auf das Dämonische in chronologischer Reihenfolge vorstellen, da sich daran implizit wie explizit die Gefahr der dämonischen Doppelung von Kierkegaards Schreiben nachweisen läßt und der Versuch gemacht wird, dem durch ein Erratum zu begegnen. Obschon der Dichter immer mehr zur Gegenfigur der religiösen authentischen Existenz wird, was als eine Manifestation der Gegenüberstellung von Welt und Christsein firmiert, sind genau seine Kompetenzen unabdingbar, um das Dämonische darzustellen und das Ästhetische zugunsten des Religiösen scheitern zu lassen. Die Disqualifizierung der eigenen Fähigkeiten als Verfasser zugunsten einer höheren Macht, derer man sich textuell nicht bemächtigen kann, funktioniert nur, wenn man dieser einen unverfügbaren und unverstehbaren Ort im Text zuweist. Damit ist das Ästhetische, das man um des Religiösen willen absagen will, genau in dieser Geste die einzige (Un-)Möglichkeit, um ein Bedeuten des schlechthin Transzendenten überhaupt leisten zu können. Allerdings würde Kierkegaard es in dieser Funktion nie so bezeichnen; obschon er es wirksam werden läßt, bespricht er es nicht. Bleibt das Dämonische ungebrochen, so ist es mit wahrer Religiosität verwechselbar und gefährlich. Genau das ist der Fall bei Kierkegaards Kommilitonen Adler, der ein Offenbarungserlebnis als Quelle seiner Predigten benennt und deshalb meint, mit Autorität sprechen zu können. In seinem Buch über Adler versucht Kierkegaard pseudonym an Adlers Selbstverständnis die für seine Zeitgenossen symptomatische Begriffsverwirrung betreffs des Christlichen zu diagnostizieren und festzumachen. Nicht das Faktum der Offen9

10

Jeweils SV: EO I, 73; W III, 195; UN I, 216+255; Adler S. 42 (Pap. VII 2 B); Pap. II A 180 + IV A 94 u. ö. Vgl. Pap. IV A 181.

316 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi barung ist prüfbar und sinnvoll bezweifelbar, denn das betrifft nur das eigene Gottesverhältnis, welches unveräußerbar ist. Doch die Konsequenzen aus dem Anspruch, Werkzeug Gottes zu sein, schlagen sich in den Texten nieder und lassen Rückschlüsse zu. Adler läßt sich ein grundlegendes Mißverständnis der religiösen Autorität nachweisen, so daß er als dämonischer Doppelgänger des wahren Apostel zu entlarven ist. Was das zuständige Pseudonym an den Schriften bemängelt, kennzeichnet Kierkegaards Bücher allesamt, so daß einzig die Kollision mit dem höchsten Anspruch bevollmächtigter Rede den Kernpunkt der Kritik ausmacht. In der Vehemenz des Entlarvungspathos‘ wird deutlich, wie sehr Adler Kierkegaards eigenes Problem der berechtigten ‚Rede von Gott‘ in seiner dämonischen Verfehlung exemplifiziert und ausagiert. Diese Verwandtschaft der beiden tritt noch deutlicher zutage, wenn man die Schriften der späten vierziger Jahre einbezieht: In der Einübung im Christentum charakterisiert Kierkegaard Jesus Christus als ‚Zeichen des Widerspruchs‘, dessen Funktionsweise sich wie die der pseudonymen Texte beschreiben läßt. Doch ist Jesus leibhaftig so ein Zeichen, weil seine direkte und unmißverständliche Botschaft mit der Gestalt des armen Predigers und Außenseiters konfligiert. Die Wahrheit seiner Rede ist durch nichts zu beglaubigen und mit ihrem unverschämten Anspruch der Gottessohnschaft weckt sie berechtigtes Mißtrauen. So entsteht auch hier die Provokation einer Alternative zwischen glaubender Aneignung mit weitestreichenden Konsequenzen einerseits, dem Ärgernis andererseits. Jesus selbst also weist wie die Texte Kierkegaards eine „Zwiefältigkeit von Anbeginn“11 auf. Wie bezüglich der schlecht geschriebenen Bibel vergleicht Kierkegaard seine Aktivität mit dem Wirken Jesu und stilisiert sein Schreiben als textuelle imitatio. Die damit einhergehende Vereindeutigung der Ambivalenz in religiöser Hinsicht verstärkt sich noch, wenn er in einem Text der Schriften über sich selbst seinen gesamten Büchern einem Plan der göttlichen Vorsehung (dän.: styrelse) unterstellt und sich – wie Adler – als Werkzeug Gottes zu verstehen gibt. Wohl wissend, daß dies mit dem Anspruch unvereinbar ist, ohne Autorität zu schreiben und gar nicht um die Vorsehung wissen zu können, muß er auch und gerade dann wieder einen fiktiven Sprecher zu Wort kommen lassen, wenn er religiösen Klartext spricht. Hatte schon die Parallelisierung mit Christus für eine asym11

SS 25ff. / SV XIII, 521ff. Kierkegaard benutzt in diesem Text ‚Zweideutigkeit‘ (Tvetydighed), ‚Zwiespältigkeit‘ (Duplicitet) und ‚Dialektik‘ synonym.

V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi

317

metrische Zweideutigkeit wegen der Privilegierung der religiösen Lesart gesorgt, so droht die klare Einordnung in Gottes Pläne die Spielräume restlos zu tilgen. So werden die Schriften Kierkegaards zum legitimen Ausdruck seines Gottesverhältnisses. Wenn aber die letzten Worte über das Ganze als fremde Rede einem Dichter in den Mund gelegt werden, wenn sie außerdem für posthume Publikation zurückbehalten werden, um den eigenen außerordentlichen Status nicht bekanntgeben zu müssen und das eigene Gottesverhältnis nicht publik zu machen, rettet diese finale Suspension von Verbindlichkeit vor der Adlerschen Selbstüberhebung und läßt der Gefahr entgehen, die unumgängliche Anmaßung aller ‚Rede von Gott‘ in Dämonie ausarten zu lassen. Die Aporie einer textuellen imitatio besteht darin, daß konsequent durchgehaltene Doppeldeutigkeiten die Gefahr des Dämonischen mit sich bringen und nicht zum religiös-erbaulichen Ziel führen. Eine Vereindeutigung zugunsten des eigentlichen Anliegens aber beeinträchtigt die spezifische Leistung eines ‚Zeichen des Widerspruchs‘ und kann nicht umhin, die eigene Person und die eigentlich im Verborgenen zu bewahrene Innerlichkeit relevant zu machen. Das aber darf nur Christus, weswegen das Bekenntnis zur imitatio Christi diese verrät und zur Anmaßung werden läßt. Kierkegaard muß schließlich seine radikale Auffassung von verborgener Innerlichkeit und unveräußerlichem Gottesverhältnis relativieren und zulassen, daß sich Religiösität zeigt, äußerlich manifestiert. Auch entgeht er nur so der reductio ad absurdum aller Mitteilung, wie ich sie in meiner Zugabe ausgehend von Derridas Donner la mort mit Rückgriff auf Lévinas diagnostiziere: Wenn nur Gott der Andere ist und der Mitmensch keinen analogen Status bekommt, erübrigt die strengste Inkommensurabilität zwischen Menschen jedes Sprechen, ob ‚direkt‘ oder ‚indirekt‘. Auch hierzu Wittgensteins Eindruck: Kierkegaards Schriften haben etwas Neckendes & das ist natürlich beabsichtigt, wenn ich auch nicht sicher weiß; ob genau diese Wirkung beabsichtigt ist, die sie auf mich haben. Es ist auch kein Zweifel, daß der, der mich neckt mich zwingt, mich mit seiner Sache auseinanderzusetzen & ist diese Sache wichtig, so ist das gut. – Und dennoch gibt es etwas was dieses Necken in mir verurteilt. Und ist dies nur mein Resentiment? Ich weiß auch sehr wohl daß Kierkegaard das Aesthetische mit seiner Meisterschaft darin ad absurdum führt & daß er das natürlich auch will. Aber es ist als wäre in seinem Aesthetischen bereits der Tropfen Wehrmuths drin, so daß es eben an & für sich schon nicht so schmeckt wie das Werk eines Dichters. Er ahmt dem Dichter gleichsam mit unglaublicher Meisterschaft nach, ohne aber ein Dichter zu sein & daß er keiner ist merkt man doch in der Nachahmung.

318 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Die Idee, daß jemand einen Trick verwendet um mich zu etwas zu veranlassen ist unangenehm. Es ist sicher daß dazu (diesen Trick zu gebrauchen) großer Mut gehört & daß ich diesen Mut nicht – nicht im entferntesten – hätte; aber es frägt sich, ob, wenn ich ihn hätte, es recht wäre ihn zu gebrauchen. Ich glaube, dazu gehörte dann außer dem Mut auch ein Mangel an Liebe zum Nächsten. […]12

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern alles gemeint haben und siehe, es ist Geschwafel gewesen: vor so etwas ekelt sich sogar die Reue. Stadien auf des Lebens Weg, 50 / SV VI, 50 / SKS 6, 51.

Das 1843 zeitgleich mit der Wiederholung erschienene Buch dreht sich um die Opferung Isaaks durch Abraham, wie es in der biblischen Genesis 22 geschildert wird. Das Pseudonym Johannes de silentio sieht die Schwierigkeit, dieses Ereignis mit moralischen Maßstäben angemessen zu beurteilen: Ein Vater, der sein Kind tötet, ist ein Mörder. Die Tatsache, daß dies auf Gottes Geheiß hin (fast) geschieht, läßt sich nicht beweisen und zur Legitimierung heranziehen. Wie Kant es in seiner Fußnote zum Streit der Fakultäten lakonisch kommentiert, läßt sich die Stimme, die die Kindstötung befiehlt, nicht sicher als göttliche identifizieren. Im Gegenteil, da sie gegen die vernünftigen moralischen Gesetze spricht, liegt es nach Kant sogar nahe, daß es nicht Gottes Stimme ist: Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle. – Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für eine Täuschung halten. [Fußnote:] Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham auf göttlichen Befehl durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes – das arme Kind trug unwissend noch das Holz hinzu – bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: „Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden“, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.“13

12 13

Denkbewegungen, S. 61f. Immanuel Kant Der Streit der Facultäten und andere kleinere Abhandlungen, Köln 1995, S. 78.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

319

In der Diagnose des Dilemmas (implizit14) mit Kant einig, macht der pseudonyme Autor sich dennoch daran, Abrahams Gehorsam zu retten zu versuchen und stellt Überlegungen dazu an, wie mit einer Ausnahme vom moralischen Gesetz umzugehen sei: Gesetze müssen allgemein anwendbar und öffentlich mitteilbar sein. Ruft Gott dazu auf, nicht nur das Gesetz zu brechen, sondern bricht er damit zusätzlich seine eigenen Versprechungen, kann nur ein momentanes Außerkraftsetzen des Ethischen, eine teleologische Suspension, Abraham vor Verurteilung retten. Das hier virulente telos, um dessenwillen das Ethische nicht gilt und welches in allgemeinverständlichen Gesetzen nicht aufgehen kann, ist somit eine Leerstelle sowohl in der Hand13

14

Ein zweites Mal findet sich bei Kant ein Bezug auf Genesis 22 in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft wo es um Wunder geht: Wunder seien entbehrlich und dürfen nicht zur Beglaubigung moralischer Pflichten herangezogen werden. Als Ausschmückung seien sie allerdings hilfreich. Charakteristikum des Wunders sei, daß die Ursache eines Geschehens unbekannt sei und bleibe. Kant unterscheidet theistische von dämonischen Wundern: „Unter diesen sind aber die dämonischen Wunder die allerunverträglichsten mit dem Gebrauche unsrer Vernunft. Denn in Ansehung der theistischen würde sie doch wenigstens noch ein negatives Merkmal für ihren Gebrauch haben können, nämlich daß, wenn etwas als von Gott in einer unmittelbaren Erscheinung desselben geboten vorgestellt wird, das doch geradezu der Moralität widerstreitet, bei allem Anschein eines göttlichen Wunders, es doch nicht ein solches sein könne, (z. B. wenn einem Vater befohlen würde, er solle seinen, so viel er weiß, ganz unschuldigen Sohn töten); bei einem angenommenen dämonischen Wunder aber fällt auch dieses Merkmal weg, und wollte man dagegen für solche das entgegengesetzte positive zum Gebrauch der Vernunft ergreifen: nämlich daß, wenn dadurch eine Einladung zu einer guten Handlung geschieht, die wir ansich schon als Pflicht erkennen, sie nicht von einem bösen Geiste geschehen sei, so würde man doch auch alsdann falsch greifen können; denn dieser verstellt sich, wie man sagt, oft in einen Engel des Lichts.“ Stuttgart 1987, S. 111f.; Allgemeine Anmerkung zum Zweiten Stück, Zweiter Abschnitt. (entspricht S. 120 der 2. Auflage von 1794.) Das oben erwähnte Buch von Green The hidden debt. Kant and Kierkegaard widmet eines seiner Kapitel Furcht und Zittern. Auch hier ist im Hintergrund der Kierkegaardschen Diskussion Kant zu verorten; oft wird dessen Ethik als Modell für das religiös suspendierte Ethische angesehen. Dafür spricht u. a., daß Merkmal des Ethischen seine Universalisierbarkeit ist. Zu beachten ist aber, daß in der Polemik Hegel der Bezugspunkt ist und dessen Auffassung von Moralität explizit angegriffen wird. Wie immer argumentiert Kierkegaard nicht anhand von fremden Positionen, die eindeutig gekennzeichnet sind und schlüssig vorgestellt werden. „Das Ethische“ meint bei ihm mal Moralität (im Sinne der ‚mores‘, der Sitten und Gebräuche), mal das Verantworten der existentiellen Wahl (s. o., I.1.), mal allgemeinverbindliche Gesetze ohne spezifischen Inhalt. Ethik und Moral werden meiner Lektüre nach synonym verwendet, weswegen ich auch keine Differenzierungen vornehmen werde und den Versuch unterlasse, Kierkegaard auf das Niveau der ethischen Diskussion in der Philosophie zu bringen.

320 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi habe von Regeln als auch in der Mitteilbarkeit. Diese Leerstelle wird durch das persönliche Gottesverhältnis des einzelnen Menschen gefüllt und mit absolutem Status versehen. Der Name des Pseudonyms ‚de silentio‘ verweist darauf, daß sich das nicht im Rahmen einer Schrift abhandeln läßt, da sich die entscheidende Größe zwischenmenschlicher Kommunizierbarkeit entzieht. Wenn der Autor weiß, daß er besser schwiege und dennoch geschwätzig daherkommt, widerspricht er sich wie der tractarische Wittgenstein, doch leistet er wie dieser über die Form seines Textes Aufschluß der Problematik: Der Untertitel des Buches ‚dialektische Lyrik‘ spielt sowohl auf eine philosophische Methode als auch auf ein dichterisches Genre an. Tatsächlich gibt der Text weniger eine Erörterung der Problemkonstellation, als deren Präsentation durch verschiedenen Versionen, Nacherzählungen und Anverwandlungen literarischer Beispiele (Faust, Gloster aus Shakespeares Richard III etc.). Keines dieser Stücke ist seinem Original treu, sämtlich werden sie als unpassende Beispiele verworfen und wenige werden zuende erzählt. Wenn das Pseudonym zudem bekennt, Abraham nicht verstehen zu können, entzieht auch es der eigenen Schrift die Autorität eines Autors, der sein Thema sachgemäß verhandeln kann.15 Für meine Thematik wichtig ist eine Geschichte, die einen dämonischen Gegen-Typus zu Abraham entwirft und diesem einen strukturell vergleichbaren und damit verwechselbaren Sonderstatus gibt: Der Meermann in Kierkegaards Version(en) der alten Sage von Agnete und dem Meermann16. Der Meermann nimmt Agnete mit und will sie verführen, wie er es schon mit vielen Mädchen gemacht hat. 15

16

Interessanterweise gibt es ein einziges Parallelbeispiel, das Johannes kurz einbringt aber nicht einschränkt: Maria. S. 60 / SV III 114 / SKS 4, 157. Wie in der oben erwähnten Rede über die Sünderin ist der Hinweis auf Maria sehr knapp und uneingeschränkt positiv. Mir ist keine ausführlichere Diskussion Marias bekannt, man möchte fast Kierkegaards biographisches Mutter-Syndrom damit in Verbindung setzen. Laut Danmarks Gamle Folkeviser, Kjöbenhavn 1856, hrsg. Svend Grundtvig, 2. Band S. 48-55, wurden vier Versionen der Sage aus der mündlichen Zirkulation herausgeschrieben. Es handelt sich um strophig aufgebaute und mit Refrain versehene Texte. Die bekannteste Version geht so: Agnete läßt sich mit dem Meermann ein, zieht zu ihm auf den Meeresgrund und hat sieben Söhne mit ihm. Als sie die Kirchenglocken läuten hört, bittet sie, an Land gehen zu dürfen. Der Meermann willigt ein, doch muß sie versprechen, zurückzukommen. In der Kirche trifft Agnete ihre Mutter, die wissen will, wo sie so lange gewesen ist. Agnete erzählt es ihr und beschreibt ihr Familienglück. Der Meermann kommt, um sie zurück zu holen, und alle Bilder drehen sich zur Wand. Agnete weigert sich, wieder auf den Meeresgrund zu gehen und sehnt sich kein bißchen nach den Söhnen.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

321

Bei Kierkegaard aber bringt er es nicht fertig, da Agnete voller Unschuld mit ihm geht und ihm glaubt, daß er ihr nur das Meer zeigen will. Von diesem Tag an kann der Meermann nicht mehr verführen, seine vorherige Macht ist gebrochen. Wenn er sein bisheriges Leben bereut, ist er längst nicht davon erlöst, denn sein Verhältnis zu Agnete beruht auf seiner verschwiegenen Vergangenheit und Verführernatur. Darin liegt die dämonische Verschlossenheit, strukturell ist sie paradox wie das Gottesverhältnis. Das Dämonische hat dieselbe Eigenschaft wie das Göttliche, daß der Einzelne in ein absolutes Verhältnis zu ihm treten kann. Dies ist die Analogie, das Gegenstück zu jenem Paradox, von welchem wir sprechen. Es hat daher eine gewisse Ähnlichkeit, die täuschen kann.17 Als Amor Psyche verläßt, sagt er zu ihr: Du sollst ein Kind gebären, das ein Götterkind wird, wenn du schweigst, aber ein Mensch, wenn du das Geheimnis verrätst. Der tragische Held, der der Liebling der Ethik ist, er ist der reine Mensch, ihn kann ich auch verstehen, und all sein Vorhaben spielt sich im Offenbaren ab. Gehe ich weiter, dann stoße ich beständig an das Paradox an, das göttliche und das dämonische, denn Schweigen sind beide. Schweigen ist die Bezauberung des Dämons; und je mehr geschwiegen wird, desto furchtbarer wird der Dämon, aber Schweigen ist auch der Gottheit Einverständnis mit dem Einzelnen.18

Die strukturelle Isomorphie von Dämonie und Religiosität hat zur Folge, daß diese beiden Extreme, die einander nicht verschiedener sein könnten, gleichzeitig eine große Nähe aufweisen. Er [der Meermann] wird sich selbst keine Qual ersparen; denn dies ist der tiefe Widerspruch in dem Dämonischen, und in einem gewissen Sinne wohnt unendlich viel mehr Gutes in einem Dämonischen als in den trivialen Menschen.19

16

17 18 19

In København gibt es in einem Kanal eine Unterwasserskulptur des Meermanns mit den sieben Söhnen. Man kann sie je nach Wasserqualität mehr oder weniger gut erkennen. Will man einer der Kierkegaardschen Versionen glauben, so hat Agnete, nachdem sie den Meermann verlassen hat, ein neues Leben als Meer(jung)frau angefangen; vielleicht ist sie es, deren Skulptur heute etwas weiter nördlich am Hafen steht und Touristen lockt. Unglücklicherweise hält man sie für die Heldin eines sexistischen Märchens von H. C. Andersen. Den Anstoß für Kierkegaards Beschäftigung mit diesem Stoff mag eine Aufführung von H. C. Andersens Version gewesen sein (1843). Vgl. SKS K4, 87f. Auch in der Verlobungskorrespondenz spielt diese Sage eine Rolle, in einem Brief vom 9.12.1840 zitiert Kierkegaard eine Ballade von Jens Baggesen, die davon handelt und stilisiert sich zum Meermann. Briefe S. 39f. 35. Abteilung der Hirsch-Ausgabe, Düsseldorf 1955. FZ 90 / SV III, 144 / SKS 4, 186. FZ 81f. / SV III, 135f. / SKS 4, 177f. FZ 90 / SV III, 144 / SKS 4, 186.

322 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Der einzige Unterschied, den man anführen könnte, ist der, daß der dämonische Meermann eigenverschuldet in diese Verschlossenheit geraten ist und potentiell gut und offenbar werden könnte. Agnete wäre in der Lage, ihm zu verzeihen, ihn zu erlösen, so daß er gerettet werden kann und – dank Agnete und mit ihr – wirklich einen neuen Anfang macht und des Guten fähig sein kann. Indes gibt es keinen Zweifel darüber, daß er reden kann.20 Die Bewegungen des Meermanns kann ich deshalb verstehen, während ich Abraham nicht verstehen kann; denn der Meermann kommt gerade durch das Paradox dazu, das Allgemeine realisieren zu wollen. Bleibt er nämlich verborgen, und weiht sich allen Qualen der Reue, dann wird er ein Dämon und ist als solcher vernichtet.21

Anders als beim zwischenmenschlichen Verhältnis (bzw. MenschMeermann-Verhältnis) wird der Mensch im Gottesverhältnis zum Schweigen aufgefordert und jede Offenbarung wäre zum Scheitern verurteilt. Die Offenbarung des Meermanns hingegen wendet ihn ins Positive und gibt die Chance des Neuanfangs, wenn Agnete mitmacht. Gleichwohl übersteigt die dämonische Verschlossenheit wie die religiöse jede ethische Handhabe, weil Reue machtlos ist. Reue ist das Korrelat zur Schuld und funktioniert nur, wenn man in der Lage ist, von sich aus zu den ethischen Prinzipien zurückkehren zu können und des Guten fähig zu sein. Ihr Adressat sind andere Menschen, an denen man schuldig geworden ist und deren Strafe oder Vergebung wieder gut machen lassen. Doch auch dann betrifft sie einen Teil des Selbst; die schlechte Vergangenheit ist konstitutiv dafür, welche Identität man ausgebildet hat. Wirkliche und wirksame Reue verändert somit die Desorganisation des Selbst und verhindert eine Wiederholung der Schuld22. Damit greift sie tiefer als nur einen Fehltritt einer ansonsten guten Natur zu korrigieren, sie erfordert, die eigene, schlechte Identität preiszugeben. Bereits im Teil III war das Thema Sünde mit Bezugnahme auf Kants schlechte Maxime als etwas vorgestellt worden, bei dem Reue nichts auszurichten vermag: Sie bedarf eines anderen Adressaten, nämlich Gott, der dafür sorgen kann, daß das grundsätzlich verdorbene Verhältnis zum Guten wieder behoben wird, so daß man kraft der religiö20 21 22

Ebd. FZ 92 / SV III, 146 / SKS 4, 188f. Das wird im Begriff Angst unter dem Titel „Die Angst vor dem Bösen“ diskutiert; Caput IV, S. 132-138 / SV IV, 381-386 / SKS 4, 415-420; siehe unten V.2. Vgl. dazu Arne Grøn Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1999; besonders S. 50-57.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

323

sen Intervenienz das Ethische zurückerlangt. Ohne sündig geworden zu sein, ist das Abrahams spezifische Bewegung, denn nicht die Opferbereitschaft macht ihn zum Glaubenden, sondern seine Fähigkeit, das dabei suspendierte Ethische wieder in voller Gültigkeit zu akzeptieren und mit Isaak nach Hause zu reiten als wäre nichts gewesen. Bei Abraham gelingt, was der Titel der am selben Tag wie Furcht und Zittern veröffentlichten Schrift nur verheißt, aber nicht einlöst: die Wiederholung. Bezogen auf den Meermann ist Agnete diejenige, kraft derer die dämonisch verspielte Beziehung zum Guten wieder hergestellt werden kann. Agnete besetzt damit – wie die Ehefrau von Nikolaus Notabene in meinem Teil I. 2. – (unausgesprochen) den Ort der Transzendenz, doch darf das auch diesmal nicht in einer gültigen Analogie enden: In einer langen Fußnote entwirft Johannes noch eine Version der Sage von Agnete und dem Meermann, in der der Meermann einsichtig, reuig und nur auf eine Erlösung aus ist. Er weiß, daß ein unschuldiges Mädchen durch ihre Liebe seine Rettung sein kann und nähert sich Agnete. Die aber ist diesmal liederlich und sucht den Meermann auf, um nach allen Regeln der Meermannkunst verführt zu werden; die erhoffte Rettung erweist sich als Anlaß für einen bösen Rückfall. Aber Agnete war kein stilles Mädchen, und sie mochte des Meeres Brausen, und der wehmütige Seufzer an der See behagte ihr nur, weil es noch stärker in ihrem Innern brauste. Sie will fort, fort, wild will sie in das Unendliche hinausstürmen mit dem Meermann, den sie liebt, – da reizt sie den Meermann. Sie verschmäht seine Demut, nun erwacht der Stolz. Und das Meer braust, und die Welle schäumt, und der Meermann umarmt Agnete und stürzt sich mit ihr in den Abgrund. Niemals war er so wild gewesen, niemals so begehrlich; denn durch dieses Mädchen hatte er seine Erlösung erhofft. Bald wurde er Agnetens müde, doch man fand niemals ihre Leiche; denn sie wurde eine Meerfrau, die die Männer verlockte mit ihren Gesängen.23

Durch diese zweite ‚Fußnotenversion‘ nimmt Johannes Agnete die eindeutige Qualifizierung und den Status der rettenden Macht, sie selbst endet in einer dämonischen Version der Ewigkeit als Untote. Kierkegaard markiert seine eigene Deutung der alten Sage als ausgedacht, wenn er ihr eine dämonische Variante mit getauschten Rollen entgegensetzt. Damit kann man nicht ohne weiteres eine Analogie zwischen der Erlösung durch die unschuldige Agnete und der Gnade Gottes aufbauen. Das, worum es geht, geht in keiner erzählbaren Sinnfiguration auf und bedarf anderer Maßnahmen. Das Thema Sünde gehört nicht in den Horizont von Furcht und Zittern und wird nur ganz knapp auf einer Seite eingebrockt, ohne auch 23

FZ 89 / SV III, 143 / SKS 4, 185.

324 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi nur ansatzweise in argumentative Strukturen eingebunden zu werden und im gesamten Ausmaß seiner Brisanz Berücksichtigung zu finden: Wenn nämlich wegen der Sünde die Fähigkeit zum guten Handeln von vornherein verspielt ist, steht nicht nur Abraham als Sonderfall außerhalb des Ethischen, sondern jeder Mensch. Am Beispiel des Meermanns wird vorgeführt, daß Reue nicht greifen kann, da sie weitgehende ethische Zurechnungsfähigkeit und eine Rückkehr zum Gutsein als möglich voraussetzt. Der dämonische Mißstand ist einer, der ohne Einbezug der religiösen Dimension irreparabel bleiben muß, weil das Gottesverhältnis des Menschen gestört ist und der Versöhnung bedarf. Die teleologische Suspension des Ethischen betrifft sicher Abraham, den im positivsten Sinne von Gott Auserwählten, aber auch den Autor des Buches und (je)den Leser. Aufgrund eines verfehlten Gottesverhältnisses gelingt es nicht, das ethische Ideal Wirklichkeit werden zu lassen, weswegen auch Autor und Leser göttlicher Gnade bedürfen, um wieder ins Reine zu kommen. Treffend spricht Johannes von einem „Gegenparadox“24. Eine Ethik, die die Sünde ignoriert, ist eine gänzlich nutzlose Wissenschaft, aber macht sie die Sünde geltend, dann ist sie eo ipso über sich selbst hinaus. […] Sobald ich mich in diesen Sphären bewege, geht alles leicht, aber was hier gesagt ist, erklärt überhaupt nicht Abraham; denn Abraham war nicht durch die Sünde der Einzelne geworden, er war im Gegenteil der gerechte Mann, der Gottes Auserwählter ist. Die Analogie zu Abraham wird sich erst zeigen, nachdem der Einzelne in den Stand gesetzt ist, das Allgemeine tun zu können, und das Paradoxe sich nun wiederholt.25

Letzteres wird nie der Fall sein. Wie immer ist auch die Analogie zwischen Meermann und Abraham eine falsche, da das Auserwähltsein keinen Vergleich duldet. Wenn der pseudonyme Autor immer wieder bekennt, Abraham nicht verstehen zu können und mit der Thematisierung der Ausnahme über seine eigenen Verhältnisse zu denken, lokalisiert er sich selbst in der Phase der ‚unendlichen Resignation‘, d. h. er hat eingesehen, daß religiöse Sonderfälle nicht allgemeinverständlich sein können und daß das Gottesverhältnis eines Menschen nicht mitteilbar ist. Wenn die knappe Seite über die Sünde aber jeden Einzelnen zum Sonderfall macht – wenngleich mit dem verkehrten Vorzeichen des Abfalls von der moralischen Zurechenbarkeit – redet Johannes mit und in seinem Buch mehr von sich selbst als er zugesteht. Es gibt also auch eine unberechtigte Ausnahme, die weder die berechtigte noch sich selber ver24 25

FZ 91 / SV III, 145 / SKS 4, 187: „modparadoxet“. FZ 92 / SV III146 / SKS 4, 188.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

325

stehen kann, weil sie ein gestörtes Verhältnis zum Rechten hat. In einer Fußnote gibt er den Status der Sündenproblematik für seinen Ansatz an und versucht eine Distanznahme: In dem Vorhergehenden habe ich mit Fleiß jedes Hinblicken auf die Frage nach der Sünde und deren Realität ferngehalten. Das Ganze ist gerichtet auf Abraham, und ihm kann ich mich nun nähern in unmittelbaren Kategorien, d. h. soweit ich ihn verstehen kann.26

So gesehen wird Johannes de silentio auch noch unfreiwillig seinem Namen gerecht, und zwar im Sinne der dämonischen Verschlossenheit: Die vielen Beispiele aus Bibel, Sagenwelt und anderer Literatur werden immer wieder als verfehlte verworfen, um neu und anders anzusetzen. Das Problem des Gottesverhältnisses kommt nicht nur durch dieses Ausschlußverfahren ex negativo in den Blick, sondern manifestiert sich dadurch, daß Johannes es auf Abraham projiziert und von sich wegfabuliert, es sogar mit der Märchenformel „Es war einmal …“27 einleitet. Daß sowohl Verstehenwollen als auch Nachdichten von der eigenen verfehlten conditio ablenken, aber gleichzeitig Symptome dieses Mißstands sind, zeigt sich negativ darin, daß die Sündenthematik wie ein Erratum im Text steht. Anders als in der Angstabhandlung ist sie in Furcht und Zittern der (un)heimliche und uneingestandene Fokus des ganzen Buches, wie im Begriff Angst ist die Schrift selbst, das distanznehmende Thematisieren, von der Sünde gezeichnet. Johannes verfehlt die Gründe für Abrahams Handeln genauso wie die für seine Unzulänglichkeit in der Darstellung der dabei virulenten Problematik und kommt deshalb erst gar nicht auf die Idee, das Horazsche „de te fabula narratur“ zu zitieren, wie Vigilius Haufniensis und Kant es tun. Johannes de silentio ist, wenn er schreibt, auf fremdem Terrain, er verläßt seine Heimat, die das Schweigen ist. Das war auch der Fall bei dem anderen geplanten Pseudonym für Furcht und Zittern: Simon Stylita, der syrische Eremit, der 35 Jahre auf einer Säule lebte und in Kierkegaards geplantem Untertitel als „Solotänzer und Privatmann“ firmiert28. Beiden Pseudonymen ist gemeinsam, durch ihre Situation und Lokalisierung ihr eigentliches Vorhaben nicht ausführen können, sie sind fehlplaziert. Bei aller Geschwätzigkeit und den vielen anerzählten, aber schlußlosen schlechten Beispielen verschweigt Johannes tatsächlich die auch ihn betreffende Dringlichkeit, doch holt diese ihn gleichsam hinter-

26 27 28

FZ 92 / SV III 146 / SKS 4, 188. FZ „Stimmung“ (dän.: „Der var engang …“ leistet dasselbe.) SV III, 61 / SKS 4, 105. Pap. IV B 78, 1843.

326 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi rücks, durch die erratischen Bemerkungen zur Sünde, ein. Sein schriftstellerisches Versagen instantiiert die Unfähigkeit, einzusehen daß die eigene, auch nicht zuende erzählbare Geschichte die ist, um die es geht. Der Fehler im Schreiben verweist auf das religiöse Scheitern, bildet es gleichsam ab und teilt das Charakteristikum des Dämonischen, nämlich unfreiwillig offenbar zu werden. Alle Versuche, die eigene Betroffenheit wegzuschreiben waren daran gescheitert, daß keine Erzählung fremder Originale zufriedenstellend zuende kommen konnte, weil Geschichten Fälle zu fertigen, handhabbaren machen. Allein durch die formalen oder institutionellen Vorgaben – ein Buch muß irgendwann zuende kommen, weil es zwischen zwei Deckeln eingefaßt ist, ein Theater muß die Zuschauer irgendwann nach Hause lassen, sogar und gerade ein Fragment steht beim Ganzen in der Pflicht – ergibt sich eine wie auch immer unfreiwillige Geschlossenheit. Dadurch, daß sich Johannes ein Thema einschleicht, das er ein- und ausklammern, für sich verschweigen muß, um es im Rahmen seines Ansatzes dulden zu können, stellt sich genau dieser als unzulänglich und daher symptomatisch heraus. Obschon das Eigentliche ausgespart und wortreich verschwiegen wird, manifestiert es sich im Scheitern gerade des Drumherumredens. Die Sündenthematik ist kein dezidierter Schlüssel des Buches, weil sie außerhalb des Problembewußtseins des Autors liegt. Doch läßt sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf den blinden Fleck der Diskussion um die Ausnahme von moralischer Zurechenbarkeit lenken, indem sie – auch hier wie ein Zeige-Zeichen, welches man gut überlesen könnte – die immer wieder neu und jeden betreffende Brisanz wirksam werden läßt. Aber noch auf eine andere Weise bricht in Furcht und Zittern die unveräußerliche religiöse Innerlichkeit hervor, nämlich auch an Abraham selbst: Obschon er sich nicht anderen erklären kann, zeigt sich in seiner Bereitschaft, seinen Sohn, auf dem alle seine Hoffnungen ruhen, zu opfern, der Gehorsam Gott gegenüber. Und das soll auch so sein, es handelt sich um eine Prüfung wie bei Hiob: „Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“29 Abrahams Glaube schlägt sich im Handeln nieder, er offenbart sich bei einer Prüfung und zeigt sich wie das Verständnis von Wittgensteins niederösterreichischen Grundschülern. Der auf den ersten Seiten von Furcht und Zittern, in der Stimmung, leidenschaftlich geäußerte Wunsch, mitzureiten auf den Berg Morija, um 29

Genesis 22, 12.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

327

Zeuge zu sein, wie sich dieser Glaube manifestiert30, wäre ansonsten allenfalls Verbrechensvoyeurismus. Ein solcher Wunsch nach Zeugenschaft mag Rembrandt getrieben haben, der 1635 und 163631 malte, wie Abraham das Antlitz seines Sohnes mit seiner riesigen Hand verbirgt und das blinkende Messer zückt, ohne damit rechnen zu können, im letzten Moment vom Engel zurückgehalten zu werden. Gleichwohl: dieser Wunsch nach dem Sehen mit eigenen Augen verrät wiederum, wie verfehlt Johannes de silentio das Ganze angeht, nämlich indem er ein fremdes, unverfügbares Gottesverhältnis als Vorbild für sein eigenes heranziehen will und verkennt, sich selbst auch als Ausnahme zu verorten.

V.1.1. Zugabe: Jacques Derrida mit Furcht und Zittern in Donner la mort Meine Lektüre der Seiten über das Dämonische hat die wenigen Sätze über die Sünde zur Schlüsselstelle gemacht und zu zeigen versucht, daß der Sonderfall des als Glaubensvater ausgezeichneten Abraham darüber hinwegtäuscht, daß jeder Mensch in einem einzigartigen Gottesverhältnis steht, welches sündhaft verkehrt ist und die Realisierung des ethischen Ideals unmöglich macht. Damit wirkt das über das Ethische hinausreichende religiöse Telos nicht nur bei Auserwählten in die Forderungen der Pflicht und Verantwortung ein, sondern suspendiert, besser: infiziert diese immer wieder aufgrund einer gestörten Grunddynamik. Jacques Derrida32 diagnostiziert eine ähnliche Konstellation, was durch einen Rückgriff auf Lévinas zustandekommt und die Konse30 31

32

FZ 11, 27, 34 / SV III, 61, 74, 83 / SKS 4, 105. Das frühere Bild hängt in St Petersburg in der Eremitage, das spätere in der Alten Pinakothek in München. Vgl. die Stiche in Derridas Donner la mort s. u. Jacques Derrida „Donner la mort“, in L‘éthique du don, 1992. Deutsche Übersetzung von Hans-Dieter Gondek „Den Tod geben“ in Anselm Haverkamp (Hg.) Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt 1994, S. 331-445. Überarbeitete Fassung: Donner la mort, Paris 1999, die Seitenzahlen hieraus setze ich nach dem Schrägstrich. Es gibt eine Arbeit über Kierkegaard und Derrida, bei der dieser Text im Zentrum steht: Tilman Beyrich Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard, Berlin/ New York 2001. Vor allem die Parallelen zwischen Kierkegaard und Derrida werden herausgearbeitet, beide firmieren unter „Sokrates der Postmoderne“. Gemeinsam sei, daß sie Philosophie und Theologie auf ihr Anderes befragen, daß ihnen der Stil ihrer Schriften wichtig ist und eine religiöse Dimension. Letztere findet Beyrich bei

328 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi quenz hat, daß Ethisches und Religiöses ineinander kollabieren. Wie und mit Kierkegaard sieht Derrida Verantwortung als öffentliche Angelegenheit an, denn sie erfordert, Antwort d. h. Rechenschaft geben zu können auf Fragen nach den Gründen des eigenen Handelns. Aber schon auf dieser Ebene, wenn ein einzigartiger Mensch einem anderen einzigartigen Menschen gegenüber seiner Pflicht nachkommt, nimmt das Dilemma seinen Lauf: Erstens ersetzt die Allgemeinheit der mit der Tat verwirklichten Gesetze die Einzigartigkeit der Beteiligten und zweitens hindert die verantwortliche und gute Handlung am einen mich daran, dasselbe an unzähligen anderen Menschen zu tun, die ebenso einzigartig sind. Gerade dann, wenn man verantwortlich handelt, gerät man in die Aporie, durch das Antwort geben die Singularität des Anderen zu verraten. Schon auf dieser zwischenmenschlichen Ebene wirkt das Paradox, daß ich opfern muß, wenn ich gerecht sein will, daß Verantwortung unverantwortliche Unterlassung kostet33. Mit der Realisierung der Pflicht verrät man sie jedes Mal, oder, mit Kierkegaards Worten, das Ethische wird mit jedem Vollzug immer auch suspendiert. Hierfür eine Rechtfertigung zu finden ist genauso unmöglich wie für Abraham. Ohne die erratischen Sätze über die Sünde im Ausmaß ihrer Brisanz einzubeziehen, kommt Derrida mit Kierkegaard zu einer Steigerung von dessen Ansatz, die ebenfalls einen Sonderfall im Normalfall verortet. Gott, der ganz Andere, wird zum Stellvertreter, zum Namen34, für alles, was als Anderer mich anspricht und in die Pflicht nimmt. Derrida geht sogar so weit, Orte, Tiere und Sprachen35 den Status der absolut gebietenden Instanz zu geben. Immer dann, wenn man hier ist und nicht dort, wenn man dies Tier füttert und nicht die vielen anderen oder wenn man eine Sprache spricht und dafür unzählige gar nicht kennenlernen kann, wenn man einer monotheistischen Religion anhängt und die anderen für unwahr

32

33

34 35

Kierkegaard konturierter, weil unverkennbar sei, daß ein Lutheraner schreibe. Bei Derrida sei der Bezug zur Theologie offener und deshalb zu befragen, vor allem im Hinblick auf die Kierkegaard-Lektüre. „Les simples concepts d‘alterité et de singularité sont constitutifs aussi bien du concept de devoir que de celui de responsabilité. lls vouent a priori les concepts de responsabilité, de décision ou de devoir au paradoxe, au scandale et à l‘aporie.“ p. 98. Das französische „vouer“, übersetzt mit „überantworten“, kann auch widmen, weihen, ausliefern, verdammen heißen und trifft die Aporie gut. Derrida greift dies wieder auf, wenn er Recht und Gerechtigkeit diskutiert in Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt 1996. S. 395 / p. 95 und 97. S. 398 / p. 99ff.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

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hält, bringt man Opfer, die nicht zu rechtfertigen sind. Die ethische Allgemeinheit fällt „dem Paradox Abrahams zur Beute“36, weil sie von sich aus nie realisierbar ist und durch inflationär gesteigerte Ausnahmen jegliche gerechtfertigte Anwendung verunmöglicht. „Le sacrifice d‘Isaac continue tous le jours“37, weil mit jeder Aneignung allen anderen Möglichkeiten der Status der verantwortlichen abgestritten wird. Die Formel „tout autre est tout autre“38, übersetzbar mit „Jeder andere ist ganz anders“, verknappt dieses Paradox in einer Tautologie, die Heterologie ist. Der wichtige Unterschied zwischen Kierkegaard und Derrida liegt meiner Ansicht nach darin, daß bei ersterem der sündhaft des Ethischen nicht mehr mächtige, handelnde Mensch zum nicht zu rechtfertigenden Sonderfall wird, während Derrida (wie Lévinas) vom Gegenüber, dem ganz Anderen in einer extrem ausgeweiteten Auffassung ausgehend die unfaßbare Einzigartigkeit behauptet. Derrida macht klar, daß er der von Kierkegaard an Abraham aufgezeigten Problematik eine andere, darüberhinausgehende Gewichtung zukommen läßt, diese „sichert dem Text Kierkegaards vergrößerte Macht“39. Die Parallelisierung mit Lévinas läßt ihn bei beiden diagnostizieren, daß die Grenze zwischen Ethischem und Religiösem nicht aufrechtzuerhalten ist. Si chaque homme est tout autre, si chaque autre, ou tout autre, est tout autre, alors on ne peut plus distinguer entre une prétendue généralité de l‘éthique, qu‘il faudrait sacrifier dans le sacrifice, et la foi qui se tourne vers Dieu seul, comme tout autre, en se détournant des devoirs humains.40

Die Art und Weise, wie Ethisches und Religiöses zusammenhängen, ist aber bei Derrida und Lévinas anders als bei Kierkegaard. Die Engführung von Kierkegaard und Lévinas, wie sie in Donner la mort passiert, läßt Kierkegaard etwas zugute kommen, das er nicht leistet – im Gegenteil, das er rigoros ignoriert. Da dieser blinde Fleck das Projekt der indirekten Mitteilung ad absurdum führt, will ich ihn im folgenden herausarbeiten. Dabei wird deutlich werden, daß und wie Kierkegard seine radikale Auffassung von verborgener Innerlichkeit notgedrungen einschränken muß.

36 37 38 39 40

S. 405 / p. 110. 397 / p. 100. S. 405 und 408f., wo die möglichen Aspekte dieses Satzes entwickelt werden. S. 405. S. 410 / p 117.

330 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Wie meine Seiten über das Dämonische in Furcht und Zittern deutlich werden ließen, qualifiziert das Religiöse das Ethische allenfalls, indem es dessen Realisierbarkeit beeinträchtigt. In der Sünde liegt die Wurzel dieser Affizierung/Infizierung, welche das gute Handeln in Mitleidenschaft zieht, so daß hier wie dort die Versöhnung mit Gott allein Abhilfe schaffen kann. Letztlich ist es nicht um der Mitmenschen willen, denen man gerade dann nicht gerecht wird, wenn man versucht, gerecht zu sein, sondern einzig um Gottes willen, daß die religiös verspielte Fähigkeit der Pflicht nachzukommen, beklagenswert ist. Der Andere ist nur Gott, er findet keine Analogie oder Wiederholung seines Anspruchs im menschlichen Gegenüber. Aufschlußreich ist das Unbehagen Lévinas‘ Kierkegaard gegenüber: Was mich an Kierkegaard irritiert, betrifft zwei Punkte. Erster Punkt: Kierkegaard rehabilitiert die Subjektivität, das Einzelne, das Einmalige, mit unvergleichlicher Kraft. Doch indem er gegen die Absorption der Subjektivität in der Hegelschen Universalität protestiert, versieht er die Geschichte der Philosophie mit exhibitionistischem, schamlosem Subjektivismus. Meinem Eindruck nach resultieren die Anziehungskraft, die auf uns der späte Heidegger ausübt, sowie die Attraktivität des Neohegelianismus und des Marxismus, vielleicht sogar die des Strukturalismus – selbstverständlich nur zum Teil! – aus einer Reaktion gegen diese ganz nackte Subjektivität, die alle Formen verwirft, um nicht im Universalen sich zu verlieren. Zweiter Punkt: Was mich an Kierkegaard schockiert, ist seine Gewalttätigkeit. Diese Art, gewaltig und gewaltsam aufzutreten, ohne Rücksicht auf Skandale und Verluste, ist seit Kierkegaard, also schon vor Nietzsche, in der Philosophie üblich. Philosophie mit dem Hammer. In diesem permanenten Skandal, in solcher Opposition zu allem, vernehme ich schon Anklänge gewisser verbaler Gewalttätigkeiten, die sich als Denken und als rein ausgaben. Ich meine dabei nicht nur den Nationalsozialismus, sondern alle Denkformen, die von ihm ausgingen. Diese Härte bei Kierkegaard entsteht genau an der Stelle, wo er „über die Ethik hinausgeht“. […] Ethik als Bewußtsein einer Verantwortung für den Nächsten – wie ja auch Jeanne Hersch ganz richtig von der unendlichen Verpflichtung sprach, die uns zur Verantwortung ruft, ohne daß jemand für uns einspringen könnte -, weit entfernt davon, uns in der Allgemeinheit aufgehen zu lassen, vereinzelt uns vielmehr, setzt uns als einmaliges Individuum, als Ich. Diese Erfahrung scheint Kierkegaard nicht zu kennen, da er den ethischen Standpunkt als einen allgemeinen überwinden will.41

41

Emmanuel Lévinas „Zur Lebendigkeit Kierkegaards“, in Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München 1991, S. 74-78. Jamie Ferreira meint, Levinas‘ zumeist kritischen Töne Kierkegaard gegenüber täuschten darüber hinweg, daß die Ansätze beider einander nahe stünden: Reziprozität und Symmetrie des Verhältnisses zweier Menschen werde hier wie da verworfen – anders als beispielsweise bei Buber und Ricœur. Unterschiedlich sei allerdings die Bewertung der Gleichheit: Kierkegaard befürworte sie, Lévinas nicht, um dem Anderen ungleich größeres Gewicht einzuräumen. Doch auch hier lasse sich ein gemeinsames Anliegen feststellen. „Asymmetry and Self-love: The Challenge to Reciprocity and Equality“, in Kierkegaard Studies Yearbook 1998, pp. 41-59.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

331

Derrida kennt Lévinas‘ Position gut genug, er zitiert sie in einer seiner Fußnoten42 in einer weniger empörten Pointierung. Bereits vor gut dreißig Jahren hatte er versucht, Kierkegaard Lévinas gegenüber zu verteidigen. Mit Rückgriff auf Husserl, von dem Lévinas sich abzusetzen versucht, weist Derrida darauf hin, daß der Andere als Ich verstanden werden muß, als alter ego, um in seiner Spezifik von allem, was sonst noch anders ist, hervorgehoben zu werden. Die bei Husserl geschilderte Annäherung an den Anderen im Sinne einer „intentionale[n] Modifikation des ego“43 sei unumgänglich, sei „irreduzible Gewalt des Bezugs zum Andern“44, um ihn in seiner Qualität als ego, das zu meinem irreduzibel ist, gelten zu lassen. Ähnlich ist der Tenor auch bezogen auf Kierkegaard: Der Philosoph Kierkegaard plädiert nicht nur für Sören Kierkegaard […] sondern für die subjektive Existenz im allgemeinen (nicht widersprüchliche Aussage), und deshalb ist sein Diskurs ein philosophischer und gehört nicht dem empirischen Egoismus an. Der Name eines philosophischen Subjektes ist immer, wenn es Ich sagt, in gewisser Weise ein Pseudonym. […] Fügen wir noch hinzu, um Kierkegaard Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß er eine gewisse Ahnung vom Verhältnis zur Irreduzibilität des schlechthin Andern hatte, nicht im egoistischen und ästhetischen Diesseits, sondern im religiösen Jenseits des Begriffs: bezüglich eines gewissen Abraham.45

Trotz dieses Wohlwollens ist auffallend, daß Derrida – anders als wenn er Husserl heranzieht- bei Kierkegaard nicht auf den Versuch einer Bezugnahme auf einen mitmenschlichen Anderen verweist – wie auch immer gewaltsam die Anerkennung von dessen Irreduzibilität sich auch notwendigerweise gestalten müßte. Das liegt daran, daß es nichts vergleichbares gibt; die immer wieder gegen Kierkegaard erhobenen Vorwürfe des absolut übersteigerten Subjektivismus sind durchaus berechtigt. Dies wird besonders drastisch deutlich, wenn Kierkegaard in seinem 1847, (also fast zeitgleich mit dem Kommunistischen Manifest) autonym publizierten Buch Der Liebe Tun das christliche Nächstenliebegebot im Stil der erbaulichen Reden meditiert und diskutiert: Auf vielen Seiten wird der Gegensatz zwischen der zwischenmenschlich-sinnliche Liebe (dän.: Elskov) und der religiösen Nächstenliebe (dän.: Kjerlighed)46 entworfen: Erstere ist abhängig vom Geliebten 42 43 44 45 46

S. 444 Fußnote 30 / p. 110f. Die Schrift und die Differenz, S. 190. (Essay: „Gewalt und Metaphysik“, S. 121-235.) Ebd., S. 195. Ebd., S. 168f. Hirsch versucht, diesem Unterschied dadurch Rechnung zu tragen, daß er ‚elskov‘ mit ‚Minne‘ übersetzt und ‚kjerlighed‘ mit ‚Liebe‘.

332 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi als ihrem Gegenstand und droht bei dessen Veränderung aufzuhören. Sie wird vom Dichter besungen, braucht schöne Worte zur Beglaubigung und will sich durch Liebesbeweise vergewissern. Sie ist nichts weiter als eine Vorliebe, die verkappte Selbstliebe ist und in Haß oder Eifersucht umschlagen kann. Mit Rückgriff auf Kant könnte man sagen, daß der Partner Mittel zum Zweck ist und deshalb keine ihm gemäße Achtung erfährt.47 Man bangt um das rechte Maß der Gegenliebe, versucht, einen Vergleich anzustellen und will keine ‚Fehlinvestition‘ der eigenen Emotionen riskieren. Ob eine solche Liebe gelingt, ist davon abhängig, ob man zufälligerweise jemanden trifft, mit dem die Balance stimmt und der sich glücklicherweise nicht signifikant ändert. Der Geliebte ist als alter ego Spiegel der Selbstliebe, aber nicht der Andere, dessen man sich nie bemächtigen kann. Der im strengsten Sinne nur sich selbst Liebende liebt im Grunde auch das andere Ich, denn das andere Ich ist er selbst.48

Tritt es aber ein, daß die Liebe schwindet, so ist rein zwischenmenschlich nichts zu retten. Der Dichter kann trostlose Lieder singen und nur noch bedauern, was einmal war und nicht mehr ist. Ganz anders bei der christlichen Nächstenliebe: Sie ist als Pflicht geboten, d. h. sie kommt nicht durch persönliche Neigung zustande und besteht unabhängig von den Qualitäten und Eigenschaften des Anderen. So ist sie gesichert gegen Veränderungen und nicht angewiesen auf Gegenliebe. Ihr eigentlicher Adressat ist Gott, der als „Zwischenbestimmung“49 die Qualität und Dauer sichert. Sie tritt nicht in Konkurrenz zu Freundschaft und Partnerschaft, weil diese nur echt sind, wenn der Geliebte vor allem als Nächster geliebt wird. Nein, liebe den Geliebten treu und innig, aber laß die Liebe zum Nächsten in eurer Vereinigung Bund mit Gott das Heiligmachende sein; liebe deinen Freund aufrichtig und hingebend, aber laß die Liebe zum Nächsten das sein, was ihr voneinander lernt in der Freundschaft Vertraulichkeit mit Gott!50

Damit unterscheidet sich der persönlich Nahestehende nicht wesentlich von allen anderen Menschen, denn jeder ist mein Nächster. Daß 47

48 49 50

Mit kantischen Argumenten konfrontiert Alastair Hannay Kierkegaards Der Liebe Tun. In Kierkegaard, Kapitel VII „Love of One‘s Neighbour“, pp. 241-275. Der Liebe Tun 65f. / SV IX, 59. LT 119 / SV IX, 104 u. ö. LT 71 / SV IX, 64.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

333

man den vielen Nächsten nicht gleichermaßen liebend begegnen kann, daß man also gezwungenermaßen Prioritäten setzt und viele zu kurz kommen läßt, kommt Kierkegaard nicht als Problem in den Sinn. Da man nur Gott Rechenschaft schuldet, gelten menschliche Vorstellungen von Gerechtigkeit wenig. Letztlich spielt der andere Mensch an sich, in seinen Eigenschaften und Besonderheiten, keine Rolle, er ist antlitzlos51. Weder sein Verhalten, noch seine Abwesenheit oder Tod tun der Pflichterfüllung Abbruch, er ist abstrakt und wird auf seine Funktion, Nächster zu sein, reduziert. Insofern ist es, um des Gedankens willen, nicht einmal nötig, daß der Nächste zugegen ist. Wenn ein Mensch auf einer einsamen Insel lebte und wofern er dann seinen Sinn nach dem Gebot bildete, so könnte man von ihm sagen, er liebe den Nächsten, indem er der Selbstliebe absage.52 […] aber in der Nächstenliebe hältst du mit Gott zusammen, deshalb kann der Tod dir den Nächsten nicht rauben.53

Es ist sogar so, daß die Liebe zu den Toten, da sie weder mit Gegenliebe rechnen kann noch aus anderen, der Liebe äußerlichen Gründen aufrechterhalten wird, sich als ausgezeichnetes Beispiel für Nächstenliebe eignet. Der Liebe Tun, eines Verstorbenen zu gedenken, ist ein Tun der uneigennützigsten Liebe. Wenn man sich davon überzeugen will, daß Liebe gänzlich uneigennützig ist, so kann man ja jede Möglichkeit der Wiedervergeltung entfernen. Aber diese fällt eben weg im Verhältnis zu einem Verstorbenen. Bleibt dann die Liebe gleichwohl gegenwärtig, so ist sie in Wahrheit uneigennützig.54 Um recht zu prüfen, ob die Liebe in einem Menschen treu ist, kann man ja alles entfernen, womit der Gegenstand ihm auf irgendeine Weise helfen könnte, treu zu sein. Aber das alles fällt eben weg im Verhältnis zu einem Verstorbenen, der kein wirklicher Gegenstand ist, wofern dann die Liebe bleibt, ist diese Liebe die treueste.55

51

52 53 54 55

Auf den oben erwähnten Gemälden Rembrandts deckt Abraham Isaaks Gesicht mit der Hand vollkommen ab. Man sieht am unteren Bildrand quer den bleichen Körper wie eine anonyme Leiche. Derrida schreibt: „Rede und Blick in einem, ist das Gesicht also nicht in der Welt, da es die Totalität eröffnet und übersteigt. Deshalb kennzeichnet es auch die Grenze aller Macht, aller Gewalt, wie auch den Ursprung der Ethik. In einem gewissen Sinn wendet sich der Mord immer an das Gesicht.“ in Die Schrift und die Differenz, S. 159. LT 25 / SV IX, 25. LT 74 / SV IX, 67. LT 382 / SV IX, 330f. LT 388f. / SV IX, 336.

334 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Tatsächlich wird diese Liebe durch ihren „Gegenstand“ (dän.: Gjenstand)56, wie es oft heißt, kein bißchen geprägt und betrifft unterschiedslos alle Mitmenschen gleichermaßen. Da nämlich der Nächste jeder Mensch ist, unbedingt jeder Mensch, so sind ja alle Unterschiede von dem Gegenstand fortgenommen und also ist diese Liebe gerade daran kenntlich, daß ihr Gegenstand ohne irgendeine nähere Bestimmung der Unterschiedlichkeit ist, was heißen will, daß diese Liebe nur an der Liebe kenntlich ist.57 Wenn […] das Verlangen der Liebe in einem Menschen dahingeht, alle zu lieben, so ist sie ein Verlangen und dies Verlangen ist so machtvoll, daß es so ist, als ob es seinen Gegenstand beinahe selbst hervorbringen könnte.58

Wenn also zwischenmenschliche Liebe nur als Nächstenliebe etwas taugt, wenn Nächstenliebe ihrem Gegenstand gegenüber indifferent ist, weil sie ein Mittel des Gottesverhältnisses ist, wenn dies nur den Einzelnen betrifft, verliert jede Art von Gemeinschaft ihre Relevanz. Besitzt nämlich die Partnerschaft oder eine andere Art der zwischenmenschlichen Beziehung oder Gruppierung eine spezifische eigene Qualität, so tritt sie in Konkurrenz zur Gottesbeziehung und lenkt ab von deren absoluter Dringlichkeit. Was die Welt unter dem Namen „Liebe“ ehrt und liebt, ist Gesellung in Selbstliebe. Die Gesellung erfordert auch Opfer und Hingebung von dem, welchen sie liebevoll nennen soll; sie fordert, daß er einen Teil der eigenen Selbstliebe opfere, um sich dann in der 56

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Pia Soltøft will dafür argumentieren, daß es Kierkegaard in Der Liebe Tun gelänge, eine Ethik zu entwickeln, die weder an Kants Formalismus kranke, noch an Lévinas‘ Überbetonung der Präsenz des Anderen. Deshalb ordnet sie die zitierten Fälle auf der einsamen Insel und die Liebe zu den Toten als Testfälle ein, die nur zeigen sollen, wie wahre christliche Liebe funktioniert. (Was auch so formuliert im Text steht: LT 380 / SV IX, 329.) Im Normalfall nämlich ist jede Relation reziprok und unentwirrbar, so daß es schwerfällt, nur einen der Involvierten auf seine Liebe hin zu untersuchen. Sie weist zu Recht darauf hin, daß die Pflicht vollzogen werden soll; immerhin bezieht der erste Teil des Buches sich auf Lukas 6, 44 und beruft sich auf die Kenntlichkeit an den Früchten. [An dieser Stelle könnte man wieder mit Wittgenstein einhaken: Nächstenliebe zeigt sich, ist aber nicht an bestimmten Worten oder Taten kriteriell festzumachen.] Obschon der konkrete Andere für die Verwirklichung der gebotenen Nächstenliebe folglich unabdingbar ist, bleibt er auch bei Pia Soltøft der Gegenstand, an dem die Liebe ausagiert wird, sie spricht oft von „object“ und sogar von „target“ (p. 126) und läßt dies unproblematisiert. Aber genau diese Wortwahl indiziert, daß bei Kierkgaard die spezifische Weise der Präsenz des Anderen, die Lévinas unübertroffen als Anrede mit appellativer Qualität charakterisiert, ignoriert wird. Dem Du wird keine Initiative zugestanden, welche für das Selbst konstitutiv wird, es wird zum Objekt. „The Presence of the absent neighbor in Works of Love“, in Kierkegaard Yearbook 1998, pp. 113-128. LT 76 / SV IX, 68. Ebd.

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vereinten Selbstliebe zu gesellen, und sie fordert, daß er das Gottesverhältnis opfere, um sich weltlich zu gesellen mit der Gesellung, welche Gott ausschließt oder ihn höchstens um des frommen Scheins willen mitnimmt.59 Und deshalb heißt, einen anderen Menschen lieben, ihm zur Gottesliebe zu helfen, und geliebt werden heißt, daß einem dazu geholfen wird.60

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wieso jede der erbaulichen Reden im Vorwort ‚jenen Einzelnen‘ als Leser begrüßt. Abgesehen von der plumpen Identifizierung mit Regine Olsen (was das geschlechtsneutrale dänische „hiin Enkelte“ erlaubt), erhebt Kierkegaard den Einzelnen zu seiner „Kategorie“ und beschreibt diese im Rahmen seiner Schriften über sich selbst auf 25 Seiten61: Wieder macht Kierkegaard einen Gegensatz zwischen weltlicher und religiöser Dimension auf und stellt den Einzelnen der Politik entgegen: Zusammen mit anderen Menschen gehe der Einzelne in der Masse (dän. „mængde“)62 auf und rotte sich in Verantwortungslosigkeit zusammen. Das Bestreben, auf gesellschaftlicher Ebene Gleichheit zu erlangen, gilt als grundsätzlich verfehlt, weil weltlich Verschiedenheit unter den Menschen nicht zu tilgen sei. Deshalb müssten sie sich als Individuum preisgeben, in der Menge untertauchen und zu einem bloßen Exemplar der Gruppe absorbiert werden. Denn die Menge ist ein Abstraktum, das keine Hände hat, […]63

Das Kollektiv stellt sich als gesellschaftliches Äquivalent der Systemphilosophie heraus und funktioniert wie diese nur vereinahmend und qualitative Differenzen nivellierend. Hier wie dort herrsche eine abstrakte Totalität, die durch falsche Maßnahmen und Ziele zustandekommt: Genauso, wie begriffliches Denken Wahrheit nicht erfassen könne, könne Politik keine Gerechtigkeit herstellen. Kierkegaards Polemik verläuft in beiden Fällen ähnlich undifferenziert und vernichtend.

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LT 133 / SV IX, 115f. LT 134 / SV IX117. Vgl. Pap. IX B 63. „Ich für meinen Teil wäre bereit, vor jedem einzelnen Menschen, der mit mir im Lande lebt, unbedingt jedem einzelnen Menschen, wo ich dazu imstande wäre, in Gottes Namen schriftlich wie mündlich, so tief wie möglich mich zu demütigen, ihn kniefällig zu bitten er möge sein Gottesverhältnis bedenken. Denn jeden einzelnen Menschen ehren heißt Gott fürchten, wohingegen jede Versammlung bewußt oder unbewußt einen Hang hat, sich für einen Gott machen zu wollen auf daß man sie mehr fürchte als den Gott.“ SS 96ff. / SV XIII, 589ff. „Der Einzelne“. Zwei „Noten“ betreffs meiner Wirksamkeit als Schriftsteller von S. Kierkegaard. SS 97 / SV XIII, 589. SS 101 / SV XIII, 594.

336 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Wieder einmal spielt Kierkegaard Dänisch, wenn er klarstellt, daß die wahre Menschlichkeit (dän.: menneskelighed) Menschen-Gleichheit (dän.: menneske-lighed) sei, die nur vor Gott bestehen könne. Was Politik sich zum Ziel setze, könne sie mit ihren Mitteln nie erreichen. Strebe sie es dennoch an, so bringe sie nur den dämonischen Doppelgänger der Gleichheit vor Gott hervor: Nivellierung64. […] das Religiöse ist der Ewigkeit verklärte Wiedergabe des schönsten Traumes der Politik. […] Nur das Religiöse kann vermöge der Hilfe des Ewigen bis ins Letzte Menschgleichheit, Menschlichkeit durchführen, die gottgemäße, die wesentliche, die nicht-weltliche, die wahre, die einzig mögliche Menschgleichheit, Menschlichkeit; und darum ist auch – es sei gesagt zu seiner Verherrlichung – das Religiöse die wahre Menschlichkeit.65

Genauso wie die Vorliebe auf zwischenmenschlicher Ebene berge auch die Gesellschaft die Gefahr, den Akzent vom Einzelnen vor Gott auf die Beziehung unter Menschen zu verlagern und zu verkennen, daß das Wesentliche im scheinbar Unbedeutenden liegt. Kierkegaard will darauf hinaus, daß es angebracht ist, von einer scheinbaren Geringfügigkeit wie dem einzelnen Menschen „soviel Wesens“66 zu machen, denn in Wahrheit sei er wesentlich. Er wünscht sich sogar als Aufschrift für seinen Grabstein „hiin Enkelte“67 (was aber nicht draufsteht, weil im Testament etwas anderes gewünscht wird). Ostentativ und wie einen Slogan wiederholt er „Menge ist die Unwahrheit.“ Wenn man sein Gottesverhältnis im Reinen hat, ergibt sich für Kierkegaard die bestmögliche soziale Struktur von alleine, weil auch deren maßgebliche Instanz der transzendente Bezug des Einzelnen ist. Es läßt sich kein Ansatz zu einer positiven Qualifizierung des Zwischenmenschlichen finden, die nicht dem alles an Relevanz überbietenden Gottesverhältnis des Einzelnen nachgeordnet wäre, weder im kleinen Rahmen der Zweierbeziehung, noch als kirchliche Gemeinde und schon gar nicht auf gesellschaftlich-politischer Ebene. Auch dann, wenn man kein Verfechter der Befreiungstheologie ist, kommt 64

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Kierkegaards Romankritik der Zwei Zeitalter von Thomasine Gyllembourg, auf die ich in den Fußnoten zum Buch über Adler (Teil V. 4, s. u.) zurückkommen werde, wird wie die Andersen-Kritik viel zu lang und gewinnt eine eigene Stoßrichtung: die Kritik der Gegenwart. Unter diesem Titel erschien Kierkegaards Analyse seiner Zeitgenossen mit dem Vorwurf der Nivellierung von Theodor Haecker übersetzt und mit einem übel polemischen Nachwort von Haecker bzgl dessen (intellektuelle) Zeitgenossen im Brenner. (1914) In der Werkausgabe von Emanuel Hirsch hat die Gyllembourg-Kritik den Titel: Eine literarische Anzeige. SS 97 / SV XIII 489f. SS 108 / SV XIII, 600. SS 113 / SV XIII, 604.

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man kaum darum herum, Kierkegaards Ignoranz dem Sozialen gegenüber festzuhalten. Bemerkenswert ist, daß er diesen möglichen Vorwurf antizipiert hat und ihm stattgegeben hat – allerdings bevor er Der Liebe Tun schrieb, das dem abhelfen sollte.68 Diese Ausführungen zeigen, daß ein anderer Mensch nicht zum ganz Anderen werden kann, wie Gott es ist, weil er entweder als Nächster oder als Masse eine Rolle spielt, nie aber eine Instanz wird, die mir absolute Verantwortung abverlangt. (Von Tieren, Orten und Sprachen – um Himmels willen – ganz zu schweigen.) Der ganz Andere kennt keine Varianten, er ist absolut und dazu muß er einzig und allmächtig sein. Ansonsten führt die absolute Verpflichtung, wenn sie mehreren gegenüber besteht, zu einer Konstellation, die der klassischen ethischen Dilemmasituation, wie sie den tragischen Helden herausfordert, strukturell verwandt aber komplizierter ist: Zwar muß man sich nicht zwischen zwei Ordnungen des Guten entscheiden, aber zwischen zwei und mehr Dringlichkeiten, für deren Abwägung keine Handhabe zu gewinnen ist. Dies ist bei Derrida das Problem. Der andere Mensch hat bei Kierkegaard nicht wirklich den Status des Anderen, denn er ist nur als Nächster, an welchem sich mein Gottesverhältnis bewähren muß, belangvoll. Wenn die radikale Einzigartigkeit den Einzelnen in seinem Gottesverhältnis auszeichnet, interessiert diesen der andere Mensch nur, insofern auch jener in einem solchen Verhältnis steht. Um seiner selbst willen gilt die Aufmerksamkeit des existierenden Sünders dem Mitmenschen nur insofern, als dessen ‚Selbst‘ ein von Gott gesetztes ist und der Mitmensch Nächster ist. Die ethische Verpflichtung muß letztlich nichts anderes als eine indirekte Form der Gottesliebe sein. Die Opferung Isaaks ist dafür ein gutes Beispiel, weil Isaak lange vor dem ersten Tag seines Lebens in Abrahams Gottesverhältnis integriert war, nämlich in dem wiederholten Versprechen zahlreicher Nachkommenschaft69. Es ist so verstanden auch nicht verwunderlich, 68 69

Pap. VIII 1 A 4 (1847) Zur Erinnerung: Als sich die oft versprochene Nachkommenschaft bei Abraham und seiner Frau Sara nicht einstellt, versucht Abraham dem auf eigene Faust Abhilfe zu schaffen und zeugt einen Sohn mit der ägyptischen Magd Hagar. (Genesis 16) Bald gibt es Reibereien zwischen Hagar und Sara, so daß die Magd mitsamt ihrem Bankert Ismael in die Wüste geschickt wird. Provisorisch darf sie zwar zurückkommen, aber sobald Isaak geboren ist, werden sie wieder verwiesen. (Genesis 21) Aber sie müssen nicht verdursten und obschon Ismael ein Haudegen ist (Genesis 16, 12), wird auch ihm eine zahlreiche Nachkommenschaft propheziehen, weil er Abrahams Sohn ist (Gen. 21, 13)

338 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi daß Abraham, der sich in der Episode von Sodom und Gomorra70 als gewiefter Verhandlungspartner mit Gott bewährt hat, diesmal keinerlei Anstalten macht, eine vergleichbare Kungelei in Gang zu bringen. Genesis 22 ist undramatisch und nüchtern, kennt kein Zögern und kein Lamento wie das Hiobs, welches immerhin Gott provoziert hat, seine Position als Regisseur des Welttheaters zu verlassen, um im Bühnengeschehen eine donnernd hörbare Rolle zu spielen. Mit Kierkegaard ist also nicht zu haben, was Derrida beispielsweise in diesem Zitat meint, wenn er seine Formel „tout autre est tout autre“ erörtert: In einem Fall definiert man Gott als unendlich anders, als den ganz anderen. Im andern Fall erklärt man, daß jeder andere, nämlich jeder der anderen Gott ist, da er, wie Gott, ganz anders ist.71

Auch dann, wenn man einer absoluten Verantwortung nachkommt auf Kosten einer anderen, ohne zwischen beiden eine Meßbarkeit oder Verrechenbarkeit zu beanspruchen, bewirkt eine Pluralisierung des Absoluten eine Beeinträchtigung (da Verweltlichung, Vermenschlichung, Versprachlichung), die für Kierkegaard außer Frage steht. Nur insofern sein Gottesverhältnis einzigartig ist, ist es auch der andere Mensch, aber darin sind sich alle gleich. Das Unding einer (indirekten) Mitteilung, die dies zu befördern helfen will, gräbt sich wie die Nächstenliebe deshalb selbst das Wasser ab, da sie sich einmischt in das, was als unverfügbar und entzogen längst eingesehen wurde. Kierkegaard zieht die Parallele ganz explizit und vergleicht seine Strategie des Sprechens ohne Autorität mit seinem Beispiel der Liebe zu den Toten, denn in beiden Fällen werde provoziert, daß Innerlichkeit sich zuverlässig zeigt: Wofern du einen Menschen zu Gesicht bekämst, der in vollem Ernst Luftstreiche führte, oder wofern du einen Tänzer dazu brächtest, den Tanz allein zu tanzen, könntest du seine Bewegungen am besten beobachten, besser, als wenn er sich mit einem wirklichen anderen Menschen schlüge, oder wenn er mit einem wirklichen Menschen tanzte. 69

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71

Natürlich kann Kierkegaard seine radikale nicht-Darstellung des Glaubensritters am Beispiel Abraham nicht dadurch einschränken, daß er diese Kapitel einbezieht. Isaak wäre nicht der einzige Sohn und Abraham wächst in seine Rolle erst langsam hinein. Genesis 18: Gott hört von den vielen Sünden in Sodom und will eingreifen. Adam fragt: „Willst du denn den Gerechten mit den Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein […]“(Vers 23f.) Gott stimmt zu, daß die 50 Gerechten es wert sind, zu vergeben. Abraham handelt schrittweise herunter bis er bei zehn Gerechten ist. Lévinas (a. a. O., S. 76) hätte diese Stelle gerne bei Kierkegaard berücksichtigt gesehen. Donner la mort S. 413 / p. 121.

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Und falls du die Kunst verstehst, dich im Gespräch mit jemandem zu einem „Niemand“ zu machen, so erfährst du am besten, was in diesem Menschen wohnt. O, aber wenn ein Mensch sich zu einem Verstorbenen verhält, so ist in diesem Verhältnis nur einer zugegen, denn ein Verstorbener ist keine Wirklichkeit; niemand, niemand kann sich so gut zu seinem „Niemand“ machen, wie ein Verstorbener, denn er ist „Niemand“.72

Daß die Mitteilungsproblematik zutiefst mit der Nächstenliebe verschwistert ist, zeigt sich schon allein daran, daß in beiden Fällen der Mensch in Konkurrenz zu Gott tritt: Als Autor muß er sich zunichte machen, um den Leser allein zur Instanz seiner Sinnfindung werden zu lassen, als Nächster darf der Mitmensch nicht in seiner Individualität geliebt und anderen vorgezogen werden, weil er dann nicht um Gottes willen geliebt wird. Bemerkenswert genug ist, daß Der Liebe Tun zeitgleich mit den Vorlesungsentwürfen zur Mitteilung in Arbeit war.73 In letzteren heißt es: Stehen – allein mit der Hilfe eines Anderen. und alleine stehen – mit der Hilfe eines Anderen. Das letzte ist das maieutische Verhältnis, deshalb ist auch das Ironische in der Formel, während die erste Formel ein direktes Verhältnis und eine direkte Aussage ist. Es gibt daher auch keinen Grund, im ersten Fall den Gedankenstrich zu verwenden, da das Ganze zusammengehört. Aber alleine stehen – mit der Hilfe eines Anderen ist eine Formel für Ironie.74

Wie so häufig bringt Kierkegaard eine Problematik in einem Buch auf den Punkt, wo sie kein Thema ist und nur nebenher erwähnt wird: Überhaupt kann der eine Mensch den andern Menschen niemals ganz persönlich verstehen. Jeder Dritte (und das ist ja der eine Mensch stets im Verhältnis zum andern) versteht immer die Mitteilung irgendwie allgemeiner. Mehr darf der eine Mensch vom andern auch nicht verlangen; und jede entwickelte Persönlichkeit wird im Besitz der in dieser Hinsicht notwendigen Entsagung sein, um im Umgang mit andern leben zu können. Scheinbar ist es eine Unvollkommenheit des irdischen Lebens, daß sich dergestalt der einzelne Mensch andern nicht gänzlich, nicht im letzten Grunde verständlich machen kann; bei näherem Hinschauen wird man sich wohl davon überzeugen, daß es eine Vollkommenheit ist, weil es darauf hinweist, daß jeder Einzelne religiös angelegt ist und danach streben soll, sich selbst zu verstehen im Vertrauen auf Gott.75

Diese Stelle macht in Klammern explizit, was schon bei meiner Besprechung der Angstabhandlung aufgefallen war, nämlich, daß Kier72 73

74 75

LT, 380f. / SV IX, 329. Pap.VIII 1 A 82. (1847) „Ich könnte jetzt Lust haben einen kleinen Kurs von 12 Vorlesungen zu halten: über die Dialektik der Mitteilung. Danach 12 Vorlesungen: über die [zwischenmenschliche] Liebe, Freundschaft, [christliche] Liebe.“ Pap. VIII B 82, 15. BÜA, 107f. / p. 178.

340 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi kegaard keinen Vokativ, kein Du, kennt. Während bei Lévinas der Anspruch und Blick des Anderen mich erst als Selbst konstituiert und als Reflex der göttlichen Stimme gleichsam ins Leben ruft, darf bei Kierkegaard nicht einmal Gott im Paradies eine appellative Qualität seiner Präsenz für Adam haben76. Diese Kompromißlosigkeit hat nicht nur Lévinas‘ Kritik hervorgerufen, sie drückt sich oft in der Zuschreibung einer akosmischen und/oder formalistischen Ethik aus. Martin Buber beispielweise argumentiert ganz ähnlich wie Lévinas, wenn er Kierkegaard vorwirft, zwischen dem Angesprochensein durch Gott und durch einen anderen Menschen keinerlei Analogie zu finden. Das menschliche Gegenüber werde als Konkurrent zu Gott verstanden und müsse deshalb zum unwesentlichen degradiert werden. Buber zieht als symptomatisch für diese unangebrachte Rigorisität Kierkegaards Leben heran und – was naheliegt – die gekündigte Verlobung. Gott will, daß wir durch die Reginen, die er erschaffen hat, und nicht durch die Lossagung von ihnen zu ihm kommen.77

In der Ehe sieht Buber den Eintritt in ein entschiedenes und anerkennendes Verhältnis zum Anderen, denn es werde Ernst gemacht damit, daß der Andere in seinem unverfügbaren Sosein gewollt werde. Nur in einer Bindung wird die Rechtmäßigkeit des Andersseins affirmiert und eine menschliche Gemeinschaft gestiftet, die nicht der anonymen Menge anheimfällt.78 Wie Lévinas und Derrida plädiert Buber dafür, in der ethischen Dimension des Zwischenmenschlichen eine religiöse Qualität zu verorten und die Trennschärfe zwischen diesen beiden Sphären nicht hermetisch zu konzipieren. Erwähnenswert ist noch Adorno, der anders als Buber vor allem die mangelnde Berücksichtigung der Gesellschaft beklagt und seinen auch andernorts gemachten Vorwurf „objektlose Innerlichkeit“ auch bezüglich Der Liebe Tun anbringt: Liebe wird für Kierkegaard zur Qualität reiner Innerlichkeit. Er geht aus von dem christlichen Gebot der Liebe „Du sollst lieben“ und interpretiert es, indem er allen 76 77

78

s. o. Teil III. 4. „Die Frage an den Einzelnen“, in Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1973, S. 218. Daß sich die Regine-Geschichte nicht auf diesen einzigen Nenner bringen läßt, ignoriert Buber. Abgesehen davon habe ich noch keine Diskussion dieser biographischen Episode gefunden, die beachtenswert ist und nicht nur dazu herangezogen wird, um einen relativ simplen Schlüssel für ansonsten irritierend diffizile Texte zu finden. Ebd., S. 232f. und 238.

V.1. Agnete und der Meermann in Furcht und Zittern

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Nachdruck auf seine abstrakte Allgemeinheit legt. Das Objekt der Liebe wird in gewissem Sinne gleichgültig. (…) Das christliche Liebesgebot richtet sich nach Kierkegaards Exegese auf den Menschen schlechthin, ohne Ansehung seiner spezifischen Beschaffenheit, auch ohne Ansehung irgendwelcher natürlicher Neigung zu einem bestimmten Menschen. Der andere Mensch wird für die Liebe das, was in Kierkegaards Philosophie die ganze äußere Welt ist, ein bloßer „Anstoß“ für die subjektive Innerlichkeit. Diese kennt eigentlich keine Objekte: die Substantialität der Liebe ist objektlos.79

Adorno spürt in mehrerlei Hinsicht auf, wie diese Einseitigkeit von ihrem unterdrückten dialektischen Gegenpart hinterrücks eingeholt wird, sei es als Natur, als Heidentum, als Abstraktion vom konkreten Nächsten.80 Die Taten der Liebe seien ohnmächtige Praxis und unterwürfen sich dem schlechten Gegebenen, liefen Gefahr auch selbst der Verdinglichung anheimzufallen. Schließlich diagnostiziert er Kierkegaards Liebesauffassung als Symptom der gesellschaftlichen Mißstände, wie es vor allem an der Liebe zu den Toten sich manifestiert: In der Tauschgesellschaft könne nicht einmal Liebe sich der ökonomischen Gesetzmäßigkeit entziehen und werde absurderweise nur da lebendig, wo keine Gegenleistung möglich ist, d. h. es gebe sie nurmehr als Trauer. Kaum verwunderlich ist es, daß Derrida nicht mehr auf Kierkegaard sondern auf Carl Schmitt zurückgreift, um ausgehend vom Matthäusevangelium die Frage nach der Gerechtigkeit angesichts der suspendierten Reziprozität von Geben und Nehmen zu stellen. Carl Schmitt weist darauf hin, daß die Lehre Christi von der Nächstenliebe keine politische Dimension habe, was Derrida irritiert, indem er die Trennschärfe zwischen dem privaten und öffentlichen in Frage stellt. Diese Problematik entfällt dem Kierkegaardschen Horizont, da es nicht einmal auf der Mikro-Ebene einer Ich-Du Relation eine Gemeinschaft gibt, die Beachtung verdient.81 79

80 81

„Kierkegaards Lehre von der Liebe“, (1940), Abgedruckt als ‚Erste Beilage‘ in Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (1933) Frankfurt 1986, S. 217-236. Ebd., S. 221ff. Anderer Meinung sind viele Autoren der Sammelbände: Foundations of Kierkegaard‘s Vision of Community. Religion, Ethics and Politics in Kierkegaard, eds.: George B. Connell and C. Stephen Evans, London/New Jersey 1992, der International Kierkegaard Commentary 14 (Two Ages), Macon 1984, ed.: Robert L. Perkins sowie Matustík / Westphal (eds.) Kierkegaard in Post/Modernity, Indiana 1995. Viele dieser Arbeiten sind sorgfältig und aufschlußreich, doch illustrieren sie alle, daß ein beträchtlicher Aufwand nötig ist, um Kierkegaard eine soziale und politische Seite abzugewinnen. Auch wenn das an einigen Stelle überzeugend gelingt, geht es nie so weit, diesen Aspekten des Menschseins eine eigene Qualität zuzugestehen; stets sind sie Derivate des Religiösen, diesem nachgeordnet, von ihm abhängig.

342 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi V.2. Der Begriff Angst: Dämonie in ihrer Affinität zum ‚Glaubensritter‘ Anders als in Furcht und Zittern ist die Sünde Hauptthema der Angstabhandlung, wie bereits in Teil III ausführlich besprochen. Dort hatte ich vor allem behandelt, wie die erste Sünde passiert und daß sie jedes Mal qualitativ neu einsetzt und Sündigkeit in die Welt bringt. Die im Großteil des Begriff Angst vorgestellten Spielarten von sündhafter Existenz nach dem Fall waren bislang kaum vorgekommen. Die extreme Form postlapsarischer Angst ist die Dämonie, wie sie kurz vor dem Schlußkapitel vorgestellt wird. Wie in Furcht und Zittern handelt es sich um eine Verschlossenheit, die eine beträchtliche Affinität zur religiösen verborgenen Innerlichkeit aufweist. Während die Angstabhandlung verweigert, ein positives Beispiel religiös erlöster und angstfreier Existenz zu schildern und auch deren wichtigste Kriterien schuldig bleibt (s. o. III. 6. ), gibt es einen Versuch in Furcht und Zittern, der ‚Ritter des Glaubens‘. Ich werde im folgenden die Physiognomie der dämonischen Existenz im Begriff Angst skizzieren und dann auf den Glaubensritter zu sprechen kommen. Das Dämonische ist eine Spielart, die im Rahmen der Unterscheidung der ‚Angst vor dem Guten‘ und ‚Angst vor dem Bösen‘ in Caput IV82 vorgestellt wird. Der bedeutend kürzere § 1 „Angst vor dem Bösen“ diskutiert die stets bestehende Gefahr, neue Sünden zu begehen, trotz des Wissens um die eigenen bereits begangenen Fälle. Wie tief ein Individuum auch gesunken ist – es kann noch tiefer sinken, und dieses ‚kann‘ ist der Gegenstand der Angst. Je mehr die Angst hier erschlafft, um so mehr heißt das, daß die Konsequenz der Sünde dem Individuum in succum et sanguinem übergegangen ist und daß die Sünde in der Individualität Heimatrecht bekommen hat.83

Reue hat keine Macht darüber, denn sie betrifft nur im Nachhinein bereits begangene Sünden ohne gegen Angst, d. h. neue Fälle, wirkungsvoll sein zu können. Wie in Furcht und Zittern ist Reue eine Sache der Ethik, die aber der religiös verspielten Fähigkeit zum Guten nicht abhelfen kann. Die anfangs vorgeführten akademischen Herangehensweisen sind damit genauso irrelevant wie moralische Gesetze und stehen erst recht im Zeichen des Falls, wenn sie ihn falsch verorten und Zuständigkeit reklamieren. Hier wie dort ist jedoch das

82 83

BA 130ff.; SV IV, 379-420 / SKS 4, 413-453; §§ 1+2 des Caput IV. BA 133 / SV IV, 382 / SKS 4, 416.

V.2. Der Begriff Angst: Dämonie in ihrer Affinität zum ‚Glaubensritter‘

343

Scheitern konstitutiv dafür, die Beschaffenheit der Sünde besser einschätzen zu können: Wenn der Schwindel der Angst Zurechenbarkeit zugleich voraussetzt und unterläuft, bedarf es einer anderen als der ethischen ‚Grammatik‘, um dem Problem beizukommen. Das dazu komplementäre Phänomen ist die ‚Angst vor dem Guten‘, das Dämonische. Es gibt Anlaß zu neuen Unterklassifizierungen und beansprucht mehr Seiten als die Angst vor dem Bösen, denn es kann alle Bereiche des Selbst affizieren: den Körper, die Seele und den Geist. Damit erfordert auch das Dämonische mehrere Zuständigkeiten, nämlich die der Medizin, der Ethik und der Metaphysik84. Aber wieder bietet sich unter Rückgriff auf diese jeweiligen ‚Grammatiken‘ an, es mißzuverstehen und in die Abwegigkeit krankhafter Symptome oder schicksalhafter Unabänderlichkeiten zu verlagern, um sich selbst dazu wie zu einem fremden Phänomen zu verhalten. Das Dämonische erweist sich so als Steigerung der grundsätzlichen Sündenproblematik und deren bedrohlichste Manifestation. Daß drei so unterschiedliche Betrachtungsweisen möglich sind, beweist die Zweideutigkeit des Phänomens, das also in gewisser Weise in alle Sphären gehört, in das Somatische, Psychische, Pneumatische. Dies deutet darauf hin, daß das Dämonische einen weitaus größeren Umfang hat, als allgemein angenommen, was sich daraus erklären läßt, daß der Mensch eine Synthese aus Seele und Körper ist, getragen vom Geist, weshalb sich die Desorganisation des einen auch im übrigen zeigt. Doch wenn der Mensch auf den Umfang des Dämonischen erst einmal aufmerksam wird, dann stellt es sich vielleicht heraus, daß mehrere von jenen, die dieses Phänomen behandeln wollen, selbst darunter fallen und daß sich bei jedem Menschen Spuren davon finden, so gewiß wie jeder Mensch ein Sünder ist. Da aber das Dämonische im Laufe der Zeiten vielerlei Dinge bedeutet hat und schließlich so weit avanciert ist, daß es alles beliebige bedeutet, wird es wohl am besten sein, den Begriff ein wenig zu bestimmen.85

Charakteristisch ist für das Dämonische, daß es eine in sich verschlossene Unfreiheit ist. Das Selbst hat sich konstituiert unter Ausschluß der Möglichkeit der Freiheit und erlebt es als bedrohlich für seine Identität, daß freies Handeln als die potentielle Realisierbarkeit des Guten dennoch immer wieder aufkommt. Da die Beziehung zur (verlorenen) Freiheit nicht zu tilgen ist, wird die dämonische Verschlossenheit unfreiwillig offenbar. Angst entsteht genau dann, wenn die Unfreiheit sich damit konfrontiert sieht, immer noch die Chance der Freiheit zu haben, aber sie als fremde, aus der eigenen Konstitution wegdefinierte, erleben muß. Genau dieses Verharren in der Unfrei84 85

Vgl. BA 140ff. / SV IV, 388ff. / SKS 4, 421ff. BA 143 / SV IV, 390 / SKS 4, 423f.

344 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi heit ist nämlich Resultat einer freien Kapazität bzw. einer Kapazität, die der Freiheit fähig wäre; auch dämonische Verschlossenheit ist ein Selbstverhältnis. Wieder ist Freiheit etwas, das sich manifestiert und an entsprechenden Handlungen äußerlich kenntlich sein kann. Anders als bei der verborgenen Innerlichkeit des Religiösen ist ethische Zurechenbarkeit ausweisbar und öffentlich kommunizierbar. Das Dämonische nun ist verborgen wie das Religiöse, aber es kann nicht umhin, offenbar zu werden. In einem an Dostoevskijs Raskolnikov86 gemahnenden Szenario bringt Vigilius Haufniensis, das Pseudonym vom Begriff Angst, ein Beispiel: Ein verstockter Verbrecher will nicht zum Bekenntnis schreiten (das Dämonische liegt gerade darin, daß er sich weigert, mit dem Guten durch Erleiden der Strafe zu kommunizieren). Es gibt eine Methode gegen einen solchen Menschen, die vielleicht seltener angewandt wird, nämlich Schweigen und die Macht des Auges. Wenn ein Inquisitor soviel körperliche Kraft und geistige Elastizität besitzt, daß er ohne Erschlaffung seines Muskelspiels auszuhalten vermag, auch wenn das Verhör sechzehn Stunden dauert, dann wird er es am Ende erreichen, daß das Geständnis unwillkürlich hervorbricht. Kein Mensch mit einem schlechten Gewissen kann Schweigen ertragen. Sperrt man ihn in ein einsames Gefängnis ein, dann stumpft er sich selber ab. Doch jenes Schweigen, wenn der Richter zur Stelle ist, wenn die Sekretäre warten, um das Protokoll aufzunehmen, das ist die tiefsinnigste und scharfsinnigste Frage, die entsetzlichste Folter, und dennoch eine erlaubte, keineswegs aber so leicht zu bewerkstelligen, wie man annimmt. Einzig und allein fähig, die Verschlossenheit zum Reden zu zwingen, ist entweder ein höherer Dämon (denn jeder Teufel regiert zu seiner Zeit) oder das Gute, das absolut schweigen kann.87

Wenn die Verschlossenheit offenbar wird, ist sie nicht mehr dämonisch, sondern insofern gut, als sie dessen Merkmal, nämlich das Offenbarwerden und damit die Merkmalsfähigkeit und Allgemeinverständlichkeit, teilt. Deshalb zeigt sich darin die Fähigkeit zum Guten und das Verhältnis zur zwar verlorenen aber möglichen Freiheit. Die Offenbarung ist hier das Gute, denn sie ist der erste Ausdruck der Erlösung.88

Aber es wird wieder schwierig: das Gute kann einerseits „absolut schweigen“, wie es oben geheißen hat, und andererseits zeigt es sich in der Offenbarung. Entsprechend kann das Schweigen für die dämonische Verschlossenheit genauso kennzeichnend sein, wie für die religi86 87 88

Das ist der Held von Verbrechen und Strafe, er kam bereits in Teil II eingangs vor. BA 146 / SV IV, 392 / SKS 4/ 426. BA 149 / SV IV, 395 / SKS 4, 428. Genau das wird auch für Verzweiflung gelten: sobald sie sich zeigt, ist sie überwunden und alle ihre Kriterien sind „dialektisch“ (s. u. KT S. 24)

V.2. Der Begriff Angst: Dämonie in ihrer Affinität zum ‚Glaubensritter‘

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öse verborgene Innerlichkeit89. Kaum verwunderlich ist es also, wenn Vigilius wieder einmal aufhört, seine Klassifizierungen und Differenzierungen weiterzutreiben. Doch ich wage nicht, weiter fortzufahren – wie sollte ich damit fertig werden, das Schweigen der Verschlossenheit auch nur algebraisch zu benennen, geschweige denn es zu schildern, es zu brechen, um die Monologe der Verschlossenheit hörbar werden zu lassen; denn eben der Monolog ist ihre Rede, und daher sagt man, um einen Verschlossenen zu bezeichnen: Er redet mit sich selbst. Dagegen bemühe ich mich hier lediglich, „allem einen Sinn, doch keine Zunge“ zu geben, wie der verschlossene Hamlet seine beiden Freunde ermahnt.90

Vigilius gerät mit seinen Überlegungen schon wieder genau in die konfuse Problematik und den Verdacht, selbst die dämonische Beredsamkeit aus Verschlossenheit an den Tag zu legen. Bereits in meinem Teil III hatte er sich als Geistloser herausgestellt, dessen Rede aller zuverlässigen Signifikanz entkoppelt wird und von der tückischen Doppeldeutigkeit befallen ist, welche sie als sündhafte Verführung nicht nur neutral konstatieren kann. Adorno hatte – ohne dabei das Dämonische zu thematisieren – die Gefahr monologischer Redseligkeit in unterschiedlichem Maße ausgeprägt in Kierkegaards Schriften diagnostiziert: Redseligkeit ist die Gefahr von Kierkegaards Produktion insgesamt: die Redseligkeit eines unendlichen Monologs, der gewissermaßen keinen Einspruch von außen zuläßt und ohne Zäsur, ja eigentlich ohne Artikulation in sich selber kreist.91

Wenn Vigilius auf die verkappten und offensichtlichen Wahnsinnsmonologe Hamlets, in denen Polonius die Methode ahnt, anspielt, zeigt 89

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91

Ganz häufig stehen Reden und Schweigen bei Kierkegaard in einer Gegenüberstellung: Reden ist Indiz dafür, daß jemand nicht umsetzt, wovon er spricht, während Schweigen den auszeichnet, der in Entschlossenheit handelt. „Jedermann versteht sehr wohl, daß Handeln etwas weit Größeres ist als darüber Sprechen; ist er daher seiner selbst sicher, daß er es zu tun vermag, und hat er sich entschlossen, es zu tun, so spricht er nicht darüber. Dasjenige, darüber ein Mensch in Beziehung aufs Handeln spricht, ist genau das, darinnen er seiner selbst nicht sicher ist.“ Kleine Schriften 1848/49, ZKA, 80; vgl. S. 36ff. und S. 42f. / SV XI, 60, 14, 19. BA 150 / SV IV, 395 / SKS 4, 429. Kierkegaard zitiert wie immer Shakespeare in der Übersetzung von Schlegel/Tieck auf Deutsch. Kierkegaard (a. a. O.), S. 218. Peter Fenves nimmt dieses Syndrom bei Kierkegaard als Titel seines Buches „Chatter“. Language and History in Kierkegaard, 1993. Er untersucht, wie Sprache bei Kierkegaard allen Konzeptualisierungsversuchen trotzt und ohne substantielle Bedeutung zu erlangen, Funktionen zu erfüllen oder Gewichtungen vorzunehmen, leerläuft und im freien Spiel allerhand anrichtet, was sich durch keine Intention des Sprechenden mehr decken läßt. Als verwandte Phänomene nennt er Zungenreden oder Psychoanalyse.

346 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi er sich wieder als von seinem Thema betroffen: Hamlets Reden sind wie die pseudo-akademischen Anstrengungen der Angstabhandlung ein Versuch, dem Platz zu lassen, was man nicht dingfest machen kann weswegen man ihm umso tückischer verfallen ist. Schließlich bietet auch Hamlet dem Freund Horatio eine Alternative zur Schulweisheit: „And therefore as a stranger give it welcome“.92 Das Horatio anempfohlene Willkommenheißen wäre eines, das nicht (ein)begreifen will sondern sich dem (noch) nicht Einordbaren öffnet. Die einzige Chance sowohl für dämonische Verschlossenheit als auch religiöse Innerlichkeit ist, ein allerhöchstens Entworfenes, aber nicht als wahr Behauptetes zuzulassen, mit dem Risiko der Preisgabe all dessen, was bisher Gültigkeit hatte.93 Trotzdem geht es weiter mit einem neuen Charakteristikum, das sich ebenfalls im Laufe der Diskussion als untauglich erweist: Das Offenbarwerden des Dämonischen geschieht plötzlich und zusammenhanglos. Weil Rede kontinuierlich in der Zeit verläuft und immer die Ambivalenz des Offenbarwerdens (also des Guten) hat, vermag sich das Dämonische verbal nicht hinreichend darzustellen. Nicht die entsetzlichsten Worte, die aus dem Abgrund der Bosheit ertönen, vermögen jene Wirkung hervorzubringen, wie sie die Plötzlichkeit des Sprungs erreicht, die im Bereich des Mimischen liegt. Auch wenn das Wort entsetzlich ist, auch wenn das Schweigen von einem Shakespeare, einem Byron, einem Shelley gebrochen wird, das Wort behält stets eine erlösende Macht; denn alle Verzweiflung und aller Schrecken des Bösen, die ein Wort enthalten kann, sind nicht so schrecklich wie das Schweigen. […] Was für einen Horror packt einen doch, wenn man Mephistopheles zum Fenster hereinspringen und in der Stellung des Sprungs verharren sieht! Dieser Satz im Sprung, der an den Sprung des Raubvogels und des Raubtiers erinnert, der den Zuschauer doppelt entsetzt, weil er gewöhnlich aus einem vollkommenen Stillstand hervorbricht, ist

92 93

Hamlet I,5. Als Beispiel für Dämonie kommt Hamlet nicht eigens vor; andernorts gibt Kierkegaard zu verstehen, daß er ihn für eine unglückliche Mixtur hält, die man weder ästhetisch noch religiös unterbringen könne: „Börne sagt von Hamlet, daß es ein christliches Drama ist. Dies ist meines Dafürhaltens eine besonders gute Bemerkung. Ich setze dafür lediglich das Wort ‚ein religiöses Drama‘ ein, und will also sagen: ‚der Fehler ist nicht, daß Hamlet das ist, sondern, daß Hamlet das nicht geworden ist, oder richtiger, daß er überhaupt kein Drama sein dürfte.‘“. Als Dämonischer hätte Hamlet seinen Plan beherzt umgesetzt und wäre tauglich für ästhetische Tragik. Durch das Zögern kommt eine religiöse Dimension ins Spiel, da es keine äußeren Umstände sind, die die Tat vereiteln. Dadurch aber kann es im Drama nicht ausagiert werden. Vgl. Stadien auf des Lebens Weg II, 482 / SV VI, 421. Oben (Teil III. 2. 1.) hatte ich bereits Pap. 44 V A 46 zitiert, wo Hamlet der Kandidat eines dänischen Anfangs in der Philosophie gilt: nicht wie Hegel mit dem Nichts sondern zwischen Himmel und Erde, mit dem inter-esse, habe der Anfang zu sein.

V.2. Der Begriff Angst: Dämonie in ihrer Affinität zum ‚Glaubensritter‘

347

von unendlicher Wirkung. Deshalb sollte Mephistopheles möglichst wenig gehen, weil das Gehen selbst eine Art Übergang zum Sprung darstellt und eine geahnte Möglichkeit des Sprunges enthält.94

Die Darstellung des Dämonischen geht am besten durch einen Sprung, also das, was gemeinhin als Spezifikum des Religiösen mit Kierkegaard in Verbindung gebracht wird.95 Aber genau das ist er nicht, er findet sich an unterschiedlichen Stellen im Œuvre und zwar immer dann, wenn es einen Übergang als unvermittelbar und nicht kontinuierlich festzuhalten gilt. So ist der ‚Augenblick‘, d. h. wenn das Ewige in die Zeit einbricht (z. B. bei der Menschwerdung Gottes96) ebenfalls als plötzlich und als Sprung charakterisiert.97 Eine Parallelstelle findet dies in Furcht und Zittern, wo das Pseudonym Johannes de silentio versucht, einen religiösen Menschen zu beschreiben. Das Problem dabei ist, daß dies eine Frage der Innerlichkeit ist, die unkenntlich bleibt, weswegen, wie beim Dämonischen, jeder zweite möglicherweise ein Beispiel dafür ist. Der „Ritter des Glaubens“ wirkt wie ein Spießbürger, dessen Interesse nicht über die Annehmlichkeiten des Lebens hinausreicht und dessen Bezug aufs Ewige keinerlei Spuren im Lebenswandel hinterläßt. In den wenigen Seiten über ihn werden ihm als mögliche Berufe Steuereintreiber, Schreiber, Postbote, Kapitalist, Restaurator zugeschrieben; alles welche, die mit Vermittlung, Mitteln, Medien zu tun haben. Anders als Mephisto geht der Glaubensritter, tritt fest auf, gehört der Alltäglichkeit an. Dennoch ist er einer, der einen Sprung vollzogen hat, sich vom Endlichen gelöst hat, ohne es als die eigene Welt zu leugnen. Sein Gehen ist ein latenter Sprung, eine unmerkliche Verabschiedung der Schwerkraft, welche deren Macht gleichzeitig kein bißchen zu bewältigen vorgibt. Der Sprung wird vollzogen ohne merklichen Ansatz, ohne Schwanken, so daß man meint, er habe nie stattgefunden.

94 95 96

97

BA 154 / SV IV, 398 / SKS 4, 432f. Vgl. dazu meinen Teil IV ‚Wittgensteins Sprung‘, besonders die ersten Seiten. Die Philosophischen Brocken beschäftigen sich eingehend damit. Ein anderes Beispiel für den ‚Augenblick‘ findet sich in einer der frommen Reden von 1849 Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel: Ausgehend von Matthäus 6, 24-34, wo es heißt man möge sich nicht um den morgigen Tag sorgen und sich ein Beispiel an Vogel und Lilie nehmen, versucht Kierkegaard genau das. Lilie und Vogel können Menschen lehren, zu schweigen, auszuharren, zu leiden und stets für den Augenblick bereit zu sein, an dem das Ewige in die Zeit einbricht. Kleine Schriften 1848/49, LF 40f. / SV XI, 18. Caput III. Sprung: S. 99 / SV IV, 354 / SKS 4, 388; Plötzliches: S. 103 / SV IV, 357 / SKS 4, 391.

348 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Für einen Tänzer wäre es die schwierigste Aufgabe, sich in eine bestimmte Stellung einzuspringen, und zwar so, daß er keine Sekunde erst nach der Stellung greifen muß, sondern mit dem Sprunge selbst die Stellung innehat. Vielleicht bekommt das kein Tänzer fertig, – jener Ritter macht es.98

Mephistopheles macht es auch. Nun sind der Glaubensritter und Mephisto nicht im selben Buch und diese parallele Lektüre zeigt allenfalls, daß es tatsächlich keinen Sinn macht, vom ‚Sprung des Glaubens‘ als terminus technicus Kierkegaardschen Denkens zu sprechen. Mephistos Sprung wird beschrieben, um eine Darstellung zu finden, die nicht sprachlich ist, denn dabei ist Kontinuität in der Zeit unvermeidlich. Der Effekt des Plötzlichen muß sitzen, deshalb soll Mephisto nicht gehen. Ganz anders der Glaubensritter: seinen Sprung merkt man nicht, denn er vollzieht sich unbemerkt in jedem Schritt. Und wieder verhaspelt sich eines der Kierkegaardschen Pseudonyme in der Behauptung der Kenntlichkeit des Religiösen an der Unkenntlichkeit und verrät seine eigene verfehlte Auffassung durch den Wunsch nach Zeugenschaft. Man braucht sie nicht in der Luft zu sehen, man braucht sie bloß in dem Augenblick zu sehen, da sie den Boden berühren und berührt haben, – und man erkennt sie. Aber so niederfallen, daß es in derselben Sekunde so aussieht, als stünde und ginge man, den Sprung im Leben zu einem Gang verwandeln, absolut das Sublime im Pedestren ausdrücken, – das kann nur jener Ritter, – und dies ist das einzige Wunder.99

Ob sich ein solch sublimes Gehen als Tanz100 ausmacht und eine elegante Weise ist, damit umzugehen, daß jeder Schritt ein Fall ist, wird nicht gesagt.101 Noch ein drittes Charakteristikum trifft sowohl auf das Dämonische als auch den Glaubensritter zu, beide sind langweilig.102 98 99 100 101 102

FZ „Vorläufige Expectoration“, S. 36 / SV III, 91 / SKS 4, 135. FZ 37 / SV III, 92 / SKS 4, 136. Vgl. EO 2/2, S. 328 + 269 / SV II/ 227+276 / SKS 2, 241+290. Vgl. PB 38 / Kapitel III und Pap V C 6 (1844) BA 155 / SV IV, 399 / SKS 4, 433 und FZ SV III, 89f. / SKS 4, 133f. Symptomatisch für die dämonische Doppelung des Religiösen in der Angstabhandlung ist eine Gelehrtenauseinandersetzung, bei der einer dem anderen vorwirft, den religiösen Glauben wie das Dämonische zu beschreiben und dabei die eigentliche Spezifik unberücksichtigt zu lassen. Es werden Versuche gestartet, das eine vom andern kriteriell abzugrenzen, um eine Gegenüberstellung klar konturiert herauszuarbeiten. Ohne diese Argumentation im Einzelnen nachzuzeichnen, ist mir wichtig herauszustellen, daß die Debatte sich daran entzündet, daß einer den Kierkegaardschen Ambivalenzen aufsitzt und zu einer Vermengung des Dämonischen und des Religiösen kommt. Das merkt der andere und etabliert trennscharfe Unterscheidungen,

V.3. Die Krankheit zum Tode: dämonische Maieutik

349

V.3. Die Krankheit zum Tode: dämonische Maieutik Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen, Und was für eine Verrichtung, sprach ich, hat es? Zu verdolmetschen und zu überbringen den Göttern was von den Menschen und den Menschen, was von den Göttern kommt Symposion 202e

Ganz ähnlich wie in der Angstabhandlung wird in diesem Buch das Spektrum möglicher verfehlter Selbstverhältnisse entworfen. Wieder entpuppen sie sich allesamt als mißglückte Gottesverhältnisse und lassen sich nur durch die Akzeptanz und Aktivierung eines transzendenten Bezugs, der für das eigene Selbst konstitutiv war und bleibt, retten. Obschon die dämonische Spielart hier nur sehr kurz verhandelt wird, läßt sich wieder eine grundsätzliche Betroffenheit aller Menschen diagnostizieren. So gerät der Schreibende, das Pseudonym Anti-Climacus, ebenfalls in die Symptomatik hinein, er nominiert den Dichter insgesamt als Gegenstück zur religiösen Existenz und bringt explizit die Relevanz des Erratum zur Sprache. Kierkegaard geht sogar so weit, in den biblischen Texten fehlerhafte Schilderung und schlechte Sprache zu finden, um dort wie in den eigenen Texten die Aporie einer dichterischen Eigenproduktivität zu sehen, die in ihrem maieutischen Anliegen der ‚Rede von Gott‘ nicht umhin kann, anmaßend und mißlich – letztlich dämonisch – zu sein. Der Titel dieses Buchs ist aus dem Johannesevangelium 11, es hat die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus als Aufhänger und Rahmen. Die „Krankheit zum Tode“ von der dort die Rede ist, ist mit dem Pseudonym Anti-Climacus als Verzweiflung zu verstehen103. In 102

103

die sich mit dem, was Kierkegaard bietet, nicht eindeutig decken lassen, sondern eher davon unterlaufen werden. Beide wollen nicht sehen, daß die größten Extreme gerade deshalb tückisch und dämonisch sind, weil ihre Kenntlichkeit gefährdet und grundsätzlich einem Fehlurteil ausgesetzt ist. Vgl. Ronald C. Hall „Language and Freedom: Kierkegaard‘s Analysis of the Demonic in the Concept of Anxiety“, in International Kierkegaard Commentary, Macon 1987, pp. 153-166. Er bezieht sich auf Mark Taylor Kierkegaard‘s pseudonymous Authorship. A Study of Time and the Self, Princeton University Press 1975. Eine gründliche und strenge Durcharbeitung von der Verzweiflungsanalyse in der KT hat Michael Theunissen gegeben: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt 1993 und Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt 1991. Das Kierkegaard Studies Yearbook 1997 widmet sich auch vornehmlich der KT.

350 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi den einleitenden Kapiteln, in denen die Problemkonstellation mit Hilfe der Kranheitsanalogie skizziert wird, erweist sich die Verzweiflung als eng verwandt mit dem Dämonischen, wie es in den oben behandelten Büchern vorkam: Es gibt kein zuverlässiges Symptom dafür; sobald eines auftritt ist der erste Schritt zur Überwindung vollzogen: Wenn die Verzweiflung sich zeigt, dann erweist es sich, daß der Mensch verzweifelt war. Insofern kann man in keinem Augenblick etwas über einen Menschen entscheiden, der nicht dadurch gerettet ist, daß er verzweifelt war. Denn sobald das eintritt, was ihn zur Verzweiflung bringt, so wird es im selben Augenblick offenbar, daß er sein ganzes vorhergehendes Leben hindurch verzweifelt war. Dagegen kann man, wenn einer Fieber bekommt, keineswegs sagen, es werde nun offenbar, daß er sein ganzes vorhergegendes Leben hindurch Fieber gehabt habe. Die Verzweiflung aber ist eine Bestimmung des Geistes und verhält sich zum Ewigen und hat deshalb etwas vom Ewigen in ihrer Dialektik. Verzweiflung ist nicht nur in anderer Weise dialektisch als eine Krankheit, sondern in Beziehung auf Verzweiflung sind auch alle Kennzeichen dialektisch, und deshalb wird die oberflächliche Betrachtung so leicht getäuscht bei der Feststellung, ob Verzweiflung vorliegt oder nicht.104

„Dialektisch“ heißt hier – wie so oft bei Kierkegaard – ambivalent, da die Symptome der Verzweiflung nicht eindeutig sind. Ohne daß die hier beschriebene Dynamik dämonisch genannt werden würde, entspricht sie dem den anderen Schriften zufolge. Dazu kommt, daß Verzweiflung ebenfalls jeden Menschen in irgendeiner Form betrifft und so zu einem allgemeinen anthropologischen Phänomen wird, welches sich blitzartig zu erkennen gibt105. Explizit kommt das Dämonische nur kurz vor im Kapitel über Trotz106, der analog zur Angst vor dem Guten eine Art der Verzweiflung ist, die auf sich beharrt und keine Hilfe von außen zuläßt. Bemerkenswert ist wieder die Parallele zur dämonischen Verschlossenheit des Meermanns, denn Trotz ist strukturell dem Wahren so nah wie möglich, aber als Verkehrung der religiösen Innerlichkeit könnte er nicht ferner von ihr sein: Dann kommt der Trotz, der eigentlich Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen ist, der verzweifelte Mißbrauch des Ewigen, das im Selbst ist, verzweifelt man selbst sein wollen. Aber gerade weil sie Verzweiflung mit Hilfe des Ewigen ist, liegt sie in einem gewissen Sinne dem Wahren sehr nahe; und gerade weil sie dem Wahren sehr naheliegt, ist sie unendlich weit fort. Auch die Verzweiflung, die der Durchgang zum Glauben ist, geschieht mit Hilfe des Ewigen; mit Hilfe des Ewigen hat das Selbst Mut, sich selbst zu 104 105 106

KT, 24 / SV XI, 138 KT Erster Abschnitt B „Die Allgemeinheit dieser Krankheit“, S. 21ff. / SV XI, 136ff. Erster Abschnitt C. B. b) β), S. 65ff. / SV XI, 183ff.

V.3. Die Krankheit zum Tode: dämonische Maieutik

351

verlieren, um sich selbst zu gewinnen; hier dagegen will es nicht damit anfangen, sich selbst zu verlieren, sondern will es selbst sein.107

Die Diagnose ist wieder, daß es keine zuverlässigen Symptome gibt: Diese Art von Verzweiflung wird selten in der Welt gesehen, solche Gestalten kommen eigentlich nur bei Dichtern vor, den wirklichen, die ihren Geschöpfen stets die ‚dämonische‘ Idealität verleihen, dieses Wort in rein griechischem Sinne genommen. Indessen kommt eine solche Verzweiflung auch in der Wirklichkeit vor. Was ist dann die entsprechende Äußerlichkeit? Ja, da gibt es nichts ‚Entsprechendes‘, da eine entsprechende Äußerlichkeit, die der Verschlossenheit entspräche, ein Widerspruch in sich selbst ist; denn wenn sie entsprechend ist, dann ist sie ja offenbarend. Aber die Äußerlichkeit ist hier das gänzlich Gleichgültige, hier, wo die Verschlossenheit oder was man Innerlichkeit nennen könnte, die sich verklemmt hat, so überwiegend das ist, was beachtet werden muß.108

Auffallend ist, daß auch das Pseudonym Anti-Climacus, wie Johannes de silentio und Vigilius Haufniensis, für das Dämonische darstellende Kunst oder Dichtung heranzieht. Ganz explizit heißt es in Furcht und Zittern: Es wird das beste sein, die ganze Sache rein ästhetisch anzusehen und zu dem Zwecke in eine ästhetische Überlegung einzutreten, welcher sich augenblicksweise ganz hinzugeben ich den Leser bitten möchte, während ich, um das Meine dazu beizutragen, meine Darstellung den Gegenständen entsprechend modifizieren will.109

Es scheint so zu sein, daß die unmögliche kriterielle Ausweisbarkeit des Dämonischen sich aber darstellen läßt, so daß dem Ästhetischen neue Relevanz zukommt. Während die Wirklichkeit kontingent und werdend ist, so daß jeder Geschlossenheit, die das Ende zu kennen vorgibt, der Makel des bloßen Scheins, der Abstraktion oder der anmaßenden Antizipation anhängt, scheint bezüglich des Dämonischen hier die einzige Chance zu liegen. Nur eine stimmige Darstellung nämlich vermag dem Dämonischen beizukommen, denn sie kann dessen Verborgenheit mitsamt dem plötzlichen Offenbarwerden konzipieren.110 So kann es gelingen, die dämonische Verschlossenheit als solche auszuweisen und deren weitestgehende Verwechselbarkeit mit der religiösen Innerlichkeit gleichzeitig zu zeigen und zu vermeiden. Nicht also die geschlossene Form und die ausgeklügelten internen Relationen eines Kunstwerkes, sondern erratische Störfälle, die es

107 108 109 110

Ebd. KT 70 / SV XI, 178f. FZ 76 / SV III, 131. Vgl. FZ 75ff. / SV III, 130ff.: Das Schicksal hat traditionellerweise im Drama die Funktion, Verborgenes offenbarwerden zu lassen.

352 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi nach Kierkegaards Maßstäben disqualifizieren, lassen das Ästhetische wahrheitsfähig werden. Sein Scheitern nämlich steht im Dienst eines transzendenten Einbruchs, der gleichzeitig die dämonische Gezeichnetheit aller Kunst wiederholen läßt. Dann also, wenn die Verschwisterung des Ästhetischen und Dämonischen sich zu erkennen gibt, ist Kunst nicht mehr und deshalb gerade mehr als schöner Schein und sogar unabdingbar im Sinne der erbaulichen Programmatik. In den Papirer gibt Kierkegaard zu verstehen, daß ‚indirekte Mitteilung‘ dem Dämonischen verfallen ist, aber nur so wirken kann. […] Zweifelhaft zu lassen, was man eigentlich im Ganzen will ist das Maieutische. Aber das ist auch das Dämonische, denn es ist doch, einen Menschen zur Zwischenbestimmung zwischen Gott und andere Menschen zu machen. […]111

Wie in den im ersten Teil vorgestellten Passagen muß Vermittlung wirksam sein, ohne Eigenrecht zu beanspruchen. Anders als durch ästhetische Perfektion, die um ihrer selbst willen Aufmerksamkeit beansprucht, darf eine Schrift, die den Leser bzgl. seines Gottesverhältnisses treffen will, nicht ‚interesselos‘ im kantischen Sinn, erst recht nicht im Sinne des Kierkegaardschen inter-esse, sein. Dann nämlich täuscht sie über die sündhaft verlorene Wahrheitsfähigkeit hinweg durch die stimmige und geschlossene Form, geschaffen durch eine Autor, der anmaßen kann, das Ganze zu kennen, wie in der deshalb zu verteufelnden Systemphilosophie. Die in den Schriften über sich selbst programmatisch formulierte Zielsetzung „Hineintäuschen in das Wahre“112 muß als Täuschung zwar wirksam sein, darf es aber nicht dabei belassen. Wenn also der Autor ein fiktiver ist, wenn dieser erklärtermaßen über seine Verhältnisse hinausgeht, weil er bespricht, was er existentiell nicht einlösen kann, wenn Analogien als verfehlte deklariert werden und Sprache nur zeigen kann, läßt Kierkegaard die ästhetische Form ansetzen aber scheitern. Es geht nicht darum, gelungene Werke zu verfassen, sondern darum, darauf hinzuweisen, wie wenig gute Bücher existentiell 111

112

Pap. IX A 234. In den Vorlesungsentwürfen zur Mitteilung gibt es – eher als Problem benannt als thesenhaft elaboriert – ebenfalls die Fragwürdigkeit, ob in der indirekten Mitteilung nicht eine Anmaßung steckt, die etwas Dämonisches hat: „Über die indirekte Mitteilung, inwiefern ein Mensch das Recht hat, sich ihrer zu bedienen und ob darin nicht etwas Dämonisches ist.“ Pap. VIII 2 B 85, 26. SS 48 / SV XIII, 541 und 6/XIII, 495. Vgl. Pap. VIII 2 B 85, 24: „Betrügen gehört wesentlich mit zur wesentlichen ethischreligiösen Mitteilung. „In die Wahrheit hineintäuschen“. Daß das ein Betrug ist, ist auch ein Ausdruck für die Reduplikation, in welcher Lehrer und Lernender sich voneinander trennen, um darin zu existieren. […]“

V.3. Die Krankheit zum Tode: dämonische Maieutik

353

auszurichten vermögen. Der entlarvende Brief an den Leser am (falschen113) Schluß der Wiederholung gibt zu bedenken, daß mit dem Verfassen einer Schrift von vornherein eine untaugliche Maßnahme ergriffen ist, die eine existentielle Wiederholung allein durch die Wiederholbarkeit sprachlicher Zeichen, die Schilderbarkeit von Ereignissen und die Theaterbesuche zu garantieren scheint, aber deshalb gerade darüber hinwegtäuscht. Was dagegen hilft ist einzig, Störfaktoren einzubauen, formale Brüche, so wie die Abschnitte über die Sünde in Furcht und Zittern. Das Beispiel für Trotz in der Krankheit zum Tode ist deshalb ein besserer Selbstkommentar als alle mit dem Pathos eindeutiger Klarstellung auftretenden Schriften über sich selbst: Das ist, um es bildlich zu beschreiben, wie wenn einem Schriftsteller ein Schreibfehler unterliefe und dieser sich dessen bewußt würde – vielleicht war es doch eigentlich gar kein Fehler, sondern in einem weit höheren Sinne ein zu der ganzen Darstellung wesentlich Dazugehörendes -, das ist, wie wenn nun dieser Schreibfehler Aufruhr gegen den Verfasser machen, aus Haß gegen ihn sich weigern würde, berichtigt zu werden, und in wahnwitzigem Trotz zu ihm sagen: Nein, ich will nicht ausgelöscht werden, ich will stehenbleiben als ein Zeuge gegen dich, ein Zeuge dafür, daß du nur ein mäßiger Schriftsteller bist.114

Ein Erratum wirkt wie ein unfreiwilliges Indiz dafür, daß der Autor sich nicht seines Themas bemächtigen kann. Damit Kierkegaards Schriften, die er selbst als ‚ästhetische Schriftstellerei‘ tituliert, in ihrem religiösen Anliegen nicht verkannt werden und im Sinne der dämonischen Verborgenheit gelesen werden, muß es ein solches Erratum geben, welches im Horizont der pseudonymen Autoren nicht einzuordnen ist und das die nur scheinhafte Tauglichkeit dichterischer Artefakte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken läßt. Ganz explizit kommt dies am Anfang des sich nach dem Zitat anschließenden zweiten Teils der Krankheit zum Tode zum Ausdruck. Dieser Teil reformuliert die Verzweiflungsproblematik ausgehend vom Sündenbewußtsein, das die eigentliche Basis eines verfehlten Selbst- und damit Gottesverhältnisses ist. Gleich auf der ersten Seite heißt es: Christlich betrachtet ist (trotz aller Ästhetik) eine jede Dichterexistenz Sünde, die Sünde: zu dichten, statt zu sein, sich zu dem Guten und Wahren zu verhalten durch die Phantasie, statt es zu sein, d. h. existenziell danach zu streben, es zu sein.115 113

114 115

Kierkegaard hat den eigentlich geplanten Schluß der Wiederholung vernichtet, was im Zusammenhang mit den Nachwehen seiner Ver- und Entlobung steht. Man weiß nur aus Entwürfen, wie das Original geendet haben muß. KT 72 / SV XI, 185. KT 73 / SV XI, 189.

354 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Ein Erratum durchbricht die Geschlossenheit der wohlgeformten Rede brachial und steht und bleibt als fremdes im Text. Als quasitranszendentes Geschehen, das durch kein Genre und keine Figur darstellbar ist, läßt ein solcher Fehler die Fähigkeiten des Autors kapitulieren und die unendlichen Kapazitäten der Phantasie wirkungslos bleiben116. Auch die dialektische Methode als menschliches Vermögen, das der Unendlichkeit gerecht zu werden verspricht, scheitert, indem sie entweder Ambivalenzen benennt oder im Paradox endet. Das Erratum ist der Ort der Unzuständigkeit und Mangelhaftigkeit menschlicher Vermögen; durch ein Scheitern kann die textuelle Prozedur jenseits ihrer selbst verweisen. In diesem Sinne ist es kaum verwunderlich, daß Kierkegaard ungefähr ab 1847 den Dichter immer wieder heranzitiert, um ihn für die Darstellung des Religiösen zu disqualifizieren. In seinen Schriften über sich selbst beschreibt er, wie er damit gerungen habe, sich die dichterischen Fähigkeiten abzugewöhnen117 und der Versuchung zu widerstehen, darin erfolgreich und bemerkenswert zu werden. Vielmehr dürfe das nur im Dienste des Religiösen überhaupt kultiviert werden und keine Autonomie, keine Perfektion in sich selbst erlangen. Das geht so weit, daß Kierkegaard in den biblischen Texten auch erratische Störfaktoren aufspürt und sie wieder einmal wie seine eigenen Schriften stilisiert. Im oben (in V.1.1) bereits vorgestellten Buch Der Liebe Tun geht es immer wieder darum, daß der Dichter die zwischenmenschliche Liebe besingt und verkennt, daß diese nur religiös als Nächstenliebe qualifiziert wahr und keine verkappte Selbstliebe sein kann. Der Dichter gerät in der polarisierten Gegenüberstellung von weltlichen und transzendenten Werten auf die Seite der scheinbaren aber unchristlichen. […] denn die Liebe zum Nächsten will nicht besungen, sie will erfüllt werden. Selbst wenn es nichts anderes gäbe, was den Dichter daran hinderte, die Liebe zum Nächsten zu besingen, so ist schon dies genug, daß bei jedem Wort der heiligen Bücher mit un-

116

117

Wenn George Pattison im Untertitel seines Buches The Aesthetic and the Religious. From the Magic Theatre to the Crucification of the Image (London 1992) von einer „crucification of the image“ spricht, greift er Kierkegaards Rede aus AUN II, 270 / SV VII, 488 auf, denn dort ist von der Notwendigkeit einer Kreuzigung des Verstandes angesichts des Paradox‘ die Rede. „[…] although Kierkegaard‘s view of religion is such as to demand the final sacrifice of poetry, art and imagination, his apologetic concern is precisely for those who live and move and have their being in the realm of the aesthetic communication. If he was an unhappy lover of poetry and art, he was an unhappy lover […]“ SS 73 / SV XIII, 562f. auch die Fußnote, S. 95/XIII, 582; 114/XIII, 606.

V.3. Die Krankheit zum Tode: dämonische Maieutik

355

sichtbarer Schrift ein störendes Merkzeichen steht, denn dort steht: gehe hin und tue desgleichen – klingt das wohl wie eine Aufforderung an einen Dichter, die ihn auffordert zu singen?118

In den Papirer stellt Kierkegaard dreist die Dringlichkeit eines ‚schlechten Stils‘ der Bibel fest, um kein ästhetisches Wohlgefallen zu erregen: Ein neuer Beweis für die Göttlichkeit der Bibel. Bisher ist man damit folgendermaßen verfahren: Man hat gesagt: die heilige Schrift ist eine göttliche Offenbarung, inspiriert u. s. w. deshalb muß da eine vollständige Harmonie zwischen allen Nachrichten sein, bishin zur kleinsten Unbedeutendheit, es muß das vollkommenste Griechisch sein u. s. w. Laß uns nun einmal die Sache auf eine andere Weise angehen: Gott weiß doch genau, was es ist zu ‚glauben‘, was das sagen will, den Glauben zu fordern, daß es heißt, die unmittelbare Mitteilung zu negieren und eine Dopplung zu setzen. Schau, das bestätigt sich. Genau deshalb, weil Gott will, daß die heilige Schrift ein Gegenstand für den Glauben werden soll, und zum Ärgernis für jede andere Betrachtung, genau deshalb ist dort mit Fleiß für diese Unübereinstimmungen, (die sich in der Ewigkeit leicht auflösen können in Übereinstimmungen), deshalb ist es ein schlechtes Griechisch u. s. w. […]119

Vielleicht ist dies auch der Grund, warum Kierkegaard keinerlei Hemmungen zeigte, die Bibel nicht nur umzudeuten und neu zu akzentuieren sondern regelrecht umzudichten, als es darum ging, die Sprachkompetenz aus dem Paradies zu eliminieren. (S. o. III.4.) Diese auffallende Parallelisierung der biblischen mit den eigenen Texten rückt Kierkegaard, den Autor, der jede Autorität von sich abstreiten will, in die Nähe der höchsten Autorität, die ein Text für das Christentum haben kann. In seiner Interpretation der Bibelstelle über die Lilie auf dem Felde und den Vogel am Himmel geht er sogar so weit, das Evangelium zu personifizieren und die genauen Formulierungen darin als Strategie zu beschreiben.120 Entsprechend war bereits mehrfach deutlich geworden, daß die erratischen Störfaktoren in Kierkegaards Texten wohlplaziert sind und auf die gefährliche dämonische Qualität allen Schreibens qua ästhetischer Angelegenheit aufmerksam machen sollen. Dann aber handelt es sich um eine Strategie des Autors, der um die Funktionsweise seiner Erzeugnisse weiß und deren Effekte zu steuern versucht. Das für das Dämonische charakteristische unfreiwillige Offenbarwerden passiert den pseudonymen Autoren, es ist nur gespielt und effektiver Bestandteil der Stilisierungen. Damit komme ich zu einem Punkt, der im letzten Unterkapitel 118 119 120

LT 53 / SV IX, 49 und 22 / SV IX, 23. Pap. X 3 A 328 (1850). Vgl. X 4 A 313. LF, 46f. / SV XI, 22.

356 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi zentral werden wird: Das Ästhetische ist auch dann noch vonnöten, wenn es darum geht, seine Grenze, Gefahr und Unzuständigkeit zu markieren. Ganz ähnlich wie das Denken funktionsfähig und aktiv bleiben muß, um im Paradox auflaufen zu könnnen, bedarf es textueller Maßnahmen, um der nach Kierkegaards Maßstab für das Ästhetische kennzeichnenden geschlossenen Form und dem notwendigen konjunktivischen Modus des Scheins etwas entgegenzusetzen. Mit kurzen Hinweisen auf George Steiner und Susan Sontag war bereits vorher in meiner Arbeit zur Sprache gekommen, daß Kierkegaards religiöses Anliegen in der Kunst und Ästhetik unseres Jahrhunderts einige Parallelen findet121. Tatsächlich könnte man versucht sein, beispielsweise Adornos Formulierungen aus der Ästhetischen Theorie heranzuziehen, um deutlich zu machen, wie die Qualifizierung des Religiösen bei Kierkegaard dort ein vielleicht nicht nur unfreiwilliges Echo findet. [Wittgenstein ist einverstanden: Kierkegaard schreibt: Wenn das Christentum so leicht und gemütlich wäre, wozu hätte Gott in seiner Schrift Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, mit ewigen Strafen gedroht? – Frage: Warum aber ist dann diese Schrift so undeutlich? Wenn man jemand vor furchtbarer Gefahr warnen will, tut man es indem man ihm ein Rätsel zu raten gibt, dessen Lösung etwa die Warnung ist? – Aber wer sagt, daß die Schrift wirklich undeutlich ist: ist es nicht möglich, daß es hier wesentlich war, ‚ein Rätsel aufzugeben‘? Daß eine direktere Warnung dennoch die falsche Wirkung hätte haben müssen? Gott läßt das Leben des Gottmenschen von vier Menschen berichten, von jedem anders, und widersprechend – aber kann man nicht sagen: Es ist wichtig, daß dieser Bericht nicht mehr als sehr gewöhnliche historische Wahrscheinlichkeit habe, damit diese nicht für das Wesentliche, Ausschlaggebende gehalten werde. Damit der Buchstabe nicht mehr Glauben fände als ihm gebührt und der Geist sein Recht behalte. D. h.: Was Du sehen sollst, läßt sich auch durch den besten, genauesten Geschichtsschreiber nicht vermitteln; darum genügt, ja ist vorzuziehen, eine mittelmäßige Darstellung. Denn, was Dir mitgeteilt werden soll, kann die auch mitteilen. (Ähnlich etwa, wie eine mittelmäßige Theaterdekoration besser sein kann, als eine raffinierte, gemalte Bäume besser als wirkliche, – die Aufmerksamkeit von dem ablenken, worauf es ankommt.) Das Wesentliche, für Dein Leben Wesentliche, aber legt der Geist in diese Worte. Du sollst gerade nur das deutlich sehen, was auch diese Darstellung deutlich zeigt. (Ich weiß nicht sicher wie weit dies alles genau im Geiste Kierkegaards ist.)122] 121

122

Hermann Deuser denkt dies an: „Sowohl eine gegenwärtig Ästhetik wie eine Ethik von Bedeutung müßten sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie die Kollisionen tragen könnten, die Kierkegaard der religiösen Sphäre vorbehalten wollte […]“ In diesem Zusammenhang schlägt Deuser eine ‚Revision der Stadienlehre‘ vor. Eigentlich geht sein Aufsatz über „Die Frage nach dem Glück in Kierkgaards Stadienlehre“ in Glück und geglücktes Leben, Hg. Paulus Engelhardt, S. 165-183. VB S. 493f. (1937).

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V.4. alter ego Adler So trenne ich mich von diesem Buch; es ist, wie es vielen vorkommen wird, wirklich eine Erbauungsschrift - für denjenigen, der es versteht […] Pap. VIII 2 B 29 (1847) [für das Vorwort geplant, aber nur in Entwürfen]

Am 12. Juni 1846 erscheinen vier Bücher von Adolph Peter Adler im Selbstverlag. Sie werden am selben Tag von Kierkegaard gekauft und die Tagebucheintragungen brechen bis zum September ab. Wahrscheinlich ist das die Entstehungszeit der ersten Version des Buch über Adler123, welche noch den später separat erscheinenden Aufsatz „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“124 enthielt. Adler war ein Studienfreund Kierkegaards, der im Zuge seines Theologiestudiums Hegelianer wurde und mit seiner Dissertation 1840 den Präzedenzfall einer dänisch, nicht lateinisch, geschriebenen Doktorarbeit statuierte, welchem Kierkegaard unter Berufung auf Adler ein Jahr später folgte. Adler wurde Privatdozent an der Kopenhagener Universität und Gemeindepfarrer. 1843 gab er Predigten 123

124

Pap. VII 2 B 235 (1846/47) und Pap. VIII 2 B 1-27. Tatsächlich gehört das Buch über Adler nicht zu den Bänden der Samlede Værker und nimmt den Band VII 2 der Papirer komplett ein. Ich mache mir nicht die Mühe, genau nachzuzeichnen, welche Phasen der Umarbeitung dieses Buch erlebt hat. Meine Textbasis ist die Version, wie sie Emmanuel Hirsch für seine Übersetzung erstellt hat, denn daran läßt sich mein Argument gut diskutieren. Die vielen Umarbeitungen bringe ich damit in Verbindung, daß das Buch publiziert werden sollte, aber Adler noch lebte und nicht noch mehr in Verlegenheit gebracht werden sollte. Vgl.: Pap. VIII 1 A 252 + 264. Zitiert in Hirschs Einleitung S. XI. In der alten amerikanischen Ausgabe, übersetzt von Walter Lowrie, hat es den Titel On Authority and Revelation, in der neuen, übersetzt von Jullia Watkin, The Religious Confusion of the Modern Age. Dieser Titel entspricht einem entworfenen Titelblatt Pap. VIII 2 B 26 „Die Verwirrung der Gegenwart beleuchtet an Magister Adler als Phänomen.“ Kleine Schriften 1848/49, ZKA, 115-134 / SV XI, 93-109. Diese Abhandlung verhandelt das Grundproblem der Rede mit Vollmacht, ohne dabei auf Adler anzuspielen. Sie wurde 1849 unter dem Pseudonym H. H. publiziert, zusammen mit dem Aufsatz „Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen?“ Hirsch weist darauf hin, daß H. H. in Geschäftsbriefen als formelhafte Abkürzung für eine Anrede gebraucht wird und schlägt vor, nicht von pseudonym, sondern anonym zu sprechen. Er gibt zudem zu bedenken, daß Kierkegaard mit dieser Publikation Drucker und Verleger wechselte.

358 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi heraus, von denen er im Vorwort sagt, sie seien von Jesus in einer Offenbarung diktiert worden. Christus habe ihm geboten, alle Hegelschen Manuskripte zu verbrennen und sich nur noch an die Bibel zu halten. 1844 wurde Adler von seinem Amt suspendiert und 1845 von der Staatskirche wegen Geistesgestörtheit entlassen. Die damit im Zusammenhang stehenden Schreiben hat Adler kommentiert und publiziert. Kierkegaard kannte nicht nur die Schriftstücke, er hatte die Predigten mit persönlicher Widmung von Adler geschenkt bekommen und wußte bereits vor der Publikation von der Offenbarung. Adler hatte ihn besucht, davon berichtet und gemeint, er sei der neue Messias und Kierkegaard habe die Rolle von Johannes dem Täufer. Kierkegaard zeigte sich damit (augenzwinkernd) einverstanden.125 Nicht nur die fieberhafte Arbeit am Buch über Adler, sondern auch das dabei zentrale Thema, nämlich das autorisierte Reden von der christlichen Wahrheit, läßt vermuten, daß die Problematik Adlers den Nerv der Kierkegaardschen Autorschaft, nämlich die Frage nach der Rede mit Vollmacht, trifft. Am Beispiel Adler diskutiert er sein eigenes Anliegen, dessen vitale Dringlichkeit in allen bisher von mir diskutierten Textbeispielen volle Aufmerksamkeit verlangte. Beispielsweise war anhand vom Glaubensvater Abraham eine entsprechende Frage Thema von Furcht und Zittern: woran merkt man, es wirklich mit Gott zu tun zu haben? Hatte es in der Nachschrift geheißen, das christliche Paradox akzeptieren könne man nur, wenn man bereit sei, den Verstand zu verlieren126, so scheint Adler das beste Beispiel dafür zu sein. Die Unkenntlichkeit religiöser Innerlichkeit, die in einem Gottesverhältnis des einzelnen Menschen besteht, welches sich nicht mitteilen läßt, müßte es eigentlich ausschließen, fremde Offenbarungserlebnisse zu beurteilen. Dann aber läßt sich wahre Religiosität nicht mehr von Fanatismus und Geistesgestörtheit unterscheiden und läuft Gefahr, von diesen unterlaufen zu werden. Deshalb muß Kierkegaard die Radikalität unveräußerlicher Innerlichkeit brechen, und dem Wie zuverlässigen Aufschluß über das Was abgewinnen, also Kriterien der Kenntlichkeit, wenn nicht für wahre Religiosität, so doch zur Entlarvung von deren dämonischen Doppelgängern zulassen. Um sein eige125

126

All diese Hintergrundinformationen stehen in Hirschs „Geschichtlicher Einleitung“ zu seiner Übersetzung im Rahmen der Werkausgabe. AUN II, 184ff. / SV VII, 412ff.; auch PB 47 / SV IV, 204ff. „Beilage. Das Ärgernis am Paradox“, u. ö.

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nes Anliegen, das er mit Adler teilt, nicht mit dessen verfehltem Anspruch und Manifestationsformen zusammenzubringen, muß sich die Maske wahrer Christlichkeit entlarven lassen, denn sie ist gefährlicher als explizite Gegnerschaft.127 Vom Pseudonym Petrus Minor geschrieben, mit „Eine mimische Monographie“ untertitelt und herausgegeben von Søren Kierkegaard128, erschien dieser Text erst posthum, aus Gründen der Diskretion Adler gegenüber. Aber es geht nicht um Adler persönlich, sondern der gilt als Symptom der „Verwirrung“129 der Zeit und bietet sich als Fallstudie130 an, um die dringend erforderlichen Klärungen vorzunehmen. Weniger der Inhalt der Bücher und Predigten Adlers, als vielmehr der im Vorwort beanspruchte Status offenbarte Rede zu sein, ist der Fokus der Erörterung: Anhand von Adlers Stellungnahmen zu seiner Behauptung, eine Offenbarung erlebt und von Jesus diktierte Sätze geschrieben zu haben, will Petrus Minor zeigen, daß es Widersprüche gibt, die darauf schließen lassen, daß Adler unklar darüber ist, was eine Offenbarung ist. Ihm ist nicht nachzuweisen, daß er kein solches Erlebnis hatte, wohl aber, daß er ein religiöses Erlebnis 127 128 129

130

BÜA 5, 44, 58f./77, 71, 87f. Pap. VIII 2 B 26. Kierkegaard spricht von ‚forvirring‘, ‚confusion‘, aber auch ‚svimmelhed‘, d. h. Schwindel, wie im Begriff Angst. Stanley Cavell vergleicht das Buch über Adler mit der Arbeit eines Chirurgen („Kierkegaards On Authority and Revelation“, in The Cavell Reader, ed.: Stephen Mulhall, Oxford/Cambridge/Mass. 1996, pp. 128-142 ; zuerst in Must we mean what we say? New York 1969) p. 128: „[…] it is the justification of a surgeon, whose right to cut into people is based on his skill and credentials and whose right to present his cases to others is based on his office and on the obligation to transmit his knowledge to his peers.“ Cavell greift damit (ohne darauf hinzuweisen) eine Analogie auf, die das Pseudonym der Angstabhandlung für seine Leistung gebraucht hatte. (s. o. Teil III.6.) Anders als im BA sieht sich das Pseudonym diesmal genötigt, die „dichterische Freiheit“ (S. 106) nicht zu nutzen, auch wenn das Beispiel dadurch instruktiver wird (im BA war von „psychologisch-poetischer Autorität“ von Beispielen die Rede, s. o. und BA 63 / SV IV, 325.) Andererseits dürfe die Tatsache, daß es Adler wirklich gibt, nicht dazu verleiten, alles, was über ihn bekannt ist, in die Studie einzubeziehen. Allein die Diskretion, aber auch das Anliegen einer Symptomatik, die Adler über einen Einzelfall hinausgehend wichtig werden läßt, zwinge zu „Rücksicht auf die Wirklichkeit“ S. 107: „Die Kunst liegt darin, diese allgemeinen Bestimmungen derart zusammenzusetzen, daß sich psychologisch doch etwas daraus ergibt. Auf diese Weise wird dann die Untersuchung Magister Adler in keiner Hinsicht zu nahe treten können, indem sie wesentlich nur das ganz Allgemeine benutzt, das schlechthin in den Voraussetzungen der Zeit liegt, während sie hingegen auf jede rein persönliche Auffassung Magister Adlers gänzlich verzichtet […]“.

360 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi mit dem extremen und außerordentlichen Spezialfall Offenbarung verwechselt.131 Wie bei der Angstabhandlung könnte man in Anlehnung an Wittgenstein von ‚grammatischen Klärungen‘ sprechen, da es darum geht, sinnvolles Behaupten religiöser Rede mit Vollmacht von anderen Arten der religiösen Kundgabe abzugrenzen.132 Sich selbst beschreibt das Pseudonym als Kritiker, der der Sache, um die es geht, dient, und dabei Gefahr läuft das Nachsehen zu haben: Wie ein treuer Liebhaber, der erleben muß, daß seine Geliebte in seiner Abwesenheit einen anderen hat, macht er sich darauf gefaßt, eine Enttäuschung zu erleben.133 Es steht ihm nicht an, die Offenbarung in Zweifel zu ziehen, wohl aber, zu prüfen, ob das, was daraus folgt, einem solchen außerordentlichen Erlebnis gemäß ist. Ist es das nicht, so hat man gute Gründe, skeptisch zu sein. Alle für diesen Text in Erwägung gezogenen Pseudonyme haben „Minor“ als zweiten Namen und indizieren wieder einmal, daß der Autor des Textes sein Thema nicht selbst existentiell verkörpert und nur theoretisch weiß, wovon er handelt.134 Als Erscheinung unserer Zeit (so daß das Augenmerk ebensosehr auf der Zeit wie auf Adler liegt) soll nun Magister Adler Gegenstand der Besprechung dieser kleinen Schrift werden. Seine Bücher sollen nicht ästhetisch und kritisch gewürdigt werden, als seien sie von einem gewöhnlichen Schriftsteller; nein, es soll von dem geringen dienenden Kritiker seiner Ungewöhnlichkeit Rechnung getragen werden; und seine Schriften 131

132

133 134

Das Anerkennungsverfahren von Marienerscheinungen durch die katholische Kirche verfährt mit einer vergleichbaren Prozedur: Der theologische ‚Gehalt‘ des Verkündeten wird geprüft, der Unterschied zwischen ‚Privatoffenbarung‘ und ‚Offenbarung‘ geltend gemacht, massenpsychologische Vorgänge in Betracht gezogen und der Status von Maria als Fürsprecherin, nicht Erlöserin, muß gewahrt bleiben. Vgl. der Beitrag über das Pilgervorkommen im Saarland in der Katholischen Kirchenzeitung Nr. 41, 17. Oktober 1999, S. 10. Das wird schon auf der ersten Seite des Vorworts vom Herausgeber Kierkegaard bekanntgegeben: „Wenn er [der Leser] sich, ebenso wie ich, zur Lektüre entschließt und zugleich Theologe ist, so wird er – dafür stehe ich ihm ein – aus diesem Buch hinsichtlich einiger dogmatischer Begriffe eine Klarheit und eine Gewandtheit im Gebrauch gewinnen, die auf andere Weise vielleicht doch nicht so leicht zu erreichen sind.“ Cavell (a. a. O.) sieht das Buch über Adler deshalb als grammatische Arbeit im Sinne Wittgensteins an und spricht ihm genuin philosophisches Anliegen und Vorgehensweise zu: „Now an activity which has the form of taking us from confusion to clarity by means of defining concepts in such a way has, from Socrates to Wittgenstein, signalled philosophical activity.“ Robert C. Roberts wendet ebenfalls auf das Buch über Adler wittgensteinsche Terminologie an: „Kierkegaard, Wittgenstein and a Method of Virtue Ethics“, in Matustík/ Westphal (eds.) Kierkegaard in Post/Modernity, pp. 148ff. BÜA 19-28. Pap. VIII 2 B 24. Ausnahme: Johannes Climacus wurde in Erwägung gezogen, vgl.: Pap. VIII 2 B 21.

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sollen nur benutzt werden, um zu sehen, ob er sich selbst darin versteht, das zu sein, wofür er sich ausgegeben hat.135

Sollte also aus den Texten Adlers ersichtlich sein, daß Adler gar nicht klar darüber ist, was eine Offenbarung ist, so widerlegt diese Konfusion den erhobenen Anspruch des Redens mit Christi Vollmacht. Um das zu prüfen stellt Petrus Minor an Adlers Texte Anforderungen, die die Schriften Kierkegaards dezidiert nicht erfüllen: Ihm wird nachgewiesen, keine klaren Begriffsbestimmungen zu haben (66, 73, 95, 105136), keinen „Sinn und Zusammenhang“ zu präsentieren (68f.), Inkonsistenzen in der Argumentation zu haben (70), durch eine Erklärung das zu Erklärende unter der Hand zu verändern (67, 73, 79), zu keinem „Schlußergebnis“ zu gelangen (7-16) und eine „ungewöhnliche, seltsame, anstößige, aphoristische und abrupte Form“ (69f.) zu verwenden. Adler werde in seinen Texten der absoluten Außerordentlichkeit einer Offenbarung nicht gerecht: Ein solches Ereignis falle aus der bestehenden Ordnung, also dem Zuständigkeitsbereich der Staatskirche, und müsse entweder verschwiegen werden oder, falls man es kundtue, Anstoß erregen. (37f.) Wer öffentlich behaupte, eine Offenbarung erlebt zu haben, müsse damit rechnen, daß die institutionalisierte Religiosität sich bedroht fühlt und zum Gegner wird. Eine Äußerung müsse folglich mit grundsätzlicher Opferbereitschaft einhergehen, um die Wahrheit nicht zu gefährden. (39f.) All das mache Adler nicht. Sein Fehler sei die Inkonsequenz, im Amt zu bleiben (42 + 93f.) und zu versuchen, den Anfragen der Obrigkeit über seine Offenbarung erläuternd und rechtfertigend entgegenzukommen. Adler wolle sein Erlebnis mit den staatskirchlichen Standards vereinbaren und starte Vermittlungsversuche. Darin zeigt sich für Petrus Minor, daß Adler seine Hegelschen Allüren kein bißchen abgelegt hat, auch wenn er tatsächlich alle alten Manuskripte verbrannt hat. (79, 86, 115) Deshalb liefere er anstelle der Abkehr vom Hegelianismus eine Satire darauf, die sich unvermeidbar und „unbewußt“ (148) einstellt, falls man religiös existieren will, aber Hegelsch verbildet ist. Aber der Versuch, das Außerordentliche begreifbar zu machen, sei nicht nur unangebracht, sondern pervertiere dessen Spezifik, da die Erklärungen eine Veränderung mit sich bringen (67): Im Vorwort zu 135 136

BÜA 27/25. In meinem Referat werde ich wenig zitieren und versuchen, die Argumentation in ihren für meine Zwecke wesentlichen Punkte gestrafft vorzustellen. Deshalb füge ich die Seitenzahlen der deutschen Übersetzung in Klammern in den Text, so daß die Textstellen nachweisbar sind.

362 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi den Predigten werde der Status einer Rede mit Vollmacht angegeben und eine Verkündigung einer neuen Lehre angekündigt, die Christus selbst veranlaßt habe, Adler als Werkzeug zu benutzen. Die Predigten selbst aber ließen von der neuen Lehre nichts erkennen, seien schlecht geschrieben, und kreisten um eine anti-Hegelsche Einsicht, die Adler schon vorher hatte. Wenn Adler der Staatskirche verspreche, in Zukunft besser zu formulieren und seine Gedanken noch zu überarbeiten, gebe er seine Predigten implizit als eigene, nicht diktierte aus. Wenn er sich außerdem auf die Bibel zur Beglaubigung berufe, halte er sich an die Offenbarung, wie es alle Christen tun. Jeder Theologe sei bemüht, seine Rede über die Wahrheit Gottes zu perfektionieren und die Bibel dabei als maßgebliche Instanz heranzuziehen. (76f.) Das nachträgliche Deuten des Offenbarten vernichte dessen unbedingte Gültigkeit (85, 87, 91) und die Verbesserungsbedürftigkeit bestünde nicht, wenn tatsächlich Jesus die Quelle der Schriften wäre und Adler nur sein Werkzeug (82-84, 87f.). Die Publikation der Predigten sowie die anschließenden Rechtfertigungsversuche ließen vermuten, daß Adler es zudem nötig habe, durch andere Menschen seine Wahrheit beglaubigen zu lassen. Damit wäre er das, was in der Einleitung ein „Prämisse-Schriftsteller“ (9) genannt wird, nämlich einer, der keine „Lebensanschauung“ (8) zu bieten habe und für den Markt und die Bedürfnisse seiner Zeitgenossen schreibe. So jemand brauche den Beifall des lesenden Publikums, er bedürfe der öffentlichen Aufmerksamkeit (12) und der Bestärkung durch die Gesellschaft (14, 116), weil er sich im Grunde nicht sicher sei.137 137

In seiner ersten Publikation Aus den Papieren eines noch Lebenden (1837), der Rezension zu H. C. Andersens Roman Nur ein Spielmann (SV XIII, 43-92), auf die ich bereits in I.2. (Fußnote 99) und IV.2.1 zu sprechen gekommen bin, war ebenfalls der Hauptpunkt der Kritik der Mangel einer „Lebensanschauung“ (Livs-Anskuelse): „Eine Lebensanschauung ist nämlich mehr als ein Inbegriff oder eine Summa von Sätzen, die in ihrer abstrakten Unwirklichkeit festgehalten werden; sie ist mehr als die Erfahrung, die als solche stets atomistisch ist, sie ist eine von keiner Empirie zu erschütternde errungene Sicherheit in sich selbst, möge sie sich denn nun entweder lediglich in allen weltlichen Verhältnissen orientiert haben (ein rein menschlicher Standpunkt, z. B. Stoizismus), als die sich dadurch außerhalb jeder Berührung mit einer tieferen Empirie Haltende, – oder möge sie in ihrer Richtung auf den Himmel (das Religiöse) in diesem das Zentrale gefunden haben […]“ ES 63 / SV XIII, 68. In seiner späten Literaturkritik von 1846 Eine literarische Anzeige, welche sich auf über hundert Seiten mit Thomasine Gyllembourgs Roman Zwei Zeitalter (1845) beschäftigt, gelten dieselben Kriterien, nur sieht Kierkegaard sie diesmal verwirklicht. Er verweist sogar auf die Kontinuität seiner Standards:

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Adlers Folgerungen zeigten, daß er sich über die Prämissen seiner Behauptung nicht im klaren sei (70) und so widerrufe genau das, was er zu seiner Verteidigung heranzieht, das, was er damit aufrechtzuerhalten bestrebt war. Immer wieder fordert Petrus Minor den Widerruf des Vorworts, da dort die Vollmacht beansprucht werde (76, 77, 81, 83, 85, 104f. u. ö.), was durch das Nachfolgende in keiner Weise eingelöst werde. Es bestehe ein „Mißverhältnis“ (133) zwischen Vorwort und Haupttext, zwischen subjektiver Ergriffenheit und den darin ventilierten christlichen Begriffen. Adlers Fehler bestehe nicht darin, Texte zu schreiben, die viele Mängel der Kierkegaardschen Schriften auch aufweisen, sondern daß er sie nicht widerrufe, sondern auf eine Offenbarung zurückführe. Damit gebe es durch die Inkonsistenz einen Widerruf, den Adler redlicherweise explizit vorbringen müßte, so, wie es beispielsweise Johannes Climacus gemacht hat. (83f., 91) Aus all dem schließt Petrus Minor auf eine Verwirrung Adlers, die keine Geisteskrankheit im psychologischen Sinne sei (105), sondern Symptom der von Kierkegaard an seinen (intellektuellen) Zeitgenossen diagnostizierte Unklarheit der christlichen Bestimmungen sei. Wie viele Theologen unterscheide Adler die spezifische ‚Grammatik‘ einer Offenbarung nicht von anderen Spielarten religiöser Begeisterung (89) oder der Rettung eines Menschen, der die christliche Wahr-

1

„[…] ein bißchen mehr Klarheit in der Darstellung, ein bißchen mehr Leichtigkeit im Fluß des Stils, ein bißchen mehr Bedachtsamkeit in Bekanntschaft mit der Aufgabe, ein bißchen mehr Innerlichkeit in der Erkenntlichkeit: mithin verändert in der Wiederholung.“ LA 23 / SV VIII, 22. Andersen und Adler wird der Vorwurf gemacht, nichts zu bieten, was die reklamierte Autorität von Autorschaft rechtfertigen könne, sie seien keine „wesentlichen Schriftsteller“ (10), denn so einer wisse, was er will und verstehe, wovon er schreibt (14); er könne als Lehrer auftreten aber habe nicht nötig, sich mitzuteilen. Vor allem vermöge er eine Weltsicht als Ganze zu entwerfen, eine Einheit, auf die alles hinausläuft, was nur eine reife Persönlichkeit, wie die von Frau Gyllembourg, zustandezubringen vermöge. (Vgl. ES, 69f. / SV XIII, 73f. NB: Thomasine Gyllembourg mußte anonym publizieren und von ihrem Sohn herausgeben lassen. Obschon Kierkegaard sie kannte und vielleicht wußte, daß sie dahintersteckt, spricht er von ihr als „der Verfasser“.) Die Bücher über Andersen, Adler und Gyllembourg haben gemeinsam, Kritiken zu sein, die für fremde Autorschaft Kriterien geltend machen, die Kierkegaard dezidiert selbst nicht einlöst. Anhand von fremden Texten macht sich Kierkegaard an Klärungsarbeit, die seinem Anspruch des Korrektivs gemäß sind und jedes Mal einen eigenständigen Ansatz hervorbringen. Peter Fenves widmet sein letztes Kapitel „Notifying the Authorities“ den beiden ‚reviews‘ und bezeichnet sie als re-views, die einander wiederholen. (a. a. O., p. 191-241)

364 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi heit für sich entdeckt als absolut verbindliche Direktive des Lebens. (80, 85) Wie im Begriff Angst lasse auch in diesem Fall Hegelsches Denken Begriffe schlampig verwenden, was zu „Begriffsverflüchtigung“ (136ff.) führe, die die eigentliche Ursache von Adlers Verwirrung sei. Auch wenn die Diskussion des Falles Adler an keiner Stelle vorgibt, eine Offenbarung an etwas festmachen zu können, gewinnt sie Aufschluß darüber, ob es eine Täuschung ist, anhand dessen, wie sie sich zeigt. Derjenige, der tatsächlich eine Offenbarung erlebt hat, sei unkenntlich, weil er schweige (27, 34, 37) oder er tue das Außerordentliche kund und ziehe damit die Gegnerschaft des Bestehenden auf sich, weil er keinerlei Verträglichkeit mit der etablierten Lehre anstrebe und sich nicht anschicke, seinen Status irgendwie zu rechtfertigen. So jemand würde die Staatskirche ernsthaft herausfordern, denn hier könnte es sich tatsächlich um einen Erwählten handeln – oder um dessen dämonischen Doppelgänger, der die Kirche mit ihren eigenen Kategorien unterläuft. Diese Alternative ließe sich nicht handhaben, denn es gebe kein sicheres Kriterium im Bestehenden für die alle bisherigen Maßstäbe sprengende neue Lehre, die ihre Autorität einzig aus der Behauptung gewinne, von Christus selbst zu stammen. (61) Adler hingegen falle aus dieser Alternative, weil er eine Verwirrung über die Qualität einer Offenbarung erkennen lasse. Die Befragung geht wie die der dänischen Staatskirche, mit deren Procedere im Fall Adler das Pseudonym sehr einverstanden ist (83)138, so vor, daß die „Offenbarungs-Tatsache“ für die Überprüfung ausgeklammert wird und als Voraussetzung der ganzen Auseinandersetzung zunächst konzediert wird (63, 65, 83, 92, 95, 103). Alle Anfragen und Beurteilungen stützen sich darauf, wie sich die Äußerungen zu dem behaupteten Status verhalten und auf welche Weise sich die Offenbarung zeigt. Zumindest als Entlarvung verfehlter Ansprüche lasse sich somit an den Manifestationen, am Wie, erkennen, welcherart das zugrundeliegende Was sei; genau das unternimmt das Buch über Adler. Trotz aller Verworrenheit des Geisteszustands sei die Echtheit des Ergriffenseins, das innerliche Involviertsein und die Erschütterung Adlers, – folglich das Wie der religiösen Erfahrung – wie es sein sollte. Die schlechten, weil spontan und unüberlegt als direkter Ausdruck eines 138

Cavell (a. a. O.) sieht das nicht so; er meint im Fall Adler sei zu diagnostizieren, was alle, auch und gerade die Vertreter der Staatskirche, auch kennzeichne. Obschon das der Sache nach auf der Kierkegaardschen Linie liegt, findet sich im Buch über Adler dazu kein Hinweis.

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„Ausbruchs“ (126) hingeschriebenen Predigten zeugten von unmittelbarer religiöser Erregung und seien „Spuren der Wirklichkeit“ (127). In seinem Stil findet sich deshalb zuweilen ein fast hörbares lyrisches Brodeln, welches – obschon ästhetisch gewürdigt formwidrig – dennoch eine erregende Bedeutung für den Leser haben kann. Man schläft über ihm nicht ein, auch wird man nicht zerstreut, eher ungeduldig darüber, daß einem ein Mensch mit der ganzen Maschinerie seiner Persönlichkeit so nahe auf den Leib rückt. (126)139

Damit ist er ein Beispiel für die in meinem Teil I.1. angesprochene Gefahr, daß das Wie zum einzigen Kriterium erhoben alles Was absorbiert und determiniert, wodurch die wahre Religiosität kein bißchen mehr an ihren „Gehalten“ und der Lehrmeinung der Kirchen festzumachen wäre und ineinsfiele mit jeder Art spiritueller Begeisterung. Adlers „lyrische Ergriffenheit“ (127) stehe in keinerlei Verhältnis zu der christlich-theologischen Begrifflichkeit, weswegen sie zu verfehlten Ansprüchen komme und sich an ihrem Selbstverständnis entlarven läßt. […] nicht jede Ergießung religiöser Ergriffenheit ist eine christliche Ergießung. Das will heißen: Die Ergriffenheit, welche christlich ist, ist geleitet von Begriffsbestimmungen, und wenn man die Ergriffenheit in Worte umsetzt oder ihr Ausdruck gibt, um sie mitzuteilen, so muß diese Umsetzung stets innerhalb der Begriffsbestimmungen geschehen. (130)

Nur in einer Fußnote in der Nachschrift, ganz am Schluß, wird auch dort die alles entscheidende Dominanz des Wie durch die Spezifik eines christlichen Was gebremst, nämlich den menschgewordenen Gott: Das Wie der Liebe haben alle Liebenden gemeinsam, und nun muß der einzelne den Namen seiner Geliebten hinzufügen. Aber im Hinblick auf den Glauben (im strengsten Sinne – sensu strictissimo) gilt, daß dieses Wie nur auf Einen als Gegenstand paßt.140

Und auch die in meinem ersten Teil vorgestellten Entwürfe zu Vorlesungen über die Mitteilungsproblematik räumen der religiösen Mit-

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140

Wieder gibt es eine Entsprechung zu Andersen: ES, 70f. / SV XIII, 75 „[…] überdies wird man in Andersens Romanen einerseits die grundlegende Gesamtübersicht (eine Lebensanschauung) vermissen, andererseits aber immer wieder auf Situationen, Bemerkungen, usw. stoßen, welche freilich unleugbar poetisch sind, jedoch bei Andersen gleichsam unverdaut und in poetischem Sinne (nicht ebenso in geschäftlichem Sinne) ungenutzt, unangeeignet und unabgeklärt dastehen, und so dürfte man denn mit Recht den Rückschluß tun, daß Andersen selber in erster Potenz nicht poetisch-klar gelebt hat […] Andersen, dessen Romane in einem derart physischen Verhältnis zu ihm selber stehen, daß ihre Entstehung nicht so sehr als eine Produktion als vielmehr als eine Selbstamputation anzusehen ist […]“ AUN II, 328 Fußnote / SV VII, 534.

366 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi teilung ein Moment der Wissensübermittlung ein. Obschon meist die ‚Wissens-Mitteilung‘ der direkten Rede mit einem Gegenstand, über den Aussagen mit objektiver Gültigkeit gemacht werden, der ‚Könnens-Mitteilung‘ in ethisch-religiösen Angelegenheiten, gegenübergestellt wird, finden sich Stellen, in denen die ethische von der religiösen Mitteilung unterschieden wird: Der Unterschied zwischen der Erziehung im Verhältnis zum Ethischen und dem Ethisch-Religiösen ist bloß der, daß das Ethische ohne weiteres das Allgemein-Menschliche ist, aber die religiöse (christliche) Erziehung muß zuerst ein Wissen mitteilen.141

Die radikale Unkenntlichkeit des Religiösen erfährt im Buch über Adler eine Einschränkung nicht in dem Sinne, daß sie sich doch zuverlässig kriteriell ausweisen ließe, sondern so, daß es Äußerungsformen gibt, die als Hinweise für sie ausgeschlossen sind. Damit kommt Petrus Minor dahin zu sagen, daß sich die Wahrheit eines Gottesverhältnisses letztlich doch im Lebensvollzug zeige: Adler hätte sein Amt niedergelegt (42), er hätte geschwiegen oder Ärgernis erregt und in seinem Verhalten hätte sich gezeigt, daß er die Wahrheit kennt: Oder bleibt er weiterhin dabei, daß es eine Offenbarung gewesen ist? Dann muß er sich ja dazu bekennen, muß von daher argumentieren, in Übereinstimmung damit handeln und sein ganzes Dasein entsprechend umbilden.142 Soll nun zukünftig in Adlers Leben Ernst und Sinn bleiben, so muß er: entweder seine erste Äußerung widerrufen und sich mit dem begnügen, was er in seinen vier letzten Büchern tatsächlich ist, wenn diese ohne Bezug auf seinen Anfang betrachtet werden; oder er muß seine letzten Äußerungen umstoßen als einen Abfall von seiner Idee und seiner Berufung und darauf feierlich bekennen, was er durch die Pfuscharbeit der Antworten verwirrt hat: daß er nämlich eine Offenbarung gehabt und vom Erlöser eine neue Lehre empfangen habe, und dann muß er in Eigenschaft eines solchen handeln, reden und schreiben.143

In seinen Papirer behauptet Kierkegaard stärker noch (weil positiv) die Überprüfbarkeit an der existentiellen Umsetzung: Meine psychologische Taktik Niemals bestreite ich unmittelbar, was ein Mann von sich selbst sagt. Das ist das Gewöhnliche. Gesetzt, jemand sagte etwas Großes von sich selbst, dann antwortet man: das ist Lüge, Einbildung – und dann fangen sie an, sich zu streiten. Nicht ebenso ich. Nein, wenn ein Mann etwas Derartiges sagt, so antworte ich: „Wenn Sie das selbst sagen, so glaube ich es.“ Darauf nehme ich dann die Aussage, und durchdenke alle existentiellen Folgen einer 141

142 143

Pap. VIII 2 B 82, 13.Vgl. VIII 2 B 83 und VIII 2 B 85, 29, wo dieses zu Anfang mitgeteilte Wissen als „bloß vorläufig“ qualifiziert wird. BÜA 100 / Pap. VIII 2 B 7, 7 S. 27. BÜA 105 / Pap. VII 2 B 235, S. 176.

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solchen Aussage. Diese zwinge ich ihm dann auf. Eines von beiden, entweder löst er diese doch irgendwie ein, und dann war auch Wahrheit in ihm. Oder auch, er löst sie nicht ein – und dann hat er sich selbst gerichtet. Ich richte niemanden, sondern dies heißt: offenbar machen.144

Natürlich könnte man auf die Idee kommen zu sagen, dadurch daß Adler seine Hegelschen Manuskripte verbrannt habe, zeige sich die begrüßenswerte Erkenntnis, daß das mit gelebter Christlichkeit nicht vereinbar ist. Petrus Minor versucht, solche spektakulären Aktionen als unzuverlässige Zeichen abzuweisen, denn sie seien drastische Äußerlichkeiten, die nur dazu dienen, eine innere Unsicherheit zu kompensieren. Er spricht von einem „Selbstbetrug“ (115f.) und vergleicht dies mit dem Verbrennen von Liebesbriefen eines enttäuschten Fräuleins, das damit den Herzensbrecher längst nicht verschmerzt hat und mit zwei Alkoholikern: Der eine verbannt alle Flaschen aus seinem Haus und hält sich für trocken, während der wirklich geheilte gelernt hat, zu widerstehen und durch keine alkoholischen Getränke mehr rückfällig zu werden. Was solche Maßnahmen verdächtig macht, ist ihr demonstrativer und spektakulärer Charakter einer eindeutigen Äußerung. Religiöse Innerlichkeit hingegen breche nicht deutlich und abrupt aus, sondern zeige sich erst einmal gar nicht, und dann langsam und unmerklich. Nein, ganz wie sonst sein zu können, zwischen den täglichen und fortwährenden Erinnerungen an das Alte zu leben und dann doch in seines Wesens tiefstem Grunde verändert zu sein: ja, das ist eine Kunst; ist aber da die Veränderung zugegen, so ist sie auch verläßlich, und dann kann man ja immer das Äußere nach und nach verändern, wenn man sich erst recht ernsthaft davor bewahrt hat, daß die Veränderung nicht vor andern im Äußeren geschehe, sondern vor Gott im Innern. (117)

Allerdings macht dieses falsche ‚sich zeigen‘ darauf aufmerksam, daß es wieder einmal keine vollkommene Garantie für die richtige Deutung geben kann. So könnte man einwenden, daß es ziemliches Aufsehen erregt, wenn ein Gemeindepfarrer sein Amt niederlegt, ohne dafür einsehbare Gründe vorzubringen, weil er die erlebte Offenbarung erst einmal verschweigt. Also das von Petrus Minor für wahre Religiosität genannte Indiz könnte auch trügerisch sein. Dazu kommt, daß viele der im Buch über Adler angeführten Indizien an anderen Stellen in Kierkegaards Texten nicht gelten und keine zuverlässigen Zeichen für Vollmacht oder ihr Fehlen sind: Sogar in der aus den Arbeiten zu Adler entkoppelten Abhandlung „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“ ist es an der 144

Pap. X 4 A 23.

368 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Rede (z. B. ob sie eine neue Lehre bringt oder nicht) kein bißchen kenntlich, ob jemand autorisiert spricht. Allenfalls aus der Bereitschaft, für seine Wahrheit zu leiden mag man ersehen, ob Vollmacht vorliegt oder nicht.145 Es macht Sinn, hier das oben mit Wittgenstein gefundene Verständnis einer ‚religiösen Physiognomie‘ (s. o. Teil IV.3.2.) für Kierkegaard fruchtbar zu machen: Einerseits soll sich die authentische Religiosität nicht anhand von Kriterien festmachen lassen, die geheuchelt werden können und um der Mitmenschen willen an den Tag gelegt werden; andererseits darf die Innerlichkeit nicht ganz unkenntlich bleiben. Mit der Physiognomie entgeht man der Definition von Wesensmerkmalen, gibt aber nicht preis, ein Vorkommnis in seiner Einzigartigkeit zu erkennen. Das Pseudonym des Buch über Adler geht sicher am weitesten von allen, wenn es die Identifizierung wahrer religiöser Innerlichkeit durch den Ausschluß verfehlter Ausdrucksweisen ex negativo für möglich hält und vorführt. Es legt einen Gestus der Entlarvung und der definitiven Klärung an den Tag, der vermuten läßt, daß es hier die Krux von Kierkegaards eigenem Schreiben und seinem Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller versucht in Schach zu halten.146 Das geht so weit, daß Petrus Minor meint, eine Äußerung der Offenbarung müsse mit Reflexion geschehen, um adäquat zu sein, und der Reflexion anderer standhalten: Es wird nun hier angenommen, Adler habe wirklich eine Offenbarung gehabt, und es sei ihm gewiß und stehe für ihn unerschütterlich fest, daß es eine Offenbarung war, so daß sein Leben von diesem Augenblick an von Gott mit Beschlag belegt ist. Die Frage geht dann auf die dienende Reflexion, mit welcher er dieses Außerordentliche übernimmt, mit welcher er es in den Zusammenhang des Bestehenden hineinstellt. Mit dieser Überlegung kann die Kritik sich vortrefflich einlassen, und an dieser dienenden Reflexion

145

146

„Vollmacht ist eine spezifische Qualität, welche von einer andern Stelle her hinzutritt und qualitativ sich gerade geltend macht, wenn der Inhalt der Aussage oder des Tuns ästhetisch in Indifferenz gesetzt ist. Laß uns ein Beispiel nehmen, das so einfach wie möglich ist, und in dem doch das Verhältnis sichtbar wird. Wenn der, welcher die Vollmacht, das zu sagen, besitzt, zu einem Menschen spricht: ‚geh!‘ und wenn jemand, welcher die Vollmacht nicht besitzt, spricht: ‚geh!‘, so ist ja die Aussage (‚geh!) und ihr Inhalt identisch; ästhetisch geurteilt ist es, wenn man so will, gleich gut gesagt, aber die Vollmacht setzt den Unterschied.“ Kleine Schriften 1848/49 ZKA, 124; vgl. 127 und 131 / SV XI, 100, 103 und 107. George Steiner schreibt in seinem Aufsatz „On Kierkegaard“ in No Passion Spent, pp. 251-265: „On almost every page of the Adler book, we observe Kierkegaard labouring, sometimes with satiric confidence, but more often in barely muffled Angst, to shake off the intimacy of his scandalous familiar, of the ‚house-demon‘ who is also his. A particular terror emanates from these pages.“ p. 265.

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat

369

wird, wie gesagt, der Erwählte in unserer Zeit zu erkennen sein als einer, der von jedem Erwählten einer früheren Zeit verschieden ist. Das, was sie wesentlich gemeinsam haben, ist das Entscheidende, ist die Offenbarungs-Tatsache, die Begnadung; der äußere Unterschied ist die Reflexion, die der Erwählte in unserer Zeit haben muß, denn es gibt zwar nichts Neues in der Welt, aber es gibt auch keine einförmige, lediglich nachäffende Wiederholung. Die Offenbarungs-Tatsache ist das Feste, die Reflexion aber ist der Makler.147

Wie bedrohlich nah das Beispiel Adler für Kierkegaard war, wird im nächsten Kapitel deutlich: Kierkegaard läßt nicht nur wissen, daß seine Texte ein adäquater Modus der imitatio Christi seien, sondern auch, daß er als Werkzeug der göttlichen Vorsehung geschrieben habe. Um seine Werke unmißverständlich religiös rückzubinden, muß er aber im Namen der Vorsehung einen Dichter sprechen lassen, damit der Klartext über die eigene Außerordentlichkeit und Berufung nicht in der Anmaßung geschrieben wird, selbst um die Pläne Gottes zu wissen. Adler, auf dessen Vorbild er sich damals berief, um dem Antrag auf das Verfassen einer Dissertation in dänischer Sprache Gewicht zu verleihen, droht auch darin sein Vorgänger zu sein, sich selbst als Werkzeug Gottes zu verstehen. Um aber dieser dämonischen Variante der imitatio die wahre entgegenzusetzen, muß erneut eine fremde Stimme her, so daß das allerletzte Wort über die Autorschaft in Anführungszeichen gesetzt in seiner Verbindlichkeit suspendiert wird. Diese Strichelchen trennen Kierkegaard von der dämonischen Spielart des religiösen Schriftstellers, wie sie der verwirrte Magister Adler symptomatisch für seine Zeigenossen exemplifiziert hat.

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat siges, fremstilles, høres148 dies Geschlecht ist ein böses Geschlecht; es fordert ein Zeichen Lukas 11, 29.

Will man von einer Kierkegaardschen Christologie sprechen, so sind die Philosophischen Brocken von 1844 und die Einübung im Christentum von 1850 zu konsultieren. Es stellt sich heraus, daß Christus kein 147 148

BÜA 35f. / Pap. VII 2 B 235, S. 60f. Einübung im Christentum von Anti-Climacus (1850). In jedem der drei Vorworte des Herausgebers S. Kierkegaard zu den drei separaten Teilen heißt es: „In dieser aus dem Jahre 1848 herrührenden Schrift ist die Forderung an das Christ Sein von dem pseudonymen Verfasser zu höchster Idealität emporgezwungen. Doch sagen, darstellen, hören soll man die Forderung ja. […]“ EC, 78 / SV XII, 71.

370 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Mittler ist, der den transzendenten Gott näher bringt oder den Menschen an der Göttlichkeit auf Erden teilhaben läßt. Vielmehr verschärfe er das Paradox des Glaubens absolut, insofern Undenkbarkeiten geschähen, nämlich, daß Gott Menschengestalt annehme und die Ewigkeit in die Zeit einbreche. Die Unmöglichkeit von Vermittlung werde geradezu leibhaftig, wenn die Herrlichkeit Gottes incognito als armer Prediger durchs Land ziehe und die Alternative möglicher Reaktionen extrem zuspitze: entweder man glaube ihm dem äußerlichen Anschein und der verwegenen Botschaft zum Trotz, oder man nehme Ärgernis angesichts des unverschämten Anspruchs.149 Die Philosophischen Brocken sind bemüht herauszustellen, daß der Zeitgenosse Jesu nicht im Vorteil gewesen sei, weil das Entscheidende glaubend anzuerkennen und durch keine Augen-Zeugenschaft zu stützen sei. Alle nachfolgenden Generationen seien damit nicht im Nachteil, denn sie müssten auf ein historisches Faktum Bezug nehmen, dessen Relevanz sich ausschließlich im Glauben eröffne. Die Etablierung des Christentums in der Welt sowie die kulturprägenden Traditionen christlichen Lebenswandels könnten die Entscheidung dafür nicht erleichtern, denn sie seien der Wahrheit äußerlich und unwesentlich. Die Einübung im Christentum kommt auf diese Problematik zurück und greift dabei die Mitteilungsproblematik150 auf: Zwar spreche Jesus direkt und unmißverständlich, doch werde das, was er sagt, durch seine Machtlosigkeit, sein Außenseitertum und die Armut zum Widerspruch. Seine ‚Zeichen und Wunder‘ taugten nicht, seinen Status unmißverständlich klarzumachen und es gebe nichts, mit dessen Hilfe dieser zu beglaubigen wäre. Wie bei der Doppelreflexion bedürfe es der Aneignung, um die Wahrheit akzeptieren zu können und im Leben zum ausschlaggebenden Faktor zu machen. Auch der Kreuzestod garantiere die Versöhnung mit Gott keineswegs, sondern biete sie indirekt an. Hier wie dort bleibe die Erfordernis, sich Gott zuzuwenden, um Gnade zu erlangen. „Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein“, schreibt Kafka in sein Tagebuch151 und Kierkegaard aus der Seele. 149

150 151

Law widmet das siebte seiner Kapitel in seinem Buch über Kierkegaard und negative Theologie der Christologie und diagnostiziert eine Konstellation ähnlich der coincidentia oppositorum bei Nicolaus Cusanus. (a. a. O., pp. 182-205.) EC 125-148 / SV XII, 115-134. Eintrag vom 25.II.12; komplett geht er so: „Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein. Diesen Abend verbrachte ich in vollständiger Gleichgültigkeit am Familientisch, die rechte Hand an der Sessellehne der neben mir Kar-

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat

371

Die Einübung im Christentum besteht aus drei separat entstandenen Teilen, deren Überschrift jeweils eine Zeile aus dem Neuen Testament ist und welche stilistisch wie die religiösen Reden verfaßt sind und autonym geplant waren. Sie alle widmen sich Jesus Christus in seiner Widersprüchlichkeit als menschgewordener Gott, der in Erniedrigung lebt und stirbt. Der etablierten „Christenheit“ wird der Vorwurf gemacht, nur die Hoheit, Wahrheit und Gottessohnschaft, also den Zustand nach Auferstehung und Versöhnung, zu sehen, und für den Anstoß und das Abstoßende, welches für Zeitgenossen das einzige war, gleichsam aspektblind zu sein. Kierkegaard versucht, die Durchsetzung der neu gestiftenen Religion, die Kanonisierung und die große Macht und Wirkung der christlichen Lehre in der abendländischen Tradition, wegzudenken und für Wahrheitsfragen unzuständig zu erklären. Der durch den armen und ausgestoßenen Menschen, der behauptet, die Wahrheit zu sein, provozierte Widerspruch könne nur empört abgewiesen oder glaubend angeeignet werden. Ärgernis nehmen oder glauben; tertium non datur.152 Der Vergleich mit dem ‚schlechten Griechisch‘ der Bibel wird in der Einübung noch gesteigert, indem Christus als „Zeichen des Widerspruchs“ diskutiert wird und so die Mitteilungsform der Kierkegaardschen Texte teilt. Beide werben nicht um Aneignung, sondern machen sie schwierig, als noch zu leistende Aufgabe gegen eine angenehmere und leicht zu erwerbende Alternative. Alle Maßnahmen, die bisher als Arten von ‚indirekter Mitteilung‘ vorkamen, stehen im Dienste dieser „Zwiespältigkeit von Anbeginn“153, bei der vom Leser zu entscheiden ist, welche Lesart ihm gilt. Allerdings erfordert die Doppelreflexion eine Modifikation im Fall des leibhaftigen ambivalenten Zeichen Jesus, welche Kierkegaard als „Reduplikation“154 tituliert: Wichtig ist dabei erstens, Was gesagt wird, und zweitens Wer es sagt (nicht, wie vorher, Wie es gesagt wird). War es bei der Doppelreflexion darum gegangen, den Autor auszuschalten und den Hörer/Leser zur maßgebenden Instanz zu machen,

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ten spielenden Schwester, die linke schwach im Schooß. Von Zeit zu Zeit suchte ich meines Unglücks mir bewußt zu werden, es gelang mir kaum.“ 5. Heft Tagebücher in der Fassung der Handschrift, Hg.: H.-G. Koch, M. Müller, M. Pasley, Frankfurt 1990, S. 376. Auch das Ärgernis hat Wittgenstein zu denken gegeben, er beruft sich aber auf Paulus, nicht auf Kierkegaard. Denkbewegungen S. 65. SS 25ff. / SV XIII, 521ff. EC 125 / SV XII, 116.

372 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi so geht es jetzt darum, in Jesus, der etwas sagt und macht, trotz aller äußeren Erniedrigung Gott zu sehen. Man hat sinnlos vergessen, daß der Lehrer hier wichtiger ist als die Lehre. Überall, wo es geschieht, daß der Lehrer wesentlich mit dazugehört, gibt es eine Verdopplung [dän.: Redupplikation], die Verdoppelung liegt eben darin, daß der Lehrer mit dabei ist; aber überall, wo Verdoppelung ist, ist die Mitteilung auch nicht gänzlich unmittelbare Paragraphen- oder Professorenmitteilung; dadurch, daß der Lehrer in dem, was er lehrt, existiert, verdoppelt sie sich und wird eine auf mancherlei Art sich verschieden gestaltende Kunst.155

Die Doppelung, die in der Doppelreflexion vorlag, war ausschließlich auf textueller Ebene und machte das in ihnen Verhandelte zu einer Frage analog der Aspektwahrnehmung. Nun ist es so, daß die (direkten) Äußerungen Jesu durch ihn als Sprecher gebrochen werden und ihn zum Zeichen des Widerspruchs werden lassen. Das liegt daran, daß es nichts gibt, was die Wahrheit seiner unerhörten Äußerungen beglaubigt oder für die Gottessohnschaft verbürgt. Zeichen des Widerspruchs sein heißt, etwas andres sein, das in Widerstreit steht zu dem, was man unmittelbar ist. So mit dem Gott-Menschen.156 […] er ging zu denen, die krank und traurig waren, aber er hatte doch zugleich noch etwas andres zu schaffen, er sollte ja selber mit seinem Leben die Wahrheit ausdrücken, selber es darstellen [dän.: fremstille], die Wahrheit zu sein; und als wahrem Menschen war ihm dies Zweite somit gesetzt zu einer Aufgabe, die er selbst zu vollbringen hatte.157

Wie Kierkegaards Texte provoziert auch dieses lebendige Zeichen des Widerspruchs eine Entscheidung, immer wieder benutzt Anti-Climacus die Metapher der Wegscheide158 und auch die des Spiegels159 . Wieder findet sich das Verb „at støde fra“160 im Einsatz, abstoßen. 155 156 157 158

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EC 125 / SV XII, 115. EC 128 / SV XII, 118. EC 180 / SV XII, 169. EC 84 / SV XII, 78. „Die Möglichkeit des Ärgernisses ist der Scheideweg oder ist wie das Stehen am Scheideweg. Man biegt vor der Möglichkeit des Ärgernisses entweder in das Ärgernis oder in den Glauben; aber man kommt niemals zum Glauben außerhalb von der Möglichkeit des Ärgernisses her.“ Vgl. S. 22 und S. 46. EC 129 / SV XII, 118 „Da ist etwas, das macht, daß man es nicht lassen kann, hinzusehn – und sieh, indem man sieht, sieht man wie in einen Spiegel, man gelangt dazu, sich selber zu sehn, oder auch: er, der des Widerspruches Zeichen ist, sieht einem unmittelbar ins Herz, indes man hineinstarrt in den Widerspruch. Ein Widerspruch, einem Menschen unmittelbar gegenübergestellt – und wenn man ihn dann dazu kriegt, darauf hinzusehen: das ist ein Spiegel; indem der Sehende urteilt, muß es offenbar werden, was in ihm wohnt.“ EC 142 und 153 / SV XII 130 und 143. Vgl. SS 102 / XIII, 595.

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat

373

Ein solches Zeichen weckt die Aufmerksamkeit und ist uneindeutig, es erfordert eine Wahl.161 Christus ist für die Zeitgenossen incognito gewesen, die Wahrheit des Zeichens des Widerspruchs muß unkenntlich bleiben. Auch hierin parallelisiert Kierkegaard mit seiner Schriftstellerei und indiziert das sogar durch einen Vergleich, der in der ersten Person Singular ansetzt: Wenn ich incognito sein will (das Warum und ob ich auch ein Recht dazu habe, lasse ich hier beiseite), ist es da schmeichelhaft, wenn einer kommt und zu mir sagt: ich hab dich sogleich erkannt; nein, umgekehrt, es ist eine Satire über mich. Indes vielleicht war die Satire berechtigt, mein Inkognito schlecht.162

Der zusätzliche Bezug zu Sokrates verstärkt den Vergleich, indem erneut auf die Maieutik angespielt wird und – wie in den Schriften über sich selbst – Selbstverleugnung kennzeichnend wird: Also einer wählt ein Inkognito, das ihn als weit geringer zeigt als er ist; er denkt vielleicht an das Sokratische: um in Wahrheit das Gute zu tun, muß man sogar sich dem Scheine entziehen, daß man es tut. Das Inkognito ist sein freier Entschluß. Er strengt sich nun an nach äußerstem Vermögen, alle seine Erfindungsgabe und Unerschrockenheit brauchend, um das Inkognito festzuhalten. Entweder nun, es gelingt ihm, oder es mißlingt ihm. Gelingt es ihm – so, ja, so hat er ja, menschlich gesprochen, sich selber geschadet, er hat alle Menschen dahin gebracht, das Schlechteste von ihm zu glauben. O, die Selbstverleugnung; und andererseits, o, die ungeheure Anstrengung, denn er hat es ja jeden Augenblick in seiner Macht gehabt, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen. O, die Selbstverleugnung, denn was ist Selbstverleugnung ohne Freiheit; o Gipfel der Selbstverleugnung, wenn das Inkognito ihm so gut gelungen ist, daß endlich gar, auch wenn er nun unmittelbar reden wollte, keiner ihm glauben würde.163

Diese Parallelisierungen suggerieren, daß Kierkegaards imitatio keine leibhaftige ist, sondern sich textuell vollzieht. Seine ‚Zeichen des Widerspruchs‘ provozieren ebenfalls existentiell wirksame Aneignung oder Ärgernis und sein eigentliches Anliegen bleibt incognito wie die Gottessohnschaft Jesu. Seine Doppelreflexion muß die Reduplikation ersetzen, bei welcher der Sprecher die Botschaft mitqualifiziert und es etwas ausmacht, daß er mit seiner ganzen Person dahintersteht. Kierkegaards Nachfolge ist daher Wiederholung, denn sie vollzieht sich textuell und unter der christlich geforderten Selbstvernichtung der eigenen Person. Aber auch der Gesprächspartner oder Leser darf keine Rolle spielen, damit die zwischenmenschliche Kommunikation nicht das religiöse Anliegen überlagert. 161

162 163

EC 129, 138f., 143 / SV XII, 119, 127, 131: „Es gibt kein unmittelbares Mitteilen und kein unmittelbares Empfangen: es gibt eine Wahl.“ EC 131 / SV XII, 120. EC 132 / SV XII, 121.

374 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Das Doppeldeutige Alles Christliche ist doppeldeutig, Verdopplung. Und das ist das Anstrengende, auch damit das Verstehen mit anderen so schwierig wird. […] Daraus sieht man auch, daß das Christliche für A-Sozialität berechnet ist, berechnet darauf, in das Verhältnis des Einzelnen mit Gott abzusperren.164

Prekär ist hier, daß das Ganze schief gehen kann. Ironie ist nur dann welche, wenn sie in ihrer Doppelbödigkeit erkannt wird. Wird sie nur aufgrund von direkten Hinweisen verstanden, so ist ihre Wirkung dahin, wird sie gar nicht bemerkt, so ist sie eine Lüge. Ironiebezogene Aspektblindheit ist deshalb gefährlich und kann kontraproduktiv enden: Die Sache ist die, er kann den Gedanken nicht richtig festhalten, daß es jedem Unkenntlichen doch lieber sei, wenn man ihn nicht für den Guten hält, der er ist; und die Sache ist, er kann ein Inkognito nur verstehen, so lange als der Unkenntliche ihm in unmittelbarer Mitteilung zeigt, wie und daß es so ist, das heißt, so lange, als kein Inkognito besteht, oder doch der Unkenntliche nicht in dem ihm eigentümlichen Stande der Unkenntlichkeit ist, indem er seine ganze Geisteskraft darauf sammelt, die Unkenntlichkeit zu behaupten und den andern seinem Sinn überläßt. […] Ob ein Mensch das Recht hat, auf die Art irre zu führen, ob ein Mensch es vermag, und falls er es vermöchte, ob seine Rechtfertigung genügt, daß er den andern entwickle mit maieutischer Kunst, oder nach der andern Seite, ob es nicht gerade Pflicht ist, vorausgesetzt nämlich, es sei wirklich Selbstverleugnung und nicht Stolz: das lasse ich dahingestellt sein.165

Hier steckt das Dilemma: Søren Kierkegaard ist nicht der Gottmensch und deshalb kein Kandidat eines Zeichens des Widerspruchs im Sinne der Reduplikation. Wie Sokrates muß er seine Person, das Wer der Mitteilung, trickreich heraushalten. Die Brechung der Botschaft erfolgt statt dessen durch das Wie, durch die textuellen, rhetorischen und stilistischen Modi, welche verhindern, daß die christliche Wahrheit zur Lehre verkommt, die existenzindifferent zur Kenntnis genommen werden kann. Das wäre Betrug gegen Gott, denn man macht ihn in direkter (Wissens-) Mitteilung zum Gegenstand. Den im „Sinnentrug“ (dän.: Sandsebedrag) befangenen Zeitgenossen hingegen hilft nur ein Betrug (dän.: Bedrag) mit verstörenden Konsequenzen. Dann aber ist jede Art von Mißverständnis möglich und die Textproduktion als Modus der Nachfolge unter Bedingungen der Sündigkeit nicht eindeutig zu erschließen. Einerseits muß es ein konkretes und existierendes Ich geben, das die Wahrheit dessen, was er sagt verbürgt und lebt, andererseits darf dieses Ich nur dann ins Gewicht fallen, wenn es der Gottmensch ist. 164 165

Pap. XI 2 A 65. EC 133f. / SV XII, 123.

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat

375

Mit der Frage nach dem Recht darauf, die Leser und Mitmenschen zu täuschen, in die Irre zu führen und das religiöses Anliegen zu verbergen um der konsequenten Zweideutigkeit willen, kommt die Verantwortung für den anderen Menschen explizit ins Spiel. Imitatio muß ihr Ziel erreichen und das sieht Kierkegaard durch seine Texte, deren erste Rezeption er miterlebte, gefährdet. Wie in meiner Zugabe mit Derrida und Lévinas angedeutet, kann Kierkegaard nicht umhin, die fremde Sinngebung in sein Schreiben einzubeziehen, auch und gerade dann, wenn er sich ihr gegenüber letztlich machtlos weiß. Wie im Zitat deutlich, wirft Kierkegaard die Frage nach dem Recht mehrfach in der Einübung auf, beantwortet sie aber nicht (explizit). Doch diskutiert er sie andernorts mit Bezug auf die leibhaftige Nachfolge eines Menschen, der für die Wahrheit zu sterben bereit ist. Er widmet dem Märtyrertum einen eigenen Aufsatz mit dem Titel: „Hat ein Mensch das Recht, sich für die Wahrheit totschlagen zu lassen?“ Zusammen mit dem aus den Arbeiten zum Buch über Adler entkoppelten Aufsatz „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“ wurde dieser Aufsatz mit dem Titel Zwo kleine ethisch-religiöse Abhandlungen 1849 unter dem anonymen Pseudonym H. H. publiziert. Die Grundfrage ist folgende: Der Wahrheitszeuge nimmt in Kauf, daß seine Mitmenschen eines Mordes schuldig werden, wenn sie ihn töten, weil er nicht abläßt von der Wahrheit. Die Frage ist, ob er nicht Verantwortung für die anderen hat und deshalb verhindern muß, daß sie an ihm schuldig werden. Sollte er Kompromisse eingehen bei der Verkündigung, um den Konflikt nicht zum Äußersten kommen zu lassen? Ist der Tod als Opfer für die Wahrheit ein taugliches Mittel, andere zu erwecken? Ist es so, daß die Unwahrheit nur so lange stark ist, wie es Menschen gibt, die für die Wahrheit einstehen und bekämpft werden können? Zur Debatte steht die Pflicht der Wahrheit gegenüber, insofern sie in Konflikt gerät mit der Pflicht meinen Mitmenschen gegenüber (vgl. Abraham). Kierkegaards Antwort: Nur der Tod Jesu hat die Macht, rückwirkend alle Schuld zu tilgen166, nicht aber der von seinen Nachfolgern, den Märtyrern. Das Argument lautet: […] darf man denn annehmen, daß ich oder überhaupt ein Mensch anderen gegenüber in so hohem Maße die Wahrheit besitze? […] darf man annehmen, daß ein einzelner Mensch in dem Verhältnis zu andern Menschen in schlechthin unbedingtem Besitz der Wahrheit ist?167 166 167

Kleine Schriften 1848/49, ZKA 98 / SV XI 75. Ebd.

376 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Wie grundsätzlich bei der Mitteilungsproblematik gibt es auch hier die Unmöglichkeit, fremdes Verstehen oder Mißverstehen adäquat zu beurteilen. Wenn also in Wahrheitsfragen ein Konflikt aufkommt, darf die Konfrontation sich nicht verhärten, weil jede der Parteien im Irrtum sein kann und durch die andere veranlaßt werden muß, die eigene Position zu überdenken und weil die Art und Weise, sie zu vertreten, unangemessen sein kann. Der Fehler des Märtyrers liegt darin, die Asymmetrie des Verhältnisses zwischen Jesus und den Menschen auch für sich zu reklamieren. Damit mißversteht er seinen Status als Mensch, der Sünder unter anderen Sündern ist und jenen nur relativ voraus sein kann. Wenn er sich wie Christus totschlagen läßt, macht er den Unterschied zwischen sich und den anderen Menschen absolut und begeht dadurch eine neue Sünde, die der Anmaßung. Nein, eine noch größere Anmaßung ist es, wenn man meint, dermaßen im Besitz der Wahrheit zu sein, daß man den Tod erleidet um der Wahrheit willen, daß man andere daran schluldig werden läßt, einen zu töten um der Wahrheit willen.168

Folglich darf die imitatio Christi keine sein, die dessen Konsequenz nachmacht und bis zum Äußersten geht, bis zum Tod. Das wäre die mechanische Nachahmung, die nicht mitbedenkt, daß ein Vorbild nach Maßgabe des Göttlichen ohne Sünde ist und gar nicht genauso von Sündern imitierbar ist. Sie macht Exemplarisches zur neuen Norm und reduziert den Fall auf ein Regelvorkommnis. Die leibhaftige Nachfolge der Märtyrer beruht Kierkegaard zufolge auf einem verfehlten Anspruch und der anmaßenden Verkennung der eigenen Relation zur Wahrheit. Ob die eigenen Maßnahmen nämlich der Wahrheit gemäß sind im Gegensatz zu denen der anderen Menschen, kann man nie sicher wissen und deshalb ist es nicht zu verantworten, daß man in Kauf nimmt, getötet zu werden. Doch auch hier gibt Kierkegaard die Kenntlichkeit des Wahren nicht vollkommen preis, er läßt sie nicht scheitern an der Ungewißheit angesichts Gottes: Bereits sokratisch geurteilt, und noch entschiedener der Lehre des Christentums gemäß, ist die Wahrheit in der Minderheit, sind daher gerade „die vielen“ ein Kriterium der Unwahrheit, ist gerade das Sieghafte der Zeiger, welcher die Unwahrheit verrät. Ist aber die Wahrheit in der Minderheit, so müssen die Kennzeichen dafür, daß jemand in der Wahrheit ist, polemisch werden, sich umkehren: nicht Jubel und Beifall sind das Kennzeichen, sondern Mißfallen.169

168 169

Kleine Schriften 1848/49, ZKA 109 / SV XI, 86. Kleine Schriften 1848/49, ZKA 113 / SV XI, 89f.

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat

377

In der Nachschrift wird ein anderer Grund genannt, der das Märtyrertum suspekt macht: Genauso, wie jemand, der sich in ein Kloster zurückziehe, sei ein Märtyrer jemand, der seine religiöse Innerlichkeit äußerlich kenntlich zu machen versuche. Aber wenn man zeigen wolle, was in einem steckt, sei das, was man tut, um seiner selbst und der Einschätzung der Mitmenschen willen, nicht aber um Gottes willen. Deshalb sei der Widerstand, den der Märtyrer von den Ungläubigen erfährt, Teil seiner Aktion, er bedürfe der Konfrontation mit anderen Menschen und könne seiner Religiosität nur Ausdruck verleihen, wenn es Gegner gebe. Denn die Kraft nach außen gewandt, der Widerstand von außen: dann ist der Widerstand nur halb als Widerstand zu veranschlagen, halb ist er Unterstützung. Die verborgene Innerlichkeit hat ihr Maryrium in sich selbst.170

Wie in Furcht und Zittern entwirft Kierkegaard einen unscheinbaren Spießer als Beispiel für jemanden, der religiöse Innerlichkeit kultiviert: Nicht heroische Aktionen, sondern die vergnügliche Fahrt in den Wildpark, welche niemand Grund hat zu bewundern, könne zum Ausdruck eines Gottesverhältnisses werden. Ganz gleichgültig, was man macht, es werde zur religiösen Tat qualifiziert, wenn es ‚vor Gott‘ geschehe. Das aber finde keinen identifizierbaren Ausdruck und sei eine Frage der Innerlichkeit: Denn die wahre Religiösität ist, gleichwie Gottes Allgegenwart an der Unsichtbarkeit kenntlich ist, eben an der Unsichtbarkeit kenntlich, d. h. sie ist nicht zu sehen. Der Gott, auf den man hinzeigen kann, ist ein Götze, und die Religiosität, auf die man hinzeigen kann, ist eine unvollkommene Art von Religiosität.171

Jeder Versuch, das eigene Gottesverhältnis auch anderen kenntlich zu machen, ist falsch, da dann die Mitmenschen zur Instanz gemacht werden und ein Vergleich provoziert wird. Wenn das Gottesverhältnis die höchste Auszeichnung eines Menschen ist (ob auch diese Auszeichnung jedem offensteht), so ist der direkte Ausdruck eine Anmaßung, ja sogar der direkte Ausdruck dafür, ein, wie man sagt, Verstoßener zu sein, ja sogar das, daß man den Spott der Welt über sich in einen direkten Ausdruck dafür verwandelt, daß man der Religiöse sei, ist Anmaßung; denn der direkte Ausdruck enthält indirekt eine Bezichtigung aller anderen, daß sie nicht Religiöse seien.172

All dies ist nicht neu, es handelt sich um die radikale Auffassung religiöser Innerlichkeit, wie sie schon oft in meiner Arbeit vorkam. Aber 170 171 172

AUN II, 217 / SV VII, 441. AUN II, 183 / SV VII, 412f. AUN II, 219 / SV VII, 443.

378 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi auch diesmal, wie in Furcht und Zittern, kann man zwar nicht auf den Religiösen zeigen, ihn in Augenschein nehmen und Zeuge seines Gottesverhältnisses werden, doch läßt sich wieder mit Wittgenstein sagen, daß sich die Religiosität eines Menschen zeigt. Die zitierten und referierten Passagen sind nämlich in einem Kapitel, das den Titel Leiden trägt und dies als „Kennzeichen davon, daß ein Existierender sich zu einer ewigen Seligkeit verhält“173 verhandelt. Als „Handeln der Innerlichkeit“174 sei Leiden „Merkmal“175 dafür, daß jemand sich um sein Gottesverhältnis bemüht, aber nie sicher sein kann, daß es in Ordnung ist. Der Religiöse verhält sich zu einer ewigen Seligkeit, und das Verhältnis ist am Leiden kenntlich, und das Leiden ist der wesentliche Ausdruck des Verhältnisses – für einen Existierenden. Wie sich für einen Existierenden die höchsten Prinzipien des Denkens nur negativ beweisen lassen, und sie positiv beweisen zu wollen, sogleich verrät, daß der Beweisende, insofern er doch wohl ein Existierender ist, im Begriff ist, phantastisch zu werden: so läßt sich auch für einen Existierenden das Existenzverhältnis zum absoluten Gut nur durch das Negative bestimmen: das Verhältnis zur ewigen Seligkeit durch das Leiden, gleichwie die Gewißheit des Glaubens, der sich zu einer ewigen Seligkeit verhält, durch die Ungewißheit bestimmt wird.176

Wieder ist religiöse Innerlichkeit an der Unkenntlichkeit kenntlich, oder, wie es heißt, am Negativen kenntlich, nämlich am „Absterben in der Unmittelbarkeit“ und an der „Selbstvernichtung“.177 Ein solcher Tod ist kein handfester, er behauptet sich – wie Kierkegaards Autorschaft – mit dem Schein des Endlichen in der Welt und wirkt auf sie ein wie die Machenschaften der untoten Agnete in der Fußnote von Furcht und Zittern. Also gibt es eine Zuordnung von Merkmal und Religiosität, auch wenn sie nicht direkt und eindeutig ist. In den Papirer nennt Kierkegaard das „omvendt Dialektik“, umgekehrte (auch: bekehrte) Dialektik178: Sie ist vergleichbar mit dem, was in den Evangelien, z. B. in den Seligpreisungen bei Matthäus und Lukas vorkommt, wo der Verlust auf Erden eigentlich ein Gewinn ist etc. Zwar gibt es keine Proportionalität, mit der man kalkulieren könnte, doch sind die Zuordnungen in ihrer Entgegensetzung klar beschrieben. 173 174 175 176

177 178

AUN II, 138 / VII, 374. AUN II, 141 / VII, 377. AUN II, 150 und 162f. / SV VII, 385 und 395f. AUN II, 163 / VII, 396. Vgl. AUN II, 139f./VII, 375; AUN II, 242f./VII, 465; AUN II, 233f./VII, 457. AUN II, 169 / VII, 401. Pap. VIII 1 A 492.

V.5. ‚Zeichen des Widerspruchs‘: Kierkegaards Bekenntnis und Verrat

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Widerspruchsvoll versucht Kierkegaard es nicht zu weit zu treiben mit der negativen Kenntlichkeit des Religiösen und versucht, Leiden als Merkmal zu verunsichern, die Dialektik ist nicht nur negativ, sondern auch unzuverlässig. „Handeln im Äußeren“ sei „ästhetisches Pathos“ und tangiere die innere Existenz des Individuums nicht.179 Dies ist besonders deutlich in den Christlichen Reden von 1847, die das Leiden zum Thema haben: Kierkegaard ermutigt seine Leser, das Leiden ohne Stöhnen und Klagen zu erdulden, auch wenn es Erleichterung verschaffe, ihm Ausdruck zu verleihen. Er legt Wert darauf, daß der Glauben nicht sichtbar wird.180 An diesen Textstellen wird deutlich, daß Hegels Erbe, das dialektischen Verfahren, bei Kierkegaard unterschiedlich ausfällt: Obschon es streckenweise funktioniert, ist es – getreu dem auf der ersten Seite von Entweder-Oder verkündeten Programm – häufig gestört, verunsichert und unzuverlässig. Vergleichbares läßt sich beim Aspektwechsel diagnostizieren: Aufschlußreich ist wieder eine Berufung auf Sokrates, diesmal mit einem Aspektwechsel, dessen Priorität feststeht. Aelianus […] erzählt von einem Maler, bei dem einer ein Werk bestellt hat, das ein Pferd, das sich wälzt, darstellen soll. Der Maler malte ein Pferd im vollen Sprung. Da der Eigentümer sich beschwerte und sagte, das sei nicht, was er bestellt habe, antwortete der Maler: stelle das Bild auf den Kopf und Du hast das Verlangte. – So, sagt Aelianus, ist die Rede des Sokrates, man muß sie umgekehrt verstehen. Das ist ja vortrefflich. Als ich über Ironie schrieb, hatte ich Aelianus nicht gelesen, niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht.181

Bei diesem Phänomen von Aspektwahrnehmung ist der Effekt eindeutig und die richtige Lesart steht außer Frage. Der Maler macht sich nur einen Spaß aus der Doppeldeutigkeit und riskiert nicht, seinen Auftraggeber dauerhaft zu irritieren. Deshalb paßt dieses Beispiel nicht in die Ironieschrift, da dort die sokratische Ironie nicht die ist, die schlicht das Gegenteil des Gemeinten behauptet und auf ihr Eigentliches keinen Zweifel kommen läßt. So gibt es dort auch ein 179 180

181

AUN II, 140 / SV VII, 376. „Das Evangelium der Leiden.“ Christliche Reden 1847, 18. Abteilung Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847, ERG 245 / SV VIII, 319ff. „Und wofern jemand Seufzer und Klagegeschrei und Jammern hören möchte, so hört man das von den Leidenden oft genug. Und auch davon gilt, daß es recht leicht ist, zu wimmern und zu klagen und zu stöhnen, selbst über Kleinigkeiten; das braucht ein Leidender nicht zu lernen, denn der Schmerz selbst ist der erste Erfinder all dessen und der Schmerz hat sogleich den Schrei bei der Hand. Aber zu schweigen und geduldig zu sein […]“ Pap. X 4 A 490.

380 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Beispiel für Aspektwahrnehmung, bei welchem die Zweideutigkeit aber keine Schlagseite hat. Man gestatte mir, das was ich meine an einem Bild zu veranschaulichen. Es gibt einen Kupferstich, welcher Napoleons Grab darstellt. Zwei hohe Bäume überschatten es. Mehr ist auf dem Stich nicht zu sehen, und der unmittelbare Beobachter sieht sonst nichts. Zwischen den beiden Bäumen ist leerer Raum; indem das Auge diesen Raum umreißenden Konturen folgt, tritt aus dem Nichts plötzlich Napoleon selbst hervor, und nun ist es unmöglich, ihn wieder entschwinden zu lassen. Das Auge, das ihn einmal gesehen, sieht ihn nun mit einer fast beängstigenden Unentrinnlichkeit jederzeit. Ebenso auch mit den Erwiderungen des Sokrates.182

Kierkegaard hat die Wahl zwischen zwei Anmaßungen183: Entweder er schreibt Texte, die wie die der Bibel funktionieren und die Qualität 182 183

BI 17 / XIII, 115 / SKS 1, 80f. Den Hinweis hierfür habe ich gefunden bei Richard Kearney Poetics of Modernity. Toward a Hermeneutic Imagination, New Jersey 1995, „Kierkegaard‘s Dilemma“, pp. 18-34. „(…) he [Kierkegaard] reminds us throughout that Christ himself deployed the mode of indirect address for most of his life. Thus, while at one level Kierkegaard‘s return to the pseudonymous constraints of indirect address can be interpreted as a way of humbly distancing himself from the immediacy of apostolic witness, at another level it can be read in the contrary sense as yet another ingenious poetical ploy to reidentify himself with the vocation of the God-Man (by redeploying Christ‘s own indirect mode of communication). […] In refuting the Idealist path to the God-Man as a blasphemous attempt to mediate paradox in direct communication, Kierkegaard hits upon an opposite way of identifying with the God-Man by actually recreating paradox in and through indirect communication.“ (p. 31) Wie sein alter ego Adler, der explizit von sich behauptet auserwählt zu sein und eine Offenbarung erlebt zu haben, reklamiert Kierkegaard Kearney zufolge durch seine Mitteilungsform dasselbe, nur versteckter: „Kierkegaard‘s confusion about Adler is an accurate, if refracted, mirroring of his confusion about himself.“ (p. 34). Allerdings nimmt Kearney als Anlaß für diese seine Überlegungen Tagebucheintragungen um Ostern 1848, als Kierkegaard ein religiöses Vergebungserlebnis notiert und in diesem Zusammenhang äußert „Ich muß sprechen“. Die eigene Versöhnung mit Gott also wäre ausschlaggebend dafür, daß Kierkegaard seine Schriftstellerei als Nachfolge versteht und direkt mitteilt. Als Apostel, nicht mehr als Genie, vermöge er seine Texte als imitatio Christi aufzufassen (Vgl. den Essay von 1847 „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“ und Pap III A 1). Drei Gründe sprechen dagegen, das biographische Schlüsselerlebnis so zentral zu machen: Erstens schreibt Kierkegaard doch noch weiter unter Pseudonym, seine Tagebucheinträge dokumentieren ein Hin und Her zwischen Anspruch der Nachfolge und Rückzug auf die alte Position des Redens „ohne Autorität“. Zweitens gab es schon vorher vereindeutigende Hinweise, nicht erst nach 1848 oder in den posthum veröffentlichen Schriften über sich selbst. Vor allem aber ist in den vorigen Kapiteln deutlich geworden, daß insbesondere die frühen pseudonymen Texte ambivalente „Zeichen des Widerspruchs“ sind und deshalb wie Christus selbst der Einübung im Christentum zufolge.

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eines ‚Zeichens des Widerspruchs‘ haben, wie es Jesus Christus kennzeichnet. Dann ist seine Nachfolge zwar konsequent aber gefährlich: Menschen werden unter Umständen in die Irre geführt und dazu gebracht, in eine nicht-religiöse Lesart und Existenzweise verführt zu werden. Aus dieser Verantwortung heraus plädiert Kierkegaard dafür, Maieutik in Zeugenschaft enden zu lassen und die Mitteilung „früher oder später, bei der unmittelbaren Mitteilung enden“184 zu lassen: […] das Erweckende liegt darin, daß Gott mir die Kraft gegeben hat, wie ein Rätsel zu existieren – aber nicht mehr lange, so daß das Erweckende nicht im Verwirrenden endet.185 Die Mitteilung des Christlichen kann doch zum Schluß darin enden, zu „bezeugen“, das Maieutische kann nicht die letzte Form sein. Denn, Christlich verstanden, liegt die Wahrheit doch nicht im Subjekt (wie Sokrates es verstand) sondern in der Offenbarung, die man verkünden kann.186

So aber gibt er der alternativen Anmaßung statt: er bekennt sich zu dieser seiner Taktik, stellt sie in die christliche Tradition und vereindeutigt sie dadurch. Durch diese Einordnung verschafft er seinen Texten eine höhere Autorität, als es ein von ihm verantwortetes Buch je haben könnte. Zudem kann er nicht umhin, sich und sein Gottesverhältnis zum Thema zu machen, denn es ist der ausschlaggebende Faktor für die textuelle imitatio im Dienste der Erbauung. Das aber kommt nur Christus zu, weil er der menschgewordene Gott war. Nachfolge, die sich bekennt, ist keine mehr. So sind die Vereindeutigungsversuche in der Einübung sehr zögerlich, versteckt und widerrufen wie eh und je: Zunächst sollte der Text autonym erscheinen, es gab ein Hin und Her, bis schließlich das späte Pseudonym Anti-Climacus das Rennen machte. […] daß es Dichter-Mitteilung ist, will sagen, daß das, was ich sage, nicht dichterisch ist, denn das, was ich sage, ist die Wahrheit, aber das, daß ich es sage ist das dichterische.187

Damit taucht das ‚Dichterische‘ in neuer Funktion auf, es sorgt dafür, daß die Brechung der direkten Rede durch die Person, die kein Gottmensch ist, nicht zur Anmaßung wird. Die Formulierungen in der ersten Person Singular, wie sie oben zum Teil bereits zitiert wurden, werden zum Teil gestrichen und unpersönlich wiedergegeben. Auch dann, 184 185 186 187

SS 6 / SV XIII, 495. Pap. IX A 218. (1848) Pap. IX A 221. Pap. X 2 A 184.

382 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi wenn er seine ‚indirekte Mitteilung‘ beschreibt, ersetzt er kurz vor der Drucklegung das „ich“ durch „einige pseudonyme Verfasser“188. Unglücklicherweise hat Kierkegaard im Rahmen seiner theologischen Ausbildung einen Teil des dritten Essays der Einübung als Predigt gehalten. Nach der Pseudonymsetzung mußte er sich etwas einfallen lassen, um dies in die Druckfassung aufnehmen zu können, ohne dem Pseudonym einen Plagiatsvorwurf einzuhandeln. Er hat in einer Fußnote folgende Rechtfertigung gegeben: Diese Rede ist von Mag. Kierkegaard Freitag, den 1. September 1848 in der Frauenkirche gehalten worden. Da eigentlich sie mir die Idee für den Titel gegeben hat, habe ich sie mit seiner Genehmigung abgedruckt.189

Noch auf eine andere Weise bringt Kierkegaard sich selbst verkappt ins Spiel, nämlich durch das Beispiel zweier Liebender, deren einer dem anderen ein Rätsel wird und dem anderen abverlangt, an seine Liebe zu glauben. Ich entscheide jetzt nicht, ob er ein Recht dazu hat, ich gehe lediglich den gedanklichen Bestimmungen nach; und auf jeden Fall muß man sich ja erinnern, daß ein Maieutiker bis zu einem gewissen Punkte hin das gleiche tut, die dialektische Zwiefältigkeit hinstellt, jedoch mit gerade der umgekehrten Absicht, eben um den andern Menschen von sich fortzuwenden, um zu machen, daß er sich nach innen kehre, um ihn frei zu machen, nicht um ihn an sich zu ziehn.190

Obschon Kierkegaard immer die Fragen nach dem Recht aufwirft und unentschieden beiseite schiebt, obschon seine Texte von ihm stilisiert werden wie Jesus Christus und Zeichen des Widerspruchs sind, nimmt er explizit Distanz dazu und gibt seine Stellung zu den aufgeworfenen Problemen als „rein formell wissend“191 an. Vor allem, wenn man die Stadien verfolgt, die dieser Text vor der Publikation durchläuft, wird deutlich, wie sich Kierkegaard zwischen den oben skizzierten Anmaßungen bewegt. Letztlich geht er (konsequenterweise) so weit, religiöse Innerlichkeit zu ironisieren192 und zu fordern, daß sich die Überzeugung zeigen muß, auch und gerade mit dem Effekt des Anstoßes wie bei den Märtyrern und dem Vorbild Christus. Verborgene Innerlichkeit wird zum Kennzeichen der indifferenten Zeitgenossen, die das Christentum gesellschaftlich institutionalisiert 188

189 190 191 192

EC 135 / SV XII, 124. Vgl. Hirschs Anmerkungen 227 und 170, S. 275 und 271 der deutschen Ausgabe. EC 151 / SV XII 141. EC 145 / SV XII, 132. EC 141f. / SV XII, 129. EC 213-232 / SV XII, 195-213.

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haben und die christliche Wahrheit in die Innerlichkeit verweisen, um ihre Ruhe zu haben. Genauso, wie die triumphierende Kirche ist das keine wahre Form des Christseins, denn dieses stehe wesentlich polemisch zur Welt und zeichne sich auch dann durch Leiden an ihr aus, wenn alle dafür sind. Solange diese Welt besteht, und in ihr die christliche Kirche, ist diese eine streitende Kirche; doch hat sie die Verheißung, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen. Jedoch wehe, wehe der christlichen Kirche, wenn sie gesiegt haben will in dieser Welt; denn alsdann hat nicht sie gesiegt, alsdann hat die Welt gesiegt. 193 In versteckter Innerlichkeit sind sie alle Christen; wer wagte es zu leugnen; […] Aber sollte es nicht doch möglich sein, diese Geheimniskrämerei zu brechen und ein bißchen offenbar werden zu lassen, ohne sich dessen schuldig zu machen, daß man Herzenskündiger wird?194

Kierkegaard meint, der wahre Christ sei immer Märtyrer und rechnet damit, mit seiner Einübung anzuecken und in Schwierigkeiten zu kommen. Er geht zum Bischof, um eine Rüge erteilt zu bekommen und um zu diskutieren. Der Bischof war ein Freund von Vater Kierkegaard, er empfängt Søren, zeigt sich aber indifferent und freundlich, auch später bezieht er sich in seinen Predigten kein bißchen auf den Text. Auch die erwartete „Regierungshandlung“195 bleibt aus. Wie so oft versucht Kierkegaard eine Provokation, die aber vollkommen ins Leere läuft (oder, wie bei der Corsaraffaire, nach hinten losgeht). Mit der wachsenden Vereindeutigung der religiösen Stoßrichtung seiner Texte steigert sich auch das Problem der Anmaßung. Um dem zu entgegnen, weiß Kierkegaard keinen anderen Ausweg, als wieder von Verbindlichkeit zu suspendieren und alles in die Anführungszeichen fremder Rede zu setzen. 193 194 195

EC 223 / SV XII, 205. EC 219 / SV XII, 202. (Pap. X 3 A 564) Vgl. Beilage der deutschen Ausgabe S. 286ff., wo das Vorwort der zweiten Auflage von 1855 abgedruckt ist. „Im Übrigen weiß ich recht gut, daß der alte Bischof darin den Angriff erblickt hat; aber ohne Kraft, wie gesagt, entschied er sich dafür, nichts zu tun außer höchstens daß er es verurteilte innerhalb seiner vier Wände, jedoch nicht einmal in privatem Gespräch mit mir und das ungeachtet dessen, daß ich ihn darum bat, nachdem, mit seiner Einwilligung, vor mich gebracht worden war, wie er innerhalb seiner vier Wände urteilte.“ EC 287f. / SV XIV, 81. In seinen Tagebüchern zitiert er die Reaktion des Bischofs (Pap. X 3 A 563 ) „ich habe ja kein Recht zur Zurechtweisung. Es ist, wie ich ihnen gesagt habe: ich habe gar nichts dagegen, daß jeder Vogel singe, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.“ In Pap. X 3 A 578 heißt es: „Daß ich Recht habe, wissen im Grund alle – auch Bischof Mynster. Daß ich nicht Recht bekomme, daß wissen wir alle – ich auch.“

384 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Genau das macht Kierkegaard in seinen letzten Worten über die Autorschaft in den Schriften über sich selbst: Er gibt der Anmaßung weitgehend statt, wenn er sich wie Adler als Werkzeug göttlicher Vorsehung beschreibt. Mit großem Zögern ob der Peinlichkeit über sich selbst zu sprechen, muß Kierkegaard im Kapitel III der Schriften über sich selbst auf sein Gottesverhältnis kommen.196 Die schriftstellerische Produktivität nämlich sei religiöse Pflicht und kein Versuch, zu Ruhm und Ansehen unter den Intellektuellen zu kommen oder die eigenen Talente auszuleben. Deshalb sei es eine Frage des Gehorsams Gott gegenüber, die dichterische Begabung im Zaum zu halten und die eigenen Ideen nicht um ihrer selbst willen zu formulieren. Es heißt vom „Dichter“, er rufe die Muse an um die Gedanken zu empfangen. Das ist bei mir eigentlich nie so gewesen, meine Individualität verwehrt es mir sogar es zu verstehen; dahingegen hab ich Gott jeden Tag nötig gehabt um mich zu wehren wider den Reichtum der Gedanken. Wahrlich, gib einem Menschen eine solche Schaffenskraft, und dann eine so schwächliche Gesundheit, er soll es wohl lernen zu beten. Ich habe jedweden Augenblick das Kunststück machen können, und ich kann es noch jetzt machen: ich könnte mich hinsetzen und daran bleiben ununterbrochen Tag und Nacht zu schreiben und aber einen Tag und eine Nacht, denn Reichtum ist da genug. Täte ich es, so bin ich gesprengt. O, bloß die geringste diätetische Unvorsichtigkeit, und ich bin in Lebensgefahr. Wenn ich so Gehorsam lerne, die Arbeit tue als eine strenge Pflichtarbeit, die Feder recht ordentlich halte, jeglichen Buchstaben sorgsam schreibe, so kann ich. Und so hab ich viele, viele Male mehr Freude denn an dem Gedanken, den ich erzeuge, an dem Gehorsamsverhältnis zu Gott gehabt. […] Nichts gleicht meinem Gebaren weniger als jenes genialische Drauflosstürmen, und dann ein tumultuarisches Abbrechen; ich habe im Grunde gelebt wie ein Schreiber auf seinem Kontor.197

Er sieht rückblickend seine Bücher als eine Ganzheit an und entdeckt darin den Plan der Vorsehung198, welchen er, ohne ihn zu kennen, ausgeführt habe. Weder Apostel noch Lehrer sei er stets nur Mitschüler gewesen und von der Vorsehung mittels Schriftstellerei erzogen worden. Die gesamte Schriftstellerei hat in gewissem Sinne eine ununterbrochene Gleichmäßigkeit gehabt, so als ob ich nichts anderes bestellt hätte denn jeden Tag ein bestimmtes Stück aus einem gedruckten Buche abzuschreiben. […] Der Vorgang ist: eine dichterische und philosophische Natur wird beiseite geschafft des Christ Werdens wegen.199

Gerade wegen seiner Begabungen hält Kierkegaard sich für verführbar, was ihn tauglich mache, gegen das Ästhetische nicht nur bei sich

196 197 198 199

SS 66ff. / SV XIII, 556. SS 69f. / XIII, 559. dän.: styrelse; Hirsch übersetzt mit „Weltlenkung“. SS 72f. / SV XIII, 561f.

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selbst, sondern auch bei den anderen Menschen anzuarbeiten. Er wisse das Gift als Gegengift zu nutzen und kenne deshalb die wirksamste Therapie. Sein Beispiel ist aber diesmal ein anderes, es ist der Spion, der von der Polizei deshalb effektiv eingesetzt werden könne, weil er die kriminelle Szene kennt und ihr vielleicht selbst einmal angehört hat. Ein braver Bürger würde auffallen, wüßte nicht, worauf zu achten ist und wäre sofort enttarnt.200 Der Preis dafür, von der Vorsehung eingesetzt zu werden, sei es, von den Zeitgenossen verkannt und verlacht zu werden. Damit teilt er das Schicksal des Märtyrers, um der Wahrheit willen zu leiden201, nur auf intellektueller Ebene. Kierkegaard ist vollkommen klar, daß er mit dieser Einordnung seiner Texte deren wichtigstes Merkmal, die Zweideutigkeit, zugunsten einer religiösen Lesart nimmt. Im Epilog verteidigt er diese Vereindeutigung dadurch, daß ihm gerade das verlorengehe, was ihn beliebt mache und was seine Texte attraktiv werden ließ für die Zeitgenossen. Mir geht verloren das Interessante, daß ich eine interessante Möglichkeit bin: ob es doch nicht möglich, daß der, welcher mit eben solcher Begeisterung und Wärme auch das Ethische darstellte, ob es doch nicht möglich, daß er eben das Gegenteil wäre entweder auf die eine Art oder auf die andre Art, da es, ach wie interessant, unmöglich ist mit Bestimmtheit zu sagen, was bei ihm zutrifft. Mir geht verloren das Interessante, daß ich ein Rätsel bin, ob diese bis zum Äußersten getriebene Verteidigung des Christentums nicht die mit größter Arglist ersonnene Gestalt eines Angriffs sei. […] Und jetzt, jetzt bin ich überhaupt nicht mehr interessant. Daß dies Christ Werden, daß es wirklich der Grundgedanke in der gesamten Wirksamkeit als Schriftsteller sein sollte: wie langweilig!202

Eins bleibt problematisch: Wie kann der Spion, das Werkzeug, sich anmaßen, die großen Pläne, in denen er bzw. es eingesetzt wurde zu kennen und durchschauen? Die eindeutige Klarstellung der Stoßrichtung der Autorschaft als religiöse Pflicht, die, teilweise ohne dessen bewußt zu sein, ausgeführt wurde, definitiv hinzustellen, müßte intime Kenntnis der Vorsehung beanspruchen können. Da das genau dem widerspricht, was dieser Enthüllungstext leisten soll, muß paradoxerweise ganz am Schluß noch einmal eine fremde Stimme her. Die letzten Worte sagt ein Dichter, sie sind in Anführungszeichen und wie die gesamte Autorschaft eingeklammert. Diese Strichelchen trennen Kierkegaard von seinem alter ego Adler.

200 201 202

SS 83f. / SV XIII, 571f. SS 45, 63, 92 u. ö. / SV XIII, 338, 553, 580. SS 88f. / SV XIII, 576f.

386 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Mehr habe ich nicht zu sagen, nur daß ich zum Schluß einen andern reden lassen will, meinen Dichter, der, wenn er kommt, mir den Platz anweisen wird unter denen, die gelitten für eine Idee. Er wird sagen: „Das Martyrium, das dieser Schriftsteller erlitt, läßt sich ganz kurz so beschreiben: […]“203 […] während er dialektisch in Eigenschaft als Schriftsteller Überschau hielt über das Ganze, verstand er christlich, für ihn bedeute das Ganze Erziehung im Christentum. Das dialektische Gebäude, das er aufführte, dessen einzelne Teile schon Werke sind, konnte er keinem Menschen zueignen, noch weniger wollte er es sich selbst zueignen; hätte er es jemand zueignen müssen, so wäre dies die Weltlenkung gewesen, der es doch immerhin Tag um Tag, Jahr auf Jahr vom Verfasser zugeeignet gewesen ist, der, historisch, an einer tödlichen Krankheit starb, aber dichterisch starb aus Sehnsucht nach der Ewigkeit, um ohn‘ Unterbrechen nichts andres mehr zu tun als Gott zu danken.204

Damit nicht genug: es gab den Plan, die Schriften über sich selbst von einem Pseudonym herauszugeben, nämlich Johannes de silentio, der Autor von Furcht und Zittern, dem auch einige der autonym publizierten erbaulichen Reden als Herausgeber anvertraut hatten werden sollen (s. o. I.3.)205 Dazu kommt, daß es kein Zufall war, daß der längste Text der Schriften über sich selbst, „Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller“, erst postum publiziert wurde. Darin steht das gerade besprochene Kapitel über die Vorsehung mit der Unmöglichkeit eines religiösen Klartexts. NB. NB. NB. „Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller“ soll nicht erscheinen, nein, nein! 1) Und das ist das Entscheidende […] ich kann mich nicht ganz wahr darstellen. Selbst im ganz ursprünglichen Manuskript […] habe ich nicht hervorheben können, was meine Hauptsache ist: daß ich ein Büßender bin und das mich am tiefsten erklärt. […] 2) Ich kann nicht ganz sagen, daß meine Verfasser-Wirksamkeit Aufopferung ist. Denn wahr genug, ich war von Kind an unbeschreiblich unglücklich; aber im Verhältnis dazu erkenne ich doch, daß der Ausweg den Gott für mich gefunden hat, mich Verfasser werden zu lassen, war mir reich, reich an Genuß.[…] 203 204 205

SS 92 / SV XIII, 580. SS 94f. / SV XIII, 582. Pap. X 1 A 78. Vgl. Joakim Garff „The Eyes of Argus: The Point of View and Points of View With Respect to ‚Kierkegaards Activity as an Author‘“, in Kierkegaardiana 15, pp. 29-54, Copenhagen 1991. Garff argumentiert, daß Kierkegaard in seinen Schriften über seine Autorschaft nicht ernster zu nehmen sei als anderswo und auch dann nicht ‚selbst‘ spreche, wenn er Meta-Kommentare macht. Garff weist darauf hin, daß Kierkegaard zu unterschiedlichen Zeiten vier definitive und endgültige Charakterisierungen seiner Autorschaft gibt und sich darin nicht weniger inszeniere als in den pseudonymen Texten. Dazu gibt es eine Auseinandersetzung mit Sylvia Walsh in Søren Kierkegaard Newsletter St. Olaf College, Northfield, Minnesota Number 38/July 1999.

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3) Wenn ich so ein Mal das Außerordentliche über mich gesagt habe, wenn auch mit allen Einschränkungen, die ich gebraucht habe, so stehe ich da, es wird mir eine Plage zu leben, wenn ich pathetisch für etwas Außerordentliches angesehen werde, und eine fürchterliche Verantwortung. 4) Daß ich mich also nicht ganz selbst darstellen kann, bedeutet, daß ich doch wesentlich ein Dichter bin – und da werde ich bleiben.206

Diese Selbstbeschreibung als Dichter ist eine Kapitulation207 bezüglich der Mitteilbarkeit des Religiösen. Mindestens vier Mal heißt es in dieser Tagebucheintragung, daß Kierkegaard sich selbst „nicht ganz (wahr) darstellen kann“. Die Aporie indirekter Mitteilung wird hier exakt klargemacht: Das eigene Gottesverhältnis ist für das Schreiben zentral aber weder mitteilbar noch für den Betroffenen verfügbar. Es darf nicht für die religiöse Entwicklung des Lesers einflußreich sein und erfordert, dessen Sinn einen Ort zu lassen. Jeder Versuch der Kommunikation darüber muß ins Ästhetische ausweichen lassen, auch dann noch, wenn genau das zu disqualifizieren ist.208 Auch nachdem Kierkegaard seine pseudonyme Schriftstellerei mit der Nachschrift abgeschlossen hatte, greift er noch auf ein Pseudonym zurück, den Anti-Climacus, unter dessen Namen die Einübung im Christentum und die Krankheit zum Tode erscheinen. Die Aufsätze über Märtyrer und Apostel werden anonym bei einem anderen Verlag publiziert und die aufklärenden Schriften über sich selbst erstens pseudonym geplant, zweitens in die Anführungszeichen fremder Rede gesetzt und drittens für posthume Veröffentlichung zurückgehalten.209 206

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Pap. X 1 A 78. Vgl. Pap. X 1 A 130 (1849) „Muhamed protestiert mit aller Macht dagegen, als Dichter angesehen zu werden und den Koran für ein Gedicht; er will Prophet sein […] Ich protestiere mit aller Macht dagegen, als Prophet angesehen zu werden, will nur ein Dichter sein.“ Pap. X 4 A 33 „Meine gegenwärtige Bedeutung in der Zeit […] Und was kann ich bieten? Ich bin ein Dichter – ach, nur ein Dichter. Aber in der Herrlichkeit der Idealität kann ich das Christentum darstellen […] Ich bin nur ein Dichter, ach, nur ein Dichter. Schau nicht auf mein Leben […]“ Vgl. Pap. X 2 A 157, X 3 A 576. Diese späten Notizen aus den Jahren 1849/50 beschreiben die Unabdingbarkeit des Dichters, um überhaupt noch mit dem Ideal und dem Religiösen umgehen zu können. Damit nicht genug, sogar nach seinem Tod lebt das zentrale Thema des Redens ohne Autorität weiter: Bei Kierkegaards Beerdigung kommt es zu einem Skandal, weil sein Neffe Henrik Lund plötzlich das Wort ergreift. Er läßt seiner Wut freien Lauf und verkündet, eine solche Beerdigungszeremonie sei sicher nicht im Sinne Kierkegaards. Allen sei bekannt, daß der sich vehement gegen die dänische Kirche und Gesellschaft gewandt habe und nun versuche man so zu tun, als könne man diese Haltung ignorieren. Die Familie wolle den guten Ruf wahren und die Kirche Geld mit der Beerdigung verdienen. Vgl. Hannay, a. a. O., S. 420.

388 V. Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als imitatio Christi Was Kierkegaard in seinem Tagebucheintrag antizipiert, hatte sich schon zu seinen Lebzeiten bewahrheitet und gilt bis heute: Seinen Verführerqualitäten auch selbst erlegen, erfreut sich der Autor ohne Autorität am eigenen Schreiben, das gerade im gezielten Verpassen der Pointe und dem Vermeiden von Klartext am besten gelingt. Entgegen der erbaulichen Programmatik glückt dieses wohldurchdachte und taktisch ausgeklügelte Scheitern des Ästhetischen seiner religiösen Stoßrichtung zum Trotz. Es hat eine (akademische) Wirkung folgenreich werden lassen, die eben das prominent macht, was als Nebeneffekt und verfehlte Maßnahme ausgeschaltet werden sollte. Wie Wittgenstein gibt Kierkegaard seiner expliziten Theoriefeindlichkeit und der dezidierten Verweigerung von Erklärungen und Beweisen zum Trotz so viel zu denken, daß er wie dieser nicht einmal selbst zur Ruhe kommt und bis zu seinem Tod nicht abläßt von intellektuellen Anstrengungen. Allerdings muß das nicht zwingend auf Kosten des erbaulichen Anliegens gehen, was sich freilich nicht so deutlich verfolgen läßt. Immer dann, wenn Kierkegaard gegen ‚Begriffsverwirrung‘ anschreibt und seine Variante ‚grammatischer Klärung‘ anbietet, weiß er selbst gut genug, daß eine adäquate existentielle Umsetzung erfordert, daß man weiß, worum es sich handelt.

Literaturliste 1. Zitierte Werkausgaben Von einigen Schriften Kierkegaards gibt es mehrere Übersetzungen ins Deutsche, weswegen ich zuerst die Faustregel für Nachweise in meiner Arbeit angeben will: Unabhängig von der zitierten Übersetzung findet sich nach dem Schrägstrich (/) die Angabe der Textstelle in der dänischen Werkausgabe Samlede Værker (im folgenden: SV), die 19011906, herausgegeben von A. B. Drachmann, J. L. Heiberg und H. O. Lange, in 14 Bänden in Kopenhagen erschien. Auf die SV stützen sich Emmanuel Hirsch, Hans Martin Junghans und Hayo Gerdes mit der Übersetzung der Gesammelten Werke in 26 Bänden, die 1956-1970 in Druck ging und die einzige Gesamtausgabe in deutscher Sprache ist (GW1). Eine zweite Auflage in 30 Bänden folgte 1986-95 (GW2). Die Paginierung der SV findet sich in den Marginalien der deutschen Übersetzung mit dem Band in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern. Vor den Schrägstrich setze ich die Seitenzahl der von mir zitierten deutschen Ausgabe. Fast alle Zitate aus den Papirer (im folgenden: Pap.), also den unveröffentlichten Tagebüchern, Entwürfen, Notizen und Mitschriften, habe ich selbst übersetzt, weil es (noch) nur die sehr selektive Übersetzung von Hayo Gerdes gibt, die aus 20 Bänden der dänischen Ausgabe von 1909-1948 fünf Tagebuchbände macht. Anstelle der Übersetzung von Emmanuel Hirsch nehme ich die von Gisela Perlet vom Begriff Angst (Stuttgart 1992, Reclam Band 8792). Furcht und Zittern sowie die Krankheit zum Tode zitiere ich in der Übersetzung von Liselotte Richter (Frankfurt 1984, eva Taschenbücher 23 und 24) Die Philosophischen Brocken bzw. Bissen zitiere ich nach Hans Rochol, der die Meiner-Übersetzungen besorgt hat (Hamburg 1989), Entweder/Oder in der Übersetzung von Heinrich Fauteck, München (dtv) 1993. Seit 1997 kommt in Kopenhagen die kritische und kommentierte Gesamtausgabe Søren Kierkegaards Skrifter (SKS) heraus. Ich verweise auf die bereits erschienenen Bände sowie Kommentarbände (SKS K) mit Band und Seitenzahl, da dies die in Zukunft maßgebliche Textbasis sein wird.

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Für die Schriften Kierkegaards verwende ich folgende Abkürzungen: AUN I/II B BA BI BÜA CR DRG EC EER EO I/II ERG ES FZ JC KT LA LF LP LT PB 2R43 3R43 4R43 2R44 3R44 4R44 RAF SLW SS US V W ZKA ZS

Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Band I und II. Briefe. Der Begriff Angst. Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. Das Buch über Adler. Christliche Reden. Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten. Einübung im Christentum. Eine erbauliche Rede 1850. Entweder/Oder, Band I und II. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847. Erstlingsschriften. Furcht und Zittern. Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. Die Krankheit zum Tode. Eine literarische Anzeige. Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel. Aus eines noch Lebenden Papieren. Der Liebe Tun. Philosophische Brocken. Zwei erbauliche Reden 1843. Drei erbauliche Reden 1843. Vier erbauliche Reden 1843. Zwei erbauliche Reden 1844. Drei erbauliche Reden 1844. Vier erbauliche Reden 1844. Zwei Reden beim Altargang am Freitag 1851. Stadien auf des Lebens Weg. Die Schriften über sich selbst. Urteilt selbst. Vorworte. Die Wiederholung Zwo kleine ethisch-religiöse Abhandlungen Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen

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Wittgensteins Schriften sind fast alle bei Suhrkamp erschienen und die Werkausgabe in acht Bänden (Frankfurt 1984 u. ö.) ist Basis für meine Zitate. Den akademischen Gepflogenheiten gemäß gebe ich die Numerierung der Abschnitte von Wittgenstein bzw. seinen Herausgebern an, ansonsten die Seitenzahl. Ich gebrauche folgende Abkürzungen: Tractatus logico-philosophicus Philosophische Untersuchungen, Teil I und II Über Gewißheit Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie Zettel Vermischte Bemerkungen Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften Ursache und Wirkung (In: VüE) Philosophische Bemerkungen Philosophische Grammatik Vorlesungen 1930-35 Wittgenstein und der Wiener Kreis Briefe Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben (Düsseldorf/Bonn 1996) Denkbewegungen. Tagebücher 1930-32 und 1936-37, Hg. und kommentiert von I. Somavilla, Frankfurt 1999.

T PU I / II ÜG BPP I/II Z VB VüE U+W PhB PG Vorlesungen 1930-35 WWK Briefe V+G

Denkbewegungen

Alle Hervorhebungen sind aus den Originalen übernommen, falls nicht anders angemerkt. Die vielfältigen Arten von Hervorhebung, besonders in Wittgensteins Tagebüchern, den Denkbewegungen, sind einheitlich durch Kursive wiedergegeben. Die Passagen in Geheimschrift sind in den Fußnoten ausgewiesen. Was in eckigen […] Klammern steht, ist von mir zugefügt oder ausgelassen; in Zitaten markieren runde Klammern mit drei Punkten (…) ebenfalls meine Auslassungen. Ich zitiere die Lutherbibel, revidierte Fassung, Stuttgart 1991.

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Personenregister Hier sind neben Autoren auch Kierkegaards Pseudonyme aufgeführt, außerdem Figuren aus der Bibel und anderer Literatur. Kierkegaard und Wittgenstein sind nicht dabei, weil sie durchgängig vorkommen. Abraham 312, 318-327, 333, 337f., 358, 375 Adam 166, 139, 168ff., 176ff., 185-191, 200, 282, 340 Adler, A. 21, 32, 35, 76, 315ff., 357-369, 380, 384f. Adorno, Th. W. 2, 15, 24, 44, 62, 123, 172, 340, 345, 356 Agnete 58, 318-327, 378 Ake, S. E. 91 Aldrich, V. 214, 251 Allison, H. E. 162 Andersen, H. C. 50, 321, 336, 362f., 365 Anderson, A. B. 143 Anscombe, E. 215, 270 Anti-Climacus 19, 30, 142, 349, 351, 369374, 381 Aristoteles 17, 26-28, 67, 125, 163, 183, 194, 292 Augustin, A. 89, 108f., 114-121, 135, 139, 166ff., 173, 182 Austin, J. L. 38

Brandom, R. 145 Buber, M. 330, 340 Budd, M. 239 Bühler, K. 81-84, 97-99, 135, 225 Buntfuss, M. 253

Baacke, D. 211 Baader, F. v. 173 Baker, G. P. 261 Barrett, L. C. 159 Barth, K. 2 Benjamin, W. 139, 186-190 Beyrich, T. 41, 327 Bloch, E. 189 Bloor, D. 94 Blumenberg, H. 58, 208, 211, 253, 267 Boehm, G. 209 Bongardt, M. 143, 175

Dalferth, I. U. 32 Dallago, C. 4. Davidson, D. 247 Deleuze, G. 41, 164 Derrida, J. 41, 49, 50-52, 59, 94, 123, 138, 141, 193, 200, 317, 327-341, 375 Descartes, R. 42, 209, 280, 294 Deuser, H. 63f., 356 Diamond, C. 83, 94, 109 Diderot, D. 287 Dietz, W. 143, 160 Diewald, G. M. 84, 97f.

Calvin 168 Canetti, E. 139 Cavell, S. 114, 118ff., 123, 127, 160, 215, 262, 359f., 364 Certeau, M. de 88, 278 Chapeaurouge, D. de 209 Clack, B. R. 297 Climacus, Johannes 17, 19-49, 54f., 57, 63f., 67, 101, 116, 121, 142f., 146, 148, 153, 195, 204, 291, 294, 360, 363 Conant, J. 43, 87 Connell, G. B. 341 Constantius, C. 57, 74, 161, 164 Craker, T. 241 Creegan, Ch. 206 Crites, S. 143

404

Personenregister

Diotima 49, 57, 59, 349 Dostoevskij, F. M. 79, 133, 344 Drucker, J. 116 Eldridge, R. 118 Elgin, C. 251f. Emmanuel, St. M. 291 Engelmann, P. 250, 310 Eriksen, N. N. 41, 164 Eschbach, A. 81 Eva (Bibel) 185, 188f. Evans, C. S. 341 Fahrenbach, H. 143 Fenves, P. 156, 174, 345, 363 Ferreira, J. 206, 330 Ficker, L. v. 4, 85 Fish, S. 138 Flaubert, G. 51 Flusser, V. 100 Fonk, P. 143, 168 Foucault, M. 49, 51, 191, 306 Frank, M. 32, 107 Frazer, J. 236, 260, 297, 308 Frege, G. 44, 86, 114 Freud, S. 118, 267, 300 Gadamer, H. G. 28, 33, 49, 125 Garff, J. 386 Garver, N. 109, 159 Genova, J. 254, 257 Gioffi, F. 297 Glock, H. J. 107 Glöckner, D. 41 Goethe, J. W. v. 63, 181, 237f. Gondek, H.-D. 377 Green, R. M. 161, 173 Greve, W. 28, 46 Grøn, A. 322 Grundtvig, S. 320 Gyllembourg, T. 336, 362f. Hacker, P. M. S. 84, 107, 110, 119, 208, 231, 256, 258f., 261 Haecker, T. 4, 51, 336 Hagemann, T. 17 Haley, M. C. 253 Hall, R. 349 Haller, R. 265

Hamann, J. G. 144 Hamlet 154f., 345f. Hannay, A. 46, 63, 143, 332, 387 Hase, K. v. 168 Haufniensis, Vigilius 137-180, 193-201, 325, 344, 351 Hausman, C. 214, 251ff. Haverkamp, A. 214, 327 Hegel, G. W. F. 2, 17, 19, 22, 24, 44, 46, 50-52, 55, 57, 62, 70, 75, 84, 101-105, 150-159, 165, 168, 170, 174, 176, 196, 199, 266, 319, 346, 357f., 361, 364, 379 Heiberg J. L. 50, 57 Heidegger 27, 33, 38, 41, 62, 118, 215, 228, 248, 286, 330 Helmholtz, H.v. 225 Henningsen, B. 145 Hersch, J. 330 Hertzberg, L. 303 Hick, J. 248 High, D. M. 280, 274 Hiltmann, G. 223, 254 Hiob 326, 338 Hirsch, E. 19, 71, 143, 194, 313, 331, 336, 357f., 382 Hitler, A. 297f. Hoberman, 7, 198 Holmer, P. 81, 129 Hönigswald, R. 184 Horaz 137, 146, 325 Hörisch, J. 70 Hume, D. 236, 293 Husserl, E. 331 Hutto, D. 87 Jacobi, F. H. 43, 152 Jakobson, R. 81, 97f., 234 Jantschek, T. 239 Jauß, H. R. 45, 74, 189f. Jesus Christus 12, 30, 74, 107, 136, 167, 292, 312, 316f., 358, 362, 364, 369-388 Johannes (Evangelist) 181, 209, 349 Johannes de silentio 39, 66f., 161, 318, 320, 324f., 347, 351, 386 Kafka, F. 166, 296, 370 Kant, I. 45, 70, 150, 156, 159, 161f., 169, 173, 178, 199, 213, 258, 318f., 332, 352, 358

405

Personenregister Kearney, R. 380 Kenny, A. 114 Kerr, F. 120 Kirmmse, B. 60, 147 Kleist, H. v. 140f. Kober, M. 268, 305 Köhler, W. 224, 238 Konersmann, R. 209 Kopernikus, N. 249 Kripke, S. 268 Kroß, M. 123 Kuhn, T. 10, 215, 218, 238, 249, 252, 286, 299, 305f. Lange, E. M. 255, 261 Law, D. 293, 370 Lessing, G. E. 35f., 43, 151, 154 Lévinas, E. 139, 171, 201, 243, 317, 327331, 334, 338, 340, 375 Linville, K. 280 Lippitt, J. 87 Löwith, K. 24 Lübcke, P. 28, 32 Lukas (Evangelist) 209f., 312f. 369, 378 Lund, A. 60 Lund, H. 387 Luther, M. 70, 167f. Lütterfels, W. 302 Makkreel, R. 213 Malcolm, N. 263, 287, 290 Marheineke, P. 152 Maria (Gottesmutter) 312, 320, 326, 360 Marquard, O. 136, 139 Martensen, H. L. 152, 197 Marx, K. 24 Matthäus 347, 378 Matustík, M. J. 39, 341, 360 Mayer, V. 212 McGuinness, B. 106 McKinnon, A. 203 Mephistopheles 315, 346f. Merleau-Ponty, M. 211 Michelangelo 282 Minor, Petrus 359, 363, 366ff. Mohammed 387 Møller, P. M. 144f., 197 Monk, R. 15, 114 Mooney, E. 149

Moore, G. E. 224, 263, 271f., 277, 279f., 282, 290, 305 Morawetz, T. 272, 302 Mulhall, S. 215, 243, 247f., 359 Munz, R. 259 Mynster (Bischof) 383 Nathan der Weise 151 Neurath, O. 99 Nielsen, R. 152 Nietzsche, F. 5, 41, 53, 162, 164, 191, 266, 286, 330 Notabene (Ehefrau) 54-61, 323 Notabene, N. 18, 49-61, 137, 142, 144 Olsen, R.

59, 69, 71, 335, 340

Pape, H. 96 Pascal, B. 151 Pattison, G. 63, 69, 71, 354 Paulus (Bibel) 70f., 166f., 371 Peirce, Ch. S. 7f., 81f., 90-101, 120, 252f., 289 Perkins, R. 293, 341 Perlet, G. 157 Petrarca, F. 210 Petrovi, P. 79f. Phillips, D. Z. 83, 129, 205, 285, 298 Pichler, A. 114 Platon 15, 20, 30, 33, 59, 201, 208, 210 Pojman, L. 293 Polanyi, M. 238, 241, 261, 264, 266 Polk, T. H. 173 Poole, R. 145, 180 Putnam, H. 108 Quidam 57 Quine, W.V. 81 Raatzsch, R. 44 Raskolnikov, R. 79f., 133, 344 Reichenbach, H. 99 Rembrandt 327, 333 Rhees, R. 215 Ricœur, P. 140, 182f., 252, 330 Rilke, R. M. 4, 106 Roberts, R. C. 159, 360 Rochol, H. 19, 194 Rohde, P. 137

406

Personenregister

Röll, F. J. 211 Rorty, R. 72, 268 Roser, A. 302 Russell, B. 81, 85-87, 99, 110, 224 Ryle, G. 159 Savigny, E. v. 107, 119, 215 Schaeffer, J. M. 51 Schelling, F. W. J. 23, 163 Schiller, F. 213 Schlegel, F. 26 Schleiermacher, F. 31, 201 Schlick, M. 99 Schmitt, C. 341 Schneider, H. J. 159 Scholz, O. 215, 237, 246 Schrempff, Ch. 194 Schroeder, S. 19 Schulte, Ch. 162, 169 Schulte, J. 224, 232, 236ff., 246, 267, 280, 301 Seekircher, M. 4 Shakespeare, W. 36, 172, 191, 320, 346 Sheriff, J. 94 Shields, P. 118, 122, 125, 148, 250 Shusterman, R. 243, 266 Simmel, G. 41 Simon, J. 283, 291 Smith, B. 212 Smyth, J. V. 33, 40 Sokrates 15, 20, 31, 33f., 40f., 43-45, 63, 144, 160, 164, 197, 312, 327, 360, 373f., 379-381 Soltøft, P. 334

Somavilla, I. 5 Sontag, S. 137, 356 Soskice, J. 253 Spengler, O. 238f., 241, 261 Steiner, G. 29, 190f., 356, 368 Stern, J. 97 Stosch, K. v. 281 Strawser, M. 63 Stroll, A. 263, 265, 273, 302 Tanner, J. 138 Taylor, M. C. 46, 349 Theunissen, M. 147, 349 Thomas von Aquin 210 Thomte, R. 143, 145, 178 Trakl, G. 4 Usteri, L.

173

Vanhoozer, K. J. 183 Varro 197 Vattimo, G. 278 Walsh, S. 26, 386 Wenning, W. 225 Westermann, C. 181f. Westphal, M. 341, 360 White, H. 191 Wilkerson, T. E. 228 Winch, P. 83, 159, 287 Wohlfahrt, G. 105 Wright, G. H. v. 270, 306 Wünsche, K. 15