Ki (気), Fühlen und Empfinden: Eine linguistische Phänomenologie vorprädikativer Erfahrungsformen 9783495994856, 9783495994849


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1. Einleitung
i. Allgemeine Einleitung
ii. Vorhaben und Methodik
iii. Aufbau der Arbeit
2. Ki und Fühlen
2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung
2.1.1 Erleben und Erfahren des Fühlens
2.1.2 Fühlen mit und ohne Worte
2.1.3 Vorprädikative Erfahrungsebene
2.2. Forschungsstand
2.2.1 Allgemeine Einführung in die Forschungskontexte von ki (気) und qi (氣, 气)
2.2.2 Forschungsstand der Phänomenologie(n) zu ki (気)
2.2.3 Was ist nun mit »Gefühl«?
2.3 Schritte zur Methode
2.3.1 Kulturalität der Gefühle
2.3.2 Problematik eines komparativen Ansatzes
2.3.3 Erlernbarkeit der Gefühle
2.3.4 »Koordinierung« und »Umschreiben« der Gefühle bei Agnes Heller
2.3.5 Individualität und Partikularität des Fühlens
2.3.6 Aufmerken und Aufmerksamkeit am Fühlen
2.3.7 Gefühls-Koordinierung am Körper und Leib
2.3.8 Methode der linguistischen Phänomenologie
2.3.9 Weg zur Artikulierungsästhetik des Fühlens
2.4. Fazit des Kapitels
3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki
3.1 Einführung in das Wortfeld
3.1.1 Zum Wortzeichen qi (氣, 气)
3.1.2 Das japanische Wortfeld ki/ke
3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki
3.2.1 Schritte zum Übersetzen
3.2.2 ki (気)
3.2.3 ke (気)
3.3 Phänomenologische Grundstrukturen
3.3.1 Flexibilität auf der grammatischen Ebene oder »Fluidität« von ki
3.3.2 Unterscheidungen, die ki unterläuft
3.3.3 ki und Satzsubjekt im Japanischen
3.3.4 ki zwischen impersonalem und personalem Fühlen
3.3.5 Gesamtleibliches Sich-Befinden zwischen Gesundsein und Nicht-Gesundsein
3.4 Fazit des Kapitels
4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld
4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein
4.1.1 Die grammatische Kategorie »Impersonal«
4.1.2 ki ga suru (気がする): Es kommt einem ... vor
4.1.3 fun’iki (雰囲気): Atmosphäre
4.1.4 ki ga tsuku (気がつく): Etwas fällt einem auf
4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib
4.2.1 kehai (けはい): leiblich spürbare, atmosphärische Anwesenheit
4.2.2 kewai (けはひ): kehai im Spätaltjapanisch
4.2.3 Diskrepanzerfahrung
4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen
4.3.1 kūki (空気): Luft / kollektiv geteilte Situationsstimmung
4.3.2 Kritische Dimensionen kollektiver Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung
4.3.3 kūki und »immersion« in Affective Societies
4.4. Fazit des Kapitels
5. Fühlen im Horizont situierter Personalität
5.1 Intentionales Fühlen
5.1.1 kimochi (気持ち): Gefühl/Gemüt
5.1.2 Aufkeimen des personalen Fühlens
5.1.3 Einschätzung des personalen Fühlens
5.2 Gemütsstimmung in situ
5.2.1 kibun (気分): Gemütsstimmung
5.2.2 Befindlichkeit und Stimmung
5.2.3 Anteil machen am ki
5.3 Fazit des Kapitels
6. Fazit und Ausblick
i. Zum Schluss
ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit
iii. Ausblick
7. Anhänge
8. Literaturverzeichnis
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Ki (気), Fühlen und Empfinden: Eine linguistische Phänomenologie vorprädikativer Erfahrungsformen
 9783495994856, 9783495994849

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Welten der Philosophie

| 24

Yukiko Kuwayama

Ki (気), Fühlen und Empfinden Eine linguistische Phänomenologie vorprädikativer Erfahrungsformen

https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Welten der Philosophie Wissenschaftlicher Beirat Claudia Bickmann † Rolf Elberfeld Geert Hendrich Heinz Kimmerle Kai Kresse Ram Adhar Mall Ryôsuke Ohashi Heiner Roetz Ulrich Rudolph Hans Rainer Sepp Georg Stenger Franz Martin Wimmer Günter Wohlfart Ichirô Yamaguchi

Band 24 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Yukiko Kuwayama

Ki (気), Fühlen und Empfinden Eine linguistische Phänomenologie vorprädikativer Erfahrungsformen

https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Hildesheim, Univ., Diss., 2022 ISBN 978-3-495-99484-9 (Print) ISBN 978-3-495-99485-6 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Danksagung

Es sind nicht nur die unzählbaren Wahrnehmungen und Erinnerun­ gen, die die Veröffentlichung dieser Dissertation zu realisieren ermög­ licht haben, sondern vielmehr die Präsenz und die Unterstützung von so vielen Personen, all deren Namen hier nicht genannt werden können. Allererst möchte ich mich herzlichst bei meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Rolf Elberfeld und PD. Dr. Lars Leeten am Institut für Philosophie an der Universität Hildesheim für ihre geduldige, präzise und pädagogisch warmherzige Betreuung bedanken. Ohne ihre Vorforschungen und ihre Betreuung wäre diese Dissertation keineswegs möglich gewesen. Ich erlaube mir, die folgenden Profes­ sor:innen und Kolleg:innen als diejenigen zu nennen, die mich in verschiedensten Aspekten meines sowohl akademischen als auch privaten Lebens bei der Anfertigung dieser Arbeit unterstützt haben: Prof. Yōichiro Ōhashi, Prof. Yūjin Itabashi, Prof. Dr. Harald Meyer, Dr. Yōko Arisaka, Dr. Mareike Kajewski, Dr. Daniela Voss, Dr. Carina Pape, Prof. Dr. Toshiaki Kobayashi, Dr. Takako Saitō, Dr. Akinobu Kuroda, Dr. habil. Yayoi Nakamura-Delloye, Dr. Abdou Belkacem und Dr. Simon Ebersolt. Ich richte ebenso meinen tiefsten Dank an meine Mitphilosophierenden, die all meine Verwandlungen und Denkwege mit begleitet haben: Francesca Greco, Lucas Dos Reis Martins, Dr. Hiroyuki Akatsuka, Tim Tillack, Morten Jelby, Quentin Blaevoet und meine äußerst hilfreiche Lektorin Lisa Haase, sowie auch an unsere verstorbene Doktorschwester Anna Berres, die meinem Denken mit Sicherheit einen Ton gegeben hatte und mir so stets in Erinnerung bleibt. Liebsten Dank richte ich an meine Freund:innen: Elisabeth Köller, Johannes Marx, Jakob Winkler, Markus Simon Müller, Pierre Adam, Adrian Dambrine und Mathilde Bonnevaux, an meine verstor­ bene Gastmutter Loretta Bartel und ihre Familie; sowie an meine lie­ ben (ehemaligen) Nachbar:innen, die mich sowohl im alltäglichen als auch musikalischen Leben unterstützt haben: Luca Ventimiglia (und all seine Freunde), Adrian Vollmer, Mike Dietrich, Hannah Geyer, Brigitte Demars, Jacqueline Vouilloux und ihr Enkelkind Amadeus, Philippe und Ingrid Bouvier und meinen ehemaligen Französisch-

5 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Danksagung

und Qigong-Lehrer Jean Magro. Meinen letzten Dank möchte ich nun an meine Familie in Tokyo richten. Diesen Dank kann sie selbst auf dieser Sprache nicht wahrnehmen, sie weiß jedoch, dass ich im Schreiben dieser Arbeit und in meinem Leben immer an sie gedacht habe. Ohne ihre Liebe, ihre Erziehung in meiner Kindheit und Jugendzeit sowie ihre seelische Unterstützung aus der Ferne wäre mein Leben in dieser Form nicht möglich gewesen. Paris, den 1. Juni 2023 Yukiko Kuwayama (桑山裕喜子)

6 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Vorwort

In einer Auseinandersetzung mit Gefühlen ist jede Person wenn auch unbewusst notwendigerweise mit ihrer eigenen und kulturellen Gewohnheit konfrontiert: Was tue ich, wenn ich mich wie fühle? Welche Worte tauchen in meinem Herzen und meinen Gedanken auf? Wieso beschreibe ich Gefühle mit soundso Worten? Je spezifischer man diese Fragen – und damit seine Gefühle – bedenkt, desto weniger erscheinen einem die Vorgänge selbstverständlich. In der vorliegenden Arbeit wird anhand des kulturspezifischen Worts ki (気) aus dem Japanischen ein leibliches Spüren und Fühlen sowie Aufmerken thematisiert, das die Anwesenheit der Umgebung inklusive der Natur a priori mitbedeutet. Es ist nicht verwunderlich, dass solch ein Wortfeld seit Ende des 21. Jh. vermehrt Interesse weckt: In diese Zeit gehört nicht nur die zunehmende Reflexion der menschlichen Leiblichkeit, Emotionalität und Affektivität, die in Europa mit der Etablierung der Phänomenologie, Psychologie und Psychoanalyse einherging, sondern auch ein zunehmendes Gewahren der umweltlichen Natur, genauer: ihres Geschreis, das nun tagtäglich laut wird. Jeder Mensch agiert und reagiert auf dieses Geschrei sicherlich unterschiedlich. In der ursprünglich altchinesischen Weltanschauung, aus der das Wortfeld »ki« teilweise (aber zutiefst) stammt, sind es jedoch wir selbst, die dabei schreien: Es schreit die »Natur, die wir selbst sind«.1 Dem Geschrei nicht zuzuhören, hieße in dieser Weltanschauung, sich selbst nicht zuzuhören. Die kulturspezifischen Wörter in diesem Buch können für die Lesenden »fremd« wirken. Es kann aber sein, dass die eingeführten Erfahrungen, die mit den Worten besprochen werden, doch nicht so fremd sind. Oder dass sie, obgleich zunächst fremd wirkend, im Laufe der Zeit beginnen könnten, weniger unbekannt zu wirken: Gerade ein uns ursprünglich »fremd« erscheinendes Motiv aus fremdsprachigen Kulturen kann Böhme: Leib. Die Natur, die wir selbst sind, 2019, S. 9. Vgl.: Linck: Inmitten von Qi, 2022, S. 184.

1

7 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Vorwort

die Arbeit am eigenen Sprechen über Erfahrungen anregen und berei­ chern. Der Verfasserin dieser Arbeit half zumindest, sich mit einer »Fremdsprache« auseinanderzusetzen, in ihr und mit ihr zu leben, dabei, wenn auch begrenzt, zu ahnen, was an Gefühlen am Werke war und ist, und folgend dabei, in ihrer Muttersprache leibliches Situiertsein im Fühlen zu artikulieren. In Bezug auf die Transkription von Namen japanischer und chi­ nesischer Autor:innen ist anzumerken, dass diese einheitlich nach der Reihenfolge der ursprünglichen Form (Nachname-Vorname) angege­ ben werden. Die Quellenangaben in Fußnoten beschränken sich auf die Angabe des Nachnamens der Autor:innen, des Aufsatz- sowie Buchtitels, der Erscheinungsjahr der verwendeten Auflage sowie der Seitenzahl. Die ausführlicheren Quelleninformationen befinden sich im Literaturverzeichnis. Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift, die im Institut für Philosophie an der Universität Hildesheim im Jahr 2022 angenommen und verteidigt wurde. Die Publikation wurde dank der finanziellen Unterstützung des Fachbe­ reiches 2 der Universität Hildesheim realisiert.

8 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

i.

Allgemeine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

ii.

Vorhaben und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . .

20

iii. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

2. Ki und Fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung . . 2.1.1 Erleben und Erfahren des Fühlens 2.1.2 Fühlen mit und ohne Worte . . . 2.1.3 Vorprädikative Erfahrungsebene .

. . . .

31 31 36 43

2.2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Allgemeine Einführung in die Forschungskontexte von ki (気) und qi (氣, 气) . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Forschungsstand der Phänomenologie(n) zu ki (気) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Was ist nun mit »Gefühl«? . . . . . . . . . . . .

45

2.3 Schritte zur Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Kulturalität der Gefühle . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Problematik eines komparativen Ansatzes . . . . 2.3.3 Erlernbarkeit der Gefühle . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 »Koordinierung« und »Umschreiben« der Gefühle bei Agnes Heller . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Individualität und Partikularität des Fühlens . . . 2.3.6 Aufmerken und Aufmerksamkeit am Fühlen . . . 2.3.7 Gefühls-Koordinierung am Körper und Leib . . . 2.3.8 Methode der linguistischen Phänomenologie . . . 2.3.9 Weg zur Artikulierungsästhetik des Fühlens . . .

62 62 67 73

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45 50 56

79 82 86 89 96 104

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Inhaltsverzeichnis

2.4. Fazit des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki . . . .

113

3.1 Einführung in das Wortfeld . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Zum Wortzeichen qi (氣, 气) . . . . . . . . . . . 3.1.2 Das japanische Wortfeld ki/ke . . . . . . . . . .

113 113 132

3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki . 3.2.1 Schritte zum Übersetzen . . . . . . . 3.2.2 ki (気) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 ke (気) . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

139 139 142 157

. .

160

. . . . . .

161 163 166

. .

171

. .

173

3.4 Fazit des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld . . . . . . . . .

181

4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein . . 4.1.1 Die grammatische Kategorie »Impersonal« . . 4.1.2 ki ga suru (気がする): Es kommt einem ... vor 4.1.3 fun’iki (雰囲気): Atmosphäre . . . . . . . . . 4.1.4 ki ga tsuku (気がつく): Etwas fällt einem auf .

. . . . .

181 181 184 188 191

4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib . . . . 4.2.1 kehai (けはい): leiblich spürbare, atmosphärische Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 kewai (けはひ): kehai im Spätaltjapanisch . . . . 4.2.3 Diskrepanzerfahrung . . . . . . . . . . . . . . .

194

. . . .

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. . . .

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. . . .

3.3 Phänomenologische Grundstrukturen . . . . . . . . 3.3.1 Flexibilität auf der grammatischen Ebene oder »Fluidität« von ki . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Unterscheidungen, die ki unterläuft . . . . . 3.3.3 ki und Satzsubjekt im Japanischen . . . . . . 3.3.4 ki zwischen impersonalem und personalem Fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Gesamtleibliches Sich-Befinden zwischen Gesundsein und Nicht-Gesundsein . . . . . .

. . . . .

4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 kūki (空気): Luft / kollektiv geteilte Situationsstimmung . . . . . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

195 199 205 210 211

Inhaltsverzeichnis

4.3.2 Kritische Dimensionen kollektiver Stimmungsund Atmosphärenerfahrung . . . . . . . . . . . 4.3.3 kūki und »immersion« in Affective Societies . . . .

215 220

4.4. Fazit des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228

5. Fühlen im Horizont situierter Personalität . . . . . .

233

5.1 Intentionales Fühlen . . . . . . . . . . . . 5.1.1 kimochi (気持ち): Gefühl/Gemüt . . 5.1.2 Aufkeimen des personalen Fühlens . . 5.1.3 Einschätzung des personalen Fühlens .

. . . .

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233 234 236 243

5.2 Gemütsstimmung in situ . . . . . . . 5.2.1 kibun (気分): Gemütsstimmung 5.2.2 Befindlichkeit und Stimmung . . 5.2.3 Anteil machen am ki . . . . . .

. . . .

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. . . .

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. . . .

248 248 252 257

5.3 Fazit des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

6. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

i.

Zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

ii.

12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . .

269

iii. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288

7. Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

8. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

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11 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

1. Einleitung

In diesem Kapitel wird zunächst in das Themenfeld der vorliegenden Arbeit eingeführt. Anschließend werden Vorhaben und Methodik vorgestellt, wobei der aktuelle Forschungsstand im Themenfeld erläu­ tert und die Arbeit in diesen unter Bezugnahme auf die primär verwendete Literatur eingeordnet wird. Schließlich wird der Aufbau der Arbeit detailliert dargestellt.

i. Allgemeine Einleitung Der Titel der vorliegenden Arbeit ki2 (気), Fühlen und Empfinden verweist auf Mehrdeutigkeit und gibt zugleich nur eine oberflächliche Idee von deren Ausmaß. Allein eine Darstellung der folgenden dreißig Übersetzungswörter im Englischen kann bereits verdeutlichen, um was für ein großes Gebiet es sich beim Wortfeld ki (気)3 handelt, dessen Wurzeln sich aus dem alten China bis hin zur gegenwärtigen japanischen Sprache erstrecken: Was die Art und Weise der Transkription vom japanischen Wort ki betrifft, gibt es die zwei Möglichkeiten, das Wort entweder »ki« oder »Ki« zu schreiben. In deutschsprachigen Schriften mit dem Schwerpunkt ki findet man die beiden genannten Schreibweisen. In der vorliegenden Arbeit wird die Schreibweise »ki« verwendet. Das Gleiche gilt bei dem chinesischen Wort qi, d. h. in der vorliegenden Arbeit wird qi einheitlich klein (»qi«) geschrieben. Es wurde darauf verzichtet ki/qi groß zu schreiben, auch in dem Fall, dass es als Subjekt oder Objekt eines Satzes fungiert. Diese Schreibweise wurde gewählt, um den eher geschehenden, prädikativen Charakter von qi/ki zu verbildlichen. Es ist anzumerken, dass die Schreibweise von ki/qi in Zitaten teilweise von der für diese Arbeit gewählten Schreibweise abweicht. 3 Zu diesem Wortfeld zählen alle Lesungen des Zeichens 気 aus der Sicht des gegen­ wärtigen Japanischen: ki, gi, ke sowie ge. Aufgrund der eigenständig entwickelten Charakteristik aus dem Altjapanischen wird ke (auch häufig ausgesprochen als ge) im Rahmen einer lexikalischen Feldforschung im dritten Kapitel als ein eigenständiges Wort untersucht. Trotz dieser Differenzierungsmöglichkeit lässt sich ke aus der Sicht der heutigen japanischen Sprache zugehörig zum Wortfeld 気 betrachten. 2

13 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

1. Einleitung

Spirit, mind, soul, heart, intention, bent, interest, mood, feeling, tem­ per, disposition, nature, care, attention, air, atmosphere, flavor, order, energy, essence, indications, symptoms, taste, touch, dash, shade, trace, spark, flash, suspicion.4

Da es für ki kein entsprechendes Wort im Englischen sowie Deutschen gibt, lässt es sich diesem eher mit verschiedenen Wörtern annähern, als es zu übersetzen.5 Je nach Sichtweise und Denkrahmen lassen sich auch Wörter finden, die »gegensätzlich« oder »widersprüchlich« erscheinen können – wie z. B. feeling und order sowie essence, air und atmosphere. Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass es sich beim ki um mehrere verschiedenen Bereiche im Wortgebrauch han­ delt, deren Unterscheidungen im Horizont des ki-Wortfeldes nicht a priori vorausgesetzt sind. Diese Bereiche sind nicht nur sinnliche Wahrnehmungen, Gemütsbewegungen und geistige Verfassungen, wie einige der englischen Übersetzungswörter nahelegen, sondern darüber hinaus auch Bewegungen von Dingen, Geruch sowie Atmo­ sphäre, Luftartigem und Kraftähnlichem.6 Ki als Wort kommt im japanischen alltäglichen Sprachgebrauch so häufig vor, dass es nicht übertrieben wäre, zu sagen, dass man das Wort in jedem zweiten Satz ausspricht. Möglicherweise fällt es den japanischen Muttersprachler:innen gerade deshalb schwer, zu reflek­ tieren, wie das Wort zu definieren wäre.7 Es handelt sich nämlich beim ki mitunter um etwas, was visuell nicht zugänglich sein muss, oder um leibliche Vollzüge, die mit Ausdrücken mit ki angesprochen, angeregt, synästhetisch gezeigt und erlebt werden können. So können sie auch 4 Die Schilderung der Übersetzungen stammt aus einem Zitat des Wörterbucharti­ kels aus The Modern Reader’s Japanese-English Character dictionary im Aufsatz »Noti­ zen zum Begriff des ki« von dem Japanologen Peter Pörtner: Pörtner: »Notizen zum Begriff des Ki«, 1985, S. 216. Das nachgeschlagene Wörterbuch ist folgendes: Nelson: The Modern Reader’s Japanese-English Character dictionary, 1962. 5 Hisayama Yuho erwähnt die Unübersetzbarkeit eines Wortes in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt. Vgl.: Von Humboldt: Gesammelte Schriften. Bd. 8., 1968, S. 129. Vgl.: Hisayama: Erfahrung des ki – Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre, 2014, S. 14. 6 Diese Aufzählung kann nahelegen, dass im ki-Wortfeld die Unterscheidung John Langshaw Austins zwischen den zwei Sprachtypen »sense-datum language« und »material-object language«, getroffen in Sense and Sensibilia, nicht vorhanden sind. In der vorliegenden Arbeit kann hierauf nicht weiter eingegangen werden. Vgl.: Austin: Sense and Sensibilia, 1962, S. 107. 7 Vgl.: Fukui: »Seiyōbunken ni okeru ki no yakugo« (西洋文献における気の訳語), in: Ki no shisō (気の思想), 1991, S. 565 (markiert als Fukui 1991b).

14 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

i. Allgemeine Einleitung

als Skizzierungen von verschiedenen leiblichen, affektiven, geisti­ gen, aber auch meteorologischen und ortssituativen Veränderungen, Bewegungen, Tendenzen und Zuständen betrachtet werden, die ins­ gesamt voneinander keineswegs getrennt und zusammenhangslos stehen. Von westeuropäischer Denktradition aus gesehen können in diesen Ausdrücken gewisse Strukturen zu sehen sein, in denen verschiedene (mögliche) Gegenüberstellungen8 wie z. B. Subjekt und Objekt, Körper und Geist sowie Naturphänomene und Menschsein usw. weder a priori vorausgesetzt noch bewusst wahrgenommen zu sein scheinen, ohne dabei die Möglichkeit von deren Unterscheidung ausschließen zu müssen.9 Im Übersetzen eines Ausdrucks – wenn auch im Sinne eines Übersetzungsversuchs – zeigt sich häufig, was in einer natürlichen Sprache als selbstverständlich gilt, in einer anderen jedoch ganz und gar nicht selbstverständlich ist. Die geteilten »Selbstverständlichkei­ ten«10 variieren, nicht nur je nach natürlicher Sprache sowie Kultur, sondern auch je nach Region, Epoche, geteilter Geschichte bis hin zur Persönlichkeit und aktuellen Lebenssituation, in der sich die Person befindet. Wie japanischen Muttersprachler:innen – unter Gebrauch von Ausdrücken mit ki – kann es deutschen Muttersprachler:innen genauso schwerfallen, genau zu präzisieren oder sogar zu definieren, was es heißen soll, zu »fühlen« und zu »empfinden«. Bezüglich des Vollzugs des Fühlens gibt es neben den »Selbst­ verständlichkeiten« ebenso verschiedene Empfindungen, die in einer natürlichen Sprache gar nicht, kaum oder wenig beachtet werden, in einer anderen jedoch schon, mehr oder ganz und gar.11 Wird die Siehe auch: Pörtner (1985): S. 215f. Zur Unterscheidungsproblematik in der europäischen Denktradition vgl.: Wille: Die Praxis des Unterscheidens – Historische und systematische Perspektiven, 2018, S. 59–233. 10 Der Begriff »Selbstverständlichkeiten« wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty verwendet und in Kapitel 2.1.2 näher erläutert. Vgl.: MerleauPonty: Le visibile et l’invisible, 1964, S. 229. Dt. Übers.: Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 1986, S. 232f. 11 Hierzu wird in der vorliegenden Arbeit anhand der Recherche von Anna Wierzbicka eingegangen. Siehe: Wierzbicka: Emotions across Languages and Cultures – Diversity and Universals, 2005. Im Übrigen gibt es im Bereich der Psychopathologie sowie Psychiatrie ein symptomatisches Beispiel, das weltweit als ein Typus von Sozialphobie oder sozialer Angststörung begriffen wird, jedoch eine japanische Nennung bekom­ men hat, nämlich taijin kyōfushō (対人恐怖症). Dies liege daran, dass der Typus gewisse Unterschiede in der Struktur und den Mechanismen der Entstehung des 8

9

15 https://doi.org/10.5771/9783495994856 .

1. Einleitung

Aufmerksamkeit einmal auf etwas anderes gelenkt, als auf das, was einem jetzt gerade präsent ist, so zeigt die Sinnenwelt auf einmal ein völlig »anderes Gesicht«12. Das suchende Hören geht bis in all das Gebiet hinein, das davor unsichtbar und unhörbar war oder schien. Zu diesem Gebiet kann die folgende Beschreibung aus Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand von Gottfried Wilhelm Leibniz erhellend sein: Übrigens gibt es gar viele Anzeichen, aus denen wir schließen müssen, daß es in jedem Augenblicke in unserem Innern eine unendliche Menge von Perzeptionen gibt, die aber nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind, sondern lediglich Veränderungen in der Seele selbst darstellen, deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im Einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Nichtdestoweniger können sie im Verein mit anderen ihre Wirkung tun und sich in der Gesamtheit des Eindrucks, wenigstens in verworrener Weise, geltend machen. So bringt die Gewohnheit uns dahin, auf die Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalles nicht mehr achtzugeben, wenn wir einige Zeit lang ganz nahe dabei gewohnt haben. Nicht als ob jene Bewegung nicht immer noch unsere Sinnes­ werkzeuge träfe und als ob nicht, gemäß der Harmonie von Seele und Leib, auch in der Seele eine entsprechende Änderung sich vollzöge; sondern die auf die Seele und den Körper geschehenden Eindrücke sind, wenn sie den Reiz der Neuheit verloren haben, nicht stark genug, um unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis, die von fesselnderen Gegenständen in Anspruch genommen werden, auf sich zu ziehen. Denn jedwede Aufmerksamkeit verlangt Gedächtnis; und wenn wir, sozusagen, nicht daran gemahnt und darauf hingewiesen werden, auf bestimmte gegenwärtige Bewußtseinszustände in uns zu achten, so lassen wir sie ohne Reflexion, ja ohne sie zu bemerken, vorübergehen; Symptoms im Vergleich zu sonstigen Symptomen von unterschiedlichen Sozialpho­ bien aufweist. Mit diesem Beispiel soll nicht die Besonderheit des betroffenen Mecha­ nismus betont werden, sondern der Umstand, dass symptomatische Anomalien je nach Sprachkultur (und sicherlich je nach Epoche) unterschiedlich zerlegt werden können. Vgl.: Kimura: Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Sub­ jektivität, 1995, S. 135–146. Zu internationalen Diskursen zu taijin kyōfu shō (対人恐 怖症) siehe: Tanaka: »Reconsidering the Self in Japanese Culture from an Embodied Perspective«, in: Bunmei (文明), Nr. 20, 2015, S. 35–39. 12 Das Wort »Gesicht« wird in dieser Arbeit verwendet, um zu illustrieren, wie sich Dinge und Worte je nach Person und Situation anders oder von einem anderen Blick(winkel) aus zeigen können oder erlebbar werden. Zum »Gesicht des Wortes« siehe auch: Washida: Kotoba no kao (ことばの顔), Tokyo 2000.

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i. Allgemeine Einleitung

wenn uns jedoch jemand sofort darauf hinweist und uns z. B. auf irgendeinen Lärm aufmerksam macht, der sich gerade hören ließ, so erinnern wir uns daran und werden uns bewußt, davon soeben eine Empfindung gehabt zu haben.13

Leibniz beschreibt an dieser Stelle viele unpräzisierbare formlose Gestalten, Geräusche und Bewegungen, die er an anderer Stelle auch »kleine Perzeptionen« (petites perceptions) nennt.14 Diese Fülle wird in alltäglichen Situationen trotz oder möglicherweise gerade aufgrund der unpräzisierbaren Fülle völlig zum Vergessen oder »Schweigen« gebracht. Sie kann jedoch sicherlich zumindest teilweise bewusst gemacht werden als etwas »Rohes« oder »Fades«15, das kaum zu präzisieren zu sein scheint.16 Häufig erfolgt eine Unterscheidung der allmählich laut oder erkennbar werdenden Fülle erst dann, wenn etwas passiert ist, bei dem ein intentionales17 Wahrnehmen und Fühlen zustande gekommen ist; wenn eine fokussierende Aufmerk­ samkeit notgedrungen auf einen Gegenstand, eine Person sowie ein Thema gelenkt wurde. Wenn die sprachlose Welterfahrung eines Kindes zum Vergleich herangezogen werden darf – auch wenn diese nur bedingt vorstellbar sein kann –, so scheint es nicht leicht, dieser Orientierungslosigkeit der Sinne ganz und gar ausgesetzt zu verbleiben. Wie wäre dieser Zustand zu beschreiben, wenn es sich um das Fühlen des Schmerzes handelte?18 Ludwig Wittgenstein scheint hierzu eine gewisse Orien­ tierung entdeckt zu haben: Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen? – Darin scheint kein Problem zu liegen; denn reden wir nicht täglich von Empfindungen, und benennen sie? Aber wie wird die Verbindung des Namens mit dem Benannten hergestellt? Die Frage ist die gleiche, wie die: Wie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? Z. B. des Wortes »Schmerz«. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, 1996, S. 10f. Ebd.: S. 10ff. 15 Zur Wortwahl »fad« siehe auch: Heubel: »Aistethik oder Transformative Philoso­ phie und Kultur der Fadheit«, in: Polylog, Nr. 22, 2009, S. 36–53. 16 Zu den Begriffen »das Schweigen« (le silence) und »das Rohe« (le brut) siehe: Merleau-Ponty (1945): Avant-Propos X, Merleau-Ponty (1964): S. 221. 17 Der Begriff »intentional« wird in dieser Arbeit gemäß Husserl sowie auch gemäß dem Verständnis von Kimura verwendet, welches in Kapitel 4.1.4 vorgestellt wird. 18 Zu phänomenologischen Analysen und Diskursen zu Schmerzempfindungen vgl.: Kreikenbaum: Was tun mit Schmerz? Eine phänomenologische Analyse, 2013. 13

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1. Einleitung

dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbun­ den und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen. »So sagst du also, daß das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien bedeute?« – Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht.19

Genauso wie der »Schmerz« eines Tages das Schreien ersetzt hat, sind die Wörter, mit denen wir täglich sowohl für uns selbst als auch mit Anderen hantieren, somit ursprünglich auch Erfahrungen, die mit dem Leib und Herz, sowohl des eigenen Selbst als auch der Anderen, erlebt worden sind.20 Nichtsdestotrotz erlebt jeder Mensch sicherlich immer mal wieder, dass die Worte, die ursprünglich nichts Anderes als spontane und konkrete Erlebnisse waren, nicht als solche erscheinen bzw. entweder keine Resonanz schöpfen, weder bei sich noch bei den Anderen richtig ankommen, oder sogar umgewandelt oder verdreht (verstanden) werden. Dort zeigen die Worte nun die oben erwähnten anderen Gesichter. Das alltägliche Leben ist gefüllt von Situationen, in denen all die Worte als Erfahrungen von verschiedensten Menschen zusammenkommen, wodurch nicht nur Verständnisse, sondern auch eine Art Unzugänglichkeit geschaffen oder realisiert werden können. Maurice Merleau-Ponty nennt in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Worten und Erfahrungen folgende Beobachtungen: Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen: Formulie­ rungen dieser Art sind Ausdruck eines Glaubens, der dem natürlichen Menschen und dem Philosophen gemeinsam ist, sobald er die Augen öffnet; sie verweisen auf eine Tiefenschicht stummer Meinungen, die unserem Leben inhärent sind. Aber seltsam an diesem Glauben ist, daß wir – sobald wir versuchen, ihn als These oder als Aussage zu formulieren, sobald wir uns fragen, was dieses Wir, dieses Sehen, das

19 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 2015, S. 146 (PU: § 244). In der vorliegenden Arbeit wird die Angabe der Paragraphen aus den Philosophischen Unter­ suchungen Wittgensteins neben der Seitenangabe mit der Abkürzung des Werktitels »PU« in Klammern angegeben. 20 »Ursprünglich« ist gemeint im Sinne, dass es zur gleichen Zeit auch die Sprache ist, die all die Erfahrungen dadurch relativieren lässt, dass sie von all den partikulären und unvergleichlichen Erfahrungen mit vergleichbaren Bezeichnungen sprechen lässt. Vgl.: Thierry: Du corps parlant – le langage chez Merleau-Ponty, 1987, S. 22.

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i. Allgemeine Einleitung

Ding oder die Welt sei, – in ein Labyrinth von Schwierigkeiten und Widersprüchen geraten.21

Hier sind mindestens zwei unterscheidbare Schwierigkeiten zu sehen. Zum Ersten kann bereits im Moment der Verbalisierung, wenn wir vom eigenen Erleben sprechen, eine gewisse Entfremdung zwi­ schen Worten und dem Erleben gespürt werden: Die vorprädikativ22 erlebte Welt kann sich (muss sich aber nicht) entweder mindestens »vielmehr« oder »unvergleichbar« anfühlen, als das oder mit dem, was man sagt. Zum Zweiten ergibt sich eine Schwierigkeit aus dem »Zwischen« des Wortgebrauchs: Angenommen, dass es solch etwas wie die Worte an sich gäbe, welche auf der semantischen Ebene miteinander vergleichbar sind, wären die Vorerlebnisse, mit denen diese bei jedem Menschen unterschiedlich verknüpft sind, (dennoch) ganz und gar unvergleichlich.23 So wird das von Merleau-Ponty ange­ sprochene eigentliche Problem deutlicher: Die »Welt«, in der man sich mit anderen Menschen und Dingen befindet, und in der »wir« sagen, dass es »die Welt« sei, wird jederzeit von jedem konkreten Menschen in (s)einer gewissermaßen bestimmten Art und Weise gesehen, erlebt und gespürt. So kann auch das Geschrei der Welt von manchen Perspektiven aus gesehen nicht spürbar sein, wenngleich aber von anderen, mit soundso Lautstärke. Hieran anschließend können die Fragen gestellt werden: Welche Perspektiven inklusive welchen Geschreis schließen wir eigentlich aus, wenn wir »Welt« sagen? Welche haben Anteil daran und welche nicht, damit diese »Welt« die Welt sei, in der »wir« leben? Die zwei vorhin angesprochenen Aspekte, die sich hier erblicken lassen, sind folgende: Die Worte können unsere Wahrnehmungen und Empfindungen anregen, so wie das Wort »Schmerz« schreit. Zur gleichen Zeit können die Worte ausschließend und somit verdeckend und verschließend sein. Dies kann deutlich werden, wenn all die Fülle der ungenauen, »verworrenen« – um mit Leibniz zu sprechen – und Merleau-Ponty (1964): S. 17. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 17. Die Wortverwendung »vorprädikativ« stammt vom französischen »antéprédica­ tif« aus der Phänomenologie der Wahrnehmung (Phénoménologie de la perception) von Merleau-Ponty, siehe: Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, 1945, Avant-Propos X. 23 Bezüglich der Unvergleichbarkeit des Empfindens bieten die Diskurse zur Subjek­ tivität des Schmerzempfindens erhellende Perspektiven. Zur Subjektivität des Schmerzerlebens anhand der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz siehe: Krei­ kenbaum (2013): S. 5. 21

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1. Einleitung

unpräzisierbaren Gestalten und Bewegungen mit einzelnen Worten verglichen wird. Es sind doch auf der vorprädikativen Ebene der Erfah­ rung viel mehr Unklarheiten als etwas »Klares« oder »Deutliches«24. Es scheint also viel mehr als nur Worte zu geben, worauf zu hören ist, allein im augenblicklichen leiblichen Situiertsein.25

ii. Vorhaben und Methodik Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich damit, die individuelle Ebene der Habitualisierung in der Artikulierung des Fühlens und Emp­ findens ans Licht zu bringen, indem eine »archetypische« Artiku­ lierungsweise des Fühlens und Empfindens einer fremdsprachigen Kultur – hier aus dem japanischen alltäglichen Sprachgebrauch – vorgestellt wird. 26 Hierzu werden, von einer genaueren Betrachtung der Wortbedeutungen und ihrer Wendungen eines Wortfeldes der japanischen alltäglichen Sprache ausgehend – dem bereits vorgestell­ ten Feld des ki –, die graduellen Erfahrungen des Empfindens, von den verworrenen und unklaren bis zu erkennbar werdenden Eindrücken und Bewegungen in Perzeptionen, ans Licht gebracht. Da dies auf­ grund der Bedingung, dass sich die Betrachtung zwischen mindestens zwei unterschiedlichen, nicht-benachbarten Sprachen (Japanisch und Deutsch) bewegt, sind einige methodische Bemerkungen erforderlich: Der Untertitel der Arbeit – Eine linguistische Phänomenologie vorprädikativer Erfahrungsformen – bezieht sich auf das hinsicht­ lich der Methodik primär angewendete Konzept der »linguistischen Phänomenologie« (linguistic phenomenology) aus dem Aufsatz »Ein Plädoyer für Entschuldigungen« (A plea for excuses) in Wort und

24 Zu den zwei Wörter »klar« und »deutlich« siehe: René Descartes: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsfor­ schung, 1998, S. 18f. 25 Bei Merleau-Ponty wäre dies der habituelle Leib (le corps habituel), der vom all­ täglichen Bewusstsein – sowie vom aktuellen Leib (le corps actuel) – abstrahiert nichtwahrgenommen bleibt, der unbemerkt als solcher angenommen worden ist, oder der »schweigt« (Merleau-Ponty (1945): S. 98). 26 Broch: »Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens«, in: Dichten und Erkennen, Essays Bd. 1., 1955, S. 277. Vgl.: Hisayama (2014): S. 16.

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ii. Vorhaben und Methodik

Bedeutung (Philosophical Papers)27 John Langshaw Austins, das der Herangehensweise der Arbeit eine Orientierung gibt. Die Arbeit verfolgt die Aufgabe, linguistisch phänomenologisch zu untersuchen, wie Fühlen und Empfinden, verstanden als vorprädikative Erfahrungs­ formen, im Wortfeld ki Ausdruck finden. Das Ziel der Arbeit ist, anhand der Forschungsfrage, wie Phänomene des Fühlens im Hori­ zont des Wortfelds ki verbalisiert werden, mithilfe einer an Austins linguistische Phänomenologie angelehnten Methodik zu pointieren, wie zugleich situativ, individuell und kollektiv das Fühlen geformt und gebildet wird. Dabei wird die Hypothese geprüft, dass die zu unter­ suchenden Ausdrücke im Wortfeld ki auf vorprädikative Erfahrungs­ formen verweisen, die Unterscheidungsproblematiken europäischer Denktraditionen unterlaufen und in denen Aspekte des »Impersona­ len« sowie einer »situierten Personalität« zu erkennen sind. Um der oben gezeigten »Fülle« im Wortfeld, und besonders jenen Aspek­ ten, die von Differenzierungsmöglichkeiten und Selbstverständlich­ keiten bestimmter Sprachwelt(en) abweichen oder diese übersteigen, gerecht zu werden, werden neben den linguistischen Feldforschungen die spezifischen Bemerkungen zum Bereich des »impersonalen« Füh­ lens hervorgehoben. Insgesamt sind diese methodischen Schritte einer Reflexions­ möglichkeit phänomenologischer Ansätze gewidmet, in denen sich die »Beschreibung« als Methode dadurch kennzeichnet, sich mit der Vielfalt der natürlichen Sprachen zu konfrontieren.28 Im Vergleich zu den deutschsprachigen phänomenologischen Vorforschungen von Yamaguchi Ichirō29 sowie Hisayama Yuho30, denen die vorliegende Arbeit ihre Problem- sowie Methodensetzung verdankt, arbeitet diese Untersuchung nicht mit einer diskursiven Analyse des ki, sondern mit einer Beobachtung des konkreten alltäglichen Sprachgebrauchs – im Sinne von Austins linguistischer Phänomenologie – aus dem

27 Austin: »A plea for excuses« in: Philosophical Papers, 1961, S. 123–152. Dt. Übers.: Austin: »Ein Plädoyer für Entschuldigungen« in: Wort und Bedeutung, 1975, S. 177– 213. 28 Zu »Beschreibung« im Zusammenhang mit »Praxis der Unterscheidung« siehe auch: Wille (2018): S. 81f. 29 Yamaguchi: Ki als Leibhaftige Vernunft – Beitrag zur interkulturellen Phänomenolo­ gie der Leiblichkeit, 1997. 30 Hisayama (2014).

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1. Einleitung

gegenwärtigen Japanischen, welcher nicht nur in der altjapanischen, sondern auch altchinesischen Sprache verwurzelt ist.31 Die Arbeit ordnet sich in den Diskurs interkultureller phänomenolo­ gischer Studien ein und knüpft dabei primär an die Gedanken und Schriften folgender Autor:innen an: In methodischer, sprachphilosophischer Hinsicht wird neben Austin auf Teile von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen verwiesen. In Bezug auf bereits geleistete Untersuchungen von ki bezieht sich die Arbeit primär wie oben genannt auf den japanischen Phänomenologen Yamaguchi sowie den Philosophen Hisayama.32 Der Themenbereich Fühlen und Empfinden wird v. a. anhand von Schriften von Merleau-Ponty mit dem Stichwort »vorprädikativ« (antéprédicatif)33 aufbereitet. Zum deutschen Wort »Gefühl« sowie »Fühlen« werden die historische Studie Erfindung der Gefühle von Jutta Stalfort34 sowie die systematische Forschung an Gefühlen aus der Philosophie der Gefühle von Christoph Demmerling und Hilge Landweer aufgegriffen.35 Die allgemeinen, interkulturell linguistischphänomenologischen Überlegungen sowie die Gedanken zum Aspekt des Impersonalen beziehen sich vordergründig auf Schriften von Rolf Elberfeld. Als Material für die Feldforschungen zum Wortfeld ki wer­ den Wörterbücher des gegenwärtigen Japanischen sowie Spätaltjapa­ 31 Bezüglich der gegenwärtigen japanischen Sprache gilt es außerdem als charakte­ ristisch, dass neben dem zahlreichen Austausch mit China und Korea, vor und um die Zeit der Meiji-Restauration (1868), zahlreiche Fachbegriffe aus Westeuropa – aus den Sprachen Portugiesisch, Holländisch, Deutsch, Französisch sowie Englisch – in Form von Neologismen aufgenommen wurden. Diese Neologismen wurden anhand der ursprünglich chinesischen Schriftzeichen (auf Japanisch: kanji, 漢字) übertragen, deren einzelne Zeichen bereits unterschiedlichste Bedeutungen aus ostasiatischen Denk- sowie Religionstraditionen trugen und tragen. Zur Problematik des Begriffs­ transfers, vom Beitrag des deutschen Historikers Reinhard Koselleck bis zur For­ schung der Aufnahme der Fachbegriffe im modernen Japan von Suzuki Sadami, siehe: Meyer: »Begriffstransfer«, in: Bonner Enzyklopädie der Globalität, 2017, S. 355–366. 32 In diesem Bezug werden auch die folgenden Arbeiten des japanischen Psychiaters, Kimura Bin kritisch in Betracht gezogen. Kimura: »Zur Wesensfrage der Schizophre­ nie im Lichte der japanischen Sprache«, in: Jahrbuch für Psychologie Psychotherapie und Medizinische Anthropologie, 1969; Kimura: Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Subjektivität, 1995. 33 Unter anderem in: Merleau-Ponty (1945): Avant-Propos X. 34 Jutta Stalfort: Die Erfindung der Gefühle – Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850), 2013. 35 Landweer und Demmerling: Philosophie der Gefühle – von Achtung bis Zorn, 2007.

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iii. Aufbau der Arbeit

nischen, darunter v. a. Iwanami-kokugojiten und Iwanami-kogojiten verwendet.36 Die Bewertung, inwiefern Ausdrücke im alltäglichen, gegenwärtigen Japanischen geläufig sind, wird basierend auf der Erfahrung der Verfasserin dieser Arbeit, zugleich japanische Mutter­ sprachlerin, getroffen.

iii. Aufbau der Arbeit Im zweiten Kapitel ki und Fühlen werden methodische Schritte aufge­ zeigt, indem in die Problematik eingeführt wird, Forschungsstände von Teildiskursen aufgezeigt sowie konkrete methodische Bemer­ kungen getroffen werden. In Kapitel 2.1 wird die Problematik der Unterscheidung zwischen der präzisierten und der nicht-präzisier­ ten, vorprädikativen Welterfahrung unter den Stichworten »Fühlen« sowie »Gefühl« eingeführt. Indem die Kontinuität und die Unter­ scheidungsmöglichkeit zwischen dem »Erfahren« und dem »Erleben« erschlossen wird, legt sich der Fokus zunächst auf die Fülle der unpräzisierbaren Fühlereignisse als vorprädikative Ereignisse, die sich zwischen dem Verbalen und Nicht-Verbalen bewegen. Dann werden die Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Welterfahrung, die unreflektiert unser jegliches Sich-Befinden stützen, ebenso als eine Form des Vorprädikativen betrachtet, der sich, auch nach Mer­ leau-Ponty, als in unserem Sprachgebrauch impliziert zu erblicken ist. Schließlich werden zu diesem Vorprädikativen die Selbstverständ­ lichkeiten, die einerseits je nach Sprachkultur, zu der man gehört, und andererseits aufgrund der Partikularität des persönlichen Erfah­ rungshorizontes variieren, aber auch die (noch) unpräzisierbaren Fühlereignisse gezählt. In Kapitel 2.2 werden jeweils unterschiedliche Einführungen in Forschungsstände gegeben, zunächst zum Wortfeld des chinesischen »qi« und des japanischen »ki«, und zu phänomenolo­ gischen Arbeiten zu ki inklusive verschiedener Erwähnungen von ki in deutsch- sowie englischsprachigen phänomenologischen Diskursen. Anschließend folgt ein kleiner Überblick des Forschungsfelds zu »Gefühl(en)« in europäischer Denktradition. In diesem Zuge wird die Fragestellung herausgebildet, in was für einem Verhältnis die Erfah­ Nishio, Iwabuchi und Mizutani (Hg.): Iwanami-kokugojiten – dai nana han (岩波 国語辞典第七版), 2016. Ōno, Satake und Maeda (Hg.): Iwanami-kogojiten (岩波古語 辞典), 2018.

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1. Einleitung

rungen von ki stehen zum Feld, das beispielsweise deutschsprachig mit »Gefühl« sowie »Pathos« oder »Leidenschaft« bezeichnet wird und an die Tradition der Gefühlsphilosophie in Europa anschließt. Eine Rolle spielt dabei die Entdeckung einer gewissen »Verinnerli­ chungstendenz« der Gefühle, die mit der Tendenz der Trennung von »Innen« und »Außen ab dem 18. Jh. einhergeht.37 In Kapitel 2.3 wird auf konkrete methodische Einführungen, Bemerkungen sowie Thesen eingegangen, die in einer linguistischen Phänomenologie notwendig und erforderlich sind, die a priori mit der Vielfalt der natürlichen Sprachen konfrontiert ist. Hierzu sollen an dieser Stelle einige Bemerkungen getroffen wer­ den: Die Erfahrungsformen, die in der vorliegenden Arbeit thema­ tisiert werden, betreffen einen Horizont einer Vokabel, die so in der deutschen Sprache nicht vorhanden ist. So lässt es sich, aus der Notwendigkeit heraus, mit der Problematik der kulturellen Vari­ anz der Gefühle beschäftigen, die sowohl die Art und Weise der Gefühlsentstehung sowie -entfaltung als auch die Empfindungen selbst betrifft. Anhand konkreter Beispiele des Gefühlsvokabulars aus dem Tschechischen (mit Milan Kunderas Beschreibung des Gefühls »Lítost«)38 sowie aus dem Trauerkontext im Tahitianischen (einge­ führt von Anna Wierzbicka)39 wird die Problematik der Unüber­ setzbarkeit verschiedener Gefühlsbegriffe behandelt. Diese ist nicht gekennzeichnet von der Unmöglichkeit des Übersetzens, sondern vielmehr von der Unverzichtbarkeit des Übersetzens. Dabei wird die schöpferische Ernte aus der Problematik als solcher in der Aufdeckung der Erlernbarkeit der Gefühle entdeckt, die nicht nur den Prozess der Sozialisierung des Erwachsenwerdenden, sondern auch den Alltag der Erwachsenen betrifft. Wie von Agnes Heller verdeutlicht wird, wird man als »Erwachsenwerdende« immer damit konfrontiert, dass die eigene Kapazität der Artikulierung für die immer neu zukommenden Erfahrungen nicht ausreichend ist oder sei.40 Ähnliche Erfahrungen können alle Erwachsenen ihr Leben lang begleiten. Ein wichtiger 37 Dieser Hinweis bezieht sich auf die genannte Studie Stalforts. Vgl.: Stalfort (2013): S. 178. 38 Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, 1992. S. 164. Siehe auch: Stalfort (2013): S. 71. 39 Wierzbicka (2005): S. 27ff. 40 Heller: Theorie der Gefühle, 1981, S. 171f.

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iii. Aufbau der Arbeit

Punkt scheint in der vorliegenden Arbeit darin zu liegen, dass je nach natürlicher Sprache die Empfindungen unterschiedlich zerlegt bzw. artikuliert werden können, wodurch ein unterschiedliches Fühlen und ein unterschiedlicher Umgang mit den Empfindungen je nach Sprachkultur ermöglicht werden. Die Selbstverständlichkeiten – wie die »Lebensform«41 bei Wittgenstein –, die sich auf der Ebene der geteilten natürlichen Sprachen in der Sprach- und Kulturgesellschaft entdecken lassen, dürfen und können jedoch keineswegs essentiali­ siert werden,42 allein aufgrund der Unverzichtbarkeit des Übersetzens sowie der stetig bestehenden Erlernbarkeit der neuen Gefühle auch bei Erwachsenen. Es ist vielmehr darauf zu achten, dass in der Betrach­ tung von Gefühlen aus anderen Kulturen diese nicht an dem Maß der eigenen, vertrauten Muttersprache(n) gemessen oder verstanden werden. Dies liegt nicht nur an der phänomenologischen Haltung, eigene Selbstverständlichkeiten »in Klammern gesetzt«43 zu suchen, sondern auch, oder vielmehr im Wesentlichen, an der Unausweich­ lichkeit der Differenzen und Imkompatibilitäten selbst. Am Ende des Kapitels 2.3 wird die Methode der linguistischen Phänomenologie (linguistic phenomenology) von John L. Austin ein­ geführt, welche dieser in dem Essay »Ein Plädoyer für Entschuldi­ gungen« (A plea for excuses) aus dem Buch Wort und Bedeutung – philosophische Aufsätze (Philosophical Papers, 1961) entwirft. Bei dieser Methode lässt eine introspektionsnahe Suche nach den Wort­ bedeutungen die Tatsache ans Licht kommen, dass der Gebrauch eines Wortes je nach Sprechenden und je nach Situation variiert, trotz der stetig bestehenden Möglichkeit eines gegenseitigen Verständigens (bezüglich eines Wortes). Die Methode wird gemäß Austin geleitet von der Frage: »Wann (in was für einer Situation) würden wir (die Sprechenden) was (ein Wort) sagen (mit welchem Gebrauch)?«44 Indem diese Frage in der linguistischen Phänomenologie anhand spezifischer Ausdrücke untersucht oder aufgedeckt wird, lässt sich Wittgensteins »Lebensform« als etwas Erlerntes und Praktiziertes Vgl.: Wittgenstein (2015): S. 21f., 26f., 145 (PU: § 19, § 23, § 241). Mall: »Hermeneutik der Überlappung jenseits der Identität und Differenz«, in: Interculture Journal, Nr. 21, 2013, S. 11–32. 43 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso­ phie: erstes Buch – Allgemeine Einführung in die Phänomenologie, 1976, S. 65 (Hua III/1 § 32). 44 Austin formuliert seine Frage folgenderweise: »what we should say when, what words we should use in what situations« (Austin (1961): S. 130). 41

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1. Einleitung

erblicken. Diese Entdeckung wird zum Anker einer kritischen Ästhe­ tik der Artikulierung des transformativen Fühlens, in der an der eigenen erlernten Gefühlsgewohnheit gearbeitet werden kann, indem das Zuhören auf das eigene Fühlen geübt wird.45 Im dritten Kapitel Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki wird im Rahmen der linguistischen Phänomenologie des ki-Wortfelds eine konkrete Feldforschung im Wörterbuchartikel aus dem Iwanamikokugojiten durchgeführt.46 Neben der methodischen Orientierung an der linguistischen Phänomenologie ist die Verwendung des Wör­ terbuchartikels zurückzuführen auf das Interesse der Verfasserin, so breit wie möglich das Gesamte des Wortfeldes aus dem gegenwärtigen Japanischen sichtbar zu machen. Es handelt sich bei dieser Etappe konkret um die schrittweise übertragenen Übersetzungen von ki und ke: Nach einer kleinen Einführung in die Entwicklung des Wortzei­ chens sowie des Begriffs qi (氣 / 气) aus dem Chinesischen und in die Entwicklungsgeschichte des japanischen ki-Wortfelds wird jeweils zu ki und ke ein lexikalischer Artikel nachgeschlagen. Die Definitionen werden mit Beifügung des Originaltextes sinngemäß übersetzt und aufgeführte Beispielausdrücke ebenso mit Nennung des Originaltex­ tes, jedoch prozesshaft, ins Deutsche übersetzt. Durch diesen Pro­ zess werden fünf verschiedene Merkmale und Grundstrukturen des Wortfelds gewonnen, die durchaus als eine Art »phänomenologische Ernte« gelten können.47 Die Verwendung der lexikalischen Beiträge folgt einem Vorschlag Austins und trägt dazu bei, einen Überblick der Fülle der Bedeutungen und Wendungen aus dem Wortfeld zu gewin­ nen.48

45 Hiermit ist eine Änderung der Gefühlsgewohnheit gemeint, die als Folge sowie im Prozess der Einübung ins Zuhören beobachtet werden kann. Zu dieser transformati­ ven Ebene in Phänomenologie vgl.: Elberfeld: Philosophieren in einer globalisierten Welt – Wege zu einer transformativen Phänomenologie, 2017, S. 391–452. 46 Hierzu wird das bereits genannte folgende Wörterbuch verwendet: Nishio et al. (2016). 47 Diese Merkmale lassen sich gerade durch die Gegenüberstellung des Wortfelds zur deutschen Sprache erkennen. Es können noch mehr und andere Strukturen zu finden sein, je nachdem, von wem das Feld betrachtet wird, sowie welche natürliche Sprache dem Feld gegenübergestellt wird. 48 Vgl.: Austin (1961): S. 134.

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iii. Aufbau der Arbeit

Im vierten Kapitel Impersonales Fühlen wird anhand konkreter Aus­ drücke mit ki die Erfahrungsebene ans Licht gebracht, die in der vorliegenden Arbeit »impersonal« genannt wird.49 Hierzu wird bewusst von der Verwendung des Wortes »unbewusst« abgewichen.50 Die Anonymität der Wahrnehmung und Empfindung als Basis des Geschehens sowie die mediale Modalität des Geschehens des Fühlens wird mithilfe der grammatischen Kategorie »Impersonal« aus dem Lateinischen ans Licht gebracht.51 Die in diesem Kapitel untersuch­ ten Beispielausdrücke lauten: ki ga suru (気がする), kehai (けは い) sowie (空気) und werden hier kurz eingeführt: Ki ga suru (気 がする) lässt sich als ein Geschehen verstehen, in dem irgendein Aspekt des bereits vorgehenden, ganzleiblichen Wahrnehmungsvoll­ zugs in einem Moment auf einmal deutlich erkennbar wird. Das Geschehen erfolgt jedoch von der sprechenden Person aus gesehen spontan, wie »aus dem Nichts« entstanden. Kehai (けはい), dessen Verwendung in Form von kewai (けはひ) bereits während der japa­ nischen Heian-Zeit (794–1192) zu entdecken ist,52 lässt sich dem­ gegenüber als ein momenthaftes Erleben des ganzleiblichen Wahr­ nehmungsvollzugs verstehen, dessen Fokus nicht primär auf den Sehsinn gelegt wird, sondern vielmehr synästhetisch mehrere Sinne, wie z. B. Riechsinn und Tastsinn, gleichzeitig betrifft.53 (空気), das ursprünglich »Luft« heißt, drückt in der japanischen Gegenwart auch die Atmosphäre und Stimmung eines Ortes oder einer Situation aus. Es kann in manchen Verwendungen als ein repräsentatives Wort für das »Zwischen« der Zwischenmenschlichkeit verstanden werden, das in der japanischen Gesellschaft für die Entfaltung einer 49 Zur Verwendung der grammatischen Kategorie aus dem lateinischen »Impersonal« siehe: Elberfeld: »›Impersonales‹ im Subjekt und im Geschehen«, in: Philosophische Dimensionen des Impersonalen, 2021, S. 85–111. 50 Zum historischen Diskurs um die Konzeptualisierung des »Unbewussten« siehe: Dortier: »L’histoire mouvementée de l’inconscient« in: Freud et la psychanalyse, 2015, S. 60–68. 51 Vgl.: ebd. 52 Hierzu wird im Wörterbuch des Spätaltjapanischen nachgeschlagen. Die Bei­ spielausdrücke des Wörterbuchartikels stammen zahlreich vom Literaturwerk Genji Monogatari (源氏物語, entstand um ca. 1008) aus der Heian-Zeit (794–1192). Das nachgeschlagene Wörterbuch heißt Iwanami-kogojiten (岩波古語辞典): Ōno, Satake und Maeda (Hg.): Iwanami-kogojiten (岩波古語辞典), 2018. 53 Zur Analyse von kehai bezieht sich die vorliegende Arbeit reichlich auf den sphärentheoretischen Ansatz Hisayamas: Hisayama: Erfahrung des ki – Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre, 2014.

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1. Einleitung

geteilten Situation, sowie den Verlauf der Dinge allgemein, für ent­ scheidend gehalten wird. Am Ende des vierten Kapitels wird die kritische Dimension der anonym und kollektiv geteilten Situationsund Atmosphärenerfahrung ans Licht gebracht.54 Anhand von Gernot Böhmes »Ästhetik der Atmosphäre« und von dem affekttheoretischen Ansatz der Affective Societies von Jan Slaby u. A. werden sowohl die Machbarkeit der Atmosphäre als auch eine unvermeidbare Reflexion der Entstehung sowie Entfaltung der impersonal laufenden zwischen­ menschlichen Kommunikationen pointiert.55 Im fünften Kapitel Fühlen im Horizont situierter Personalität wird auf die Erfahrungsebene des Fühlens der Fokus gelegt, auf welcher die Personalität eine fundamentale Rolle spielt. »Personal« ist hier nicht nur die Personalität im Sinne des bewusst erlebten »Ichs«, sondern auch die Personalität, die auf eine gewisse Reflexivität verweist. Dies betrifft z. B. das Fühlen von kimochi (気持ち), das Emotionen mit intentionalem Bezug nahesteht, jedoch erst durch das Bewusstwerden des eigenen impersonalen Wahrnehmungsvoll­ zugs herausgebildet wird, sowie kibun (気分), die Befindlichkeit eines Menschen, welche auf dem leiblichen und konkreten Situiert­ sein vor Ort basiert ist.56 Kibun (ki-Anteil)57 ist zwar auch als ein impersonaler Vollzug zu verstehen, der vorreflexiv und vorprädika­ tiv laufen kann, jedoch im japanischen Sprachgebrauch – wie das Wort »Gemütsstimmung« im Deutschen – eine Bezugsperson (oder mehrere) impliziert. Die impersonal und unbewusst laufende Kon­ textualisierung der Wahrnehmungen, die auf jeder unbemerkten Attribuierung bzw. »Zuschreibung« von Eindrücken, Werten, Qua­ litäten und Bedeutungen bei jedem Individuum beruht, und somit keineswegs vom menschlichen Sprachgebrauch unabhängig steht, wird hierbei nicht nur im zwischenmenschlichen Kontext, sondern 54 Hierzu bezieht sich die folgende Arbeit auf eine Stelle aus dem folgenden Buch: Yamamoto: Kūki no kenkyū (空気の研究), 2011. 55 Hierzu bezieht sich die Arbeit primär auf die folgenden zwei Bücher: Böhme: Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik, 2017. Slaby und von Scheve (Hg.): Affective Societies – key concepts, 2019. 56 Hierzu bezieht sich die vorliegende Arbeit auch auf den Gebrauch des Befindlich­ keitsbegriffs in: Heidegger: Sein und Zeit, 1967, S. 134ff. 57 Die Übertragung oder Übersetzung von Kimuras »Anteil« am ki spielt in der vor­ liegenden Arbeit beim Übergang von einer linguistisch-phänomenologischen Betrachtung zum Übungsweg der Artikulierungsästhetik des Fühlens eine entschei­ dende Rolle. Siehe: Kimura (1969): S. 29.

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iii. Aufbau der Arbeit

auch bereits im Prozess des reflexiven Sich-Befindens von jedem Individuum gesucht. Die nicht-verbale und vorprädikative Ebene des Sprachgebrauchs, die in Form von Attribuierungen sowie körperlichen Reflexen bereits im leiblichen Situiertsein vorgeht, wird somit nicht nur in der Erfahrung von personalen Gefühlen, sondern auch in der zwischenmenschlich geteilten Situationsstimmung gesucht. Diese Dimension lässt sich vielmehr im Vollzug des reflexiven Sich-Befin­ dens sowie Sich-Stimmens jedes Individuums erblicken, der häufig als bloß dem »unbewussten Bereich« zugehörig betrachtet wird. In Anlehnung an Böhmes »Ästhetik der Atmosphäre«, und von der linguistisch-phänomenologischen Erforschung der Wortsinne ausgehend, werden Bezüge zu einer kritischen Ästhetik der Artikulie­ rung in Ausblick gestellt. Diese Artikulierungsästhetik charakterisiert sich intrinsisch durch die individuellen und mühsamen Wege der Einübung ins Zuhören,58 in denen mitunter die Aufmerksamkeit auf das von der Prädikation häufig zum »Schweigen« (le silence) gebrachte Gebiet – das »Rohe« (le brut), wie beispielsweise Merleau-Ponty es nennt – gelenkt wird.59 All diese Übungswege lassen sich insgesamt nicht nur in jeder Änderung des Sprachgebrauchs (im Sinne von parole wie bei Saussure)60 des Individuums sowie der hiermit einhergehen­ den Gefühlsgewohnheit entdecken und erleben, sondern auch – über die mit Anderen geteilte Stimmungserfahrung im alltäglichen Leben hinweg – in der Änderung der Umgangsweisen überhaupt mit der Umgebung, den Anderen und der Fremdheit (auch in sich selbst).61 Im sechsten Kapitel Fazit und Ausblick werden zur Zusammenfassung zwölf Thesen dargelegt, die sich aus der vorliegenden Arbeit gebildet haben. In einem Ausblick auf zukünftige Fragestellungen werden wei­ tere Forschungsmöglichkeiten genannt, die aus der gesamten Arbeit, 58 Zur Möglichkeit der Einübung ins Zuhören vgl.: Leeten: Redepraxis als Lebens­ praxis – die diskursive Kultur der antiken Ethik, 2019, S. 224–267. 59 Zu den Begriffen »das Schweigen« (silence) und »das Rohe« (le brut) siehe z. B.: Merleau-Ponty (1945): Avant-Propos X, Merleau-Ponty (1964): S. 221. 60 Vgl.: De Saussure: Cours de linguistique générale, hg. von Charles Bailly, Albert Séchehaye unter Mitarbeit von Albert Riedlinger, 1997, S. 37f. 61 Zur »Transformation« in Phänomenologien vgl.: Elberfeld (2017): S. 411–419. Zur Transformation ist außerdem die »Verwandlung meines Seins« (transformation de mon être) bzw. Transformation des Gesamten des Menschen zu zählen, wie dies von Mer­ leau-Ponty pointiert wird (Merleau-Ponty (1945): S. 214. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 218).

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1. Einleitung

den Haupt- und Nebensträngen der Forschung und Beschreibung, erschlossen werden können.

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2. Ki und Fühlen

Das folgende Kapitel dient der Einführung in das Themenfeld »ki und Fühlen«. Es wird zunächst erläutert, was unter den Begriffen »Fühlen« und »vorprädikative Erfahrung« verstanden wird. Anschlie­ ßend wird der Fokus auf die methodische Ebene verschoben, um den Forschungsstand im Themenfeld und die in dieser Arbeit verwendete Methodik darzulegen.

2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung Um Lesenden in diesem Kapitel einen Überblick zum Verständnis der Begriffe »Fühlen« und »vorprädikative Erfahrung« im Rahmen dieser Arbeit zu geben, wird in diesem Kapitel auf drei Bereiche eingegangen, die bei dieser Art Phänomenen unterschieden werden können bzw. unterschieden eingeführt werden können: Zunächst soll auf »Erle­ ben und Erfahren des Fühlens« allgemein eingegangen werden, um anschließend spezifiziert die Unterscheidbarkeit zwischen »Fühlen mit und ohne Worte« hervorzuheben. Am Ende des Kapitels wird die »vorprädikative Erfahrungsebene« gesondert in den Blick genommen, auf der die o. g. Unterscheidbarkeit wiederum relativiert wird.

2.1.1 Erleben und Erfahren des Fühlens »Die Verlegenheit über Gefühle zu sprechen, beginnt beim Wort.«62 Wie verlegen es sich anfühlt, über Gefühle zu sprechen, ist jedoch sicherlich abhängig von Person, Zeit, Ort und Ambiente. Bedingt von denselben Parametern kann es auch Momente geben, in denen das Sprechen über Gefühle überhaupt nicht verlegen ist. Der Umgang mit Gefühlen variiert je nach Kultur, in der eine Person aufgewachsen ist. 62 Schmitz: Leib und Gefühl – Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, 2008, S. 107.

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2. Ki und Fühlen

Dessen Variabilität ist bereits im Sprachgebrauch jedes Individuums zu sehen. Eine Art und Weise des Umgangs lässt sich auf der mensch­ lichen verbalen Ebene erkennen: mal laut, mal leise, mit Schweigen, mit wortlosen Lauten, oder einfach in Körpersprache. Das Fühlen artikuliert sich, differenziert sich mal mit Worten, mal ohne Worte. Schlägt man »Gefühl« sowie »Fühlen« im Online-Hauslexikon der deutschen Sprache Duden nach, ist zu lesen, dass es sich um Empfindungen handelt, die nicht nur »psychisch« und »seelisch« erlebt werden, sondern auch »mit den Nerven« oder »mit dem Tast­ sinn«, also »körperlich« gespürt werden können.63 Körper, Geist sowie Psyche werden an dieser Stelle zwar begrifflich unterschieden, lassen sich jedoch in beiden Dimensionen innerhalb des Wortbereichs (Fühlen und Gefühl) finden. Anzumerken ist, dass das Wortfeld um Erlebnisse – seien es Eindrücke oder Ahnungen – kreist, die »nicht näher zu erklären« zu sein scheinen.64 In der deutschen Sprache gibt es hierfür zwei Begriffsfelder: »Erlebnis« sowie »erleben« einerseits und »Erfahrung« sowie »erfah­ ren« andererseits.65 Die beiden Begriffsfelder sind unterscheidbar, sie scheinen jedoch als »Erfahrungen« ineinander überzugehen. Das Wort »Erleben« legt nahe, dass es sich um ein leibliches Moment der Erfahrung handelt. Rudolf zur Lippe stellt die Begriffe so gegenüber: »Erfahrung geht aus von einem Erleben, das sie [die Erfahrung] reflektierend mit dem Wissen von seinen Hintergründen und Zusam­

63 Die zwei Begriffe werden im Duden wie folgt definiert: »Gefühl: 1. das Fühlen (1a); (durch Nerven vermittelte) Empfindungen 2. das Fühlen (2); psychische Regung, Empfindung des Menschen, die seine Einstellung und sein Verhältnis zur Umwelt mitbestimmt 3. a) gefühlsmäßiger, nicht näher zu erklärender Eindruck; Ahnung, Grammatik: Ohne Plural b) Fähigkeit, etwas gefühlsmäßig zu erfassen; Gespür, Grammatik: Ohne Plural« Duden.de: https://www.duden.de/rechtschreibung/Gefu ehl (abg. am 30. Sep. 2021). »Fühlen: 1. a) mit dem Tastsinn, den Nerven wahrnehmen; körperlich spüren b) tastend prüfen, feststellen 2. a) seelisch empfinden 3. tastend nach etwas suchen 4. a) von seinem körperlichen oder seelischen Zustand, von seiner Lage, Situation o. Ä. eine bestimmte Empfindung haben b) sich in seinem Gefühl für etwas halten c) auf etwas stolz und davon ganz durchdrungen sein. Duden.de: https://www.duden.de/rechtsc hreibung/fuehlen (abg. am 30. Sep. 2021). 64 Ebd. 65 Vgl.: Depraz: »Erleben«, in: Vocabulaire Européen des Philosophies, 2019, S. 369ff.

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2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung

menhängen verbindet.«66 Das »Erleben« beschreibt zur Lippe demge­ genüber wie folgt: Die erste Begegnung wird oft in einem starken Eindruck erlebt, aber das Erlebnis bleibt schwer zu fassen. Diese Undeutlichkeit hängt nicht zusammen mit dem, was uns begegnet, indem dies etwas zu unbe­ stimmt wäre, um überhaupt entschiedener auf uns zu wirken. Vielmehr vermögen wir selbst noch nicht mit Bestimmtheit aufzunehmen, weil die Begegnung noch zu flüchtig war.67

Ueda Shizuteru, ein japanischer Philosoph der dritten Generation der Kyoto-Schule, unterscheidet ebenso auf Japanisch die zwei Wörter taiken (体験 Erleben, Erlebnis) und keiken (経験 Erfahren, Erfah­ rung). Die beiden Begriffe haben das Zeichen 験 gemeinsam, das auch »Experimentieren« (Experiment) sowie »Prüfen« (Prüfung)68 bedeutet. Taiken (Erleben) wird außerdem mit dem Zeichen 体 geschrieben, das Körper bedeutet. Keiken (Erfahrung) hat demgegenüber das Zeichen 経, das in etwa »vergehen«, »verlau­ fen« sowie »durchgehen« heißt.69 Von Ueda wird taiken als solches erklärt, das mit »Schmerzen« erlebt wird: Es ist ein »zerstörerisches Reinstoßen von einer Gegebenheit in meine bisherige Welt«.70 Keiken (Erfahrung) hingegen »besagt, etwas erfahren (A) und erfahrend zugleich wissen (B), was und wie erfahren wird. […] Zur Erfahrung gehört das Wissen, was und wie erfahren wird.«71 Unabhängig von der Frage, ob ein Erlebnis immer nur mit »Schmerzen« einhergehen muss, scheint hier ein gewisses »Wissen« oder »Fassen« eine Rolle zu spielen; man weiß also im Fall der Erfahrung, wie und was man erfährt

Zur Lippe: Sinnenbewusstsein – Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, 2000, S. 339. 67 Ebd. 68 Wie z. B. in Wörtern wie jikken (実験, Experiment, experimentieren) oder shiken (試験 Prüfung, prüfen). 69 Zur Lippe schreibt, auch die Bewegung des Fahrens (durch die Welt) sei ein Aspekt, der den Erfahrungsbegriff charakterisiert. Das japanische Verb heru oder tatsu (経る, 経つ verlaufen, vorüberfahren, durchgehen), von dem hier die Rede ist, scheint eine ähnliche Bewegung im Kern zu haben. Dasselbe Zeichen (経) wie für heru/tatsu wird auch für »Sutra« (dt. Übers.) verwendet. Vgl.: Zur Lippe (2000): S. 343. 70 Ueda: Keiken to basho – tetsugaku korekushon 2 (経験と場所 – 哲学コレクショ ン 2), 2007, S. 20. I. O. (im Original): 「今までの自分の世界を壊すような仕方で 事実がぶつかってくる」. 71 Ueda: Wer und was bin ich? Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus, 2011, S. 135. 66

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2. Ki und Fühlen

– wenn auch nachträglich oder im Laufe der Zeit. Ueda verweist neben seiner Unterscheidung der zwei Begriffe auf eine Korrelation der Erfahrung mit der menschlichen Sprache: »Die Grundlage der Verfassung ist dabei von der Sprache bereitet.«72 So scheint der Erfah­ rungsbegriff gegenüber dem Erlebensbegriff eine eher begriffene oder aufgefasste Dimension eines flüchtig zugekommenen Erlebnisses ans Licht zu bringen. Von Gefühlen kann gesprochen und erzählt werden, sie sind oder werden also Erfahrungen. Im Erzählen der Gefühle zeigt sich die Erfahrung des Fühlens als solche. Es zeigt sich, wie das »Flüchtige« des Erlebnisses – wenn auch erstmal vorläufig – von der Sprecher:in gefasst wird oder wurde, in Form von: »Wo wer in was auf welche Art und Weise involviert ist«. Das Erleben des Fühlens kann dem­ gegenüber so »flüchtig« sein, dass es beinahe kaum zu bemerken (erfahren) zu sein scheint, wer wo wann und in was involviert war. Es gibt jedoch auch klares und deutliches Geschehnis der Gefühle, wie z. B. von einer Sache schwer betroffen zu sein, sich in Trauer oder in einer (unkontrollierbaren) Fröhlichkeit zu befinden. Diese personal erlebten Gefühle können auch mit anderen Worten wie »Emotionen« oder »affektive Betroffenheit« bezeichnet werden.73 Das Flüchtige des Fühlerlebnisses, das von Zeit zu Zeit kaum bemerkt wird, aber doch irgendwie im alltäglichen Leben mitzulaufen scheint, scheint nur schwer in Worte zu fassen zu sein.74 Wenn dieses Flüchtige sich, ohne reflektiert werden zu müssen, frei entfaltet, sei es in Worten, sei es in Mimik oder Gestik, bleibt es möglicherweise still und unbemerkt. Eine Frage taucht jedoch spätestens dann auf, wenn einem auffällt, dass man etwas fühlt, aber nicht weiß, was das sein könnte. Dies kann eine leibliche Empfindung aus einem temporären Schlafmangel sein, Ebd. Vgl.: Landweer und Demmerling (2007): S. 21. Sowie: Fuchs: »Verkörperte Emo­ tionen, wie Gefühl und Leib zusammenhängen«, in: Psychologische Medizin 25. Jahr­ gang, 2014, S. 13. 74 Hierzu scheint relevant zu sein, dass etwas »Unaussprechliches«, wie von FrühWittgenstein im Tractatus logico-philosophicus beschrieben, von Pierre Hadot als von der (deutschsprachigen Terminologie der) »Erfahrung« unterschiedene Erlebnisse wie »Gefühle«, »Emotionen« und »affektive Erfahrungen« verstanden wird. Vgl.: Hadot: Wittgenstein et les limites du langage, 2004, S. 15 (Eigene Übers.). Siehe auch: Witt­ genstein: Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung, 2021, S. 111 (§ 6.522). Auch die in der Einleitung genannten »kleinen Perzeptionen« (petites perceptions) von Leibniz werden in diesem Bezug als relevant für diese Arbeit betrach­ tet. Vgl.: Leibniz (1996): S. 10ff. 72

73

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2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung

die sich schwer lokalisierbar und unangenehm anfühlt, die einen ein wenig daran hindert, sich wie sonst »normal« zu fühlen. Es kann aber auch ein kleines Geräusch sein, das einen an der Konzentration auf seine Arbeit hindert. Es kann ein Blick von jemand anderem sein, der einen beschäftigt und nachdenklich gemacht hat. Angesichts der Fragestellungen »was fühle ich jetzt?« sowie »was ist das?« kann einem das Flüchtige noch flüchtiger vorkommen, kann jedoch auch informativ etwas von der Situation und der eigenen Wahrnehmung mitteilen, auf die wiederum zu »antworten« zu sein scheint.75 Das Motiv der Wortwahl für ki in diesem Zusammenhang – wieso sich für die vorliegende Arbeit das ki-Wortfeld ausgesucht wurde – teilt sich in verschiedene Dimensionen, lässt sich jedoch folgenderweise zusammenfassen: Die Charakteristiken des ki-Wort­ feldes, welche in zahlreichen Beispielausdrücken aus dem alltäglichen Sprachgebrauch zu finden sind, lassen sich in dem Punkt vereinen, dass es sich um leibliche und situative Erlebnisse handelt, die kaum zu vergegenständlichen sind. Diese kaum objektiv zugängliche Leiblich­ keit im Situiertsein erinnert einen an die Struktur, die in den Formu­ lierungen »Fleisch« (la chair)76 beim späten Maurice Merleau-Ponty, sowie »passive Synthesis« aus der genetischen Phänomenologie Edmund Husserls77 zu sehen sind. Diese Begriffe lassen sich dennoch von ki unterscheiden, da es zum einen im ki an der Konnotation des Stofflichen (vom Fleischbegriff) oder Materiellen mangelt, welches tendenziell dem Immateriellen gegenübergestellt wird, und da zum anderen mit ki nicht nur von Wahrnehmungen die Rede ist, sondern auch von sowohl intentionalen Gefühlen (kimochi) als auch nichtintentionalen. Es kann vermutet werden, dass sich an das Wortfeld ki durchaus anhand der Terminologien von der genetischen Phänome­ nologie Husserls sowie jener von Spät-Merleau-Ponty angenähert werden könnte. Dabei ist jedoch mit Nachdruck zu betonen, dass diese Annäherung (mit diesen Terminologien) etwas unberührt ließe, Neben dem informativen Charakter im Erleben des Fühlens scheint die handelnde Ebene der Gefühle – sei es mit Intention oder ohne – genauso wichtig zu sein. Zum Ausdruck »Antworten« siehe auch: Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden, 1997, S. 50ff. Dabei wäre es sinnvoll, auch die Möglichkeit bzw. Freiheit des Indivi­ duums offenzuhalten, also zu entscheiden, auf eine Frage aus einem konkreten Fühl­ erlebnis bewusst nicht einzugehen. 76 Merleau-Ponty (1964): S. 185ff. 77 Zur phänomenologischen Betrachtung des ki-Wortfelds mit Bezugnahme auf die passive Synthesis siehe: Yamaguchi (1997): S. 67. 75

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2. Ki und Fühlen

was im Wortfeld ki sowie um das Feld herum als selbstverständlich vorausgesetzt oder vor-angenommen ist. Es ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit, dieses Etwas, das vorsprachlich Angenommene, schrittweise ans Licht zu bringen.

2.1.2 Fühlen mit und ohne Worte In der vorliegenden Arbeit wird das flüchtige Fühlen – diese sehr wahrscheinlich zeitlich gemessen sehr begrenzte Spanne im Erle­ ben des Fühlens – als eine Dimension vorprädikativer Erfahrung angesehen. Die vorprädikative Erfahrung wird hier provisorisch in dem Sinne eingeführt, dass sie von dem aktuellen Fühlen handelt, das (noch) nicht präzisierbar, analysierbar oder ansprechbar zu sein scheint.78 Dieses Flüchtige wird verschieden zu Worte gebracht: »petites perceptions« oder »je ne sais quoy«,79 »Fremderfahrung«80 sowie das

78 Die Verwendung des Ausdrucks »vorprädikativ« (antéprédicatif) innerhalb der vorliegenden Arbeit stammt von der Phänomenologie Merleau-Pontys (siehe: Mer­ leau-Ponty (1945): Avant-Propos X). Ein Grund dieser Anlehnung zeigt sich sicherlich von alleine in der Arbeit, wird jedoch im folgenden Zitat zusammengefasst: « MerleauPonty tente d’élaborer une théorie générale de la perception telle qu’elle se réalise dans toutes les branches du savoir. Une telle théorie espère apporter des changements importants dans toutes les sciences de la perception : les sciences naturelles (physique, biologie, écologie, agronomie, etc.), les sciences humaines (la sociologie, la philoso­ phie, la psychologie, l’histoire, l’économie, etc.), et les sciences appliquées (p. ex., la médecine). […] car Merleau-Ponty a réussi à dépasser la théorie traditionnelle de la perception en élaborant une nouvelle théorie dans laquelle « sensation » et « percep­ tion » sont une seule et même chose, c’est-à-dire sont deux expressions d’une même réalité. La perception cesse d’être la « sensation » plus la « conscience de la sensation ». Elle devient identique à la sensation. Là où Husserl voit deux actes, Merleau-Ponty n’en voit qu’un seul. » Welo Okitawato Owandjalola : Idée de Philosophie chez Maurice Merleau-Ponty – introduction générale à la philosophie phénoménologique de MerleauPonty, analyse des concepts, 1987, S. 167. 79 Leibniz (1996): S. 10ff. 80 Vgl.: Merleau-Ponty (1964): S. 224.

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2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung

Fremde,81 »das Unbewusste«82 oder manchmal sogar auch »Sein«83. Den Arbeitsfokus auf dieses Flüchtige zu legen, scheint mir – wie in der Ansicht Spät-Merleau-Pontys – dem »Wiederfinden« (retrouver) der »nicht thematisierten Lebenswelt« (le monde non-thématisé) und »der Welt des Schweigens« (le monde de silence) nahezuliegen.84 Das heißt, ein Wiederfinden oder ein erneutes Kennenlernen dessen, was als Lebenswelt immer schon da ist (oder war), und was jedoch (noch) nicht beleuchtet und in einen Fokus gebracht worden ist.85 Der japanische Ausdruck »kiuzku« sowie »ki ga tsuku« (気づく, 気がつ く ki heftet sich an etwas: bemerken, aufmerken) ist hierfür relevant: Im Ausdruck handelt es sich um ein Ereignis des Bemerkens der Sache, die zeitlich vor dem Bemerken bereits angefangen haben oder präsent gewesen sein muss.86 Das Flüchtige wird hier mit dieser »nicht thematisierten Lebens­ welt« parallelisiert. Diese wird bei Merleau-Ponty auch »das Rohe« (l’être brut) oder »das Wilde« (le sauvage) genannt.87 Nach MerleauPonty bleibt diese Lebenswelt auch mit unserer Sprache (langage) oftmals nicht ganz zu erreichen, bleibt also eher »impliziert« (impli­ qué).88 Wenn sie sich jedoch implizieren lässt, so müsste die nicht thematisierte Lebenswelt auch in sprachlichen Äußerungen (énoncés)

Es sind neben Merleau-Ponty und Waldenfels noch unzählbare Autoren zu nennen, die vom Fremden geschrieben hatten und haben. In Bezug auf die vorliegende Thematik sind hervorzuheben: Alfred Schütz, Emmanuel Lévinas, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Paul Ricœur und Lázló Tengelyi. 82 Vgl.: Waldenfels: Erfahrung, die zur Sprache drängt – Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, 2019, S. 18f. 83 Merleau-Ponty bezieht sich auf Heideggers Verständnis des Seins als das, was auch das (noch) nicht Ausgesprochene tastet und erreicht. Der Begriff wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht verwendet, auch aufgrund des Arbeitsfokus auf die perzep­ tive und affektive Ebene des Fühlens. Merleau-Ponty (1964): S. 221. 84 Ebd.: S. 222. Die Übersetzung von « le monde non-thématisé » in »nicht-themati­ sierte Lebenswelt« stammt hier zwar von der deutschen Übersetzung, Merleau-Ponty erwähnt jedoch selbst »Lebenswelt« auf Deutsch im Satz (ebd). Vgl.: Merleau-Ponty (1986): S. 221. 85 Ebd. 86 Siehe Kapitel 4.1.4 sowie Kapitel 5.2.3. 87 Merleau-Ponty (1964): S. 221. 88 Ebd. 81

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2. Ki und Fühlen

erblickt werden können.89 Das Implizierte ist jedoch nur dann mög­ lich, »impliziert« zu sein, wenn etwas ausgesagt wird. Das Wilde soll dort in Äußerungen versteckt und nicht in der expliziten Art und Weise zu erblicken sein: So beginnt ein mühsamer Weg der fokussierten Suche danach, was nicht ausgesagt worden ist – immer nur diesen »Spuren« hinterherlaufend, ohne zu wissen, ob dieses »Nicht-Gesagte« genau das wilde und rohe Fühlen betrifft. Das Nicht-Gesagte an sich kann nämlich alles Mögliche inkludieren. Auch die Vorstellung des Nicht-Gesagten sowie von »allem Möglichen« steht unter dem Einfluss der Vorverständnisse, Interessen und Fühl­ gewohnheiten seiner selbst. Es könnte auch der Fall sein, dass gerade der Versuch, mit aller Kraft das Wilde und Vage in Worte zu bringen, Erlebnisse so flüchtig und unzugänglich macht, bis der Bereich der »unbewussten« Seite der Welt hingedrängt wird. Die mögliche Gefahr einer Fixierung des Fokus auf der Suche nach dem Nicht-Thematisierten besteht dennoch: Vergessenheit des­ sen, was eigentlich gesucht worden war. Eine fixierte Suche nach dem Nicht-Thematisierten, bis sich die Suche selbst auf kein Wort mehr einlässt, kann dazu leiten, dass der Fokus, ohne darum zu wissen, in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, die doch eigent­ lich nichts anderes war als die eigene konventionelle Denk- und Wahrnehmungsweise (oder -orientierung). In einem anderen Fall steht man dem Nicht-Thematisierten nur wortlos oder sprachlos und ohnmächtig gegenüber. So kann man in einem unbeschreibbaren »Erlebnismoment« stecken bleiben, der zu einem späteren Zeitpunkt noch unverdaulich erinnert wird – von der latenten Frage begleitet: Was war das eigentlich?90 Dieses Steckenbleiben im Erlebnis kann möglicherweise verhindern oder bremsen, wahrzunehmen, wie vieles Zur »Lebenswelt« bei Merleau-Ponty kann die folgende Stelle hilfreich sein: »In gewissem Sinne ist sie als nicht thematisierte selbst noch in den Aussagen enthalten, die sie beschreiben: denn die Aussagen als solche sedimentieren sich ihrerseits wieder, werden von der Lebenswelt,wiederaufgegriffen’ und sind eher in ihr inbegriffen, als daß sie diese begreifen würden – sie sind in ihr inbegriffen, schon sofern sie eine ganze Selbstverständlichkeit miteinschließen. Aber dies schmälert den Wert der Philosophie nicht und hindert sie nicht daran, etwas anderes und mehr zu sein als ein einfaches und partielles Produkt der Lebenswelt, das eingesperrt ist in eine Sprache, die uns lenkt.« (Ebd.: S. 222. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 221.) Sicherlich ist dies, dass sich das Wilde durch Sprachakt doch zeigen lässt, in Gedicht und Poesie reprä­ sentativ. Vgl.: Heller (1981): S. 169. 90 Zur Lippe erwähnt eine ähnliche Erfahrungsdimension anhand eines Kontextes der Begegnungen. Vgl.: Zur Lippe (2000): Band 2, S. 340. 89

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2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung

inzwischen nun um und bei sich passiert (ist). Außerdem kann eine allzu fokussierte Suche nach Gefühlen und Emotionen, die (noch) nicht in Worte gefasst worden sind, auch die Möglichkeit einer spontan entstehenden Emotion und Äußerung verhindern. Auch die berühmte Zeile Goethes: »Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut«91 manifestierte sich in Worten.92 Um, unabhängig von der Frage, ob gerade dies das Wilde und Vage so flüchtig und unzugänglich macht, zumindest zu versuchen, das sprachlich Nicht-Thematisierte mit aller Kraft in Worte zu bringen, scheint es ein plausibler Ausblick zu sein, dass die menschliche Sprache eine Umgangsform mit Gefühlen ist. So müsste es möglich sein, im menschlichen Sprachgebrauch einen Ausweg zu finden, noch bevor das Flüchtige des Fühlens einseitig zu der »unbewussten« Seite des Lebens hingeschoben oder stummgeschaltet werden muss. Es scheint also notwendig zu sein, sich besser (aus)sprechen zu lassen93 – mit oder ohne Worte, wenn auch in Form von »oh«.94 Die Erlebnisse werden mithilfe von Worten zu Erfahrungen. Sie werden dann einmal beleuchtet und mit Worten beschnitten, auch wenn diese einmal beleuchtete Erfahrung im späteren Zeitpunkt, im Wiederbeleuchten, ein völlig anderes Gesicht sichtbar werden lassen kann.95 Die Änderungen der parole – sowohl im Sinne der Änderung Von Goethe: Faust, eine Tragödie, 1808, S. 235. Hier kann der Hinweis Merleau-Pontys erhellend sein: »Es ist die Sprache selber, die je schon in uns jene Gewißheit begründet hat, über den Ausdruck hinaus eine von diesem lösbare Wahrheit zu treffen, die in ihm nur eine Einkleidung und kontingente Bekundung hat.« Merleau-Ponty (1966): S. 236. I. O.: Merleau-Ponty (1945): S. 459. Siehe auch Thierry (1987): S. 47. 93 Dies lässt sich einfach mit der Konzeption der »sprechenden Sprache« (parole par­ lante) bei Merleau-Ponty vergleichen. Vgl.: Merlau-Ponty (1945): S. 229f. Siehe auch: Depraz: »What about the praxis of Reduction? – Between Husserl and MerleauPonty« in: Merleau-Ponty’s Reading of Husserl, 2002, S. 119. 94 Ueda (2008): S. 63. Ueda benennt die spontan entstandene Äußerung mit seiner eigenen, jedoch »provisorisch« konzipierten Bezeichnung »Ur-wort« (kongengo 根源 語). Eines der Beispiele, die er nennt, findet sich im Wort »oh« im Grabspruch Rainer Maria Rilkes: »Oh Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern«. Ebd. Das Erlebnis eines kongengo bedeutet für Ueda ein Erlebnis des Hinausgeworfen-Seins aus dem eigenen Erfahrungshorizont in einen neuen. Vgl.: Ueda: Kotoba – testugaku korekushon 3 (言葉 – 哲学コレクション 3), Iwanami, Tokyo 2008, S. 47, 64f. 95 Hierbei kann »die wichtigste Lehre der Reduktion« bei Merleau-Ponty bzw. die »Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« in Erinnerung gerufen werden. Mer­ 91

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2. Ki und Fühlen

des Signifikants (signifiant) als auch des Signifikats (signifié) – findet stetig statt, um eine Erfahrung herum bzw. von einer Erfahrung ausgehend. Auch das flüchtige Erlebnis lässt sich darauf ein, sich als »flüchtig« erkennen zu lassen, weil einem klar sein soll, was »flüchtig« heißt.96 So scheint es notwendig oder unvermeidlich zu sein, den Sprach­ gebrauch (langage) zu thematisieren, sei es für die Reduktion in der Phänomenologie,97 sei es für eine Arbeit an eigenem Vorverständnis und Vorurteil, welche im menschlichen und kulturellen Werdegang »erlernt« und »sedimentiert« werden können.98 Die »Thematisierung des Sprachgebrauchs« bedeutet in der vorliegenden Arbeit konkreter die Thematisierung dessen, wann oder in was für einer Situation was wörtlich geäußert wird.99 Mitgedacht werden hier die Zeilen Merleau-Pontys: Die »Thematisierung der Sprache überwindet eine weitere Etappe der Naivität, enthüllt ein wenig mehr noch den Hori­ zont der Selbstverständlichkeiten.«100 Wenn auch nur ein wenig, kommt auf diese Weise etwas von den unreflektiert tradierten Selbst­ verständlichkeiten in uns ans Licht, indem – wenn auch schrittweise – aufgedeckt wird, was wir in unserem alltäglichen Sprachgebrauch unreflektiert tun. leau-Ponty (1945): Avant-Propos XIII–IX. Auf die Änderung des Gesichts der Gefühls­ erlebnisse wird in der vorliegenden Arbeit unter dem Stichwort »Koordinierung der Gefühle« sowie in Bezug auf deren Re-Koordinierung in Kapitel 2.3.4 sowie im vierten Kapitel genauer eingegangen. Vgl.: Heller (1981): S. 167, 170. 96 So kann eine Annahme der vorliegenden Arbeit teilweise sichtbar werden, die von der Sprachphilosophie von Spät-Merleau-Ponty inspiriert ist: Die Sprache (langage) wird nicht als ein von den Menschen getrennter Bereich, sondern als eine sich selbsttransformierende »Welt« verstanden, in der der Mensch lebt. Vgl.: Giuliani-Tagmann: Sprache und Erfahrung in den Schriften von Merleau-Ponty, 1983, S. 209. MerleauPonty sagt auch: »Die Wahrnehmung hat mich, wie die Sprache« (mich hat).) Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1964): S. 245. I. O.: Merleau-Ponty (1964): S. 241. 97 Depraz (2002): S. 115. 98 Die Verwendung des Wortes »sedimentieren« stammt vom Wortgebrauch Mer­ leau-Pontys (sédimenter). Vgl.: Merleau-Ponty (1945): S. 220, 504. Siehe auch.: Thierry (1987): S. 34, Di Paolo, Cuffari und De Jaegher: Linguistic bodies – the conti­ nuity between life and language, 2019, S. 121f. 99 Hierauf wird in Kapitel 2.4.8 in Anlehnung an die linguistic phenomenology Austins eingegangen. 100 Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 232f. Hervorh. i. O. I. O.: Merleau-Ponty (1964): S. 229. Der Satz endet mit dem Einschub: »– der Übergang der Philosophie zum Absoluten, zum transzendentalen Feld, zum wilden und ›vertikalen‹ Sein ist definitionsgemäß vorausschreitend, unvollständig.« Ebd.

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2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung

Dass die sprachlichen Beschreibungen des flüchtigen Erlebnisses immer schon unvollständige, unvollkommene Skizzen bleiben, die noch tausend möglichen Umschreibungen ausgesetzt sind und deren Beschreibungen bereits variieren, muss nicht als eine Schwäche der phänomenologischen Ansätze betrachtet werden. Dies kann vielmehr auf die Wichtigkeit hinweisen, uns konkret mit der Pluralität und Ver­ änderbarkeit der Beschreibung zu konfrontieren. Von einer einzigen und dennoch kollektiv geteilten Situation aus oder in Bezug auf diese kann von verschiedenen »Gefühlen« die Rede sein. Ebenso lässt sich ein erlebtes Gefühl von einer Person in einer Situation je nach Zeit mit oder ohne Worte auf unterschiedliche Art und Weise neu artikulieren. Zum Schluss des Abschnitts ist darauf hinzuweisen, dass in der vorliegenden Arbeit die menschliche Sprache sowie der Sprachge­ brauch (langage) keineswegs bloß als »getrennt« von der gelebten Welt angesehen werden können. Hierzu kann das folgende Zitat aus der Phänomenologie der Wahrnehmung von Merleau-Ponty rele­ vant sein: J. Wahl hat Unrecht, zu behaupten: »Husserl trennt Wesen und Exis­ tenz.«101 Die »getrennten« Wesen sind die der Sprache. Eben dies ist die Funktion der Sprache, Wesen getrennt in Selbständigkeit existieren zu lassen, einer Selbständigkeit, die aber auch hier noch eine bloß scheinbare bleibt, da die Wesen auch in der Sprache noch auf dem Grunde des vorprädikativen Bewußtseinslebens ruhen. In der Verschwiegenheit dieses originären Bewußtseins kommt nicht allein zur Erscheinung, was überhaupt Worte besagen wollen, sondern auch, was Dinge überhaupt sagen wollen, der erste Bedeutungskern, um den alle Akte des Nennens und Ausdrucks sich organisieren.102

Indem das Verschwiegene und noch-nicht-Thematisierte versuchs­ weise ans Licht gebracht wird, d. h. auf dem Weg zum »Wesen«, das »auf dem Grunde des vorprädikativen Bewußtseinslebens ruht«, kommt laut Merleau-Ponty zur Erscheinung, »was überhaupt Worte besagen wollen« und »was Dinge überhaupt sagen wollen«.103 Wie

101 Auf den Philosophen J. Wahl kann hier nicht weiter eingegangen werden. Mer­ leau-Ponty vermerkt in einer Fußnote die folgende Anmerkung: »Réalisme, dialectique et mystère, l’arbalète, Herbst 1942«. Merleau-Ponty (1945): Avant-propos X. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 12. 102 Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 12. I. O.: Merleau-Ponty (1945): Avant-pro­ pos X. Eigene Hervorh. 103 Ebd.

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2. Ki und Fühlen

von Izutsu Toshihiko hingewiesen wird, ist nicht ganz klar, ob das hier genannte »Wesen« problemlos mit dem von Merleau-Ponty gesuchten »Wesen« identisch ist.104 Das Wort »Wesen« (essence) aus dem Zitat bezieht sich natürlich auf das »Wesen« der Wesensan­ schauung bei Husserl, das von Merleau-Ponty jedoch nicht als Ziel seiner Phänomenologie, sondern als Mittel zum Wiederentdecken des In-der-Welt-Seins betrachtet wird.105 So schreibt Merleau-Ponty: »Dem Wesen der Welt nachfragen heißt nicht, sie reduzieren auf den Gegenstand unserer Rede und dann sie in die Idee erheben, vielmehr heißt es darauf zurückzugehen, was vor aller Thematisie­ rung die Welt faktisch für uns schon ist.«106 Auch dort, in dem Schritt des Rückgangs auf die vorreflexive Ebene vor aller Themati­ sierung können sicherlich unzählbare und unendlich verschiedene Schritte und Schnitte – genauso wie in der phänomenologischen Reduktion – entdeckt werden.107 So besteht die Notwendigkeit, die verschiedensten »Schnitte«, bzw. wo welches Phänomen mit welchen Worten beschrieben wird, kritisch in Frage zu stellen. Mit der Idee des »Wesens« oder ohne scheint es unvermeidlich zu sein, die unreflektierten Selbstverständlichkeiten, die unser Fühlen und unsere Wahrnehmung mit einfärben oder bedingen können, und die sich

Izutsu: Ishiki to honshitsu (意識と本質), 2017, S. 49. Izutsu kommt zu seiner Frage zum »Wesen« bei Husserl und Merleau-Ponty anhand der weiteren Unterscheidungs­ möglichkeit des Wesensbegriffs aus der islamischen Philosophie (in zwei unterschied­ liche Wesensbegriffe: »māhīyah« und »huwīyah«). Hierzu kann an dieser Stelle jedoch aus mangelnden Kenntnissen nicht weiter eingegangen werden. Genauso wie die Reduktion unendlich möglich ist, scheinen auch im Wesensbegriff verschiedenste Blickwinkel und Schnittweisen zu entdecken zu sein. Vgl.: Izutsu (2017): S. 39ff. 105 Nach Depraz spielt der Wesensbegriff bei Merleau-Ponty quasi die Rolle der regulativen Idee bei Kant. Anzumerken ist noch, dass auch Kant das wesentliche Problem der Idee darin zu betrachten scheint, dass sie unauflöslich bleibt: »Wir müs­ sen die Ursache in unserer Idee selbst suchen, welche ein Problem ist, das keine Auf­ lösung verstattet, und wovon wir doch hartnäckig annehmen, als entspreche ihr ein wirklicher Gegenstand.« Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1998, S. 580 (B 510). Vgl.: auch.: Depraz (2002): S. 118. 106 Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S 12. I. O.: Merleau-Ponty (1945): Avant-Pro­ pos X. 107 In der vorliegenden Arbeit wird das Wort »Wesen« außerhalb des Bezugs zu dieser Zitatstelle nicht weiterverwendet. Dies ist ansatzweise damit zu begründen, dass im Hinblick auf die Zielstellung, mit der Pluralität und Veränderbarkeit der Beschreibung im Sprachgebrauch und in natürlicher Sprache konfrontiert zu bleiben, das den »Wesen« »Wesentliche« eher in dieser Veränderbarkeit zu sehen ist. 104

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2.1 Fühlen und vorprädikative Erfahrung

bereits in unserem Sprachgebrauch erblicken lassen, aufzudecken zu versuchen – wenn auch schrittweise.

2.1.3 Vorprädikative Erfahrungsebene Die nicht thematisierte Lebenswelt, das Flüchtige des Fühlens, das sich nach Merleau-Ponty nur in implizierter Weise in Äußerungen (énoncés) erblicken lässt, wird in der vorliegenden Arbeit als zu einer »vorprädikativen« Erfahrungsebene zugehörig betrachtet. So kann die methodische Grundorientierung im weiteren Verlauf der Arbeit wie bei Merleau-Ponty folgenderweise bleiben: Von den sprachlichen Äußerungen (énoncés) ausgehend zu versuchen, sich das Rohe des Erlebnisses artikulieren zu lassen.108 Aus diesem Schritt erfolgt wei­ terhin die Möglichkeit, die Selbstverständlichkeiten, die sich gerade in den Äußerungen der Wahrnehmungen erblicken lassen (»was die Dinge sagen wollen«) erneut in Betracht zu ziehen.109 Der Schritt, von den sprachlichen Äußerungen auszugehen, scheint jedoch viel mehr als nur ein Schritt zu sein. Denn diese Selbstverständlichkeiten lassen sich mindestens in zwei unterschiedliche Ebenen unterscheiden: 1. Etwas kulturell und habituell Selbstverständliches in einer Gruppe von Menschen auf der kollektiven Ebene, die beispielsweise eine natürliche Sprache teilen, 2. Etwas habituell Selbstverständliches auf persönlicher und individueller Erfahrungsebene, die sowohl mit der persönlichen Biographie als auch mit der eigenen (Weiter-)Bildung zu tun hat. Zwischen den zwei unterscheidbaren Ebenen sollten weitere Unterscheidungen zu finden sein. Die beiden genannten Ebenen scheinen jedoch vorprädikativ und ohne reflektiert zu werden am Laufen zu sein, in einer ganz ähnlichen Art und Weise wie das flüchtige Fühlen selbst, das am Laufen ist, noch bevor es sprachlich präzisiert werden kann. So scheinen die drei Momente, sowohl die kulturell geteilten, die persönlich erlernten und selbst gebildeten Selbstverständlichkeiten, als auch das flüchtige, unpräzisierbare Füh­ len selbst, die Charakteristik zu teilen, die sich ebenso »vorprädikativ« nennen lässt. Die als letztes genannte Ebene der vorprädikativen Erfahrung kann sich beispielsweise in »Form« von Stimmungen oder Atmo­ 108 109

Merleau-Ponty (1964): S. 222. Merleau-Ponty (1945): Avant-Propos X.

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2. Ki und Fühlen

sphären zeigen, die von einem häufig nicht bewusst erlebt werden, die jedoch aktuell am Laufen oder auch am »Ausstrahlen« sind.110 In der vorliegenden Arbeit wird eine solche Erfahrungsebene als eine als »impersonal« zu bezeichnende Erfahrungsebene betrachtet.111 Sie scheint jedoch so tief in dem situativen, jedoch habituell dem »Unbewussten« zugeschriebenen Vollzug der Leiblichkeit verwurzelt zu sein, dass sie noch keine Begleitung des »gefühlten Ichs« voraus­ setzen muss. Gemäß diesen Betrachtungen lassen sich in der vorliegenden Arbeit mindestens drei unterschiedliche Ebenen dem Vorprädikati­ ven zuschreiben: 1. Selbstverständlichkeiten innerhalb verschiedener Gruppen von Menschen, die eine natürliche Sprache teilen, 2. Selbst­ verständlichkeiten, die auch innerhalb einer natürlichen Sprache je nach Person variieren, 3. vorreflexive und unreflektierte Fühlerleb­ nisse, die jedoch durch die Selbstverständlichkeiten (1 und 2) auf bestimmte Art und Weise kontextualisiert werden können. In der vorliegenden Arbeit wird das Fühlen, das sich sowohl personal als auch impersonal erleben lässt, anhand konkreter sprach­ licher Ausdrücke mit ki (気) aus dem gegenwärtigen, alltäglichen Japanischen ans Licht gebracht. Diese Herangehensweise verfolgt das Motiv, vorzustellen, wie sich die »impersonale« Ebene des Füh­ lens bzw. eine Vollzugsdimension von verbal schwer zugänglichen leiblichen Wahrnehmungen und Aufmerksamkeitsbewegungen – hierzu zählen mitunter Stimmungs- sowie Atmosphärenerfahrungen – anhand einer Vokabel ansprechen lässt. Hierbei zeigt die Vokabel gewisse phänomenologische Grundstrukturen, die in beispielsweise der deutschen Sprache nicht »selbstverständlich« vorangenommen zu sein scheinen. Wenn sich die Sprachwelt ändert, in der man sich befindet, so manifestieren sich andere Selbstverständlichkeiten bzw. Nicht-Selbst­ verständlichkeiten als selbstverständlich. So kann selbst das soge­ nannte »Unbewusste« aus einer Sprachwelt nicht mehr in derselben Form als »Unbewusstes« identifizierbar sein, wenn man sich in einer 110 Gernot Böhme bezieht sich auf den Begriff der »Aura« Walter Benjamins und fasst die Atmosphäre mitunter »wie ein[en] Hauch oder ein[en] Dunst« zusammen: »Ben­ jamin sagt, daß man die Aura ›atmet‹. Dieses Atmen heißt also, daß man sie leiblich aufnimmt, sie in die leibliche Ökonomie von Spannung und Schwellung eingehen läßt, daß man sich von dieser Atmosphäre durchwehen läßt.« Böhme (2017): S. 27. 111 Zur ausführlichen Erklärung des »Impersonalen« vgl.: Elberfeld (2021): S. 87ff. Siehe auch: Kapitel 3.3.4 sowie 4.1.1.

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2.2. Forschungsstand

anderen natürlichen Sprachwelt befindet. Vielleicht ist es daher ange­ messener zu formulieren, dass sich die Arbeit damit beschäftigt, von konkreten sprachlichen Äußerungen aus einer konkreten natürlichen Sprache, hier dem Japanischen ausgehend, versuchsweise einen Teil von verschiedenen vorprädikativen Ebenen menschlicher Fühl- und Wahrnehmungsweisen zu berühren.112

2.2. Forschungsstand Das folgende Kapitel dient dazu, Lesende in den Forschungsdiskurs, in den diese Arbeit einzuordnen ist, einzuführen. Nach einer »allge­ meinen Einführung in die Forschungskontexte des ki (気) und qi (氣, 气)«, wird der »Forschungsstand der Phänomenologie(n) zu ki (気)« dargelegt, bevor schließlich unter dem Titel »Was ist nun mit ‚Gefühl‘?« Forschungen im Themenfeld »Gefühle« kurz aufgezeigt werden, an die diese Arbeit anschließt.

2.2.1 Allgemeine Einführung in die Forschungskontexte von ki (気) und qi (氣, 气) Was die Forschungen zum ki (気) betrifft, gibt es verschiedenste Ansätze und sie gehen bis hin zur Erforschung des altchinesischen qiBegriffs (氣, 气). Das Wort »ki« aus dem heutigen Japanischen sowie das »qi« im heutigen Chinesischen scheinen durch deren jeweilige Entfaltungswege unterschiedliche Gehalte bekommen zu haben.113 112 So scheint es nötig zu sein, verschiedenen Selbstverständlichkeiten aus unter­ schiedlichsten natürlichen Sprachen zu begegnen, sich mit ihnen zu konfrontieren oder sich auf sie einzulassen, um damit unterschiedliche Blickwinkel gegenüber der eigenen Welterfahrung kennenlernen zu können. Dies hilft sicherlich schrittweise, wenn es darum geht, sich an das sogenannte »Wesen« in verschiedenen Disziplinen der Philosophie(n) anzunähern, aber auch dabei, sich erneut in der globalisierten Welt als Mitmensch zu orientieren, der unter verschiedensten Selbstverständlichkeiten lebt. Denn es ist ganz selbstverständlich in dieser einen geteilten Welt, dass die jeweils unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten aus verschiedenen Sprachkulturen einan­ der widersprüchlich gegenüberstehen: Die »Sitten« aus einer Sprachkultur können in einer anderen mit »Tabus« belegt oder assoziiert sein, und vice versa. 113 Schlägt man die Wortzeichen 气 sowie 氣 in einem Online-Lexikon der gegenwär­ tigen chinesischen Sprache (ins Englische) nach, findet man beispielsweise folgende

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2. Ki und Fühlen

Was die »Definitionen« des Wortes betrifft, scheint es eine markante Schwierigkeit zu geben; in der Primärliteratur aus der chinesischen Antike ist keine Definition im strengsten Sinne vom qi vorhanden.114 In der Primärliteratur taucht qi vielmehr stetig mit auf, um nicht sich, sondern eine andere Sache darzustellen und zu erklären, oder als qi als solches, dessen Bedeutung jedem so klar zu sein scheint, dass keine weitere Erklärung hierzu erforderlich wäre.115 Die früheren Forschungen zum qi-Begriff konzentrierten sich auf Auslegungen der altchinesischen Literatur und Schriften, die bis zur Schildkröten- oder Knochenschrift aus der chinesischen Antike (YinZeit (殷): 16–11. Jh. v. u. Z.) zurückgehen.116 Die Bedeutungen des Wortzeichens bzw. dessen Auslegungen zeigen deren Wandel auf, die mitunter mit den Wandlungen der Zeichenformen einhergingen.117 Als Primärliteratur, in der das qi – auch ohne als Hauptgegenstand thematisiert zu werden – auftaucht, wären beispielsweise zu nennen: die klassischen Schriften wie Lunyu (論語), Mengzi (孟子), Guanzi (菅子) und Lüshi chunqiu (呂氏春秋), aber auch die daoistische Klassik Daodejing (老子道徳経) inklusive der Kommentare von Wang Bi (王弼) sowie Zhuangzi (荘子), aber auch I-Ching (易経)118 und Huainanzi (淮南子). Auch in klassischen chinesischen medizinischen Schriften wie Huangdi neijing (黄帝内経) sowie Shanhan Lun (傷 寒論), darunter auch Jingui Yaolüi (金匱要略) spielt qi eine ebenso entscheidende Rolle. Zudem sind die verschiedenen Auslegungen des Wörter: »gas, air, smell, weather, to make angry, to annoy, to get angry, vital energy, qi«. Mdbg.net: »qi«, https://www.mdbg.net/chinese/dictionary?wdqr=%E6%B0%A3% 7C%E6%B0%94&wdrst=0 (abg. am 30. Dez. 2022). 114 Kakiuchi: Shushigaku nyūmon, 2015, S. 14. Vgl.: Fukui »Zuitō godai no ki no gai­ nen: Ju dō butsu sankyō ni okeru ki« (隋唐五代の気の概念: 儒道仏三教における 気), in: Ki no shisō, 1991, S. 327 (markiert als 1991a). 115 Ebd. Auch dies kann ein Hinweis dafür sein, wie selbstverständlich das qi für die damalige Leser:innenschaft im alten China war: Ein Teil der Selbstverständlichkeiten sind solche, die so selbstverständlich sind, dass sie nicht einmal in prädikativ gefassten Definitionen erwähnt werden. 116 Onozawa, Fukunaga und Yamanoi (Hg.): Ki no shisō (気の思想), 1991, S. 30f. 117 Vgl.: auch: Onozawa et al. (1991): S. 30. Zu den Wandlungen siehe auch Kapitel 3.1.1. 118 In I-Ching handelt es sich beispielsweise um Kombinationsmöglichkeiten der Bewegungen der zwei unterschiedlichen Qualitäten des qi: Yin (陰) und Yang (陽). (Vgl. Onozawa et al. (1991): S. 107f.) Was die Transkription des Begriffspaars Yin (陰) und Yang (陽) angeht, angepasst nach der Konvention der sinologischen Studien und Forschungen im deutschsprachigen Raum einheitlich großgeschrieben. Vgl.: Ommer­ born (1996): S. 33; Linck (2022): S. 19ff.

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2.2. Forschungsstand

qi aus dem sogenannten »Neukonfuzianismus« relevant. Dieser lässt sich historisch noch unterteilen in Cheng-Zhu-xue (程朱理学) von Zhu Xi (朱熹 1130–1200), gefolgt von Daoxue (道学 Studie des Dao) und Lixue (理学 Studie des Li), Xinxue (心学 Studie des Herzgeistes) von Wang Yangming (王陽明 1472–1529) sowie Kaozhengxue (考證 学 übersetzt »evidential learning« oder »philologische Studie«, aus dem 17. Jh.) etc.119 In der vorliegenden Arbeit wird in Kapitel 3.1.1 eine Einführung in die Entstehungsgeschichte des chinesischen Zeichens qi sowie der markanten Bedeutungsentwicklungen des qi auf eine eingeschränkte Weise gegeben. Das Forschungsfeld des ki (qi) im Allgemeinen aus dem japani­ schen Raum kann – grob gesehen – in zwei Epochen geteilt werden: 1. Das Forschungsfeld aus der Zeit vor der Meiji-Restauration und 2. das Forschungsfeld nach der Meiji-Restauration. Die Meiji-Restauration, bekannt als »Modernisierung Japans«, begann um das Jahr 1868 durch einen Niedergang des Tokugawa-Shogunats (徳川将軍) sowie den Rückzug des Tennō-Kaisers (Meiji-Tennō) (明治天皇) an die nationalpolitische Machtposition.120 Dabei entstand gleichzeitig eine westliche Form von Regierung, die die gesamte Formation des Staa­ tes renovierte. Das System der Regierungsführung, der juristischen Instanzen, der Industrialisierung sowie der Infrastruktur wurde nach westlicher Art reformiert. Vor und in dieser Zeit entfaltete sich gleich­ zeitig eine vielfältige Übernahme westlicher Wissenschaftsdiszipli­ nen sowie Wissenschaftsbegriffe in Japan. In der vorliegenden Arbeit ist an dieser Thematik insbesondere von Bedeutung, die Begriffsüber­ nahme Japans ernst zu nehmen. Japanische Universitäten bieten Fächer an, die inklusive deren Bezeichnungen überwiegend durch die Aufnahme europäischer Wissenschaftsdisziplinen entstanden sind. Japanologie (auf Japanisch kokugaku (国学) oder kokubungaku (国文 学), japanische Literatur) oder Sinologie (kanbungaku (漢文学), chi­ nesische Literatur) wurden innerhalb Japans oft als irrelevante Fächer gegenüber den anderen, westlichen Fachdisziplinen angesehen. So scheint lange eine Schwierigkeit bestanden zu haben, interdiszipli­ näre Diskurse, Austausche sowie Forschungen innerhalb geisteswis­ Vgl.: Kalmanson: »Speculation as Transformation in Chinese Philosophy: On Speculative Realism, ›New‹ Materialism, and the Study of Li (理) and Qi (氣)«, in: Journal of World Philosophies, Vol 3, No 1, 2018, S. 18, 28; Onozawa et al. (1991): S. 355f.; Kojima: Shushigaku to Yōmeigaku, 2015, S. 28f. 120 Zöllner: Geschichte Japans, 2013, S. 181ff. 119

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2. Ki und Fühlen

senschaftlicher Fächer wie beispielsweise Philosophie, Sinologie und Japanologie zu betreiben. In und nach der Restauration entstand eine neue Tradition, in der die ursprünglich europäischen Fachbegriffe auch im Japanischen in den Disziplinen (europäische) Medizin, Psychologie, Jura und europäische Philosophie verwendet wurden.121 Dies bedeutet, dass unter den Gelehrten ein gradueller Übergang in den gehandhabten Vokabeln stattfand: von denen zwischen der Zeit vor der Begriffsauf­ nahme, während derer und hiernach.122 Was das Wortfeld ki betrifft, ist das Wort in Form von ki oder ke auch während und nach der Meiji-Restauration – bis auf bestimmte Grundzüge in Transformationen des Wortgebrauchs – noch recht reichlich aufrecht geblieben.123 Die Verwendung des ki findet sich am meisten im Bereich alltäglicher Sprache. Kimura Bin bezieht sich sicherlich aus diesem Grund ausgehend von seiner Erfahrung als Psy­ chiater auf verschiedene Ausdrücke mit ki. Er betont die Wichtigkeit, den alltäglichen Sprachgebrauch genau anzusehen.124 Im alltäglichen Sprachgebrauch steckt verschiedenstes Vorwissen, das häufig von den Muttersprachler:innen selbst nicht bewusst hervorgebracht oder begreiflich gemacht wird. Hinsichtlich der Quellen zur wissenschaftlichen Recherche zum japanischen ki lassen sich deren Methoden der Forschungen intraund international folgenderweise zusammenfassend einteilen: 1. his­ torische sinologische Studien von der Zeit des alten Chinas bis zur

Zu ausführlichen Fallstudien über die »Begriffsgeschichten« zwischen Europa und Ostasien (Japanisch, Chinesisch und Koreanisch), wie die »Begriffe aus der westlichen Welt« »zehntausend Kilometer ostwärts« reisten, siehe auch: Meyer (Hg.): Begriffs­ geschichten aus den Ostasienwissenschaften – Fallstudien zur Begriffsprägung im Japa­ nischen, Chinesischen und Koreanischen, 2014. Zitatstelle: Meyer (2014): S. 7. 122 Vgl.: Yanabu: Hon’yakugo seiritsujijō (翻訳語成立事情), 1990: ma’egaki (Einlei­ tung) i–iii. 123 Auf die Einflüsse aus der chinesischen Philosophie sowie Medizin in den alltäg­ lichen Gebrauch des Wortes ke weist Nakai Masakazu in seinem Essay »ke, ki, no nihongo toshite no hensen« (Transformation von ke / ki als japanisches Wort) hin. Es habe vor der Restauration bereits in der Edo-Zeit (1603–1868) ein »Bedeutungswan­ del« im Wort ke stattgefunden. In dieser Zeit vermehrte sich die Zahl der Wörter, die früher »ke« lauteten, und später erneut »ki« ausgesprochen wurden. Vgl.: Hisayama (2014): S. 24. Nakai: »ke, ki, no nihongo toshite no hensen« (気(け、き)の日本語と しての変遷) in: Nakai Masakazu hyōron shū (中井正一評論集), 1995, S. 201 (markiert als 1995b). 124 Vgl.: Kimura (1969): S. 28. 121

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2.2. Forschungsstand

japanischen Gegenwart;125 2. philosophisch, ästhetisch und etymolo­ gisch orientierte Schriften zum Begriff des ki sowie zu Ausdrücken mit ki aus dem Japanischen im Zeitraum von der Vormoderne bis zur Moderne;126 3. kommunikationswissenschaftliche Studien aus der Gegenwart;127 4. interdisziplinär orientierte soziologische Stu­ dien zum Ausdruck »kūki« (空気) aus der Gegenwart;128 5. naturwis­ senschaftlich orientierte Studien zur Suche nach einer möglichen Kommensurabilität des ki sowie qi aus einer Perspektive naturwis­ senschaftlicher Disziplinen (Physik und Biologie u. A.);129 6. phäno­ menologische Ansätze zu ki inklusive psychopathologischer Betrach­ tungen der mit ki beschriebenen Phänomene sowie Beschreibungen körperlicher Praktiken.130 In der vorliegenden Arbeit werden all diese Ansätze kritisch ein­ bezogen, während die letztgenannten, phänomenologischen Ansätze aufgrund der Thematik und der Methode im Vordergrund stehen. Zur Einführung in ki (teilweise auch qi) werden noch Publikationen zur theoretischen Einführung in die chinesische Medizin einbezogen, da ki (qi) als Grundbegriff der chinesischen Medizin (die auch in Japan gut etabliert ist) heute noch in japanischen Redewendungen

Die Manier dieser Art der Forschungen variiert vielfältig. Beispiele hiervon sind: Kuwako: Kisō no tetsugaku (気相の哲学); 1996. Kuroda: Ki no kenkyū (氣の研 究), 1977. 126 Vgl.: Nakai (1995a/1995b); Onozawa et al. (1991). 127 Vgl.: Chung, Hara, Yang und Ryu: »Contemporary Ch’i/Ki Research in East Asian Countries: Implications to Communication Research«, in: Ibunka Communication Kenkyū, 2003. 128 Als Beispiele lassen sich die folgenden Schriften vorstellen: Hirofumi: Kūki ni kansuru ronkō 1 – nihonjin no ningen kankei to kōdō o kitei suru mono (空気に関する 論考 1 – 日本人の人間関係と行動を規定するもの), 2016, S. 5–23, sowie: Kūki ni kansuru ronkō 2 – nihonjin no ningen kankei to kōdō o kitei suru mono (空気に関する 論考 2, 日本人の人間関係と行動を規定するモノ), in: Ibunkaron ronbunhen, (異文 化,論文編 20 巻), Nr. 20, 2019, S. 134–154. Yamamoto: Kūki no kenkyū (空気の研 究), 2011. 129 Ein Beispiel zur relevanten Herangehensweise kann im folgenden Buch schrit­ tweise entdeckt werden: Yuasa (Hg.): New Science to ki no kagaku (ニューサイエンス と気の科学, New Age Science und die (Natur)wissenschaft des ki), 1993. 130 Außer den bereits genannten Büchern (Hisayama (2014), Yamaguchi (1997), Kimura (1969)) sind folgende andere Beispiele zu nennen: Ogawa: kaze no genshōgaku to fun’iki (風の現象学と雰囲気), 2000; Kimura: Zwischen Mensch und Mensch: Strukturen japanischer Subjektivität, 1955; Doi: Amae no kōzō (甘えの構造), 2019. Zu einer ausführlicheren Einführung siehe Kapitel 3.1.2. 125

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2. Ki und Fühlen

aufrecht geblieben ist.131 Zu lexikalischen Recherchen werden Artikel der folgenden Wörterbücher der gegenwärtigen japanischen Sprache einbezogen: Iwanami-kokugojiten (岩波国語辞典)132 und Kōjien (広 辞苑)133, sowie das spätaltjapanische Wörterbuch Iwanami-kogojiten (岩波古語辞典).134 Trotz und aufgrund der Breite des Forschungs­ kontexts wird die Quellenauswahl gezielt, und an dem methodischen Ansatz orientiert, beschränkt. Dieser zielt darauf ab, von der Thema­ tisierung des gegenwärtigen japanischen Sprachgebrauchs ausge­ hend, ohne ki als reines Wort, Objekt oder unüberwindbar unzu­ gängliches Phänomen substantivieren zu müssen, die impersonale Fühlerfahrung im Horizont der situierten Leiblichkeit als Basis der personalen Fühlerfahrungen ans Licht zu bringen.

2.2.2 Forschungsstand der Phänomenologie(n) zu ki (気) Forschungen nach der Meiji-Restauration haben die neuen Fachbe­ griffe angenommen und dies ist ebenso in modernen Schriften bzw. in Erwähnungen von ki in wissenschaftlichen Arbeiten ersichtlich. Zu deren Autor:innenschaft zählen der Ästhetiker und Philosoph Nakai Masakazu (1900–1952), der Psychiater und Psychoanalytiker Doi Takeo (1920–2009) und ebenso der Psychiater Kimura Bin (1931– 2021). Zu der gegenwärtigen Autor:innenschaft, deren Arbeiten sich durch phänomenologische Ansätze charakterisieren und die auch im deutschsprachigen Raum erhältlich sind, zählen Ogawa Tadashi (*1945), Yamaguchi Ichirō (*1947) und Hisayama Yuho (*1982).135 Ogawa Tadashi betrachtet in seiner Schrift den beweglichen Wind als ein repräsentatives Phänomen von ki. So charakterisiert sich sein Ansatz durch seine Phänomenologie des Windes, indem er ki zu einem anderen Begriff wie Pneuma aus dem Altgriechischen in 131 Beispielsweise: Aimi: Kanpō no shinshin’igaku (漢方の心身医学), 1976; Hilden­ brand, Geißler und Stein (Hg.): Das Qi kultivieren – Die Lebenskraft nähren – West-Östliche Perspektiven zu Theorie und Praxis des Qigong und Yangsheng 1998. 132 Das ist ein bereits in der Einleitung genanntes Wörterbuch: Nishio et al. (2016). 133 Das hier genannte wird hauptsächlich zur Recherche der Definitionen und Bedeu­ tungen von einzelnen konkreten Ausdrücken mit ki sowie ke verwendet: Shinmura et al. (2020). 134 Auch das ist ein bereits in der Einleitung genanntes Wörterbuch: Ōno et al. (2018). 135 Kimuras Werke sind auch teilweise in deutschsprachigen Übersetzungen erhält­ lich.

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2.2. Forschungsstand

Parallele setzt.136 Auch in seinem Ansatz spielt Leiblichkeit eine große Rolle, einhergehend mit seiner Interpretation des Befindlichkeitsbe­ griffs Martin Heideggers: Das Allerursprünglichste der Wahrneh­ mung bzw. die »Passivität« (die gerade die Synthesis ermöglicht) bei Edmund Husserl wird von Ogawa in Heideggers Befindlichkeitskon­ zept gesucht und diese wird mit Gernot Böhmes Ästhetik und Her­ mann Schmitz’ Leibphänomenologie der Atmosphäre verknüpft.137 Das »Zwischen« als der Ort der Atmosphäre wird bei Ogawa jedoch in der Leiblichkeit des Menschen, als diejenige, die die Synästhesie ermöglicht, gesucht, da diese die Bedingung der Verknüpfung zwi­ schen dem Atmosphärischen und sich selbst darbiete.138 Yamaguchi Ichirō und Hisayama Yuho schreiben ihre Bücher auf Deutsch aus verschiedenen phänomenologischen Perspektiven zu ki. Der Ansatz Yamaguchis ist charakterisiert von seiner methodischen Orientierung nach der Strukturentfaltung der passiven Synthesis der genetischen Phänomenologie Husserls, die Yamaguchi in der Einübung der konkreten leiblichen Praktiken (Weg-Künste) sieht. In der Habilitationsschrift Ki als leibhaftige Vernunft gibt er anhand konkreter Körperpraktiken inklusive buddhistischer und indischer Meditationspraktiken eine bedeutsame Einführung in die leibliche Erfahrungsdimension der Zwischenhaftigkeit des ki. Die erweiterte Version dieser Habilitationsschrift mit seiner eigenen japanischen Übersetzung139 macht nochmals deutlich, wie die Struktur-Rahmen der Begegnung des Ich und Du bereits in Unternehmungen der interkulturellen Philosophie zu finden sind. Yamaguchis Beitrag bietet diesbezüglich in mehreren Dimensionen erhellende Perspektiven. Er pointiert anhand von konkreten phänomenologischen Beschreibun­ gen, wie Martin Buber die Konzeption der Ich-Du-Beziehung auf die daoistische Lehre des Nichthandelns (wuwei, 無為) von Zhuangzi 136 Ogawa (2000): S. 5. Die Erwähnung zum Vergleich zwischen Pneuma und ki an sich lässt sich in verschiedenen Einführungen in ki finden. Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 46; Kimura et al. (2006): S. 55, Hisayama (2014): S. 121–123. 137 Ogawa (2000): S. 9. Vgl. auch: Husserl: Erfahrung und Urteil, 1964, S. 74–83. 138 Es scheint, dass sein Verständnis der Atmosphäre als die Erscheinungsweise der Welt, in der die Leiblichkeit des Menschen bzw. die Synästhesie sowie die Zustände und Konditionen der Dinge in die gemeinsame Ebene kommen, eine gewisse Affinität zum Fleischbegriff Merleau-Pontys aufzeigt. Ogawa selber erwähnt diese Möglichkeit jedoch nicht. Zur Synästhesie bei Ogawa vgl. auch: Schmitz (1968): S. 51–68. Siehe auch: Böhme (2017): S. 31, 32, 155ff.; Ogawa (2000): S. 16. 139 Yamaguchi: Bunka o ikiru shintai – kanbunkagenshōgakushiron (文化を生きる身 体 – 間文化現象学新論), 2004.

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(荘子) bezieht.140 Aus der Betrachtung der Beschreibung einer Atem­ übung in der Weg-Kunst des Bogenschießens (kyūdō, 弓道) von Eugen Herrigel weist Yamaguchi auf die mediale Vollzugsebene der Leiblichkeit hin, in der die Aktivität des Menschen in richtigen, wiederholten und konzentrierten Einübungen der Körperpraktiken der Passivität ähnele.141 Anhand seiner ausführlichen Betrachtungen der Leiblichkeit in den ostasiatischen Traditionen der buddhistischen Lehre und Philosophie weist er auf die Wichtigkeit der impersonalen Erfahrungsebene der Leib-Seele-Einheit nach der Kenntnisnahme der Möglichkeit der Subjekt-Objekt-Spaltung (wie die natürliche Einstellung bei Husserl) hin.142 Hisayamas Ansatz zur Erfahrung des ki charakterisiert sich durch seine »Sphärentheorie«, die der Leibphänomenologie Hermann Schmitz’ und der Ästhetik der Atmosphäre Gernot Böhmes nahe­ steht.143 Zur gleichen Zeit beschäftigt sich Hisayama anhand konkre­ ter sprachlicher Ausdrücke aus literarischen Schriften von Natsume Sōseki (1867–1916) intensiv mit Erfahrungen des Atmosphärischen, die schwer vom Japanischen ins Deutsche zu übersetzen sind. Dabei zitiert er mitunter passende Textbeispiele aus der europäischen Lite­ ratur bzw. Literatur aus europäischen Sprachen, um Erfahrungen darstellen zu können, die den Erfahrungen des ki nahestehen und mit diesen parallelisiert werden könnten. Sein Ansatz, Erfahrungen der gefühlten Nähe und Distanz in seine sphärischen Räumlichkeits­ bezeichnungen (»Homosphäre«, »Heterosphäre« und »Pansphäre«) einzuordnen, bietet der vorliegenden Arbeit reichhaltige Anknüp­ fungspunkte und wird in Kapitel 4.2 genauer betrachtet. Aus dem deutschsprachigen Raum lassen sich noch ein paar Schriften vorstellen. Dazu zählt zunächst Hubertus Tellenbachs Geschmack und Atmosphäre (1968), in dem Kimura Bins Betonung der Bedeutungsdimension der Luft sowie des Luftartigen von ki übernommen wird: Der ursprüngliche Grund, in welchem Maße die Beziehung eines Men­ schen zum Mitmenschen verankert ist, zeigt in überraschender Eindeu­ tigkeit Charaktere des Atmosphärischen. Der Japaner bezeichnet die­ ses Ursprüngliche, den Einzelnen vom Ursprung her durchwaltende, 140 141 142 143

Ebd.: S. 125f. Yamaguchi (2004): S. 99ff. Yamaguchi (1997): S. 229f. Hisayama (2014): S. 31.

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ihm das Mitsein stiftende mit dem Wort »Ki«. Es ist ein Verdienst von Kimura, dieses Ki in seiner basalen Wirklichkeit erfaßt und damit die Erfassens-Möglichkeiten der Psychopathologie fruchtbar erweitert zu haben.144

Das Buch gilt als das erste Buch, in dem das Wort »ki« aus dem Japanischen im Bereich Phänomenologie und Psychopathologie der deutschsprachigen Autor:innenschaft auftaucht.145 Was das Wort in Form von qi aus dem Chinesischen betrifft, ist Novissima Sinica (das Neueste aus China, 1697) von Leibniz bisher als das erste Buch in europäischer Geistesgeschichte, in dem qi auftaucht, bekannt.146 Bernhard Waldenfels spricht von ki anhand der Deutung Kimu­ ras sowie des Ansatzes Yamaguchis im Sinne einer »klimatisch-atmo­ sphärischen Sphäre zwischen Mensch und Mensch« in seinem Buch Topographie des Fremden (1997).147 Dabei betont Waldenfels die Cha­ rakteristik der japanischen sprachlichen Konvention, auf die ebenso Kimura hinweist,148 dass die Worte »ich« sowie »du« im Sprachge­ brauch nicht oder kaum ausgesprochen werden.149 »Ich« und »du« als Hauptfiguren einer geteilten Situation sollen immer erst in einem voneinander bestimmten Verhältnis entstehen, in dem Sinne, dass man sich automatisch so einstelle, sich selbst nicht als »ich«, sondern als »du« von der Person, die gerade aktuell sich gegenüber steht, zu verstehen, wahrzunehmen und zu verhalten. So werde auch ein »du«, also eine Andere oder ein Anderer, von »mir« mit bestimmt, die oder

144 Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, 1968, S. 57. Siehe auch: Hisayama (2014): S. 27. 145 Vgl.: Hisayama (2014): S. 27. Tellenbach schildert seine persönliche Erfahrung von ki einführend folgenderweise: »Und wie fremd ist die Emanation der Asiaten, die desto intensiver auf uns eindringt, je weniger wir sprachlich und physiognomisch verstehen – und so auch am stärksten im gemeinsamen Schweigen. Dieses Erleben des Atmosphärischen war – gerade in der Abwechslung mit dem (deutschsprachigen) Gespräch mit meinen japanischen Freunden – der stärkste Eindruck meines Aufent­ haltes in Japan. Der Ankömmling spürt, wie er in eine ganz andere Atmosphäre ein­ taucht und wie dies durch die Personen hindurch wirkt. Man spürt zunächst immer nur dieses Mächtige. Es währt längere Zeit, ehe man dann die personale atmosphäri­ sche Modifikation des einzelnen Japaners, sein ihn im Eigenen ausmachendes Fluidum erfassen kann.« Tellenbach (1968): S. 57. 146 Wenchao Li, Hans Poser (Hg.): Das Neueste Über China – G. W. Leibnizens Novis­ sima Sinica von 1967, 2000, S. 206. 147 Waldenfels (1997): S. 72. 148 Vgl.: Kimura (1995): S. 103ff. 149 Waldenfels (1997): S. 71. Vgl. auch: Kimura (1995): S. 104f.

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der sich wiederum als ein »du« von dem »du« verstehen lässt.150 Den »Vorrang eines Zwischen« sieht Waldenfels im Ausdruck »ki«, das atmosphärisch zwischen den Menschen fließe, geht jedoch nicht auf die weitere Perspektive und Frage ein, wie sich dieses Zwischen genau entfalte bzw. wie dies sich von der Ersten-Person-Perspektive her gesehen erleben lasse.151 In der vorliegenden Arbeit wird ein hier feh­ lender Punkt, dass und wie das ki nicht nur die zwischenmenschliche, sondern auch eine persönliche Erfahrungsebene umfasst, im fünften Kapitel ans Licht gebracht. Hermann Schmitz zeigt in seinem Briefwechsel mit Thomas Fuchs seine Position zu ki folgenderweise auf: Das Qi/Ki halte ich für eine Projektion des eigenleiblich gespürten vitalen Antriebs aus Spannung und Schwellung, der Achse leiblicher Dynamik, in den Rang eines Weltprinzips, ähnlich wie vielfach in der europäischen Spekulation, nachdem das eigenleibliche Spüren als Erkenntnisquelle vom psychosomatischen Dualismus verdrängt war und sich nun in kosmologischen und theologischen Verkleidungen Ersatz schuf.152

Eine mögliche Differenzierung kann bereits in der Annahme, qi/ki als »Weltprinzip« zu sehen, entdeckt werden, einhergehend mit einem möglichen Unterschied, je nachdem, was man unter dem Wort »Weltprinzip« versteht.153 Die vorliegende Arbeit orientiert sich nicht daran, die Beschreibungen von Erfahrungen, von denen im Japani­ 150 Die Verwendung der Worte »ich« und »du« schließt an folgendes Zitat von Wal­ denfels an: »Artikuliert sich das ›Ich‹, so tut es das mit der Maßgabe, daß dieses ›Ich‹ für das ›Du‹ ein ›Du‹ ist.« Waldenfels (1997): S. 71. Siehe auch: Kimura (1995): S. 105. Siehe auch: Kapitel 3.3.3. 151 Waldenfels (1997): S. 72. 152 Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, 2005 (angegeben in der vorliegenden Arbeit mit »Schmitz (2005a)«.), S. 273. Hervorh. i. O. 153 Hiermit ist gemeint, dass sich Schmitz’ Verwendung des Wortes »Weltprinzip« möglicherweise in einem ganz unterschiedlichen Worthorizont bewegt, da das Kon­ zept des qi als ubiquitärer Ur(geistes)stoff (sowie Lebensenergie oder Vitalkraft) einen anderen Klang zu haben scheint. Die Möglichkeit besteht, dass das qi, zu verstehen als »lively material«, »vital stuff«, den Urgrund aller erscheinenden Phänomene (ein­ hergehend mit dem Konzept des Dao), mit dem von Schmitz genannten Begriff des Weltprinzips nicht ganz kompatibel ist. Eine mögliche Kritik hieran konzentriert sich darin, dass das Wort »Weltprinzip« aus dem Deutschen dem Signifikat des qi-Kon­ zepts möglicherweise überhaupt nicht gerecht wird und also zwei unvergleichbare Horizonte erschließen könnte. Siehe auch: Kalmanson (2018): S. 17ff.

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schen mit ki die Rede ist, wie bei Schmitz geschehen, voreilig unter den Reduktionsdeckel der »Projektion« zu schieben. Denn eine Art von (wenn auch minimaler) Projektion findet höchstwahrscheinlich immer schon statt, unabhängig von der Frage, ob man das Wort »qi« oder »ki« in seiner Muttersprache hat. Thomas Fuchs erwähnt ki in seinem einführenden Essay »The Phenomenology of Affectivity« aus einer psychopathologischen und anthropologischen, phänomenologischen Sicht anhand Tellenbachs sowie Kimuras Deutung des ki als Luft und Luftartiges: The interpersonal atmospheres which arise from the interaction of two or more persons and are felt as encompassing affective climates. Whereas Western psychiatry has tended to neglect these phenomena, in traditional Japanese or Chinese psychopathology the surrounding climate and social atmospheres such as the ki (or qi) are even regarded as carriers of mental illness: ki means »air«, »breath«, but also »attune­ ment« and »atmosphere«, and thus constitutes the »in-between« from which mental disorders may take their origin.154

Fuchs’ Deutung des ki als englisches »attunement« – ungefähr im Sinne von »Stimmung« im Deutschen mit wenigen, zu unterschei­ denden Konnotationen – bietet angesichts seiner Betrachtung der »bodily« und »interbodily resonance« einen erhellenden Blick in Bezug auf die psychopathologische Betrachtung der Interaffektivität.155 Die Annahme erlaubt außerdem einen genauen erforschenden Blick in das sich prozesshaft entwickelnde »Zwischen«, welcher von verschie­ denen Perspektiven der (pluralen) ersten Personen (im Zwischen) unterstützt werden kann. Außer den o. g. Ansätzen wird in der vorliegenden Arbeit ein interdisziplinärer Forschungsansatz zur Interaffektivität in Betrach­ tung gezogen. Der Ansatz der Affective Societies, einer der jüngs­ ten Forschungsansätze zur Interaffektivität von einer kollektiven Autor:innenschaft aus dem deutschsprachigen Raum, charakteri­ siert sich durch seine direkte Bezugnahme auf verschiedene wissen­ schaftliche Disziplinen (nicht ausschließlich Philosophie, sondern auch Sozial- und Kulturanthropologie, Psychiatrie, Politikwissen­ 154 Fuchs: »Phenomenoloy of affectivity«, in: Oxford Handbook Online, 2013, S. 617. Siehe auch: Kimura (1995) S. 119–131; Kitanaka: Depression in Japan – Psychiatric Cures for a Society in Distress, 2012, S. 23ff. 155 Fuchs: »Intercorporeality and Interaffectivity«, in: Phenomenology of Mind – Emotions, Normativity, and Social Life, 2017, S. 198f.

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schaft, Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft, Thea­ terwissenschaft und Biologie).156 Trotz der Reichhaltigkeit dieses Ansatzes beschränkt sich die Bezugnahme der vorliegenden Arbeit auf den Ansatz ausschließlich auf ihre Grund-Theoretisierung der Phänomene »immersion«157 sowie »resonance«158. Dies liegt an dem Interesse der Arbeit, die Dimension, die im Wortgebrauch von »kūki« (空気, Luft) abstrahiert, eingeblendet oder nicht eingesehen zu sein scheint – wie z. B. die möglichen Mechanismen in der Entstehung sowie Schaffungsmöglichkeit von Stimmungen und Atmosphären aus der interaffektiven Forschungsperspektive – als eine Theoretisie­ rungsmöglichkeit ans Licht zu bringen.159

2.2.3 Was ist nun mit »Gefühl«? Heiner Hastedt führt in seinem Büchlein Gefühle – philosophische Bemerkungen die unterschiedlichen Artikulationen der Gefühlsbe­ griffe innerhalb der drei europäischen Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch folgenderweise ein: Beim Nachdenken über Gefühle wird zunächst ihre Vielfalt sichtbar, die im Deutschen durch Wörter wie »Emotionen«, »Empfindungen«, »Leidenschaften« und – heute selten – »Affekte« unterstrichen wird. Im Englischen haben wir es mit »emotion«, »feeling«, »passion«, »sen­ sation« zu tun. Im Französischen fällt besonders das Wort »sentiment« auf, das zunächst ähnlich wie die deutsche »Emotion« daherkommt, aber auch an »sentimental« und damit an die »Empfindsamkeit« erinnert, die aus der deutschen Umgangssprache fast ganz verschwun­ den ist. Wie verhalten sich die genannten Wörter zu dem Ausdruck »Gefühle«?160 156 Slaby und von Scheve (Hg.): Affective Societies – key concepts, 2019. Ihre Verwen­ dung des Wortes affect stammt von ihrer kritischen Aufnahme der Interpretation der Begriffe affectus und affectio Spinozas bei Gilles Deleuze, parallel mit einer Akzentu­ ierung eines der jüngsten feministischen Diskurse. Vgl.: Slaby et al. (2019): S. 16. 157 Ebd.: S. 231. 158 Ebd.: S. 189. 159 Siehe Kapitel 4.3. Als Folge kann die Einführung des Ansatzes der Affective Societies dank ihres Ansatzes, der sich problemlos mit einem phänomenologischen Blick koordinieren kann, dazu beitragen, erneut verständlicher und zugänglicher zu machen, was im japanischen Wortgebrauch mit »kūki« gemeint werden kann. 160 Hastedt: Gefühle – philosophische Bemerkungen, 2009, S. 12.

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Hastedt unterbreitet dabei den Vorschlag, das Wortfeld »Gefühl« als Oberbegriff in acht unterschiedliche Begriffe zu teilen: »Leiden­ schaften«, »Emotionen«, »Stimmungen«, »Empfindungen«, »Sinn­ liche Wahrnehmungen«, »Wünsche«, »Erkennende Gefühle« und »Gefühlstugenden.«161 Hier wird das deutsche Wort »Leidenschaft« als eines der verschiedenen benachbarten Wörter von »Gefühle« ein­ geordnet. Das Wort »Leidenschaft« wird häufig zur Übersetzung vom lateinischen Wort »passio« verwendet. Der Bereich, den man heute »Gefühle« im Plural nennt, hieß in der Antike »pathos«, »affectus« sowie »passio«. Diese Begriffe haben im Vergleich zu den anderen genannten deutschen Wörtern vordergründig die Bedeutung des »Erleidens«.162 Wenn es um die Entstehungsweise der Gefühle bzw. der Leidenschaften geht, scheint dies also mit Passivität in einem engen Zusammenhang zu stehen. Es ist auffällig, dass das Wort »Leidenschaft« eine andere Konno­ tation als sonstige Fühlbereiche wie »Stimmung«, »Empfindungen« und »sinnliche Wahrnehmungen« hat.163 Außerdem ist anzumerken, dass kein Wort wie passion oder pathos in den in der Einleitung genannten englisch-sprachigen Übersetzungen von ki steht.164 Chris­ toph Demmerling und Hilge Landweer weisen in ihrem Buch Philo­ sophie der Gefühle – von Achtung bis Zorn (2007) auf eine markante Tendenz in der europäischen Gefühlsgeschichte – oder in der europä­ ischen Geschichte der Gefühlsbeschreibungen in der Literatur – hin: Da Gefühle so »machtvoll« zu sein scheinen, dass man selbst die eigene »Kontrolle« verlieren kann, sollte man sie selbst beherrschen können. Die Autoren beschreiben dies so: Die literarischen Figuren Homers sahen sich der Macht der Gefühle noch weitgehend schutzlos ausgeliefert. Entsprechend wird in der Ebd. Ingrid Craemer-Ruegenberg: »Begrifflich-systematische Bestimmung von Gefühlen – Beiträge aus der antiken Tradition«, in: Zur Philosophie der Gefühle, 1993, S. 20. 163 Siehe auch: Ebd. 164 Es betrifft die folgenden Übersetzungswörter: »Spirit, mind, soul, heart, intention, bent, interest, mood, feeling, temper, disposition, nature, care, attention, air, atmos­ phere, flavor, order, energy, essence, indications, symptoms, taste, touch, dash, shade, trace, spark, flash, suspicion« (Pörtner (1985): S. 216. Siehe Kapitel 1). »Leidenschaft« heißt heute im Japanischen jōnen (情念) sowie jōnetsu (情熱). Das Zeichen 情 lässt sich auch im Bereich chinesischer Medizin finden und auf Affektivität sowie affektive Bewegung übertragen. Siehe auch Kapitel 3.3.5. 161

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abendländischen Philosophie seit ihren Anfängen vor allem die menschliche Verfügungsmacht über die eigenen Gefühle zum Thema gemacht und auch angestrebt. Die philosophischen Affektenlehren von Aristoteles über Descartes und Spinoza bis hin zu Hume thematisieren Gefühle als eigenständigen Phänomenbereich, der nicht nur für die Rhetorik als Überzeugungskunst, sondern auch für Moralphilosophie und Moral zentral ist, gilt es doch, die guten von den schlechten Leidenschaften zu unterscheiden und beide richtig zu lenken.165

So scheine sich eine Tendenz entwickelt zu haben, die Leidenschaft und deren Lenken – wie Passivität und Aktivität oder pathos und ratio – als gegensätzlich anzunehmen. Diese Tendenz sei – ohne Zweifel auch aus einer Notwendigkeit heraus – zum Moralisierungs­ objekt geworden. In der Moderne werden die »Leidenschaften« auch »Neigungen« genannt. In der Ethik Kants wird beispielsweise die Neigung als Feind der reinen praktischen Vernunft angesehen. Zu dieser provozierte Kant möglicherweise die Fragestellung Humes, was uns Menschen zum Handeln motiviert oder motivieren sollte, die von der Annahme ausging, dass es Gefühle seien, die uns zum Han­ deln motivieren.166 Landweer fasst zusammen: »Humes Antwort, dass für jegliche Motivation zum Handeln Gefühle oder Bedürfnisse notwendig seien, wurde von Kant mit dem ambivalenten Begriff des intelligiblen Gefühls der Achtung ein wenig halbherzig revidiert.«167 Ob mit Achtungsgefühl oder ohne, kann außerdem bezüglich einer Handlung vom »schlechten Gewissen« die Rede sein, wenn vor einem Handeln ein »Ruf« des Gewissens wahrgenommen wird, dem man jedoch nicht gefolgt ist.168 Sei es die Leidenschaft, sei es das schlechte Gewissen – beide eint ein Gefühl, dass man sich als Person betroffen fühlt, was sich in der vorliegenden Arbeit als personales

Landweer und Demmerling (2007): S. 2. Landweer (2019): S. 48. 167 Ebd.: S. 3. Zum Verhältnis zwischen Gefühlstheorien und Moralphilosophie siehe auch: Landweer: »Normativität, Moral und Gefühle«, in: Gefühle – Struktur und Funk­ tion, in: Landweer (Hg.), 2007, S. 237–254. 168 Vgl.: Paul Ricœur Soi-même comme un autre, 2015, S. 394f. Zur Positionierung Heideggers bezüglich »Ruf« und »Gewissen«, von der die vorliegende Arbeit eher abweicht, siehe: Heidegger (1967): S. 267–301. Auf das »Gewissen« wird in Kapitel 5.1 nochmals kurz eingegangen. 165

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Fühlen bezeichnen lässt. In der gegenwärtigen Moralphilosophie scheint sich dies ebenso auf die Gefühlstheorien zu beziehen.169 In der vorliegenden Arbeit wird das Wortfeld ki auf eine unver­ meidliche Art und Weise – aufgrund der Sprache, auf der sie ver­ fasst wird – dem deutschsprachigen Wortbereich des Fühlens sowie Gefühls gegenübergestellt. Zur Betrachtung des Begriffsbereichs wird die Studie von Jutta Stalfort Die Erfindung der Gefühle – Eine Stu­ die über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750– 1850) aufgegriffen, in der die »Gefühle der Bildungsbürger in den Jahren 1780 bis 1830«170 geschichtswissenschaftlich, semantisch, sozio-linguistisch, kultursoziologisch, und individualpsychologisch untersucht werden.171 Die Entscheidung für diese Zeitepoche begrün­ det Stalfort damit, dass die Zeit zwischen 1650 und 1900 als eine recht markante Zeitepochen auffalle, in der eine erhöhte Zahl der Publikationen zum Thema »Emotionalität« festzustellen sei.172 Die Autorin greift die noch heute zugänglichen Werke aus den drei Bereichen Medizin, Philosophie und Psychologie auf und überprüft dabei die Art und Weise, wie unterschiedliche Begriffe zum Fühlen (wie z. B. »Seele«, »Lebensgeister«, »Gemüt«, »Affekt«, »Gefühl« und »Leidenschaft«)173 in den Werken – je nach Autor und Zeit – verwendet werden. Dabei achtet sie ebenso insbesondere auf den Aspekt der »Selbstverständlichkeit« bzw. darauf: »Was in der jeweiligen Zeit als selbstverständlich betrachtet wird, welches Wissen und welche Haltungen die Autoren bei ihren Lesern voraussetzen und vermitteln.«174 Nach Stalfort findet sich das Wort »Gefühl« zunächst in Form von einem Singularetantum und erst ab dem Beginn des 19. Jh. in der deutschsprachigen Geschichte des Wortgebrauchs zur Emotio­ nalität.175 Dort betrachtet sie einen Paradigmen- sowie einen Wahr­ 169 Vgl.: Landweer: »Gefühle in der Moralphilosophie – eine Bestandsaufnahme«, in: ZDPE, 2021, S. 19–28.; Römer (Hg.): Affektivität und Ethik bei Kant und in der Phä­ nomenologie, 2014. 170 Stalfort (2013): S. 9. 171 Vgl.: ebd.: S. 17f. 172 Sie erwähnt, dass während dieser Zeit ca. 150 Werke zum Thema »Emotionalität« veröffentlicht wurden. Vgl.: Stalfort (2013): S. 20. 173 Ebd.: S. 266–305 u. A. 174 Ebd.: S. 21. 175 Hierzu schreibt Stalfort Folgendes: »Taucht von 1700 bis 1760 vornehmlich der Begriff ›Gemütsbewegung‹ auf, um menschliche Emotionalität zu beschreiben, über­ nimmt ab 1810 das ›Gefühl‹ diese Aufgabe. Verfassen die Autoren im frühen 18. Jh.

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nehmungswechsel: Die Annahme einer Trennung176 zwischen den inneren, »subjektiven« Empfindungen und den äußeren, »objektiven« Wahrnehmungen.177 Stalfort findet das Wort »Gefühl« im deutsch­ sprachigen Raum zunächst bei Johann Nicolaus Tetens: Tetens ist der erste deutsche Wissenschaftler, der das »Gefühlsvermö­ gen« im Menschen ausführlich thematisiert [...]. In kleinste Einheiten gliedert Tetens die Vorgänge des Innern. Und so stößt er auf einen wei­ ten Bereich, der zwar in den Untersuchungen John Lockes Erwähnung fand, dort jedoch nicht weiter bestimmt wurde und der in deutscher Tradition kaum je beachtet wurde: Es sind die Prozesse, die dem Denken und Erkennen vorausgehen und die die Grundbedingungen jeder Erkenntnis sind; das Aufnehmen und Bewerten der Sinnesemp­ findungen.178

Das »Gefühlsvermögen« werde von Tetens neben »Verstand« und »Willen« zu den drei »Seelenvermögen« gezählt.179 Dabei werde das Erkennen der Gefühle durch die »Veränderung« vollbracht: »Der Körper erfährt eine Veränderung [...] und reagiert darauf mit einer Bewertung (beispielsweise mit ›heiß‹, ›kalt‹ etc.). Der Seele geschieht – so Tetens – mit den Sinnesempfindungen ganz Ähnliches: diese erreichen, berühren und verändern sie, und zugleich nimmt die Seele diese Veränderung wahr und bewertet sie: ›Daher ist das Gefühl, und die Receptivität eins und dasselbige Vermögen. Die Seele nimmt etwas an, indem sie fühlet, und fühlet, indem sie sich modificiren stets Theorien und Lehren von ›Gemütsbewegungen‹, so begegnen uns im späteren 19. Jh. fast ausnahmslos ›Gefühlstheorien‹.« Stalfort (2013): S. 20. 176 Diese Trennung vom sogenannten Innen und Außen, sei es die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, sei es von Körperlichkeit und Geistigkeit der Psyche, gilt jedoch – wie dies in Kapitel 3.3 deutlich gemacht wird – innerhalb des Wortgebrauchs des ki nicht als vorausgesetzte Annahme. 177 Die Vorbereitung auf diese Trennung lässt sich jedoch schrittweise bereits in der Philosophie Descartes betrachten, als die Entwicklung begann, dass der menschliche Körper als ein von der menschlichen Geistigkeit abgetrennter Gegenstand betrachtet wird. Der Wandel der Wahrnehmungsebene unter den gelehrten Bürgern käme Stal­ fort zufolge aus der Erfahrung der Emotionalität zwischen dem »objektiven Anteil in der gegebenen Situation« und der »subjektiven« »persönlichen« »Reaktion darauf. Stalfort (2013): S. 419. Siehe auch: Ebd: S. 20. 178 Ebd.: S. 288f. Hervorh. i. O. Tetens bezieht sich als Quellen auf den schweizeri­ schen Philosoph Johan Geborg Sulzer (Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, Berlin 1762) sowie auf Charles Bonnet aus Frankreich (Essai analytique sur les facultés de l'âme, Kopenhagen 1760). Vgl. auch: Ebd. 179 Ebd.: S. 289.

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2.2. Forschungsstand

läßt und etwas annimmt.‹«180 Stalfort schlussfolgert: Bei Tetens wird der »Seele« die Aufgabe zugeteilt, die »Veränderungen« bzw. die »Empfindungen wahrzunehmen und zu bewerten«.181 Neben der bewertenden Dimension der »Seele« den Empfindun­ gen gegenüber, die sich mit der »Entdeckung« des »Gefühls« vom 18. bis zum 19. Jh. entwickelte, scheint die zunehmende Unterschei­ dungstendenz zwischen dem Inneren und Äußeren anzumerken zu sein: Verschiedene Empfindungen in Form von »Gefühlen« fanden ab der Zeit im »Inneren« des Subjekts statt, unter der Annahme, dass sie durch die Wahrnehmungen der Situationen aus dem »Äußeren« hervorgerufen würden.182 So scheint es auch eine durchaus konsequente Folge zu sein, wie heute vermehrt in verschiedenen phänomenologischen Ansät­ zen betont wird, dass und welche große Rolle die Leiblichkeit bei dieser Thematik spielt.183 Die phänomenologischen Blicke, in denen nicht nur die leibliche Bewusstheit, sondern auch die impersonale Anonymität (sowie Alterität) der menschlichen Leiblichkeit pointiert werden kann184, können erlauben, auch die Trennung des »Inneren« und »Äußeren« kritisch in Frage zu stellen oder »in Klammern«185

180 Ebd. Siehe auch: Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die mensch­ liche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1, 1777, S. 620–621. 181 Auch: »Die gefühlte Veränderung ist die Empfindung« Ebd.: S. 166. Vgl.: Stalfort (2013): S. 290. 182 Stalfort nennt diesen Prozess »Entdeckung« sowie »Erfindung« der Gefühle. Vgl.: ebd.: S. 178. 183 Der Wortgebrauch der »Leiblichkeit« und des »Leibes« in der vorliegenden Arbeit orientiert sich an demjenigen von Hermann Schmitz. Schmitz beschreibt das Leibliche folgenderweise: »Leiblich ist, was jemand in der Gegend (keineswegs, wie z. B. am Blick deutlich wird, immer in den Grenzen) seines materiellen Körpers von sich selber (als zu sich selber, der hier und jetzt ist, gehörig) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken) und des aus ihrem Zeugnis abgeleiteten perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. Als Leib kann dann das Ganze der leiblichen Regungen mit seiner noch zu bestimmenden räumlichen und dynamischen Beschaffenheit verstanden werden.« Hermann Schmitz: Der Leib, 2011, S. 5. 184 Im Diskurs zur Anonymität der Gewalt erwähnt Bernhard Waldenfels die Anony­ mität oder die Fremdheit im eigenen Leib. Dies scheint hier relevant zu sein. Vgl.: Waldenfels: »Aporien der Gewalt«, in: Gewalt – Strukturen, Formen, Repräsentatio­ nen, 2000, S. 18. 185 Husserl (1976): S. 65 (Hua III/1 § 32).

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2. Ki und Fühlen

zu setzen.186 Diese Unverfügbarkeit, das Unterlaufen von Unterschei­ dungen im Leib- bzw. Selbstsein beschreibt Böhme als »die Natur, die wir selbst sind«.187

2.3 Schritte zur Methode Nachdem das Forschungsfeld der vorliegenden Arbeit eingeführt und diese in den aktuellen Diskurs eingeordnet wurde, wird nun erläutert, mit welchen methodischen Schritten die Arbeit zu ihrer weiteren Aufgabe gelangt. Hierzu wird zunächst auf verschiedene Aspekte eingegangen, die beim Thema »Gefühle« zu bedenken sind: »Kulturalität«, »Problematik eines komparativen Ansatzes«, die pro­ zesshafte »Erlernbarkeit« von Gefühlen im Erwachsenwerden, der dabei zu entdeckende Aspekt der »Koordinierung« von Gefühlen, die in der Koordinierung zu findende »Individualität und Partikulari­ tät«, der Aspekt von »Aufmerken und Aufmerksamkeit« sowie die »Gefühls-Koordinierung am Körper und am Leib«. Bezug genommen wird dabei u. a. auf die Arbeiten von Jutta Stalfort und Agnes Heller. Im Anschluss wird die bereits erwähnte, in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit verwendete Methodik, die »linguistic phenomenology« von John Langshaw Austin, vorgestellt.

2.3.1 Kulturalität der Gefühle Allein zwischen »Gefühl« und »feeling« auf Deutsch und Englisch, zwei sehr nah verwandten natürlichen Sprachen, findet man einen schnell erkennbaren Unterschied: Das deutsche Wort »Gefühl« umfasst im Englischen nicht nur feeling, sondern auch emotions. Obwohl sowohl das deutsche Wort »Fühlen« als auch das englische Wort to feel für Körperempfindungen (z. B. »Hungergefühl« oder »to feel pain«) verwendet werden können, kann das andere Wort emotion 186 Dies lässt sich sicherlich mit der Methodik der »Überreflexion« (surréflexion) bei Merleau-Ponty verknüpfen, die von Yamaguchi als »Reflexion der Reflexion« ver­ standen und positiv aufgenommen wird. Vgl.: Merleau-Ponty (1964): S. 60. Yama­ guchi (2004): S. 23. 187 Böhme (2019): S. 9. Siehe auch: Böhme: Ethik leiblicher Existenz: Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur, 2008, S. 119.

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2.3 Schritte zur Methode

dies nicht: Es gibt z. B. keine »emotion of pain« oder »Emotion des Schmerzes«.188 Die kulturell unterschiedlich entfalteten Milieus ver­ schiedener Fühlweisen lassen sich gerade in der Pluralität der natür­ lichen Sprachen unvermeidlich und schnell erkennen. Jutta Stalfort vergleicht das deutsche Wort »Fühlen« mit to feel aus dem Englischen und sentir aus dem Französischen und macht sowohl Ähnlichkeiten als auch bemerkenswerte Unterschiede klar: Grundlegend gilt zwar in allen Kulturen das Element des Fühlens als Basis der Begrifflichkeit: to feel/fühlen/sentir. Es ist unerlässlich, dass bei der Verwendung der Begriffe ›Gefühl‹, ›sentiment‹ oder ›emotion‹ ein Ergebnis vorliegt, das umschrieben werden kann mit ›jemand fühlt etwas‹. Gefühl/emotion/sentiment Jemand/Person X fühlt etwas … Personne X sent quelque chose … Person X feels something … Doch zeigt sich, dass nicht auf alles, was gefühlt werden kann, auch automatisch die Kategorien ›Gefühl‹, ›sentiment‹ oder ›emotion‹ zutreffen. Das Ergebnis des ›Fühlens‹ ist offensichtlich grundlegend, jedoch noch viel zu wenig präzise. Beispielsweise kann im Deutschen sehr wohl ›gefühlt‹ werden, dass die Erde bebt, trotzdem spricht niemand von einem ›Erdbebengefühl‹. Ebenso ist es im Englischen oder Französischen zwar möglich, dass jemand den Blick eines anderen in seinem Nacken ›fühlt‹, dennoch wären die Bezeichnungen ›emo­ tion‹ oder ›sentiment‹ verfehlt. Lediglich etwas zu ›fühlen‹, reicht offenbar nicht aus, damit von ›Gefühl‹, ›emotion‹ oder ›sentiment‹ gesprochen wird.189

So redet man nicht von sentiment oder emotion, wenn es um das wackelnde Erdbeben oder den leiblich gespürten Blick am Nacken geht. Dies heißt jedoch wiederum nicht, dass dabei kein Gefühl oder keine Empfindung gespürt werden kann. Die Wahrnehmung des Bebens kann durchaus mit einem unheimlichen »Gefühl« oder einer Furcht einhergehen. Stalfort bezieht sich auch auf das deutsche Wort »Empfindung«, das durchaus zur Gefühlswelt gehört. Trotz der Gemeinsamkeit auf der grammatischen Ebene, die die drei benachbarten Sprachen in der 188 Stalfort (2013): S. 62f. Auch: Döring: »Emotionen und ihre Objekte«, in: Philo­ sophie der Gefühle, 2013, S. 12. 189 Stalfort (2013): S. 62f. Hervorh. i. O.

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Syntax haben, zeigt sich dort auch die kulturelle Variabilität der Art und Weise der Artikulierung auf eine markante Art und Weise: Im Deutschen ist es durchaus möglich, dass auch Empfindungen, die über komplexe gedankliche Prozesse aufgebaut werden, als ein Gefühl bezeichnet werden: es gibt das Gerechtigkeitsgefühl und das Pflicht­ gefühl genauso wie das Selbstwertgefühl. Das französische sentiment stimmt hier mit der deutschen Kategorie überein: ›le sentiment de sa valeur‹ und ›le sentiment du devoir‹ sind durchaus gängige Wendungen. Im Englischen hingegen ist eine Überzeugung dieser Ausdrücke unter Verwendung von emotion nicht denkbar. Dort gibt es kein ›emotion of one‘s own value‹ oder ›the emotion of duty‹.190

Was die kulturelle Variabilität in der semantischen Ebene von Gefühlsbegriffen angeht, so lässt sich das tschechische Emotionskon­ zept »Lítost« als ein repräsentatives Beispiel herausstellen. Stalfort bezieht sich auf dieses kulturspezifische Emotionskonzept anhand des Romans Das Buch vom Lachen und Vergessen von Milan Kundera. Der Schriftsteller stellt das Konzept in seinem Roman folgenderweise vor: »Lítost ist ein tschechisches Wort, das sich nicht übersetzen lässt. Die erste Silbe, die gedehnt und betont ausgesprochen wird, klingt wie die Klage eines einsamen Hundes. In anderen Sprachen finde ich kein Äquivalent, obwohl ich mir nur schwer vorstellen kann, daß die menschliche Seele ohne dieses Wort zu verstehen ist.«191 Kundera schildert die Emotion bzw. die Situation, in der von der Emotion »Lítost« die Rede ist, folgendermaßen: Ein Beispiel: Der Student badete zusammen mit einer befreundeten Studentin in einem Fluß. Das Mädchen war sportlich, und er ein mise­ rabler Schwimmer. Er konnte unter Wasser nicht ausatmen, schwamm langsam und hielt den Kopf krampfhaft über dem Wasserspiegel. Das Mädchen war hoffnungslos in ihn verliebt und so taktvoll, ebenso lang­ sam zu schwimmen wie er. Als die Zeit zum Aufbruch gekommen war, wollte sie noch schnell ihren sportlichen Bedürfnissen Genüge tun und schwamm mit raschen Zügen ans andere Ufer. Der Student versuchte, schneller zu schwimmen und schluckte Wasser. Er fühlte sich erniedrigt und in seiner körperlichen Ungeschicklichkeit bloßgestellt, und er empfand Lítost. In seiner Erinnerung tauchte seine kränkliche Kindheit auf, die er unter der allzu fürsorglichen Aufsicht seiner Mutter ohne Sport und ohne Spielkameraden verbracht hatte, und er wollte über sich 190 191

Stalfort (2013): S. 64. Kundera (1992): S. 164. Siehe auch: Stalfort (2013): S. 71.

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und seinem Leben verzweifeln. Als die beiden auf einem Feldweg in die Stadt zurückgingen, schwiegen sie. Verletzt und gedemütigt, verspürte er den unwiderstehlichen Wunsch, sie zu schlagen. Was hast du? fragte sie, und er machte ihr Vorwürfe, auf der anderen Seite des Flusses gebe es Wirbel, er habe ihr doch verboten hinüberzuschwimmen, sie hätte ja ertrinken können – und er schlug sie ins Gesicht. Das Mädchen fing an zu weinen, und beim Anblick ihrer Tränen empfand er Mitleid mit ihr, er umarmte sie, und seine Lítost zerfloß.192

Die Aggression, die der Student in sich verspürt, erklärt nicht eine pure Wut. Dort erscheint eine Emotion, die unter einem Wort »Lítost« zusammengefasst zu sein scheint, die möglicherweise jedoch – von der deutschsprachigen Perspektive aus gesehen – mehrere Emotio­ nen gleichzeitig umfasst. So erklärt Stalfort: »Vielleicht kann diese Geschichte auch unter der Verwendung anderer Gefühle erklärt wer­ den, Kundera verweist darauf, dass der Student sich ›erniedrigt‹ und ›bloßgestellt‹ fühlte. So könnte beispielsweise das Schamgefühl des Jungen eine erhebliche Rolle spielen und Ärger über die Beschämung oder auch gekränkter Stolz oder verletzte Eitelkeit.«193 Der Vergleich der Gefühlsbegriffe im Allgemeinen hat eine methodische Problematik inne: Auch wenn die Handlungen von den betroffenen Menschen ausführlich beschrieben werden, bedeutet das noch nicht, dass das Fühlen der Emotion (eines fremdsprachlichen Ausdrucks für eine Emotion) schnell verständlich oder nachempfind­ bar ist. Zum Beispiel kann die Aggression – der Trieb von dem Studenten, aus dem Boden des Lítost den Wunsch zu verspüren, das Mädchen zu schlagen – manchen Lesenden komplett zusammen­ hangslos vorkommen. Sogar könnten ein verdrängter Maskulinismus oder sonstige verdrängte Wünsche dem Herzen des jungen Mannes zugeschrieben werden. Mit der Interpretation und Erklärung von Stalfort, dass das Triebgefühl, das Mädchen zu schlagen, aus »Beschä­

Kundera (1992): S. 164. Ein anderes Beispiel lautet: »Oder ein anderes Erlebnis aus der Kindheit des Studenten: Die Eltern schickten ihn zum Geigenunterricht. Er war nicht besonders begabt, der Lehrer unterbrach ihn oft mit schneidend kalter Stimme und warf ihm seine Fehler vor. Er fühlte sich erniedrigt und hätte am liebsten geweint. Aber statt sich zu bemühen, besser zu spielen und weniger Fehler zu machen, fing er an, sie absichtlich zu machen, die Stimme des Lehrers wurde noch kälter und zorniger, und der Junge versank nur noch tiefer in seiner Lítost.« Ebd.: S. 165. Vgl.: Stalfort (2013): S. 71f. 193 Stalfort (2013): S. 72. 192

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mung«, »gekränktem Stolz« oder »Eitelkeit« herrühre, scheint jedoch der Sachverhalt der Emotion Lítost schrittweise zugänglich zu werden. Diese Interpretation oder Übersetzung schaffen sicherlich eine Brücke, eine Möglichkeit zu einem Nachempfinden oder zumindest einer Vorstellung des Erlebnisses von Lítost, auch wenn diese das Fühlen von Lítost nicht ersetzt. Allein die Laute, die in der Sprach­ welt mit verschiedenen leiblichen Erfahrungen gewachsen sind, die hierdurch bestimmte Bilder, die Stimmung der Situation sowie den quälenden Schmerz des jungen Mannes mittragen, können in der Übersetzung nicht übertragen werden. Die genauere Beschreibung Kunderas hingegen – in seiner Profession als Schriftsteller – erschafft dennoch zumindest eine Brücke zur Situation, in der Lítost auftaucht. Auch mit dem Vorbehalt, dass die beiden Brücken – sei es durch interpretative Übersetzung, sei es durch genauere Situationsbeschrei­ bungen – stetig variieren (müssen) und verschiedene Präferenzen dort entdeckt werden können, ergänzen sie sich gegenseitig. Hier an der Stelle scheint deutlich geworden zu sein, dass sich allein in einer Vokabel194 aus einer natürlichen Sprache erkennbare Differenzen in Ein noch anderes markantes Beispiel könnte im japanischen Wort iki (いき) ent­ deckt werden, das in der gegenwärtigen japanischen Alltagssprache häufig in etwa mit »schick« im Deutschen verglichen wird. Dieses Wort wird von dem japanischen Phi­ losophen Kuki Shūzo (1888–1941) in seiner Schrift iki no kōzō (Struktur von iki) aus­ führlich und auf eine phänomenologische Art und Weise thematisiert (vgl.: Ebersolt: »ataerarerumono toshite no gūzen, Kuki gūzenron no genshōgakuteki kaishaku no kokoromi« (与えられるものとしての偶然 – 偶然論の現象学的解釈の試み), in: Risō (理想), 2017, S. 126). In der vorliegenden Arbeit wird auf den möglichen Zusammen­ hang zwischen ki und iki nicht eingegangen. Iki wird von Kuki als ein Ideal sowie eine gelebte Lösung der affektiven und emotionalen Spannungen erklärt, die sich mit einer kontinuierlichen Suche nach einem Gleichgewicht der drei verschiedenen Momente der Affektivität und Emotionalität charakterisieren lässt: Verführung sowie Kokette­ rie (媚態), Resignation (諦め) und Unbeugsamkeit (意気地). (Kuki: »Iki no kōzō«, in: Kuki Shūzō zenshū daiikkan (九鬼周造全集第 1 巻), 1990, S. 16–22f. Vgl.: Ebersolt: Contingence et communauté – Kuku Shūzō, philosophe japonais, 2021, S. 116–122.) Diese drei affektiven Haltungsdimensionen, die aus den Begegnungen zwischen Gei­ sha-Damen einerseits und den Herren aus der höheren bis zur mittleren Schicht der Edo-Zeit (1603–1868) betrachtet wurden, die den Geisha-Damen Gesellschaft leis­ teten, andererseits, werden als Hauptbestandteil des gelebten, praktizierten Wegs von iki zusammengefasst. Nach Miyano bietet diese Ästhetik im Umgang mit der Affek­ tion heutzutage nicht nur Geisha-Damen, sondern allen geschlechtlichen Menschen etwas zu lernen: Sie lässt den Freiraum, wahrzunehmen und selbst zu schaffen, welche Form jede Begegnung mit dem Anderen bekommen kann (Miyano: »ren’ai, iki, nihi­ rizumu« (恋愛 いき ニヒリズム) in: Onozukara to mizukara no awai (自ずからと自 らのあわい), 2010, S. 289f. 194

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2.3 Schritte zur Methode

der Fühlweise bzw. Manifestierungsweise des Fühlens von Emotionen kristallisieren.

2.3.2 Problematik eines komparativen Ansatzes Die Frage, ob und inwiefern sich die Emotionsbegriffe bzw. die Begriffe, die konkrete Gefühle betreffen, aus verschiedenen natürli­ chen Sprachen vergleichen lassen, bleibt trotz der obigen Bemerkun­ gen bestehen. Die Frage scheint jedoch kein unlösbares Problem zu sein, sondern ist vielmehr als eine kontinuierlich bestehende Aufgabe des Brückenbaus zu verstehen.195 So ist die »Unübersetzbarkeit« (»l’intraduisibilité«) von verschiedenen Terminologien, die Barbara Cassin, eine französische Philosophin und die Herausgeberin von vocabulaire européen des philosophies, erwähnt, nicht als absolut unüberwindbar zu verstehen, sondern als etwas, was man nicht aufhören kann, zu übersetzen.196 Lítost als solches in einer Form von In Bezug auf die Kulturalität des Fühlens, die sich in der Ebene des Sprachgebrauchs entdecken lässt, ist außerdem anzumerken, dass Kuki am Anfang der Schrift iki no kōzō ein paar konkrete Ausdrücke einführt, die nicht direkt zu übersetzen sind, und somit je nach Sprache allzu unterschiedliche Erfahrungen darbieten können. Ein Bei­ spiel dort aus dem Französischen, »Le ciel est triste et beau«, kann den Unterschied der Wahrnehmungen zwischen der deutschen und französischen Sprache verdeutlichen. Der wörtlich übersetzte Satz »der Himmel ist traurig und schön« verfehlt nämlich nicht nur die Skizzierung der gemeinten Situation, sondern auch die grundlegende Natürlichkeit im Sprachgebrauch der deutschen Sprache. Ein weiteres, von Kuki genanntes Beispiel ist »der bestirnte Himmel über mir« – natürlich in Anlehnung an den »Beschluß« in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Kuki vergleicht das Wort »Himmel« mit dem englischen Wort sky und verdeutlicht den grundlegenden Unter­ schied in der Erfahrung von Himmel und sky. Dies lässt sich ebenso als Unterschiede der Milieus bzw. von synästhetischen Erfahrungshorizonten verstehen. Kuki (1990): S. 8. Vgl.: Takaki Ōkubo: »Iki no kōzō – hikakubunkaron, nihonbunkaron no shiten kara« (いきの構造 ― 比較文化論、日本文化論の視点から) in: Ris ō (理想), Nr. 698, 2017, S. 73ff. Siehe auch: Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 2003: S. 215 (AA 162, A 279). 195 Zu diesem Versuch des Brückenbaus, der im Akt des Übersetzens notwendiger­ weise erforderlich und am Laufen ist, kann möglicherweise die »analogische Herme­ neutik« Ram Adhar Malls in Bezug stehen. Vgl.: Mall (2013): S. 11. 196 Cassin erwähnt diese »Unübersetzbarkeit« folgenderweise: « Parler d’intradui­ sible, c’est plutôt ce qu’on ne cesse pas de (ne pas) traduire. Mais cela signifie que leur traduction, dans une langue ou dans une autre, fait problème, au point de susciter parfois un néologisme, ou l’imposition d’un nouveau sur un vieux mot: c’est un indice de la manière dont, d’une langue à l’autre, tant les mots que les réseaux conceptuels

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Wort findet man im Deutschen oder Japanischen nicht, es lässt sich jedoch nachempfinden – sei es durch Übersetzungsversuche mithilfe von verschiedenen Wörtern, sei es durch genaue Beschreibungen der Situationen, in denen Lítost gefühlt und erlebt wird. So ist das Wort nicht als ein vom lebendigen Fühlen getrenntes Ensemble der geschriebenen Zeichen zu verstehen. Im Wort handelt es sich vielmehr um das Geschehen einer (Nach)empfindung oder eines Gerührt-Seins. Es ist der Ort, wo irgendein Fühlen – wenn auch als Nachempfindung – entsteht.197 So wird unsere Empfindsamkeit bzw. unsere Fähigkeit, fühlen zu können, entwickelt und geprägt – wie Blumen »gegossen« oder »gepflegt«198 –, nicht nur durch das eigene Erleben der unpräzisierbaren Empfindungen, sondern auch mithilfe von Wortkunst wie Literatur (und deren Übersetzung), ästhetischen Erfahrungen allgemein, aber auch mithilfe von Erzählungen von Anderen, die den Gefühlen aus eigenen Erfahrungen ähneln oder von diesen abweichen.199 Das Zuhören der Erzählungen in jeglicher Form erweckt, erinnert, ergänzt Empfindungen und lässt Empfindungen aufkeimen, die einem bisher noch nicht in der Form bewusst zugäng­ lich waren, wie sie es werden, wenn die Aufmerksamkeit auf das neu Aufkeimende hingelenkt werden kann. Das wesentliche Problem scheint somit eher dann sichtbar zu werden, wenn das aufeinander Beziehen oder Vergleichen der Gefühlsbegriffe aus verschiedenen natürlichen Sprachen ausschließ­ lich als ein unmögliches Unternehmen festgehalten wird, und wenn dies zu einer Überzeugung wird, die keineswegs infrage gestellt werden kann. Die polnische Linguistin Anna Wierzbicka stellt hierzu ein Beispiel aus der tahitianischen Sprache vor und führt damit ihre offene Einstellung zur Unübersetzbarkeit der Gefühlsbegriffe ein: ne sont pas superposables – avec mind, entend-on la même chose qu’avec Geist ou qu’avec esprit; pravda, est-ce justice ou vérité, et que se passe-t-il quand on rend mimêsis par représentation au lieu d’imitation? Chaque entrée part ainsi d’un nœud d’intraduc­ tibilité et procède à la comparaison de réseaux terminologiques, dont la distorsion fait l’histoire et la géographie des langues et des cultures. » (Cassin (2019): Présentation XVII, XVIII, Hervorh. i. O.) Zur Unübersetzbarkeit vgl. auch: Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1909, S. 129. Vgl. auch: Hisayama (2014): S. 14. 197 Dies gilt, ohne dabei jedoch voraussetzen oder behaupten zu müssen, dass das geschriebene oder ausgesprochene Wort (mit den Zeichen) als ein von diesem Geschehen der übertragenen Gefühle »getrenntes« Phänomen zu verstehen wäre. 198 Vgl.: Heller (1981): S. 184–186. 199 Es ist nicht schwer vorstellbar, dass auch der Erwerb von Fremdsprachen – sicherlich je nach der Lernweise – hierzu beitragen kann.

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2.3 Schritte zur Methode

It is ethnocentric to think that if the Tahitians don’t have a word corre­ sponding to the English word sad (Levy 1973), they must nonetheless have an innate conceptual category of »sadness«; or to assume that in their emotional experience »sadness« – for which they have no name – is nonetheless more salient and more relevant to their »emotional uni­ verse« than, for example, the feelings of tōiahna or pe’ape’a, for which they do have a name (although English does not). Ekman (1994b: 147) dismisses Levy’s report »that the Tahitians do not have a word for sadness, and do not recognize the constellation of sad behavior as caused by the loss of a loved person« with the following characteristic comment »this is not sufficient to assert that the relationship between the sadness Antecedent and sadness responses is absent in that culture … The Tahitians did show sad behaviors in response to loss even though they did not label it as sadness, and attributed those responses to illness rather than to loss«.200

Es ist zunächst einmal auf der logischen Ebene nicht möglich fest­ zustellen, dass die Trauer (oder besser das being-sad) den tahitia­ nischen Menschen unzugänglich wäre, alleine durch die Kenntnis, dass kein entsprechendes Wort in ihrer Sprache vorhanden ist. Die Erfahrungen, von denen die englischsprachigen Menschen mit dem Wort »sad« sprechen, können auch die tahitianischen Menschen erlebt haben und erleben, nur wird dieses Erleben nicht in der gleichen Art und Weise wie being-sad oder sadness im Englischen artikuliert, gesprochen und fokussiert. Ihre Handlungen und ihr Umgang mit der Trauer (mit einem Verlust eines geliebten Menschen) können somit anders aussehen als der (am meisten gängige) Umgang mit Trauer bzw. sadness in englischsprachigen Regionen – wobei innerhalb der Regionen auch verschiedene Umgangsweisen, je nach Religion, Sozi­ alschicht, aber auch persönlicher Biographie, zu finden sein müssen. Dies heißt jedoch ebenfalls nicht, dass sie keineswegs »sadness« emp­ finden. Tahitianische Menschen haben andere Vokabeln, welche andere Dimensionen der Verlusterfahrung ans Licht bringen können, und die einen anderen Umgang mit diesen ermöglichen, der bestimmt wiede­ rum in Tahiti Variabilität aufweist. Die Betrachtung des englischspra­ chigen Menschen selbst kann – gegenüber den Trauererfahrungen der tahitianischen Menschen – auch vorgeprägt sein. Dies in dem Sinne, dass die Empfindungen im tahitianischen Trauerkontext zunächst ein­ Wierzbicka (2005): S. 26. Vgl. Levy: Tahitians: mind and experience in the Society Islands, 1973; Ekman: The nature of emotion: Fundamental questions, 1994, S. 147.

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mal für englischsprachige Menschen entweder unzugänglich erschei­ nen bzw. von ihnen einfach nicht aufgemerkt werden können, was im extremen Fall dazu führen kann, dass sie als inexistent beurteilt werden, nur aufgrund dessen, dass im Englischen die Vokabel fehlt (für »tōiahna« sowie »pe’ape’a«). In Anerkennung der Schwierigkeit dabei, die tahitianische Trauersituation befreit von der Vokabel »sad­ ness« anzusehen und nachzuempfinden, fasst Wierzbicka die offene Möglichkeit folgenderweise zusammen: Obviously, there is no reason to think that Tahitians are incapable of feeling »sad«; but neither is there any reason to believe that the speakers of English are incapable of feeling »tōiahna« or »pe’ape’a«. Above all, there is no reason to think that »sadness« is more important or more »universal« than »tōiahna« or »pe’ape’a«. The conceptual grid provided by language is different.201

Es ist weder möglich noch notwendig, einen möglichen Zugang zu bzw. eine Nachempfindungsmöglichkeit von einem Gefühl aus Fremdsprachen (wie »Lítost«, »tōiahna«, »pe’ape’a« aber auch »sad« für etwa Tahitianer), dessen entsprechendes Wort sich in der Über­ setzungssprache (wie z. B. Englisch, Deutsch, Japanisch oder Tahi­ tianisch) nicht finden lässt, einfach so auszuschließen.202 Eigene Muttersprache(n) als die einzigen und absoluten Quellen für den Maßstab der Welterfahrung zu sehen, kann nicht nur eventuelle politische Probleme bereiten, sondern auch zu einer Vereinseitigung bzw. Verarmung der eigenen Sinne führen.203 Es ist möglich, der Neu­ Ebd.: S. 27. Unter dieser Logik hat selbst das deutsche Wort »Leib«, das in der Phänome­ nologie eine essentielle Rolle spielt, kein Recht, essentialisiert zu werden. So ist es ernst zu nehmen, dass das französische Wort »corps« von der Phänomenologie Merleau-Pontys in der deutschsprachigen Übersetzung mit »Leib« übersetzt wird (vgl.: Merleau-Ponty (1966)). Allein die Tatsache, dass es das Wort (hier in dem Fall »Leib«) in einer Sprache nicht gibt, heißt noch nicht, dass der Sachverhalt der Leiblichkeit für die Sprecher:innen dieser Sprache nicht zugänglich wäre. 203 Rolf Elberfeld weist in seiner Dissertationsschrift auf das folgende Zitat von Joa­ chim Ritter hin: »Wer aber längere Zeit außerhalb dieses noch mit seiner Herkunft vertrauten Europa gelebt hat, der wird mehr und mehr zur Einsicht gebracht werden, daß alle die Fragen, Probleme und Aufgaben, auf welche er in dem fremden Land trifft, zugleich unmittelbar und in beunruhigender Eindringlichkeit Europa selbst und die eigene Welt angehen.« Es scheint hier mindestens drei Probleme zu geben: Eines steckt im historischen Hintergrund der europäischen Expansion, wie von Elberfeld selbst hingewiesen wird (vgl.: Elberfeld: Kitarō Nishida (1870–1945) 西田幾多郎 Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, 1999: S. 19.). Das 201

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gier, die durch das »Unübersetzbare«,204 durch »Inkompatibilitäten«, »Unvereinbarkeiten«, »Unversöhnlichkeit«205 oder einfach durch das Nicht-Vorhanden-Sein eines entsprechenden Wortes, erweckt werden kann, achtzugeben und dieser entgegenzukommen, ihren Wünschen zuzuhören. Es scheint mir demgegenüber weder notwendig noch wünschenswert zu sein, uns an der Bodenlosigkeit der »Unübersetz­ barkeit« verbleiben zu lassen. So scheint die Problematik nicht nur eine theoretische Frage zu sein, sondern vielmehr diejenige der Praxis, die im jeweiligen Hier-und-Jetzt206 beginnen kann: Ein übendes Zuhören207, ein Hören Zweite steckt in der potentiellen Tendenz, die allgemein jedes Individuum betreffen kann, auf Basis eigener Selbstverständlichkeiten, ohne es zu beabsichtigen, eigene sowie auch ganz und gar fremde Erfahrungen nach deren Maße, d. h. nach dem Maße des einem Vertrauten verformen und/oder zu bemessen. Das dritte Problem steckt in einer ähnlichen Tendenz, die ebenso jedes Individuum betreffen kann, nämlich dass man in fremden Erfahrungen wiederholt etwas einem Vertrautes sieht bzw. unbemerkt dem Fremden etwas Vertrautes projiziert, indem man sich an einem durch ein gewisses Zivilisationsmuster Erkennbaren orientiert. Es ist jedoch zu respektieren, dass das dritte Problem in der Praxis häufig die erste Maßnahme überhaupt sein kann, wenn es um die erste Begegnung mit dem Fremden geht. Vgl.: Joachim Ritter: »Europäisie­ rung als europäisches Problem«, in: Metaphysik und Politik Studien zu Aristoteles und Hegel, 1977 S. 324. Elberfeld (1999b): S. 19. 204 Barbara Cassins Terminologie lautet im Original l’intraduisible und wird folgen­ derweise eingeführt: « Une langue diffère d’une autre et se singularise par ses équi­ voques, la diversité des langues se laisse saisir par les symptôms que sont les homo­ nymies sémantiques et syntaxiques. Ces troubles, ces confusions, ces auras de sens, qui rendent les traductions difficiles et que j’appelle des « intraduisibles » (non pas ce qu’on ne traite pas, mais ce qu’on ne cesse pas de – ne pas – traduire), sont les empreintes digitales des langues. » Cassin (2016): S. 24. Vgl. auch: Cassin: Éloge de la traduction – compliquer l’universel, 2016, S. 24. 205 Kinsky: Fremdsprechen: Gedanken zum Übersetzen, 2013, S. 70. 206 Es ist anzumerken, dass der Ausdruck »Hier-und-Jetzt« in der vorliegenden Arbeit zwar momenthaft, dabei jedoch nicht statisch, sondern im Sinne eines dyna­ mischen Geschehens und also im Einklang mit den beschriebenen stetigen Verände­ rungsprozessen verstanden wird. 207 Die Wortwahl »Zuhören« stammt vom Wortgebrauch Lars Leetens. In seiner Habilitationsschrift weist er anhand seiner ausführlichen Erforschung der antiken Redekultur im Lichte der »Ethik der Rede« auf die Wichtigkeit sowie die Möglichkeit der »Einübung ins Zuhören« hin, welche eine fundamentale Basis für die Entfaltung eines »dialogischen Lebens« mit Anderen stiftet. Leeten teilt den Prozess der »Philo­ sophie als mündlich-schriftlicher Bildungspraxis« in die folgenden Ebenen ein: »fun­ damentale Stellung der Fähigkeit des Zuhörens (1) und die Praxis des Zuhörens (2) sowie im Anschluss daran die Übungen des Lesens (3), des Schreibens (4), des Spre­ chens mit sich selbst (5) und des Sprechens mit Anderen (6)« (Leeten (2019): S. 225f.). Insgesamt besticht sein Beitrag mitunter dadurch, die Verbindung zwischen dem

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auf das Nicht-Selbstverständliche oder das sogenannte »Fremde«. Auch wenn der erste Kontakt mit dem Fremden keinerlei »Eindrücke« hinterlassen würde, kann er sich das zweite Mal anders anfühlen, das dritte Mal ebenfalls und so immer fort. Das, was im ersten Eindruck nicht sichtbar und hörbar war, kann im Laufe der Zeit Stück für Stück (immer) hörbarer, sichtbarer, riechbarer und eines Tages ganz präsent werden. Das Bild dieser Präsenz kann sich mit der Zeit weiter ändern und diese Erfahrung kann mit einer weiteren Veränderung der Wahrnehmung von anderen Dingen einhergehen. Es ist sicherlich ursprünglich die Kunst des Lernens, die mit diesem Zuhören beginnt.208 Das, was sich heute beispielsweise im Akt des Übersetzens sowie Dolmetschens visualisieren lässt, ist ursprünglich all diesen Etappen, auf welchen es sowohl individuell als auch kol­ lektiv und historisch geübt und gearbeitet wurde und noch wird, zu verdanken.209 Sprachgebrauch in der individuellen Ebene und der Art und Weise des Lebens (»Habi­ tusformen«) – sowohl innerhalb als auch außerhalb der (philosophischen) Diskurse – zu verdeutlichen, indem die »formative Kraft der Rede« aus der Antike anhand des Übungsbegriffs (askêsis) pointiert wird (ebd.: S. 265f.). So wird eine seit der Moderne immer mehr zunehmende Tendenz der Trennung zwischen »Logos« und »Ethos« kri­ tisch in Frage gestellt (ebd.). 208 Zur Transformation von Personen durch das Erlernen der Fremdsprachen ist die folgende Stelle aus L’universel étranger von Michael Lucken zu referieren: « Apprendre une langue n’est pas seulement aquérir une compétence nouvelle, c’est emprunter un chemin par lequel on se transforme soi-même. [...] Cela commence par les sons et les sonorités qui d’indistincts au départ, s’éclairent et se discriminent progressivement. L’oreille s’habitue à ce qui lui paraissait inaccessible, des segments et un rythme émergent de ce qui n’était qu’un flux insensé. » Vgl.: Lucken: L’universel étranger, 2022, S. 295. 209 Alle Terminologien, die beispielsweise im Japanischen heute für den Bereich europäischer Philosophie vorhanden sind, und die zugleich auch im Bereich japani­ scher Philosophie genauso häufig verwendet werden, entstammen den Etappen, die sich zwischen Europa und Ostasien mehrfach verschachtelt entfalteten. In den aus westeuropäisch-sprachigen Terminologien der Philosophie sind die Wurzeln größ­ tenteils sowohl im Altgriechischen als auch im Lateinischen zu finden. Hinzu kamen außerdem noch andere Traditionen wie Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus, deren Schulen oder Richtungen sich wiederum weiter differenzieren lassen. So ver­ mischten sich verschiedene Kenntnisse und Sinnzusammenhänge anhand der KanjiZeichen (ursprünglich chinesische Schriftzeichen, die im ca. 5. Jh. n. u. Z. in Japan eingeführt wurden). Es gibt auch Terminologien, die über die Landesgrenzen hinaus zwischen Japan, Taiwan und China (beispielsweise mit dem Wort tetsugaku 哲学) hin und zurück reisten. Vgl.: Uehara: « La philosophie de l’art de Valéry lue par Tanabe Hajime – Verbalisation et Symbolisation selon la philosophie de la traduction », in: philosopher la traduction, 2016, S. 121f., 125.

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2.3 Schritte zur Methode

Die Problematik eines komparativen Ansatzes kann somit eine gesunde Herausforderung der menschlichen Haltung sein, sich in das Zuhören zu begeben, bis das Zuhören seine eigene Kulturalität – wenn auch momentweise und nebenbei – relativieren oder transfor­ mieren lässt. Erst dort scheint es möglich zu werden, dass eine kul­ turelle Gefühlshabitualisierung – wenn auch begrenzt – sichtbar wird. Dies kann im Wahrnehmen der Kulturalität sowohl des Anderen als auch des Eigenen mit einer respektvollen Annäherung an deren Inkompatibilitäten als solchen einhergehen. Diese »weder« an »einer totalitären Identität« der kulturellen Gefühlshabitualisierungen »noch« an einer Einheit von deren »radikalen Differenzen«210 orien­ tierte Grundhaltung im Zuhören, entsprungen aus einer langatmigen Neugierde kann die vorliegende Arbeit als ein methodisches basso continuo begleiten.211

2.3.3 Erlernbarkeit der Gefühle Die vorliegende Arbeit setzt es sich zum Ziel, das Unreflektierte, wie z. B. unausgesprochene Vorannahmen und vorprädikative Erfah­ rungsformen, die im Sprachgebrauch innerhalb einer natürlichen Sprache implizit herausgeblickt werden können, ans Licht kommen zu lassen. Dies wird zwar als eine phänomenologische Aufgabe verstan­ den, welche aber von Anfang an mit der Pluralität der Kulturen und Sprachen konfrontiert wird. Die historisch und kulturell entwickelten Milieus (milieux),212 welche sich bei jeder Person, auch innerhalb einer Bezüglich aller Worte in Anführungszeichen siehe Mall (2013): S. 11. Mall nennt seinen Ansatz »Logik der Überlappung« und beschreibt diesen fol­ genderweise: »Eine für die interkulturelle Perspektive charakteristische Logik der Überlappung ist in der Empirie verankert und wird von der Einsicht begleitet, dass es gemeinsame Strukturen gibt. Diese dürfen jedoch nicht essentialisiert werden. Sie sind eher vergleichbar mit der These der Familienähnlichkeit Wittgensteins.« Mall (2013): S. 15. Siehe auch: Ram Adhar Mall, Damian Peikert: Philosophie als Therapie – eine interkulturelle Perspektive, 2017, S. 26f. Es gäbe sicherlich Probleme, wenn die »Fami­ lienähnlichkeiten« nur in Begegnungen mit dem Fremden gesucht würden. Es ist jedoch nicht möglich, den langatmigen Versuch des Übersetzens und Brückenbaus ohne solch eine Einstellung zu praktizieren. So kann durchaus eine gewisse Affinität zwischen diesem Ansatz und der Herangehensweise der vorliegenden Arbeit erblickt werden. Vgl.: Wittgenstein (2015): S. 55–58 (PU: § 65, § 66, § 67). 212 Augustin Berque übersetzt beispielsweise den japanischen Begriff Fūdo (風土, wörtlich übersetzt: Wind und Erde) mit dem Wort « milieu » sowie « milieu humain ». 210 211

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2. Ki und Fühlen

Kultur verschiedenartig manifestieren, machen zwar eine Dimension des Unreflektierten eines Menschen aus, es scheint jedoch etwas vor­ eilig zu sein, zu sagen, diese Milieus würden das Gesamte des Unre­ flektierten ausmachen.213 Eine einseitig orientierte sozial-konstrukti­ vistische oder ethnozentrisch orientierte Sicht trägt zum mühsamen Entdeckungsweg der Gefühlswelten nicht bei, sondern kann vielmehr hindernd wirken. Die variable, vorreflexive Dimension der Erfahrung wird häufig dann markant erkennbar, wenn man mit konkreten Körpern, Stimmen, Lauten und Gesten, aber auch Gegenständen, Wetterphänomenen und Atmosphären in Berührung kommt.214 Sie ist einer der Orte, in dem die Verschiedenheiten der Selbstverständ­ lichkeiten anderer Milieus konkret wahrgenommen werden können. Die konkreten Konfrontationserfahrungen beginnen beispielsweise bereits mit der Wortwahl in Aussagen, deren Klang und Ton, sowie der Geschwindigkeit, dem Rhythmus sowie der Art und Weise von Gesten und Handlungen, die häufig von gewissen Erwartungen und Interessen begleitet entgegenkommen können. Streng gesehen kann jede Wahrnehmung ein Ort derartiger Konfrontation verschiedenster Gefühlshabitualisierungen sein. Bereits dort, wo sich ein Mensch in seiner Umgebung befindet, ist eine Interaktion und ein Fühlen mithilfe von gewissen Selbstverständlichkeiten am Werk – sei es bewusst oder unbewusst.215 Fūdo ist im Bereich der japanischen Philosophie von Watsuji Tetsurō (1889–1960) als ein Kernkonzept bestimmt, in dem die konkreten Einzelheiten der Umgebung eines Menschen, in der er oder sie groß geworden ist und sich gerade befindet, als funda­ mentale Mitgestalter jedes einzelnen Menschen betrachtet werden: All die Eigen­ schaften der Erde, der Luft, des Klimas, inklusive der geographischen Topographie, sowie die Landschaft, welche einen – bewusst oder unbewusst – prägen und mitbe­ stimmen können. Vgl.: Berque: « Étendre ma et aida à la logique et aux sciences dures? – vers un paradigme de la raison sensible – suivi de la pensée japonaise du point de vue de la médiance », in: Ma et Aida – des possibilités de la pensée et de la culture japonaise, 2021, S. 9–29. Sowie Fujita: »Watsujitetsurō fūdoron no kanōsei to mon­ daisei « (和辻哲郎風土論の可能性と問題性) in: Nihon tetsugakushi kenkyū dai ichi gō (日本哲学史研究第一号), 2003, S. 1ff. Siehe auch: Watsuji: Watsuji Tetsurō Zenshū 8 (和辻哲郎第八巻), 1977, S. 1–256. 213 Vgl.: Yamaguchi (2004): S. 52f. 214 Hierzu siehe: Yamaguchi (1997): S. 92. Siehe auch: Ogawa (2000): S. 124f. 215 Hierzu kann der Hinweis auf die »Alltäglichkeit« als »ausgezeichnete Wirklich­ keit« bei Alfred Schütz (in Anlehnung an: Der Verlust der natürlichen Selbstverständ­ lichkeit von Wolfgang Blankenburg, 1971) relevant sein, worauf hier jedoch nicht wei­ ter eingegangen werden kann. Vgl.: Schütz: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, 1971, S. 263. Vgl. auch: Kimura (2005): S. 26.

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2.3 Schritte zur Methode

Die kulturellen Milieus, denen wir teilweise die Funktion unseres alltäglichen Interagierens mit anderen Menschen verdanken, sollten jedoch nicht als die unveränderliche Form oder Substanz »essentiali­ siert« werden.216 Denn so kann die Gefahr bestehen, uns in einem Denkschema zu verfangen, in dem viel zu viele Phänomene, die doch immer schon da sind und uns etwas mitteilen könnten, wie ein Tabu ausgeblendet werden oder bleiben können; als wären wir unfähig, eine Art und Weise des Fühlens, die wir im Werdegang des Menschen einmal erlernt haben, vertiefen, erweitern, erneuern, oder gar in Frage stellen zu können. Als wäre die Art und Weise des Fühlens eine unveränderliche Metallform oder Metallbrille, von der aus oder durch die man sich und die Welt wahrnimmt, erlebt und fühlt, sodass man alles, was man durch diese Brille nicht sehen kann, als »nichtexistent« ansieht. In diesem Zusammenhang sehe ich eine besondere Wichtigkeit darin, die Erlernbarkeit des Fühlens erneut hervorzuheben, sei es anhand einer natürlichen Sprache, sei es durch das Überqueren der Grenzen verschiedener natürlicher Sprachen. Stalfort verwendet den Ausdruck »Emotionalisierung von Fühlereignissen«217 und legt ihren Fokus auf den »Prozess des Erlernens von Emotionalität«218. So beschreibt Stalfort die »Emotionalisierung des Fühlereignisses«, die sie als Grundbasis unseres Fühlen-Könnens in der Kulturalität ansieht, folgenderweise: Intuitiv würde man vermuten, dass mit dem Begriff Fühlereignis bereits die Emotionen ›Freude‹, ›Trauer‹, bzw. (engl.) ›anger‹ oder ›disgust‹ und viele andere angesprochen sind. Diese Annahme wird nahe gelegt durch die Vorstellung, schon in den Fühlereignissen seien charakteristische Qualitäten vorhanden. Doch wie oben ausgeführt wurde: Emotionen und/oder Gefühle sind bereits Teil einer Auswahl von Fühlereignissen aus einem größeren Spektrum. Ihnen wurden bereits Bewertungen beigeordnet, und sie sind in kulturelle Zusam­ menhänge eingebettet. Zwar beruhen Emotionen und Gefühle auf Fühlereignissen – ohne Fühlereignis keine emotionale Erfahrung – doch reicht das bloße Vorliegen eines Empfindens nicht aus, dass von einem ›Gefühl‹ oder einer ›Emotion‹ gesprochen werden kann. Erst nach der Emotionalisierung von Fühlereignissen – ein Prozess, der im

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Mall (2013): S. 15. Stalfort (2013): S. 82. Ebd.

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2. Ki und Fühlen

Folgenden erläutert wird – treten Gefühle als komplexes Geschehen aus (1) Empfindungen, (2) gerichteten Handlungsimpulsen und (3) kognitive Szenarien in unser Bewusstsein.219

Verschiedene Empfindungen und Pulse werden nach der Art und Weise jeweiliger Kulturalisierung eingeprägt, damit erkannt werden kann, um welche Gefühle es sich handle, mit welchen soundso umzugehen sei, obschon es sich dabei – durch eine andere Brille bzw. von einer anderen Kultur aus gesehen – um andere Gefühle handeln kann. Fühlerlebnisse bzw. Empfindungen werden – gut oder schlecht – in kulturell unterschiedliche Gefühlsformen eingebracht. Dies scheint einerseits zum Lernprozess in der Kindheit zu gehören, durch den erlernt wird, wie man sich verhält und wie man sich in welchen Situationen fühlen soll. Dies erzeugt habitualisiertes Wissen dazu, in welchen Situationen welche Gefühlsbegriffe zu welchen Empfindungen relevant sind, was in der überindividuellen Ebene auf Bezüge zum Fühlen in einer Sprachkultur tradiert werden kann.220 Mit dem »Prozess des Erlernens von Emotionalität« beschreibt Stalfort, auch die pädagogische Perspektive mit berücksichtigend, dass und wie es den Kindern beizubringen sei, Fühlen zu erlernen und dies zu artikulieren:221 Damit aus Empfindungen »Gefühle« werden, bedarf es eines kulturel­ len ›Trainings‹, eines Lernvorgangs, der darin mündet, dass Fühlerer­ eignisse den von der Kultur bereitgestellten Begriffen und Konzeptio­ nen entsprechen. [...] Die Emotionalisierung setzt in der Regel in der frühesten Kindheit ein, denn noch vor dem Erwerb der Sprache wird der spontane Ausdruck von Emotionalität kulturellen Wertmaßstäben ausgesetzt: Äußerungen werden beachtet oder missachtet, toleriert oder gefördert, übersehen oder beantwortet. Mit Einsetzen der Sprech­ fähigkeit werden Kinder dann – zumindest in unserer Kultur – stetig und kontinuierlich mit Fühlanleitungen versorgt. Ein weinendes Kind wird gefragt: »Bist du traurig?«, »Tut dir etwas weh?«, »Hat dich jemand geärgert?« Es werden Angebote gemacht, über das zu sprechen, Stalfort (2013): S. 80f. Dies verknüpft sich sicherlich mit dem Gesuchten in der Methode der linguistic phenomenology J. L. Austins. Hierauf wird in Kapitel 2.3.8 ausführlicher eingegangen. 221 An dieser Stelle wäre es interessant, sich auf eine Studie zur Art und Weise, wie die Eltern ihren Kindern die Emotionsbegriffe beibringen, zu beziehen. Stalfort nennt das Beispiel aus Deutschland, dass die Eltern die Kinder fragen, ob sie traurig sind, ob etwas ihnen weh tut oder ob jemand sie geärgert habe etc., damit sie lernen, wie ihr unsortierbares Fühlen in Worte gebracht werden könne. Vgl.: Stalfort (2013): S. 83. 219

220

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2.3 Schritte zur Methode

was gefühlt wird, und es wird vermittelt, was ›normal‹ ist und ›nicht normal‹ ist. In Liedern, Reimen, Geschichten und Märchen erfahren die Kinder, was es an emotionalen Möglichkeiten gibt, was als erstrebens­ wert gilt und welche (emotionalen) Ziele es zu erreichen gilt.222

Ferner weist Stalfort hin: »Damit aus Fühlerlebnissen Emotionen und Gefühle werden, muss die Aufmerksamkeit auf das Empfinden selbst gerichtet werden. Es muss angesprochen werden, ihm muss eine Ursache zugeordnet und ein Sinn beigelegt werden. Unterschied­ liche Empfindungen müssen auf einen Begriff gebracht werden.«223 Ohne diesen Prozess scheint das Sprechen vom Fühlen bzw. von der Realisierung einer Emotion als solches nur schwer zugänglich zu sein. Zur gleichen Zeit ist es nochmals zu betonen, dass die Kulturali­ tät der Gefühle verschiedenes Fühlen erschließen aber auch zudecken kann.224 Innerhalb einer Sprachkultur wird Stalfort zufolge erlernt und geübt, zu erkennen, welche Gefühle wünschenswert seien und welche es zu vermeiden gelte, auch wenn die Erfahrung der Empfin­ dungen sowie der Umgang mit den konkreten Gefühlen bei jedem Individuum immer partikulär bleiben: Die Emotionalisierung von Empfindungen erschöpft sich allerdings nicht allein in ihrem Bewusstwerden – zu wissen, was man gerade fühlt und wie man es benennen kann, ist eine sehr viel komplexere Angelegenheit, denn wie oben bereits dargelegt wurde, sind ja nicht alle Empfindungen als »Gefühl« zu betrachten: manche Fühlerlebnisse werden als »Gefühle« oder »Emotionen« thematisiert, andere als Stimmungen, als Affekte etc. Es muss gelernt werden, welche Empfin­ dungen zu vernachlässigen, und welche hervorzuheben sind, welche als wünschens- und erstrebenswert gesehen werden – und welche Ebd.: S. 82f. Stalfort nennt hierzu ein Beispiel: »Was fühlt ein (Kindergarten-)Kind, wenn ihm gerade der Bus, der ihn mit seinen Freunden zum Spielen in den Wald bringen soll, vor der Nase wegfährt? Viele Impulse zeigen sich, und sie vermengen sich zu einem komplexen Ganzen: Das Kind schreit und schimpft, es weint und schlägt die Türen, es will allein sein, und doch wieder nicht ... Es zeigen sich Elemente der Wut, des Zorns, der Enttäuschung, der Trauer, der Ungläubigkeit. Nicht auf alle Elemente wird der das Kind betreuende Erwachsene in gleicher Weise reagieren: manche Elemente wird er kooperierend beantworten: Vielleicht wird er auf die Tränen tröstend reagieren, schroff dagegen auf das Türenzuknallen, er wird sich verbitten, angemotzt zu werden. In einem Gespräch wird er dem Kind vielleicht erklären, was gerade in ihm vorgeht, er wird ihm deutlich machen, was ,Enttäuschung‘ ist, und dass es sinnvoll ist, Enttäu­ schungen zu vermeiden [...].« Stalfort (2013): S. 83f. 224 Hierzu siehe auch: Kapitel 2.3.2. 222

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es zu vermeiden gilt. Und vor allem muss gelernt werden, Empfin­ dungen, – und Handlungsimpulse nach einem kulturellen Schema zu kontrollieren. [...] Es ist vor allem eine Frage der Kultur, welche Fühlereignisse emotionalisiert werden, und mit welchen Handlungen und körperlichen Symptomen sie verknüpft sind. Trotzdem ist das Lernen des kulturellen Wahrnehmungsschemas weit davon entfernt, eine »Dressur« oder ein »Aufoktroyieren« zu sein, denn es ist dem Kind ein Bedürfnis zu lernen. Analog zum Farbensehen schafft dieses Lernen Ordnungen, die eine Orientierung in der Welt erleichtern und das Einleben in die Gesellschaft ermöglichen.225

Es kann und muss also zunächst erlernt werden, welche Empfindun­ gen als mit welchen Handlungen und körperlichen Veränderungen verknüpft verstanden werden. Die Erfahrungen im Horizont des ki-Wortfelds, welche in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden, lassen sich somit als ein Interpretationsbeispiel einer Kulturalität verstehen. Sie sind leibliche Regungen, Bewegungen, Empfindungen und Aufmerksamkeiten, die »als« dies und das in Japan habitualisiert, praktiziert und weitergegeben zu werden scheinen. Ohne den Lernprozess der kulturellen Emotionalisierung von Empfindungen kann ein Kind in eine Orientierungslosigkeit geraten, unter ganz vielen verschiedenen Empfindungen und Pulsen leidend, ohne zu wissen, wie es mit diesen umgehen soll – möglicherweise auch unwissend, dass es gerade »leidet« sowie dass es Umgangswei­ sen hiermit überhaupt gäbe. So ist es notwendig, dass man einmal in seinem Werdegang in einer Gesellschaft kulturalisiert wird: zu lernen, wann und wie man sich weswegen fühlt, auch wenn jegli­ che kulturelle Emotionalisierungsweise von Empfindungen andere Emotionalisierungsweise(n) zudecken oder abstrahieren kann. Dieser Prozess ist ernst zu nehmen und im Auge zu behalten, damit die weitere Erlernbarkeit des Fühlens auch bei Erwachsenen ans Licht gebracht wird. Dies gehört zum Bereich der Selbstbildung bzw. der Selbstkultivierung und ist damit mit einer gewissen Gestaltbarkeit des eigenen Fühlens verbunden – weiterhin zu lernen, was für Empfin­ dungen es noch in sich und der Welt gibt, die der eigenen derzeitigen Präzisionskapazität entweichen, wie diese dennoch anzuerkennen, wahrzuhaben, und zu differenzieren sind. Möglicherweise steckt dort in dem Weg ein Schritt zu einem möglichen Umgang auch mit den

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Stalfort (2013): S. 82ff.

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2.3 Schritte zur Methode

Gefühlen, die häufig als »unkontrollierbar« sowie »nicht wünschens­ wert« verurteilt wurden oder werden können.

2.3.4 »Koordinierung« und »Umschreiben« der Gefühle bei Agnes Heller Stellen wir uns eine Situation vor, in der man sich fremd fühlt. »Ich fühle mich fremd« – diese Aussage trifft man in der Regel unter der Bedingung, dass man weiß, dass man sich gerade »fremd« fühlt. Zugleich heißt dies, dass man es gelernt hat oder irgendwoher weiß, was es heißt, sich fremd zu fühlen. Trotz der Variabilität in der persönlichen Ebene der Vorstellung dessen, was das »sich fremd fühlen« heißt, ändert es sich kaum, dass man in der Regel entweder wissen oder können muss, (was es heißt,) sich fremd zu fühlen.226 Diese Dimension des Fühlens und des Wissens vom Gefühl steht sicherlich nahe zur »Emotionalisierung von Empfindungen« bei Stal­ fort.227 Es handelt sich hier jedoch mehr um die persönliche Ebene im Erleben der Fühlereignisse. Agnes Heller führt die »Koordinierung« der Gefühle im ersten Kapitel »Phänomenologie der Gefühle« ihrer Schrift Theorie der Gefühle folgenderweise ein: Die »Koordinierung« von Gefühl und emotionellem Begriff kann auf zweierlei, entgegengesetzten Wegen vonstatten gehen. Der erste Weg ist: der emotionelle Begriff ist da (ich kenne ihn), das Gefühl habe ich aber noch nie empfunden. Ich beziehe das sich in mir entwickelnde Gefühl auf den schon bekannten emotionellen Begriff, mit ihm »koor­ diniere« ich es. [...] Es gibt aber auch einen anderen Weg für die »Koordinierung« der Emotionen und emotionellen Begriffe: wir fühlen etwas, wissen aber nicht, was es ist: wir suchen nach den Begriffen, die zu unseren Gefühlen »passen«.228 226 Bei Agnes Heller würde diese Unterscheidung der Formen des »Wissens« »kno­ wing-what« und »knowing-how« von Emotionen heißen. Nach ihr heißt das »FühlenLernen« »eine Einheit von beiden; so bedeutet letztlich das Lernen des ›Gerührtseins‹, die Fähigkeit des Gerührtseins auszugestalten und zugleich zu wissen, daß man gerührt ist (ich vermag gerührt zu sein und ich weiß, daß ich gerührt bin)«. Vgl.: Heller (1981): S. 184. 227 Stalfort (2013): S. 82f. (Siehe auch das Kapitel 2.3.3.). 228 Zur Wortwahl der »Koordinierung« erwähnt Heller das Wort »koordinat«, das sie aus der Geometrie entlehnt. »Emotion und emotioneller Begriff können nämlich nie deckungsgleich (da jede Emotion auch individuell idiosynkratisch ist), nur koordinat

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2. Ki und Fühlen

Es kann diese »»Koordinierung« von Gefühl und emotionellem Begriff« so nah am zuerst genannten Weg, relativ automatisch in der Hinsicht geschehen, dass man selbst kaum oder nicht nach dem »passenden« Begriff suchen muss. Daneben muss es auch möglich sein, dass sich das Bild eines Emotionsbegriffs ändert, dadurch, dass man soundso Fühlereignisse erlebt hat. Heller nennt verschiedene Möglichkeiten hierzu: […] [E]s ist möglich, daß das Gefühl plötzlich in mir »aufbricht«, ich kann es nur schwer und langsam mit dem schon bekannten Begriff identifizieren; es ist möglich, daß ich mich nach der – mit dem Begriff bezeichneten – Emotion sehne: ich achte in mir darauf, ob sie entsteht, ich forciere ihre Herausbildung, willentlich bringe ich mich in Situationen, die ihre Entstehung ermöglichen etc. [...].229

Auf der anderen Seite kann es heißen, dass auch die Möglichkeit besteht, dass das Fühlen von Zeit zu Zeit falsch koordiniert wird, wenn die »Koordinierung« der Gefühle und Begriffe auch »automatisch« verlaufen kann. Man kann (sich) im Nachhinein (hinter)fragen, ob das stimmt, dass man sich zu einer Zeit »soundso« gefühlt hat. Ein Versuch erneuter »Koordinierung« von erlebten Gefühlen kann auf diese Weise jederzeit angestoßen werden. Heller betrachtet jedes Füh­ len als einen »Konkretisierungsprozess.«230 Hinsichtlich der erneuten »Koordinierung« sowie »Konkretisierung« der eigenen Gefühlserfah­ rungen bezieht sich Heller auf die folgenden Beispiele: Das »ich liebe ihn« wird zerlegt: ich sympathisiere mit ihm, ich bin ihm zugeneigt, ich fühle Freundschaft ihm gegenüber, ich schwärme für ihn, ich achte ihn hoch etc. Das ›ich bin schlecht gelaunt‹ wird ebenfalls zerlegt: ich bin traurig, ich habe Kummer, es tut mir im Herzen weh, ich bin verzweifelt, etwas quält mich, ich bin zerfahren etc. Es entsteht das Gefühl, daß ich meine Gefühle nicht in all ihren Nuancen auszudrücken vermag; der Prozess des Umschreibens der Emotion fängt an.231 sein.« Jedes Erlebnis kann sicherlich das Bild (oder die Bilder) der »Koordinate« stück­ weise ändern, genauso wie jeder Begriff und jedes Wort jedes Fühlen unterschiedlich schneiden oder formen kann. Heller (1981): S. 167, 170. Hervorh. i. O. 229 Heller (1981): S. 168. Dies fasst Heller folgenderweise zusammen: »Einerseits kennen wir mehr Emotionen als wir fühlen, andererseits fühlen wir oft etwas, ohne zu wissen, was es ist, ohne es benennen zu können. Bei den Emotionen gibt es also Wissen ohne Können und Können ohne Wissen.« Ebd. 230 Ebd.: S. 169. 231 Ebd.: S. 171. Auf die Umschreibung des Gefühls wird ausführlicher in Kapitel 5.1 eingegangen.

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2.3 Schritte zur Methode

So kann theoretisch jederzeit unser Fühlen »umschrieben« werden. Dies kann einerseits damit einhergehen, dass man in jeder Sekunde wiederum neuen und partikulären Empfindungen ausgesetzt ist und dass diese einzelnen Fühlerlebnisse stetig durch die »Koordinierung« im Horizont der derzeit zugänglichen Gefühlsbegriffe u. a. wiederum relativiert werden können. Es kommt andererseits auch zustande, dass im »Koordinieren« der Gefühle ein weiteres oder sekundäres Gefühl entwickelt wird, indem man aufmerkt, dass sich die Vokabel, die einem gerade vertraut und zugänglich ist, sich nicht ganz dem aktuellen Fühlen gerecht anfühlt.232 Dies kann wiederum dazu beitra­ gen, andere oder neue Artikulierungsweisen zu suchen und sich auf diese Weise mit neuen und alten Gefühlen langatmig, aber auch mutig zu konfrontieren – wodurch der individuelle Erfahrungshorizont, der keineswegs von den Selbstverständlichkeiten getrennt betrachtet werden muss,233 erweitert, deformiert, reformiert oder einfach trans­ formiert werden kann. Denn diese Selbstverständlichkeiten lassen sich in der Ebene des individuellen Sprachgebrauchs erblicken, der sich potenziell stetig verändern kann. Selbst ein Ausdruck wie »mir geht es gut«, der einem so selbstverständlich und vertraut klingt, kann einem im Laufe des Lebens immer unterschiedlichere Bilder aufzeigen. So ändert sich im Laufe des Lebens nicht nur der Signifikant (signifiant), der zum Erzählen, Sprechen und Schreiben von Gefühlen auftaucht, sondern auch das Signifikat (signifié) eines sprachlichen Ausdrucks. Der Lernprozess der Artikulierung des Fühlens gehört also nicht nur den Erwachsenwerdenden. Auch die Erwachsenen lernen stetig neue Empfindungen, neue Arten und Weisen des Fühlens, sowie einen neuen Umgang mit diesen. Genauso wie man jeden Tag unterschiedliche Himmelsfarben vor Augen sieht, begegnet man jeden Tag oder in jeder Sekunde unterschiedlichen Empfindungen, 232 Auf die Frage, ob sich dieses gefühlsnahe Urteil ein »Gefühl,« eine Art »Auf­ merksamkeit« oder sonstige geistige Instanz oder Dynamik nennen lässt, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Im alltäglichen Sprachgebrauch würde es sich hier um eine Art »Sprachgefühl« handeln. In der linguistic phenomenology von J. L. Austin, welche in Kapitel 2.3.8 eingeführt wird, handelt es sich um eine Methode zur Suche nach »Wortbedeutungen«, in deren Prozess jedoch »awareness of words« »geschärft« werde. Diese »awareness« könnte an dieser Stelle relevant sein. Austin (1961): Ebd. S. 130. 233 Das, was hier mit »Erfahrungshorizont« gemeint ist, gehört sicherlich mindestens teilweise zur »natürlichen Einstellung« in der husserlianischen Phänomenologie, stimmt jedoch sicherlich nicht komplett hiermit überein. Vgl.: Husserl (1976): S. 60f. (Hua III/1 § 30)

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2. Ki und Fühlen

die immer fort neue Formen von Gefühlen wie Traurigkeit oder Sehn­ sucht, aber auch von Freundschaft oder Liebe bilden können. So ent­ wickelt sich der Lernprozess des Fühlens immer fort, nicht nur durch Kunsterfahrungen, im Zuhören der Erzählungen von Anderen oder im konfrontativen Gespräch mit den lebendigen Anderen, aber auch einfach im Erleben von sich selbst. Der prozesshafte Aspekt im Fühlen, der sich stetig als Fühlenlernen oder Fühlen-Kennenlernen zu entfal­ ten scheint, muss ernsthaft in Betracht gezogen werden, auch damit die vorgestellte Kulturalität des Fühlens nicht essentialisiert oder ver­ absolutiert werden muss.

2.3.5 Individualität und Partikularität des Fühlens Nach diesen Erläuterungen zum Fühlen und den verschiedenen betei­ ligten Ebenen gelangen wir nun dazu, kurz den Blickwinkel auf die individuelle Ebene von Fühl- und Sprechweise zu lenken. Wenn die Kulturalisierung eines Menschen, zu verstehen wie eine Einübung in die Sozialisierung, die mit dem Erwerb der Sprachfähigkeit einher­ geht, im Allgemeinen zum Prozess des Erlernens und Erziehens (auch im Sinne des Sich-Bildens) gehört, kann eine Ent-kulturalisierung von Fühl- und Sprechweise genauso möglich sein.234 Das Wort »Entkulturalisierung« zu verwenden, scheint nicht wirklich angemessen, da jeder Mensch in den meisten und häufigsten Fällen – auch zum Glück – mit einer oder mehreren Kulturalisierungsform(en) erzogen wird. Dies ermöglicht erst, auch die Frage zu stellen, ob die Gefühle, die einen gerade zu betreffen scheinen, einfach nur aus einer oder mehreren verwandten Kulturalisierungsform(en) herrühren, d. h. ob ein anderes Fühlen derselben Empfindung möglich wäre.235 So handelt es sich hier möglicherweise um eine Reflexion der »Koordinierung« der Gefühle, die von Zeit zu Zeit auch reflexartig, ohne diese bewusst zu bemerken, am Werke sein kann. 234 Im Prozess dieser »Ent-Kulturalisierung« könnte ein Teil des von der Phänome­ nologie beabsichtigten Ansatzes der Epoché erblickt werden, in dem Sinne, dass in der Epoché versucht wird, jegliche beurteilende Dispositionen in Klammern zu setzen, welche oftmals mit der erlernten Kulturalisierung und Sozialisation in der Gesellschaft, in der man groß geworden ist, eng verbunden sein können. 235 Diese Frage steht natürlich der Fragestellung nahe, ob eigenes, jetziges Fühlen in diesem Hier-und-Jetzt wünschenswert ist, welche mit weiteren Fragen des zwischen­ menschlichen Lebens und der Ethik, verbunden ist.

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2.3 Schritte zur Methode

So lässt sich nun die Möglichkeit der De-Habitualisierung des Fühlens erblicken, die mit Konfrontationen mit verschiedensten ein­ zelnen Gefühlen einhergehen kann. Denn die einzelnen Gefühle können – gut oder schlecht – sowohl von der erlernten Kulturalität der Gefühlsartikulierung als auch von der persönlichen Fühlgewohn­ heit (wie Disposition) geprägt sein.236 Dies kann sowohl in Form einer bewussten Auswahl der Gefühle, die eher bewusst getroffen bzw. eingeübt wird, als auch im Zuge eines natürlichen Vorgangs geschehen. Die De-Habitualisierung bzw. Transformation von Fühlund Sprechweise(n) kann auch, gewollt oder ungewollt, ohne jeg­ liche Intention (zur Reflexion) jederzeit geschehen und im Laufe des Lebens mit verschiedensten Änderungen der Lebenssituation einhergehen. Heller schreibt beispielsweise vom »Vergessen« von Gefühlen folgenderweise: Das emotionelle Vergessen ist also das Vergessen des Fühlen-Könnens, genauer gesagt das Vergessen der Fähigkeit, bestimmtes fühlen zu können, bestimmtes auf bestimmte Weise fühlen zu können und eine 236 Zu den Schlüsselworten »De-Habitualisierung« und »emotionelle Gewohnhei­ ten« kann das folgende Zitat von Heller herangezogen werden: »Auf die emotionellen Gewohnheiten beziehen sich nämlich immer allgemeine moralische Normen. Die Beurteilung emotioneller Gewohnheiten der anderen ist daher ein Kinderspiel. Unsere eigenen emotionellen Gewohnheiten sind zugleich ›fertige Tatsachen‹, diese haben wir schon gelernt. Hier beginnt der zweite Akt des Lernens der Gefühle: wir müssen erlernen, mit unseren emotionellen Gewohnheiten zu leben. [...] Es gibt Menschen, die nie ihre emotionellen Gewohnheiten behandeln lernen; die Folge ist ein permanenter Konflikt mit sich selbst, das permanente Schuldgefühl. Es gibt auch Menschen, die nur nicht-authentisch mit ihren emotionellen Gewohnheiten friedlich zu leben lernen: sie leben in Frieden mit ihnen, einerlei, ob sie gut oder schlecht sind. Es gibt Menschen, die authentisch mit ihnen zu leben lernen; die Bedingung dessen ist die kritische Selbsterkenntnis. ›Zusammen leben‹ ist nicht mit ›in Frieden leben‹ identisch. Ein Mensch lebt mit den, von ihm als positiv beurteilten, emotionellen Gewohnheiten in Frieden, und versucht gleichzeitig die als negativ beurteilten ›auszubalancieren‹. Dies bedeutet weder Ich-Spaltung noch permanentes Schuldgefühl. Es bedeutet aber das Vermeiden von Situationen, in denen seine negativen emotionellen Gewohnheiten in Erscheinung treten können, sowie die bewußte Regelung seines, den negativen Gewohnheiten entspringenden Verhaltens. [...] es bedeutet ferner, die Urteilsenthaltung in den Fällen, wo das Urteil aus emotionellen Gewohnheiten stammen könnte (›ich weiß, daß ich zu Depressionen neige; ich darf die Welt nicht aufgrund meiner Depression beurteilen‹): es bedeutet ferner, daß ich von anderen nicht erwarten darf, daß sie meine emotionellen Gewohnheiten teilen (›ich kann von meinen Arbeitskollegen nicht ver­ langen, meine Leidenschaft zu teilen‹).« Eigene Hervorh. Diese hervorgehobene Stelle könnte zur phänomenologischen Methode der Epochés relevant sein. Heller (1986): S. 177.

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2. Ki und Fühlen

bestimmte Weise fühlen zu können. Das Vergessen des Fühlen-Kön­ nens kann bewußt sein, kann schmerzlich und freudig bewußt sein, nachdrückliche Ja- und Nein-Gefühle können auf es bezogen sein; es kann freilich auch unbewußt sein: man kann die Gefühle vergessen und dabei kaum Kenntnis davon nehmen – als ob sie »unterwegs« verlorengegangen wären.237

Heller nennt dabei ein Beispiel aus der Erzählung Rothschilds Geige von Anton Tschechow: Ein »habgieriges« und »immer seine ›Verluste‹ zählendes« altes Ehepaar vergisst, dass es »einmal eine schöne Tochter gehabt« und »sie geliebt« hatte.238 Dies scheint – auch hoffentlich – ein seltener Extremfall zu sein. Es ist jedoch durchaus möglich, dass einem die emotionellen Begriffe wie z. B. Neid oder Hass in Form von Fühlen-Können zwar zugänglich sind, dass das Fühlen von Neid oder Hass aber so ein seltenes Phänomen wird, dass man es selbst zu fühlen vergisst. Heller fasst ihre Position so zusammen: »Solange ein Gefühl noch nicht zur emotionellen Gewohnheit wird, kann es – pro oder kontra – vergessen werden, und auch endgültig in Vergessenheit geraten.«239 Da sich jeder Mensch an jedem Ort und in jeder Zeit partikulär befindet, steht er unter stetiger Verwandlung – angefangen mit dem täglichen Wetterwechsel bis hin zum Wechsel des Wohnorts sowie der Mitmenschen aus der eigenen Umgebung. Das jeweilig neu entstehende Fühlereignis, das all die Verwandlung ausmacht, kann immer schon aufgrund von dessen Partikularität zur De-Hab­ itualisierung bestimmter Gefühle beitragen. Zur gleichen Zeit kann das Erlebnis des neuen Gefühls wiederum zu einer Intensivierung des bereits erlebten Gefühls führen, obschon diese Intensivierung immer »erneut« zustande kommt.240 So kann das Fühlen der Liebe – gleich ob dies eine freundschaftliche, romantische oder familiäre Liebe betrifft – immer unterschiedliche Gesichter und Intensitäten zeigen, und dies jedes Mal, wenn einem bewusst wird, wie und dass Heller (1981): S. 186. Ebd. 239 Heller (1981): S. 187. 240 Auch dies scheint der Möglichkeit der »Koordinierung« sowie Artikulierung des Fühlens zu verdanken zu sein. Heller spricht davon, dass eine »Pflege der Gefühle« nötig sei, damit bestimmte Gefühle nicht in Vergessenheit geraten. In der vorliegen­ den Arbeit wird eine ästhetische Dimension in der Artikulierung des Fühlens ans Licht gebracht, welche sich sicherlich mit dieser »Pflege der Gefühle« verknüpfen lässt. Vgl.: Heller (1981): S. 186f. 237

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man den Anderen liebhat. Es ist somit auch in gewisser Hinsicht ein stetig neues Erlebnis, das sich in jedem Hier-und-Jetzt unterschiedlich entfalten kann. Es kann häufig der Fall sein, dass sich die Art und Weise von beispielsweise der Liebe zwischen Kind und Eltern im Laufe des Alterungsprozesses von beiden völlig transformiert. Auf diese Weise wird die Partikularität jeden Fühlens von Hel­ ler ans Licht gebracht. Sie ist sicherlich etwas, was erst durch die Erlernung der Kulturalität, die Praxis der Kulturalisierung sowie das generelle Vorhandensein überhaupt der Gefühlsbegriffe erkennbar wird. Heller erkennt einen Grund für diesen Umstand im idiosynkra­ tischen Charakter des Fühlens: Da die Emotionen als Gefühle die Relationen mit beinhalten, da sie so sehr idiosynkratisch sind, gerade deshalb kommt es oft vor, daß man im Fall der Emotionen nicht weiß, was man eigentlich fühlt. Und gerade da die Kognition einen organischen Teil des Gefühls selbst bildet, ändert sich die Gefühlsqualität dann, wenn man erkennt, was man fühlt. […] Gerade wegen ihres situativ-kognitiv-idiosynkratischen Charakters stehen uns prinzipiell nicht genügend emotionelle Begriffe zur Verfügung, um sie [Emotionen] auszudrücken, wir könnten sie nur annähern, wenn wir sie unter Begriffe ordnen. Deshalb versuchen wir sie immer wieder zu umschreiben – oft auch auf verschiedenste Weise. Deshalb können wir die Bedeutungen aus den »Zeichen« des anderen nie sicher – nur pragmatisch genügend – herauslesen.241

Die Emotionen als Erfahrungen beinhalten die »Relationen«. Diese sind hier zu verstehen als die gefühlte Nähe und Distanz zu einzelnen Menschen, Dingen, aber auch zur Umgebung sowie zur situativen Stimmung und Atmosphäre. Da diese immer variieren, variieren genauso die gefühlten Emotionen. Der Hinweis auf den idiosynkrati­ schen Charakter des Fühlens macht deutlich, dass man – auf unver­ meidliche Weise – jedes Fühlen jeder Sekunde neu empfinden und fühlen kann. Ebenso lässt sich im idiosynkratischen Charakter des Fühlens die stetige Erlernbarkeit des Fühlens – auch der Erwachsenen – erblicken.

241

Heller (1981): S. 130. Hervorh. i. O.

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2.3.6 Aufmerken und Aufmerksamkeit am Fühlen Unabhängig von dem Maße, wie idiosynkratisch und partikulär jedes Fühlen sich ereignet, scheint es nicht bestreitbar zu sein, dass das Aufmerken sowie Gewahr-Werden242 von der Partikularität neuer Empfindungen sowohl auf das Entstehen einer Aufmerksamkeits­ verschiebung darauf, als auch auf dessen aktive Bewusstmachung folgt.243 Merleau-Ponty stellt dies pointiert dar: »Aufmerken ist nicht lediglich, zuvor schon Gegebenes klarer ins Licht zu setzen; vielmehr ist es die Leistung der Aufmerksamkeit, solches Gegebene ursprünglich gestalthaft zu artikulieren [...]. Vorgebildet sind die Gestalten allein als Horizonte, sie konstituieren im Ganzen der Welt eine durchaus neue Region.«244 Zur gleichen Zeit betrachtet er eine gewisse Bestimmtheit in der Bewegung der Aufmerksamkeit selbst: »das wissende Nichtwissen einer noch ›leeren‹ und gleichwohl 242 Dies scheint der Erfahrung nahe zu stehen, die sich vom alltäglichen Sprachge­ brauch der japanischen Sprache aus gesehen zwischen »kizuku« ( 気づく) und »jikaku suru« (自覚する) bewegt. Das deutsche Wort »Gewahr-Werden« wird hier verwendet ohne einen direkten Bezug zu dem Ausdruck sowie dem Konzept des jikaku (自覚) Nishida Kitarōs, das im Zusammenhang mit sowohl der deutschsprachigen, philoso­ phischen Terminologie des Selbstbewusstseins als auch mit dem Phänomen des Erwa­ chens im Zen-Buddhismus steht. Es ist jedoch zu nennen, dass die Verfasserin auf den Ausdruck »gewahr« mithilfe der Übersetzung des Wortes jikaku (suru) in »Selbstge­ wahren« in der deutschsprachigen Übersetzung Nishidas von Elberfeld aufmerksam wurde. Vgl.: Elberfeld: Kitarō Nishida, Logik des Ortes – der Anfang der modernen Philosophie in Japan, 1999, S. 69 (markiert als 1999a). 243 Yamaguchi unterscheidet hierzu zwei unterschiedliche Formen der Aufmerksam­ keit: 1. Aufmerken von etwas als eine Folge der passiven Synthesis 2. Aufmerksamkeit als die Wirkung der aktiven Intentionalität. Vgl.: Yamaguchi (2004): S. 85. Im Japa­ nischen betrifft das erste kizuku ( 気づく) ein von alleine entstehendes Aufmerken auf Dinge, wohingegen das Letztere eher als eine Folge von einer relativ bewusst voll­ zogenen Aufmerksamkeitsverschiebung zu verstehen ist: ki o tsukeru (気をつける: ki heften (an etwas): auf etwas aufpassen). Es muss zur gleichen Zeit möglich sein, den Zusammenhang zwischen dem Körperwissen, der habitualisierten Kinästhesie und dem Fühlen (Empfinden) zu pointieren. Worte und Begriffe komprimieren die Bewe­ gungsschemata. Zur gleichen Zeit kann die Sprache auch dazu beitragen, im Sinne, dass sie leiblichen Bewegungen selbst Anregungen gibt, die eigene leibliche Kinäs­ thetik anders wahrzunehmen und somit zu transformieren. Ebd.: S. 83. Zum Begriff des Körperwissens sowie der Kinästhesie, welche als auf das leibliche Fühlen und Wissen basierend erklärt werden kann, siehe auch: Kaneko: Shintaichi no kōzō (身体 知の構造), 2007, S. 6ff., 143ff. 244 I. O.: Merleau-Ponty (1945): S. 38 (Fettdruck eigene Hervorh., kursive Hervor. i. O.). Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 51.

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schon bestimmten Intention, welches das Wesen der Aufmerksam­ keit ist.«245 Es gibt sicherlich verschiedene Ansätze, die auf die Frage einge­ hen, wieso einem gerade nicht A, sondern B aufgefallen ist, und es sind einige Dimensionen denkbar, anhand derer eine gewisse Position zu der Frage eingenommen werden kann. Eine denkbare Dimension der beobachtbaren Tendenz zur »Bestimmtheit« in der Aufmerksam­ keitsbewegung kann im Erlernten der Kulturalität erblickt werden, die mit dem Erwerb einer oder mehrerer Muttersprache(n) einhergeht. So gesehen kann es durchaus möglich sein, dass die Untersuchung der vorliegenden Arbeit im Wortfeld ki eine gewisse Tendenz in der Aufmerksamkeitsschiebung sowie -teilung der Sprecher:innen der japanischen Sprache sichtbar machen kann. Es ist darüber hinaus möglich, dass eine ähnliche Art und Weise der Aufmerksamkeitslen­ kung unter verschiedenen Sprecher:innen ohne Kenntnisse der japa­ nischen Sprache beobachtet werden kann. Außerdem muss stetig im Auge behalten werden, dass unter den Sprecher:innen der japanischen Sprache auch verschiedene Tendenzen in der Art und Weise der Auf­ merksamkeitsschiebung zu beobachten sind. Hier ist erneut darauf hinzuweisen, dass sich selbst eine Tendenz von Natur aus relativ, also individuell erweist und sich jederzeit in Transformation befindet.246 Das Aufmerken aller partikulären Empfindungen kann wie­ derum verschiedenste Begleitphänomene hervorrufen wie Überra­ schung, Gefühl von Angst oder Unsicherheit, Ekel oder Neugier. Es wäre nicht wunderlich, wenn all diese Empfindungen erkennbar oder wie bei Stalfort »emotionalisiert«247 werden, zunächst einmal anhand der einem bereits vertrauten, sowohl kulturell als auch individuell habitualisierten Emotionalisierungsformen.248 Es kann jedoch genau I. O.: Merleau-Ponty (1945): S. 36. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 49. Hier ist es äußerst von Bedeutung, diese eine »Bestimmtheit« als solche kei­ neswegs verabsolutiert zu verstehen, da sie selbst den stetig neu zukommenden, partikulären Fühlerlebnissen ausgesetzt bleibt und somit die Möglichkeit stetig offenbleibt, dass die Aufmerksamkeit von alleine woanders hingelenkt wird. Dies ist konträr zu einem Aufmerken rein aus Gewohnheit zu verstehen, wie dies in der deutschen Formulierung »auf etw. aufmerksam werden« bzw. »sich auf etw. aufmerksam machen« (ki o tsukeru: aufpassen) der Fall ist. 247 Stalfort (2013): S. 82f. 248 Empfindungen werden nach den Schemata der eigens kulturell und individuell erlernten Kulturalisierungsform emotionalisiert und im Vollzug des Aufmerkens bewusst. Dies kann psychologisch gesehen sicherlich zur Weitererhaltung der Sche­ mata beitragen sowie auch für eine bestimmte Form der Ichbildung (oder Identität an 245

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dort, wo eine Empfindung bewusst als neu erlebt wird, eine neue Emotionalisierungsweise aufkeimen. Dies kann einerseits durch ein Überqueren der Sprachwelt, oder, in Ludwig Wittgensteins Termino­ logie, des Sprachspiels249, in der oder in dem man sich befindet, so angeregt werden, dass einem beispielsweise plötzlich andere Wahr­ nehmungen und Empfindungen auffallen als zuvor. Andererseits darf die Möglichkeit nicht ausgegrenzt werden, dass das Aufmerken eines einzelnen partikulären Fühlerlebnisses jederzeit im alltäglichen Leben geschehen kann, auch wenn man keine Grenze der Sprachwelt und des Sprachspiels überquert und innerhalb einer natürlichen Spra­ che verbleibt. In dem Moment, in dem man sich fragt und einübt zuzuhören, wie sich das aktuelle Ereignis der Empfindung – ein seltsames oder kaum-etwas-sagendes Fühlen – doch auf eine Weise ansprechen lässt, kann bereits eine Suche nach einer Gefühlsartiku­ lierung beobachtet werden.250 Die Einübung des Zuhörens scheint einen Übergang zu erschließen, der dorthin führt, dass ein jeweiliges partikuläres Fühlen von alleine dazu kommt, sich zu artikulieren und differenzieren, auch wenn diese Artikulierung im Laufe der Zeit neue Formen über- oder annehmen kann. Oder aber, das Fühlen (bzw. dessen Artikulierung) lässt sich zunächst einmal ausschließlich als »irgendetwas« erkennen, was nichts Weiteres mitteilt: Mir ist etwas aufgefallen (oder auch: eingefallen). Denn das (Gewahren von) Empfinden von etwas kann immer auch eine neue Relationalität von sich selbst gegenüber dem Ereignis widerspiegeln. sich) relevant sein. Die Frage, ob die Weitererhaltung der einem vertrauten Ichform als das präferierte Motiv des Vollzugs des Sich-Befindens praktiziert wird oder nicht, kann nicht nur mit einer Ästhetik des Fühlens, sondern auch Ethik des Fühlens zu verknüpfen sein. 249 Wittgenstein (2015): S. 16, 56f., 269 (PU: § 7, § 66, § 654, § 655). 250 Es scheint generell zu gelten, dass man bei einer Auseinandersetzung mit einem Fühlerlebnis dann verschiedene Blickwinkel sowie Lebensformen (von Wittgenstein) gewinnen kann, wenn einem mehrere natürliche Sprachen zugänglich sind – es scheint so möglich zu sein, auszuwählen, wie man sich gerade von welchem Blickwinkel aus gesehen fühlt. Zur gleichen Zeit ist anzumerken, dass die Gefühlsgewohnheit gerade durch die Möglichkeit der »Favorisierung« der Lebensformen und »Habitusformen« eine bestimmte Tendenz entwickeln kann – unabhängig von der Frage, ob einem eine oder mehrere natürliche Sprachen zugänglich sind (Leeten (2019): S. 267). Auch innerhalb einer natürlichen Sprache sind verschiedenste Sprachformen (auch im Sinne von Lebensformen – je nach Kontext, Sozialschicht sowie geschlechtlichen Orientie­ rungen usw.) zu erkennen. So scheint auch die Notwendigkeit zu bestehen, eigene Gefühlsgewohnheit kritisch zu betrachten. Vgl.: Wittgenstein (2015): S. 21f., 26f., 145 (PU: § 19, § 23, § 241).

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Unabhängig von der Frage, ob die neu und einmalig hinzuge­ kommenen Empfindungen auch bewusst als »neu« erlebt werden können, sollte der Hinweis auf die Partikularität und Einmaligkeit jedes Fühlens vielmehr die Möglichkeit pointieren, dass auch die Art und Weise des Fühlens und Artikulierens bereits in der individuellen Ebene durch das immer neu zukommende Fühlen neu entdeckt, dehabitualisiert, erneut vertieft oder renoviert werden kann. Dort scheint es den Freiraum zu geben, um sowohl individuell als auch kollektiv zu üben und an der Art und Weise der Gefühlsbildung zu arbeiten, dies immer mit der Frage konfrontiert, wie sich ein jeweiliges Gefühl – sowohl ästhetisch als auch ethisch – artikulieren lässt.

2.3.7 Gefühls-Koordinierung am Körper und Leib Der Ansatz Hellers, durch ihre Beobachtung der Gefühlsbildung sowie Gefühlstransformation zwischen Gefühlsbegriffen und Fühlen einen Freiraum einzusehen, bietet die Möglichkeit, unsere Aufmerk­ samkeit auch auf die Erfahrung impersonalen Fühlens bzw. darauf, dass einem (noch) nicht klar ist, was man gerade fühlt, also auch auf die Erfahrung des »Rohen« und »Wilden« bei Merleau-Ponty zu lenken.251 Auch das Nichts-Sagende bzw. das »Schweigen« bei Merleau-Ponty in der Wahrnehmung und im Fühlen, das kaum Anzu­ sprechende als solches zu erkennen, kann – wie es bereits erwähnt wurde – eine Schwierigkeit bereiten, da dem Phänomen Worte fehlen. In diesem Bezug haben sich verschiedene Ansätze in europäischer Philosophie und Psychoanalyse der Bezeichnung »Unbewusstes« angenommen.252 Auch Begriffe wie »Fremdheit« oder »Alterität« sind als in diesem Bezug relevant zu bezeichnen.253 Die vorliegende Arbeit verwendet bewusst diese Vokabeln nicht, da die Möglichkeit doch besteht, dass das, was in der deutschsprachigen Alltagssprache dem Bereich des »Unbewussten« zugeschrieben wird, im japanischen Alltag durch und durch als zum »bewussten« Bereich zugehörig Merleau-Ponty (1964): S. 222. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 220. Siehe auch Kapitel 2.1. 252 Zum historischen Hintergrund der Etablierung des Konzepts des »Unbewussten« siehe: Dortier (2015): S. 60–68. 253 Siehe auch: Waldenfels (2019): S. 18–22 sowie S. 39–49. 251

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angesehen wird und umgekehrt.254 Auch dabei ist noch vorzumerken, dass sich der sogenannte »unbewusste« Bereich jedes Menschen individuell und relativ zu erweisen scheint. Im alltäglichen Japanischen spricht man häufig von kizuite‘inai (気づいていない: ki hat sich (noch) nicht geheftet / ki haftet (noch) nicht: etwas ist bei jemandem unbemerkt) sowie von kizukanakatta (気づかなかった: ki hat sich (an etwas) nicht geheftet: etwas nicht wahrgenommen/erkannt/aufgemerkt haben). Mit den Ausdrücken wird beschrieben, dass etwas »unbemerkt« ist oder einem »unbe­ merkt« blieb.255 »Aufgemerkt« oder »bemerkt« kann etwas nur dann werden, wenn es als selbstverständlich angenommen oder für selbst­ verständlich gehalten wird, dass dieses etwas (das Aufgemerkte) vor dem Redezeitpunkt bereits anwesend oder präsent war (gewesen sei), wodurch es möglich wurde, wahrgenommen, empfunden oder erkannt zu werden. Werden einmal die Unterscheidungsmöglichkeiten von Füh­ lerlebnissen und Empfindungen wie »Affekte«, »Orientierungs­ gefühle«, »Emotionen«, »Lebensgefühl«, »Stimmung«. »Laune«, »Leidenschaft«, »sinnliche Wahrnehmungen« etc. »in Klammern« gestellt, so könnte sich der Vollzug des Fühlens in manchen Fällen fol­ genderweise anfühlen: Es meldet sich etwas in mir oder um mich herum, aber ich weiß nicht, wie und was sich genau meldet. Es handelt sich hier um ein bewusstgewordenes Fühlen, das jedoch nicht als ein »was« oder nach »was« identifiziert worden ist. Zu diesem Prozess des Zuhö­ rens kann ebenso der Prozess des Erlernens von Fremdsprachen sowie des Spielens von beispielsweise Musik(instrumenten) in Parallele stehen. Diese Erfahrung kann eine Grundhaltung schaffen, um eine Zugänglichkeit zum Noch-Nicht-Erkannten bzw. zum Kennenlernen überhaupt zu schaffen: Man kann häufig bestimmte Laute einer 254 Es kann hierauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Zur Erwähnung der Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem Unbewussten im Japanischen und dem Unbewussten in anderen Sprachen wie z. B. im Deutschen kam die Verfasserin durch einen Hinweis von Nishihira Tadashi, einem Bildungsphilosophen und Forscher der Philosophie von Izutsu Toshihiko. Nishihira ist der Meinung, dass im »Unbe­ wussten« bei Carl Gustav Jung »die Sprache« keinen Raum habe, während Izutsu sowohl in der tiefen als auch oberflächlichen Schicht des »Unbewussten« einen Anteil der Sprache oder des Sprachlichen Einzug nehmen lässt. Vgl.: Nishihira: Izutsu Toshi­ hiko to nijū no mi (井筒俊彦と二重の見), 2021, S. 122. 255 Auf die Redewendungen »kizuku« sowie »ki ga tsuku« wird in Kapitel 4.1.4 näher eingegangen.

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Fremdsprache, welche in der eigenen Muttersprache nicht vorhanden sind, nicht einmal als Laute hören, bevor man die Laute zu reprodu­ zieren lernt. Im Erlernen des Spielens von Musik(instrumenten) sind es häufig verschiedene Differenzen in Tönen – nicht nur Tonhöhe, Tonfarben oder Klangfarben, sondern auch kleinste Unterschiede der Haptik des Tons in der Tonbildung (sonorité) – sowie die Rhythmik, die anfangs nicht hörbar, wahrnehmbar oder mitschwingbar sein kön­ nen, bevor diese wiederholt und gezielt erlernt und geübt werden.256 So scheint ein breites Spektrum im Erleben des Fühlens zu entde­ cken zu sein, das beispielsweise wie folgt differenziert werden kann: 1. Man weiß, was man fühlt, unabhängig von der Frage, ob diese Erfah­ rung des Fühlens zu einem späteren Zeitpunkt anders »zerlegt«257 werden kann; 2. man weiß zwar oder ist gewahr, dass man etwas emp­ findet und fühlt, aber (noch) nicht weiß, was man gerade fühlt; 3. ein Fühlen ist am Werk, ohne dabei bemerkt zu werden, dass man etwas fühlt und was man fühlt.258 Der dritte Vollzug des Empfindens und Fühlens kann im alltäglichen Sprachgebrauch im deutschsprachigen Raum zum »Vorbewussten« sowie »Unbewussten« gezählt werden und wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Terminus »impersonal« zu pointieren gesucht. Ein Ansatz der vorliegenden Arbeit berührt diesen Punkt: Auch der dritte Bereich des Fühlens ist im Wortgebrauch des ki im Erfahrungshorizont des ki inkludiert, sodass der Übergang zwischen dem zweiten und dem dritten relativ bleibt.259 Um auf die Perspektive des Übergangs einzugehen, wird jedoch der leibliche Voll­ zug des Fühlens und Wahrnehmens im weiteren Verlauf fokussiert. Es ist auch zu beachten, dass zwischen den drei Mustern des Fühl­ vollzugs noch mehr Differenzierungsmöglichkeiten entdeckt werden können, allein in der Hinsicht, dass manche Wahrnehmungen und Empfindungen, die in der vorliegenden Arbeit unter dem Stichwort »impersonales Fühlen« thematisiert werden, zu einem späteren Zeit­ punkt als deren Vollzug bemerkbar werden, also mit einer zeitlichen

256 Ein ähnlicher Prozess müsste auch in verschiedenen Körperpraktiken zu finden sein. Im Übrigen stammt der Wortgebrauch der Tonbildung (la sonorité) von Marcel Moyse: Enseignement Complet de la flûte par Marcel Moyse, 1934. 257 Heller (1981): S. 171. 258 Wie in Kapitel 2.1.1 hingewiesen wurde, kann eine mögliche Parallele hierzu in der Deutung des Erfahrungsbegriffs bei Ueda Shizuteru erblickt werden. Siehe auch: Ueda (2011): S. 135. 259 Hierzu wird insbesondere in Kapitel 4 eingegangen.

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Verschiebung »im Nachhinein« des Moments, in dem man wissend oder unwissend die Erfahrung macht.260 An dieser Stelle kann es besonders wichtig sein, anzusehen und anzuerkennen, was für eine Rolle der Körper sowie der Leib im Fühlen spielen: angefangen mit »Drive-Gefühlen«, aber auch andere Gefühle wie »Schmerz-Gefühl, Unlust-Gefühl, Wut«261 usw., welche sich bereits an der leiblichen Erfahrungsebene aufmerken lassen, aber auch die kulturellen Kodierungsformen anhand körperlicher Haltun­ gen. Gesten, und verschiedenste kleinste Bewegungen, die einem selbst nicht »bewusst« werden, können weiteres Fühlen entfalten lassen, einerseits mit und für sich selbst, andererseits intersubjektiv mit den und für die anderen Menschen, die sich mit einem selbst in einer geteilten Situation befinden.262 Das Fühlerlebnis des Atmosphärischen beispielsweise kann auf eine andere Art und Weise schwer zu präzisieren und anzusprechen sein, in dem Sinne, dass es auf einen selbst allzu unbemerkt wirkt, obschon es uns gewissermaßen auf ein bestimmtes Fühlen sowie Verhalten hin steuern kann.263 Die Kontur zwischen sich und der Atmosphäre ist wahrscheinlich kaum wirklich einzugrenzen – man Hierauf wird in Kapitel 4.3 anhand des japanischen Ausdrucks »kūki« ausführli­ cher eingegangen. Dazu wird noch der Aspekt des Bemerkens »im Nachhinein« in Kapitel 5.2.3 anhand noch eines anderen Ausdrucks »ki ga tsuku« (ki heftet sich: etwas bemerken) ans Licht gebracht. 261 Heller (1981): S. 163. Zur gleichen Zeit ist noch anzumerken, was für eine große Rolle die Sprache dabei spielt: »Bei den mit den Drive-Gefühlen verwandten Schmer­ zen ist es nicht das Gefühl selbst, was man erlernt, sondern in erster Linie ebenfalls die Identifizierung der Gefühle. Das Erlernen der Identifizierung stellt hier eine kom­ pliziertere Aufgabe, als im Fall der Drive-Gefühle; bei bestimmten Schmerztypen nämlich – bei denen die Fähigkeit zur Lokalisierung nicht angeboren ist – wird die Aneignung auch dieser Fähigkeit vorausgesetzt. Das entscheidende Moment des Erlernens der Lokalisierungsfähigkeit des Schmerzes ist die Verbalisierung: Alle Eltern sind erleichtert, wenn das Kind ihnen schon sagen kann, was und wo es ihm weh tut etc. Die annähernde Fähigkeit zur Lokalisierung des Schmerzes gehört zu den Bedingungen unserer Homöostase; die Aneignung der vollkommenen Lokalisierung ist nicht unsere Lebensbedingung, und es gibt auch Menschen, die sie nie erlernen können.« Heller (1981): S. 155. 262 In der vorliegenden Arbeit werden sowohl die Körperlichkeit als auch die Leib­ lichkeit keineswegs als etwas vom Erleben des Fühlens Getrenntes angesehen. Dies lässt sich in den Charakteristiken des ki-Wortfelds erkennen, die in Kapitel 3.3 ausführlicher zusammengefasst werden. 263 Vgl.: Böhme (2017): S. 39. Ein kleines Beispiel kann bereits in unserem Alltag erblickt werden: Manche Menschen reagieren (wie) tanzend oder (wenn auch dezent) summend auf eine laufende Musik, die eine bestimmte Stimmung im Raum schaffen 260

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2.3 Schritte zur Methode

ist getunkt in die Atmosphäre oder Stimmung des Ortes.264 Das Fühlerlebnis kann sich zwar auch vor Ort verbal präzisieren lassen, dies kann aber auch im Nachhinein erfolgen, nach all den Momen­ ten, in denen sich der eigene Leib bereits dem situativen Fühlen gemäß bewegt und verhalten hat: Der Körper fühlt und reagiert also auch von alleine.265 Er reagiert und regelt sich, der Lufttemperatur, dem Sonnenlicht oder der Lautstärke des Ortes gemäß.266 Er bleibt stetig bereit, auf situatives Interagieren verschiedenen Fühlens und Wahrnehmens in der Luft zu antworten. So kann das »Koordinieren« kann. Die Erfahrungsdimension des »in-der-Stimmung-Seins« wird in Kapitel 4.3 ausführlicher thematisiert. 264 Die Erfahrung der Atmosphären im Horizont des ki-Wortfeldes wird anhand der Analysen Hisayamas in Kapitel 4 ausführlicher behandelt. 265 In diesem Kapitel wird das Wort »Körper« zusammen mit »Leib« verwendet. Dies liegt nicht daran, dass die Unterscheidung nicht beachtet wird, sondern zielt vielmehr darauf ab zu fokussieren, dass es sowohl im alltäglichen Leben als auch im künstleri­ schen Bereich die Dimension der habitualisierten Leiblichkeit gibt, die über das Bewusstsein des eigenen Leibseins hinausgeht oder diesem zugrunde zu liegen scheint. Dies legt auch die Unterscheidung des »habituellen« und »aktuellen Leibes« (»corps habituel« und »corps actuel«) bei Merleau-Ponty nahe. In der deutschen Übersetzung von Rudolf Boehm wird das französische Wort »corps« trotz der Unverfügbarkeit des exakt gleichen Wortes »Leib« innerhalb der französischen Sprache mit »Leib« über­ setzt (vgl.: Merleau-Ponty (1966): S. 107. I. O.: Merleau-Ponty (1945): S. 89). Die beiden Dimensionen der Leiblichkeit bzw. das Körpersein und das Leibsein scheinen hier notwendig relevant zu sein. In Bezug auf die Leiblichkeit ist auf das geübte Stadion der menschlichen Leiblichkeit bzw. auf das Körperwissen hinzuweisen, das sich, ohne das die Bewegung des Körpers als solche »bewusst kontrolliert« werden muss, ent­ falten kann. Auch beispielsweise das vegetative Nervensystem, das sich sehr einge­ schränkt, auf eine indirekte Art und Weise durch Habitualisierung von Atem, Puls sowie Körperbewegungen beeinflussen lässt und ohne Vermittlung der Sprachfähig­ keit im Gehirn autonom funktioniert, könnte hierbei ein allgemeines Beispiel bieten. Das vegetative Nervensystem wird beispielsweise in Forschungen zur Trauma-Arbeit in der Psychosomatik auf eine sehr sinnvolle Art und Weise untersucht und entspre­ chende Übungen werden in verschiedenen Therapiearten angewendet. Vgl.: Fujiwara: »somatikku torauma shinriryōhōno tenkai/jissai: somatikku ekusuperiensu no bun­ myaku kara« (ソマティック・トラウマ心理療法の展開/実際: ソマティック・エ クスペリエンスの文脈から), in: Somatikku shinrigaku eno shōtai – shintai to kokoro no riberaru a-tsu o motomete (ソマティック心理学への招待 – 身体と心のリベラル アーツを求めて), 2015, S. 161, Merleau-Ponty (1945): S. 98. 266 Für Merleau-Ponty sind Phänomene der Reflexe auch im »Milieu des Verhaltens« zu betrachten, »denn selbst Reflexe sind niemals bloß blinde Prozesse, die automatisch ablaufen; sie entspringen dem Sinn einer Situation und sind nicht weniger Ausdruck unserer Orientierung im ›Milieu des Verhaltens‹ als der Wirkung, welche die ,geo­ graphische Umwelt’ auf uns ausübt.« (I. O.: Merleau-Ponty (1945): S. 93f. Vgl. auch: Giuliani-Tagmann (1983): S. 69. Siehe auch: Merleau-Ponty (1942): S. 60.

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des Fühlens in der körperlichen Ebene durchaus schneller verlaufen, als die »Koordinierung« in der verbalen Ebene, in der nach einer Präzision – sei es mit oder ohne Worte – gesucht wird.267 Mög­ licherweise gibt es viel mehr Fühlereignisse, die einem gar nicht bewusst werden, und auf die geantwortet wird, ohne zu präzisieren und zu gewahren, was man gerade fühlt.268 Bei Merleau-Ponty wäre diese Ebene zu der zu ordnen, die von ihm mit Husserls Rede vom »thetischen Bewusstsein«269 unterschieden wird: die »fungierende Intentionalität, in der die natürliche vorprädikative Einheit der Welt und unseres Lebens gründet«.270 Regula Giuliani-Tagmann fasst dies folgenderweise zusammen: »Diese unthematisierte präreflexive Intention bewegt sich auf der Ebene des Vorbewussten und beschreibt eine Verbundenheit mit der Welt, die vorbegrifflich ist.«271 Aus diesem Grund ist es wichtig, nicht nur die Bewusstmachung des eigenen Leibes im Augen zu behalten, sondern auch mit dem eigenen Leib wie mit jemandem Anderen – jedoch nicht als einem »Fremdkörper«, sondern vielmehr wie mit einem Gesprächspartner – umzugehen zu lernen.272 Dies kann sich vollziehen, indem sich zunächst einmal darauf eingelassen wird, unerwartete Änderungen, Entfaltungen, aber auch etwas Fades von sich und um sich selbst – sei es leiblich und körperlich, sei es gedanklich – wahrzunehmen oder wahrzuhaben, also indem sich eingelassen wird auf Gefühle, welche vor diesem bewussten Wahrnehmen und Wahrhaben am Werk (gewesen) sind. Denn dort, wo wahrgenommen und gewahr gemacht werden kann, wie der eigene Leib – auch von alleine – reagiert und agiert, erschließt sich erst der Freiraum, sich zu fragen, 267 Auch die Ansicht Merleau-Pontys bezüglich der Leiblichkeit und der Sprache aus dem folgenden Zitat kann hilfreich sein: »Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung ist eine Welt.« Merleau-Ponty (1966): S. 218 (I. O.: « La parole est un geste et sa signifi­ cation un monde. » Merleau-Ponty (1945): S. 214). 268 Es muss nicht immer irgendeine Bedeutung aus einem Verhalten sowie einem Reflex hergeleitet oder diesen zugeschrieben werden. Ein Akt oder eine körperliche Reaktion kann, aber muss sich nicht stetig auch als eine »Umschreibung« sowie »Koordinierung« von Gefühlen vollziehen. 269 Giuliani-Tagmann (1983): S. 69. 270 Merleau-Ponty (1966): S. 15. I. O.: Merleau-Ponty (1945): Avant-Propos XIII. 271 Giuliani-Tagmann (1983): S. 69. 272 Waldenfels erwähnt die »Fremdheit in uns« auf die Körperlichkeit des Menschen bezogen auch auf folgende Weise: »Verkörperung in einem Leib, der nie völlig unser eigener Leib ist, sondern stets etwas von einem Fremdkörper hat.« Waldenfels (2000): S. 18.

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auf welche Art und Weise mit dem eigenen Automatismus, den eigenen habitualisierten, reflexartigen Bewegungsmustern und der unreflektierten Region (le sauvage) umzugehen ist.273 Das scheint eine Frage der stetigen Übung zur Möglichkeitsschaffung zu sein, sich das Unreflektierte – wenn auch erst mit der Zeit – von alleine und von selbst differenzieren zu lassen. Diese Fragestellung ist natürlich direkt mit dem geteilten Alltag verbunden, mit dem alltäglichen, kollektiven Leben mit verschiedenen Menschen, Lebewesen aber auch mit den Dingen in der Naturwelt. Es ist eine Herangehensweise der vorliegenden Arbeit, auch die sich automatisierende körperliche Koordinierungsebene des Fühlens und Wahrnehmens, die in der Regel zur vorbewussten und vorprä­ dikativen Erfahrungsebene gehört, im Kontinuum mit der menschli­ chen und kulturellen Emotionalisierung der bewusst erlebten Emp­ findungen und Gefühlen zu sehen. Denn auch diese Ebene scheint von der Annahme oder Sichtweise nicht ganz abzuweichen, von jeglicher erlernten und erlernbaren Kulturalisierungsform unberührt zu bleiben.274 Nicht zu vergessen ist, dass diese Herangehensweise nicht der Essentialisierung von Kulturalisierungsformen oder einer Aufstellung von deren Ontologie gewidmet ist, sondern einer schöp­ ferischen Reflexion der individuellen, transformativen Fühlweisen. 273 Professionelle Künstler:innen – etwa Maler:innen, Tänzer:innen, Musiker:innen sowie Sportler:innen – arbeiten tagtäglich an diesem Bereich, indem sie wieder­ holende Übungen weiter machen, auch nachdem sie bestimmte Niveaus in ihrer Profession erreicht haben. Auch in der Fremdsprachendidaktik spielt die Übung in Wiederholungen am eigenen Automatismus eine entscheidende Rolle. Das Kreative, Neue sowie Bahnbrechende in künstlerischer Schaffung scheint sich häufig erst nach dem Erreichen des Bemeisterns verschiedenster Grundformen (und somit der für diese notwendige Kinästhesie) zu eröffnen, was von den Grundformen aus gesehen sowohl als von sich distanziert (oder sich distanzierend) als auch als treu (oder durch die Einübung in die Formen vollbracht) zu wirken scheint. Der japanische Bildungsphilosoph Nishihira Tadashi macht diesen Übergang deutlich durch seine Betrachtung des Prozesses in der Schulung (sowie Übung, Keiko 稽古) von Nō-Theater anhand der Densho (伝書, Überlieferung zur Nō-Schulung) von Ze’ami (世阿弥), dem Sohn und direkten Nachfolger von Kan’ami (観阿弥), dem Begründer des Nō-Theaters. Vgl.: Nishihira, Zeami no keiko tetsugaku zōhoshinsōban (世阿弥の稽古哲学 増補新 装版), 2020. 274 Diese Herangehensweise liegt nicht nur aufgrund der Thematisierung des Erfah­ rungshorizonts des ki aus der gegenwärtigen japanischen Sprache, sondern schließt auch an die phänomenologischen Beiträge Husserls und Merleau-Pontys an, vor allem an Merleau-Pontys Erschließung der zwei Arten der Leiblichkeit: le corps naturel und le corps culturel. Vgl. auch: Merleau-Ponty: La structure du comportement, 2019, S. 319. Anmerkung I. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1976): S. 244, Anm. 50.

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2.3.8 Methode der linguistischen Phänomenologie Die methodische Orientierung der von Merleau-Ponty inspirierten Thematisierung des Sprachgebrauchs, die in der vorliegenden Arbeit als einer der verschiedenen möglichen Wege aufgenommen wird, um die unreflektierte Ebene des Empfindens, Fühlens und Wahrnehmens zu erschließen, geht mit dem Ausgangspunkt einher, dass die Formen der Emotionalisierung des Fühlens, Empfindens und Wahrnehmens von sowohl kulturell als auch individuell erlernten und habitualisier­ ten Lebensformen nicht ganz unabhängig zu sein scheinen. So kann die Untersuchung der vorliegenden Arbeit, die Thematisierung des konkreten Wortfelds wie ki aus dem gegenwärtigen Japanischen, möglicherweise als eine Betrachtung von verschiedenen, individuel­ len Kulturalisierungsformen betrachtet werden. Die Verfolgung des­ sen, was für Erfahrungen von Empfindungen und Wahrnehmungen mit welchem Gefühlsausdruck aus einer konkreten Sprachkultur ver­ knüpft sind, führt zu einer Beobachtung der vielfältigen Situationen, in denen ein Ausdruck sowohl explizit als auch implizit gebräuchlich sein kann. Es scheint, dass diese reflexive Beobachtung eine übende Dimen­ sion innehat: Man wird dazu gebracht, sich im Prozess der Reflexion in die möglichen Situationen des Wortgebrauchs hineinzubegeben und von dort aus nachzuempfinden, was in den jeweils vorgestellten Situationen in der Luft liegen könnte, und sich eventuell dabei mit derjenigen oder demjenigen zu identifizieren, die oder den dabei die jeweilige Situation emotional anginge. Die Reflexion, die durch die Thematisierung des Sprachgebrauchs ermöglicht wird, lässt uns uns darin einüben, uns immer wieder vor Augen zu führen, was einem sowohl verbal als auch nonverbal als selbstverständlich gilt. Die mögliche, ästhetische und ethische Fragestellung, welche Formen der Emotionalisierung, Empfindung und Wahrnehmung es dafür gelte, weiter zu kultivieren, scheint somit erst dadurch möglich zu werden, die einem selbstverständliche(n) und auch unreflektiert tradierten eigene(n) Kulturalisierungsform(en) kritisch wahrzunehmen. Somit muss es sinnvoll sein zu betonen, dass es weder das Ziel dieser Arbeit noch deren Voraussetzung ist, eine absolute Kulturalisierungsform Japans oder ein idealisiertes Bild der »interkulturellen« Diskurse anzunehmen. Es wird vielmehr darauf der Fokus gelegt, dass die methodische Orientierung nach der Thematisierung des Sprachge­ brauchs erlaubt, die eigene(n) Kulturalität(en) jedes Individuums

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anhand seines Sprachgebrauchs zu reflektieren. Das Vorhaben der Arbeit ist in diesem Sinne als exemplarisch zu verstehen, als dass diese Reflexionsmöglichkeit der eigenen Kulturalisierungsform(en) mithilfe der Methode der linguistischen Phänomenologie durchaus auch anhand anderer Wörter als ki möglich sein muss. Hinsichtlich der Emotionalisierung der Empfindungen und Gefühle spielt der Prozess der von Heller pointierten »Koordinie­ rung« sowie der »Umschreibung« der Gefühle eine Rolle.275 In der »Koordinierung« sowie »Umschreibung der Gefühle ging es primär um eine Richtung, in der entweder aktiv eine Möglichkeit der Verba­ lisierung gesucht oder ohne Intention eine neue Verbalisierungsmög­ lichkeit erlangt wird, die sich dem betreffenden Fühlen und Empfinden gerecht werdend anfühlt. Die Thematisierung des Wortfeldes des ki, die in der vorliegenden Arbeit mit dem Stichwort »linguistische Phä­ nomenologie« unternommen wird, hat jedoch eine andere Richtung: Es wird von konkreten Ausdrücken (mit ki) ausgehend verfolgt und gesucht, was für leibliche Vollzüge, Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühle in welchen Situationen zu betrachten sind. Im nächsten, dritten Kapitel wird eine linguistische Feldfor­ schung vorgenommen, in der, beginnend mit einer Einführung in den historischen Wandel des chinesischen Schriftzeichens qi und des japanischen ki, das große Spektrum des Wortfeldes erschlossen wird. Die anfängliche Übersetzung eines Wörterbuchartikels lässt sich als eine Vorbereitung auf eine genauere Beobachtung der Merkmale verstehen, die als eine »linguistisch-phänomenologische Ernte« zu begreifen sind. Zur Darstellung des Forschungsvorgehens wird im folgenden Abschnitt erläutert, wie die methodische Bezeichnung »linguistische Phänomenologie« in der vorliegenden Arbeit verstan­ den wird. Auf den Begriff »linguistische Phänomenologie« bzw. »linguistic phenomenology« stieß die Verfasserin der vorliegenden Arbeit durch die bescheidene Erwähnung von John L. Austin in seinem Aufsatz »A plea for excuses« in den Philosophical Papers.276 Als »bescheiden« erscheint die Erwähnung deshalb, da Austin den Begriff am Rande sei­ ner methodischen Beschreibung einführt und nicht als seine eigene, etablierte Methode expliziert. Die Methode Austins beleuchtet eine Siehe Kapitel 2.3.4. Austin (1961): S. 130. Vgl. auch: Leeten: »Ordinary Language Philosophy as Phe­ nomenological Research: Reading Austin with Merleau-Ponty«, in: Philosophical Investigations, 2019, S. 228. 275

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Möglichkeit, von einem konkreten Wort oder Ausdruck ausgehend eine auch als »introspektiv« zu bezeichnende Betrachtung von Selbst­ verständlichkeiten, die von Muttersprachler:innen einer natürlichen Sprache geteilt werden, zu beginnen. Die vorliegende Arbeit zielt jedoch darauf ab, dies zu erweitern und neben kollektiven auch individuelle Selbstverständlichkeiten ans Licht zu bringen. Im Aufsatz »A plea for excuses« thematisiert Austin das The­ menfeld »excuses« aus dem Britisch-Englischen, in welches er ihm relevant erscheinende Begriffe wie z. B. »extenuation«, »plea«, »defense« oder »justification«277 inkludiert. Seine Herangehensweise charakterisiert sich durch die Fragestellung, in was für Situationen man sich wie entschuldigt und dabei welche Ausreden vorbringt. Es ist hierbei zu beachten, dass das englische Wort »excuse« im Deutschen die Worte »Entschuldigung« und »Ausreden« umschließt. Anhand dieses Wortfelds exemplifiziert Austin seine linguisti­ sche Phänomenologie als Methode, deren Forschungsgegenstand er als »not merely […] words […] but also […] realities we use the words to talk about« definiert. Die Fragestellung Austins, was oder welchen Ausdruck man in was für Situationen aus welchen Gründen gebraucht und was wir dabei meinen (»examining what we should say when, and so why and what we should mean by it«)278, wendet sich nicht nur an Wörter, sondern auch an die von Austin genannten »Realitäten«, in denen jene gebraucht werden: When we examine what we should say when, what words we should use in what situations, we are looking again not merely at words (or »meanings«, wherever they may be) but also at the realities we use the words to talk about: we are using a sharpened awareness of words to sharpen our perception of, though not as the final arbiter of, the phenomena. For this reason I think it might be better to use, […] for instance, »linguistc phenomenology«, only that is rather a mouthful.279

Auch wenn von einem Wort nicht endgültig auf eine bestimmte Situa­ tion (und umgekehrt) geschlossen werden kann, kann das Unter­ suchen des Wortgebrauchs (oder des Gebrauchs des Ausdrucks) zu einer genaueren Betrachtung des Verlaufs von Situationen führen, in denen der Ausdruck gebräuchlich ist. Durch die Fragestellung, welche 277 278 279

Austin (1961): S. 123. Ebd.: S. 129. Eigene Hervorh. Ebd.: S. 130.

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Formulierungen von »excuses« vorwiegend, wann und weshalb ver­ wendet werden,280 entdeckt Austin verschiedene Situationen, die für die Verwendung von »excuses« relevant sind.281 So erschließen sich verschiedene Bereiche, die als Themen zu behandeln sind, obschon zunächst ausschließlich ein Wort als Thema ausgewählt worden war. Austins Erforschung dessen, »was wir in was für Situationen sagen sollen« – in seinem Fall eine Frage, die englischsprachigen Menschen gestellt wird –,282 wirft eine weitere Frage auf, welche die Variabilität der vorgestellten Situationen sowie den Wortgebrauch auf der individuellen Ebene betrifft: Jede und jeder spricht anders innerhalb einer geteilten Situation und stellt sich anhand eines Wortes oder Themas unterschiedliche Situationen vor. Austin pointiert dies auf die folgende Weise: Do we all say the same, and only the same things in the same situa­ tions? Don’t usages differ? And, Why should what we all ordinarily say be the only or the best or final way of putting it? Why should it even be true? […] [P]eople’s usage do vary, and we do talk loosely, and we do say different things apparently indifferently. But first, not nearly as much as one would think. When we come down to cases Der Prozess der Erforschung Austins zu »excuses« lässt sich folgenderweise kurz zusammenfassen: Zum Thematisieren der »excuses« fallen Austin zunächst ein paar unterschiedliche wichtige Ausdrücke ein, wie »extenuation«, »plea«, »defence« oder »justification« (ebd.: S. 123), welche unter dem Oberbegriff »excuses« behandelt wer­ den (ebd). Austin berücksichtigt von Anfang an die Verbform von »excuses« (to excuse); es geht ihm um das Geschehnis, in dem man sich herausredet. Indem er mit seinen Schilderungen von repräsentativen Charakteristika einer Situation beginnt, in der jemand beschuldigt wird (be accused), und weiterhin die anderen Situationen betrachtet, in denen man sich entschuldigt, gelingt es ihm, zu überblicken, was für eine Breite der Situationen das Wort »excuses« aufzeigen kann. Denn die für »excuses« relevanten Situationen umfassen auch die Situationen, in denen nicht nur adverbiale Ausdrücke wie »deliberately« oder »on purpose« auftauchen, sondern auch unter­ schiedliche Phänomene wie »clumsiness«, »tactlessness« oder »thoughtlessness« (in Substantiven) relevant sind (ebd.: S. 124). 281 Aufgrund der Thematik, das »Sich-Herausreden« zu erforschen, erschließt dieser Ansatz einige ethischen Fragestellungen: zur Anschuldigung (Zurückführung einer »Untat« auf jemanden Bestimmtes), zur Grenze von Verantwortung und Schuld, zur Frage der Intention sowie Intentionslosigkeit einer Tat (oder Handlung), zum Hand­ lungsmotiv (wieso die Handlung stattfand), zur zugefallenen Kontingenz und zur menschlichen Freiheit. Vgl.: ebd.: S. 126–129. In Bezug auf Konfrontationen mit ethi­ schen Fragen bezieht sich Austin beispielsweise auf Beschreibungen von Gerichtsfäl­ len und berücksichtigt psychologische (inklusive anthropologische sowie ethnologi­ sche) Terminologien. Vgl.: ebd.: S. 135–137. 282 Vgl.: Leeten (2021): S. 241. 280

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[…] we had simply imagined the situation slightly differently: which is all too easy to do, because of course no situation (and we are dealing with imagined situations) is ever »completely« described. The more we imagine the situation in detail, with a background of story – and it is worth employing the most idiosyncratic or, sometimes, boring means to stimulate and to discipline our wretched imaginations – the less we find we disagree about what we should say.283

Wenn wir fragen, wann man für welche Situation welche Ausdrücke verwendet, entdecken wir die »Realitäten,« von oder in welchen wir mit dem untersuchten Wort sprechen. Diese »Realitäten« – natür­ lich in Pluralform, da deren Beschreibungen variieren und niemals vollständig zu erfassen, sondern nur anzunähern sind – werden in der vorliegenden Arbeit, zusammengefasst im Begriff »Situatio­ nen«, hier verstanden als Vorstellungen von möglichen Situationser­ fahrungen, sei es als Beschreibungen der selbst erlebten oder von jemandem anderen erzählten (aber von sich selbst wiedergegebenen) Situation.284 Diese variablen Situationen scheinen sich genau im Horizont der Selbstverständlichkeiten zu bewegen, die sich in jeder natürlichen Sprache einerseits und bei jedem Individuum andererseits auf unterschiedliche Art und Weise manifestieren, und um welche es sich bei der Suche nach der vorprädikativen, »nicht-thematisierten Lebenswelt« bei Merleau-Ponty handelte.285 Trotz der Möglichkeit, die überindividuelle Zustimmung zur Eignung eines Wortgebrauchs in einer Situation gewissermaßen zu prüfen, bei Austin anhand von Dialogen, hängen die Beschreibungen und Vorstellungen der Situationen als solche im ersten Schritt stetig mit persönlichen Erfahrungen inklusive Kenntnissen, Wissen und (Vor)Urteilen jeder einzelnen Person zusammen. Da außerdem in verschiedensten Situationen von einem Thema (wie »excuses«) die Rede sein kann, ist es durchaus möglich, verschiedene Realitäten einerseits bereits mithilfe von einem oder einer Sprechenden – zu mehreren Situationen über excuses –, aber auch andererseits mit­ hilfe verschiedener Sprechenden – bezüglich einer einzigen geteilten Situation (in der jemand sich beispielsweise herausredet) – aufzude­ cken. Austin (1961): S. 131f. Der Begriff »Situationen« in Pluralform lässt sich gerade aufgrund dessen her­ vorheben, dass jede Situation von der zeitlichen Perspektive aus gesehen immer schon eine Singularität mit aufweist. Vgl. hierzu: Wille (2018): S. 85. 285 Vgl.: Merleau-Ponty (1964): S. 229. Siehe auch: Kapitel 2.1. 283

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[…] sometimes we do ultimately disagree: sometimes we must allow a usage to be, though appalling, yet actual; sometimes we should genuinely use either or both of two different descriptions. But why should this daunt us? All that is happening is entirely explicable. If our usages disagree, then you use »X« where I use »Y«, or more probably (and more intriguingly) your conceptual system is different from mine, though very likely it is at least equally consistent and serviceable: […].286

So sind die Partikularität und Individualität des Artikulierens in der Beschreibung einer Situation bereits auf der Ebene des Wortgebrauchs festzustellen. Die vielfältig vorgestellten und beschriebenen Situatio­ nen scheinen trotzdem – solange sie (in diesem Fall) mit dem Wort »excuses« gedeckt werden können – miteinander vergleichbar, aufein­ ander beziehbar zu sein, oder lassen gewisse Ähnlichkeiten aufzeigen, die der »Familienähnlichkeit« bei Wittgenstein ähneln.287 Außerdem ist die Suche danach, »what we should say when, what words we should use in what situations«, eine »group introspection«: Es ist eine Erforschung nach gewissen Gemeinsamkeiten in der Artikulierung einer Thematik, die theoretisch alle Sprechenden einer natürlichen Sprache betreffen.288 Die Pluralität der Realitäten innerhalb einer natürlichen Sprache lässt sich bereits im alltäglichen Leben erblicken: Genau dort, wo mehrere Menschen miteinander eine Situation teilen – während sie sprechen und nicht sprechen –, dort, wo sie zusammenleben, an gemeinsamen Projekten, Veranstaltungen sowie Vernetzungen beteiligt oder einfach da sind. Die »anders« verstandenen und wahr­ genommenen Situationen manifestieren sich in der Pluralität des Sprachgebrauchs und vice versa. In jedem Ort und Moment stecken – unabhängig davon, ob es einem bewusst ist oder nicht –, die Anlässe, durch welche die unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten sichtbar werden können: durch das Gewahr-Werden eines kleinen Missverständnisses, ein Bemerken einer Intention, welche möglicher­ weise doch einfach nichts anderes als eine Geste aus Gewohnheit des Anderen war, usw. So zeigt sich die Pluralität der Erfahrungshorizonte aller Menschen, die jedoch eine konkrete gemeinsame Situation Austin (1961): S. 132. Wittgenstein (2015): S. 55–58 (PU: § 65, § 66, § 67). 288 Quine: »A Symposium on Austin’s Method«, in: Symposium on Austin, 1969, S. 87. Eigene Hervorh. Siehe auch: Leeten (2021): S. 241. 286

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teilen.289 Ganz unabhängig von einer bemühten Einfühlung mit dem Gedanken, was im Herzen des/der Anderen bei seinem oder ihrem Wort liege, entfalten und manifestieren sich die Realitäten jeweils in jedem Hier-und-Jetzt. In »A plea for excuses« aus Philosophical Papers macht Aus­ tin von Beginn an deutlich, dass sich sein Aufsatz auf eine Ein­ führung in eine mögliche Methode der Erforschung von »excuses« einschränkt.290 Er positioniert sich jedoch bezüglich der Zielsetzung auf die Untersuchung von »Wortbedeutungen« (von »excuses«) zwei­ deutig: »Definition, I would add, explanatory definition, should stand high among our aims. It is not enough to show how clever we are by showing how obscure everything is.«291 Austin versucht, über die Kenntnis des eigenen Unwissens hinaus zu gehen, trotz des Wissens, dass »the Last Word« – hier als die letztendliche Definition des Aus­ drucks verstanden – bei der Erforschung der Wortbedeutungen wie ein »Schreckgespenst« (bogey)292 wirke und eine große Problematik darbiete. Denn der Wortgebrauch jedes einzelnen Wortes variiert, je nach Person, Zeit und Situation, wie in dieser Arbeit bereits mehrfach in unterschiedlicher Hinsicht verdeutlicht wurde. Austin betrachtet den gewöhnlichen Sprachgebrauch (ordinary language), der als solcher zwar nie zu einer Wortdefinition führen kann,293 jedoch eine fundamental bedeutsame Rolle als »the first word«294 spielt, und mit dem eine Erforschung danach, was mit einem Wort gemeint wird, erst begonnen werden kann.295

289 Zur Problematik der Pluralität der Perspektiven und der Singularität der geteilten Situation ist das folgende Buch zu referieren: Alloa: Partages de la perspective, 2020. 290 Vgl.: Austin (1961): S. 123. 291 Ebd.: S. 137. Eigene Hervorh. 292 Austin (1961): S. 134. Dt. Übers. in »Schreckgespenst«: Austin (1975): S. 191. Eigene Hervorh. 293 Austin (1961): S. 133. 294 Ebd.: S. 133. Eigene Hervorh. 295 Die »ordinary language« scheint im deutschsprachigen Raum – vor allem in der sogenannten analytischen Philosophie – »normale Sprache« genannt zu werden. Ich verwende hier jedoch bewusst »alltägliche Sprache« oder »alltäglichen Sprachge­ brauch«. Dies verknüpft sich mit der Grundhaltung der vorliegenden Arbeit, in Anleh­ nung an Spät-Merleau-Ponty das »Wiederfinden« (retrouver) der »nicht thematisier­ ten Lebenswelt« (le monde non-thématisé) durch die »Thematisierung der Sprache« (la thématisation du langage) anzuvisieren, wobei die Thematisierung der Sprache in der vorliegenden Arbeit als eine des alltäglichen Sprachgebrauchs zu verstehen ist. Merleau-Ponty (1964): S. 222, 229.

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Trotz des Vorbehalts aufgrund der hohen Achtung vor einem letztendlichen oder endgültigen Urteil zur Wortbedeutung nimmt Austin somit eine bejahende Haltung gegenüber dem alltäglichen Sprachgebrauch ein. Der alltägliche Sprachgebrauch wird vielmehr als ein Ausgangspunkt zur Erforschung der Wortbedeutungen betrach­ tet, was einem Anlässe gibt, auch für das zwischenmenschliche Leben bedeutsame Fragen zu stellen.296 Seiner methodischen Orientierung fügt Austin hinzu: […] we should prefer a field which is not too much trodden into bogs or tracks by traditional philosophy, for in that case even »ordinary« lan­ guage will often have become infected with the jargons of extinct theories, and our own prejudices too, as the upholders or imbibers of theoretical views, will be too readily, and often insensibly, engaged.297

Somit könnte die Methode Austins folgendermaßen zusammenge­ fasst werden: Den alltäglichen Sprachgebrauch als Ausgangspunkt (ernst)nehmend, ohne sich von jeweils unterschiedlich aufgeladenen Fachjargons sowie den eigenen Vorurteilen einschränken zu lassen, zu untersuchen, was »unter« einem Wort innerhalb einer natürlichen Sprache verstanden, vorgestellt und gemeint wird. Da dieses »Was« des Wortgebrauchs298untrennbar mit einer Erforschung des »Wie« einhergeht, spielt die Beschreibung der pluralen Situationen oder noch genauer, die Verbalisierung von dem nichtverbal geteilten Wissen und Können, was man in was für Situationen wie fühlt und wie man sich in diesen verhält, eine fundamentale Rolle. Für die vorliegende Arbeit ist Austins Herangehensweise in der Hinsicht relevant, dass auf diese Weise die (möglichen) Erfah­ rungen als Phänomene erforscht werden können, die in Relevanz zum Gebrauch eines Wortes stehen. In jeglicher Verbalisierung der möglichen Erfahrungen lassen sich die Selbstverständlichkeiten jedes Individuums zeigen, womit erst eine Erforschung des generell geteil­ ten Wortgebrauchs begonnen werden kann. Die »Situationen« – sei 296 Austin verfasst seinen Essay ausgehend von verschiedenen fragenden Stimmen, die man etwa als »Hochkommen des Flüsterns« begreifen könnte. Er fügt der Annahme, die »ordinary language« als »the first word« für die Erforschung der Wort­ bedeutungen zu verstehen, eine Fußnote hinzu, die lautet: »And forget, for once and for a while, that other curious question‚ ›is it true? May we?‹« Austin (1961): S. 133. 297 Ebd.: S. 131. Es ist zu erwähnen, dass die vorliegende Arbeit weder das Ziel noch das Interesse verfolgt, die »traditional philosophy« als einen Feind zu betrachten. 298 Ebd.: S. 133.

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es in Form von Vorstellungen, sei es in Form von Skizzierungen einer konkreten, erlebten (aber wiedergegebenen) Situation – können nicht nur etwas von diesen sowohl zwischenmenschlich geteilten Selbst­ verständlichkeiten einer natürlichen Sprache, sondern auch von den individuell unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten zugänglich machen.299 Ein möglicher Beitrag der Methode zur phänomenologi­ schen Forschung scheint genau in diesem Schritt zu stecken, die unter­ schiedlichen Selbstverständlichkeiten in den o. g. beiden Dimensionen der und dem Erforschenden bewusst zu machen. Diese Selbstver­ ständlichkeiten scheinen zumindest ein Bestandteil dessen zu sein, was das thetische Urteilen ausmacht, welches bei der Methode der Epoché abstrahiert bzw. »ausgeschaltet« werden soll.300 Es ist eine polemische und somit noch zu untersuchende Frage, ob und wieweit diese Selbstverständlichkeiten in der Methode der Epoché tatsächlich abstrahiert werden können. Eine wichtige Charakteristik der linguis­ tischen Phänomenologie der vorliegenden Arbeit scheint darin zu lie­ gen, dass diese Selbstverständlichkeiten vor der Methodenanwendung nicht als bereits Bewusstes gelten, sondern erst in der Erforschung des Wortgebrauchs allmählich klar werden, indem sie sich im Zuge dessen zugleich transformieren.

2.3.9 Weg zur Artikulierungsästhetik des Fühlens Bezüglich der Anlehnung an die Methode Austins ist noch zu erwäh­ nen, dass der Fokus der vorliegenden Arbeit nicht auf die Säuberung der Wortbedeutungen gelegt wird. Der Fokus lässt sich vielmehr darin finden, was Austin »to sharpen our perception of […] the pheno­ mena«301 nennt. Es geht um das »geschärfte Gewahrsein von Wor­ ten«302, das die Wahrnehmung von Phänomenen einübe und dadurch Merleau-Ponty (1964): S. 229. Auf den historischen Kontext zur Aufnahme von Phänomenologie in Austins Philosophie kann hier nicht eingegangen werden. Es ist jedoch zu erwähnen, dass die Lektüre Austins der Phänomenologie der Wahrnehmung von Merleau-Ponty als gut belegt gilt. Hierzu siehe auch: Leeten (2021): S. 232. 300 Husserl (1976): S. 60–66. (§ 29, § 30, § 31). 301 Austin (1961): S. 129. 302 Der in Anführungszeichen gesetzte Ausdruck ist die eigene Übersetzung des englischen Originalausdrucks »a sharpened awareness of words« aus dem darauffol­ genden Zitat. In der deutschsprachigen Übersetzung lautet die Stelle, welche keine sonderlich gute Übersetzung zu sein scheint: »unseren verschärften Wortverstand«. 299

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differenzierter hervortreten lasse, in dem Prozess, dass erforscht und überprüft wird, welche Wörter in welchen Situationen aus welchen Gründen gebraucht werden sollen.303 Genau in der Untersuchung dessen, »was wir wann sagen«, schärfen wir unser Gewahrsein des Wortes, was durchaus als eine konstruktive Folge der Erforschung zu gelten scheint.304 Dort, wo es uns gewahr wird, in was für Situationen welcher Ausdruck gebraucht werden soll, sind wir mit der Fragestel­ lung konfrontiert, was für (Vor)wissen und leibliche und vorbewusste Erfahrungen innerhalb des Erfahrungshorizontes einer natürlichen Sprache bzw. der eigenen Muttersprache(n) als »selbstverständlich« geteilt gelten. Dies kann auch mit einer bewussten Konfrontation mit eigenen Vorurteilen sowie eigenen unreflektiert habitualisierten Lebensformen einhergehen.305 In einer Gegenüberstellung mit einer anderen Kulturalität, was in der vorliegenden Arbeit aufgrund der Unterschiede zwischen Arbeits­ sprache und Sprache des Untersuchungsgegenstands ki bereits obliga­ torisch notwendig ist, stellt sich dieses in einer natürlichen Sprache Geteilte306 als eine Kulturalität dar – immer mit einem Vorbehalt, dass diese Kulturalität auch je nach Person unterschiedlich rezipiert, praktiziert und weitergegeben wird. In dieser Gegenüberstellung der Kulturalitäten kann ans Licht gebracht werden, wie voreingenommen oder eingerahmt man – ohne es zu wissen und wollen – mit einzel­

Austin (1961): S. 130. Siehe auch die deutschsprachige Übersetzung: Austin (1975): S. 186. 303 Austin (1961): S. 130. Eigene Hervorh. 304 Hierzu fasst Lars Leeten am Ende seiner ausführlichen Recherche zur Aufnahme der merleau-pontyschen Phänomenologie in Austins Spätphilosophie folgenderweise zusammen: »Perhaps we should not overlook that the very passage that introduces the label ›linguistic phenomenology‹ also mentions the aim to ›sharpen our percep­ tion‹. (Austin, 1961, S. 129) Since it has to be expected that the sharpening of one’s perception goes along with a transformation of one’s whole person this might confirm that the method was designed to transform the mind. For Austin, this theme would have been familiar from Aristotle. And when he read in Merleau-Ponty that philoso­ phy is about ›learning to see the world anew,‹ (Merleau-Ponty, 1945, S. 21) he would have had little difficulties in accepting this idea.« Leeten (2021): S. 247f. Siehe auch: Austin (1961): S. 130. 305 Vgl.: Leeten (2019): S. 267. 306 Insgesamt scheint dies ebenso dem Begriff der »Lebensform« bei Wittgenstein aus seinen Philosophischen Untersuchungen nahezustehen, als eine solche, die ein jeweiliges Sprachspiel einer natürlichen Sprache ermöglicht. Vgl.: Wittgenstein (2015): S. 26f. (PU: § 23).

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nen Phänomenen und Erlebnissen aufgrund der eigenen Kulturalität umgeht; wie man in seinem Alltag fühlt, denkt und handelt.307 Auf die persönliche Ebene der Partikularität des Fühlens und Sprechens bezogen kann in der linguistischen Phänomenologie eine Reflexionsmöglichkeit (auch in Form von einem Aufmerken) der »Sedimentierung« (sedimentation) erblickt werden.308 Die »Sedimen­ tierung« wird hier als eine Vertiefung und Akkumulierung dessen verstanden, was sich durch individuelle Erfahrungen entwickeln und in der Art und Weise des Wortgebrauchs manifestieren kann. Sie wird so verstanden, dass sie sowohl körperlich als auch geistig zur Bildung gewisser Dispositionen im Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen führen kann. Diese Reflexion kann möglicherweise – wenn auch schrittweise – zu einer Veränderung der Artikulierungs­ weise selbst führen, was zugleich die Art und Weise des Fühlens beeinflussen oder mit verändern kann.309 Diese Veränderung der Artikulierung wird in der vorliegenden Arbeit als im Kontinuum zu einem Übungsweg der Artikulierung des Fühlens führend verstanden, welcher in seiner Grundbasis ein aufmerksames Zuhören auf das Fühlen, Empfinden und Spüren erfordert.310 Auf diesem Übungsweg entfaltet sich eine jeweilige Differenzierung jeder Empfindung. Da sich diese in der vorliegenden Arbeit auch auf das subtile Fühlen bzw. auf ein kaum präzisierbares oder nichts-sagendes Fühlen – wie eine impersonale perzeptive Erfahrung, z. B. die Erfahrung von Atmosphären sowie Stimmung – bezieht, lässt sie sich in Anlehnung an die Ästhetik der Atmosphäre Gernot Böhmes als Ästhetik der Artikulierung des Fühlens bezeichnen.311 307 Die lexikalischen Definitionen eines Wortes können auch dabei helfen, sich bewusst zu machen, was für Tendenzen oder Vorurteile man bereits in der Ebene des Wortgebrauchs (eigener Muttersprache(n)) selbst einem Sachverhalt oder einem Wort gegenüber hat, da die Definitionen aus Lexika beispielsweise ein normatives Ver­ ständnis eines Wortes darbieten können, das theoretisch von allen Sprechenden der betreffenden natürlichen Sprache gemeinsam geteilt werden (soll). Austin schlägt die Verwendung des Wörterbuchs in Bezug auf die Methode seiner linguistischen Phä­ nomenologie vor. Austin (1961): S. 134f. 308 Vgl.: Merleau-Ponty (1945): S. 221, 504. Siehe auch.: Thierry (1987): S. 34, sowie Jaegher et al. (2018): S. 121f. 309 Die Veränderung der Art und Weise des Fühlens geht sicherlich mit der Verände­ rung von den Gefühlen und Empfindungen einher. 310 Leeten (2019): S. 225f. 311 Auf diese Anlehnung an die Ästhetik der Atmosphäre Gernot Böhmes wird in Kapitel 4.3 ausführlich eingegangen. Vgl.: Böhme (2017): S. 39–48.

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2.3 Schritte zur Methode

Zum Übergang von der linguistischen Phänomenologie hin zum Ausblick der vorliegenden Arbeit in eine Artikulierungsästhetik des Fühlens kann die folgende Stelle aus dem Buch Linguistic Bodies – The Continuity between Life and Language (2018)312 von Ezequiel A. Di Paolo, Elenea Clare Cuffari und Hanne De Jaegher erhellend sein: [...] previous acts of expression create a shared cultural dimension that sediments a space of significance, which in turn affects current and future acts of perception and gestural expression. It is because of this ongoing process that gestures, words, and expressions do not evolve arbitrarily. If we traced their history or pressed their conventionality (as in poetry) we would find their early emotional expression in their sound and physiognomy, in the form of acts of »singing the world« […]. But in already instituted language these relations lie hid­ den, creating the appearance of a well-delineated, transparent system of mutually referring signs. Nevertheless, creative acts of expression continue to occur and reshape the cultural world.313

Die Kontextualisierungs- sowie Sedimentierungsmöglichkeit der Erfahrung kann in der Funktion menschlichen Sprachgebrauchs selbst eingesehen werden,314 es scheint jedoch auch die Leiblichkeit zu sein, auf die sich die Affektivität der Sprache stützt – wie anhand des Terminus »Physiognomie« zu sehen ist.315 Gerade aufgrund der Möglichkeit der Sedimentierung im Sprachgebrauch, die – gut oder schlecht – über die Zeit praktiziert und weitergegeben werden kann – sowohl (eine biographische) Historie bildend als auch von ihr mitbestimmt –, ist es auch genauso möglich, an der Sedimentierung in diesem Hier-und-Jetzt zu arbeiten.316 Es handelt sich darum, in den sowohl kulturell als auch persönlich sich habitualisierenden Di Paolo, Cuffari und De Jaegher: Linguistic Bodies – The Continuity between Life and Language, 2018. 313 Ebd.: S. 121f. Die Autor:innen beziehen sich an dieser Stelle auf Merleau-Ponty (1945): S. 228. 314 Das Verhältnis der Wahrnehmung und der Sprachfähigkeit des Menschen im Rahmen der Phänomenologie Merleau-Pontys wird auf eine sehr sinnvolle Art und Weise im folgenden Zitat aus Du corps parlant von Yves Thierry zusammengefasst: « […] le langage, qui donne l’apparence d’une capacité de la pensée représentative à se dissocier de la situation particulière où elle prend naissance, consiste aussi à maintenir l’ancrage de cette pensée à cette situation. » Thierry (1987): S. 22f. 315 Vgl.: Merleau-Ponty (1945): S. 218, 221. Siehe auch: Giuliani-Tagmann (1983): S. 79. 316 Im Bereich Psychiatrie und Psychoanalyse gibt es hierzu ein Stichwort »neuronale Plastizität«. Siehe auch: Ansermet, Arminjon und Magistretti: »Plasticité neuronale 312

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2. Ki und Fühlen

Sprachhorizonten, einen Freiraum zu beleuchten, sich selbst und den Anderen genau zuhörend – wie man sich gerade fühlt, wie sich die Anderen gerade (zu) fühlen scheinen, und wie sich dies artikulieren lässt etc. –, bis sich das flüchtige oder fade Erlebnis des Fühlens selbst artikulieren lassen kann.317 Genau in dem augenblicklichen Moment, in dem sich ein Fühlerlebnis entfaltet und einem gewahr wird und in dem das flüchtige Fühlerlebnis zu einer erzählbaren »Erfahrung« wird, liegt sicherlich bereits ein Freiraum, sich nicht nur nach der gewöhnlichen Artikulierungsweise zu orientieren, sondern sich auf die spontane Art und Weise der Differenzierung einzulassen.318 Das scheint genau der Moment zu sein, in dem ein Erlebnis – sei es in Form von Handlung, Urteil, Eindruck oder Empfindung – langsam »als etwas« erkennbar wird. Die vorliegende Arbeit versucht gerade dort in dem Moment, in dem eine Sedimentierung erneut geschehen kann, den Freiraum zu erhellen, sich und sein Erlebnis sich, dem einzelnen partikulären Fühlereignis gerecht, artikulieren zu lassen. Wenn man mit der einen Artikulierung nicht zufrieden ist, so kann man sich erlauben, weiter zu versuchen, jene sich anders artikulieren zu lassen. Die Schaffung dieses Freiraums, welche die »Einübung ins Zuhören« erfordert, darf keineswegs unterschätzt werden. Denn es kann sich von Zeit zu Zeit doch Situationen manifestieren, in denen es nicht möglich ist, diesen Freiraum zum Zuhören einzusehen oder auch aktiv zu schaffen. In Kapitel 4.3 wird anhand des gegenwärtigen japanischen Ausdrucks »kūki« (空気, häufig übersetzt mit »Luft«) auf diese Art von Situationen eingegangen. Da die Fühlerfahrungen im Horizont des ki-Wortfelds nicht nur intentional erfahrenes, aber auch das ganz unauffällig sich-vollzie­ hende Fühlen wie Stimmung sowie Gemütsstimmung betreffen, in denen man sich nicht betroffen fühlen muss, berührt die Artikulie­ – les traces et leur destin« in: Épistémologie et méthodologie en psychanalyse et en psychiatrie, Bernard Golse et al. (Hg.), 2017, S. 19–46. 317 Auch dies scheint mit der Unterscheidung der »gesprochenen Sprache« (parole parlée) und der »sprechenden Sprache« (parole parlante) bei Merleau-Ponty in Bezug zu stehen. Vgl.: Merlau-Ponty (1945): S. 229f. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 232. 318 Selbst im spontanen Aufkommen der Differenzierung und Artikulierung des Fühlens in einer »neuen« Art und Weise kann eine Spur entdeckt werden, die der mit der Zeit kulturell und individuell (weiter)gebildeten und sedimentierten Ebene der persönlichen Erfahrungen geschuldet und ihr verdankt ist, was dem sprechenden oder tätigen Subjekt in dem Moment des Aufkommens jedoch nicht bewusst sein muss.

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2.3 Schritte zur Methode

rungsästhetik des Fühlens eine bestimmte Aufmerksamkeitslenkung, auch auf das (noch) kaum aufgemerkte Fühlen. Diese kann als eine bewusste Anregung oder Schärfung der Sinne angesehen werden, die sich keineswegs unberührt vollziehen und in die Wege geleitet werden von der Schärfung der Wortsinne selbst. Diese Anregung kann im Vollzug und Aufmerken bestimmter Wahrnehmungen, Emp­ findungen, leiblicher Bewegungen, Zustände oder im Moment des Auffallens oder Einfallens der Dinge, aber auch im »Nachhinein«, ausgelöst von bestimmten Handlungen oder Äußerungen, geschehen – wie im Reflektieren des »Unreflektierten«. Dies kann zugleich – wie es in der linguistischen Phänomenologie von Austin vorgeschlagen wird – durch eine Erforschung der Wortsinne pointiert unterstützt bzw. geübt werden. Denn die Worte haben bereits ihre Erfahrungen – leiblich – mit uns, sie machen immer etwas mit uns.319 Insofern stimmt Merleau-Pontys Vermutung tatsächlich, wenn auch teilweise, dass wir Sprachen selbst nicht haben, sondern dass sie uns haben.320 Die Horizonterweiterung und -verschiebung, die sich durch die lin­ guistisch-phänomenologische Thematisierung des Sprachgebrauchs vollzieht, kann einzelnes Fühlen immer weiter beeinflussen und transformieren. Diese Arbeit an der Habitualisierung eigener Wahr­ nehmungs- und Fühlweisen geht bewusst oder unbewusst und von

319 Hierzu kann die Stelle ein gutes Beispiel darbieten: »Worte haben ihre Physio­ gnomie, da wir ihnen, wie einer jeden Person gegenüber, ein bestimmtes Verhalten haben, das unmittelbar sich einstellt, sobald sie gegeben sind. ›Ich versuche, das Farb­ wort Rot in seinem Ausdruck zu fassen; aber es ist für mich peripher, nur Zeichen mit dem Wissen um seine Bedeutung. Keinesfalls ist es ›rotes Wort.’ Plötzlich merke ich, wie das Wort in meinen Körper hineinschnappt. Es ist eine wenig gut zu beschreibende runde Fülle in mir, die sich einer einerseits in meinem Rumpfe ausdehnt, andererseits meine Mundhöhle gewissermaßen kugelig macht. Und in diesem Moment merke ich nun auch, daß das Wort auf dem Papier seinen richtigen Ausdruck bekommt, mir in einer dunklen Röte entgegentritt, wobei der Laut o gewissermaßen anschaulich jene kugelige Hohlheit besitzt, welche mein Mund vorempfunden hat.‘ Dieses Verhalten macht es auch verständlich, inwiefern das Wort in unlöslicher Einheit ein Gesagtes, ein Gehörtes und ein Geschehenes ist.« Merleau-Ponty (1945): S. 272f. (dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 275f. Die zitierte Stelle stammt von: Werner: »Untersu­ chungen über Empfindung und Empfinden, II, Die Rolle der Sprachempfindung im Prozeß der Gestaltung ausdrucksmäßig erlebter Wörter«, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 117, 1930, S. 238. 320 Vgl.: Merleau-Ponty (1964): S. 241. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 245.

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2. Ki und Fühlen

diesem untrennbar mit dem konkreten Sprachgebrauch einher, der sich stetig sowohl persönlich als auch kollektiv entfaltet.321

2.4. Fazit des Kapitels Die Vielfalt der natürlichen Sprachen zeigt diverse Möglichkeiten zu Erfahrungsweisen von verschiedenen Empfindungen auf.322 Diese lassen sich zugleich bereits in der Vielfalt der sprachlichen Formen allgemein und innerhalb einer Sprache erblicken, angefangen mit Redewendungen, Sprüchen, Floskeln, Fachtermini, bis hin zu einzel­ nen Vokabeln. Jeder Mensch steht unter einem großen Einfluss einer Kultu­ ralität, in der man sozialisiert und erzogen wurde und wird, aber auch in der man sich als Erwachsene – bewusst oder unbewusst – weiterbildet. Die Kulturalität des Fühlens ist von Generation zu Generation mehr oder weniger übertragbar. In ihrer Konfrontation mit einer oder mehreren anderen Kulturalitäten wird jedoch von Zeit zu Zeit ihre Partikularität etwas sichtbarer. Dank dieser Kulturalität, die jeder Mensch in den meisten Fällen bei seiner Familie, in der Schule oder sonstigen gesellschaftlichen Sozialisierungsmöglichkei­ ten erlernt, und die so von jedem habitualisiert wird, ist es auch möglich, dass man sein Leben in einer kollektiven Gesellschaft mit anderen Menschen entfaltet. Dort wird eine »Lebensform«, wie Witt­ genstein es nennt, erlernt, praktiziert und weitergegeben. Zu einer Lebensform gehört das Wissen und Können, was wann und wie etwas weswegen zu fühlen, zu handeln und zu sprechen ist, also auch anhand welcher Worte mit welchen Empfindungen umzugehen ist. Dieses Wissen und Können ist dem alltäglichen Leben implizit und bleibt, nicht prinzipiell, aber doch zumeist unausgesprochen. Das Wissen ist überindividuell mit dem Vorbehalt, dass die einzelne Erfahrung des Fühlens sowie deren Erfahrungsweise je nach Person und Moment immer partikulär und individuell bleibt. 321 Zur »transformativen Phänomenologie« siehe auch: Elberfeld (2017): S. 391–452. Insgesamt kann diese Transformation eine Transformation des Gesamten des Men­ schen heißen, wie dies von Merleau-Ponty erwähnt wird. Vgl.: Merleau-Ponty (1945): S. 214. 322 Es ist sicherlich sinnvoll, hier auf eine eingeschränkte Art und Weise zu erwähnen, dass genau aufgrund der diversen Möglichkeiten in Erfahrungsweisen auch Konflikte entstehen können, die die Koordinierung von manchen Empfindungen betreffen.

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2.4. Fazit des Kapitels

Zur gleichen Zeit ist es wiederholt hervorzuheben, dass die erlernte Kulturalität durch eine an einer einseitigen Favorisierung orientierte Gefühlsgewohnheit, unterschiedlichste Gefühlsereignisse zudecken kann. So steht die Möglichkeit der Weiterbildung der Erwachsenen wiederum auch der Gefahr gegenüber, nach einer ein­ seitigen Orientierung ausgewählt zu werden, also im Hinblick darauf, welche Empfindungen wünschenswert sind und welche es zu vermei­ den gilt. So besteht die Notwendigkeit, auch kritisch einsehen zu können, welche Selbstverständlichkeiten im eigenen Fühlen in jedem Moment am Werk sind. Denn die Selbstverständlichkeiten, aus einer natürlichen Sprache einerseits und diejenigen aus der Habitusform eines Individuums andererseits, sind vorreflexiv am Werk, genauso wie das kaum reflektierbare, vorreflexive und vorprädikative Füh­ len selbst. So wie die Erwachsenwerdenden in Hellers Betrachtung nach dem richtigen Ausdruck für ihr aktuelles und partikuläres Fühlen bewusst suchen, muss es doch auch den Erwachsenen weiterhin möglich sein, zu üben zuzuhören, um was für noch unbekannte Empfindungen es sich gerade handelt. Dieses Üben kann einen dazu bringen, sich auf neue und verschiedene Artikulierungsweisen des Fühlens einzulassen, auf welche eine Relativierung der eigenen ver­ trauten Lebensform erfolgen kann. Denn jedes Fühlen lässt sich – im Zuhören, jedes Mal, wenn einem ein Fühlen aufgemerkt wird – auch von alleine immer individuell und unterschiedlich artikulieren und differenzieren. Diese Relativierung trägt sicherlich dazu bei, eine mögliche Konsequenz der Möglichkeit der Selbstweiterbildung bzw. die Verabsolutierung der eigenen bisherigen Selbstverständlichkeiten zu bremsen bzw. aufzuhalten. Dies kann im lexikalischen Recherchie­ ren der Wortsinne, im Lernen der Fremdsprachen, im ernsthaften Üben von Körperpraktiken, Musikspielen oder Malen, im Sprechen mit Anderen oder auch in der Wahrnehmung einer Herbstbrise geschehen, die einen an der Haut umwickelt oder die Baumblätter zum Tanzen bringt. Von der Beobachtung, dass in der Welt intersprachliche Inkom­ patibilitäten zugegen sind, wie Lítost aus dem Tschechischen, tōiahna und pe’ape’a aus dem Tahitianischen, oder auch qi (氣/气) und ki (気) aus dem Chinesischen und Japanischen, die mit kaum übersetz­ baren Lebensformen einhergehen, ist nicht auf einen bodenlosen Nihilismus der »Unübersetzbarkeit« zu schließen. Die Beobachtung kann uns vielmehr zur Möglichkeit führen, durch ein Kennenlernen

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2. Ki und Fühlen

neuer Begegnungsweise(n) der Empfindungen die Partikularität jedes einzelnen Fühlens immer wieder vor Augen geführt zu bekommen.323 Es sind sicherlich unzählbar verschiedene Böden (Milieus), auf denen die Welt unterschiedlich gespürt, gerochen, getastet, geschmeckt und gefühlt wird, wodurch sie sich somit unterschiedlich artikuliert und entfaltet. Die Möglichkeit des Erlernens unterschiedlicher Artikulie­ rungsweisen, die zur Relativierung der aktuellen eigenen Selbstver­ ständlichkeiten führen können, besteht aber ohne Zweifel, auch in dem Fall, dass man sich auf die Vertiefung der Weltbegegnung in der (oder den) eigenen Muttersprache(n) einlässt.

Die Überraschungen, die dabei entstehen, könnten möglicherweise Unruhe, aber auch Freude bereiten.

323

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

In diesem Kapitel erfolgt die Feldforschung zum in dieser Arbeit thematisierten Wortfeld. Nach einer »Einführung in das Wortfeld«, unterteilt in die Bereiche qi und ki/ke, wird die »lexikalische Feld­ forschung« vorgenommen, mithilfe der in Kapitel 2.3 dargelegten, von Austin inspirierten Methode der linguistischen Phänomenologie. Am Ende des Kapitels werden anhand der Feldforschung »Phänome­ nologische Grundstrukturen« aufgeschlossen, die im analysierten Wortfeld zu bemerken sind. Das Kapitel wird wie das vorherige mit einem Fazit beschlossen.

3.1 Einführung in das Wortfeld Der »linguistischen Feldforschung« mithilfe von lexikalischen Arti­ keln wird im Folgenden eine Einführung in das Wortfeld vorange­ stellt. Hier wird das Wortfeld im Hinblick auf Lesarten, Bedeutun­ gen/Konnotationen, und deren Zusammenhänge mit historischen Entwicklungen überblickt. Dies erfolgt zunächst für das ursprünglich chinesische Wortzeichen qi (氣, 气) sowie im Anschluss für das japanische Wortfeld ki/ke (気).

3.1.1 Zum Wortzeichen qi (氣, 气) Ki (気) und qi (氣, 气) werden von japanischen Muttersprachler:innen häufig als ein identisches Wort betrachtet. Die Schreibweise ki folgt der japanischen Lesart, qi der chinesischen. Das japanische Wort ki wird heute auf mehrfache Art gelesen und ausgesprochen, z. B. ke,

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

ge oder gi.324 Dies liegt daran, dass die chinesischen Schriftzeichen spätestens ab dem 5. Jh. in die japanische Sprache eingeführt wur­ den, obwohl die japanische und die chinesische Sprache von ihrem strukturellen Aufbau her ganz verschieden sind.325 Heute wird das Wort »ki«– unabhängig von der Lesart – in den häufigsten Fällen als eine vereinfachte Form des ursprünglich chinesischen Schriftzei­ chens geschrieben, nämlich 気.326 In europäischen Sprachen ist das Beispiele für die mehrfachen Lesarten wären shikke (湿気), kehai (気配), warugi (悪気), sarigenai (さり気ない) etc. Auf die Entfaltungsgeschichte des japanischen Wortes ki (ge, ke, gi) wird im nächsten Unterkapitel 3.1.2 eingegangen. 325 Vgl.: Elberfeld: Sprache und Sprachen: Eine philosophische Grundorientierung, 2012, S. 166. Die Verschiedenheit der zwei Sprachen zeigt sich sowohl auf der gram­ matischen als auch auf der phonetischen Ebene. Während sich die chinesische Gram­ matik – trotz der bestehenden Problematik der Vereinfachung der nicht-europäischen Sprachen in der Interpretation der Grammatik – tendenziell einfacher mit den Gram­ matiktermini der indo-europäischen Sprachen erklären lässt, ist die japanische Gram­ matik deutlich von jenen zu unterscheiden, allein auf der Ebene der Wortreihenfolge (bzw. der Syntax). Während z. B. zahlreiche indo-europäische Sprachen die Struktur zeigen: Subjekt–Verb–Objekt (wie im Satz »Ich esse einen Apfel«), ist die gramma­ tische Reihenfolge im Japanischen umgekehrt: (S) O – V (wie im Satz »(watashi wa) ringo o taberu«). Dabei wird in den häufigsten Fällen das Subjekt ausgelassen. Hinsichtlich der Einflussnahme der chinesischen Sprache auf das Japanische ist anzu­ merken, dass in Japan seit der Einführung der chinesischen Schriftzeichen bis zum Anfang des 20. Jh. eine Tradition unter den Gelehrten vorhanden war, über die Kennt­ nisse der klassischen chinesischen Sprache zu verfügen (sie nicht nur lesen, sondern auch schreiben zu können). Beispielsweise gehört auch der japanische Schriftsteller Natsume Sōseki (1867–1917), auf dessen Schriften sich Hisayama in seiner Disser­ tation Erfahrung des ki, Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre zahlreich bezieht, zu dieser Tradition. Eine kleine Nach-Spur dieser Tradition lässt sich auch im heutigen Schulsystem Japans noch erkennen, insofern dass die klassische chinesische Sprache (anhand von Auszügen aus der klassischen Literatur wie Shiji (史記), Lun yu (論語), Mengzi (孟子), Laozi (老子), Zhuangzi (荘子), aber auch aus klassischen Gedichten von Li Bai (李白), Du Fu (杜甫), Wang Wie (王維), Tao Yuanming (陶潜), Han Yu (韓 愈) usw.) gelesen und gelernt wird – wenn auch anhand der Leseregeln (inklusive der Interpretation der Grammatik), die auf eine der heutigen japanischen Sprache angenäherte Weise angepasst sind. Genauso enthält auch die Lerneinheit der spät­ altjapanischen Sprache das Curriculum der Schule im heutigen Japan. Trotz der Anpassung an die gegenwärtige japanische Sprache scheinen den japanischen Schü­ ler:innen und Erwachsenen diese Lerneinheiten gewisse Basiskenntnisse stiften zu können, und ihnen einen Zugang zum Bereich chinesischer Sprache sowie zur chine­ sischen Philosophie und Denktradition im Allgemeinen zu erschließen. Vgl.: Uchida und Ishizuka (Hg.): Shinkokugo yōran (新国語要覧), 2005, S. 285. 326 Das Schriftzeichen 気 gilt als die vereinfachte und heute als Standard gültige Form, und 氣 als die veraltete, traditionellere Form. Im Festland Chinas wird heute am meisten die neuere Form (气) verwendet. Es gibt häufig Fälle, in denen das 324

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3.1 Einführung in das Wortfeld

chinesische qi oder chi unter anderem anhand der Verwendung in Nomen wie Qigong (気功) bekannt, eine meditative Körperpraktik, bei der es sich »um Bewegungsformen und Wahrnehmungsschulun­ gen« handelt.327 Ein ähnliches Beispiel mit ki aus dem Japanischen wäre Aikido (合気道), eine Selbstverteidigungskunst aus dem Bereich der Weg-Künste. In der vorliegenden Arbeit wird das ki328 aus der heutigen japanischen Alltagssprache behandelt, dessen Wurzeln teil­ weise aus dem chinesischen qi stammen.329 Vergleichbar mit der »Familienähnlichkeit« bei Wittgenstein,330 die in qi und ki zu sehen ist, wird qi oft als ein Schlüsselbegriff von allgemein in Ostasien ver­ breiteten, repräsentativen Wahrnehmungsformen der Welt betrach­ tet.331 Es ist jedoch zu beachten, dass eine Unterscheidung zwischen dem Wortgebrauch des qi im z. B. Japanischen, Chinesischen bzw. Mandarin, Taiwanesischen, Kantonesischen u. A. und Koreanischen möglich ist – unter Einbezug und Respektierung von jeweiligen, gegenseitigen Einflussnahmen, aber auch von deren eigenen spezifi­ schen Entfaltungsgeschichten.332 Eine Unterscheidungsmöglichkeit der jeweiligen Entfaltungsgeschichten des Wortzeichens (気, 氣) aus dem gegenwärtigen Sprachgebrauch des Chinesischen und Japa­ Wort ki im Japanischen ohne die o. g. Zeichen geschrieben wird – am häufigsten wird ki in solcher Form in Hiragana (き, け oder auch げ: eine Silbenschriftart des Japanischen) geschrieben. 327 Elberfeld (2012): S. 304. 328 In der vorliegenden Arbeit werden unter dem ki (気) auch die Lesarten ke, ge oder gi mit gemeint. 329 Sowohl Nakai als auch Doi vertreten die Ansicht, dass eigenständige Nuancen im japanischen Gebrauch des ki unabhängig von dessen Wurzel im qi aus dem Chinesi­ schen entwickelt worden seien. Nakai sieht den Grund hierfür in der Vermischung des Wortfelds ki (qi) mit dem japanischen Wort ke (vgl.: Doi (1971): S. 149. Vgl. auch: Nakai (1995b): S. 176, 187). Auf eine mögliche Frage, ob ki und qi als zwei unter­ schiedliche Wörter oder als ein Wort verstanden werden sollen, geht die vorliegende Arbeit nicht ein, da diese Frage zum einen oftmals mit einem bestimmten Interesse aus einer möglicherweise übermäßigen Selbstidentifikation mit einer Nationalität einhergehen könnte, und zum anderen, weil die natürlichen Sprachen im Allgemeinen immer schon als einander beeinflussende und voneinander beeinflusste, sich mitein­ ander entwickelnde und lebendige Phänomene zu verstehen sind. 330 Wittgenstein (2015): S. 57f. (PU § 66, § 67). 331 Chung et al. (2003): S. 42. 332 Nach Chung, Hara, Yang und Ryu wurde das Wort ki im koreanischsprachigen Raum zur Zeit der Koguryo-Dynastie (624 v. u. Z.) mit der Aufnahme des Daoismus aus China im Bereich der spirituellen Übungspraktiken (»spiritual training«) auf eine markante Weise etabliert, welche tendenziell eher als eine Art Religion verstanden worden sei, als als ein »Forschungsgegenstand.« Chung et al. (2003): S. 51.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

nischen scheint sich beispielsweise darin zu zeigen, dass das japani­ sche Wortzeichen ki vor allem bei Gemütsbewegungen (wie z. B. kimochi, 気持ち) verwendet werden kann, was bei dem gegenwärtigen Wortzeichen qi (气) im gegenwärtigen Chinesischen nur begrenzt der Fall zu sein scheint.333 Dieses Kapitel beschränkt sich auf eine Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte des Wortzeichens qi sowie dessen früher Entfaltungsgeschichte. Zur ersten Einführung bzw. um einen ersten Eindruck des Themas zu vermitteln, könnte das folgende Zitat hilfreich sein: Qi, dieses Zeichen, das den aktuellen Begriff »Qigong« als gesund­ heitsfördernde und therapeutische Technik entscheidend mitgeprägt hat, kann innerhalb des klassischen Chinesisch und in der moder­ nen chinesischen Umgangssprache »Atem«, »Luft«, »Dampf«, »Gas«, »Wetter«, aber auch »Art und Weise einer Sache«, »Veranlagung«, »Temperament«, »Kraft«, oder »lebensspendendes Prinzip«, »Ein­ flüsse« oder »materielle Kraft« bedeuten, aber auch physikalische oder klimatische Zustände beschreiben.334 Darüber hinaus finden wir noch spezialisierte Bedeutungen des Terminus technicus Qi innerhalb verschiedener Fachsprachen, wie zum Beispiel Qi in der Bedeutung von »Geruchsausstrahlung«, aber auch als »Temperaturausstrahlung« einer Arzneidroge.335

So beginnt nun eine kleine Reise in die chinesische Antike, um uns ein wenig an dieses unendlich breite Spektrum anzunähern. Zur ursprünglichen Form des Wortzeichens für qi gibt es unterschiedliche Theorien. Laut dem Neokonfuzianer Zhang Zai (張載) findet sich die ursprüngliche Form (氣) des Wortzeichens qi bereits in Orakelkno­ chen und Bronzegefäßen der Shang Dynastien (商朝 ca. 16.-11. Jh. v. u. Z.) und der Zhou-Dynastie (周朝 11. Jh.-256 v. u. Z.) aus dem alten China, und wurde mit zwei Zeichenteilen gezeichnet oder geschrieben:

Für das qi in der Alltagssprache im gegenwärtigen Chinesischen als ein Zeichen, das der emotionalen und affektiven Dimension des Menschen zugeschrieben wird, scheinen sehr wenige Beispiele vorhanden zu sein. Ein Beispiel hiervon wäre »Stim­ mung« (气氛 [qìfēn]). Vgl.: Pons GmbH (Hg.): »Stimmung«, in: Langenscheidt Online Wörterbücher, https://de.langenscheidt.com/deutsch-chinesisch/stim mung#sense-1.1.1 (abg. am 15. Dez. 2022). 334 Auf die chinesische Medizin, in der qi die entscheidende Rolle spielt, wird in Kapitel 3.3.5 etwas ausführlicher eingegangen. 335 Kubny (1998), S. 55. Siehe auch: Elberfeld (2012): S. 305. 333

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3.1 Einführung in das Wortfeld

1. 气 (Dampf, Dunst, Gasartiges), 2. 米 (Reis).336 In diesem Bezug nennt Kuroda Genji, ein japanischer Psychologe, Physiologe und Arzt, der sich ebenso mit der chinesischen Medizin und der Sinologie auskannte, die folgende Theorie: Im Orakelknochen gebe es nicht genau das Zeichen 氣 oder nicht einmal die Form 气, sondern qi stehe dort in einer anderen Form (die eine dem Gleichheitszeichen ähnliche Form hat, hinter dem zusätzlich noch ein Strich hinzugefügt würde, es ähnelt 三).337 Dieses Zeichen wurde nach Kuroda überwiegend im Sinne von »ersuchen« oder »verlangen« (乞, 求) verwendet, was wiederum später zusätzlich die Bedeutung von »geben« und »schen­ ken« (与) übernimmt.338 Die Frage, ob dieses Zeichen als eine verein­ fachte Schriftform für qi verstanden werden kann, wird je nach Ansatz unterschiedlich behandelt. Einer Theorie zufolge, die von Yu Xingwu (于省吾, 1896–1984, chinesischer Philologe und Archäologe) stammt, hat dieses verein­ fachte Zeichen drei unterschiedliche Bedeutungen (in Form von Verb und Adverb) getragen: 1. Um etwas ersuchen (乞求), 2. Etwas errei­ chen (迄至), 3. enden sowie schließen (訖終).339 Obwohl es unter­ schiedliche Interpretationen des Zeichens und Herangehensweisen an die Frage gibt, kann dies eine (wenn auch) vage Vorstellung davon ermöglichen, dass das Wortfeld von qi nicht nur dank der grammatischen Flexibilität der chinesischen Sprache allgemein ein breites Spektrum umfasst, sondern dass es sich bei qi selbst auch um eine dynamische, sich ausbreitende Bewegung (wie die Worte »ersuchen/erwünschen«, oder »erreichen« nahelegen) handelt. Diese Dimension zeigt sich deutlich im ältesten systematischen Zeichenle­ xikon Shuowen Jiezi (説文解字) der chinesischen Sprache, 340 in dem das Wortzeichen von qi zum Reis-Radikal (米) geordnet wird. Dabei soll das Zeichen u. a. für den Akt des Gebens/Schenkens (vor allem im 336 Ommerborn: Die Einheit der Welt – Die Qi-Theorie des Neokonfuzianers Zhang Zhai (1020–1077), 1996, S. 22. 337 Es ähnelt dem Schriftzeichen für drei (三) aus dem Chinesischen und Japanischen, wird jedoch nach Yu Xingwu u. A. von jenem unterschieden (vgl.: Kuroda (1977): S. 12f.). Das Zeichen, von dem hier die Rede ist, konnte leider aufgrund der Unver­ fügbarkeit des Zeichens im heutigen Tastatursystem nicht gezeigt werden. 338 Ebd.: 13f. 339 Vgl.: Maruyama: Ki – rongo kara nyū sai’ensu made (気 – 論語からニューサイ エンスまで), 1986, S. 16; Onozawa et al. (1991): S. 14f. 340 Entstand um ca. 100 n. u. Z. und wurde von dem chinesischem Gelehrten Xu Shen (許慎) verfasst. Vgl.: Maruyama (1986): S. 16.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Kontext mit Reis bzw. damit, dem Gast in Dampf gekochten Reis zu schenken) verwendet worden sein.341 Nach Shuowen Jiezi (説文解字) wird qi sowohl als Verb als auch als Nomen verwendet, d. h. das qi kam sowohl im Zeichen des Schenkens (oder Geben) als auch als Nomen (Reis) vor.342 Wolfgang Ommerborn beschreibt die mögliche Assoziations­ kette zu qi in jener Zeit folgenderweise: Die optisch wahrnehmbare Erscheinung des gasförmigen Zustandes, den der Dampf aufweist, hat bei den Chinesen früher wohl allerlei Assoziationen hervorgerufen. Sie sahen, daß der Dampf eine von den festen und flüssigen Dingen verschiedene Konsistenz hat, in einem Transformationsprozeß aus festen und v. a. flüssigen Dingen entsteht, nach oben steigt und jeden dargebotenen Raum ausfüllen kann.343

Durch die Beobachtung der Bewegung vom Dampf und vom Rauch, die nach oben steigen, scheint zudem eine Verbindung zu allem hergestellt worden zu sein, was über das Alltägliche hinausgeht. So hat diese Assoziation nach Ommerborn auch zur Entstehung des Ahnenkults beigetragen: Das Verbrennen von Opfergaben, deren Rauch nach oben steigt, ist darum ein wichtiger Bestandteil der entsprechenden Kulte und der Rauch somit ein Kommunikationsmedium zwischen der Welt der Lebenden und der Verstorbenen bzw. Götter, wenn die Lebenden – welche die toten Ahnen zu versorgen haben – versuchen, mit den Opfern diese wohlgefällig zu stimmen, da sie im guten wie im schlech­ ten Einfluß auf das Leben ihrer Nachfahren nehmen können.344

Dieser Aspekt kann mit dem anderen Bedeutungsaspekt, dem Radi­ kal 气 als Gestalt von Wolken, verbunden, weitere Bereiche bzw. Bezüge zum Atmen345 und zur Psyche sowie zur Geistigkeit des Die Stelle lautet in chinesischen Zeichen folgenderweise: »氣 饋客芻米。从米气 聲。« (eigene Übers. mithilfe der Einführung Kurodas: »qi heißt, Gästen den Reis zu schenken. Und Reis ist die Stimme des qi.« Kuroda (1975): S. 7f. Eigene Übers. 342 Ebd. 343 Ommerborn (1996): S. 23. 344 Ebd. Hierzu siehe auch seine Ausführung: »Der Sitz der verstorbenen Ahnen der Herrscherklasse und der höchsten Gottheiten wird schon zu den Zeiten der Dynastien Shang und Zhou räumlich oben angesiedelt, wie selbst die Bezeichnungen Shang Di (Erhabener Oben) und Tian (Himmel) deutlich machen.« Ebd.: S. 24. 345 So beschreibt Ommerborn diese Assoziationskette: »Aus der konkreten Beobach­ tung, daß Dampf sich in einem Raum ausbreitet und ihn ausfüllt, entwickelte sich dann 341

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3.1 Einführung in das Wortfeld

Menschen ersichtlich machen, die zum qi-Wortfeld als diesem ent­ weder zugehörig oder zumindest nahestehend angesehen werden. Nach dem Zeichenlexikon Shuowen Jiezi (説文解字) wird dieses Verhältnis folgendermaßen bestimmt: »Die Wolken sind Dampf der Berge und Flüsse. Dies folgt dem Zeichen 云. Dies repräsentiert die Form der Bewegung (Drehung) von Wolken. Alles, was den Wolken gehört, folgt Wolken.«346 Diese zwei Zeichengestalten entsprechen dem Zeichen 云 (»sagen«, »genannt«, »dies und das (sagen)« im heu­ tigen Japanischen)347. Ein interessanter Punkt ist, dass das Zeichen 云 später in Japan von dem (japanischen) Sinologen Takada Tadachika (高田忠周 1861–1946) in seiner Schrift Kochūhen (古籀篇) (1925) zusammengesetzt mit dem Zeichen 白 (weiß) als ein ursprüngliches

wohl die Vorstellung, daß schließlich das gesamte Universum von einem gasförmigen Stoff, dem qi, durchdrungen sein muß. Daß das auch jeweils auf die Einzeldinge zutrifft, konnten die Beobachter direkt von dem Phänomen ableiten, daß bei Menschen und Tieren in kalter Luft beim Ausatmen der mit der Lufttemperatur verglichen wärmere Atem als Dampf zu sehen ist, der Atem also selbst Dampf ist, welcher – abhängig von der Lufttemperatur – bald sichtbar, bald unsichtbar ist. Offensichtlich ist dabei, daß auch der nicht sichtbare Atem tatsächlich vorhanden ist und nicht, nur weil er mit den Augen nicht wahrgenommen werden kann, nicht existiert.« Ebd. 346 Der Satz folgt Kurodas Übersetzung ins gegenwärtige Japanische des folgenden Satzes aus dem Zeichenlexikon Shuowen Jiezi (説文解字): »雲 山川气也。从雨云。 象雲囘轉形。凡雲之屬皆从雲。« Dabei sind auch die zwei Zeichen nebenbei hin­ zugefügt: Eines sieht aus wie eine Kombination von dem Zeichen 二 und einem kleinen Kreis darunter, der den obigen Teil mit einem winzig kleinen Strich zu berühren scheint. Das andere Zeichen sieht aus wie eine Kombination von の und dem unteren Radikal von 道 (ohne 首). Die beiden Zeichen lassen sich heute nicht im üblichen Zeichensatz finden. Kuroda (1975): S. 9. 347 In diesem Kapitel werden, bei ursprünglich altchinesischen Wortzeichen, Wör­ ter in Klammern eigens ins Deutsche übersetzt, anhand der bereits vorhandenen, japanischen Übersetzungen. Da die hier relevanten Wortzeichen ursprünglich aus dem Altchinesischen stammen, werden beim Übersetzen deren Bedeutungen im heutigen Chinesischen nachgeschlagen, um diese mit zu berücksichtigen. Da dabei ein kaum zu erwähnender Unterschied zwischen dem heutigen Chinesischen und dem heutigen Japanischen entdeckt wurde, folgt die vorliegende Arbeit der Manier, in den Klammern nur die deutsche Übersetzung nach dem Japanischen zu vermerken. Bei Bedarf wird der Unterschied zwischen dem heutigen Japanischen und dem heutigen Chinesischen in der Fußnote erwähnt. Zu erwähnen ist zudem, dass sowohl Takada als auch Kuroda als japanische Sinologen gelten, wobei der entscheidende Unterschied darin besteht, dass Takada damals seine Schriften auf Chinesisch (kango) schrieb, während Kuroda auf Japanisch schrieb. (Seine Lektüre aller Quellen erfolgte jedoch ursprünglich auf Chinesisch.).

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Schriftzeichen für Seele/Psyche/Geist (魂) erklärt wird.348 Die Worte hun (魂) sowie po (魄) stehen in einem engen Kontext zu dem Wort­ feld von qi sowie mit xin im Chinesischen und kokoro im Japanischen (心, Herz, Herzgeist). Das Wortzeichen 魂 (hun im Chinesischen, tamashii oder kon im Japanischen) ist enorm schwierig zu überset­ zen, und könnte provisorisch etwa als ein Gemisch der deutschen Wörter »Seele«, »Psyche« und »Geist« verstanden werden. Das linke kleine Radikal von 魂 ist dasselbe Zeichen wie das bereits vorgestellte Zeichen yun (云). Es könnte also möglicherweise ein Zusammenhang zwischen diesem hun (魂) und yun (云) entdeckt werden. Yun heißt heute in etwa »sagen«, wird aber auch als eine Repräsentanz für die Bewegung und Drehung der Wolken in der Erdatmosphäre in Shuowen Jiezi erklärt.349 So verweist Kuroda auf den möglichen Zusammenhang, dass das Wortzeichen 白 (»weiß« im heutigen Japa­ nisch), in Verbindung mit der Bedeutung von »Atem und Sprache aus der Nase und dem Mund«350 aber auch von Bewegung und Verlauf von qi (運氣) innerhalb des menschlichen Körpers, zur Entste­ hung des Begriffs 魄 (po im Chinesischen und haku im Japanischen) bzw. »Schattenseite des hun« (陰 von 魂) beigetragen habe.351 Denn das Zeichen 白 wird derselben Kategorie wie ein anderes Zeichen 自 (»ich«, »selbst« oder »von alleine«) zugeschrieben, nämlich der Kategorie des »Nasenförmigen«, welche die menschliche, körperliche Kuroda (1975): S. 10. Kuroda verweist an dieser Stelle auf das Werk Takadas: Takada: Kochūhen (古籀篇), 1902. 349 Die Assoziations- sowie Vorstellungskette könnte leichter zugänglich oder nach­ vollziehbar sein, wenn dies folgenderweise beschrieben wird: Die Bewegung der Wol­ ken und der Erdatmosphäre lassen sich von Zeit zu Zeit in Form von Erfahrung vom Wetterwechsel des Tages verbal beschreiben sowie aussprechen. Dass das Wetter – vor allem durch die Veränderung des Luftdrucks – außerdem auf unsere Stimmung und Laune einen Einfluss haben kann, gehört sicherlich zum Alltagswissen. Da die Stimmung sowie die Laune einen Einfluss auf die Gefühlsbildung haben, so kann auch ein Kontinuum zwischen der Wettererfahrung, dem Sprechen sowie der Psyche (sowie Gemüt) erblickt werden. Die Dynamik von den drei Momenten scheint keineswegs nur als getrennt anzusehen zu sein, von dem, woran und was man – von seinem Situiertsein in der Atmosphäre, Situation und Umgebung aus – fühlt, empfindet und denkt. Hisayama berührt diese Dimensionen ebenso in seiner Dissertation im Kapitel »ki, kokoro und das Wetter«. Vgl.: Hisayama (2014): S. 89–98. 350 Kuroda (1975): S. 11. Eigene Übers. 351 Die mögliche Verbindung zwischen bai (白), yun (云), hun (魂) und po (魄) (die letzten zwei Zeichen lassen sich im heutigen Japanischen kompaku lesen und können zusammengesetzt auch »Geister der verstorbenen Menschen« bedeuten) stammt auch von Kurodas Lesung von Kochūhen (古籀篇) von Takada. Kuroda (1975): S. 10f. 348

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3.1 Einführung in das Wortfeld

Seite des qi; auch Körperlichkeit (魄) im Vordergrund hat.352 In diesem Zusammenhang erwähnt Kuroda noch die mögliche Interpretation, dass das Wort hun (魂) als etwas verstanden werden könne, was im Kontinuum mit der »Bewegung und dem Verlauf der Wolke in der Erdatmosphäre« (運气) stünde, da das Zeichen yun (云), wie oben bereits eingeführt wurde, dasjenige ist, das die Bewegung von Wolken repräsentiert. Kuroda erwähnt dabei dessen vermutliche Verbindung mit dem Atem sowie Atmen (氣息).353 In diesem Zusammenhang zu hun (魂), po (魄) und yun (云) können die drei Momente – Atmen und Atem am Leib zum Ersten, Seele, Psyche und Geistigkeit zum Zweiten und die Bewegung, Drehung und der Verlauf der Wolken in der Erdatmosphäre (運气) zum Dritten – als solche Momente betrachtet werden, die bereits auf der Zeichenebene in einem Konti­ nuum stehen.354 Was das qi (氣 sowie 气) in der noch heute erkennbaren Form betrifft, lässt sich nach dem heutigen Wissensstand in den ältesten chinesischen Schriften Shiji (史記) und Shu Jing (書経, auch als Shangshu 尚書 bekannt) noch keine Erwähnung finden.355 Ein wich­ tiger Aspekt aus dem qi-Wortfeld ist davon gekennzeichnet, dass es als Konzept auch für alle möglichen Elemente der Naturwelt entweder als relevant oder beinahe auch als verantwortlich für diese betrachtet wurde. Ein gutes Beispiel hierfür lautet aus Zhuo Zhuan (左傳 oder 春 秋左氏伝) aus dem 6. Jh. v. u. Z.:

352 Vgl.: ebd. Siehe auch: Aimi: Kanpō no shinshin’igaku (漢方の心身医学), 1976, S. 12f. 353 Es kann erwähnenswert sein, dass das Wort unki (運気 Tragen/Laufen von ki), in derselben Schriftzeichenkombination aus dem heutigen Japanischen, heute eine etwas einseitige Bedeutung, wie z. B. Verlauf des Glücks sowie entscheidendes Moment des Schicksals, bekommen hat. Die Grundidee kam ursprünglich vom altchinesischen Buch I-Ching (易経), dessen Erklärungen von Kombinationen von Yin (陰) und Yang (陽) für das Alltägliche im Konzept Feng Shui (風水) angewendet wurden und werden. 354 Außerdem scheint es erwähnenswert zu sein, dass das Zeichen 云 (yun auf Chi­ nesisch und un sowie iwa von iwa-ku (云く) im Japanischen) heute im Sinne von in etwa »sagen« verwendet wird, während dieses im Shuowen Jiezi (説文解字) als »die Form der Bewegung (Drehung) von Wolken« definiert wurde (Kuroda (1975): S. 10). So kann auch in Erinnerung gerufen werden, dass die Wandlungen der Natur ursprünglich im Taoismus und später auch in neokonfuzianischen Schulen zur Erklä­ rung von Weltentstehung sowie Lebensgeschehnissen je nach Schulen entweder her­ angezogen oder mitberücksichtigt wurden. Vgl. u. a.: Yamaguchi (1997): S. 47ff., Ono­ zawa et al. (1991): S. 439. Kuwako (1996): S. 39. 355 Ommerborn (1996): S. 25. Vgl. auch: Kuroda (1977): S. 21.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Der Himmel hat die sechs Qi. Sie sinken herab und produzieren die fünf Geschmacksrichtungen, entfalten sich und die fünf Farben entstehen, sammeln sich und die fünf Töne entstehen, degenerieren und die sechs Krankheiten entstehen. Die sechs Qi heißen: Yin, Yang, Wind, Regen, Nacht und Tag.356

Die sechs qi werden hier als Ursprung der menschlichen Wahrneh­ mungen bzw. der Änderungen der Welt und zugleich der Natur­ phänomene erklärt. An einer anderen Stelle werden menschliche Gefühlsphänomene sowie eine ethische Dimension miteinbezogen: »Gutes und Böses, Lust und Zorn, Trauer und Freude, welche die Menschen besitzen, werden von den sechs Qi hervorgerufen.«357 Die Verbindung »zwischen Naturwelt und Mensch bzw. mensch­ licher Gesellschaft« zeigt sich markant auch an dieser Zitatstelle. Hier werden die sechs qi als »die Ursache für das sittliche Bewußtsein und die dem Bereich der menschlichen Psyche zugehörigen verschiedenen Emotionszustände des Menschen« betrachtet. 358 So lässt sich erneut die daoistische, naturphilosophische Entfaltung des qi als solche 356 »Herzog Zhao« (昭公) (erstes Jahr: 540 v. u. Z.) in Zuo Zhuan (左傳). Zitiert aus: Ommerborn (1996): S. 27, Hervorh. i. O. Hingewiesen von Elberfeld (2012): S. 306. Im Chinesischen: »天有六氣、降生五味、發為五色、徵為五聲、淫生六疾、六氣 曰陰、陽、風、雨、晦明也。« Siehe: https://ctext.org/chun-qiu-zuo-zhuan/zha o-gong-yuan-nian (abg. am 2. Aug. 2021). Trotz der Problematik zur Entstehungszeit der Lehre der fünf Agentien (wu xing, 五行) zieht Ommerborn eine Verbindung zwi­ schen den sechs qi und der Lehre der fünf Agentien (五行) anhand einer anderen Stelle aus »Herzog Zhao« (昭公) (25. Jahr: 516 v. u. Z.) in Zuo Zhuan (左傳): »(Himmel und Erde) erzeugen die sechs qi und benutzen die Fünf Agentien. (So) bilden (die sechs) qi die fünf Geschmacksrichtungen, entfalten sich als die fünf Farben und sammeln sich in den fünf Tönen.« (Ommerborn (1996): S. 27). Im Chinesischen: »則天之明、因地 之性、生其六氣、用其五行、氣為五味、發為五色、章為五聲« (https://ctext.or g/chun-qiu-zuo-zhuan?searchu=%E4%BA%94%E8%A1%8C, (abg. am 2. Jan. 2021). Die fünf Agentien (wu xing, 五行) heißen auch »fünf Elemente« bzw. »Metall, Holz, Wasser, Feuer, Erde«. Sie werden jedoch nicht als »Grundstoffe wie bei den griechischen Naturphilosophen«, sondern als »fünf verschiedene grundlegende Pro­ zesse« verstanden, »welche Eigenschaften der materiellen Dinge bezeichnen, die durch diese Prozesse zur Geltung kommen. So wird der prozesshafte und dynamische Cha­ rakter von Ommerborn sowie Needham betont. Vgl.: Needham, Science and Civilisa­ tion in China. Vol. 2. History of Scientific Thought, 1956, S. 243f. (verwiesen von Ommerborn, vgl.: Ommerborn (1996): S. 27). 357 Vgl.: »Herzog Zhao« (昭公) (25. Jahr: 516 v. u. Z.) in Zuo Zhuan (左傳), ebd. 358 Ommerborn (1996): S. 27. Ommerborn erwähnt eine bereits bestehende Ein­ flussnahme des alten Konfuzianismus auf den alten Daoismus in der Hinsicht, dass hier zu der Zeit bereits die Erwähnung vom Guten und Bösen, also einer ethischen Dimension in der daoistischen Schrift zu finden ist. Ebd.

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3.1 Einführung in das Wortfeld

feststellen, in dem Sinne, dass die Natur nicht (nur) in der (heute tendenziell vergegenständlichten) Natur als Umwelt, sondern auch auf der menschlichen Emotions- sowie Bewusstseinsebene (die aber natürlich auch von der heutigen Sicht aus gesehen der Natur des Menschen angehören) ihren Ort hat.359 Die nächsten direkten Erwähnungen des qi360 aus der chinesi­ schen Klassik finden sich in Lun Yu (論語), welches als »von späteren Schülern des Konfuzius (trad. 551–479 v. u. Z.) frühestens im späten 5. oder im 4. Jh. v. u. Z. niedergeschrieben«361 bekannt ist. Dort sind vier Stellen zu finden.362 Eine Beispielstelle trägt die Bedeutung vom Atem im Vordergrund: »(Konfuzius) hob den Rocksaum, wenn er zur Audienzhalle hochstieg. Er verneigte sich ehrfurchtsvoll und hielt den Atem (Qi) an, so als wagte er nicht zu atmen.«363 An einer anderen Stelle, an der das qi auftaucht, wird es mit der physiologischen Dimension des Menschen in Verbindung gestellt: Meister Konfuzius sprach: «Vor drei Dingen nimmt der Edle (Jun Zi) sich in acht: in der Jugend, wenn Blut und Qi noch nicht gefestigt sind, meidet er Wollust; wenn er erwachsen ist und Blut und Qi erstarkt sind, meidet er Streit; wenn er alt ist und Blut und Qi abnehmen, meidet er Habgierigkeit.»364

359 Zu atmosphärischen Leiberfahrungen der Natur aus dem alten China, die auf eine sehr markante Art und Weise anhand chinesischer Gedichte von Du Fu (杜甫) (712– 770), Li Bai (李白) (701–762), Meng Haoran (孟公然) (689–740) u. A. eingeführt werden, siehe: Linck (2022): S. 127–181. 360 Kuroda erwähnt dazu Shijing (詩経, ca. 1200–600 v. u. Z., bekannt als die älteste chinesische Gedichte-Sammlung), in der das verwandte Wortzeichen 愾 auftaucht, dem die ursprüngliche Form 慨 zugeschrieben worden zu sein scheint. Da die ursprüngliche Bedeutung vom Zeichen 慨 bei Shuowen Jiezi (説文解字) als geatmete Luft sowie Atem (嘆息) erklärt werde, macht Kuroda deutlich, dass auch das Zeichen 愾 aus Shijing zur Erforschung der Entfaltungsgeschichte des qi-Wortzeichens (氣) einbezogen werden dürfe. Vgl.: Kuroda (1975): S. 22. 361 Ommerborn (1996): S. 28. 362 Während Ommerborn ausschließlich zwei Stellen nennt, sind nach Kuroda vier Stellen zu finden, dadurch dass das 旣 bei 食氣 beispielsweise bei Kuroda als eine Form von 氣 verstanden wird. Vgl.: Kuroda (1975): S. 23. Siehe auch: Ommerborn (1996): S. 28. 363 Ommerborn (1996): S. 28. Im Chinesischen: »攝齊升堂,鞠躬如也,屏氣似不 息者« Siehe auch: Onozawa et al. (1991): S. 31. Hervorh. i. O. 364 Ommerborn (1996): S. 28, Hervorh. i. O. (Lun Yu (論語), 16.7). Siehe auch: Yang Bojun: Lun Yu Yi Zhu, 1980, S. 176.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Dies verdeutlicht eine Verbindung zwischen dem Atem und der Lebenskräfte und Lebensenergie, die als Übersetzung des qi heute oft auch in Selbstkultivierungskörperpraktiken verwendet wird.365 Neben diesem Aspekt ist hierbei außerdem eine Rolle des »Barome­ ters« im Wort qi einzusehen. Diese Dimension fasst Ommerborn folgenderweise zusammen: »Der Grad der Intensität des Qi bildet also neben dem Blut eine Art Barometer der Gesamtverfassung des Indi­ viduums. In dem Zitat aus dem Lun Yu wird damit vermutlich schon ein über das rein Materielle hinausgehender Wirkungsbereich des Qi angedeutet.«366 Im Übrigen findet sich in Lun Yu ein interessanter Punkt zu einer möglichen Verbindung zwischen dem Sprachgebrauch und qi (in Tai Bo (泰伯)): Kuroda erwähnt den Ausdruck ciqi (辭氣, 辞 気 jiki auf Japanisch). Dieses Wort bedeutet heute den subtilen, jedoch zu erkennenden Unterschied in der Manier oder Art und Weise des Sprechens (Artikulation) und des Wortgebrauchs.367 Neben der Erwähnung von qi in Mozi (墨子) aus dem 5./4. Jh. v. u. Z. als etwas, in dem durch Bezugnahme auf die Maße der Ernährung eine gewisse Substanzhaftigkeit im qi eingesehen werden kann,368 scheinen die Erwähnungen des qi bei Mengzi (孟子, 371–289 v. u. Z.) eine gewisse und entscheidende Rolle zu spielen. Eine Stelle hiervon lautet: Wille [ 志 ] ist das, was qi leitet. Qi ist das, was Körper einigt (ausfüllt). Wenn sich der Wille selbst hält, so kommt qi dabei mit. Daher

Richard Wilhelm, ein deutscher evangelischer Theologe und Sinologe, der als Missionar in China ab 1900 ca. 20 Jahre lang tätig war, übersetzte den Ausdruck »Blut und qi« als Lebenskräfte. Die heutzutage am meisten verbreitete Übersetzung im Deutschen scheint hier verwurzelt zu sein. Vgl.: ebd. 366 Ebd.: S. 29. 367 Obwohl dies einen interessanten Aspekt aus dem qi-Wortfeld erschließen könnte, kann hierzu nichts wirklich Weiteres ausgeführt werden. Im japanisch-japanischen Wörterbuch Kōjien wird das heutige japanische Wort jiki (辞気) folgenderweise bestimmt: »Die Art und Weise des Sagens und des Wortgebrauchs« (言いぶり。こ とばづかい。) (Shinmura et al. (2020): S. 1257). Kuroda nennt die folgende Anmer­ kung vom späteren Zhuxi (朱熹), zu der Kuroda jedoch keinen konkreten Quellen­ verweis nennt und welche an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann: »ci (辭) ist Sprache, qi (氣) ist Stimmenluft (»辭言語。氣聲氣«) (Kuroda (1977): S. 23). Möglicherweise handelt es sich hierbei mit um die Art und Weise der Artikulation beim Sprechen und Reden. 368 Auch Kuroda sieht einen starken Fokus im qi-Begriff bei Mengzi auf das Physio­ logische und Körperliche des Menschen im Vergleich zum Willen (志) und Herz oder Herzgeist (心) ein. Vgl.: Kuroda (1977): S. 25ff. 365

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3.1 Einführung in das Wortfeld

wird gesagt, bewahre den Willen gut, sodass das qi nicht beschädigt (verloren geht oder wild) wird. Wenn sich der Wille konzentriert, so wird das qi mit bewegt. Wenn sich das qi konzentriert, so wird der Wille mit bewegt.369

Obschon der hier genannte Wille zunächst als »Leiter« des qi einge­ führt wird, wird die Einflussmöglichkeit von qi auf den Willen ebenso aufrechterhalten. Ommerborn interpretiert das qi hier anhand von Konfuzius’ Erwähnung von Blut und qi (血氣) als Vertretung des Körperlichen: »Es ist also eine wechselseitige Beeinflussung, welcher Qi und der Wille ausgesetzt sind. Qi ist aber dem Willen unterge­ ordnet, da letzterer ersteres führt. Qi selbst wird hier bei Mengzi offensichtlich als etwas Physiologisches aufgefaßt.370 Das Wichtige ist, dass das hier es dem Wille gegenüber Einfluss nehmen kann: [Q]i beeinflußt stets den Willen, wie ein körperliches Unwohlsein auch das geistige und psychische Wohlbefinden und Verhalten eines Menschen beeinträchtigen kann.«371 In sinologischen Forschungen wird ein wichtiger Zusammenhang zwischen dem qi-Begriff hier und dem des hao ran zhi qi (浩然之氣)372 betont: In Bezug auf die eigentliche Thematik bzw. das unbewegte Herz (oder den Herzgeist 不動心) aus dem zweiten Kapitel von Gong Sun Chou (公孫丑上) in Mengzi, in dem die o. g. Stelle auftaucht, wird ersichtlich, dass dieses hao ran zhi qi (浩然之氣) ein erstrebenswerter Modus von qi ist, das sich in eben diesem harmonischen und willensstarken Gemütszustand (不動 心) befindet.373 Das Wort hao ran 浩然 beschreibt, wie das Wasser geschmeidig in einem großen Fluss strömt. Hierzu kann das Gespräch zwischen Gong Sun und Mengzi, in Bezug auf die Frage von Gong Sun, was das hao ran zhi qi (浩然之氣) bedeute, hilfreich sein:

Die Stelle lautet: »夫志氣之師也、氣體之充也、夫志至焉、氣次焉、故曰持其 志、無暴其氣、既曰志至焉、氣次焉、又曰持其志無暴其氣者、何也、曰、志壹 則動氣、氣壹則動志也。« (Kobayashi (Hg.): Mōshi jō (孟子 上), 2014, S. 120. Eigene Übersetzung mithilfe japanischer und deutscher Übersetzungen. Vgl.: ebd., Kuroda (1977): S. 25, Ommerborn (1996): S. 29). Es bereitet eine weitere Problematik, ob das chinesische Zhi (志) problemlos mit dem deutschen Wort »Wille« zu übersetzen ist. Zur Unterscheidungsproblematik beim deutschen Willensbegriff siehe: Wille (2018): S. 59–233. 370 Ommerborn (1996): S. 30. 371 Ebd. 372 Der Ausdruck wird heute auch in Japan als eine Art Spruch verstanden, der von dem Gemütszustand, der erstrebenswert ist, handelt. 373 Ommerborn (1996): S. 30. 369

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Das ist schwer zu verbalisieren (erklären). Was qi anbetrifft, so ist es etwas unendlich Großes, unendlich Starkes und somit Aufrichtiges. Wenn man es ununterbrochen kultiviert und nicht schädigt, dann füllt es das Universum aus. Was qi anbetrifft, so muß es sich mit Rechtschaf­ fenheit (yi, 義) und dem Dao (道) vereinigen. Ist das nicht so, dann schrumpft es zunichte. Es entsteht (als die Kraft sittlichen Handelns) durch die Ansammlung von Rechtschaffenheit und dem Richtigen und kann (in dieser Form) nicht (nur) durch zufällige (Ausübung der) Rechtschaffenheit erlangt werden.374

Hier wird das qi also als etwas betrachtet, was anhand der stetigen Begleitung der »Rechtschaffenheit« (義)375 sowie des »Dao« (道)376 374 Größtenteils stammt die Übersetzung von Wilhelm (vgl.: Ommerborn (1996): S. 30f.), welcher kleine Änderungen von der Verfasserin hinzugefügt wurden. Im Chinesischen: »難言也。其為氣也、至大至剛、以直養而無害、則塞于天地之閒。 其為氣也、配義與道。無是、餒也。是集義所生者、非義襲而取之也。行有不慊 於心、則餒矣。« Die Stelle geht weiter: »我故曰、告子未嘗知義、以其外之也。 必有事焉而勿正、心勿忘。« Kobayashi (Hg.) (2014): S. 122. 375 Das Wort »Yi« (義) spielt auch in der japanischen Aufnahme des Neokonfuzia­ nismus eine große Rolle. An dieser Stelle kann darauf jedoch nicht ausführlich ein­ gegangen werden. Das Wort »bezieht sich im Konfuzianismus auf das pflichtgemäße und darum richtige Verhalten des Menschen in der Gesellschaft. Die deutsche Über­ setzung ist in der Regel «Rechtschaffenheit» oder «Pflicht».« Ommerborn (1996): S. 30. 376 Dao (道) wird später von Laozi (老子 bzw. in Daodejing 道徳経) folgenderweise eingeführt: »Dao – kann es ausgesagt werden, ist nicht das beständige Dao. Der Begriff, kann er definiert werden, ist nicht der beständige Begriff. Was ohne Begriff ist, ist Anfang von Himmel und Erde. Was einen Begriff hat, ist Mutter der zehntau­ send Dinge. Wenn man daher beständig (im) Nicht-Dasein (ist), besteht der Wunsch, dadurch seine feinen Verästelungen zu erkennen. Wenn man beständig (im) Dasein ist, besteht der Wunsch, dadurch seine Grenzen zu erkennen. Diese beiden (Dao und die Begriffe) treten zusammen hervor und haben unterschiedliche Bezeichnungen; beides gemeinsam heißt mystisches Dunkel, Mystisch Dunkles des mystisch Dunk­ len: aller feinen Verästelungen Tor.« (»道可道、非常道。名可名、非常名。無名天 地之始。有名萬物之母。故常無、欲以観其妙。常有、欲以観其儌。此兩者、同 出而異名; 同謂之玄。玄之又玄: 眾妙之門。«) Vgl.: Laozi (2009): S. 8f. Eine weitere durch Ommerborn vorgebrachte Beschreibungsmöglichkeit von Dao ist folgende: »Die wörtliche Bedeutung des Begriffs Dao ist «Weg». Im Shuo Wen, einem Wörterbuch aus dem 2. Jh., steht zur Bedeutung des Dao Folgendes: ›Das, worauf man gehen kann, ist Dao.‹ Shuo Wen Jie Zi. Fu Jian Zi. Xu Shen (Zhuan), Beijing 1979, S. 42. Das Schriftzeichen besteht aus den beiden Elementen «Fuß» und «Haupt, Kopf». Es handelt sich also um einen Weg, den man bewußt beschreitet. Zur etymologischen Entwicklung des Begriffs Dao und seinem konkreten Inhalt schreibt Köster: ›Der Weg hatte und hat wohl immer im Leben des chinesischen Bauern eine maßgebende Bedeutung. In den Lehm- und Lößgebieten Nordchinas ist nach längeren Regengüs­ sen der Boden der Landwege derart aufgeweicht, daß kein Durchkommen ist. Das gilt

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3.1 Einführung in das Wortfeld

kultiviert werden kann und muss, damit das qi überhaupt im Atem bleibt. So scheint Mengzi das Universum verstanden zu haben »als Ergebnis der Kultivierung« des qi, das auch von, mit und in Menschen entfaltet und kultiviert wird, trotz der Gegenüberstellung des Willens und qi und zugleich gerade aufgrund der Wechselwirkungen, die beide aufeinander ausüben können.377 Der Hinweis von Mengzi kann trotz dessen, dass er Fragestellungen aufwirft,378 als ein einführender Hinweis auf die Kultivierungsmöglichkeiten des qi betrachtet wer­ den. Hinsichtlich der Kultivierungsmöglichkeiten der Erwachsenen in Bezug auf die Artikulierungsästhetik des Fühlens, welche sich in der vorliegenden Arbeit kristallisiert, spielt sicherlich die Ansicht der Kultivierung von qi eine Rolle.379 Mengzi sieht in qi einerseits die physiologische Dimension des Menschen (wie z. B. Blut-qi: 血氣) – wie dies bei Konfuzius auch der Fall ist –, andererseits aber auch das, was zwischenmenschlich das Universum ausfüllen kann, so wie z. B. die Luft die Erdatmosphäre füllt.380 erst recht bei den häufigeren Überschwemmungen bis hinauf in die mythischen Zeiten Yüs. Abgeschnitten liegt dann Dorf von Dorf, oft Hof von Hof, und das Leben ist alles andere als normal. Abgeschnitten aber sind auch die Wege bei sozialen Unruhen, sei es Räuber-oder Soldatenplage. Die Summe solcher Erfahrungen ist: Wenn Wege da sind, und die Wege nicht gesperrt sind, dann herrscht Ordnung im Lande. Und so ist der Weg das Symbol der Weltordnung überhaupt.« Köster, H., Symbolik des chine­ sischen Universismus, Stuttgart 1958, S. 16. Eine adäquate Übersetzung für Dao in der chinesischen Geistesgeschichte erscheint mir schwierig, was auch die vielen unter­ schiedlichen Übersetzungsvorschläge, die es für den Begriff gibt, verdeutlichen. Bei Mengzi hat Dao an dieser Stelle gewiß einen ethischen Inhalt und ist im Sinne eines universalen «moralischen Weges» zu verstehen, dem der Mensch in der konkreten Gesellschaft folgen soll.« (Ommerborn (1996): S. 30f.) Das hier als »Shuo Wen« abgekürzte oder als »Shuo Wen Jie Zi« transkribierte Werk betrifft das bereits genannte Wörterbuch Shuowen Jiezi (説文解字). 377 Ommerborn (1996): S. 31. 378 Wie z. B. die folgende mögliche Fragestellung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann: ob das chinesische Wort zhi ( 志 ) mit dem deut­ schen Wort »Wille« zu übersetzen ist, sowie, was mit dem »Sittlichen« hier genau gemeint ist. 379 Qigong aus China gilt beispielsweise als eine Kultivierungsform von qi. 380 Ommerborn schreibt dazu: »Die Sittlichkeit, das sittliche Bewußtsein, ist dem Menschen immanent, darum trägt Mengzi auch die Auffassung vor, der Mensch ist seinem Wesen nach gut, d. h., er hat die Sittlichkeit qua Geburt in sich. Gleichzeitig ist der Mensch in der Welt aber vielerlei Verführungen ausgesetzt, die sein sittliches Bewußtsein trüben können und die ihn zu schlechten Gedanken und Absichten ver­ leiten. Wen nun ein schlechter Wille Qi leitet, wird dieses sich zwar als Kraft mensch­ lichen Handelns auswirken, aber in einem negativen Sinn, so daß es für Mengzi sittlich

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

In Dao-De-Jing von Laozi (老子, 4./3. Jh. v. u. Z.), der Klassik des Daoismus, lässt sich das qi explizit folgenderweise finden: 道生一、一生二、二生三、 三生萬物。萬物負陰而抱陽、沖氣以為和。 Dao erzeugt das Eine, das Eine erzeugt das Zweifache, das Zweifache erzeugt das Dreifache, das Dreifache erzeugt die zehntausend Dinge. Die zehntausend Dinge stützen sich auf (das weibliche Prinzip) Yin und tragen (das männliche Prinzip) Yang in sich. Die hervorquellende treibende Kraft Qi bringt beide in Übereinstimmung.381

Die Möglichkeit verschiedenster Interpretationsfreiräume akzeptie­ rend, verweist Ommerborn auf die Entstehung der Welt durch die Harmonie in einer Übereinstimmung der zwei »entgegengesetzten, aber komplementären Wirkkräfte«382 Yin (陰) und Yang (陽). Yin wird ursprünglich als Schattenseite der Berge, und Yang als deren sonnige Seite verstanden.383 Ommerborn formuliert: Dao ist der Urgrund und die alle Gegensätze aufhebende Einheit der Dinge, darum heißt es, Dao produziert die Eins. Aus dem Dao bildet sich [...] Yin und Yang, die, indem sie die Drei produzieren, entweder schon die Voraussetzung für die Entstehung des Himmels und der Erde (Tian Di) bilden, welche dann die unzähligen Dinge (Wan Wu) erzeugen, oder der Fünf Agentien, mit denen Yin und Yang dann zusammen das Universum und alle Dinge erzeugen.384 kraftlos bleibt. Erst in der Verbindung mit einem ethischen Bewußtsein kann Qi als die menschliche Lebenskraft in richtigem Maß entfaltet werden. Konkret bedeutet das, daß menschliches Handeln mit den als die ethischen Normen der Gesellschaft aufge­ faßten Riten (Li) übereinstimmen muß, denn die sind für Mengzi die objektive Wider­ spiegelung des dem Menschen immanenten sittlichen Wesens.« Ebd.: S. 32. 381 Laozi: Daodejing – Das Buch vom Weg und seiner Wirkung, 2009, S. 133. (In der Übersetzung sind Yin und Yang nicht kursiv gedruckt.) Ommerborn zitiert die Über­ setzung von Wilhelm: »Dao produziert Eins, Eins produziert Zwei, Zwei produziert Drei, Drei produziert die unzähligen Dinge. Die unzähligen Dinge tragen auf dem Rücken Yin und vorn auf den Armen Yang. Die Dynamik des Qi (von Yin und Yang) gibt ihnen Harmonie.« Ommerborn (1996): S. 33. 382 Ebd.: S. 33. 383 Siehe auch Yamaguchi (1997): S. 46. Im Bereich der chinesischen Selbstkultivie­ rungskunst Qigong (気功) beispielsweise wird das Begriffspaar auch als die passivere Haltung (Geschehnis einlassende Haltung, bzw. Yin) und als die aktivere Haltung (aktiv einarbeitende Haltung, bzw. Yang) verstanden. Zur Unterscheidung von Yin und Yang siehe auch: Linck (2022): S. 19ff. 384 Ommerborn (1996): S. 33. Aus dem Zitat aus Daodejing von Laozi oben stammen die Begriffe »Tian Di« 天地 und »Wan Wu« 萬物.

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3.1 Einführung in das Wortfeld

An dieser Stelle kann erblickt werden, wie die im späteren Zeitpunkt mitunter in neokonfuzianischen Schulen weiter entwickelten Dis­ kurse zum »Metaphysischen« (形而上) und »Physischen« (形而下) anhand des qi entwickelt wurden, verstanden als u. a. die ursprüngli­ che Energie, Kraft und Dynamik (»vital stuff«, »psychophysical stuff«, »lively material« im Englischen385), aus welchen alle Dinge und Phänomene entstehen, etabliert worden sind.386 Ein kleines Beispiel für noch einen anderen Bedeutungsaspekt aus dem qi-Wortfeld wäre in Qi wu lun (斉物論篇) in Zhuangzi (荘 子)387 zu finden: 夫大塊噫氣其名為風。 Das Bäuerchen der Erde heißt Wind.388

An dieser Stelle steht der Aspekt des Luftartigen sowie der Luft aus dem Wortfeld im Vordergrund. Unabhängig von der Frage, ob der Atem der Erde den Wind ausmache, oder ob wir Menschen aus dem qi des Himmels und der Erde gemacht werden, ist an dieser Stelle ein Punkt ersichtlich: Es handelt sich um eine Weltansicht oder besser eine Wahrnehmungsweise der Welt, in der der Mensch und die Natur nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern eher auf einer gemeinsamen Ebene (be)ruhen.389 An dieser Stelle wird bewusst Kalmanson (2018): S. 18. Vgl.: Kojima (2020): S. 138. 387 Zhuangzi ist eine Schriftsammlung, von der erzählt wird, dass sie ursprünglich vom gleichnamigen chinesischen daoistischen Philosophen/Gelehrten Zhuangzi (荘 子 ca. 360 v. u. Z. – ca. 300 v. u. Z.) stamme, und deren heutige Form in 33 Kapiteln von Guo Xiang (郭象 ca. 252 n. u. Z. – 312. n. u. Z.) zusammengestellt wurde. Vgl.: Mori: Rōshi sōshi (老子荘子), 2016, S. 127. 388 Kanaya: Sōji daiissatsu (naihen) (荘子第一冊 (内編)), 2016, S. 42. Vgl. auch Maruyama (1986): S. 18. Eigene Übers. 389 Hierzu fasst der Sinologe Mathias Obert treffend zusammen: »Das chinesische Wortzeichen qi (氣) zeigt einen vielschichtigen Zusammenhang von Phänomenen innerhalb chinesischer Welterfahrung und Weltauslegung an. Wir sollten qi daher als ein zentrales Paradigma in der philosophischen Bestimmung der Welt und des Menschseins verstehen. Anhand der vielfältigen Redeweisen, welche sich im Gefolge diesbezüglicher Beobachtungen auf verschiedenen Gebieten herausgebildet haben, läßt sich aus dieser Perspektive aufweisen, dass der in der chinesischen Geistesge­ schichte mit qi umrissene phänomenale Bestand in Denkmuster einfließt, die der gedanklichen Durchdringung von Bewegtheit, Verhältnissen und Bezügen dienen.« Obert: »Das Phänomen qi und die Grundlegung der Ästhetik im vormodernen China«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft: ZDMG / Deutsche Mor­ genländische Gesellschaft (1847), 2013, S. 167. 385

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vermieden, das Wort »Animismus« oder »animistische Weltanschau­ ung« zu verwenden, da die Bezeichnung »Animismus« bereits eine vorausgesetzte Annahme zu haben scheint, dass der Mensch als Beob­ achtungspunkt im Zentrum der Wahrnehmung und der Welt stehe, als das Wesen, von dem aus die Welt, die Gegenstände, Naturphäno­ mene, Pflanzen und Tiere usw. »animiert« oder beseelt werden.390 Im ältesten chinesischen Medizinbuch findet sich zudem ein kosmologischer Aspekt im qi-Wortfeld. Das Buch Huangdi neijing (黄 帝内経) besteht aus zwei Teilen: Suwen (素問 – wörtlich übersetzt: Einfache Fragen, stammt etwa aus der Han-Dynastie: 漢朝 ca. 206– 220 n. u. Z.) und Lingshu (霊枢 – wörtlich übersetzt: Geist/Seelen­ stamm, stammt etwa aus der Tang-Dynastie: ca. 618–907 n. u. Z.). Aus dem zweiten Band Lingshu kann in dem o. g. Bezug die folgende Stelle zitiert werden: 人以天地之氣生以四時之法成 Der Mensch bekommt Leben durch das qi der Erde des Himmels und der Erde. Er reift heran durch das Gesetz der vier Saisons.391

So zeigt sich das qi erneut als dasjenige, das sich ausbreitet und in das Universum, in den Himmel steigt, und nicht nur als das, was sich physiologisch innerhalb des menschlichen Körpers befindet und dort verbleibt. Als ein kleiner Überblick zu den in diesem Kapitel aufgeführten Aspekten des qi kann die folgende Zusammenfassung über Bedeu­ tungsaspekte und Lesarten des qi von Manfred Kubny, die aus dessen Recherche zu dem zeitgenössischen chinesischen Sinologen Zhu Rongzhi (朱榮智) stammt, hilfreich sein:

390 Mit dem Vorbehalt, dass auch das Konzept des Animismus je nach Denkenden oder Autor:innenschaft unterschiedlich definiert wird, scheint es dennoch der Fall zu sein, dass es sich beim ki-Wortfeld um eine Weltansicht handelt, in der vor jeglicher Wahrnehmung von Menschen verschiedene Zentren angenommen werden, die nicht als solche gelten, von denen aus die Dinge »animiert« werden, sondern eher dass die Zentren einer Weltansicht, die von qi gefüllt sind und von Anfang an kontinuierlich als sowohl vom singulären, als auch vom pluralen qi gefüllt gelten. Zu anthropologi­ schen Studien zum Animismus siehe: Descola: Par-delà Natur et Culture, 2005, S. 229–253. 391 Eigene Übersetzung mithilfe von einer englischen Übersetzung. Vgl.: Unschuld: Huang Di Nei Jing Ling Shu – The Ancient Classic on Needle Therapy, 2016, S. 7 (Kapitel 56 von Suwen (素問)).

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3.1 Einführung in das Wortfeld

1.

2. 3.

»Das Qi der Natur« 自然之氣 ziran zhi qi [...] Hier werden vor allem klimatische und thermische, in jedem Falle aber sinnlich wahrnehmbare Phänomene in der Natur beschrieben. »Das ursprüngliche Qi von Himmel und Erde« 天地之氣 tian di zhi qi [...]392 »Das Qi des menschlichen Körpers« 人體之氣 renti zhi qi [...] a) Aus dem »physiologischen Qi« 生理之氣 shengli zhi qi a.a) »Blut-Qi« 血氣 xueqi393 a.b) das »Qi der Atmung« 息氣 xiqi a.c) das »Qi der Stimme« 聲 氣 shengqi, welches die Lebenskraft des menschlichen Körpers anzeigt b) Aus dem »psychologischen Qi« 心理之氣 xinli zhi qi b.a) das Geist-Qi 身氣 shengqi394 b.b) das »Qi des Wollens« 志氣 zhiqi, welches die Aktivität des emotionalen Wollens und die durch dieses Wol­ len bedingte Ausstrahlung durch dessen psychisches Abbild im Gesicht des Menschen beschreibt b.c) das »Qi des Wagemutes« 勇気 yongqi, welches den geistigen Ausdruck von Tapferkeit oder Entschlossen­ heit beschreibt395

So zeigt also das chinesische Schrift- oder Wortzeichen qi ( 氣 ) vielfältige Bedeutungsschichten: angefangen mit selbstkultivieren­ den Meditations- und Bewegungskünsten wie Qigong (気功), dann mit seiner vermutlichen Wurzel in Assoziationsketten zu Reis, hin Kubny kommentiert hierzu: »Dieses Konzept des Qi bezeichnet eine Art Urstoff, aus dem sich alle Dinge der sichtbaren Welt bilden, so auch die Lebewesen. Wie fol­ gendes Zitat zeigt:,Das Leben des Menschen ist eine Ansammlung von Qi, Wenn es sich sammelt, dann bedeutet dies Leben, wenn es sich verstreut, dann bedeutet dies Tod.‘« Kubny (1998): S. 57. 393 Xueqi (血氣) wird folgenderweise weiterhin ausgeführt: »[…] xueqi, welches, im Körper kreisend, die treibende Bewegungskraft des Lebens darstellt, die treibende Bewegungskraft des Lebens darstellt und von einigen Autoren auch ›ursprüngliches Qi‹ 元氣 yuanqi genannt wird.« Ebd. Das Wort »ursprüngliches Qi« 元気 aus dem Chinesischen wird heute im japanischen Alltag als eine Art Begrüßungswort verwen­ det, um zu fragen, wie es einem geht: »O-genki desu ka« (お元気ですか, Geht es Ihnen gut? / Wie geht es Ihnen?) Siehe auch Elberfeld (2012): S. 311. 394 Bei Kubny steht die chinesische Zeichenkombination von 身氣 für shengqi als »Geist-qi«. Eventuell handelt es sich um eine andere Zeichenform (wie z. B. 神 sowie 精) als 身. 395 Kubny (1998): S. 57f. Hervorh. i. O. Siehe auch: Elberfeld (2012): S. 309. 392

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

zu »schenken« und »geben«, dessen »Dampf«, der nach Oben steigt und etwas »erreichen« und somit »schließen« kann, aber auch mit der Konnotation »Beweglichkeit« und »Wandlung der Natur« mit dem Bezug zum Luftbegriff, der den Lebensursprung andeutet. Zusätzlich zu dieser Zusammenfassung kann die folgende Beschreibung Ommerborns, die auch deutschsprachig sehr natürlich klingen kann, die genannten Assoziationsketten erhellen: Beim Atem des Menschen selbst kann so beobachtet werden, daß dieser in unterschiedlicher Form auftritt und von der einen in die andere Form wechselt. Hinzu kommt die Erkenntnis hinsichtlich der für die Lebe­ wesen existentiellen Bedeutung des Atemvorgangs. Wer nicht mehr atmet, der hört auf, als Lebewesen zu existieren. Der konkrete Atem jedes einzelnen Lebewesens, ihre den Körper im rhythmischen Einund Ausatmen durchflutende lebenserhaltende Kraft, wird schon in frühen Schriften selbst als Qi bezeichnet, ebenso wie in den sehr wahr­ scheinlich späteren Vorstellungen, von dieser Beobachtung abgeleitet, das gesamte Universum ein Bewegungsprozeß des sich permanent verdichtenden und zerstreuenden Qi ist.396

So gesehen scheint alles Lebende und Seiende ganz und gar von qi durchdrungen und somit einander zugehörig zu sein.397 Mit dem Luftbegriff kann ebenso in Erinnerung gerufen werden, dass es die Luft ist, die man atmet aber auch die, die heute von der tagtäglichen Verschmutzung bedroht ist.

3.1.2 Das japanische Wortfeld ki/ke Wie bereits erwähnt wurde, stammt das Schriftzeichen ki (気) im Japanischen von dem chinesischen Schriftzeichen qi (氣). Nach Nakai Masakazu vermischte sich das altchinesische Wort qi historisch mit dem altjapanischen Wort ke, welches spätestens in Man’yōshū (万 葉集 »älteste Sammlung japanischer Gedichte«, entstand ca. Ende des 7.-8. Jh.) für »etwas Nebel-, Duft- oder Dunstartiges« verwen­ det wurde.398 Ommerborn (1996): S. 24. Hervorh. i. O. Hierzu siehe auch: Linck (2022): S. 184. 398 Nakai (1995b): S. 176. Zur Phonetik: Ki kann auch »ke«, »gi« oder »ge« ausge­ sprochen werden, je nachdem, in welchen phonetischen Bedingungen es mit anderen Wörtern steht. Beispiel: samishi-ge (寂し気). Hisayama bezieht sich auf ein Gedicht 396

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Hinsichtlich des ke sieht Nakai einen möglichen Zusammenhang mit einem anderen ke, das mit dem Zeichen 異 399 geschrieben wird und in etwa »fremdartig« oder »fremd erscheinend« bedeutet.400 Nach Nakai haben sich die beiden Wörter vermischt und übernah­ men teilweise die Konnotation von noch einem anderen ke (怪)401, das als »verdächtig« oder »unheimlich« verstanden werden kann.402 Nakai nennt als Beispielwort keshiki (けしき) das in Kojiki (古事 記 Mythologie der Frühgeschichte Japans, entstand im 8. Jh.) und Man’yōshū, in der Schriftart Hiragana403 geschrieben, auftaucht.404 Hier bedeutet keshiki laut Nakai in etwa »fremdartig«.405 Spätestens in Taketori Monogatari (竹取物語 älteste märchenhafte Erzählung aus Japan, entstand im Zeitraum zwischen dem 9. und 10. Jh.) beginne keshiki (気色) in der Schriftart Kanji406 (japanische Schriftzeichen, die ursprünglich aus China kommen) geschrieben zu werden.407 In diesem Zuge habe auch eine Bedeutungstransformation begonnen. Keshiki beschreibe ab der Zeit von Taketori Monogatari psychische Regungen und die Verwendung in den beiden Schreibweisen weise aus Man’yōshū. Beispiel: »shioke datsu araiso« (潮気立つ荒磯 raue Felsenküste mit feuchter Meeresluft) (Gedicht-Nr. 1797 von Man’yōshū). Hisayama (2014): S. 22. 399 Das Zeichen 異 wird heute kaum mehr als »ke«, sondern als »i«, »ada«, oder als »koto« gelesen. 400 Hisayama (2014): S. 22. Siehe auch: Nakai (1995b): S. 176. 401 Das Wort »mononoke« ist hierfür ein gutes Beispiel. Das Wort wird heute gewöhn­ lich 物の怪 geschrieben, was eine Interpretation wie z. B. »das Verdächtige der Dinge« erwecken kann. Das Wort scheint jedoch begriffsgeschichtlich eine Verwandlung erlebt zu haben: Eine mögliche Verbindung zwischen dem Wort mono und oni – nicht auf der Ebene der Laute oder Zeichen, sondern auf der Ebene des Signifikats (鬼 die böse Seite der Geister, tama 霊) – kann interpretatorisch in der Begriffsgeschichte entdeckt werden, was es ermöglicht, Mononoke als das ke von »(auch bösen oder unheimlichen) Geistern« (Mono) zu verstehen. Vgl.: Akatsuka: Ki no kōzō (気の構 造), 1975, S. 53f. 402 Nakai (1995b): S. 177. 403 Hiragana ist ein Silbenalphabet, das nach der Aufnahme der chinesischen Schrift­ zeichen Hanzi (漢字 später auf Japanisch kanji genannt) von Hofdamen entwickelt wurde. Theoretisch können im Japanischen verschiedene Wörter in Hiragana, Kat­ akana (eine andere Lautschrift, die auch nach der Aufnahme der Hanzi von buddhis­ tischen Mönchen entwickelt wurde) oder Kanji geschrieben werden. Vgl.: Elberfeld (2012): S. 177. 404 Vgl.: Nakai (1995b): S. 177. 405 Ebd. 406 Kanji-Zeichen sind die ursprünglich chinesischen Schriftzeichen, die im ca. 6. Jh. in Japan eingeführt wurden. Ebd. 407 Vgl.: ebd.: S. 178.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

ab dann kaum mehr Unterschiede auf.408 Die meisten Fälle mit dem Wort keshiki beispielsweise in Genji Monogatari (源氏物語 Bekannt als die Geschichte vom Prinzen Genji, entstand im Zeitraum zwischen dem 10. und 11. Jh.) lassen sich nach Nakai in etwa als »Ausdruck« (表 現) der Emotionen der »Freude, Zorn, Trauer und Vergnügen« (喜怒 哀楽の感情), als »Mimik (und ihre Aussage)« (表情) und als »die Art und Weise der Bewegung« (動態) verstehen.409 Dabei beobachtet Nakai einen weiteren Wortgebrauch von keshiki aus verschiedenen Beispielen von Genji Monogatari: Keshiki beschreibe auch die Art und Weise von Naturszenen.410 Spätestens mit diesem Gebrauch hat also die Lesung »ke« (von 気) im Sinne eines gesamtsituativen Eindrucks begonnen: es betrifft nicht nur menschliche und psychische Regungen oder Körpersprache, sondern auch die atmosphärische Lage der die Menschen umgebenden Natur und Situation. Dieser Ansicht fügt Hisayama den folgenden Aspekt hinzu: Folgt man dem Iwanami-Wörterbuch der altjapanischen Sprache, dann geht die Lesung ke auf die gleiche Wortwurzel zurück wie auch die Silbe »ge«, die eine »Erscheinung« oder einen »Eindruck« bezeichnet und schon in der Heian-Zeit (794 – Ende 12.Jh.) häufig verwendet worden ist. So bedeutet z. B. das japanische Adjektiv kanashi (hier in der alten Form: im modernen Japanisch kanashî) »traurig«: Durch das Hinzufügen der Silbe -ge bildete man dann das Wort kanashige, das im Deutschen in etwa mit »traurig erscheinend«, »traurig aussehend« oder »einen traurigen Eindruck erweckend« wiedergegeben werden kann.411

Zu den anderen Wortzeichen, die sich historisch in das Wortfeld ki integriert haben, kann das ki (機) gezählt werden, das ca. seit dem 14. Jh. in buddhistischen Lehren in etwa die Bedeutung des »Moments«, »Augenblicks« hat, sowie heute, unabhängig vom buddhistischen Kontext, auch als Timing verstanden werden kann.412 Aus diesen 408 Dabei verweist Nakai darauf, dass sich zwei Drittel der Verwendung des Wortes in Zusammenstellung mit dem Höflichkeitspartikel on (御) finden lassen. Vgl.: Nakai (1995b): S. 179. 409 Nakai (1995b): S. 179. 410 Ebd.: S. 180f. Nakai entdeckt insgesamt 91 Beispiele. Ein repräsentatives Beispiel lautet: Sora no keshiki uraraka naruni (空の気色うららかなるに): keshiki vom Himmel so vergnügsam ist: da/wie der Ausdruck des Himmels vergnügsam ist). Eigene Übers. 411 Hisayama (2014): S. 22. 412 Hisayama (2014): S. 23. Nakai (1995b): S. 187. So scheint es sich um Bedeu­ tungsumwandlungen sowie eine Vielfalt von Bedeutungsspektren zu handeln, je nachdem, an welcher Lesart des Wortfelds – wie z. B. entweder ke oder ki – man sich

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3.1 Einführung in das Wortfeld

Zusammenhängen wird ersichtlich, wie das Wort ki »die Konnotation der erwünschten Vereinbarung zwischen dem zeitlichen Bewusst­ sein eines Individuums und der situativen Angemessenheit einer Handlung« erhalten hat.413 Hisayama beschreibt die Entwicklung der Konnotation in Anschluss an Nakai wie folgt: Tatsächlich finden sich zahlreiche Beispiele dafür im Taiheiki (großen­ teils entstanden im 14. Jh.), anhand derer sich belegen lässt, dass phonetisch identische Redewendungen sowohl mit dem Zeichen 気 als auch 機 geschrieben wurden. Nakai weist nachdrücklich darauf hin, dass die Vermischung dieser beiden Termini in einer Zeit erfolgt sei, in der Japan sich in einem permanenten Kriegszustand zwischen adligen Familien (den sog. Schwertadelskämpfen) befand: Durch die kriegerischen Erfahrungen seien sich die Soldaten in dieser Zeit besonders bewusst geworden, wie überlebenswichtig es sein konnte, eine gegebene Situation richtig aufzufassen, worauf die im Taiheiki überlieferte Formulierung ki ni noru (im Japanischen mit den beiden Zeichen 気 oder 機 wiedergegeben) zurückgeht, die sich wörtlich in etwa mit »auf dem (richtigen) ki sein bzw. fahren« übersetzen ließe.414

Eine weitere Bedeutungsumwandlung, die vor allem in Bezug auf Gefühle und Fühlen als relevant zu bewerten ist, findet Nakai in einer neuen Tendenz der »,Verinnerlichung des ki‘ als persönliches Gefühl« in verschiedenen Verwendungen des ki aus der Muromachi-Zeit (室 町 1336–1573).415 Die Verwendung des Ausdrucks »ki-tsukai« (きつ かひ, im heutigen Japanischen heißt dies ki-zukai (気遣い), wörtlich orientiert, aber auch abhängig davon, welche Schreibweise – entweder nur Hiragana, nur Kanji oder beide, einhergehend mit der Unterscheidung der Epochen, in denen das Wortfeld jeweils verwendet wurde – betrachtet wird. 413 Hisayama (2014): S. 23. Nakais Formulierung hierzu lautet folgenderweise: »›auf den richtigen Moment (ki 機) einzusteigen‹, heißt, zum Laufen kommen aufs ki (気), indem man sich auf den genau richtigen, einmaligen Augenblick der Zeit, die gerade läuft, hineinwirft, ohne sich zu verzögern, aber auch ohne zu weit zu gehen, und dort in dieser strömenden Spontaneität, noch über seine eigene Bewegungssouveränität (Bewegungsfreiheit) zu verfügen.« Eigene Übers. I. O.: 「『機に乗る』ことは、あ るべき一回的な時間の一刻のさ中に身を翻して投入して、遅るることなく、行 きすぎることなく、自然の勢のなかに自在を得るところの『気に乗る』ことで ある。」 Nakai (1995b): S. 189. Auch hier kann die mediale Art und Weise des Geschehens und Handelns erblickt werden, welche in Kapitel 4.1.1 kurz berührt wird. 414 Hisayama (2014): S. 23. Siehe auch: Nakai (1995b): S. 189f. 415 Hisayama (2014): S. 24. Sowie Nakai (1995b): S. 191. Hierzu erwähnt Nakai ebenso die Tendenz, dass sich die Lesung von ki mit der intensiven Aufnahme der chinesischen Philosophie und Medizin in Japan in der Edo-Zeit (1603–1868) viel mehr verbreitete, als die von ke. Vgl.: ebd.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

mit »ki-Bote« zu übersetzen) lässt sich nach Nakai vor dieser Epoche nicht finden, und bedeutet in etwa »sorgsam oder rücksichtsvoll sein« gegenüber Anderen.416 Es ist eine Art bewusst und temporär gerichtete Aufmerksamkeit gegenüber Anderen in einer Situation, die von zwei oder mehreren Menschen geteilt wird.417 Auch die anderen Ausdrücke aus der Zeit, die Nakai entdeckt, zeigen die Dimension einer personalisierten (personalen) und verinnerlichten Subjektivität auf: sonokinaraba ashita, sakaguchini detemate (»Mit solch einem ki, komm zum Sakaguchi.« (entweder zum Beginn eines steilen Wegs oder zu einem Ortsnamen) oder »Wenn du bereit bist, komm bis zum Sakaguchi.« (sehr wahrscheinlich: um zu zweit zu kämpfen)).418 Diese Dimension der personalen (personalisierten, sowie verinnerlichten) Verwendung des ki wird anhand der zwei gegenwärtigen Ausdrücke »kimochi« und »kibun« im fünften Kapitel ausführlicher behandelt. Nakai zeigt einen weiteren Bedeutungswechsel des ki auf, der durch eine reichliche Aufnahme des Neokonfuzianismus in Japan seit der Edo-Zeit (1603–1868) entstanden sei.419 Er sieht eine Wand­ lung der Terminologien darin begründet, dass der Neokonfuzianis­ mus ursprünglich von den Schwertkämpfern und Gelehrten (den sogenannten Samurais: 武士) aufgenommen wurde, dann jedoch wahrscheinlich durch eine generell bereits relativ hohe Quote der schriftlichen Bildung in Japan, auch unter den Bürger:innen (町人) seinen Platz fand.420 Dies habe jedoch dazu geführt, dass die Bedeu­ tungen von Wörtern mit ki durch die vielfältig entfalteten Deutungen der Texte – über die Klassen hinaus – zunehmend unterschiedliche Gesichter annahmen.421 Nakai pointiert ein auf eine markante Art 416 Hisayama überträgt ki-zukai auch als »Gebrauch des ki«. Hisayama (2014): S. 24 sowie Nakai (1995b): S. 191. 417 Hisayama beschreibt eine mögliche Situation solcher Art im Anschluss an Nakai folgenderweise: »Wenn man z. B. mit ,bedeutenden‘ Personen bei einer wichtigen Gelegenheit zusammensitzt und zu Abend isst, sei es sehr wichtig, das ki zu ›gebrau­ chen‹, um eine angenehme zwischenmenschliche Beziehung herzustellen, was Nakai vermuten lässt, dass sich in dieser Redewendung deutlich eine Art von Selbstreflexion des Individuums widerspiegelt.« Ebd. 418 Nakai (1995b): S. 191. Das Beispiel stammt von der Geschichte Tengu no tairi (天 狗の大裏) aus Nara-ehon (奈良絵本). Vgl.: ebd. 419 Hisayama (2014): S. 24 sowie Nakai (1995b): S. 193. 420 Nakai (1995b): S. 196. 421 Ebd. Anhand der Interpretation sowie Aufnahme des Neokonfuzianismus von Naka’e Tōju (中江藤樹) mit dessen gesonderter Gewichtung auf Xinxue (心学), welche später in Japan eher als Yōmeigaku (陽明学) bekannt wird, betont Nakai das aktiv

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3.1 Einführung in das Wortfeld

und Weise erhöhtes Wachstum der Verwendung des Ausdrucks kitsukai in der Edo-Zeit in den Werken von Chikamatsu Monza’emon (近松門左衛門 1653–1724), einem der bekanntesten Dramatiker jener Zeit.422 Dabei weist Nakai darauf hin, dass die Verwendungen zunehmend eine Charakteristik des reflektierten Bewusstseins bzw. die personale Dimension entwickelten, in der man sich als »[...] ein tätigendes Bewusstsein bzw. sein eigenes Ich (自我) versteht, wodurch es erfolgt, dass der Mensch ›Angst‹ bekommt.«423 Indem man sich bewusst wird und dieses Bewusstsein derart trägt, dass es, wie eine Tätigkeit verläuft, von einem selbst geschaffen oder erzeugt, so wer­ den einem möglicherweise auch die Verantwortung und mögliche Gefahr bewusst, dass es einmal nicht mehr so läuft, wie es bisher lief. So schließt Nakai auf eine immer mehr gesteigerte Tendenz zur »Verinnerlichung« des ki.424 Die Fokussierung der vorliegenden Arbeit auf den gegenwärti­ gen Wortgebrauch lässt sich somit folgenderweise zusammenfassen: Noch im heutigen japanischen Wortgebrauch des ki lassen sich die beiden Richtungen finden, sowohl die Tendenz der Verinnerlichung (personale Erfahrungsebene) als auch die nicht verinnerlichte bzw. impersonale Erfahrungsebene. Beispiele hierfür sind: ki ni shinaide (wörtlich: Mach es nicht zu ki – Mach dir keine Gedanken!), kimochi (wörtlich: ki-Habe – Gefühl, Emotion) und auch tenki (天気 Him­ mels-ki: Wetter) aus dem Satz: yoi tenki desune (wörtlich: Gutes Wetter, nicht wahr? – Wir haben heute gutes Wetter, nicht wahr?). Historische Aspekte, u. a. die japanische Übernahme der europä­ ischen wissenschaftlichen Fachbegriffe in der Meiji-Restauration, spielen außerdem eine gewisse Rolle. In und nach der Restauration wurden in Japan allgemein mehr Vokabeln neu geschaffen, wie z. B.: »risei« (理性 Vernunft), »kanjō« (感情 Emotion), »ishiki« (意 識 Bewusstsein), »ishi« (意志 Wille), oder »ryōshin« (良心 Gewis­ sen). Diese Beobachtung ist unbedingt unabhängig von einer mögli­ gewordene Publizieren von Büchern in jener Zeit, die auch für die Bürger:innen und Händler:innen zugänglich wurden, als den Grund dafür, dass sich unterschiedliche und immer neue Bedeutungskreationen der ersten Aufnahmen von neokonfuziani­ schen Schriften (sowie deren Interpretationen) – wie z. B. von Naka’e – verbreiteten. 422 Nakai (1995b): S. 201. 423 Ebd.: S. 202. Eigene Übers. I. O.: 「『気』は最早完全に、意識を反省し て、 その意識の主宰者が自我であることを知り、そうであるが故に人間が「不安」 をもっているのである。」 Vgl. auch: Hisayama (2014): S. 24f. 424 Vgl.: Nakai (1995b): S. 176, 177, 192, 202.

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chen, voreiligen Schlussfolgerung, dass die mit den Worten bezeich­ neten Konzepte im Japanischen vormoderner Zeit nicht existiert hätten, zu lesen.425 Der japanische Psychiater Doi Takeo (1920– 2009) sieht eine Charakteristik darin, dass ki die o. g. fünf unter­ schiedlichen Neologismen für Japan in sich allein umfasse.426 Die vorliegende Arbeit hat zwar keine Intention, genau dieselbe These zu vertreten, der Interpretationsvorschlag scheint jedoch ein gewisses Hilfsmittel anzubieten, um eine bestehende Schwierigkeit ins Licht zu rücken: Die Schwierigkeit bei der Übersetzung von ki scheint mitunter genau darin zu liegen, dass die o. g. tendenziell im europäischen Denken in Gegensatz gestellten Felder angesichts des ki nicht in einem Gegensatz zueinander stehen müssen. Es handelt sich bei ki also um eine Differenzierungsweise dieser Felder, die weder ganz noch unbedingt der tendenziellen Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität sowie ähnlichen Dualismen entspricht. Hisayama weist darauf hin, inwiefern die Thematisierung des ki in der allgemeinen Geistesgeschichte Japans vor der Modernisierung Japans (Meiji-Restauration: 1868)427 noch kein seltenes Phänomen gewesen sei, was sich mit der Restauration geändert habe: ki sowie qi aus dem Chinesischen spielten in der damaligen japanischen Wis­ senschaftssphäre (vor allem in Form von chinesischer Medizin und Philosophie) eine deutlich wichtigere Rolle als nach der Meiji-Restau­ ration.428 Dies änderte sich mit der Verwestlichung Japans und der Aufnahme zahlreicher wissenschaftlicher Fachbegriffe, die mit großer Mühe von damaligen Gelehrten schrittweise übersetzt wurden.429 Es Doi (2019): S. 150. Zu erwähnen ist, dass die einzelnen Kanji-Zeichen, die hierfür eingesetzt wurden, bereits in ihren jeweiligen Hintergründen (wie z. B. verschiedenen Schulen des Buddhismus, Konfuzianismus aber auch Daoismus) entstanden. 426 I. O.: 「ところで理性・感情・意識・意志・良心等の言葉は元来欧米語の翻 訳語であるが、これらを一くるめにして気というところに日本語の気の概念の 特殊性があると言うことができよう。」 Doi (2019): S. 150. 427 Siehe Kapitel 2.2.1. 428 Hisayama (2014): S. 25. 429 Zu einem Überblick der verschiedenen Methoden, wie die Übersetzungen der neuen Fachbegriffe erfolgten siehe: Fukuzawa: Zur Rezeption des europäischen Wissen­ schaftsvokabulars in der Meiji-Zeit, 1988, S. 14f. Eine ähnliche Situation kann im historischen Entstehungsprozess der Schriftzeichen in Japan beobachtet werden. Diese entwickelten sich durch die Aufnahme chinesischer Schriftzeichen. Es kann vermutet werden, dass die japanische Sprache sich vor und nach der Aufnahme der chinesischen Zeichen unterscheidet. Die natürlichen Sprachen scheinen somit (auch) durch die Einflussnahme von anderen Sprachen stetig in Transformationen zu stehen. 425

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

ist sehr wahrscheinlich, dass die Änderung der verfügbaren Vokabeln auch auf die Selbstverständlichkeiten der damaligen Menschen Ein­ fluss nahm.430 Es ist jedoch auch der umgekehrte Fall denkbar: Bei der Änderung des Wortgebrauchs (wie z. B. die Verinnerlichungstendenz von ki) ist zu vermuten, dass sich der Wortgebrauch veränderte, als sich die Selbstverständlichkeiten der Menschen in der Zeit änderten.431 Die Folge, d. h. die mit der Begriffsaufnahme aus Europa entwickelte Tendenz in Japan, ki als »ein historisch veraltetes Erbe« anzusehen, scheint noch aktuell zu sein, obschon ki als solches noch heute in der japanischen Gegenwart beinahe in jedem zweiten Satz ausgesprochen wird – ob bemerkt oder unbemerkt.

3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki Die linguistische Feldforschung erfolgt in diesem Kapitel mithilfe von schrittweise dargelegten Übersetzungen von Lexikonartikeln. Zunächst werden die »Schritte zum Übersetzen« aufgezeigt, um die anschließende Feldforschung, geteilt in die Begriffe ki (気) und ke (気) transparent zu gestalten.

3.2.1 Schritte zum Übersetzen Im kommenden Abschnitt wird der gesamte Artikel aus dem japa­ nischen Hauslexikon Iwanami-kokugojiten432 jeweils zu ki und ke (気) vorgestellt bzw. übersetzt. Zu den Übersetzungsschritten dieses Lexikons ist zu betonen, dass sie darauf abzielen, dass sich aus der »Ernte« dieser, von Wort zu Wort analysierend übersetzenden Als Folge nahm das Interesse in der japanischen Wissenschaft an qi sowie ki ab: »Seit der Verwestlichung Japans konzentrierten sich die wissenschaftlichen Publika­ tionen über das ki vorwiegend im philologischen oder geschichtswissenschaftlichen Bereich, und sahen das Wort oft nur als ein historisch veraltetes Erbe an, das keine Aktualität mehr besaß.« Hisayama (2014): S. 25. 431 Vgl.: Nakai (1995b): S. 176, 177, 192, 202. 432 Es ist das in der Einleitung bereits genannte Wörterbuch: Nishio et al. (2016). Dieses Lexikon wurde u. a. daher gewählt, dass es in Japan innerhalb des Bildungs­ kontexts oder -systems bereits in der Grundschule dasjenige ist, das – wie das Hauslexikon Duden in Deutschland – prinzipiell unabhängig von Bildungsniveau, Berufsart, sozialer Schicht und Alter als im japanischen alltäglichen Leben etabliert und verbreitet gilt. 430

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Schritte in Kapitel 3.3 »phänomenologische Grundstrukturen« schöp­ fen lassen. Die original auf Japanisch stehenden Auszüge der genutzten Lexikonartikel sind im Anhang (Anhang 1 und Anhang 2) beigefügt. Um Redundanz zu vermeiden, werden die gesamten Beiträge nach dem Übersetzen (Siehe Anhang 1) zusammengefasst und manche Übersetzungen der Definitionen je nach Bedarf im Textkörper ein­ gefügt. Die Definitionen im Wörterbuch werden direkt in Form von Übersetzungen zitiert, und der Originalsatz wird in Klammern gestellt. Die Beispielausdrücke eines jeweiligen Artikels werden in mehreren Schritten übertragen: 1. alphabetische Transkription (die japanische Schreibweise in Klammern); 2. wortwörtliche Über­ setzung;433 3. an die deutsche Sprache oder das deutsche Sprachge­ fühl angepasste Übersetzung. Optional erfolgt zusätzlich ein vierter Schritt: 4. Erläuterung anhand eines Sprichworts oder einer Redewen­ dung aus dem Deutschen, das oder die nah zum Originalausdruck zu stehen scheint. Da dieser vierte Schritt nicht bei jedem Ausdruck zu finden ist, wird er jeweils – falls vorhanden – in Fußnoten notiert. Im Hinblick auf die Art und Weise des Übersetzungsverfahren, scheint es für die vorliegende Arbeit von Bedeutung zu sein, an dieser Stelle Hisayamas Hinweis auf die »dreyerlei Arten Uebersetzung« Goethes in seinem West-östlichem Divan kurz vorzustellen, um – wenn auch nur teilweise – eine Orientierung anzudeuten: »Die erste macht uns in unserm eigenen Sinne mit dem Auslande bekannt«, d. h. hier geht es um die vom aufklärerischen Denken bestimmte Wiedergabe des Fremden, wobei allerdings die eigene Kultur der Maßstab einer solchen Übersetzung ist. Auf der zweiten Stufe bemühe man sich, sich »in die Zustände des Auslands zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eigenem Sinne wieder darzustellen«, was heißt, dass hier die »fremde« Kultur zum Maßstab der Übersetzung wird. Dem folgt dann der dritte Zeitraum, »welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Uebersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle«. Durch einen solchen Versuch »werden wir« – so Goethe – »an den Grundtext hin angeführt, ja getrieben und 433 Aufgrund der Problematik, dass in der wortwörtlichen Übertragung bereits ein Interpretationsfreiraum des/der Übersetzenden vorhanden ist, ist die Vielfalt in Übertragungen eine Voraussetzung. Der Interpretationsfreiraum macht sicherlich genau den Sinn des Übersetzens mit aus.

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt«.434

Eine Übersetzung als »identisch« mit ihrem Originaltext zu sehen, ist nicht möglich.435 Es scheint aus dem Zitat besonders die hervorgeho­ bene Stelle bedeutsam zu sein. Die übersetzende Person ist gefragt, nicht nur innerhalb einer Sprache, sondern vielmehr in den beiden Sprachwelten, sowohl in der Zielsprache als auch in der Ausgangs­ sprache zu stehen, d. h. mit und bei den Muttersprachler:innen der beiden Sprachen stetig zu sein, um zu übersetzen. Somit spielt es auch im Übersetzen eine wichtige Rolle, zuzuhören, wie die Überset­ zungszeilen für die Sprechenden der Zielsprache klingen, zugleich zuhörend, wie diese sich in der Originalsprache für ihre Sprechenden anhören würden. Im Moment des Übersetzens, angefangen mit der einzelnen Wortwahl ist daher ein aktives Zuhören vorausgesetzt, das von der Frage begleitet wird: Wie klingt ein Ausdruck für wen in den beiden Sprachwelten? Somit ist eine Übersetzung keineswegs als ein akut und schnell tauschbarer Ersatz, sondern als ein eigenständiges Unternehmen zu betrachten, in dem nicht nur Autor:innen mit Lesenden, sondern auch beide Sprachen bzw. alle möglichen Sprechenden und Lesenden beider Sprachen in eine Begegnung eintreten. Da dies, die Begegnung aller möglichen Sprechenden und Lesenden beider Sprachen, im konkreten Konsum der Übersetzungen jedoch ein nur mögliches, oder ideales Unternehmen bleibt, lässt sie sich als ein ewiger Annähe­ rungsversuch der beiden Seiten verstehen. Für diesen Weg des ewigen Annäherungsversuches scheint es zumindest in der vorliegenden Arbeit notwendig zu sein, kulturelle Unterschiede in der Übersetzung schrittweise, ohne sie zu verstecken mit zu zeigen, da es sich bei Vokabeln wie ki um einen Erfahrungshorizont handelt, der anhand eines Wortfeldes erschlossen wird, das in der Übersetzungssprache (auf Deutsch im Fall der vorliegenden Arbeit) so nicht existiert. Aus Hisayama (2014): S. 15. Die zitierten Stellen: Goethe: »West-östlicher Divan: Teil 1«, in: Sämtliche Werke I, Abt. Bd. 3–1, hg. von Hendrik Birus, 1994, S. 280–283. Eigene Hervorh. 435 Denn Übersetzen ist einerseits »nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen«, obgleich andererseits gilt, dass »jeder Versuch der Übersetzung gleichzeitig auf ein letztes, endgültiges und entscheidendes Stadium aller Sprachfügung« bezogen ist. Benjamin (1929): S. 15. Siehe auch: Abel (1999): S. 21. 434

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

diesem Grund vollzieht die vorliegende Arbeit in diesem Kapitel auch die gesamten Übersetzungen in den o. g. Schritten in schriftlicher Form.436

3.2.2 ki (気) Unter dem Schlagwort ki (気, 氣) im Iwanami-kokugojiten lassen sich vier unterschiedliche Definitionen entdecken, die als erste unterscheidbare Wortbedeutungen festgehalten werden können: 1. Gemütszustände, Emotionen, Motivation, Lust, Disposition eines Menschen, Befindlichkeitsmodi, Gefühle und Gemütsbewegungen inklusive Aufmerksamkeit; 2. Spüren des Atmosphärischen; 3. phy­ siologische Aspekte des Menschseins; 4. (klimatische) Änderungen in der Natur. Insgesamt scheint sich ki in diesem Artikel von der personalen Erfahrungsebene über die impersonale Ebene bis zum Phänomenbereich zu bewegen, in dem kein Mensch als anwesend angenommen werden muss. Als Allererstes wird ki im Artikel folgenderweise definiert: »Gesamte Fassung der Bewegung, des Zustands und der Wir­ kung des Herzgeistes (kokoro)437 Geist.«438 Hierzu werden die folgenden Beispielausdrücke genannt: In den Übersetzungen, die in diesem Abschnitt vorkommen, wird insgesamt darauf abgezielt, Ausdrücke und Sätze sprachlich so zu übermitteln, dass die Lesenden der Übersetzung vor Augen sehen oder am besten mit dem eigenen Leib miterleben oder nachempfinden können, was der Originalsatz (-ausdruck) mit ihnen macht. Für dies spielt es eine entscheidende Rolle, dass sich die Arbeit auf die Beispiele primär aus der gegenwärtigen, am besten auch der gesprochenen japanischen Sprache kon­ zentriert. 437 Kokoro wird mit demselben Zeichen wie das chinesische xin (心) geschrieben, was auch Herz bedeutet. Kokoro ist schwer zu übersetzen, heißt aber im Deutschen in etwa »Gemüt«, »Psyche« oder »Geist«, wobei das leibliche Moment des »Herzens« bei den Übertragungen fehlt. Hisayama nennt die folgenden Übersetzungsversuche: »Gemüt« und »Zentrum (des Menschen).« (Hisayama (2014): S. 89). In der vorliegenden Arbeit wird eine gewisse Gewohnheit in der deutschsprachigen Sinologie mitberücksichtigt, xin (心) mit »Herzgeist« zu übersetzen. Vgl.: Wohlfahrt: Der Philosophische Daoismus – philosophische Untersuchungen zu Grundbegriffen und komparative Studien mit besonderer Berücksichtigung des Laozi (Lao-tse), 2001, S. 17. 438 I. O.: 「心の動き・状態・働きを総合して捉えたもの。精神。」 Nishio et al. (2016): S. 312. Eigene Hervorh. Zur gesamten Übersetzung des Beitrags siehe auch: Anhang 1. 436

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kōzen no ki o yashinau (浩然 439 の気を養う) durchströmendes ki kultivieren: freie und unbeschwerte LeibGeistigkeit kultivieren. ki ga omoi (気が重い) ki ist schwer / schweres ki haben: keine große Motivation haben. kigaru (気軽) leichtes ki: sich leicht fühlen, leichtsinnig sein, keine großen Gedanken machen. ki ga tōku naru (気が遠くなる) ki wird fern: sich von der Realität (oder von sich selbst) ent­ fernt fühlen ki o shizumeru (気を静める) ki beruhigen: sich beruhigen. ki o otosu (気を落とす ) ki herunterfallen lassen: enttäuscht sein und keine Motivation mehr haben. kiochi (気落ち) Fallen des ki: Enttäuschtsein. ki ga kiku (気が利く) ki wirkt/funktioniert gut: auch die kleinsten Details der Dinge erreichen das Herz bzw. aufmerksam sein (auch für unauffällige Ecken ein Herz haben). ki ga kiita monku (気が利いた文句) Worte, in welchen ki gut wirkt: geschickte, humorvolle, rück­ sichtsvolle Aussagen. yoku ki ga tsuku otoko da (よく気がつく男だ) (Er) ist ein Mann, an dem oft und gut ki heftet: (Er) ist ein Mann, der sehr aufmerksam ist. ki ga hikeru (気が引ける 440) Ki zieht sich zurück: sich unmotiviert oder weniger geeignet, weniger wert fühlen.

439 Es ist derselbe Ausdruck, der in Kapitel 3.1.1 in der Einführung in qi bei Mengzi ( 孟 子 ) erwähnt wurde. Der Ausdruck lebt noch in der heutigen japanischen (jedoch eher literarischen) Sprache. 440 Als Erklärung von dem Beispielausdruck wird auch »hikeme o oboeru« ( 引け目 を覚える ) genannt. Das Wort hikeme ( 引け目 ) könnte u. a. mit »Minderwertig­ keitsgefühl« übersetzt werden. Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 1246.

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homerarete sono ki ni naru (ほめられてその気になる) Durch das Gelobtwerden zu einem gewissen ki werden: durch ein Lob das Gefühl zu bekommen, als ob (man/es wirklich so gut wäre, wie man/es gelobt wird). ki wa kokoro (気は心) ki ist kokoro (Herzgeist): Das ki macht das Herz aus.441 kibataraki (気働き) ki-Wirkung/Arbeit: je nach Zeit und Fall angepasst, geschickt und schnell das ki nutzen zu können. Aufmerksame Bereit­ schaft.442 Ausgehend von diesen Wortbedeutungen sind ebenso im Artikel die Idiome sowie Ausdrücke von ki folgenderweise aufgelistet: kigai (気概) ki-Zusammensetzung: »Willenskraft, tapfere Umsetzungskraft, Kraftvoll-Sein, sich unter jeglicher Schwierigkeit nicht bie­ gen lassen«.443 ki’en (気焰) ki-Flamme: »Willenskraft und Energie, die glüht und fast auf­ flammt«.444 kiryoku (気力) ki-Kraft: »Geistige Kraft, genki und Energie, Dinge bis zum Ende zu bringen (abzuschließen)«.445 Weiter wird intralinguistisch (von Japanisch ins Japanische) genannt: »wazuka no koto demo magokoro no ittan wa arawareru« (「わずかの事でも真心の一端は現れ る」): Das wahre Herz zeigt sich in kleinsten Ecken der Dinge (eigene Übers.). Nishio et al. (2016): S. 312. 442 Das Wort kibataraki wird original folgenderweise definitorisch erklärt: 「時に応 じてすばやく気をつかうこと。きてん。」 Nishio et al. (2016): S. 337. 443 I. O.: 「困難にも屈しない意気・気骨。はり。」 (Ebd.: S. 318.) Zu dem einen Wort, das in der definitorischen Erklärung von kigai vorkommt: kikotsu ( 気骨) kiKnochen: Starker (Herz)Geist, bei dem eigenen Glauben, dem eigenen Motto treu bleiben wollen und sich nicht leicht von anderen Menschen überreden lassen (i. O.: 「自分の信ずることを貫こうとし、容易に人に屈しない、強い心。」). Ebd.: S. 325. 444 I. O.: 「(燃え上がるような)盛んな意気(を発した言葉、時には大言壮 語)。」 Ebd.: S. 317. 445 I. O.: 「物事をなしとげようとする精神の力。また、元気。精力。」Ebd.: S. 375. Das Wort genki taucht später im nachgeschlagenen Artikel mehrmals auf, es wird unter dem Stichwort »a. Etwas, das den Raum zwischen Himmel und Erde füllt oder dort verteilt ist (und dessen Wirkung)« bei der Kategorie »Etwas, das (sich), um unseren Leib umhertreibend und schwebend, anwesend zu sein anfühlt« ( 「見えな 441

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kifū/kippu (気風) ki-Wind: »Charakter, Natur, Temperament. Vor allem eine Art temperamentmäßiger Charakter, den eine Gruppe von Men­ schen gemeinsam teilt«.446 kibun (気分) ki-Teil (ki-Anteil): »Ein Emotions-(oder Gemüts)zustand, der für eine Zeit lang bleibt.«447 Häufig wird das Idiom im Deutschen mit Stimmung sowie Gemütsstimmung übersetzt. kishitsu (気質) ki-Qualität: Natur, Gemüt, Temperament (»Die persönliche Natur und oder der Charakter, welche(r) in der Psycholo­ gie allgemein von der Tendenz der Gemütsbewegung her geschätzt wird.«).448 katagi (気質) ki-Qualität: dem sozialen Rang oder der Profession spezifi­ sche(r/s) Charakter, Natur und Temperament 449 kishō (気性) ki-Wesen /Natur: »gebürtige Natur, Gemütscharakter, gebürti­ ges Temperament oder Gemütsklima«.450 iki (意気) Willens-/Meinens-ki: »wimmelndes genki, Energie und geistige Kraft.« »Aktiver Herzgeist, motiviert etwas zu schaffen«.451 honki (本気) echtes /wahres ki: »Gefühl voller Ernst«.452

いとしても身の回りに漂うと感ぜられるもの。」Ebd.: S. 312) eingeordnet. Es ist zugleich darauf hinzuweisen, dass das Wort im heutigen japanischen Alltag als ein Ausdruck der »gesunden Kondition eines Menschen« verwendet wird, der besagt, dass es einem (sowohl leiblich als auch psychisch bzw. insgesamt) gut gehe. Ebd.: S. 449. 446 I. O.: 「気性。気質。特に、ある集団が共通に持っている気質。」 Ebd.: S. 338. 447 I. O.: 「ある間続く感情の状態。」 Ebd.: S. 339. 448 I. O.: 「気立て。気性。心理学で、一般的な感情傾向からみた、個人の性 質。」 Ebd.: S. 326. 449 I. O: 「その身分・職業などに特有な、気風・性格。」Ebd.: S. 256. Vgl.: »katagi« ( 気質 ) in: Nakai Masakazu hyōron shū ( 中井正一評論集 ), 1995, S. 164– 175 (markiert als 1995b). 450 I. O.: 「生まれつきの性分。気立て。気質。気象。」 Nishio et al. (2016).: S. 327. 451 I. O.: 「あふれる元気。気概。[...] 何かしようとする積極的な心。」 Ebd.: S. 59. 452 I. O.: 「冗談でない本当の気持ち [...] 真剣な気持ち」 Ebd.: S. 1393.

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yūki (勇気) tapferes und mutiges ki: kräftige Tapferkeit, Mut.453 waki (和気) harmonisches ki: »Harmonische Stimmung, in der die beteiligten Menschen miteinander liebevoll umgehen.«454 e’iki (鋭気) scharfes ki: »Schwungvolle Energie und deren Haltung.«455 e’iki (英気) äußerst gutes ki: »Vortreffliches, aufmerksames Gemütsklima, gutes Gemütstemperament.«456 konki (根気) Wurzel-ki: »Vital- und Willenskraft, mit der man, ohne die Sache aufzugeben, die man einmal angefangen hat, weitermacht.«457 chiki (稚気) kindisches ki: »Kindische und kindliche Art und Weise, auch deren Stimmung.«458 haki (覇気) Vorherrschafts-ki: »1. herausströmende Willenskraft. 2. Willens­ kraft oder Motivation, zur Herrschaft zu kommen.«459 he’iki (平気) flaches ki: »1. Gewöhnlicher Alltagsgemütszustand, ohne aufge­ regt oder erschrocken zu sein. Sich von jeglichem Unterdruck oder jeglicher Schwierigkeit nicht betreffen lassen. 2. Ruhiger und gelassener Gemütszustand.«460

453 Vgl. ebd.: S. 1518. In der Definition von yūki findet man wiederum ein anderes Wort, in dem ki auftaucht: »Ki-ryoku (ki-Kraft), mit der man mutig und motiviert ohne beängstigt zu sein, etwas oder jemandem entgegentritt.« I. O.: 「( 勇んで )ものお じせずに立ち向かう気力。」 Ebd.: S. 1518. 454 I. O.: 「なごやかにむつみ合う気分・雰囲気。」 Ebd.: S. 1613. 455 I. O.: 「するどく強い気性・気勢。」 Ebd.: S. 134. 456 I. O.: 「すぐれた才気・気性。」 Ebd.: S. 134. 457 I. O.: 「一つの物事を途中で投げ出さずにし続け得る精力。」 Ebd.: S. 534. 458 I. O.: 「子供っぽい様子・気分。」 Ebd.: S. 933. 459 I. O. 「あふれるばかりの意気。意気ごみ。2. 覇者になろうとする意気。野 心。」 Ebd.: S. 1181. 460 I. O.: 「1.ものごとに驚き騒がず、いつもの心でいること。威圧や困難をな んとも思わないこと。[...] 2.落ち着いて穏やかな気持。」 Ebd.: S. 1339.

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byōki (病気) krankes ki: Kranksein. Krankheit (»1. Ein Teil des Körpers oder dessen Gesamtheit ändert sich zu einem physiologisch schlech­ ten Zustand. Oft wird dies von Fieber oder Schmerzen begleitet. [...] 2. Schlechte Gewohnheit.«).461 hitoke (人気) Mensch-ki: »kehai462 der Anwesenheit von jemandem. Ein vages Gefühl, als wäre jemand in der eigenen (leiblichen) Nähe.«463 otokogi (男気) Mann-ki: »Natur und Charakter der Selbsthingabe, auch mit eigenem Preis.«464 shinsetsugi / shinsetsuge (親切気) freundliches-ki: »Haltung und Gefühle, anderen gegenüber freundlich und nett sein wollen.«465 Die zuallererst stehende Definition aus dem Artikel »Gesamte Fas­ sung der Bewegung, des Zustands und der Wirkung des Herzgeistes (kokoro)«466 scheint sich auf den Bereich zu konzentrieren, der auf Deutsch mit den Worten »Psyche«, »Geist«, aber auch »Gemüt« the­ matisiert wird. Demgegenüber weisen einige Beispielausdrücke wie z. B. »katagi« (oder kishitsu, 気質), »kippu« (気風) sowie »kishō« (気 性) auf, dass ki je nach Komposita, die mit ihm auftauchen, auch »Cha­ rakterzüge«, »Temperament« sowie »Eigenschaft des Menschen« heißen kann. Es gibt außerdem Beispiele, die verschiedene Befind­ lichkeitsmodi des Menschen aufzeigen: »e’iki« (鋭気), »chiki« (稚 気) sowie »he’iki« (平気). Ausdrücke wie »ki ga kiku« (気が利く) oder »yoku ki ga tsuku otoko da« (よく気がつく男だ) berühren eher den Bereich der Aufmerksamkeit. Es ist eine Aufmerksamkeit und eine Art (Hilfs-)Bereitschaft, sich auf die Änderungen einer Situa­ tion einzulassen, auf das Verhalten der anderen Menschen achtend, bei sich gesammelt zu bleiben, und/oder im hilfsbereiten Zustand

I. O.: 「1. 体の全部または一部が、生理状態の悪い変化をおこすこと。発熱・ 苦痛などをともなうものが多い。やまい。わずらい。[...] 2. 悪いくせ。」 Ebd.: S. 1272. 462 Das Wort kehai wird in Kapitel 4.2.1 ausführlich behandelt. 463 I. O.: 「人のいそうなけはい。」 Ebd.: S. 1258. 464 I. O.: 「犠牲を払って人に尽くしてやる気性。」 Ebd.: S. 181. 465 I. O.: 「親切にしようとする気持ち。」 Ebd.: S. 742. 466 Ebd.: S. 312. 461

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bleibend, aktiv in der Situation seine eigene Aufgabe zu erfüllen.467 So lässt sich ki einerseits in etwa als temporäre Gemütsbewegung, momentaner Geisteszustand, Befindlichkeitsmodi, aber auch als Cha­ rakter-Züge sowie Temperament (wie die Disposition eines Men­ schen), jedoch wiederum auch noch als Kraft sowie Willenskraft, bis hin zu Aufmerksamkeit, Achtung oder Vorsicht verstehen. Der ersten, o. g. Wortdefinition folgen die folgenden weiteren Unterteilungen des Wortgebrauchs: a. b. c.

d. e.

Normaler, ausgewogener Gemütszustand/Herzgeist (ア. 平常 の心) Angespannter und aufgeregter Geist(zustand) (イ. 緊張して盛 んな精神) Wirkung des Gemüts/Herzgeistes, sich vorzunehmen, etwas zu machen [...] sowie das Interessiertsein von etwas oder Interesse (ウ. 何かそれをしようという心の働き [...] それに引かれる 心。関心) Herzgeist, der hin und her überlegt oder grübelt (エ. あれこれ考 える心) Gefühl, Empfindungen, Emotion [...] verliebtes Herz, das an die eigene geliebte Person denkt (オ. 感情[...] また、人を恋い慕う 心).468

Deren jeweilige Beispielausdrücke lauten folgendermaßen: a.

Normaler, ausgewogener Gemütszustand/Herzgeist (ア. 平常 の心) ki o ushinau (気を失う) ki verlieren: ohnmächtig/bewusstlos werden. ki o torimodosu (気を取り戻す) ki wieder zurück bekommen/haben: zu sich zurückkommen, Motivationskraft wieder bekommen. ki ga kurū (気が狂う) ki wird verrückt: Der geistige Zustand ändert sich in den Abnor­ malen.

Ein anderes Beispiel aus dem japanischen Alltag ist »ki o tsukete« (気をつけ て: Hefte (dir) das ki: Sei aufmerksam bzw. pass gut auf dich auf), das sich mit »Aufpassen«, »Achtgeben« (im alltäglichen Wortgebrauch) sowie »Vorsichthaben« im Deutschen vergleichen lässt. Der Ausdruck »ki o tsukeru« (ki heften: aufpassen, aufmerksam sein, achten) taucht in der vorliegenden Arbeit häufig auf. 468 Nishio et al. (2016): S. 312. Siehe auch: Anhang 1.

467

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ki ga ki de nai (気が気でない) ki ist nicht ki / (m)ein ki fühlt sich nicht wie (m)ein ki an: der Situation gar nicht gelassen entgegenkommen können. ki mo sozoro da (気もそぞろだ) Auch das ki verteilt sich ziellos: nicht nur besorgt oder aufgeregt sein; die Aufmerksamkeit ist zerstreut. b.

Angespannter und aufgeregter Geist(zustand) (イ. 緊張して盛 んな精神) ki o haku (気を吐く) ki ausatmen: sich kraftvoll und einflussreich äußern, sich moti­ viert und kraftvoll zeigen. ki o kujiku (気をくじく) ki verrenken: jemandem geistige Kraft nehmen, Motivation wegnehmen, jemanden (psychisch) niederschlagen, jemandem Mut nehmen etc. ki ga nukeru (気が抜ける) ki tritt aus/geht ab: gute Spannung verlieren, enttäuscht sein, Motivation verlieren etc.

c.

Wirkung des Gemüts/Herzgeistes, sich vorzunehmen, etwas zu machen [...] sowie das Interessiertsein von etwas oder Interesse (ウ. 何かそれをしようという心の働き[...] それに引かれる心。 関心) ki o ireru (気を入れる) ki reintun: sich motivieren, Intention haben, sich etwas vorneh­ men kongo dō suru ki darō (今後どうする気だろう) von nun ab, welches ki haben, zu machen?: (Fragender Satz danach,) was man nun vor hat, daraus zu machen, was man bisher gemacht hat). Oma’e no ki ga shirenai (お前の気が知れない) dein ki nicht wissen können: (Ich) kann es nicht verstehen – Dein Gefühl / deinen Gedanken kann ich nicht verstehen. ki ga susumanai (気が進まない) ki kommt nicht weiter: keine oder kaum Lust/Motivation haben. oki ga muitara irasshai (お気が向いたらいらっしゃい) Kommen (Sie), wenn sich das ki danach wendet!: (Sie) sind immer willkommen, wenn es (Ihnen) danach ist.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

hito no ki o hiku (人の気を引く) ki von anderen (zu sich) ziehen: Aufmerksamkeit von anderen zu sich ziehen. d.

Herzgeist, der hin und her überlegt oder grübelt (エ. あれこれ考 える心) ki o momu (気をもむ) ki herum kneten: sich etwas Sorgen machen, ein wenig grübeln. ki ni yamu (気に病む) an ki erkranken / sich an ki kränken: sich quälend Sor­ gen machen. ki o mawasu (気を回す) ki drehen: sich zu viele Gedanken machen, bis dass man zu einer unbegründet kalkulierten Schlussfolgerung sowie einer Einbildung geraten kann. ki no seika bikō sarete iru yōda (気のせいか尾行されているよ うだ) Wahrscheinlich wegen ki, aber es scheint, als wäre (ich) verfolgt: (Ich) weiß nicht, ob das stimmt, aber (ich) habe das Gefühl, verfolgt zu sein.

e.

Emotion [...] verliebtes Herz, das an die eigene geliebte Person denkt, (オ. 感情 [...] また、人を恋い慕う心) ki o waruku suru (気を悪くする) ki schlecht machen: (sich/jdn.) schlechtes Gefühl machen, (sich/ jdn.) in eine schlechte Stimmung versinken lassen, verletzt oder beleidigt sein / jdn. verletzen oder beleidigen.469 ki ni kuwanai (気に食わない) ki nicht verspeisen lassen: an etwas ein Widerstandsgefühl oder eine Unzufriedenheit empfinden. ki mazui (気まずい) ki-unappetitlich/-ungünstig: in einer verlegenen Stimmung, oder in einer ein wenig peinlichen Situation sein. ano hito ni ki ga aru (あの人に気がある) an ihm/ihr ki haben: zu und nach jemandem Zuneigung und Sehnsucht haben, an jemandem interessiert sein.470

Hier zeigt sich nochmals die Vielfalt im Bedeutungsspektrum von ki(Ausdrücken): Vom ausgewogenen Bewusstseinszustand, Aufgeregt469 470

Dies kann auch folgenderweise erklärt werden: sich schlechte Stimmung zulassen. Nishio et al. (2016): S. 312.

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

Sein, Besorgt-Sein, Motiviert-Sein, Interessiert-Sein, Lust-haben, Intention-haben, Gewissen sowie grübelnden Herz, bis zu den Emo­ tionen und Empfindungen. So zeigt sich ki in unterschiedlichen Gesichtern, je nachdem, welche Verben und welche Komposita mit dabeistehen. Interessant ist dies vor allem dann, wenn der Fokus auf die wörtlichen Übersetzungen gelegt wird: Ki kann verloren gehen (ki o ushinau), wieder zurückbekommen (ki o torimodosu), herumgeknetet (ki o momu), (herum) gedreht (ki o mawasu), oder einfach schlecht gemacht (ki o waruku suru) werden. All diese Aus­ drücke betreffen Geistes- und Bewusstseinszustände sowie affektive Dynamiken. Sie bedeuten in der o. g. Reihenfolge sinngemäß in etwa: in Ohnmacht fallen, normaler Geisteszustand, grübelndes Herz, Auf­ merksam-Sein für die Anderen, aber auch emotional Beleidigt-Sein. Hier ist anzumerken, dass auf der verbalen Ebene hauptsächlich die (Art und Weise der) Relationen, d. h. das »Wie und Was« der Gemütsbewegung vom Menschen durch die Beschreibung der Bewe­ gung von ki skizziert werden können, welche jedoch (sinngemäß) auf menschliche Gemütszustände, Betroffenheit sowie Emotionalität hinweisen. Anhand von dieser Betrachtungsweise lässt sich, von der deutschen Sprache aus gesehen, eine Erfahrungsebene erblicken, in der sich die durch Worte anregbare Synästhesie vollzieht. Die zweite Definition aus dem Artikel zu ki lautet: »Etwas, das (sich), um unseren Leib umhertreibend und schwebend, anwesend zu sein anfühlt«.471 Diese ist wiederum in die folgenden weiteren, unterschiedliche Bedeutungen zu teilen: a. b. c.

Etwas, das den Raum zwischen Himmel und Erde füllt oder dort verteilt ist (und dessen Wirkung) (ア. 天地間に満ちわたるもの ( の働き )) Ganzheitliche(s), vage(s) Gefühl oder Stimmung des Ortes (der Situation), Atmosphäre (イ. その場の漠然とした全体的な感 じ。雰囲気) eigentümlicher Geruch, Geschmack, kehai472 von etwas (ウ. それ に特有の、香・味・けはい)

I. O: 「見えないとしても身の回りに漂うと感ぜられるもの。」Ebd.: S. 312. Eigene Hervorh. 472 Das Wort »kehai« wird in Kapitel 4.2 ausführlicher behandelt. 471

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

d.

Träger (die Verantwortlichen) der Naturphänomene, die sich zwischen Himmel und Erde ergeben (エ. 天地間に起こる自然現 象の担い手)473

Deren jeweilige Beispielausdrücke lauten: a.

Etwas, das den Raum zwischen Himmel und Erde füllt oder dort verteilt ist (und dessen Wirkung) (ア. 天地間に満ちわたるもの ( の働き ))474 seiki (正気) aufrechtes ki: »Die aufrechte, großherzige und gerechte kiLebenskraft, die zwischen Himmel und Erde verteilt (zu sein gedacht/erklärt) wird, aber auch aufrechte geistige Kraft sowie Natur eines Menschen«.475 genki (元気) Ursprungs-ki: »Energie und Kraft, die Aktivitäten erzeugen, und die Art und Weise, dass diese Energie und Kraft überlaufend vorhanden sind. Oder auch eine gesunde Kondition eines Men­ schen.«476 seiki (生気) Lebens-ki: »Lebendige Lebenskraft, Vitalität«.477 z. B.: yama no reiki (山の霊気 Geister-ki vom Berg) »Mystische Stimmung, heilige Atmosphäre (die Berge ausstrahlen)«.478

Nishio et al. (2016): S. 312. Ebd. 475 I. O.: 「天地の間にあると考えられる、おおらかで正しい、公明な気力。ま た。人間の正しい意気・気風。」 (Ebd.: S. 788). Anzumerken ist, dass seiki (正気 ) sowohl kosmische als auch menschliche Geisteskraft sowie Natur eines Menschen heißen kann. Ein anderes Wort shōki ( 正気 ) mit derselben Zeichenkombination bedeutet in etwa Besinnung oder klares Bewusstsein. Beispiel: shōki o ushinau ( 正気 を失う ): Klares Bewusstsein verlieren – den Verstand verlieren (Beispiel aus der mündlichen gesprochenen Sprache im Deutschen). 476 I. O.: 「1.活動の元になる気力。また、それが溢れている感じであること。2. からだの調子が良いこと。」 (Ebd.: S. 449). Ebenso ist relevant, dass das Wort »genki« im heutigen alltäglichen Sprachgebrauch in etwa »es geht gut« heißen kann. Man sagt sich gegenseitig »genki«, um zu fragen, wie es dem anderen geht und um zu antworten, dass es einem gut geht. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Frage und Antwort, spielt die Intonation in der Phonetik des Ausdrucks eine entscheidende Rolle. 477 I. O.: 「いきいきとした気力。活気。」 Ebd.: S. 788. 478 I. O.: 「神秘的な気分。神聖なけはい。」 Ebd.: S. 1590. 473

474

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

ki’un (気運) ki-Tragen: »Der Verlauf der Dinge in der Zeit (auch gesellschaft­ lich), auch temporäre Tendenz«.479 fun’iki (雰囲気) (mit) Nebel/Dunst umringendes ki: »Die allgemeine Stimmung und Luft, die eine Situation füllt.«480 (»Atmosphäre« im Deut­ schen wird oft mit diesem Wort übersetzt.) b.

Ganzheitliche(s), vage(s) Gefühl oder Stimmung des Ortes (der Situation), Atmosphäre (イ. その場の漠然とした全体的な感 じ。雰囲気)481 satsubatsu no ki ga minagiru (殺伐の気がみなぎる) Gemetzels-ki füllt sich: eine eiskalte/feuerhitzige Stimmung, als könnte man ohne jegliches Gefühl dabei zu haben, Menschen töten, füllt sich.482

c.

eigentümlicher Geruch, Geschmack, kehai483 von etwas (ウ. それ に特有の、香・味・けはい)484 ki no nuketa bīru (気の抜けたビール) (von) ki ausgetretenes Bier: Bier, das keine Kohlensäure mehr in sich hat: (von da aus) die Art und Weise, wie bei Dingen das diesen Wesentliche fehlt. shūki o shōjiru (秋気を生じる) Herbst-ki erzeugt sich: Herbstliche Stimmung, herbstliches Gefühl485 entsteht.

d.

Träger (die Verantwortlichen) der Naturphänomene, die sich zwischen Himmel und Erde ergeben (エ. 天地間に起こる自然現 象の担い手)486 kishō (気象) ki-Bild/-Form/-Gestalt487: Wetter, meteorologische Erschei­ nung.

I. O.: 「時世のなりゆき。また、その中に認められる、一定の方向を取ろう とする傾向。」 Ebd.: S. 316. 480 I. O.: 「その場を満たしている一般的な気分・空気。」 Ebd.: S. 1331. 481 Nishio et al. (2016): S. 312. 482 I. O.: 「(平気で人を殺傷するように)気風が荒々しいこと。」 Ebd.: S. 568. 483 Das Wort »kehai« wird in Kapitel 4.2 ausführlicher behandelt. 484 Nishio et al. (2016): S. 312. 485 I. O.: 「秋らしいけはい・感じ。」 Ebd.: S. 661. 486 Ebd. 487 Kimura Bin überträgt das Wort kishō als »ki-Gestalt«. Kimura (1995): S. 124. 479

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

kikō (気候) ki-Lage/Saison: Klima, Wetter. kitai (気体) ki-Körper: Gas, etwas Gasförmiges. taiki (大気) großes ki: Luft, Erdatmosphäre. kūki (空気) leeres ki / Himmels ki: Luft. nekki (熱気) heißes ki: heiße Luft. shikki/shikke (湿気) feuchtes ki: Feuchtigkeit. denki (電気) elektronisches ki: Elektrizität. Die zweite Definition mit den zugehörigen Beispielausdrücken aus dem Artikel zeigt, ebenso wie die erste, verschiedene Charakteristika, in denen ein bestimmter Aspekt deutlich im Vordergrund steht: Es steht kein Mensch als agierendes Wesen im Zentrum. Der Stich­ punkt b. »Ganzheitliche(s), vage(s) Gefühl oder Stimmung des Ortes (der Situation), Atmosphäre« steht dem Menschen am nächsten, da es sich um ein »Gefühl« handelt. 488 Es geht hier jedoch nicht um ein bestimmtes, sondern um irgendein vages Gefühl aus einer Situation, bei dem weder irgendein intentionaler Bezug noch ein personaler Bezugspunkt genannt werden muss. So lässt sich dies im Deutschen besser in etwa wie »Atmosphäre« sowie »Stimmung« einer Situation verstehen.489 Der Stichpunkt »c. eigentümlicher Geruch, Geschmack, kehai« scheint ebenso eine impersonale Erfahrungsebene zu berüh­ ren, in der sich das leibliche Zwischen von Mensch zu Mensch, Dingen oder Sachen, insbesondere in bestimmter Qualität, mit bestimmten Eigenschaften oder anhand bestimmter Eindrücke, manifestiert.490 Der luftartige Charakter des ki, aber auch die leiblich spürbare Ebene

Nishio et al. (2016): S. 312. Zum Teil kann auch der Stichpunkt 1 hierfür relevant sein. Diese als »imperso­ nal« zu bezeichnende Erfahrungsebene des Fühlens wird in Kapitel 4.1.1 ausführli­ cher behandelt. 490 Kehai wird in Kapitel 4.2.1 ausführlich behandelt. 488

489

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

in der Erfahrung des Atmosphärischen wie bei »kehai« sind hier mar­ kant.491 Die dritte Definition aus dem Artikel fasst die Bedeutung von ki als oder in Bezug auf »Atem« zusammen: »Der Atem und Hauch, der vom Mund eines Menschen heraus und hinein (aus dem Körper und in ihn) strömt.«492 Die dabei genannten Beispiele sind folgende: kisoku (気息) ki-Atem: Atem, Atmen. kikan (気管) ki-Röhre: Luftröhre (in der Medizin). ikki ni nomu (一気に飲む) in einem ki trinken: etwas in einem Zug austrinken. shuki o obiru (酒気を帯びる) von Alkohols-ki begleitet werden / Alkohols-ki dehnt sich aus: alkoholisiert werden. Die vierte Definition betrifft schließlich eine traditionelle Bezeich­ nung für einen bestimmten »Zeitraum von 15 Tagen aus den vier Jahreszeiten. Die 5 Tage heißen kō (候) und die drei Einheiten dieser sind ki (気)«493, also Bezeichnungen von klimatischen und meteoro­ logischen Phänomenen. Beispiele hierfür sind: kikō (気候)494 ki-Lage/Saison: Klima, Wetter. sekki (節気) Zeitabschnitts-ki: Jahreszeitsystem, in dem die vier Jahreszeiten nochmals in sechs unterschiedliche Saisons geteilt werden. nijūyon-sekki (二十四節気) 24 Zeitabschnitte-ki: Die gesamten 24 Saisons (sekki (節気)) der vier Jahreszeiten.

Hierzu wird im nächsten Unterkapitel anhand des Artikels zu ke (気) etwas näher eingegangen. 492 I. O: 「口を出入りする息。呼吸。」Ebd.: S. 312. Eigene Hervorh. 493 Ebd. I. O.: 「四季の中の十五日間をまとめた期間。五日間を「候」と言い、 その相継ぐ三候が気。」 Ebd. 494 Dies ist dasselbe Wort, das bereits bei der dritten Definition unter dem Stichpunkt d. genannt wurde. 491

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Sowohl die dritte als auch die vierte Definition zeigen nochmals ein anderes Bild von ki auf: Bei diesen handelt es sich um Körperteile, kör­ perliche Bewegungen sowie Naturphänomene, während zahlreiche Beispiele zuvor zeigten, wie relevant ki für menschliche Gemüts- und Geistesbewegungen, Befindlichkeitsmodi usw. steht. Außerdem kann ki eine Bewertungsdimension erschließen, wenn es mit anderen Attri­ buten (sei es keiyōshi, sei es keiyōdōshi sowie meishi)495 auftaucht, wie z. B.: satsubatsu no ki (殺伐の気, Gemetzels-ki) oder kimazui (気まず い verlegene Stimmung) oder seiki (正気 »aufrechtes ki […], aufrechte (richtige) geistige Kraft sowie Natur eines Menschen«).496 Unter dem ersten Stichpunkt im Artikel zu ki im Iwanami-koku­ gojiten wird ki zunächst als Gemütsbewegung, Emotionen, Befind­ lichkeitsmodi und Geisteszustände betreffend definiert.497 Diese erstrecken sich in verschiedenste Richtungen, angefangen mit einem balancierten Geisteszustand, dem Aufgeregt-, Angespannt- und Beängstigt-Sein, über das grübelnde Herz bis hin zum Motiviert-Sein, Interessiert-Sein, dem nachdenklichen Geist, sowie der Aufmerksam­ keit. Bei der zweiten Definition tritt das Atmosphärische sowie vages leibliches Fühlen, Fühlen von Geruch und Geschmack in den Vorder­ grund – es scheint sich hierbei um Sinneserfahrungen zu handeln, welche außerhalb des Sehsinns liegen.498 In der dritten Definition wird der physiologische Aspekt bzw. die Konnotation »Atmen« oder »Atem« im Wort ki zusammengefasst. So scheint sich ki – auf der Wortebene – im Menschen, zwischen verschiedenen Menschen, zwischen Mensch und Dingen, aber auch ohne die Voraussetzung der Anwesenheit irgendeines Menschen zu befinden, bewegen und zu entfalten. Der letzte Aspekt ist besonders in der vierten Definition des Artikels zu sehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit ki die 495 Keiyōshi (形容詞) steht für »Qualitativa« (häufig als eine Art Adjektive bzw. »iAdjektive« in der Didaktik des Japanischen als Fremdsprache verstanden), keiyōdōshi (形容動詞) für »verbale Qualitativa« (auch eine Art Adjektive bzw. »na-Adjektive«), und meishi (名詞) für Substantiv. Vgl.: Elberfeld (2012): S. 171. 496 Nishio et al. (2016): S. 788. Eigene Übers. 497 Im vom selben Verlag publizierten, größeren Wörterbuch Kōjien (広辞苑), das im akademischen Kontext am häufigsten verwendet wird, ist dies beispielsweise nicht der Fall. Im Kōjien steht eine Definition für ki mit dem folgenden Satz: »Etwas, was als dasjenige und die Basis gedacht wird, welche(s) den Raum zwischen Himmel und Erde füllt und das All (Weltall, Universum) konstruiert. Dessen (deren) Bewegung heißt es auch.« I. O.: 「天地間を満たし、宇宙を構成する基本と考えられるもの。ま た、その動き。」 Siehe: Shinmura et al. (2020): S. 682. 498 Hier könnte das deutsche Wort »spüren« gut passen.

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

Welt sowohl personal, impersonal als auch apersonal artikuliert werden kann.499

3.2.3 ke (気) In diesem Kapitel wird der Artikel zu ke, ebenso wie zuvor der Artikel zu ki, im Iwanami-kokugojiten nachgeschlagen. Der gesamte Originalartikel befindet sich im Anhang 2. Im Artikel zu ke fin­ det sich zunächst einmal eine stärkere Akzentuierung von vagem (Leib)Gefühl, welches im Artikel zu ki eher dem zweiten Stichpunkt untergeordnet war. Die erste Definition von ke im Artikel lässt sich folgenderweise übersetzen: »Etwas, was man zwar nicht mit der Hand greifen kann, sich jedoch als etwas erkennen lässt, das schwebend und herumbewegend irgendwo ist.«500 Darauffolgend werden zwei unterschiedliche Aspekte genannt: a. b.

Stimmung oder die Art und Weise des Seins der Dinge, deren Anwesenheit zu spüren ist (ア. その存在が感じ取れる気分・有 様) Komponenten oder Hauptbestandteile, die (in einer Sache) inkludiert sind, die die Charakteristika dieser Sache ausmachen (イ. 含まれていてその特徴をなす成分。要素。).501

Die Beispiele für die beiden Aspekte sind: a.

Stimmung oder die Art und Weise des Seins (ア. その存在が感 じ取れる気分・有様) hitono (kakureteiru) ke ga suru (人の(隠れている)けがする) Ke, dass jemand dort versteckt ist / sich dort versteckt, tut: das Gefühl haben, dass sich da jemand versteckt.502

499 Hier wird das Wort »apersonal« in dem Sinne eingeführt, dass ki in manchen Ausdrücken keine Markierung von irgendeinem Bezugsmenschen braucht, sowie die Anwesenheit eines Menschen weder impliziert noch ablehnt. 500 I. O: 「手には取れないが、ゆらぎ漂ってそれがあると知れるような或るも の。」Nishio et al. (2016): S. 421. Eigene Hervorh. 501 Ebd. 502 Ähnliche Beispiele tauchen unter den Stichwörtern »kehai« und »kewai« in Kapitel 4.2 auf.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

hi no ke ga hoshii (火のけが欲しい) Feuer-ke ist erwünscht: etwas Feuer, einen kleinen Hauch von Feuer oder Wärme haben wollen. sharekke (洒落っけ) schick(es)-ke: Schick, geschickt (vagen Eindruck). chamekke (茶目っけ) kindliches-ke: Kindliche Atmosphäre. shabakke (娑婆っけ) irdisches-ke: Viel Interesse an irdischen Dingen (haben). byōki no ke ga aru (病気のけがある) Krankheits-ke ist da: kränklich sein. kaze no ke ga nukenai (風邪のけが抜けない) Erkältungs-ke geht nicht weg: temporär dazu tendieren, sich immer wieder zu erkälten. [...] b.

Komponenten oder Hauptbestandteile, die (in einer Sache) inkludiert sind, die die Charakteristika dieser Sache ausmachen (イ. 含まれていてその特徴をなす成分。要素): shioke ga usui (塩気が薄い) Salz-ke ist dünn: (Da) fehlt etwas Salz. oshiroi no ke ga nai (お白粉のけがない) (Weiß-)Schminke-ke ist nicht da: den Anschein haben, gar nicht geschminkt zu sein. on’nakke o kaita ie (女っけを欠いた家) an weiblichem ke mangelndes Haus: Ein Haus, in dem es schwer vorstellbar ist, dass eine Frau dort wohne.503

Als die zweite und letzte Definition wird der Wortgebrauch genannt, bei dem ke als Suffix verwendet wird: »soundso ein (Leib)gefühl und Herz(geist)«.504 Beispiele hierfür sind: nemuke (ねむけ/眠気) schläfriges ke: Schläfrigkeit, Schläfrig-Sein. samuke (寒気) kaltes ke: Fühlen der Kälte, auch Schüttelfrost.505

503 504 505

Ebd. I. O.: 「…と言う気持・心。」Ebd. Eigene Hervorh. Ebd.

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3.2 Lexikalische Feldforschung zum Wortfeld ki

Im Vergleich zum Beitrag zu ki, kann der Wörterbuchartikel zu ke mehr den Eindruck hinterlassen, dass es sich dabei um leibliches Spüren sowie Fühlen handelt. Die erste Definition »Etwas, was man zwar nicht mit der Hand greifen kann, bei dem sich jedoch erkennen lässt, dass es schwebend und herumbewegend irgendwo ist« sowie der Teilaspekt »a. Stimmung oder die Art und Weise der Dinge, deren Existenz zu spüren ist« lassen einen etwas von einer möglichen Anwesenheit von etwas erahnen.506 Ausdrücke mit ke verbinden sich gerne mit Verben wie »suru« (する tun), »aru« (ある es gibt) »nuke­ nai« (抜けない nicht weggehen/verschwinden) oder »kakeru« (欠け る fehlen). In der Tat handelt es sich bei ke häufig um eine mögliche Präsenz von »etwas«.507 Das Beispiel »onnnakke o kaita ie« (女っ けを欠いた家) kann so eben als der Ausdruck für ein Haus oder eine Wohnung verstanden werden, in dem oder der jegliches Anzei­ chen weiblichen Wesens fehlt. Also spürt der/die Sprechende des Satzes nichts in der Luft, was die Anwesenheit einer Frau andeuten könnte. Im Beispielausdruck »hi no ke ga hoshii« (火のけが欲しい) geht es ebenso um ein Fehlen von »etwas«, nämlich von »ein wenig Feuer« oder »einem kleinen Hauch von Feuer sowie Wärme«. »Samuke« (寒気) beispielsweise berührt ein konkretes leibliches Fühlen: Man fröstelt und zittert vor Kälte. Zu erwähnen ist hierzu, dass man samuke auch aus anderen Gründen leiblich spüren kann als nur aus dem, dass es einem physiologisch kalt (geworden) ist. Im Artikel zu samuke, ebenso aus dem Iwanami-kokugojiten, wird eine andere Art von Wendung mit genannt: »samuke datsu« (寒気立 つ samuke steht auf: einem läuft ein Schauder über den Rücken / es läuft einem eiskalt über den Rücken).508 Diese Verwendung wird auch als »furchterregt sein« (ojike datsu: おじけだつ) zusammengefasst.509 So ist anzumerken, dass kaltes ke, das auf einen konkreten körperli­ Ebd. Wie bei dem Beispiel »hitono (kakureteiru) ke ga suru.« (人の(隠れている)け がする) (Das ke von dem, dass jemand sich dort versteckt: Ich habe das Gefühl, dass sich jemand versteckt.) Die Formulierung drückt aus, dass da etwas ist, was sich so anfühlt, als wäre da jemand versteckt. Hisayama macht diese Dimension durch seinen Ansatz zum Wort »kehai« deutlich, auf welchen in Kapitel 4.2 ausführlicher einge­ gangen wird. Hisayama (2014): S. 62. 508 Die Definition hier lautet folgenderweise: »Osoroshikute mi no ke ga yodatsu« (お そろしくて身の毛がよだつ): »Furchterregt sträuben sich einem die gesamten Kör­ perhaare.« (Im Übrigen wird das ke, das hier vorkommt, 毛 geschrieben und bedeutet Haare.). Nishio et al. (2016): S. 573. 509 Ebd. 506 507

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

chen Zustand hinweist, in anderen Situationen auch »sich fürchten« heißen kann. Zusammenfassend lässt sich anhand der Wörterbuchartikel aus dem Iwanami-Kokugojiten sagen, dass im Kontrast zu ki bei der Erfahrung von ke ein leibliches Spüren und leibliches Fühlen mehr im Vordergrund stehen, welche auch mit der Erfahrung von Gemüts­ bewegungen (wie dem Aufkommen der Furcht) einhergehen kön­ nen. Ab dem nächsten Kapitel (3.3) wird das breite Spektrum der Wortbedeutungen von ki/ke, das anhand von Wörterbuchartikeln bereits erschlossen werden konnte, phänomenologisch betrachtet und zusammengefasst.

3.3 Phänomenologische Grundstrukturen Nach der linguistischen Feldforschung wird nun aufgezeigt, welche »Phänomenologischen Grundstrukturen« im analysierten Wortfeld zu bemerken sind. Diese können (je nach Ziel der Lektüre der vorlie­ genden Arbeit) auch als eine weitere Einführung in die Merkmale des Wortfeldes verstanden werden, die ab dem 4. Kapitel jeweils gesondert und ausführlicher behandelt werden. Zunächst wird auf die »Flexibilität auf der grammatischen Ebene oder »Fluidität« von ki« eingegangen. Dann werden »Unterscheidungen, die ki unterläuft« offengelegt. Es folgen ein Abschnitt zum »ki und Satzsubjekt im Japanischen« sowie einer, in dem »ki zwischen impersonalem und personalem Fühlen« verortet wird. Das Kapitel wird mit Überlegun­ gen zum »gesamtleiblichen Sich-Befinden zwischen Gesundsein und Nicht-Gesundsein« beschlossen. Dort wird vor allem dieses Merkmal im ki-Wortfeld pointiert: dass das gesamtleibliche Sich-Befinden, die konkrete Umgebung, in der man sich befindet, sowie die Relation zu seinen Mitmenschen insgesamt als die Basis der aktuellen Kondition eines Menschen betrachtet werden. Im gesamten Kapitel wird Bezug auf die zuvor analysierten Artikel und Beispielausdrücke genommen.

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

3.3.1 Flexibilität auf der grammatischen Ebene oder »Fluidität« von ki Zu den in den vorigen Kapiteln genannten Beispielausdrücken sind einige grammatischen Bemerkungen aufzuführen: 1. ki kann quasi an der Stelle des Satzsubjekts510 (mit der Partikel »ga« stehen – oft mit einem Intransitivverb zusammenstehend oder mit den beiden Adjektiven (sowohl mit i-Adjektiven als auch na-Adjektiven, auch bekannt als »Qualitativa«)511 –, aber auch 2. wie ein Objekt (mit der Partikel »o« oder »wo« (を)), das sich auf ein Transitivverb bezieht, fungieren, oder 3. wie eine Richtung (mit der Partikel »ni«) von einer Bewegung oder Verwandlung, also um anzuzeigen, wohin sich etwas bewegt und in was es sich verwandelt (etwas wird zu ki, etwas zu ki machen), verwendet werden.512 In Bezug auf die dritte grammatikalische Auffälligkeit ist eine angedeutete Bewegung von ki herauszulesen, als würde etwas Bestimmtes von den einen umgebenden Dingen sowie Komponenten einer Situation auf einmal in sein persönliches Gebiet hereinfallen, wie dies im Ausdruck »ki ni naru« zu beobachten ist. Den Ausdruck »ki ni naru« (気になる) überträgt Kimura: »(etwas wird zu ki), wenn einem etwas nicht aus dem Sinn geht und man immer besorgt daran denken muß, oder wenn etwas Neues das eigene Interesse weckt«.513 Die o. g. grammatischen Bemerkungen können hilfreich sein, um zu verfolgen, wie sich ki allein in der Wortebene zeigt, als einerseits etwas, was uns bewegt, beeinflusst, (be)stimmt und uns etwas ahnen lässt, aber andererseits auch wie ein bestimmtes Zentrum oder Sam­ melpunkt unseres Fühlens oder unserer Aufmerksamkeit, wie dies beim o. g. Ausdruck »ki ni naru« (zum ki werden: etwas beschäftigt Bezeichnungen wie »Satzsubjekt« oder »Verbobjekt« werden in der vorliegenden Arbeit von dem Standpunkt des Textübersetzens (in die deutsche Sprache) aus ver­ wendet. Dies beruht auf dem heuristischen Vorhaben (begrenzt) an der grammatika­ lischen Kategorisierung der deutschen Sprache orientiert, die nötigen grammatischen Strukturen des Japanischen zugänglich zu machen. 511 Z. B.: 1. ki ga nagai (ki ist lang – jemand ist geduldig, langatmig) oder ki ga hareru (ki klärt sich – heiter werden), 2. ki o tsukeru (ki heften – aufpassen, aufmerksam sein, achten), 3. ki ni suru ((etwas) zu ki machen – sich (über etwas) viele Gedanken machen). Siehe auch: Yamaguchi (1997): S. 59. 512 Yamaguchi beleuchtet ebenso die unterschiedlichen Charakteristiken von ki, die sich je nach grammatischer Partikel, die das ki bei sich hat, unterschiedlich aufzeigen. Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 67f. 513 Kimura (1995): S. 121. 510

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

(einen) / fällt (einem) auf / spricht (einen) an) zu sehen ist. Anhand der dargestellten Flexibilität der Grammatikebene kann eine Struktur betrachtet werden, in der sich ki – weder rein vom »Außen« noch rein vom »Innen« aus – auf, mit und in Menschen einen Einfluss macht (oder etwas ausmacht), und zugleich eine Struktur, in der wir Menschen auf ki auch (aktiv) eine Wirkung ausüben können – wie dies in den Redewendungen »ki o tsukeru« (ki heften: aufpassen, aufmerksam sein, achten) oder »ki ni shinai« (etwas nicht zum ki machen: sich keinen Gedanken machen) der Fall ist.514 Es kann schwer vorstellbar oder denkbar sein, dass etwas, was unter der Bezeichnung ki zusammengefasst wird, sich außerhalb eines Menschen befindet, aber auch in uns sein kann, sowie zur gleichen Zeit auch, dass wir selbst sogar leiblich ke sein können – wie es im Ausdruck »samuke datsu«515 oder »nemuke«516 der Fall ist. All diese strukturellen Eigenschaften, die sich allein auf die grammatische Ebene beziehen, lassen sich folgenderweise zusammenfassen: Alle ki-Wendungen, die – wortwörtlich gesehen – gewisse Bewegungen und Zustände von ki skizzieren, sind mindestens in vier unterschied­ liche Orientierungen zu unterteilen. ki scheint 1. sich außerhalb517 von Menschen befinden zu können (z. B.: ki no nuketa bi-ru)518, 2. von außen oder vom Zwischen aus auf Menschen wirken zu können (z. B.: ki ga suru)519, 3. sich innerhalb von uns befinden oder in das

Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 60. Samuke datsu (samuke steht auf: einem läuft Schauder über den Rücken / es läuft einem eiskalt über den Rücken). Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 421, 573. 516 Zur Erinnerung: nemuke (schläfriges ke: Schläfrigkeit). Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 421. 517 Wörter wie »außen,« »innen« sowie »innerhalb« oder »außerhalb« werden aus dem Grund kursiv gestellt, dass noch die Möglichkeit besteht, in Frage zu stellen, ob und wo die Grenz-Konturen, welche diese Präpositionen (»außen«, »innen«, »innerhalb« oder »außerhalb«) andeuten, bestehen sollen. Auf diese Frage wird jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht primär eingegangen, da gerade solche (denkbaren) Konturen im ki-Wortfeld – zumindest in Bezug auf Fühlerfahrungen – nicht voraus­ gesetzt zu sein, sondern erst im Zuge von Erfahrung sich zu bilden scheinen. 518 Zur Erinnerung: ki no nuketa bi-ru (気の抜けたビール) (von) ki ausgetretenes Bier: Bier, das keine Kohlensäure mehr in sich hat: (von da aus) die Art und Weise, wie bei Dingen das Wesentliche fehlt. Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 312. 519 Zur Erinnerung: Ki ga suru heißt wortwörtlich übertragen »ki tut« (das Gefühl haben, dass ... oder »Es kommt mir … vor.«). Kimura (1995): S. 128. 514 515

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

Innere hereinkommen zu können (z. B.: ki ni naru520 sowie ki ni iru521) oder wir selber sein zu können, 4. aber auch von Menschen beeinflusst oder bestimmt werden zu können (z. B.: ki o tsukeru).522 Diese Per­ spektiven »Beweglichkeit« und »Bewegtheit« von ki werden von Nakai zutreffend als »Fluidität« (流動性) bezeichnet.523 Von dieser Fluidität aus wird in Kapitel 4 der Fokus auf eine Erfahrungsdimension des Fühlens gelegt, die sich zwischen personalem und impersonalem Fühlen befindet: Die Erfahrung vom Erlebnis vom Fühlen, bei der einem nicht klar ist, wo die Grenze zwischen dem »Bewusstsein« und dem »Nichtbewusstsein« sowie zwischen »Sich-Selbst« und »NichtSich-Selbst« zu ziehen ist.

3.3.2 Unterscheidungen, die ki unterläuft All die vier in Kapitel 3.2.2 vorgestellten Oberdefinitionen bzw. Stichpunkte ergeben gemeinsam das gesamte Feld von ki: 1. die Gemütsbewegung, Befindlichkeitsmodi, Aufmerksamkeit, 2. das Atmosphärische, 3. Atem sowie Atmen (als physiologischer Aspekt des Menschseins), und 4. die Bezeichnung von Naturphänomenen. Ein wesentliches, gemeinsames Merkmal der vier Oberdefinitionen ist, dass das ki-Wortfeld eine dichotomische Unterscheidung zwi­ schen dem (rein) Körperlichen und dem (rein) Psychischen524 nicht zuzulassen scheint. Ki unterläuft die Unterscheidung vom Körperli­ chen und Psychischen oder Mentalen, bis es selbst, ohne die Anwe­ senheit des Menschen voraussetzen zu müssen, Naturphänomene sein kann. So scheint es sich beim ki um eine Betrachtungsweise bzw. Wahrnehmungsweise der Welt zu handeln, in der der menschliche Körper, die Psyche, der Geist und die Naturphänomene – trotz der Möglichkeit der Differenzierung einzelner Phänomene – in einem Ki ni naru (気になる) – (etwas) wird zu ki: (etwas) beschäftigt einen / (etwas) spricht einen an. 521 Ki ni iru (気に入る) – (etwas) kommt ins ki herein: (etwas) gefällt einem. 522 Ki o tsukeru (気をつける) (ki heften: aufpassen, aufmerksam sein, achten). 523 Nakai (1995a): S. 169. 524 Bezüglich des Worts »psychisch« wird hier daran gedacht, was das Wort »Gemüt« im 17. und 18. Jh. betroffen zu haben scheint: »Von seinem Ursprung her bezeichnet »Gemüt« sowohl die Gesamtheit der seelischen Empfindungen und Gedanken wie auch den Ort ihrer Entstehung und Entfaltung.« Stalfort (2013): S. 195. 520

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Kontinuum stehen.525Innerhalb des Begriffs (ki) scheint keine vor­ ausgesetzte Annahme der Unterscheidung zwischen dem »rein Mate­ riellen« oder »rein Physischen« einerseits und dem »rein Geistigen« oder »rein Psychischen« andererseits zur Verfügung zu stehen. So stellt dies eine große Schwierigkeit der Übersetzung dar: Redewen­ dungen oder Vokabeln mit ki, die zwar beispielsweise eine Dimension von »Gemütsbewegung« im Vordergrund haben, jedoch damit ein­ hergehend keineswegs das körperliche Sich-Befinden ausschließen, können häufig in der Übersetzung einseitig (an dem »Mentalen« orientiert) wirken. Auf diese Weise gehen die anderen Aspekte, die im Japanischen »selbstverständlich« impliziert sind, schnell verloren. Sobald ein Wort als ein Antonym von irgendeinem anderen – wenn auch implizit – »bestimmt« rezipiert oder gebraucht wird, kann es viel zu einfach geschehen, dass das gerade »Nicht-Ausgesprochene« im untersuchten Satz oder Kontext mindestens als »Irrelevantes« oder im schlimmsten Fall als »Verneintes« angesehen wird. Dies ist im ki-Wortfeld bezüglich der Leib-Seele-Problematik, aus der japanischen Perspektive, nicht der Fall. Das deutsche Wort »Herz«526 könnte zunächst einmal als ein gutes Beispiel genannt werden, welches die Unterscheidung vom Physischen und Psychischen aushält oder bei dem beide Aspekte des Wortes mitgetragen werden können. Beim japanischen kokoro (心),527 Die Kontinuität zwischen Körper, Psyche, Geistigkeit sowie Naturphänomenen, die innerhalb des ki-Wortfelds entdeckt werden kann, kann auch in Zusammenhang mit dem sogenannten »Qi-Monismus« gestellt werden. Als eine Idee kann die Bezeichnung »Qi-Monismus« einen Ausblick geben. Sie scheint jedoch problematisch zu werden, wenn das qi hierbei substanzialisiert oder verabsolutiert betrachtet wird. Denn dies kann dazu führen, dass ein möglicher Bezugspunkt zwischen qi oder ki und den verschiedenen Kulturräumen der Welt, die ursprünglich keinen Berührungspunkt mit qi oder ki hatten, sehr einfach außer Acht gelassen wird. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit auf den o. g. »Qi-Monismus« nicht weiter eingegangen. Vgl.: Maruyama (1986): S. 20, 21. 526 So wie das Wort in Redewendungen wie »Seien Sie herzlichst begrüßt.«, »Es liegt mir am Herzen.« oder »Mein Herzensanliegen ist …« gebraucht wird. 527 So fasst Yamaguchi seinen Vergleich zwischen kokoro und ki zusammen: »Beim ki ist meistens die momentane, jetzt fungierende Funktion thematisch, während dem­ gegenüber das kokoro eine verfestigte, substantielle Eigenschaft zum Inhalt hat. Durch diese Gegenüberstellung ist evident geworden, daß das ki beweglich, leicht, fein und vage, wendig nach außen, funktionell und kosmisch ist, das kokoro hingegen fest, gewichtig, relativ deutlich, verinnerlicht, substantiell und individuell.« (Yamaguchi (1997): S. 61.) Meines Erachtens bewegt sich das ki – wie bereits erwähnt wurde – nicht nur nach »Außen«, sondern auch nach »Innen«: »ki ni suru« (etwas zu ki machen 525

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

das sich in etwa mit »Herz«, »Gemüt« sowie »Herzgeist« vergleichen und übersetzen lässt, ist es ähnlich: Es ist beides oder alles drei: Herz als körperliches Organ, Gefühlsausdruck von Herzen sowie Geist.528 Im Kontrast zu kokoro ist ki dadurch charakterisiert, dass es räumlich schwer zu pointieren ist, da es sich nicht (auch) um einen Organkörper handelt.529 Aufgrund der Fluidität des ki, das sich zwi­ schen der Materialität und Geistigkeit sowie dem Menschsein und Natursein bewegt, lässt sich nicht wirklich die Frage beantworten, wo das ki zu lokalisieren sei. Es scheint eher, dass ki erst dann ein Stück lokalisierbar wird, wenn die Modalität von ki klar geworden ist, bzw. wenn man weiß, wie etwas sich einem, in einem oder für einen anfühlt. Dieses »etwas« kann irgendeine Emotion sein, aber auch die Situation im Sinne der Stimmung des Ortes, die Luft in der Liebe oder im Kampf, die Landschaft mit Vogelgezwitscher, der nebelige, morgendliche Wald beim Aufstehen oder das stille, jedoch warme Herbstlicht. Trotz der konnotierten Organhaftigkeit sowie Kernhaftigkeit530 kann auch kokoro verschiedenste Gesichter zeigen, was es wiederum schwierig macht, zu erkennen oder zu bestimmen, wo sich die »Kon­ tur« zwischen kokoro und der Umgebung inklusive des anderen Menschen befindet.531 Der Vergleich von kokoro und ki lässt jedoch einen Kontrast stark hervortreten: ein Unterschied in der Deutlichkeit des Ansprechens, vom eher vagen, atmosphärischen ki, bei dem sowohl von der impersonalen als auch der personalen Fühlerfahrung – (zu sehr) aufmerksam darauf sein, was einen beschäftigt) oder »ki ni naru« ((etwas) wird zu ki: (etwas) beschäftigt mich oder spricht mich an). Dass ki als sich und jeman­ den bewegend verstanden werden muss, muss noch ausführlicher behandelt werden. 528 Vgl.: Hisayama (2014): S. 89. Wohlfahrt (2001): S. 17. 529 Die Luft könnte als ein Ort für ki betrachtet werden, wobei Luft wiederum weder als reines Organ noch als reine Materie betrachtet werden muss. Es kann möglicher­ weise der Fall sein, dass bei geübten Meister:innen von Qigong beispielsweise qi (sowie ki) beinahe wie ein Organkörper gespürt oder betrachtet wird, abhängig vom Grad der Fähigkeit, wie die Aufmerksamkeit bewusst von einer Person gelenkt werden kann. 530 Auch der Hinweis Nakais kann hierzu hilfreich sein: »Während kokoro wie bei (den Wörtern wie) chūshin (中心 inneres Herz: Zentrum), koshin (湖心 Zentrum des Sees) sowie kakushin (核心 Kern-Herz: Kernpunkt) eine Charakteristik hat, sich nach dem Zentrum (von etwas) zu orientieren, scheint ki eher die Charakteristik des Fluiden und von sich aus Herausbreitenden als Kernpunkt zu haben. I. O.: 「心が何らか、中 心、湖心、核心などのごとく、いわゆる求心的なるものを持つに対して、気は 何者か流動的発出的核心を意味するように思われる。」 Nakai (1995a): S. 170. 531 Es scheint eher, dass gerade mit dem Bewusstwerden von Emotionen die Kontur zwischen kokoro und der Umgebung erahnbar wird.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

die Rede sein kann, gegenüber dem eher deutlicheren, punktuellen und organischeren kokoro, mit dem vielmehr von intentionalen und personalen Gefühlserfahrungen gesprochen wird.532 Wie die Rede­ wendung ki wa kokoro (気は心 ki ist (macht) kokoro) beschreibt, kann eine metaphorische Beschreibung des Verhältnisses zwischen kokoro und ki entdeckt werden: Ki kann wie der »Fühler« (触手)533 (oder die Wellenlänge (波長)) des Herzen (kokoro) überall sein, tastend, rie­ chend und spürend, sodass sich am Herzen ein Gefühl bildet.

3.3.3 ki und Satzsubjekt im Japanischen An dieser Stelle muss es nun kaum mehr schwer vorstellbar sein, dass Schwierigkeiten bestehen können, wenn in diesem Kontinuum von Körper, Psyche, Geistigkeit und Naturphänomenen im Horizont des ki-Wortfelds eine Unterscheidung zwischen dem sogenannten »Sub­ jekt« und »Objekt« getroffen werden soll.534 Neben der Charakteristik der japanischen Sprache, dass sehr häufig in Sätzen keine Angabe des Satzsubjekts oder eines agierenden Subjekts vorhanden ist,535 zeigen die Beispielausdrücke aus den Kapiteln 3.2.2 sowie 3.2.3 eben das Merkmal, dass entweder keine Angabe der Person, die der Ausdruck (oder die Äußerung) angehen soll, vorhanden ist, oder dass ki oder ein Wort mit ki oder ke (mit der Partikel »ga«) an der Stelle des Satzsubjekts stehen. Es ist anzumerken, dass im Sprechen der japanischen Sprache überwiegend Rücksicht darauf zu nehmen ist, den gesamten Kontext, Hierauf wird in Kapitel 5.1 ausführlicher eingegangen. Akatsuka (1974): S. 18f. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Assoziation mit dem »Fühler« bei Akatsuka zu einer substanziellen und materiellen Vorstellung führen kann, die dem ki nicht ganz gerecht werden kann. 534 Unter dem Wort »Subjekt« wird hier zunächst einmal das Satzsubjekt verstanden, das in indo-germanischen Sprachen zu finden ist. Zur gleichen Zeit ist es wichtig zu erwähnen, dass das Wort in bestimmten Denktraditionen – wie in Bezug auf: »der Begriff des Hypokeimenon« bei Aristoteles sowie »die »Selbstreflexion des ›Ich‹ zur Grundlage der Philosophie« bei Descartes – steht (Elberfeld (2012): S. 190f.). Zum Subjektbegriff vgl. auch: Elberfeld (2021): S. 93. Demgegenüber wird der Objektbe­ griff hier eher als ein Pol verstanden, welcher an der sogenannten »passiven« Seite zu stehen scheint. 535 Zur Erinnerung: ki ga suru – ki tut – mir kommt es … vor / ich habe das Gefühl(, dass…). In den meisten Fällen handelt es sich um die Sprechenden als die Personen, die die Äußerung betrifft und angeht. 532

533

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

in dem sich die Sprechenden befinden, stetig im Auge zu behalten, um zu sehen, welche Person gerade die Aussage (von wem) betrifft und auf welchen Sachverhalt sich die Aussage bezieht, da diese beiden Punkte häufig nicht explizit genannt werden. Dies kann etwas rätselhaft klingen, in der Praxis erkennt man es jedoch oft intuitiv, indem es hörbar und sichtbar ist, zunächst einmal durch die Geste, auch mal durch Blickkontakte oder Vermeidung von Blickkontakten, durch Satzmelodien, die variablen Verbformen in unterschiedlichsten Höflichkeitsformen, und durch die kleinen Partikel am Ende des Satzes.536 Nicht zuletzt zählen hierzu sicherlich noch die in Sozia­ lisierungsprozessen erlernten Selbstverständlichkeiten, die gewisse Assoziationsketten sowie -muster dessen anbieten, was wann wie geschieht, wenn was gemacht wird. Häufig wird jegliche Markierung von Satzsubjekt und Thema weggelassen, wenn das Satzthema537 einmal klar ist, und es weiterhin im Gespräch oder für einen Textabschnitt als Thema präsent bleibt. In dem Wortwechsel: »irasshaimasuka (kommen?) – ee, mairimashō (ja, kommen)« sind beispielsweise eben solche subjektlosen Sätze (Äußerungen) zu finden.538 Kimura sieht hier einen Fokus auf den Vollzug (des Kommens/Gehens), wobei ein paar Merkmale hinzu­ gefügt werden müssen: Es handelt sich bei dem Wortwechsel hier um zwei unterschiedliche Höflichkeitsformen des Verbs »Kommen« (kuru): irassharu und mairu, sowie eine Verbendung (mashō). Wäh­ rend sich die erste Höflichkeitsform »irassharu« auf das Honorativum der Gesprächspartner:in gegenüber bezieht, hat die andere Form »mairu« eine Funktion der Selbstniederstellung der Sprecher:in, die die Kodierung einer Bescheidenheit den Anderen gegenüber ermög­ licht. Die Verbendung »mashō« steht dem Adhortativ – wie »lass

536 Waldenfels beobachtet die subtile Unterscheidungsmöglichkeit in Satzpartikeln anhand Kimuras Einführung folgenderweise: »Ein Wortwechsel, der in unserer Spra­ che etwa so lauten würde: ›Was machst du?‹ – ›Ich höre Musik‹, würde sich im Japa­ nischen etwa anhören wie: ›Was machen?‹ (nani shiteruno) – ›Musik hören‹ (ongaku o kiiterundayo). Allerdings stimmt dies wiederum nur zum Teil, da die dem Verb angefügten agglutinativen Elemente no bzw. dayo einen kontextuell je nach Geschlecht, Alter und Vertrautheit variierenden Bezug zum Sprecher und zu seinem Gesprächspartner herstellen.« Waldenfels (1997): S. 71. Siehe auch: Kimura (1995): S. 103. 537 Gewöhnlich wird es mit der grammatischen Partikel wa (は) markiert. 538 Kimura (1995): S. 103.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

uns« im Deutschen – nahe.539 Die kleinen Partikel signalisieren etwa die Satzform, so signalisiert z. B. »ka« am Satzende, dass es sich um eine Frage handelt. So muss in Bezug auf die untersuchten Ausdrücke berücksichtigt werden, dass die »subjektlosen« Sätze im Japanischen Markierungen der Subjekte beinhalten, deren Spuren bloß im ersten Augenblick nicht zu sehen sind (insbesondere für Personen, deren Muttersprache eine Sprache ist, in der zwingend Subjekte in vollständigen Sätzen vorhanden sind). Um zu sagen, dass eine Aussage einen selbst betrifft, spricht man beispielsweise watashi-wa, was im Wortlaut etwa heißt »was mich (meine Meinung, meine Gewohnheit, meine Ansicht etc.) betrifft«. Dem Ausdruck folgt etwa die Aussage: aisu ga ii desu (Eis ist bevorzugt: Ich nehme ein Eis). Es bereitet jedoch überhaupt kein Problem, wenn man »watashi-wa« weglässt und nur äußert: aisu ni shimasu (zum Eis machen: Ich habe mich für ein Eis entschieden). Solange unverändert bleibt, wen die eigene Äußerung betrifft, wird watashi-wa nicht (mehr) erwähnt, bis sich ändert, wen eine Äuße­ rung angeht.540 So scheint es durchaus möglich zu sein, dass die Aufmerksamkeit im Sprechen der japanischen Sprache anders als im Sprechen im deutschen Alltagsleben gelenkt wird – wie z. B. dass man auf die Satzendungsform (welche Höflichkeitsform eines Verbs) oder Partikel aufmerksam ist, die nicht nur die Bedeutung, aber auch den Satzrhythmus sowie -melodie bestimmen. Wenn es um die Verwendung der Personalpronomen (Selbst­ bezeichnung sowie Anrede) geht, so gibt es im Japanischen einige

539 So lässt es sich auch folgenderweise übertragen: »irasshaimasuka (Kommen Sie?) – ee, mairimashō (ja, lass uns losgehen). Der Durchstrich markiert die Information, die unausgesprochen, jedoch signalisiert ist. Die fett gedruckte Stelle betrifft die Stelle, die ausgesprochen, jedoch bei Kimura nicht übertragen wird. Die Haltung der Bescheidenheit bzw. Selbstzurücknahme anderen gegenüber (kenjō, 謙譲), die das Verb »mairu« (参る) als Kern in seiner Wortbedeutung hat, steht in der Übertragung Kimuras ebenfalls nicht. Dies liegt sicherlich auch daran, dass die zwei Sprachen (hier Deutsch und Japanisch) in unterschiedlichen Ebenen und Momenten nicht nur grammatisch, semantisch, sondern auch affektiv (mit der Gestik der Worte) ihren jeweilig unterschiedlichen Fokus zeigen. 540 Es sei denn, man möchte betonen, dass einen ein Thema sowie eine Aussage sehr persönlich (im Vergleich zu den Anderen) betrifft – da kann oder muss man »watashi-wa« wiederholen.

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

Möglichkeiten: Für »ich« gibt es watashi (私),541 watakushi (私),542 atashi (あたし),543 ware (我),544 boku (僕),545 ore (俺),546 wagahai (我 輩),547 shōsei (小生)548 etc., und für »Sie« sowie »du« gibt es anata (あ なた / 貴方 / 貴女), kimi (君), anta (あんた), oma’e (お前), tema’e (手前), temē (てめえ), kisama (貴様) etc.549 Es ist möglich, dass 541 Neutralste Form von »ich«. Überwiegend wird es von Frauen ca. ab dem Alter von zehn verwendet. Erwachsene Männer benennen sich auch mit watashi, häufig im Arbeitskontext oder an der Universität, an Hochschulen und sonstigen Forschungs­ einrichtungen. 542 Es ist eine höflichere Form von watashi (私). 543 Am häufigsten wird dieses Wort von Frauen verwendet. Es kann je nach Fall einen kokettierenden Eindruck hinterlassen. 544 Seltener verwendete Form für »ich«, die in philosophischen Texten im Sinne von »ich« verwendet werden kann. Ein gutes Beispiel lässt sich in der Übersetzung des berühmten Satzes von Descartes finden: Ware omou yu’e ni ware ari. (Ich denke, also bin ich.). 545 Selbstbezeichnung, die häufig von Kindern, aber auch erwachsenen Männern verwendet wird und einen zurückhaltenden Eindruck hinterlassen kann. Wörtlich kann das Wort boku (僕) ein »Untergestellter« sowie ein »Lernender« heißen. 546 Selbstbezeichnung, die häufig von Jungen und Männern verwendet wird. Ore kann den Eindruck hinterlassen, als wäre man von sich gut oder sehr (oder je nach Fall zu sehr) überzeugt. 547 Selbstbezeichnung, die heute seltener Verwendung findet. Das Wort kann einen altmodischen Eindruck hinterlassen und wird normalerweise von erwachsenen sowie älteren Männern verwendet. Hier kann eine Konnotation zu sehen sein, dass man sich gut findet und gerne mal in der Gesellschaft breit macht. 548 Selbstbezeichnung für (häufig gelehrte) Herren. Die Zeichenkombination 小 生 heißt wörtlich: kleines Leben. Die Konnotation, die dabei mitzuhören ist, ist eine Selbstzurückhaltung sowie ein »Ich« als ein »Lernender«. 549 Die Personalpronomen der zweiten Person haben ein Merkmal darin, dass diese insgesamt selten verwendet werden, und zwar noch seltener als die Personalpronomen der ersten Person. Dies kann daran liegen, dass die Verwendung von »du« sowie »Sie« im Japanischen allgemein überwiegend vermieden wird, da diese den Eindruck hin­ terlassen kann, dass man sich meinungsmäßig der anderen Person gegenüber anders oder entgegengesetzt positioniere. (Anstelle der Verwendung des direkten »Sie« sowie »du« wird man in der Regel bei Bedarf mit dem Namen inklusive Anrede (san, sama, kun, chan etc.) genannt und angesprochen.) Eine Ausnahme ist die relativ veraltete Verwendung von anata von der Ehefrau ihrem Ehemann gegenüber. So wie anata haben auch nanji, kimi, anta, oma’e, tema’e, temē, kisama jeweils auf verschiedene Art und Weise ihren spezifischen Ausdruck. Die Konnotation, dem anderen (also genann­ ten und angesprochenen) Menschen gegenüber weniger Acht zu schenken, lässt sich in der o. g. Darstellung in etwa ab der Zwischenspalte zwischen kimi und anta erken­ nen. Die Konnotation intensiviert sich, der Reihenfolge gemäß, und spitzt sich zu bei temē und kisama. Die letzten vier Anreden sind markiert mit dem Eindruck, herab­ lassend bis hin zu verachtend zu sein: Nanji und kimi gelten noch als relativ neutral, aber anta klingt nach einer deutlichen Respektlosigkeit sowie Verachtung. Kisama gilt

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

dieselbe (männliche) Person, die sich selbst auf der Arbeit »watashi« oder »watakushi« nennt, sich bei seiner Mutter zu Hause mit »boku« bezeichnet, und sich bei sich zu Hause vor seiner Ehefrau »ore« nennt.550 So zeigt sich nicht nur ki, sondern auch der Gebrauch des sogenannten »Ichs« im japanischen Alltag etwas fluide.551 Je nach dem Kontext, in dem man sich gerade befindet, sowie je nachdem, wie nah und fern, und in welcher Position man den anderen Mit­ menschen in der geteilten Situation gegenüber steht, geschieht ein Rollenwechsel, ohne dass dies immer bewusst ausgesucht werden muss.552 Was die Anrede der/des Anderen angeht, handelt es sich – wie bei »Herr ...« oder »Frau ...« im Deutschen, jedoch mit ähnlicher Unterscheidungsmöglichkeit zwischen »du« und »Sie« – dabei um diese Rollen sowie Alter, aber auch die gefühlte Nähe und Distanz: Wenn man sich im Japanischen gegenseitig mit Vornamen nennt, mal mit einer bestimmten Form von Anrede, oder mal ohne, so heißt es, dass man sich einander sehr nah steht.553

in der o. g. Reihe am respektlosesten, wobei das Wort (貴様 wörtlich übertragen: Herr Ehrwürdiger) bis zur Neuzeit in seiner Verwendung im Vergleich zu heute einen komplett gegenteiligen Sinn hatte. Insgesamt findet man die Verwendung von den o. g. Ausdrücken im Alltag selten bis nie. Vgl. Shinmura et al. (2020): S. 702. 550 Siehe: Kimura (1995): S. 102. Zu Personalpronomen aus dem Japanischen vgl. auch: Tawada: »Leere Flaschen«, in: Überseezungen, 2013, S. 53–57. 551 Noch anzumerken ist an dieser Stelle, dass mit der Beschreibung dieser Cha­ rakteristik der japanischen Sprache nicht gemeint wird, durch eine Betonung der Besonderheit einer Nationalsprache eine Art Überlegenheit oder sonstige politische Intention zu signalisieren. Die Fluidität des sogenannten »Ichs« betrifft sicherlich unterschiedliche Kulturen und Sprachen: Beispiele sind zu nennen, angefangen mit dem Wechsel der Anrede zwischen »Sie« und »du« im Deutschen, unterschiedliche Artikulierungsmöglichkeiten des Wortes »ich« je nach Regionen und, nicht zuletzt, die Art und Weise der tonalen Artikulierung im (Aus)Sprechen, die sich von allein ändert, je nach dem Kontext und dem Ambiente, in dem man sich befindet. 552 Es kann jedoch auch ausgesucht werden. Dabei spielt auch die »Hierarchie« der Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Die älteren Menschen, die in höheren Stellen oder Stufen (auch Jahrgängen in Bildungsinstitutionen) sind, werden häufig als diejenigen verstanden, denen gegenüber man achtgeben und dies auch verbal zeigen soll. 553 Dazu gibt es verschiedene Varianten bzw. Formen der Anrede wie z. B. san (was »Herr ...« und »Frau ...« im Deutschen ähnelt, wobei es auch für Vornamen benutzt werden kann), chan (Anrede im Diminutiv, meistens für Mädchen oder Frauen) und kun (Anrede im Diminutiv, in der Regel für Jungen oder Männer). Manchmal wird chan auch aus Vertrautheit für erwachsene Männer (zwischen engen Freunden, in der Familie etc.) verwendet.

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

Bezüglich der Fluidität im Gebrauch des »Ichs«, sich als ein allei­ niger Mensch je nach Kontext und Situation, in der man sich befindet, unterschiedlich nennen zu können oder müssen, betont Kimura den Hinweis von Mori Arimasa (森有正, ein japanischer Philosoph und Literat der französischen Sprache, 1911–1971): Das »Ich« in Japan gelte stetig als »Du« von dem Anderen in einem Kontext zu sein.554 Anhand dieser Ansicht betrachtet Kimura das »Ich« sowie die von ihm genannte »Subjektivität der Japaner« so, dass sie sich immer vom »Zwischen« (aida, 間) zwischen Mensch und Mensch herausbilde.555 Diesbezüglich wird in Kapitel 4.3 im Horizont des ki-Wortfeldes auf eine kritische Reflexion eingegangen. In jedem Fall scheint somit eine Kunst zu sein, die gelernt und kultiviert werden muss, im Zwischen­ sein vom Zwischen heraus sich äußern zu lassen, damit jedes Indivi­ duum nicht nur ein »Sklave« dieses »Zwischens« sein muss, sondern selbst ihr gestaltender »Schöpfer« sein kann. Denn es kann Probleme bereiten, wenn dieses unsichtbare »Zwischen« allzu sehr verabsolu­ tiert betrachtet und praktiziert wird.556

3.3.4 ki zwischen impersonalem und personalem Fühlen Wie in den letzten drei Abschnitten verdeutlicht wurde, scheint ki auf keinen punktuellen Ort zu verweisen, zu dem es gehört oder an dem es, wie ein Körperorgan, stationiert wäre. Ki hat vielmehr den Anschein, nirgendwo richtig zugehörig zu sein, in dem Sinne, dass es in jeder Erfahrung auf unterschiedliche Art und Weise spürbar werden kann. So kommt es gerade verstärkt derart vor, als würde es überall sein, wie die Luft (kūki, 空気: Himmels-ki). Der Eindruck, dass ki nirgendwo zugehörig sei, kann z. B. bei Ausdrücken geweckt werden, die kein Subjekt als agierende Person erfordern. So hat beispielsweise der Ausdruck »ki ga muku« (das ki wendet sich (zu etwas) – auf spontane Art und Weise kommt Vgl.: Mori: »Keiken to shisō« (経験と思想), in: Mori Arimasa Zenshū Bd. 14 (森 有正全集第 14 巻), 1979, S. 63f. 555 Kimura (1995): S. 103. Eine kritische Perspektive kann durch die erhellende Beob­ achtung der situierten Leiblichkeit gewonnen werden. Hierzu siehe: Tanaka (2015): S. 35–39. 556 Die Problematik der Erfahrung der kollektiv geteilten Situationsstimmung, die in Kapitel 4.3 unter dem Stichwort »kūki« (空気) analysiert wird, gilt durchaus als ein symptomatisches Beispiel der Gewohnheit dieses »Zwischens«. 554

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

es zustande, dass die Motivation zu etwas erweckt wird)557 keine agierende Person als Satzsubjekt, sondern ki als Subjekt, das »sich wendet«. Dieses ki kann beispielsweise eine Dynamikstruktur aufzei­ gen, als würde sich das zunächst herrenlos scheinende ki jemandem zuwenden, und so entsteht die Motivation zu irgendetwas: Auf einen Vorschlag eines Freundes, z. B. Fußball zusammen spielen zu gehen, antwortet ein junger Herr ganz freundlich: ki ga muitara, ne! (気が 向いたらね, Wenn sich ki danach wenden sollte!: Ja, ich wäre dabei, falls mir danach sein sollte!) Hier scheint er selbst (noch) nicht zu wissen, ob ki oder die Motivation zum Fußballspielen überhaupt auf ihn zukommen werde, und wenn ja, wann dies zustande kommen werde. So kann der Ausdruck klingen, als ob er sich selbst quasi eine passivere Rolle zuteilt – sich Zeit lassend, ohne sich bewusst an dem Fußballspielen zu orientieren, aber der Möglichkeit als solcher offen gegenüber stehend. Bei der Wahl des Ausdrucks kann auch eine Rolle gespielt haben, dass der Antwortende das Herz des Freundes liest (bzw. interpretiert) oder mitfühlt, der zum Fußballspielen einlädt: Vielleicht wäre es schön für ihn, wenn ich, als jemand aus seinem Freundeskreis, einmal zum Fußball mitkäme. Hier scheint ki beim Redezeitpunkt nur vage ein »Zwischen« aufzuzeichnen, das weder rein zu dem Fragenden noch zu dem Ant­ wortenden oder sonst irgendwozu gehören würde.558 Es ist jedoch durchaus möglich, dass sich ki eines Tages bei dem Antwortenden zum Fußballspiel wendet – in dem Fall handelt es sich dann um das ki von oder an dem jungen Herrn, der nun darauf Lust bekommen hat, oder in der Tat mitgekommen ist, um Fußball zu spielen. Erst dann und dort, wann und wo sich ki nach etwas gewendet hat (ki ga muita: ki wendete sich / hat sich gewendet – grammatisch in Hierzu siehe auch: Kimura (1995): S. 126. An dieser Stelle sind als relevant zu erwähnen: die Diskurse zur Begriffswelt aida (間, das Zwischen, auch als »das Zwischen zwischen Mensch und Mensch« bekannt. Vgl.: Kimura Bin: Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Subjektivi­ tät, 1993) sowie zu Ma (間, zeitliches und räumliches Intervall oder Raum von zwei unterschiedlichen Dingen oder Phänomenen, der jedoch nicht messbar ist). Zu Ma kann das folgende Zitat von Augustin Berque erhellend sein: « C’est dire […] que le ma n’est pas le rapport binaire d’un intervalle entre deux objets, mais la relation ternaire entre deux choses et notre propre existence […] Il ne s’agit pas de l’intervalle en soi (la relation même d‘intervalle), mais d’un intervalle dans l’espace-temps concret, supposant donc une situation, une ambiance […] Le ma n’est donc pas un intervalle strictement et objectivement mesurable, comme le sont les objets de la géométrie; étant trajectif, il est contingent«). » Berque (2021): S. 17f. 557

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der Vergangenheitsform559), ist es dem Antwortenden persönlich auch klar, dass er in diesem Moment mit dem Fragenden Fußball spielen möchte. Genau so kann aber das eventuelle Sich-Wenden von ki im Auge behalten werden, und somit können verschiedene Möglichkei­ ten zwischen dem Ja und Nein auf die einladende Frage offengehalten werden. Bezüglich des Fühlens scheint sich ki somit fluide und dyna­ misch zwischen »impersonaler« und »personaler« Erfahrungsebene zu bewegen, was erlaubt, nicht nur die mögliche Anwesenheit, son­ dern auch die mögliche Abwesenheit von bestimmtem Fühlen mit implizieren oder bewusst im Auge behalten zu können.560

3.3.5 Gesamtleibliches Sich-Befinden zwischen Gesundsein und Nicht-Gesundsein Als ein weiterer Aspekt aus dem ki-Wortfeld zu erwähnen ist das gesamtleibliche – sowohl körperliche, psychische als auch geistige – Sich-Befinden, das das gesamte Bild eines Menschen inklusive seiner Umgebung angeht. Dieses betrifft somit das ganzheitliche Gesund-Sein eines Menschen.561 Markante Beispiele lassen sich in manchen Beispielsätzen aus den beiden Kapiteln 3.2.2. und 3.2.3. finden: »byōki no ke ga aru« (病気のけがある Krankheits-ke ist da: Jemand ist etwas kränklich.), »kaze no ke ga nukenai« (風邪のけ が抜けない Erkältungs-ke geht nicht weg: Jemand tendiert gerade dazu, sich wiederholt zu erkälten.). Krankheit heißt im Japanischen einfach byōki (病気 krankes ki). Es gibt außerdem eine recht gängige Redewendung, die etwa heißt: »yamai wa ki kara«: Krankheit kommt von ki, wobei hinzuzufügen wäre, dass diese »Krankheit« in der 559 Grammatisch ist dies auch als Form der Nicht-Gegenwart (in Verbindung mit der Verbendung ta (た)) bekannt. Vgl.: Kazuko Inoue: Nihon bunpō shōjiten (日本文法小 事典), 2001, S. 167f. 560 Hierauf wird in Kapitel 4 und 5 ausführlicher eingegangen. 561 Dem Gesund-Sein steht potenziell das Nicht-Gesund-Sein gegenüber. So wie qi die beiden zueinander komplementären Richtungen (oder Eigenschaften) von Yin (陰) und Yang (陽) zeigt, kann das Gesund-Sein ebenso als eine andere Seite des Nicht-Gesund-Seins betrachtet werden. So kann selbst ein Zustand, der für »nicht gesund« gehalten oder so diagnostiziert wird, auch als eine recht gesunde Reaktion sowie ein gesundes Anzeichen der Leiblichkeit angesehen werden, welche und welches mitteilen möchte, dass die eigene Homöostase mit der Homöostase der Umgebung (inklusive der Natur sowie Mitmenschen) gerade jetzt nicht im Einklang ist bzw. wieder in ein Gleichgewicht zu kommen versucht.

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

heutigen Gesellschaft als solch etwas wie eine leichte Erkältung verstanden wird.562 Die chinesische Medizin, in der Krankheitsphänomene als durch eine Unausgeglichenheit des qi und des Blutes verursacht erklärt werden, steht hierzu in engem Zusammenhang.563 Auf die genauere Methode der chinesischen Medizin564 kann in der vorliegenden Arbeit nicht tief eingegangen werden, es scheint jedoch notwendig zu sein, einen Eindruck von dem Bereich zu vermitteln, da die Welt­ anschauung der chinesischen Medizin im Fühlen und Wahrnehmen im japanischen Alltag noch tief verwurzelt zu sein scheint. Yamaguchi Ichirō führt den Bereich chinesischer Medizin folgenderweise zusam­ menfassend ein: In der chinesischen Medizin ist mit dem Begriff Ki565 der »psychophysische Zusammenhang« von Anfang an als eine ganzheitliche Betrachtung der Existenz des Menschen charakteristisch geprägt. Aber dieser Zusammenhang wird abweichend von der »psycho-physikali­ schen Kausalität« im Sinne der modernen Naturwissenschaft verstan­ den, welche die Mathematisierung der Natur, die streng induktive Methode und den cartesianischen Dualismus voraussetzt. Die chinesi­ sche Pharmakologie hat sich beispielsweise in ihrer langen Tradition die durch die Erfahrung des Leibes gewonnene psychosomatische Einsicht zunutze gemacht.566

In der chinesisch-medizinischen Psychosomatik werden die sieben affektiven und geistigen Bewegungen (七情: 喜 Freude, 怒 Wut/Zorn, 憂 Sorge/Melancholie, 思 Denken, 悲 Trauer, 恐 Furcht, 驚 Über­ rascht-Sein) immer im Zusammenhang mit qi erklärt: »Bei einer Wut geht das qi hoch (aufgeregt sein), bei einer Freude weicht das qi auf (Aufmerksamkeit ist zerstreut). In Trauer (Traurigkeit) 562 In diesem Kontext fasst Pörtner seine Haltung zu ki folgenderweise zusammen: »Vielleicht ist Ki nichts anderes als ein anderer Name für einen Ungleichgewichtszu­ stand, und das vermeintliche Wirken des Ki ist nichts anderes und nicht mehr als die Herstellung oder Wiederherstellung von Homöostase, in der sich Ki beruhigt, indem es aufhört (Ki ga sumu).« Pörtner (1985): S. 222. 563 Aimi (1976): S. 59. 564 Die Zusammenhänge von qi und der chinesischen Medizin lassen sich ebenso in verschiedenen Theorien sowie Interpretationsweisen von qi finden; u. a. in Lúnyǔ (論語), Mengzi (孟子), Huainan(g)zi (淮南子), Shiji (史記), und nicht zuletzt im altchinesischen Medizinbuch Huangdi neijing (黄帝内経) Vgl.: Kuroda (1977): S: 101. 565 »Ki« lässt sich hier auch als qi verstehen. 566 Yamaguchi (1997): S. 56.

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

verschwindet das qi (weniger oder keine Lebenskraft haben), in Furcht sinkt das qi (kraftlos werden). Im Erschrocken-Sein verwildert das qi (aufgeregt und unberechenbar sein), und im Denken verdichtet sich das qi.«567 Das übermäßige Auftreten der sieben affektiven und geistigen Bewegungen wird jedoch als schädlich und beeinträchtigend für die Funktionen der Organe angesehen: »Freude verletzt Herz, Wut verletzt Leber, Denken verletzt Milz, Sorge verletzt Lungen, und Furcht verletzt Nieren.«568 Im menschlichen Körper werden zwei unterschiedliche qi-Flüsse angenommen: Der erste Fluss e’iki ist das »Ernähr-qi« (営気), das den gesamten Körper durchfließt, und dessen Fließbahn »MeridianLinie« (Keiraku, 経絡) genannt wird.569 Die geläufige Übersetzung des qi als »Lebensenergie entspricht diesem ernährenden qi, weil es in sich als eine Art ›Energie‹ anzusehen ist.«570 Der Terminus »Meri­ dian-Linie« wird heute auch in Europa beispielsweise im Bereich Phy­ siotherapie angewendet.571 Der andere Fluss, eki bzw. das »Abwehrqi« (衛気), wird in der chinesischen Medizin als »atmosphärisch auf der Haut« verharrendes qi verstanden, das uns vor Infektionen schützt.572 Das Ernähr-qi wird dabei der konstruierenden Yang-Seite (陽), das Abwehr-qi der schützenden Yin-Seite (陰) zugeschrieben.573 »Blut«574 wird als »die flüssige Erscheinung des ursprünglichen qi (元 気, auf Japanisch: genki)« betrachtet, »während sowohl das Ernähr-qi

Aus Suwen (素問, 挙痛篇). Vgl.: Aimi (1976): S. 66. Eigene Übersetzung anhand der japanischen Übertragung von Aimi: 「怒ればすなわち気が上がり、喜べばす なわち気が緩む。悲しめばすなわち気が消え、恐れればすなわち気が下がる。 驚けばすなわち気が乱れ、思えばすなわち気が結ぶ。」 Ebd. 568 Eigene Übersetzung anhand der japanischen Übertragung von Aimi. Auch in einer verkürzten Version (aus Suwen (素問)): 「喜は心を傷つける。怒は肝を傷つける。 思は脾を傷つける。憂は肺を傷つける。恐は腎を傷つける。」 Ebd.: S. 67. Vgl. auch: Ebd.: S. 67–70. 569 Vgl.: Hisayama (2014): S. 20. 570 Ebd. 571 Vgl.: Hisayama (2014): S. 20. Siehe auch: Kubny (1998): S. 55. 572 Vgl.: Hisayama (2014): S. 20. 573 Ebd. 574 Im Übrigen ist kekki (血気 Blut-ki/qi) oder das Wort kekki als dasjenige zu betrachten, das die Wut aus den sieben affektiven und geistigen Dynamiken (七情) häufiger entstehen lässt, wenn es zu viel und zu übermäßig aktiv wird: Wenn das kekki umgekehrt hochfährt, macht es den Menschen häufig wütend (「血気逆上すれば人 をしてよく怒らしむ」 ursprünglich von Kapitel 62 von Suwen 素問 ). Vgl.: Aimi (1976): S. 67f.; Unschuld (2016): S. 115. 567

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

als auch das Abwehr-qi als die gasförmigen Erscheinungsformen des gen-ki anzusehen sind.«575 Aus dem Lingshu (霊枢: 順気一日分為四時篇) weist Aimi Saburō, ein japanischer Mediziner, auf die folgende Stelle hin: Dort, wo alle Krankheiten entstehen, handelt es sich in jedem Fall um Trockenheit, feuchte Kälte, Hitze, Wind, Yin und Yang, Freude und Wut, Nahrung und den Ort, wo man sich befindet, was die Krankheiten verursachen kann. Der menschliche Körper ist die Vereinigung (und die Manifestation) des Qi, so sind die Organe hierfür zuständig.576

So spielt das gesamtleibliche Sich-Befinden, das sich durch alle Elemente des Ortes herausbildet, in denen man sich befindet, die entscheidende Rolle, wenn es um das Gesundsein eines Menschen geht. Das gesamtleibliche Sich-Befinden wird bedingt durch z. B. Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck (z. B. mit oder ohne Wind sowie welcher Art von Wind), bildet sich aber auch einhergehend mit dem Gemüt und der Emotionalität, bis hin zur Nahrung, die man zu sich nimmt. So wie ein Übermaß an Emotionalität, Gefühlen sowie Geistes­ dynamik577 ein Faktor körperlicher Beschwerden und Krankheiten sein kann, können sich auch Gefühle dann ändern, wenn die Phy­ siologie in eine Unausgeglichenheit gerät.578 Ungleichgewicht in Emotionalität, Gefühlen, geistiger Dynamik sowie gesundheitlichen Hisayama (2014): S. 21. Die japanische Übertragung von Aimi lautet: 「夫れ百病の始めて生ずる所は、 必ず燥、湿寒、暑、風、陰陽、喜怒、飲食、居所に起るなり。気は合して形を 有し、蔵を得て、名あるなり。」 Eigene Übersetzung anhand der japanischen Übertragung Aimis. Aimi (1976): S. 11f. 577 Die hier erwähnte Emotionalität sowie Geistesdynamik (情) wird in sieben ver­ schiedene Typen unterteilt: Freude (喜), Wut (怒), Melancholie (憂), Überlegung/ Denken (思), Trauer (悲), Angst und Furcht (恐), Schreck/Überraschung (驚). Vgl.: Aimi (1976): S. 60. 578 Ebd.: S. 32. Siehe auch: Kitanaka (2012): S. 26. Eine Sicht, die in Analogie gestellt werden könnte, lässt sich ebenso in den Überlegungen Antonio Damasios zu Homöostase und Gefühlen finden: »Die Gefühle überliefern uns von Augenblick zu Augenblick ein Bild von unserem Gesundheitszustand. Abstufungen von Wohlbefin­ den oder Unwohlsein sind Hinweiszeichen. Natürlich übersehen Gefühle manchmal den Beginn von Krankheiten, und emotionale Zustände können fortwährende, spon­ tane homöostatische Gefühle überdecken, sodass diese keine klaren Botschaften über­ mitteln. In den meisten Fällen jedoch teilen uns die Gefühle mit, was wir wissen müs­ sen.« Antonio Damasio: Im Anfang war das Gefühl – der biologische Ursprung menschlicher Kultur, 2017, S. 59. 575

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3.3 Phänomenologische Grundstrukturen

Zuständen zeigt sich im heutigen japanischen Sprachgebrauch folgen­ derweise verschiedenartig in Ausdrücken mit ki: ki ga hen ni naru (気 が変になる ki wird komisch, verändert: in Unruhe geraten, nicht mehr bei sich sein), kiochi suru (気落ちする ki-Unterfallen-tut: keine Kraft, keine Motivation mehr haben), ki ga omoi (気が重い ki ist schwer: bedrückt sein, keine Motivation oder Lust haben),579 ki ga shizumu (気が沈む ki sinkt: melancholisch und keine Motivation für Sachen bekommen /»schwermütig« sein580), ki ga chigatta (気が違った »ki ist verschoben«: etwas in ihr/ihm läuft schief)581 und ki ga fusagu (気 が塞ぐ »ki ist verschlossen«: »niedergeschlagen« sein582). Die letzten drei Ausdrücke sollen nach den Psychiatern Kimura und Doi häufig auch im Bereich psychiatrischer Praxis auftauchen.583 Markant ist, dass ki bei all den o. g. Beispielen den Klang und Anschein hat, dass ki hier ganz und gar der betroffenen Person zugehörig ist. Es klingt nicht mehr nach dem ubiquitär erscheinenden und fluiden ki, sondern vielmehr, als wäre das ursprünglich ubiquitäre ki von und bei der Person ganz und gar abgetrennt,584 abgedichtet585 oder abgegrenzt.586 In den o. g. Ausdrücken scheint und klingt es so, als gäbe es zwischen dem ki der Person und dem ubiquitären ki keine Kontinuität mehr, oder als strahle das abgedichtete ki der Person eine Gravität oder übermäßige Zerstreuung aus, die (gegenüber sich selbst) ausgrenzend wirkt.587 So skizzieren und lassen die o. g. Ausdrücke die Art und Weise interpretieren, wie sich ein Mensch an der Welt beteiligt, bzw. die Art und Weise seiner Weltbezüglich­ keit bildhaft. Im Übrigen findet man – bezüglich des »Sich-Befindens« als leibliches Gesamtbild eines Menschen – den Ausdruck qifen 気分 (im Siehe auch: Kimura (1995): S. 129. Siehe auch: Yamaguchi (1997): S. 59. Und Kimura (1995): S. 129. 581 Ebd. 582 Ebd. 583 Doi vergleicht die sonstigen Benennungen wie »Krankheiten des ki« (ki no yamai, 気の病) mit »Neurose« und ki-chigai (von ki ga chigatta: verschobenes ki) mit »Psychose«. Siehe auch: Doi (2019): S. 156 und Kimura (1995): S. 129. Zum histori­ schen Hintergrund der Verwendung des Ausdrucks ki-chigai siehe auch: Kitanaka (2012): S. 38. 584 Z. B. beim Ausdruck: ki ga hen ni naru (気が変になる). 585 Z.B. beim Ausdruck: ki ga fusagu (気が塞ぐ). 586 Z. B. beim Ausdruck: ki ga chigatta (気が違った). 587 Dieser Eindruck betrifft vor allem die folgenden Ausdrücke: kiochi suru (気落ちす る), ki ga shizumu (気が沈む), ki ga fusagu (気が塞ぐ). 579

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Japanischen: kibun) in Jingui Yaolüi (金匱要略) von Zhang Zhongjing (張仲景 ca. 150–219 n. u. Z.). Die Auslegung des Begriffes ist umstritten.588 Kibun (気分) in derselben Zeichenkombination wird im heutigen Japanischen häufig als Gemütsstimmung oder Stimmung übersetzt, worauf in Kapitel 5.2 eingegangen wird. Das qifen 気分 aus Jingui Yaolüi (金匱要略) scheint jedoch mehr als die heutige Wendung als Gemütsstimmung zu umfassen: Es betrifft vielmehr unterschied­ lichste physiologische Dynamiken, die von affektiven, psychischen und geistigen Dynamiken untrennbar sind, und die das gesamte Bild der Verfassung eines Menschen ausmachen.589

3.4 Fazit des Kapitels Bereits vor dem historischen Hintergrund, der zugänglich macht, wie qi, ki (sowie ke) als eine Form der Selbstverständlichkeiten in den Schriften der jeweiligen Zeit galten und entwickelt wurden – immer mit unterschiedlichen Betonungen je nach Autorenschaft – kann die Breite des Bedeutungsspektrums aus dem Wortfeld erblickt werden. Neben den Bedeutungen von Luft, etwas Luftartigem, Dampf und Wolken, die sich auch in der Zeichenbildungsgeschichte von qi erblicken lassen, sind auch die Körperlichkeit des Menschen (wie in Lun’yu 論語), Verfassung des Menschen als etwas Kultivierbares (wie bei Mengzi 孟子) sowie ursprüngliche(r) Kraft/Stoff der Welt (bei Laozi 老子), aber auch die psychologischen sowie mentalen Dynami­ ken und qi als Befindlichkeitsmodi ebenso im heutigen japanischen Wortgebrauch aufrechterhalten worden. Im Wörterbuch Iwanami-kokugojiten steht bei dem Artikel zu ki die Dimension des menschlichen Fühlens im Vordergrund. Dort sind dennoch alle vier der in diesem Kapitel dargestellten Dimensionen zu sehen: 1. Gemütszustand, Emotion, Motivation, Lust, Disposition eines Menschen, Befindlichkeitsmodi, Gefühl, Gespür, Gemütsbewe­ gung sowie Aufmerksamkeit, 2. Spüren des Atmosphärischen, 3. physiologische Aspekte des Menschen, 4. (klimatische) Änderungen in der Natur. All diese sind gerade einzeln genannt, sie bleiben jedoch innerhalb des Wortfelds eins. Diese Dimensionen können Vgl.: Aimi (1976): S. 63. Ebd. Für weitere Ausführungen siehe auch: Zhang: Essentials from the golden cabinet (金匱要略). Translation and annotation of Jin Gui Yao Lue, 2020, S. 300–302.

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3.4 Fazit des Kapitels

trotz der Spannbreite, in der sich ki apersonal, impersonal und personal manifestieren kann, in der Verinnerlichungstendenz von ki (verwiesen von Nakai Masakazu) verwurzelt sein, bzw. in der Tendenz, dass ki im Laufe der Zeit mehr eine Art Zugehörigkeit zu einer Person zeigt. Das ke hat demgegenüber etwas deutlicher das leibliche Moment im Vordergrund, das das Spüren der Anwesenheit von etwas ausdrückt, was einem (noch) nicht klar sein muss. Die fünf Merkmale, die als phänomenologische Grundstruktu­ ren aus den Feldforschungen der Wörterbuchartikel gewonnen wur­ den, lassen sich folgenderweise zusammenfassen: 1. Bereits in der grammatischen Ebene zeigt ki eine gewisse Flexibilität, die die Sicht erlaubt, wie sich ki nicht nur außerhalb (wie in Naturphänomenen) oder innerhalb von Menschen (wie nemuke: Schläfrigkeit), sondern auch zwischen dem »Außen« und »Innen« des Menschen befindet. Die eigene Einflussmöglichkeit des Menschen auf ki selbst wird jedoch eben nicht ausgeschlossen. 2. Ki ist entweder weder rein materiell noch rein psychisch oder intellektuell, oder sowohl materiell als auch psychisch oder intellektuell. Im Wort ist eine möglicherweise gegensätzliche Unterscheidung zwischen Körper und Geist sowie Natur und Kultur weder vorausgesetzt noch vorangenommen. Ki unterläuft somit eine dichotomische Unterscheidung von Körper und Psyche, Geist und Naturphänomenen, ohne jedoch die Differenzie­ rungsmöglichkeit jener als solche auszuschließen. 3. Als ein allgemei­ nes Merkmal der japanischen Sprache ist zu nennen, dass im Satz am häufigsten kein Satzsubjekt notwendigerweise zu markieren ist, was mit der Charakteristik im Wortgebrauch von ki problemlos einherzu­ gehen scheint, dass eher ki die Rolle des Satzsubjekts übernimmt. So besteht die Möglichkeit, zu betrachten, dass das ki eher wie ein agierendes Subjekt die Initiative einer Aktion oder Bewegung ergreift. Dies geht zwar problemlos mit dem Konzept des Zwischen (aida) bei Kimura sowie die Beobachtung bei Mori der Ich-Bildung als die Bil­ dung des »Du« des Anderen einher, eine so bestimmte Beobachtung kann jedoch bestimmte Konsequenzen mit sich bringen, auf welche im vierten Kapitel ausführlicher eingegangen wird. 4. Wendungen mit ki scheinen u. a. ein dynamisches und zeitliches »Zwischen« zwischen dem personalen Fühlen und impersonalen Fühlen bzw. zwischen der bewusst erlebten intentionalen Gefühlserfahrung (wie z. B. »ich möchte Fußball spielen«) und dem Fühlen der Abwesenheit genau dieser zu beleuchten. 5. Ki betrifft – parallel zu dem o. g. »Unterlaufen von Unterscheidungen« – u. a. die ganzheitliche Verfassung eines

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3. Linguistische Feldforschung zum Wortfeld ki

Menschen, die nicht nur die körperliche und geistige Verfassung, son­ dern auch die Art und Weise der Weltbezüglichkeit eines Menschen (oder seiner Beteiligung an der Welt) skizziert.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

Im Anschluss an die in Kapitel 3.3.4 thematisierte Verhältnisstruktur von ki zwischen impersonalem und personalem Fühlen wird in diesem Kapitel der eine Pol – das »impersonale Fühlen« – näher thematisiert bzw. es wird aufgezeigt, inwiefern und bei welchen Ausdrücken dieses im ki-Wortfeld zu bemerken ist. Zunächst wird der Aspekt »synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein« besprochen. Hier wird zudem ein Verständnis von »Impersonal« im Anschluss an Rolf Elberfeld dargelegt. Anschließend wird erläutert, wie im ki-Wortfeld ein »vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib« ausgedrückt und erfahren werden kann, u. a. unter Bezugnahme auf die Sphä­ rentheorie Hisayama Yuhos. Jene wird dann im Punkt »kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen« spezi­ fisch auf den Aspekt des »Kollektiven« thematisiert und mit Arbeiten der Autor:innen von Affective Societies ins Gespräch gebracht. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Fazit.

4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein Im Folgenden wird der Fokus im Bereich des »Impersonalen« zunächst auf das »synästhetische Fühlen« gelenkt. Zunächst – als Einführung für dieses Kapitel 4.1, aber auch das gesamte Kapitel 4 – werden einige Bemerkungen zur »grammatischen Kategorie ,Impersonal‘« getroffen. Daraufhin wird dargelegt, wie »synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein« anhand der drei Ausdrücke »ki ga suru« (気が する), »fun’iki« (雰囲気) und »ki ga tsuku« (気がつく) zu bemerken ist. Beim letzten Punkt wird der Blick zudem auf eine Unterscheidung zwischen ki und der husserlianischen »Intentionalität« erweitert.

4.1.1 Die grammatische Kategorie »Impersonal« Dieses Kapitel handelt von verschiedenen Formen (im Sinne von der Art und Weise) des Wahrnehmens und Fühlens aus dem japanischen

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

ki-Wortfeld, die mit der grammatischen Kategorie »Impersonal« zu markieren sind. Die Wendung »Impersonal« wird hier verwendet im Sinne der Art und Weise des Wortgebrauchs im Artikel »›Impersona­ les‹ im Subjekt und im Geschehen« von Rolf Elberfeld (2021). Dort steht dazu Folgendes: Das Wort »impersonal« stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet dort in der Grammatik die 3. Person Singular Passiv, die nicht mit einer bestimmten Person – er oder sie – verbunden wird, sondern mit einer »impersonalen« Ebene, die im Deutschen mit »es« oder »man« wiedergegeben wird. So kann das lateinische Verb »legitur« als 3. Person Singular Präsens Indikativ Passiv im Deutschen mit »es wird gelesen« oder »man liest« wiedergegeben werden. Hier ist zu beobachten, dass in der lateinischen Sprache allein das Verb in seiner grammatischen Form ausreicht, wohingegen im Deutschen ein imper­ sonales Pronomen (es, man) notwendig ist, um einen grammatisch korrekten Satz zu bilden. In der lateinischen Sprache gibt es diese Form des Pronomens nicht, wohingegen sie im Deutschen, Englischen, Französischen und anderen europäischen Sprachen vorhanden ist. [...] In der lateinischen Sprache spricht man von »Deponentien«, die als Verben immer die grammatische Passivform zeigen, aber aktive Bedeu­ tung besitzen. In den Deponentien ist eine altgriechische Modusform des Verbs versteckt, das sogenannte Medium, das als eine eigene Aktionsform verstanden werden kann, in der nicht ein aktives Subjekt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern vor allem der Vollzug und das Geschehen selbst.590

In diesem Kapitel wird die mediale Art und Weise des Vollzugs des Fühlens als weder rein »aktiv« noch rein »passiv« ans Licht gebracht – in dem Sinne, dass im Geschehen des Fühlens keine sich aktiv betätigende Person als Subjekt (wie in »ich fühle«) vorausgesetzt ist.591 Die mediale Art betrifft vielmehr eine Erfahrung, von der aus 590 Elberfeld (2021): S. 90. Der Diskurs der vorliegenden Arbeit steht sicherlich mit Diskursen zum grammatischen Medium in Zusammenhang. Vgl.: Yamaguchi (2004): S. 120. Zum »Medium im Japanischen« siehe auch: Elberfeld (2012): S. 242–249. 591 In diesem Bezug bezieht sich Elberfeld auf Georg Christoph Lichtenberg (1742– 1799), »der als einer der ersten in einem Aphorismus eine sprachliche Neuverbindung des Impersonalpronomen ›es‹ vornimmt« (Elberfeld (2021): S. 94): »Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.«

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4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein

es erst möglich wird, auch vom »sogenannten Ich« überhaupt zu spre­ chen.592 Kimura vergleicht ki in dem bereits in Kapitel 3 erwähnten Ausdruck »ki ga suru« (ki tut) mit dem deutschen Wort »es« wie in »es kommt mir ... vor«.593 Der Ausdruck »ki ga suru« lässt sich in der Regel als ein momentanes und spontanes Geschehen einer Äußerung verstehen, die am situierten Leib des/der Sprechenden von innerhalb des Situiertseins aus entsteht.594 So scheint es im Erfahrungshorizont des/der Sprechenden bei diesem Ausdruck (noch) nicht relevant und klar zu sein, wer etwas äußert, bzw. das »Wer« wird als ki markiert, das etwas mitteilen soll: Ki tut (ki ga suru). Ki steht hier in der Position des Satzsubjekts. Der »impersonalen« Ebene gegenüber steht in der vorliegenden Arbeit die »personale« Erfahrungsebene, in der im Vergleich zur impersonalen klarer ist, wen die Äußerung und das Fühlen betrifft. Zur personalen Ebene zählen auch die intentionalen Emotionserfah­ rungen mit einem konkreten Bezug auf etwas, jemanden sowie ein Thema. Die personale Ebene wird im fünften Kapitel behandelt und an dieser Stelle nur kurz gegenüberstellend erwähnt. Vorab ist anzumerken, dass sich ki als Wortfeld und Erfahrung strenggenom­ men stetig zwischen den beiden Erfahrungsebenen bewegt, was im Ausdruck kibun (気分 Gemütsstimmung sowie Stimmung) deutlich zu sehen ist.595 Wichtig ist, dass sich die »impersonale« Fühlweise bei genauerer Betrachtung als die Entfaltungsbasis von ebenso der »personalen« Erfahrungsebene hervorheben lässt.

Lichtenberg: Sudelbücher II, Materialhefte, Tagebücher, Wolfgang Promies (Hg.), 2005, S. 412 (Aphorimus K76). 592 Zum »so genannten Ich« siehe: Elberfeld (2021): S. 86. Elberfeld zitiert im o. g. Aufsatz eine Stelle aus der Morgenröthe Friedrich Nietzsches, in der der Ausdruck auftaucht. Siehe auch: Nietzsche: Morgenröthe, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, 1988, S. 107. 593 Kimura (1995): S. 128. 594 So kann dies durchaus als eine Art von »subjektlosem Urteil« anzusehen sein, mit einem Vorbehalt aufgrund der Charakteristik, dass die Erfahrung von »ki ga suru« vielmehr einer schrittweise und spontan entstandenen Skizzierung der Situation zu ähneln scheint, als einem »Urteil.« Elberfeld bezieht sich auf die folgenden Arbeiten: Miklosich: Subjektlose Sätze, 1883. Christoph Sigwart: Die Impersonalien. Eine logische Untersuchung, 1888. Vgl.: Elberfeld (2012): S. 190ff. Vgl.: Karl-Heinz Reger, Das impersonale Urteil im Umkreis des frühen Heidegger, MA-Arbeit, 2007. Vgl.: Elberfeld (2021): S. 94. 595 Der Ausdruck »kibun« (気分) wird in Kapitel 5.2 ausführlicher thematisiert.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

4.1.2 ki ga suru (気がする): Es kommt einem ... vor Der alltäglich gebräuchliche Ausdruck »ki ga suru« lässt sich wörtlich in etwa mit »ki tut« übertragen und etwa so übersetzen: »Es kommt einem … vor« sowie »das Gefühl haben, (dass …)«.596 Der Ausdruck lässt sich in Wörterbüchern in Papierform so nicht finden. Dies kann ein Zeichen dafür sein, dass es sich um einen Ausdruck handelt, der ganz und gar mündlich verwendet wird und auf dem alltäglichen Sprachgebrauch des Japanischen beruht.597 Yamaguchi übersetzt den Ausdruck mit: »Ich weiß nicht, warum und woher, aber irgendwie habe ich ein vages Gefühl, daß …«.598 Das heißt, im Sprechen von »ki ga suru« geht man davon aus, dass irgendein Eindruck (besser wäre genau das »…« im Satz: »Es kommt mir … vor«) an (in) der sprechenden Person von innerhalb ihres Situiertseins in einer Situation aufgetaucht ist. Stellen wir uns eine Situation als Beispiel vor: Vorne in einem Klassenraum steht der Lehrer und wir Klassenkamerad:innen sitzen in Reihen. Auf einmal kommt es einem in den Sinn, dass der Lehrer heute nicht so gut erholt zu sein scheint: »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Herr Lehrer heute etwas erschöpft ist (sensei wa kyō tsukareteiru ki ga suru).« Die Äußerung hat primär nicht präsent, aus welchem Grund man zu diesem Schluss kam. Erst im genaueren Hinblick könnten die Gründe der Äußerung gefunden werden: Die Haare des Lehrers scheinen wuschelig(er), seine Augenringe sind auffälliger zu sehen, oder seine Stimme klingt nicht so lebhaft wie sonst. Außerdem hat er im Unterricht zwei Mal Übungslösungen verschoben vorgelesen etc. Die Merkmale sind bestimmt detailliert in kleinsten Ecken zu finden. Der Ausdruck »ki ga suru« an sich hat in sich noch nicht den Bedeutungsgehalt des »…« von »es kommt einem … vor«. Er wird jedoch stetig mit einer Explikation verwendet, die spezifiziert, von was für einem ki nun die Rede ist. Ansonsten wird ein urteilsähnlicher Satz ausgesagt und dessen Ende mit »son na ki ga suru« (solch ein Gefühl haben) abgeschlossen. 597 Im Online-Lexikon findet man allerdings den Ausdruck und er wird dort folgen­ derweise definiert: »Es fühlt sich so an. Man wird zu solch einem ki: Man bekommt das Gefühl von etwas. z. B.: ›Ich habe das Gefühl, dass etwas gefährlich ist.‹ ›Ich bekomme keinen Appetit – es riecht oder sieht nicht lecker (aus).‹« I. O.: 「そのように感じられ る。そのような気になる。『危ない―がする』『食べる―がしない』」https:// dictionary.goo.ne.jp/word/%E6%B0%97%E3%81%8C%E3%81%99%E3%82%8B/ (abg. am 1. Sep. 2022). 598 Yamaguchi (1997): S. 61. 596

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4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein

Nicht zu vergessen ist, dass der Ausdruck »ki ga suru« die Kon­ notation eines ganz spontan aufgetauchten, auch mal vagen Eindrucks hat, als wäre es einem aus dem Nichts plötzlich aufgefallen, dass der Lehrer erschöpfter als sonst wirkt. So muss der leibliche Vollzug der Wahrnehmung noch vor der Äußerung bereits begonnen haben, nicht indem er sich bewusst auf einen oder zwei von den möglichen zu nennenden Merkmalen bezieht und fokussiert, sondern vielmehr indem er alle oder mehrere (mögliche zu nennende) Merkmale im Raum – selbst ohne dies zu wissen – schon durchgegangen ist. So zeigt sich das Aussprechen des »ki ga suru« als ein Phänomen, das sich auf ein unbemerkt laufendes leibliches Spüren stützt, das vielmehr spontan, momenthaft und »synästhetisch« einen Eindruck von etwas aussprechen lässt, als argumentierend sowie Gründe nennend.599 Somit zeigt sich bei der Erfahrung von ki ga suru die Charakte­ ristik, dass die »Rolle« des/der Sprechenden selbst nicht ganz dem »aktiv« (im am alltäglichen Sprachgefühl orientierten Sinne) tätigen Subjekt (des Aussprechens sowie »Urteilens«600) zuzuschreiben ist. Der/die Sprechende manifestiert sich vielmehr als ein Medium des Wahrnehmens und Sprechens.601 Es handelt sich hier somit um ein Lautwerden des Eindrucks. Es ist nicht »das sogenannte Ich«602, sondern die gesamte Situation bzw. das leibliche Situiertsein, die oder das einen dazu bringt oder drängt, etwas zu sagen – und zwar ohne zusammenhangslos zu sein. Das leibliche Situiertsein befindet sich immer bereits impersonal in Kommunikationen mit allen möglichen 599 Zur Wortverwendung der Synästhesie sowie »synästhetisch« siehe auch: Wal­ denfels (1999): S. 58–63. Hierauf wird im nächsten Kapitel 4.1.3 etwas ausführlicher eingegangen. 600 Die Kapazität des »Urteilens« (Urteilskraft) bei Kant beispielsweise kann als etwas von der Kapazität des »Wahrnehmens« (Sinnlichkeit) Unabhängiges verstanden werden. Dementgegen lässt sich die »Scheidung« zwischen der Eindruck-aufnehmen­ den-und-sprechenden-Person und der urteilenden-Person hier nicht als »Scheidung« verstehen, da die Person, wie weiter ausgeführt wird, eher als »Medium« zu verstehen ist, das die Trennung vom Wahrnehmen und Urteilen unterläuft. Vgl.: Kant (1986): S. 413 (KrV: B 361f.). Zur gleichen Zeit ist es mit zu erwähnen, dass auch diese »Schei­ dung« selbst bei Kant je nach Sichtweise schwer zu definieren ist, wenn der Fokus auf den Akt des »Urteilens« gelegt wird. Vgl.: ebd.: S. 145f. (KrV: B 93f.) Sowie Kant: Kritik der Urteilskraft, 2009, S. 166 (B 147f.). 601 Yamaguchi erwähnt omoeru (es denkt einem: es lässt sich so denken) und mieru (etwas ist sichtbar: sehen im Sinne des französischen »voir«, das dem »regarder« gegenüberzustellen ist) als Beispiele der medialen Erfahrungsweise aus dem Japani­ schen. Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 87f. 602 Zum Ausdruck siehe auch: Elberfeld (2021): S. 86.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

Details der Situation, ohne dass es sich dessen bewusst werden muss.603 Es geschieht wie ein Schnitt von einem Film, der spontan von der gesamten Situation (in der er sich befindet) her entstanden ist. So scheint das Erlebnis von »ki ga suru« im radikalen604 Sinne eine momenthafte Verkörperung von einem gesamtkontextuellen und gesamtleiblichen Fühlen zu sein, das einem durch sein Situiertsein vor Ort zustande gekommen ist.605 Dieser partikuläre Modus der Wahrnehmung, ein Lauten des Eindrucks aus dem leiblichen Situiertsein, sollte nichtsdestotrotz keineswegs als das neutralste Model verbaler Ausdrucksmöglichkeit verabsolutiert werden: Es variiert, was dabei als »Eindruck« laut wird. Es fällt jedem Menschen immer unterschiedlich auf, was und wie einem die Situation etwas sagt. Hat man den Tag davor schlecht oder weniger als sonst geschlafen, so kann jede Situation, in der man sich befindet, etwas schwerer fallen als sonst.606 Hat man eine Verabredung mit einer geliebten Person vor Augen, so fühlt man sich 603 Die Wortverwendung »Kommunikation« stammt von dem Wortgebrauch Schmitz’ unter den Stichworten »leibliche Kommunikation« und »Brücken leiblicher Kommunikation« (Schmitz: System der Philosophie. III-5 Die Wahrnehmung, 2005, S. 168–184, markiert als 2005b). Schmitz nennt zum einen »Bewegungssuggestio­ nen«, etwa den Rhythmus, zum anderen »synästhetische Charaktere«, also die »soge­ nannten intermodalen, die verschiedenen Sinnesgebiete (Sehen, Hören, Tasten etc.) quer verbindenden Qualitäten« (ebd.: 176). »Warm oder kalt kann die Lufttemperatur wie auch eine Stimme sein, weich oder hart ein Kissen oder ein Blick, dunkel oder hell die Nacht oder ein Pfiff, und all das kann das individuelle und soziale Handeln mitunter massiv beeinflussen.« Gugutzer: »Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungs­ programm der Neophänomenologischen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 2017, 46 (3), 2017, S. 152. Vgl. auch: Schmitz (2005b): S. 168–184. 604 »Radikal« im Sinne, dass es sich nur auf Fälle bezieht, in denen der Ausdruck in der Tat spontan oder wie ein Zufall ohne »Intention« aufgetaucht ist. Es heißt, dass es auch im Alltag Fälle geben kann, in denen man den Ausdruck durch dessen Konnotation der Intentionslosigkeit instrumentalisiert verwendet. 605 Hierbei ist jedoch nicht mit gemeint, dass jedes Individuum als Medium des Geschehens der Aussage völlig transparent wäre, oder komplett unabhängig von der/dem Sprechenden zur selben Aussage käme. Genauso wie ein Schnitt einer Situa­ tionsaufnahme verschiedene Perspektiven ermöglicht, variiert »der Eindruck« not­ wendigerweise. 606 Dieser Bereich des Fühlens könnte zu stimmungsnahen Gefühlen wie »Hinter­ grundgefühlen« bei Antonio Damasio in Parallele gestellt werden, welcher diese aller­ dings von »Stimmung« unterscheidet (Damasio: Ich fühle, also bin ich, 2004, S. 259– 261; vgl auch: Kubo Takashi (Hg.): Somatikku shinrigaku (ソマティック心理学), 2011, S. 112). Es bereitet eine Schwierigkeit, die Zerlegungsweise des großen ki-Wortfeldes in einem naturwissenschaftliches Erklärungssystems der Psychologie zu verorten. Die vorliegende Arbeit macht dies nicht zu ihrem Forschungsgegenstand. Es ist jedoch

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4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein

in basso continuo leicht und heiter, auch vor einem wichtigen und schweren Arbeitsgespräch. Die Verfassung, Stimmung,607 das Interesse, die Erinnerung sowie Zuneigung, um welche es sich hier nebenbei handelt, können also unsere kognitive Ebene beeinflussen; so heißt es, dass jeder Eindruck, der im Aussprechen von »ki ga suru« verlautet werden kann, sowohl von der Persönlichkeit als auch von der Verfassung des Tages unterschiedlich beeinflusst werden kann. Denn diese sind auf eine Art und Weise an der Weltbezüglichkeit der Person auf die Welt sowie die Umgebung beteiligt und gestalten diese mit. Zur gleichen Zeit ist es genauso möglich, dass ein erinnertes »ki ga suru« (bzw. ki ga shita in der Vergangenheitsform), verstanden hier als ein erinnerter Eindruck im Zeitpunkt des »Nachhineins«, je nach Verfassung und Stimmung, in der man sich zum Zeitpunkt des Sich-Erinnerns befindet, nochmals und immer wieder unterschiedli­ che Gesichter zeigen kann. Der Ausdruck »ki no sei« (気のせい wegen ki) ist im japanischen Alltag dann gebräuchlich, wenn man nicht mehr weiß, wie man auf einen bestimmten Eindruck oder eine Ansicht gekommen war – im Zurückerinnern an den Zeitpunkt, in dem etwas einem aufgefallen war. So ist es möglich, sich zu fragen: »Habe ich es mir eingebildet? Ich hatte an dem Morgen das Gefühl, dass Mick Fieber hat!« (あの朝、ミックは熱を出しているような気がしたん だけど、あれは気のせいだったのかな。).608 Der japanische Satz lässt sich wörtlich folgenderweise übertragen: »An dem Morgen tat (mir) ki, dass Mick Fieber hat, aber war es nur wegen ki?«. Wie es hier in der wörtlichen Übertragung zu sehen ist, kann ki einerseits als gesamtleiblicher Wahrnehmungsvollzug etwas von einem momenta­ nen Eindruck aus der Situation mitteilen, und kann sich andererseits auch auf sich zurückführen lassen, wenn man sich später mit dem Eindruck nicht (mehr) sicher ist.609 Dies ist wahrscheinlich gerade deshalb der Fall, weil es so spontan, medial und impersonal zustande möglich und sogar sinnvoll, bei der Annäherung an das Wortfeld, auf dieses auch mithilfe von psychologischen Fachtermini einen Blick zu werfen. 607 Die Stimmung, von der hier die Rede ist, kann im Japanischen weiter in zwei unterschiedliche Bereiche unterteilt werden: 1. fun’iki (雰囲気) sowie kūki (空気), welche im aktuellen Kapitel 4 thematisiert werden, und 2. kibun (気分), welche eher als Gemütsstimmung sowie Laune zu verstehen ist und im 5. Kapitel thematisiert wird. 608 Alphabetisch übertragen lautet der Satz: ano asa, mikku wa netsu o dashiteiru yōna ki ga shitanda kedo, arewa ki no sei datta no kana. 609 Vgl.: Kakiuchi (2018): S. 15.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

kommt. Es ist zu bemerken: Das leibliche Situiertsein lässt einen von einer momentan aufgefallenen Sache aus der Situation heraus spre­ chen, jedoch ohne dass die Begleitung des bewusst erlebten »Ichs« vorausgesetzt werden muss – intuitiv und spontan, aber nicht argu­ mentierend.

4.1.3 fun’iki (雰囲気): Atmosphäre Ogawa Tadashi geht ebenso auf die impersonale Erfahrungsdimen­ sion ein, jedoch anhand eines anderen Ausdrucks: fun’iki (雰囲気 nebelig umringendes ki, in etwa »Atmosphäre«). In seiner Schrift Phänomenologie des Windes und die Atmosphäre (風の現象学と雰 囲気, Kaze no genshōgaku to fun’iki, 2000) wird fun’iki als eine Art und Weise der Erscheinung der Welt betrachtet. Dabei spielt bei Ogawa das synästhetische Wahrnehmen der Umgebung wie z. B. von Klängen (Geräusche) der Luft und des Windes die entscheidende Rolle: »Atmosphäre wird nur durch das gesamte Komplex von solch verschiedenen Sinnen [wie Sehsinn, Tastsinn sowie Gehör u. A.] gefasst, welches nur schwer präzisierbar zu sein scheint.«610 Dieser synästhetische Charakter der Wahrnehmung zwischen­ menschlich geteilter Situation611 ist für das Geschehen des »ki ga suru« ebenso relevant. Wie bereits betont wurde, ist es in der Erfahrung von ki ga suru nicht einmal notwendig, im Moment des Aussprechens präzisierbar und parat zu haben oder bereits gefasst zu haben, aus wel­ chen Gründen man welchen Eindruck aus der Situation bekommen hat. So kommt ein synästhetisches Fühlen, das sich unbemerkt im leiblichen Situiertsein vollzieht, einmalig spontan zum Aussprechen, also dazu, sich zu äußern, dass irgendetwas in der Situation »so« und »so« sei. Gernot Böhme verwendet seine Terminologie der »Exta­ sen«612 der Dinge für die Entfaltung des Atmosphärischen, mithilfe welcher er seine Ästhetik vom theoretischen Blick einer tendenziell Eigene Übers. nach: Ogawa (2000): S. 15. I. O.: 「雰囲気はこれらの諸々の感 覚 [Sehsinn, Tastsinn, Gehör u. a.] の言わば言うに言えない複合体によってのみ把 握されうるのである。」 Die in Klammern stehenden Wörter wurden dem Text­ kontext und den direkt davor stehenden Sätzen gemäß von der Verfasserin hinzuge­ fügt. 611 Zur synästhetischen Charakteristik der Atmosphärenerfahrung siehe: Böhme (2013): S. 21–31. 612 Böhme (2017): S. 33. 610

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vorausgesetzten Annahme der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt entwirft, sowie welche die Spannung zwischen der Substanz und der Akzidenz auflöst. So schafft Böhme die Grundlage, um »Atmosphäre«613 als einen Grundbegriff der Ästhetik anzuerkennen, indem er sie als die »gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen«614 zu bestimmen sucht. »Sie (Atmo­ sphäre) ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.«615 So könnte auch das Aussprechen von »ki ga suru« mitunter im Kontinuum zu diesen »Extasen« der Dinge angesehen werden.616 In Bezug auf die synästhetische Erfahrungsweise des Atmo­ sphärischen (雰囲気 fun’iki) kann ebenso die Alltagsvokabel im Deutschen, »gemütlich« oder »Gemütlichkeit« ein gutes Beispiel sein.617 Dieses Wort findet auch kaum eine Übersetzung in andere Sprachen.618 Hisayama beschreibt dies folgenderweise: »Es lässt sich nur schwer sagen, worauf in einer gegebenen Situation eigentlich Gernot Böhme versteht »Atmosphären« folgenderweise: »Atmosphären sind zwar keine Dinge, sie liegen nicht vor als durch die Zeit hindurch identische Entitäten, gleichwohl können sie durch ihren Charakter auch nach zeitlicher Unterbrechung als dieselben erkannt werden. Ferner: Sie werden zwar jeweils nur in subjektiver Erfah­ rung wahrgenommen – etwa wie ein Geschmack oder Geruch, um auf Tellenbach zurückzukommen –, doch man kann sich über sie intersubjektiv verständigen. Wir können miteinander darüber reden, was für eine Atmosphäre in einem Raum herrscht. Das lehrt uns, daß es eine Intersubjektivität gibt, die nicht in einem identischen Objekt ihren Grund hat. Wir sind es durch das herrschende naturwissenschaftliche Denken gewohnt, anzunehmen, daß Intersubjektivität in Objektivität gründet, daß also die Feststellung des Vorliegens und die Bestimmtheit von etwas von der subjektiven Wahrnehmung unabhängig sind und an einen Apparat delegiert werden können. Die Quasi-Objektivität von Atmosphären zeigt sich dagegen darin, daß wir uns sprachlich über sie verständigen können.« Böhme (2017): S. 104. 614 Ebd.: S. 34. 615 Ebd. Ferner erklärt Böhme: »Diese synthetische Funktion der Atmosphäre ist zugleich die Legitimation der eigentümlichen Redeweisen, nach denen man etwa einen Abend melancholisch oder einen Garten heiter nennt. Genauer besehen ist diese Redeweise nicht weniger legitim, als ein Blatt grün zu nennen. Auch ein Blatt hat nicht die objektive Eigenschaft grün zu sein. Auch ein Blatt kann nur grün genannt werden, insofern es eine Wirklichkeit mit einem Wahrnehmenden teilt.« Ebd. 616 Böhme (2017): S. 33. 617 Hisayama (2014): S. 39. 618 Möglicherweise wäre mitunter das dänische Wort »hyggelig« hier relevant. Auf Japanisch könnte sich dem deutschen Wort »gemütlich« mit dem Ausdruck »igokochi ga ii« (居心地がいい wörtlich übertragen: Sich-Befinden-Herz-Erde ist gut: sowohl 613

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

das »Gemütliche« beruht – ob es der jeweilige Raum wie etwa ein ganz »gemütlich« eingerichtetes Zimmer ist oder das individuelle leibliche Gefühl des Menschen, der sich in diesem Raum befindet.«619 Die orangetönige, dezente Beleuchtung im Raum, die weiche und kuschelige Haptik der Teppiche an den Füßen, das durch weiße Wolken angenehm gedämpfte Sonnenlicht, das durch das Fenster scheint, oder die dezent im Hintergrund laufende akustische Musik im Raum, oder einfach die eigene aktuelle Gemütsstimmung – das alles kann die »Gemütlichkeit« machen. Es ist jedoch nicht vereinzelt aufzuzeigen, von welchem Element all dieser Beschreibungen genau die »Gemütlichkeit« überhaupt stammt. Es scheint eher, dass mehrere oder alle dieser Komponenten und noch weitere zu nennende Merk­ male aus einer Situation das gesamtkontextuelle Fühlen sein können. An dieser Stelle scheint es von Bedeutung zu sein, den bereits im Kap. 2.1.1 genannten Fleischbegriff (la chair) Merleau-Pontys erneut in Erinnerung zu rufen: Die Welt-Erfahrung der »ursprünglichen Gemeinsamkeit« in der »Reversibilität« (réversibilité) des Berührens und Berührt-Seins, das heißt, sich in der Welt zu befinden als »der Grund, aus dem heraus wir die Welt erkennen und in der Welt Sinn stiften können,«620 und von dem aus es möglich ist, auch von einer kollektiv geteilten Situation (wie z. B. einem Klassenraum) mit den Mitmenschen zu sprechen. »Das Fleisch« hier sollte jedoch nicht nur als das In-der-Welt-Sein, sondern vielmehr als das situative, leibliche Sich-Befinden in einer konkreten Situation betrachtet werden, in dem jede und jeder Beteiligte immer schon, impersonal und leiblich, kommuniziert.621 So scheint das Fleisch bzw. das konkrete leibliche Sich-Befinden in einer Situation als der Ausgangspunkt zu gelten, nicht nur von impersonaler Fühlerfahrung wie bei »ki ga suru«,

leibliche Lage als auch Gemütslage im Situiertsein ist gut – so in etwa: gemütlich) angenähert werden. 619 Vgl.: Hisayama (2014): S. 39. 620 Angehrn: »Körper, Leib, Fleisch – von den Inkarnationen der Sprache«, in: Leib und Sprache – zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen, 2013, S. 34f. Vgl.: Mer­ leau-Ponty (1964): S. 185ff. 621 Auf den hierzu naheliegenden Ausdruck »Befindlichkeit« wird im Zusammen­ hang mit dem japanischen Ausdruck »kibun« in Kapitel 5.2.2 ausführlicher eingegan­ gen.

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4.1 Synästhetisches Fühlen im leiblichen Situiertsein

sondern auch von personaler Fühlerfahrung mit intentionalen Gehal­ ten.622

4.1.4 ki ga tsuku (気がつく): Etwas fällt einem auf Nebst dem Fleischbegriff (la chair) Merleau-Pontys623 soll an dieser Stelle auch der Intentionalitätsbegriff der husserlianischen Phänome­ nologie berücksichtigt werden, welcher in diesem Kapitel von ki als solchem streng unterschieden wird. Für eine genauere Beobachtung der Unterscheidung scheint die folgende Stelle relevant zu sein, in der Kimura eine Parallelisierung von ki und seinem Verständnis des husserlianischen Intentionalitätsbegriffs vornimmt: In Redewendungen wie ki ga tsuku (ki heftet sich an, etwas bemerken,), ki ni kakeru (ins ki hängen, sich wegen eines anderen um etwas Sorgen machen), ki ga muku (ki wendet sich zu, zu etwas Lust bekommen), ki o kubaru (ki verteilen, umsichtig auf etwas achtgeben) usw. läßt sich ki fürs erste durchaus einmal als so etwas wie das eigene Bewußtsein oder ein Intentionalitätsakt des Bewußtseins im Husserlschen Sinne auffassen. Denn man kann sich vorstellen, daß diese Redewendungen jeweils eine Situation beschreiben, in der das eigene subjektive ki sich an irgendeinen objektiven Gegenstand heftet, von ihm angegangen ist, sich auf ihn ausrichtet oder ihm zugeteilt wird.624

All die o. g. Ausdrücke machen repräsentative Beispiele aus, die an die Flexibilität und »Fluidität« von ki erinnern.625 Von den Redewen­ dungen lässt sich hier insbesondere eine herausstellen: »ki ga tsuku (ki heftet sich an, etwas bemerken).«626 Die Vorstellung Kimuras, dass »das eigene subjektive ki sich an irgendeinen objektiven Gegen­ stand heftet«627 kann zu einer Fragestellung führen: Ist »das eigene 622 So gesehen, kann das »ki ga suru« teilweise eine gewisse Affinität zeigen zum folgenden, experimentell gedachten Satz: »Das Fleisch sagt mir ...« anstelle des »es kommt mir ... vor«. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass ki nicht wirklich eine Gewich­ tung auf das Substanzhafte hat, was bei dem Wort »Fleisch« hingegen auch der Fall sein kann. 623 Merleau-Ponty (1964): S. 185ff. 624 Kimura (1995): S. 126. Die Wendung »ki ga tsuku« wird bei Yamaguchi etwas anders übertragen: »Ki haftet – Ki fällt jemandem ein.« Yamaguchi (1997): S. 68. 625 Zur »Fluidität« von ki siehe: Kapitel 3.3.1. 626 Ebd. 627 Ebd.

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subjektive ki« mit dem husserlianischen Intentionalitätsbegriff zu vergleichen? Bevor auf diese Frage eingegangen wird, scheint es der Verfasserin notwendig zu sein, einmal die Frage zu thematisieren, ob das ki von »ki ga tsuku« als »das eigene subjektive ki« anzusehen ist. Das Verb tsuku wird im Aufsatz Kimuras als »sich (an)hef­ ten« angegeben. Das Wort tsuku – wenn dies ohne Kanji-Zeichen (ursprünglich chinesische Schriftzeichen) steht – kann verschiedenste Bedeutungen tragen: haften, ankommen, kleben, angehen usw. In den Wörterbüchern wird der Ausdruck in der Kombination von den Schriftzeichen 気付く (kizuku)628 angegeben. Ein Hinweis auf die Struktur im Geschehen des »ki ga tsuku« scheint in diesem Verb versteckt zu sein: »Tsuku« im Fall von »ki ga tsuku«629 geschieht von alleine, ohne jegliche Vorhersehbarkeit oder Absicht; etwas wird mir bemerkbar, fällt mir auf und daher: Man wird sich (von) etwas bewusst. Dieses Etwas war aber logisch gesehen doch schon vorher da, bevor man sich dessen bewusstwerden konnte. So scheint bei Kimura eine Annahme vorzuliegen, dass das »ki« in »ki ga tsuku« sich immer schon als etwas vollzieht, was sich von sich aus »nach Außen« bewegt oder richtet.630 Wie in Kapitel 3.3.1 erwähnt wurde, inkludiert jedoch die »Fluidität von ki« nicht nur die Richtung von »Innen« nach »Außen«, wie bei Kimura, sondern auch die Dynamik von »Außen« nach »Innen«. Bei der Erfahrung von ki ga tsuku scheint es näher zu liegen, mehr die letztere Dynamik oder eine Bewegung zwischen den beiden zu betrachten. Das ubiquitäre ki, 628 Kizuku ist ein gleicher Ausdruck, in dem die grammatische Partikel ga, die häufig als Subjekt-Markierer verstanden wird, abgekürzt wurde und die mit dem Wort ki zusammen das Verb tsuku gebildet hat. Das Wort kizuku lässt sich somit ebenso im Sinne von »bemerken« oder »aufmerken« verstehen. Vgl.: Shinmura et al. (2020): S. 719; Nishio (2016): S. 333. Im Iwanami-kokugojiten wird kizuku folgenderweise definiert: »a. (ohne von jemandem anderen hingewiesen zu werden) etwas am Herzen fühlen und verstehen. z. B. »ayamari ni kizuku«: (eigenen) Fehler aufmerken (erken­ nen). [...] b. (von Ohnmacht sowie Bewusstseinslosigkeit zum normalen Geisteszu­ stand (shōki, 正気) zurückzukommen.« I. O.: 「きづく (気付く) ア.(他人から教え られたりせず)自分で心に感じ取る。『誤りに–』[...] イ.(失神状態などから) 正 気にもどる。」 Nishio (2016): S. 333. 629 Das Intransitivverb »tsuku« an sich scheint immer schon die Konnotation media­ len Geschehens zu haben, kann jedoch auch je nach Kanji-Zeichen, in denen das Wort geschrieben wird, Verschiedenes aufweisen: tsuku (着く ankommen) tsuku (就く sich anstellen – auf eine Arbeit eingestellt werden / sich (ins Bett) legen). 630 Interessanterweise findet man die Erwähnung zur Beweglichkeit von ki von »Innen« »nach Außen« (aber ohne die andere Richtung: von außen nach innen) auch bei Yamaguchi. Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 61.

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das noch niemandes ki war (ist), was aber auch heißen kann, dass es von oder bei »mir« war, bringt einen, auf einmal etwas aufzumerken, wodurch erst zustande kommt, dass etwas einem auffällt (ki ga tsuku). Dabei ist anzumerken, dass ki vor dem Auffallen noch keine Konturen oder Grenzen zwischen dem »wahrnehmenden Subjekt« und dem »wahrgenommenen Objekt« vorauszusetzen scheint, wodurch das »(noch) niemandes ki« erst im Moment des Zufallens auf jemanden zukommt und – mehr oder weniger – zu seinem ki wird.631 So scheint es, dass das ki, das sich plötzlich heftet, vor dem Bemerken (ki ga tsuku) noch nicht als sein »eigenes subjektives ki« anzusehen ist.632 Stellen wir uns vor: »ki ga tsukuto, asa ni natteita« (気がつくと 朝になっていた, wörtlich: Als ki sich anheftete, war es schon morgen geworden: Als ich wieder zu mir kam, war es schon nächster Morgen.). Die Aussage klingt nach einer Nacht, in der man so vertieft, ohne zu schlafen durchgearbeitet hat, dass es einem nicht einmal aufgefallen war, dass die Nacht schon zu Ende gekommen war. So scheint es für die Person selbst nicht klar zu sein, woher dieses ki zu sich gekommen ist, oder wie das tsuku (sich heften) von ki veranlasst wurde. Es handelt sich um ein spontanes Aufmerken von etwas Bestimmtem um sich und von sich selbst.633 Dort wird nicht angegeben und auch nicht gefragt, welches Element und welche Wahrnehmung genau den Anlass gegeben hätte, zu bemerken, dass es schon Morgen war. Legt man den Fokus bezüglich des Intentionalitätsbegriffs gezielt auf die passive Intentionalität (der »passiven Synthesis« bei Husserl), die von Yamaguchi mit Nachdruck als fundamentalere als die aktive Intentionalität in Husserls genetischer Phänomenologie bestimmt wird, scheint es so noch vorstellbar zu sein, dass ki als Begriff auch dem passiven Intentionalitätsbegriff nahestehe.634 Diese passive Intentionalität wird von Yamaguchi jedoch als »die Passivität vor der Siehe auch: Kapitel 3.3.4. Kimura (1995): S. 126. 633 Kimura erklärt: »ki ga tsuku besagt, daß man etwas bemerkt, das man bisher noch nicht bewußt wahrgenommen hatte.« Kimura (1995): S. 127. 634 Yamaguchi: »Aratamete judōteki sōgō o tō« (改めて受動的綜合を問う), in: Hakusan tetsugaku (白山哲学), Nr. 47, 2013, S. 16, 24. In der 5. Meditation von Car­ tesianische Meditationen erwähnt Husserl beispielsweise, dass die »passive Synthesis« als die Grundbasis jeglicher »Paarung« – Grundphänomen der Intersubjektivität bei Husserl – verstanden wird, welche auch im Kontinuum zur Intersubjektivität inner­ halb einer Gruppe steht (Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, 2012, S. 112). Die Urpassivität im Intentionalitätsbegriff, die aktiv wirkt, wird auch von Ogawa erwähnt. Siehe: Ogawa (2000): S. 119. 631

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Aktivität« unterschieden von der anderen passiven Intentionalität bzw. von der, »die von der Aktivität umgewandelt« eingesetzt wird, da diese gemäß Yamaguchi eigentlich auf einer aktiven Intentiona­ lität beruht.635 In Betracht des Prozesses, wie Säuglinge durch ihr komplett passives Aufnehmen des Sprechens ihrer Caregivers ihre aktive Sprachfähigkeit entwickeln, betont Yamaguchi die Dimension der (passiven) Passivität als Fundament der Intersubjektivität anhand seiner Interpretation der genetischen Phänomenologie Husserls.636 Dass diese Art von Passivität eine fundamentale Stiftung für die Weltbezüglichkeit des Menschen, der sich in diesem Hier-und-Jetzt der Welt befindet, leisten kann, lässt sich nicht bezweifeln, insbeson­ dere im Hinblick auf die Art und Weise, wie es einem geschieht, dass etwas einem überhaupt auffällt (ki ga tsuku: aufmerken). So scheint die Deutung Kimuras, ki im Ausdruck »ki ga tsuku« mit der aktiven Intentionalität zu parallelisieren, eine fundamentale Dimension der Weltbezüglichkeit – sei es anhand des Intentionalitätsbegriffs Hus­ serls, sei es anhand des ki – zu verfehlen.637

4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib Im Folgenden wird der Fokus auf die vorprädikative Erfahrung vom Atmosphärischen am Leib gelegt. Hierbei geht es weiterhin um die bereits in Kapitel 4.1 vorgestellte, sich impersonal vollziehende Erfah­ rungsebene. Als Einführung in diesen Erfahrungsbereich werden der Ausdruck »kehai« (けはい) in Kapitel 4.2.1 und dessen ältere Form kewai (けはひ) in Kapitel 4.2.2 in Betracht gezogen. Kewai (けはひ) ist die ursprüngliche Form von kehai aus dem Spätaltjapanischen. Yamaguchi (2013): S. 32. Vgl.: Yamaguchi (2013): S. 32. 637 Auch hierzu kann der Fleischbegriff Merleau-Pontys nahegestellt werden, da es genau in unserem Fleischsein als leibliches Situiertsein zustande kommt, das sich impersonal und untrennbar von allen möglichen leiblichen Kommunikationen vor Ort mit allen Komponenten der Situation vollzieht, auch dann, wenn einem irgendetwas aus der geteilten Situation auffällt (ki ga tsuku). Es ist noch kurz anzumerken, dass in den Beispielausdrücken Kimuras durchaus auch der aktivere Aspekt von ki erblickt werden kann, wie dies z. B. bei ki ni kakeru (ins ki hängen – sich wegen eines anderen um etwas Sorgen machen) sowie ki o kubaru (ki verteilen – umsichtig auf etwas achtgeben) der Fall ist. So kann die Unterscheidung von Yin (陰) und Yang (陽) aus dem chinesischen qi-Wortfeld noch heute im japanischen ki-Wortfeld durchaus erblickt werden. Vgl. hierzu auch: Kapitel 3.1.1. 635

636

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

Der Grund, diesen Erfahrungsbereich in der vorliegenden Arbeit als vorprädikativ zu bezeichnen, wird ebenso im Zuge der Einführung in die Ausdrücke erläutert. Am Ende des Kapitels werden Bezüge zwi­ schen Begriffen des Atmosphärischen und Diskrepanzerfahrungen im Anschluss an die Vorrecherche Hisayamas erläutert.

4.2.1 kehai (けはい): leiblich spürbare, atmosphärische Anwesenheit Sowohl bei kehai (けはい) als auch bei kewai (けはひ) wird in der vorliegenden Arbeit eine als »vorprädikativ« zu bezeichnende Erfahrungsebene beobachtet. Diese Erfahrungsebene betrifft weiter­ hin, wie in Kapitel 4.1 ausgeführt wurde, die Art und Weise der Erfahrungsentfaltung, die sich als »impersonal« bezeichnen lässt. Bei den beiden Ausdrücken, einmal in der gegenwärtigen Form (kehai), einmal aus dem Spätaltjapanischen (kewai) steht die Bedeutung von etwas Luftartigem im Vordergrund. Bezüglich kehai ist der deutsch­ sprachige, phänomenologisch orientierter Beitrag von Hisayama Yuho vorzustellen. Der Ansatz Hisayamas charakterisiert sich durch seine räumlich orientierte »Sphärentheorie«, die auf die intensive Auseinandersetzung des Autors mit der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz sowie der »neuen Ästhetik« der Atmosphäre von Gernot Böhme zurückzuführen ist. Kehai lässt sich primär als etwas Luftartiges verstehen, oder auch als leiblich spürbare, atmosphärische Anwesenheit. Das Wort ist sehr schwierig zu übersetzen. Es bietet philosophisch Anschlüsse zu vielen Themen an, allein dadurch, dass kehai den Anschein hat, weder reine »Substanz« noch pure »Akzidenz« zu sein: Kehai verweist also auf die Unterscheidungsproblematik zwischen »Substanz« und »Akzidenz«, die auf eine Denktradition seit der griechischen Antike zurückgeht.638 Vermutlich besteht die Problematik, diese Kategorisierungsweise anzuwenden, genau aufgrund der Art und Weise des als »vorprädika­ tiv« zu bezeichnenden Erfahrungsvollzugs in der Erfahrung von kehai sowie kewai. Kehai als Wort hat die Charakteristik, etwas versprachlichen zu können, was am eigenen Leib als präsent gespürt wird, ohne die 638

Vgl.: Hisayama (2014): S. 31, 68. Siehe auch: Schmitz (2005b): S. 116ff.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

Notwendigkeit, dieses visuell wahrnehmen zu können. Dabei besteht ebenso keine Notwendigkeit, ein Urteil dazu treffen (zu müssen oder eher) zu können und müssen, was für einen Anschein, eine Substanz oder eine Qualität diese Präsenz hat.639 Es ist somit auf der Wort­ ebene nicht notwendig, eine ausführliche Präzision hinsichtlich des »was« geben zu können. Es scheint hier wichtig zu sein, zu betonen, dass kehai phänomenologisch gesehen ein repräsentatives Beispiel darbieten könnte, wie sich das Synästhetische und das Bewegliche des Atmosphärischen – mit Luftschwingungen, Geräuschen, Wärme, Kälte, Gerüchen, Schatten sowie Licht usw. – in Form von vagen und kleinen Wahrnehmungen des Leibes vollzieht. Das Wort lässt sich etymologisch nach Hisayama als ein Kom­ positum der zwei unterschiedlichen Wörter ke und hai (bzw. hau 這う oder 延う »kriechen«) verstehen.640 Er übersetzt es mit »SichAusbreiten des ki«.641 Um die Kernpunkte der Erfahrung von kehai hervorzuheben, also was mit kehai evoziert werden kann, vergleicht Hisayama zwei unterschiedliche Sätze, einen ohne das Wort »kehai« und einen mit »kehai« auf die folgende Art und Weise: A.

Hito ga iru: 人がいる。 »Ein Mensch ist da.« »Jemand ist da.«

B.

Hito ga iru kehai ga suru: 人がいるけはいがする。 »Das Kehai, dass ein Mensch da ist, ist da.« »Ich habe das Gefühl, dass jemand da sei.«642

Die wahrgenommene atmosphärische Präsenz ist dem Betroffenen im B-Satz noch allzu diffus, um sicher sagen zu können, ob wirklich ein Mensch da ist oder nicht und welche Eigenschaften sich dem als anwesend Angenommenen zuschreiben lassen. Daraus resultiert zunächst das Gefühl der Unsicherheit und dann eventuell das der Unruhe. Was der betroffene Mensch dabei spürt, ist: »Ich weiß nicht was, aber hier ist irgendetwas!«643 So handelt es sich um ein leibliches Fühlen von »etwas,« was sich jedoch im Moment nicht oder kaum präzisieren lässt. Die Frage ein­ 639 640 641 642 643

Hisayama (2014): S. 64. Hisayama (2014): S. 62. Ebd. Ebd.: S. 64. Ebd.

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

mal beiseite, ob kehai immer mit »dem Gefühl der Unsicherheit«644 einhergeht, lässt sich an dieser Stelle feststellen, dass das leibliche Moment und das Vorsprachliche bzw. die Unpräzisierbarkeit in der Erfahrung von kehai die entscheidende Rolle spielen. Schlägt man das Wort in einem einsprachigen Wörterbuch nach, so findet man noch ein anderes Gesicht von kehai. Im Artikel aus dem Iwanami-kokugo­ jiten scheint beispielsweise die Konnotation der »innewohnenden [...] Unsicherheit«645 nicht primär präsent zu sein: kehai (気配) 1.

2.

Zustand oder Anschein, was (von) einem vage gefühlt wird. Auch »kewai.« »Hito ga ugoku kehai ni furimuku« – sich an einem kehai von jemandes Bewegung umdrehen: Sich umdrehen, aufgrund des Gefühls, das über mich kam, dass sich da jemand bewegt. »Aki no kehai ga suru« – Das kehai vom Herbst tut: Ich spüre, dass der Herbst schon fast da ist. (Handel, Marktpreis) 気配 sind die Zeichenkombination für die Laute, die auch als »kihai« gelesen werden können.646

Richten wir nun die Aufmerksamkeit auf den Beispielsatz: »Hito ga ugoku kehai ni furimuku« (sich umdrehen, aufgrund des Gefühls, das auf mich kam, dass sich da jemand bewegt). In diesem kurzen Satz im Japanischen können mindestens die drei folgenden implizierten Momente entdeckt werden: 1. Die Spur oder eine Bewegung von jemandem ist da, 2. die Bewegung wirkt auf einen, bzw. man spürt die Bewegung, 3. man dreht sich aufgrund dieser Bewegung um, die dort präsent ist, bzw. die man gespürt hat. Im Originalsatz werden jedoch das erste Moment (die Anwesenheit der Spur von jemandem) und das zweite, dass die Spur auf einen wirkte und zukam, einander überlagert, ohne unterschieden zu werden. So heißt die wörtliche Übersetzung: Sich an einem kehai von jemandes Bewegung umdre­ hen. In Erfahrung von kehai spürt man leiblich etwas, jedoch in der Art und Weise, dass die drei Momente nicht ausgesagt bleiben: 1. Wer das wahrgenommen hat, 2. was man genau wahrgenommen Ebd. Ebd.: S. 63. 646 I. O.: 「けはい(気配)1. 何となく感じられる様子。けわい。『人が動く―に 振り向く』『秋の―がする』2.(取引。相場)▽『気配』は当て字。(2)は 『きはい』とも言う。」 Nishio et al. (2016): S. 442. 644

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hat, und schließlich 3. dass man wahrgenommen hat – zusammen also: Wer (1) was genau (2) wahrgenommen (3) hat. Es ist intrinsisch nicht erwartet, nicht nur das wahrnehmende »Subjekt« sowie das wahrgenommene »Objekt« zu explizieren, sondern auch den »Voll­ zug« des Wahrnehmens selbst explizit zu machen. Verben wie »füh­ len«, »spüren« oder »wahrnehmen« sind im Wortgebrauch von kehai nicht nötig, die Erfahrung ist dennoch im Wort leiblich mit- sowie nachspürbar: Es breitet sich wie ein Geruch in der Luft irgendeine Art von Anwesenheit aus, die einen am Leib tastet. Kehai als Wort umfasst somit die o. g. unterscheidbaren Momente in sich ununterschieden. So scheint sich die Erfahrung dieser Momente im Horizont von kehai nicht anders als »vorprädikativ« zu vollziehen.647 Im zweiten Beispielsatz aus dem oben zitierten Artikel »Aki no kehai ga suru« (Ich spüre, dass der Herbst (fast) schon da ist.) ist in der Hinsicht bemerkenswert, dass darin das Verb suru (tun) – wie beim Ausdruck »ki ga suru« – auftaucht. Die wörtliche Übertragung »kehai vom Herbst tut« erklärt also, dass die leiblich spürbaren Änderungen der Umgebung – der Geruch in der Luft, die Farben der Herbstblätter und das wärmere Sonnenlicht aus dem niedrigeren Winkel (als im Sommer) etc. –, also die Ankündigung des Herbsts am vollen Blühen sind. In diesem Satz hat das kehai keine Konnotation mehr von einer gefühlten Unsicherheit. Es handelt sich hier auch nicht primär um eine visuell fokussierte Wahrnehmung, sondern vielmehr um ein synästhetisches Spüren, das sich mit dem Tasten und Riechen648 der Luft sowie dem Hören über die Luft vollzieht.

In diesem Bezug kann das deutsche Wort »gemütlich« noch einmal in Erinnerung gerufen werden: In dem Wort sind verschiedene, leibliche und synästhetische Wahr­ nehmungsmomente zusammen präsent, die das Erleben von etwas »Gemütlichem« auszumachen scheinen. 648 Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Riechen und Gefühlsatmosphäre kann der folgende Hinweis Böhmes relevant sein: »Die Gefühlsatmosphäre ist ferner einem Duft vergleichbar – man atmet sie ein und wird durch sie zu einer gewissen Empfin­ dung gestimmt. Sie umgibt einen auch wie das Wetter, das einen je nach Lage nie­ derdrückt oder erhebt. Das findet sich in folgenden Versen Fausts: »Umgibt mich hier ein Zauberduft? Mich drang’s so g’rade zu genießen, Und fühle mich in Liebestraum zerfließen! Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft? (FA I, 7.1, V. 2721–2724)« Böhme (2007): S. 136. Vgl. auch: Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragö­ die. 1808. 647

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

4.2.2 kewai (けはひ): kehai im Spätaltjapanisch Schlägt man in einem japanisch-sprachigen Wörterbuch des Spät­ altjapanischen nach, lässt sich die Charakteristik von kehai, die vor­ prädikative Vollzugsweise der synästhetischen Wahrnehmung des Atmosphärischen am eigenen Leib, noch deutlicher erkennen. Kehai im heutigen Japanischen hieß im Spätaltjapanisch kewai (geschrieben kehahi (けはひ)).649 Zur Einführung wird eine prozesshafte Über­ setzung des Artikels zu kewai (kehahi) aus dem Wörterbuch des spätaltjapanischen Iwanami-kogojiten aufgezeigt, um damit die Viel­ fältigkeit der Wahrnehmungen und Empfindungen, die ursprünglich die Erfahrung von kehai ausmachten, zugänglich zu machen.650 Der Artikel lässt sich in zwei Abschnitte einteilen, unter denen weitere Einteilungen der Bedeutungen vorzunehmen sind. Die erste Eintei­ lung in zwei grammatische Kategorien (Nomen und Verb) lautet: kewai (けはひ) 1.

2.

Nomen, es bedeutet: ke (気) hahi (wai (延)). »hahi (wai)«, das heißt, sich um sich/etwas herum ausbreiten. Die Luft, die sich irgendwie um sich herum anwesend anfühlt (Die Zeichen­ kombination 気配 ist eine Kombination, die später gebräuchlich wurde. [...]).651 Verb (Yodan-Flexionsform), das aus dem Nomen kehahi (kehai) stammt: Sich mit Kleidung, Schminke oder Sonstigem zurecht machen. [...]652

649 In der vorliegenden Arbeit wird けはひ aus dem Spätaltjapanischen einheitlich mit »kewai« transkribiert, da けはひ trotz der Zeichenkombination von »ke«, »ha« und »hi« in der Regel als »kewai« ausgesprochen und gelesen wird. 650 Dieses ist ein Wörterbuch für das Spätaltjapanisch, in dem spätaltjapanische Wörter auf gegenwärtiges Japanisch übersetzt und diese (mit Beispielsätzen aus der entsprechenden Zeit) definiert und erläutert werden. Iwanami-kokugojiten ist das Japanisch-Japanisch-Wörterbuch, das im zweiten Kapitel verwendet wurde. Das Iwa­ nami-kogojiten ist ein japanisches Wörterbuch für archaische Wörter oder Altjapanisch (kogo: 古語). 651 I. O.: 「けはひ. 一. 名 ケ(気)ハヒ(延)の意。ハヒは、あたり一面に広がる こと。何となく、あたりに感じられる空気。(『気配』は後世の当て字。) [...]。 二. ((四段)名詞ケハヒを動詞化した語) 身づくろいをする[...]。」 Ōno et al. (2018): S. 464. Im Anhang 4 steht eine Zitierung des Artikels zur Verfügung. 652 Ebd.

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In der vorliegenden Arbeit scheint hiervon insbesondere die erste Definition relevant zu sein. Unter dieser lassen sich die folgenden zehn verschiedenen Definitionen finden: (1)

(2) (3)

(4)

(5) (6)

(7)

(8)

Feelings (Gefühle) und die Art und Weise von der Situationslage oder Atmosphäre, die an der Haut spürbar aber auch hörbar und riechbar ist. [...] Sora no kewai hiyayaka naruni ((da) das kewai vom Himmel, sich kühl anfühlend (anfühlt): Die leicht abkühlende Luft aus dem Himmel, sich ausbreitend) (»Sōkaku« in: Genji Monogatari). Geruch. kakaru kewai no, ito kōbashiku niou ni (solch ein kewai, wie es wohlriechend ist!: Solch ein Duft drum herum, wie wohlriechend es ist!) (»Utsusemi« in: Genji Monogatari). Stimme. Honokani kikoyuru onkehai ni nagusametsutsu (tröstet vom würdigen kewai, das vage und leicht hörbar wird: Tröstet davon, ganz leicht und vage hören zu können, wie sich unsere/ meine Verehrte annähert) (»Yūgiri« in: Genji Monogatari). Klang. Ki chikai hodo no kewai. (Koto no oto) tachi kiki saseyo. (Das kewai, dessen Atem fast zu spüren ist. Lass mich (den Klang der Koto) mir stehend anhören.: Es fühlt sich so nah an. Lass mich mir den Klang der Koto stehend von hier aus anhören.) (»Suetsugu« in: Genji Monogatari). Temperatur. Mada kewai atsuki hodo nareba (noch kewai fast heiß daher: Da kewai noch etwas heiß ist, da es noch etwas zu warm ist) (»Sōkaku« in: Genji Monogatari). Feeling (Gefühl) bei einem Verhalten sowie einer Bewegung. Utoki hito no on-kewai no chikai mo (iyade) [...] (auch das kewai von fernen Menschen ihn beschäftigt) (»Sōkaku« in: Genji Monogatari). Temperament (, welches sich von der Art und Weise (des Menschen) vermuten lässt). Hito no kewai, ito asamashiku yawarakani [...] (das kewai der Person, wie es schlicht und weich ist: Wie diese Person so unkompliziert und gehorsam zu sein scheint!) (»Yūgao« in: Genji Monogatari). Spur (Nachwirkung). Suginishi oya no onkehai tomareru furusato (Heimat/Zuhause, wo das kewai von den verstorbenen Eltern geblieben ist: Zuhause, an dem noch die Spuren (oder der Lebenshauch) meiner bereits verstorbenen Eltern geblieben sind) (»Hahakigi« in: Genji Monogatari).

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

(9)

Eine Art Verbindung, Blutsverwandschaft. Tadakoto bakari nitemo, makoto no oya no onkewai naraba koso ureshikarame (Auch wenn nur wenig, wenn es um kewai von den eigenen Eltern geht, würde man sich sehr freuen: »(Tamakazura) hätte sich über einen noch so kurzen Brief ihres wirklichen Vaters viel mehr gefreut«653 (»Tamakazura« in: Genji Monogatari). (10) [Schminken] (im Sinne von Atmosphärenmachung), Schmin­ ken, Schminke. [...] Kotoni on’na wa kewai to ii, kao ni oshiroi o nuri, beni toiu mono o nuri (Besonders Frauen sprechen von kewai und schminken sich das Gesicht mit weißem Puder und Lippenstift, die beni heißt) [...] (»Kagamiotoko« in: Tora’aki­ bonkyōgen).654

Auch hier verdeutlicht sich, dass die Konnotation eines Unsicher­ heitsgefühls im Erlebnis des spätaltjapanischen kewai nicht relevant war. In den Beispielsätzen erkennt man die Bezüge von kewai auf mehrere und verschiedene Sinne und lässt es sich vielmehr in positiv konnotierten Szenen und Situationen finden, wobei dies an dem Literaturwerk Genji Monogatari (源氏物語)655 liegen kann, auf dem 653 Murasaki Shikibu: Die Geschichten vom Prinzen Genji (Genji Monogatari) 1, übers. von Oscar Benl, 2014, S. 668f. 654 Sofern nicht anders gekennzeichnet: eigene Übers. und eigene Hervorh. Alle Stichpunkte sind geordnet in der Reihenfolge: Definition. Transkription des Beispiel­ ausdrucks, dessen schrittweise dargelegten Übersetzungen. I. O.: 「1. 肌で感じたり、 聞こえたり、匂ったりする雰囲気や様子・感じ。[...]『空の―ひややかなるに』 (源氏 総角)2. 匂い。『かかる―の、いとかうばしくうち匂ふに。』(源氏 空 蝉)。3. 声。『ほのかに聞ゆる御―に慰めつつ』(源氏 夕霧)4. 音。『気近き ほどの―。(琴ノ音)立ち聞きさせよ。』(源氏 末摘花)5. 気温『まだ―暑き ほどなれば』(源氏 総角)6. 立居や動作の感じ。『うとき人の御―の近きも (イヤデ)[...]』(源氏 総角)7. (様子から察せられる)人柄。『人の―、いと あさましくやはらかに、おほどきて、物深く重き方はおくれて』(源氏 夕顔) 8. なごり。『過ぎにし親の御―とまれるふるさと』(源氏 帚木)9. ゆかり。血 縁。『ただことばかりにても、まことの親の御―ならばこそ嬉しからめ』(源 氏 玉鬘)10. <化粧>(雰囲気を作る意から)けしょう。おつくり。[...]『殊に 女は、―と云ひて、顔に白粉をぬり、紅といふ物をぬり』(虎明本狂言・鏡男) [...]」 Ōno et al. (2018): S. 464. Im Anhang 4 steht eine Zitierung des Artikels zur Verfügung. 655 Genji Monogatari (源氏物語, entstand um ca. 1008) ist ein Roman über Liebes­ geschichten und politische Machtbewegungen mit emotionsvollen Episoden (um einen fiktiven Prinzen namens Hikaru Genji (光源氏)). Im gesamten Roman ist ins­ gesamt die Wahrnehmung von mono no aware (dies heißt in etwa das Berührtsein von allen Dingen, die jedoch vergänglich sind: Schönheit der Vergänglichkeit) präsent. Die Verfasserin, Murasaki Shikibu (紫式部, ca. 978 – ca. 1014), arbeitete für die Fujiwara

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die meisten der genannten Beispielsätze beruhen. Nach Nakai taucht das Wort »kewai« in Genji Monogatari (aus der Heian-Zeit: 794–1192) überwiegend in Kombinationen mit hochrangigen Menschen sowie wertvollen und liebenswerten Gegenständen auf.656 Nakai betrachtet eine Umwandlung der Bedeutungen von ke (von kewai) bereits während der Heian-Zeit: Dem Wort ke kam immer mehr die Bedeutung von »fremd«, »fremdartig« (異) oder »unheim­ lich« (怪) zu.657 So kann es auch veranlasst worden sein, dass kewai, später kehai, das vage Spüren von etwas Atmosphärischem, zuneh­ mend die Konnotation des Fremden und Unheimlichen bekam. Hier kann eine gewisse Interpretationstendenz des vorprädikativen und synästhetischen Wahrnehmungsvollzugs herausgeblickt werden, die sich mit der späteren Wandlung sowie der Variabilität des verwende­ ten Zeichens (wie z. B. 機) in Taiheiki (ca. 14. Jh.) verknüpfen lässt.658 Im Hinblick auf die Bedeutungsänderung des ke innerhalb der HeianZeit fasst Nakai anhand eines weiteren Ausdrucks (»keniya« (けにや: Ich frage mich / ich wundere mich)) die folgende Ansicht zusammen:

Shōshi (藤原彰子), die Tochter von Fujiwara no Michinaga (藤原道長), dem Herrscher der Fujiwara-Regenten der Heian-Zeit Japans (794–1184). Vgl.: Uchida et al. (2005): S. 49, 85. 656 Das heißt, dass das Wort folgenderweise verwendet wird: kewai von jemandem Ehrwürdigen oder von liebenswerten Dingen. Nakai findet insgesamt 325 Beispiele der Verwendung des Wortes »kewai« (けはひ). Nakai (1995b): S. 184. 657 Diese Änderung ist im selben Literaturwerk, also in Genjimonogatari auch zu erkennen. Vgl.: ebd.: S. 185. 658 Vgl.: Nakai (1995b): S. 189f., Hisayama (2014): S. 23f. Es ist zur gleichen Zeit notwendig zu berücksichtigen, wie sich die Gesellschaft zur selben Zeit änderte. Am Ende der Heian-Zeit, vor allem ab ca. dem 11. Jh., wurden, durch einen politischen Wandel des Insei-Systems (in dem der zurückgetretene Kaiser jeweils an der Macht­ position der Regierung saß), zunehmend die Schwertkämpfer (Samurais) präsent, da ab jener Zeit immer mehr politische Konflikte militärisch behandelt wurden. (Im Übrigen etablierte sich in der Kamakura-Zeit (鎌倉時代, 1185–1333), die der HeianZeit folgte, das Bakufu-System (幕府), dessen Form je nach Zeit zwar variierte, das sich jedoch ebenso durch eine vermehrte Präsenz der Schwertkämpfer um und an der Regierung kennzeichnet). Es lässt sich sicherlich einerseits eine Kunst darin betrach­ ten, was im Werdegang der Schwertkämpfer geübt, erlernt und kultiviert wird, es ist jedoch andererseits wahrscheinlich, dass beispielsweise das Fühlen von ke, bzw. leib­ liches Spüren des Atmosphärischen immer mehr an die mögliche Lebensgefahr geknüpft erlebt und wahrgenommen wurde oder werden musste. Hierzu ist sicherlich die Ansicht Nakais zur Vermischung von ki (気) und dem ursprünglich buddhistischen Terminus »ki« (機 Moment, Augenblick, Timing) erhellend – wie dies kurz in Kapitel 3.1.2 erwähnt wurde. Vgl.: Nakai (1995b): S. 188f.

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

Die damaligen Menschen haben wahrscheinlich [aufgrund ihres Wun­ derns] »keniya« geäußert, wenn Dinge in einer unerwarteten und unberechenbaren Ordnung erschienen, um nach logischen Gründen der Kausalität zu suchen. この因果律の中に論理的理由を探らんとして、それが測りがたき 予期しない秩序として現わるる場合、彼等は「けにや」と問うた のではあるまいか。659

Im Ausdruck »keniya« (ich frage mich / ich wundere mich) sieht Nakai einen Zusammenhang zu ke, in dem wiederum ein weiterer Zusammenhang zu ke in Form von 異 (fremd, fremdartig) eingesehen werden kann.660 Das Fragen nach der Kausalität sowie nach einem logischen Grund, die und der im Erleben des kewai sowie kehai ursprünglich nicht inkludiert zu sein scheinen, steht hier im Vorder­ grund. Zwischen dem vorprädikativen und unpräzisierbaren, synästhe­ tischen Wahrnehmungsvollzug und dem Fragen nach dessen Grund können durchaus verschiedene qualitative Unterscheidungsmöglich­ keiten liegen, angefangen mit dem kehai von Frühling, Sommer oder Herbst, über das kehai eines unpräzisierbaren Fremdkörpers am eigenen Leib, bis hin zu sakki (殺気 661 tötendes ki: sich-ausbreitende Atmosphäre eines Mörders) usw. Die Betrachtung des Bedeutungswandels von kewai und kehai könnte erhellend sein, um den Blick darauf zu lenken, den sich unterschiedlich entfaltenden synästhetischen Wahrnehmungsvoll­ zug erneut oder bewusst wahrzunehmen. Noch bevor es einem »fremd« erscheint, hatte der leibliche Vollzug der Wahrnehmung bereits begonnen: Ganz viel Verschiedenes um und bei sich herum Eigene Übers. Nakai bezieht sich hierzu auf ein paar Beispielausdrücke ebenso aus Genji Monogatari (ebd.: S. 185). Es ist anzumerken, dass die Interpretationsweise von keniya auch variabel ist. Nakai selbst lebte vom Jahr 1900 bis 1952. In seiner Betrachtungsweise der klassischen japanischen Literatur kann eine gewisse Tendenz (aus der Moderne mit und nach der Meiji-Restauration) zu erblicken sein. 660 Vgl.: Nakai (1995b): S. 176. 661 Interessanterweise findet man wiederum das Wort »kehai« in der Definition von sakki (殺気) aus dem Wörterbuch Iwanami-kokugojiten: 「さっき(殺気)1. 人を殺そ うとする気配。激しい敵意に満ちた気分。『–がみなぎる』2.草木を枯らす秋・ 冬の寒気。[...]」(Nishio (2016): S. 567) Eigene Übers.: sakki (殺気) 1. kehai von dem, dass man vorhat, jemanden zu töten: eine sich ausbreitende Atmosphäre, in der jemand getötet werden kann. Z. B.: Sakki füllt sich: die tödliche Atmosphäre breitet sich aus. 2. Kaltes-ke (bzw. Kälte oder Frost) des Herbsts und Winters, die Pflanzen zum Eingehen bringen kann. 659

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wurde bereits getastet, geatmet und gerochen.662 Demgegenüber kann gerade dort, wo eine Frage nach der Kausalität sowie dem Grund der Wahrnehmung gestellt wird (keniya) – sei es aus Unsi­ cherheitsgefühl, sei es aus Neugier – möglicherweise ein Keim eines personalen »Ichs« erblickt werden, das nicht umhinkann, zu fragen. So kann ein fragender Mensch663 aus einem Leib heraus keimen, der gerade irgendein kehai spürt. Möglicherweise kann er dies, weil der Wahrnehmungsvollzug es nicht aushält, ohne dabei die Fragestel­ lung zu äußern, bei sich zu bleiben. Es kann zur gleichen Zeit eine oder mehrere andere Umgangsmöglichkeit(en) mit den vorgestellten Erlebnissen geben, als nach dem Grund zu fragen. Es ist jedoch ebenso möglich, dass das Fragen nach dem Grund allzu stark von Angst begleitet geschieht, sodass sich die vorprädikative Wahrnehmung von einer emotionalen Bewertung (der Furchterfahrung) eintönig gefärbt vollzieht. In jedem Fall gehört es sicherlich zur Natur des Leibseins, sich immer schon vorprädikativ im Wahrnehmen, Spüren und Fühlen zu befinden, unabhängig von der Frage, wie die einzelnen Empfindun­ gen einem zugänglich werden und wie man mit ihnen umgeht. Es ist außerdem nicht zu vergessen, was für eine fundamentale Rolle es spielen kann, auch die vagsten Wahrnehmungen (an)erkennen zu können, nicht nur aber auch dann, wenn es um das Leben von sich und den Anderen geht – wenn man mit einer existentiellen Not konfrontiert ist.

So handelt es sich möglicherweise um ein Fühlen, das noch bevor es einem »fremd« vorgekommen ist, am Laufen ist. Waldenfels nennt ein ähnliches Moment der Erfahrung »Fremdes in uns selbst« – wobei das »in uns« bereits eine bewusst erlebte Eingrenzung vorauszusetzen scheint, was im Erfahrungsmoment des vorprä­ dikativen Fühlens bei kehai nicht ganz möglich zu sein scheint. Vgl.: Waldenfels (1997): S. 27–33. 663 Hier wird der Rationalitätsbegriff bewusst nicht an die Stelle des »fragenden Menschen« sowie »Ich« gesetzt, obschon dieser hierzu parallelisiert werden kann. Denn es scheint hier wichtig zu sein, vor Auge zu behalten, dass das momentane Herausstechen der fragenden Perspektive nicht nur mit einer Seite der tendenziell dichotomisch gedachten Pole (von Ratio und Pathos) identifiziert werden muss. Im Moment des Fragens können möglicherweise irgendein Interesse, irgendwelche bestimmte Emotionalität und, nicht zuletzt, verschiedene leibliche Regungen mit entscheidend sein. So scheint hier die Kontinuität der zwei gegenübergestellten Eigenschaften des Menschseins bzw. graduelle Stufen zwischen dem sogenannten Pathos und der Ratio anzunehmen zu sein – wie es im Begriffspaar von Yin (陰) und Yang (陽) der Fall ist. 662

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

4.2.3 Diskrepanzerfahrung Hisayama Yuho teilt das Sich-Befinden in einem Raum bzw. das leibliche Spüren der Räumlichkeit nach leiblicher Empfindung der sphärischen Nähe und Distanz ein. Dieses Vorgehen bzw. Hisayamas »Sphärentheorie« charakterisiert sich gegenüber der »Substanzonto­ logie« durch seine Anlehnung an die »neue Ästhetik« Gernot Böh­ mes.664 Mit der Konzeption der »neuen Ästhetik«, bei der die sinnliche Wahr­ nehmung der Atmosphäre und das leibliche Befinden des Menschen in seiner Umgebung im Vordergrund stehen, hat Böhme versucht, die traditionelle Urteilsästhetik und die dahinter stehende Substanzonto­ logie zu überwinden, welche seiner Meinung nach die Spaltung von Subjekt und Objekt voraussetzt und die Überlegenheit des Subjekts über das Objekt postuliert. Gerade in diesem Kontext gewinnt der Atmosphärenbegriff an Bedeutung und Gewicht, denn die Atmosphäre affiziert uns, noch bevor diese Spaltung in Subjekt und Objekt eintritt, in ganz besonderer Art und Weise.665

So legt Hisayama einen gesonderten Fokus auf die Erfahrung des Atmosphärischen, indem er aufgrund seiner Distanzierung von der Position, das sogenannte Subjekt vom Objekt zu trennen, je nach der gefühlten Nähe und Distanz in verschiedene Sphärenerfahrungen einteilt. Diese Unterscheidungsmethode kristallisiert sich in seine Konzipierung der gefühlten Sphären: »Leibessphäre«, »Atmosphäre« (diese ist wiederum unterscheidbar in »Homosphäre« und »Hetero­ sphäre«) und »Pansphäre«.666 Die »Leibessphäre« wird von Hisayama als diejenige definiert, »die man als den eigenen Leib wahrnimmt« und deren »Zentrum« bestimmt ist als »Voluminosität des persönlichen, materiellen Kör­ perraums«, die dann besonders auffällt, »wenn es eine Störung am [sic] oder in diesem gibt (z. B. Kälte, Schmerz), oder wenn eine ›Diskrepanz‹ zwischen ihr und der Atmosphäre [...] auftritt.«667 Es ist Böhme (1995): S. 155–176. Hisayama (2014): S. 31. Hisayama (2014): S. 31. Siehe auch: Böhme (2017): S. 22f. Was die Positionierung vom Subjekt in der Atmosphärenerfahrung betrifft, lässt sich ebenso im Ansatz von Bruce Bégout eine gewisse Affinität entdecken. Siehe: Bégout : Le Concept d’ambiance : essai d‘éco-phénoménologie, 2020. 666 Hisayama (2014): S. 33f., 42. 667 Ebd. 664 665

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die Sphäre des eigenen Leibes, also das sinnliche Sich-Befinden des einzelnen Menschen.668 Die »Atmosphäre« wird von Hisayama als diejenige Sphäre erklärt, »die man in seiner Umgebung wahrnimmt« und welche man durch seine Leibessphäre spürt, »wobei die Grenze zwischen beiden oft verschwommen ist.«669 Diese Atmosphäre lässt sich nach ihm weiter in zwei teilen, die »Homosphäre« und »Heterosphäre«: Die »Homosphäre« wird als die Sphäre bestimmt, die sich ähnlich der Leibessphäre anfühlt, und »Heterosphäre« als diejenige eingeführt, die sich gegenüber der Leibessphäre »fremd« oder »anders« gestimmt zu sein anfühlt.670 Die am Ende genannte »Pansphäre« wird »jene besondere Sphäre« genannt, »in der die Kontinuität von Leibessphäre und Atmosphäre gespürt wird.«671 Die Atmosphäre präsentiert sich der Leibessphäre gegenüber stets mehr oder weniger ähnlich und anders gestimmt, was darauf zurück­ zuführen ist, dass wir nicht in der Lage sind, sowohl eine völlig gleich gestimmte, als auch eine völlig anders gestimmte Atmosphäre wahrzunehmen, weil jede Atmosphäre, die wir bewusst spüren kön­ nen, immer zwischen dem Gleich-sein und dem Anders-sein hinund herschwingt.672

Die Wahrnehmung der »Atmosphäre« bewegt sich in der Theoreti­ sierung Hisayamas zwischen den zwei Sphären: »Homosphäre« und »Heterosphäre«.673 Um unterschiedliche Charakteristiken in Begeg­ nung mit der Atmosphäre hervorzuheben, bezieht sich Hisayama auf die zwei unterscheidbaren Erfahrungstypen von Atmosphären

668 669 670 671 672 673

Ebd. Zum Leibbegriff vgl.: Hermann Schmitz (2011): S. 5. Hisayama (2014): S. 33f. Ebd. Ebd. Ebd.: S. 39. Hervorh. i. O. Ebd.: S. 33f.

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

»Ingression«674 und »Diskrepanz«675, erläutert von Gernot Böhme in dem Buch Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahr­ nehmungslehre (2001). »Die Ingression« geschehe beispielsweise beim »Betreten eines bestimmten Raumes«, »in dem eine gewisse Atmosphäre herrscht, die sich von der eigenen Stimmung jedoch deutlich unterscheidet.«676 »Diskrepanz« ergebe sich hingegen in einer Situation, in der ein fröhlich gestimmter Mensch mit einem »in Trauer versunkenen« Menschen konfrontiert wird.677 Die »Dis­ krepanz« betrachtet Böhme als die Voraussetzung, um »Atmosphäre als Gegenstand« überhaupt wahrzunehmen.678 Auch das leibliche Sich-Befinden in einer »Heterosphäre« oder einer »Homosphäre« wird also im Grunde genommen durch die Wahrnehmung einer gewissen Diskrepanz möglich.679 Hierzu können die folgenden Worte Böhmes aufschlussreich sein: Die Diskrepanzerfahrungen sind es, die in besonderem Maße dazu Anlaß geben, Atmosphären als quasi objektive Gefühle zu bestim­ men. In diesen Erfahrungen wird deutlich, daß ich Gefühle erfahren kann, die nicht meine sind und auch niemandes sonst. Sie schweben gewissermaßen im Raum unbestimmt in die Weite ergossen, wie der Philosoph Hermann Schmitz sagt. Hermann Schmitz (1969) macht

674 Böhme bestimmt sein Konzept der »Ingression« folgenderweise: »Als Ingressi­ onserfahrungen will ich solche Wahrnehmungen bezeichnen, bei denen man ein Etwas wahrnimmt, indem man in es hineingerät. Typisch dafür ist das Betreten eines Rau­ mes, in dem eine gewisse Atmosphäre herrscht. Also beispielsweise: Ich betrete einen Saal, in dem eine festliche Atmosphäre herrscht oder ich gehe auf eine Gesprächs­ gruppe zu, aus der mir eine betretene Atmosphäre entgegenschlägt. Hier ist die Atmo­ sphäre etwas, das zunächst deutlich von mir unterschieden ist. Es hat zwar emotio­ nalen Charakter, es ist eine Stimmung, die aber noch nicht meine ist, sondern mich vielmehr in einer bestimmten Weise anmutet.« Böhme: Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, 2001, S. 46f. 675 Die »Diskrepanz« beschreibt Böhme wie folgt: »Damit ist gemeint, daß ich von einer Atmosphäre her eine Anmutung erfahre in Richtung einer Stimmung, die von meiner – mitgebrachten – Stimmung abweicht. So kann ich etwa, wegen eines Trau­ erfalles bedrückt, einen heiteren Frühlingstag in deutlicher Diskrepanz zu meinem eigenen Befinden erfahren.« Böhme (2001): S. 47. 676 Hisayama (2014): S. 38f., Böhme (2001): S. 46. 677 Ebd. Hisayama nennt die beiden Fälle »Ingression« und »Diskrepanz«, nach Böhmes Unterscheidung, mit einer Betonung darauf, dass sie als »zwei verschiedene Typen von Diskrepanzen« verstanden werden. Vgl.: ebd. 678 Böhme (2001): S. 48. 679 Hisayama (2014): S. 39.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

geradezu eine Pointe daraus, daß Gefühle draußen sind, »nicht anders als Straßen«.680

Es handelt sich hier also um das Erkennen der »Atmosphäre als Gegenstand«, die einen umgibt, und die einen sagen lässt: »Mir kommt die Atmosphäre hier soundso vor.« Die Diskrepanzerfahrun­ gen bzw. die Erfahrung der bewusst erlebten Heterosphäre dient also dazu, die Atmosphäre, in der man sich befindet, »so« und »so« zu empfinden und auf diese Weise auch hiervon potenziell sprechen zu können. Unter dem Wort »Atmosphäre« werden hier die räumlich wahrgenommenen Gefühle verstanden, die weder nur meine noch nur jemandes sind, die jedoch an einem konkreten Leib (oder an mehreren Leibern) gespürt werden können. Die vorgestellten Begriffe erhellen die Möglichkeit, dass sich der vorprädikative, leibliche Wahr­ nehmungsvollzug des Atmosphärischen, das wie bei kehai schwer oder kaum verbal zu präzisieren scheinen kann, durch die Wahr­ nehmung der »Diskrepanz« auch prädikativ manifestieren und also sprechen lässt.681 Bezüglich der weiteren Entfaltung der Atmosphär­ enerfahrung, die sich auf diese Diskrepanzerfahrung stützt, erwähnt Hisayama die »Anpassung der Leibessphäre an den kontrastiven Gehalt der den Leib umgebenden Heterosphäre«682: Dabei handelt es sich um einen Prozess der Vereinheitlichung der Diskrepanz zwischen Leibessphäre und Atmosphäre. Es gibt zwei verschiedene Typen: Der erste wäre die passive Gewöhnung an eine neue, fremde Atmosphäre und der andere das aktive Schaffen einer solchen. Ein passendes Beispiel für die beiden Fälle wäre vor allem das Wohnen, was, nebenbei bemerkt, nicht nur die Menschen zu betreffen 680 Böhme (2001): S. 48. Siehe auch: Schmitz: Der Gefühlsraum – System der Philo­ sophie – III, Teil 2, 1969. 681 Ebd. So gesehen kann es auch eine logische Folge sein, dass kewai, später kehai, früher neutral oder positiv konnotiert war, und im Laufe der Zeit die Konnotation »fremdartig« sowie »unheimlich« bekommen hat. Es wurde möglicherweise einfacher, sich vom kaum präzisierbaren Wahrnehmungsvollzug abzugrenzen, indem man das leibliche Fühlen des Atmosphärischen als etwas Anderes vom sogenannten »Ich« unterscheidet. Wie in der Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Erleben und Erfah­ ren zu sehen ist (vgl.: Zur Lippe (2000): S. 339ff.), verfolgt dies möglicherweise den Zweck von einer »Einfachheit« oder einem gewissen Selbstschutz (oder sonstigen Interessen), bzw. die Unterscheidung dient dazu, dass beurteilt werden kann oder soll, um was für einen »Eindruck« es sich im Moment handelt. Nicht zu vergessen ist, dass diese Haltung zu einer Tendenz führen kann, zu verfehlen, sich als Beteiligte bzw. Mitgestaltende der geteilten, situativen Atmosphäre mit (an) zu erkennen. 682 Hisayama (2014): S. 41.

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4.2 Vorprädikativer Wahrnehmungsvollzug am Leib

scheint. Eine solche Anpassung erfolgt aber keineswegs automatisch: Es gibt auch Situationen, in denen der Mensch sich bewusst oder unbewusst nicht anpassen will oder kann. In solchen Fällen bleibt die Diskrepanz zwischen Leibessphäre und Atmosphäre bestehen. Im Extremfall kann sich dann alles dahingehend entwickeln, dass der menschliche Leib sich nicht mehr »in der Welt« verorten kann und die Fremdheit seiner Umgebung ihn in letzter Konsequenz zum Selbstmord oder Wahnsinn führt.683

Die Anpassung an die Atmosphäre kann zwar »aktiv« oder »passiv« geschehen, kann jedoch auch anders wie folgt betrachtet werden: Die Anpassung hat – bis zu einem bestimmten Grad – immer schon bereits in dem Moment begonnen, in dem einem die Atmosphäre vom Raum vor Ort soundso vorgekommen ist. So ist eine Diskre­ panzerfahrung bereits der erste Schritt einer »Anpassung« an die im Moment erlebte Atmosphäre. So scheint auch die »Stimmung« einer geteilten Situation – auch wenn »Stimmung« üblicherweise in Form vom Singular gesprochen wird – immer schon ein Gemisch unzählbarer Diskrepanzerfahrungen zu sein. Dieses Gemisch kann aus unzählbaren Reaktionen auf einzelne Komponenten der Situation bestehen – angefangen mit kleinsten Details des Raumes wie Licht, Geräuschen, Menschenstimmen, Luftfeuchtigkeit, Wind, Gegenstän­ den bis zu kleinsten Bewegungen wie Zucken eines Körperteils, Blick, Mimik, oder Intonation einer Äußerung der sprechenden Personen, die wiederum jeweils von jeder Person unterschiedlich attribuiert werden können.684 So ist es einmal hervorzuheben, dass sich selbst »die Stimmung« sowie »die Atmosphäre«, die weder meine noch nur jemandes zu sein scheint, doch von Anfang an plural als Atmosphär­ enerfahrungen zeigen. Dies scheint ein ähnlicher Fall zu sein wie bei dem Begriff der Situationen bzw. den Situationen an sich, die sich in der linguistischen Phänomenologie Austins mit allen, von einem

683 Hisayama nennt das Beispiel der »,existenziellen‘ Erfahrung Antoine Roquentins« aus dem Roman Der Ekel von Jean Paul Sartre: Sartre: La nausée, 1938. Hisayama (2014): S. 40f. 684 So kann selbst der Ekel Roquentins bereits als eine »Anpassungsreaktion« seines leiblichen Situiertseins betrachtet werden, welche möglicherweise folglich den Anlass geben kann, die Frage zu stellen, ob er sich entweder von Situationen fernhalten, sich anders einstellen oder sich bei der Stimmungsbildung der Situation aktiv einsetzen soll und möchte. So scheint der Ekel auch eine natürliche und gesunde Reaktion eines Menschseins zu sein. Vgl.: Hisayama (2014): S. 40f.

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einzigen Wort (excuse) gewonnenen, denkbaren, verschiedenen »rea­ lities« verknüpfen lassen.685 So ist das bewusste Spüren der Dissonanz – »Diskrepanzerfah­ rung« oder bewusste Erfahrung der »Heterosphäre« – für jeden Men­ schen eine notwendige Erfahrung, um die Situationsatmosphäre als solche – als etwas vom eigenen Leib Unterscheidbares – zu erkennen und in manchen Fällen ist sie sicherlich überlebensnotwendig. Genauso kann jedoch auch die bewusste Erfahrung der Resonanzen (wie der Pansphäre) notwendig sein, um das eigene Wohlergehen im Vollzug (an) zu erkennen. Das heißt, die Erfahrung von Resonanzen, in denen man sich harmonisch mit den Anderen, inklusive der Umgebung insgesamt, fühlt, oder sich diesen gegenüber nah oder einig fühlt.686 Ausgehend von diesen Betrachtungen scheint sich die Erfahrung von kehai (けはい) und kewai (けはひ) zwischen dem vorbewussten Erleben und dem Bewusstwerden (oder Bewusstsein) von einer parti­ kulären Diskrepanzerfahrung zu bewegen.

4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen Nach der Einführung der Sphärentheorie Hisayamas im Anschluss an die Vorstellung der Erfahrungen von kehai (けはい) und kewai (けはひ) im vorigen Kapitel wird im Folgenden der Fokus auf kol­ lektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrungen gelegt. Hierfür wird zunächst der Begriff »kūki« (空気) allgemein, jedoch auch im Hinblick auf die Sphärentheorie erläutert. Anschließend wird neben der Sphärentheorie Hisayamas auf die Ästhetik der Atmosphäre von Gernot Böhme Bezug genommen, um die »kritischen Dimensionen kollektiver Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung« zu beleuchten. Am Ende des Kapitels wird kūki dem Begriff »immersion«, eingeführt vom Forschungskollektiv Affective Societies im gleichnamigen Arti­ kel, gegenübergestellt.

Vgl.: ebd.: S. 130 (siehe hierzu: Kapitel 2.3.8). So handelt es sich um eine bewusste Wahrnehmung der Pansphäre sowie einer dieser nahen Atmosphäre, die sich jedoch mit deren Schwierigkeit des Beschreibens charakterisiert. Vgl.: Hisayama (2014): S. 42. 685

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4.3.1 kūki (空気): Luft / kollektiv geteilte Situationsstimmung Der Ausdruck »kūki« ( 空 気 ), der gewöhnlich ins Deutsche als »Luft« übersetzt wird, taucht häufig im gegenwärtigen Japan in Situationen auf, in denen die Stimmung von den Beteiligten der Situa­ tion nicht mehr als die plural erlebten, unterschiedlich artikulierbaren Erfahrungen, sondern wie eine einheitliche Erfahrung erlebt wird. Dies klingt zunächst nach einer Erfahrung der »Homo-« oder »Pan­ sphäre« aus der im vorigen Kapitel vorgestellten Sphärentheorie von Hisayama. Es scheint hier jedoch eine Notwendigkeit zu bestehen, eine genauere Unterscheidung von den Erfahrungen der zwei Sphären hervorzuheben. Im gegenwärtigen Wortgebrauch von »kūki« handelt es sich vielmehr um eine Stimmungserfahrung, die sich zwar kollek­ tiv homosphärisch entfaltet, für den einzelnen Beteiligten jedoch nichts anderes als eine schwere Diskrepanzerfahrung darbietet. Es ist eine Art Erfahrung der Atmosphäre, bei der es einem, gerade auch aufgrund der gefühlten (auch drückenden) Homogenität in der Art und Weise der Stimmungsentfaltung, schwerfällt, diese verbal zu beschreiben oder in situ auf die Atmosphäre aktiv zu re-agieren. Interessanterweise lässt sich diese Erfahrungsdimension auch im Wörterbuchartikel zum Wort »kūki« entdecken: kūki 1. farbloses, geruchsloses und durchsichtiges Gasgemisch, das die Unterschicht ausmacht, die die Erde umgibt. 2. die Lage, Umstände und Atmosphäre der Situation, über die die Stimmung und das Sich-Befinden der Menschen beinahe herrscht. Z. B. »shippai suru to shirinagara, anotoki no kūki dewa sō suru hoka nakatta« (wis­ send, dass das nicht klappt, konnte ich bei dem kūki jener Zeit nichts anderes tun – Es gab keine andere Maßnahme, als die, die ich getroffen habe, obwohl ich wusste, dass das nicht klappt), »totemo shippai dekiru kūki dewa nai (hier ist nicht so ein kūki, wo man ruhig scheitern darf – hier ist so eine Stimmung, in der jegliches Scheitern keineswegs geduldet werden kann).687

I. O.: 「空気 1. 地球を包む大気の下層部を成す、無色・無臭・透明の混合気 体。2.人々の気持ちを支配するようなその場の情況。雰囲気。『失敗すると知 りながら、あの時のーではそうするほかなかった』『とても反対できるーでは ない』」 Nishio et al. (2016): S. 390. Eigene Hervorh. Im Anhang 5 steht ebenso die Zitierung. 687

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

Das Wort »Luft«688 im Japanischen meint also auch eine atmosphä­ rische Stimmung, die sowohl die Situationsdynamik als auch die mentale Aktivität des Individuums eingrenzen, beeinflussen oder einfärben kann.689 Hisayama führt einen Beispielsatz aus dem Roman Kokoro von Natsume Sōseki vor: Daitokai no kūki ga, [...] koku watashi no kokoro o sometsuketa (「大都会の空気が、[...] 濃く私の心を染 め付けた。」 : Das kūki der Großstadt hat mein Herz tief eingefärbt – »Es faszinierte mich das verwirrende Treiben der Großstadt«).690 Der Beispielsatz, auf den sich Hisayama bezieht, stammt aus einer Erzählung im Roman, die davon handelt, dass der Hauptcharakter »Ich« zwar während seiner Ferien noch vor hatte, seinen Lehrer »Sensei« wieder besuchen zu gehen, dass die Luft (kūki) der Großstadt Tokyo, in der er zu seinem Studium wohnte und in die er von seiner Heimat aus zurückfuhr, ihn jedoch vergessen ließ, den Sensei in Kamakura tatsächlich wieder besuchen zu gehen.691 Der Protagonist sieht nun die ganze Szene im Rückblick – das Vergangene mit einem zeitlichen Abstand betrachtend. Das kūki von Tokyo wird ihm erkenn­ bar, indem er sich dessen bewusst wird, seine vorige Vorhabe völlig vergessen zu haben. So scheint ihm die qualitativ unterscheidbare »Luft« in Tokyo erkennbar geworden zu sein, gerade dadurch, dass er die Wechselungen von Lüften (zwischen seiner Heimat und Tokyo) durchging.692 So scheint es hier, als lasse sich ein kūki im Moment des aktuellen Sich-Befindens nur schwer erkennen. Es scheint, als sei man von dem kūki in dem Moment so tief verschlungen, dass dieses Eingenommen-Sein einem selbst nicht auffalle.693 688 An dieser Stelle kann es anzumerken sein, dass der Ausdruck im Französi­ schen « avoir l’air » (Luft haben) als »wirken« sowie »aussehen« im Sinne vom Hinterlassen von irgendeinem Eindruck oder Anschein verwendet wird. 689 Hisayama (2014): S. 82. 690 Natsume: Kokoro, übers. von Oscar Benl, 1994, S. 20. Hisayama führt die o. g. publizierte deutsche Übersetzung von Benl ein und fügt seine eigene Übersetzung hinzu: »Faszinierte mich das die Großstadt färbende kūki.« Vgl: Hisayama (2014): S. 82. Die wörtliche Übertragung, die sich vor der Angabe der zitierten Übersetzung befindet: Eigene Übers. 691 Vgl.: Natsume: »Kokoro« (こゝろ) in: Sōseki zenshū Bd. 9, 1994. 692 Hisayama (2014): S. 82. 693 Das dermaßen starke Eingenommen-Sein in kūki scheint einem selbst erst dann aufzufallen, wenn man einmal in einem anderen kūki angekommen (oder in ein anderes zurückgekommen) ist. Diese Art von Wechselerfahrung der Atmosphären und Stimmungen lässt sich in Betracht der Situationen schnell vorstellen, wenn man sich beispielsweise in einem Orts- sowie Kontextwechsel befindet, wie dies in

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

Ein weiterer Aspekt aus dem gegenwärtigen Wortgebrauch von »kūki« lässt sich im Ausdruck »kūki ga yomenai« (kūki nicht lesen können) finden. Der Ausdruck wird verwendet, wenn jemand aus einer Gruppe die »Situationsstimmung der Gruppe« – die »Luft« – nicht »korrekt lesen« könne und somit eine unangebrachte Aussage, Haltung sowie Verhaltensweise in die Situation bringe.694 Im Japa­ nisch-Japanisch-Wörterbuch Daijisen (大辞泉) wird der Ausdruck in Infinitivform »kūki o yomu« (kūki lesen)695 folgenderweise erklärt: »Aus der aktuellen Stimmung, die Lage der Situation zu mutmaßen. Vor allem wird dabei mit einer Vermutung geurteilt, was man vor Ort in der Situation tun soll und was nicht, was die Anderen sich wünschen und sich nicht wünschen.«696 Es ist also eine Art mit Mühe erzeugte »Einfühlung« in die Situationsstimmung, wobei dies im strengsten Sinne doch keine echte »Einfühlung« zu sein scheint.697 Der Ausdruck gilt heute als recht etabliert in der gegenwärtigen gesprochenen Sprache in Japan. Zwei konkrete Fallbeispiele hierzu können hilfreich sein, um unterschiedliche Konnotationen des Aus­ drucks vor Augen zu führen: 1. »Konpyūter wa iwaba atama ga kataku, jōkyōhandan ga nigate de, KY (kūki ga yomenai) nandesu. (sinngemäße Übersetzung: Computer sind dickköpfig und deshalb nicht geschickt darin, flexibel Situationen zu beurteilen, sie sind also KY (sie können

der Einführung Hisayamas in das Konzept der »Anpassung« erwähnt wird. (Vgl.: Hisayama (2014): S. 40f.) Es ist ein Prozess, von einer Gesellschaft zu einer anderen »umzuziehen«, von der Oberschule zur Hochschule oder Universität, von einem Studierendenleben zu einem Leben eines/einer Firmenangestellten, von der vertrau­ ten, eigenen Heimat aus in eine neue Stadt zu wechseln und sich dort jeweils neu einzuleben, aber auch, aus dem einnehmend stressigen Alltagsleben heraus, wieder die eigene Heimat mit Kindheitserinnerung besuchen zu gehen usw. 694 Vgl.: Emura (2016): S. 8. 695 Auch diese Verwendung, die zum gegenwärtigen Sprachgebrauch im Japanischen gehört, lässt sich weder in Kōjien (広辞苑) noch in Iwanami-kokugojiten (岩波国語辞 典) finden. 696 Eigene Übers. I. O.: 「その場の雰囲気から状況を推察する。特に、その場で 自分が何をすべきか、すべきでないかや、相手のして欲しいこと、して欲しく ないことを憶測して判断する。」Emura (2016): S. 9. 697 Die »Einfühlung« hier bezieht sich auf die, welche von Theodor Lipps in ver­ schiedenen Formen unterschiedlich bestimmt wird. Bei Lipps heißt die unbegrenzte Einfühlung vielmehr die ursprüngliche »Teilung der Iche« mit der Stimmung und den Anderen, die in jeglichem Sich-Befinden fundamental zu sein scheint. Vgl.: Lipps (1903): S. 187ff.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

das kūki von den Computernutzenden nicht lesen).)«698 2. »KY (kūki yome) tte kotoba, ore wa yurusenai. [...] Ore datte benkyō dame desukedo, jibun no naka ni yoi warui no kijun wa chanto tsukutte iru tsumori dakara. (sinngemäße Übersetzung: Die Worte KY (lies doch das kūki) kann ich nicht akzeptieren. [...] Ich weiß, dass ich in der Schule keine guten Noten habe/hatte, bin mir aber sicher, dass ich trotzdem ein Kriterium vom Guten und Bösen in mir [kenne und] selbst mache.)«699 Die zwei Beispiele weisen darauf hin, wie ein einziger Ausdruck Doppelgesichter zeigen und umgedreht verwendet werden kann. Das erste Beispiel zeigt eine natürliche menschliche Erwartung im Umgang miteinander, welche von Computern nicht erfüllt werden kann. Das zweite zeigt hingegen genau die kritische Dimension dieses natürlichen Erwartens. Das Selbstverständliche für jedes Individuum, das nicht nur auf der Ebene von den diesem zugehörigen Kultur(en) variiert, sondern auch bereits je nach Person unterschiedlich ist, steht sicherlich auch dem »Kriterium des Guten und Bösen« jedes Individuums nahe. So kann der Ausdruck in Imperativform »kūki o yome« (lies das kūki) je nach Situation zu einem Zwang oder Gebot eines Diktators werden, der dabei kūki heißen soll.700 So zeigt sich die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks: Einerseits kann der Ausdruck dazu appellieren, aufmerksam sowie achtsam darauf zu sein, was in der zwischenmenschlich geteilten Situation erwünscht, erwartet oder gefühlsmäßig geteilt wird. Andererseits kann der Ausdruck zu einer Hypostasierung dieser »Luft« führen, als gäbe es eine »Instanz«, die in der Situation herrscht, und an und Hier wird der Schritt einer wörtlichen Übertragung gespart. I. O.: 「コンピュー ターはいわば頭が固く、状況判断が苦手で、KY(空気が読めない)なんです。」 Beim Ausdruck »KY« handelt es sich um eine abgekürzte Form desselben Ausdrucks: kūki ga yomenai. Im nächsten Beispielsatz wird dieselbe Abkürzung für eine Impera­ tivform verwendet: KY (kūki yome). Emura (2016): S. 8. 699 Auch hier wird der Schritt einer wörtlichen Übertragung gespart. I. O.: 「KY(空 気読め)って言葉、オレは許せない。[...]オレだって勉強ダメですけど、自分の 中に良い悪いの基準はちゃんとつくっているつもりだから」 (ebd.: S. 8.) Eigene Übers.: »Kriterium vom Guten und Bösen« ist eine Notlösung – sie könnte sinngemäß auch »Kriterium dessen, was man darf und was man nicht darf« lauten. Die in Klam­ mern stehende Stelle wurde von der Verfasserin hinzugefügt. 700 So ist es möglich, die Problematik der politischen Machtergreifung sowie -aus­ übung aus diesem Diskurs herauszulesen. Hierauf wird in der vorliegenden Arbeit primär ausgehend von der Perspektive der Ästhetik einer Atmosphärenschaffung in Kapitel 4.3.2 und 4.3.3 eingegangen. 698

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

gemäß der alle Beteiligten sich orientieren, verhalten und äußern.701 So können sie alle je nach Fall zu einer bestimmten Richtung der Auf­ merksamkeit, Empfindung sowie Haltung geführt, gefordert oder auch gezwungen werden.702 Hier ist nun zu fragen: Aber wie passiert so etwas?

4.3.2 Kritische Dimensionen kollektiver Stimmungsund Atmosphärenerfahrung Trotz der ursprünglichen neutralen Bedeutung der »Luft« kann kūki (空気 leeres ki/Himmels-ki) – wie dies auch von Hisayama erwähnt wird – in extremen Fällen und je nach kūki »gravierende« Konsequen­ zen haben, wenn man in gewissem kūki unbemerkt »versunken« oder sogar auch »unterworfen« bleibt.703 An dieser Stelle sind zwei Textstellen von zwei unterschiedlichen Autoren vorzustellen: eine aus dem Buch kūki no kenkyū (空気の研究; Erforschung von kūki) von dem japanischen Gesellschaftskritiker Yamamoto Shichihei aus dem Jahr 1977, und die andere aus Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik von Gernot Böhme (1995/2017).704 Die Textstelle Yamamotos beinhaltet eine bestimmte Darstel­ lung von einer Erfahrung der kūki-Situation, die – ob zufälligerweise oder nicht – in einem historischen Kontext der japanischen totalita­ Diese Gefahr kann auch im Fall von einer Hypostasierung und Essentialisierung des in Kapitel 3.3.3 erwähnten »Zwischen« (aida 間) beobachtet werden. 702 Es handelt sich hier mitunter um eine gesellschaftlich anerkannte Form von Kodierungen und ihrer Hermeneutik, welche die Situationsentfaltung ermöglichen und unterstützen. In der zwischenmenschlichen Handlungsebene gelten die kulturell geteilten kodierten Umgangsformen als diejenigen, die im Prozess jedes menschlichen Werdegangs als ein Sozialisierungsfundament gelernt werden müssen, dessen Form je nach Kultur, in der man sich sozialisiert, variiert (vgl.: Stalfort (2013): S. 82ff. Vgl. auch: Slaby et al.: S. 243f.). Es scheint dann ein Problem aufzutauchen, wenn diese kulturell erlernte Kodierungsmanier unabhängig von den jeweils unterschiedlichen, konkreten Elementen, die vor Ort in jeglicher Situation vorhanden sind, allzu verab­ solutiert gehalten wird. Es wäre solch eine Situation, wenn eine situative »Luft« wie das von Kimura erwähnte »Zwischen« in einer zwischenmenschlichen Begegnung – wenn auch ohne dies zu wissen – verabsolutiert wird. Vgl.: Kimura (1995): S. 103. 703 Hisayama (2014): S. 83. 704 Auf die beiden Autoren bezieht sich ebenso Hisayama. Vgl.: ebd. Es ist zu betonen, dass die beiden Bücher hier nicht verglichen werden. Die Textstellen wurden ausschließlich aufgrund der Berührung der politischen Problematik einer kollektiven Erfahrung von Stimmungen und Atmosphären ausgewählt. 701

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ristischen Herrschaft während des zweiten Weltkriegs zustande kam. Die Stelle lautet: Kūki ist (wie) ein Monstergeist, der über eine wahrhaft große absolute Macht verfügt. Es könnte eine Art von übernatürlicher Fähigkeit genannt werden. Vor allem, dass das kūki etwas [hier: einen Stra­ tegieentwurf], bei dem es unter der Führungsspitze professioneller Kriegsmarine als ein »völlig klares Faktum« galt, dass es »als Strategie niemals funktioniere,« doch zu dessen Einsatz brachte, wessen Grund im Nachhinein der Hauptverantwortliche ganz und gar nicht benennen kann [...].705

Auch im Zuge einer Abstrahierung der Erwähnung von »Monster­ geist«, ist es sicherlich schnell erkennbar, was für eine einflussreiche Position dem kūki hier zugeschrieben ist. Bei dem Beispiel in diesem Zitat handelt es sich um einen Strategieentwurf706 aus der letzten Schlacht in Okinawa zwischen den USA und dem japanischen Kaiserreich am Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Entwurf soll rein aus technischen Gründen niemals realistisch gewesen sein, wurde jedoch in Wirklichkeit eingesetzt und ging mit einer der größten Zahlen an Toten und Verletzten (sowohl für die USA als auch für das japanische Kaiserreich) einher.707 Yamamoto äußert den Eindruck zu dieser Erfahrung von kūki anhand des Kommentars von Ozawa Jisaburō, dem verantwortlichen Vizeadmiral in der Schlacht: »In Betracht auf das kūki, das in der gesamten Situation zu der Zeit herrschte, dachte und denke ich – nicht nur damals, sondern auch heute noch – dass es eine selbstverständliche Entscheidung war, den Sonderangriff [von Yamato] zu initiieren.«708 So scheint eine der Eigene Übers. I. O.: 「『空気』とはまことに大きな絶対権をもった妖怪であ る。一種の『超能力』かもしれない。何しろ、専門家ぞろいの海軍の首脳に、 『作戦として形をなさない』ことが『明白な事実』であることを、強行させ、 後になると、その最高責任者が、なぜそれを行なったかを一言も説明できない ような状態に落し込んでしまうのだから、[...]。」 Yamamoto (2011): S. 19. Die in Klammern stehenden Stellen wurden von der Verfasserin hinzugefügt. 706 Die Textstelle bezieht sich auf den Sonderangriff vom Yamato-Kriegsschiff (Yamato no Tokkō (大和の特攻) – bekannt als Schlacht vor Bōnomisaki (Bōnomisa­ kioki-kaisen (坊ノ岬沖海戦)), der als die letzte Schlacht (im Jahr 1945) zwischen dem japanischen Kaiserreich und den USA in Okinawa gilt. Vgl.: Yamamoto (2011): S. 15f. 707 Zöllner fasst die Zahlen folgenderweise zusammen: »[I]n ihrem Verlauf starben mehr als 110.000 Japaner, darunter viele Zivilisten, und 12.000 Amerikaner.« Vgl.: Zöllner (2013): S. 382. 708 Eigene Hervorh. Es handelt sich hier um einen Kommentar von Ozawa Jisaburō (小沢治三郎), dem Vizeadmiral des Admiralstabs des japanischen Kaiserreichs (im 705

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

gravierenden Konsequenzen in der Erfahrung von kūki offensichtlich mit der Frage um Leben und Tod zu tun zu haben, ähnlich wie bereits in Kapitel 4.2 für kehai bzw. kewai (etwa ab der Muromachi-Zeit: 14. Jh.) vermutet wurde. Gernot Böhme weist ebenso auf eine kritische Dimension in der Atmosphärenerfahrung hin, jedoch gezielt vom Blick auf die Schaffung der Atmosphäre aus: Der Hinweis auf das weiterverbreitete und in vielen Berufen spezifi­ zierte Wissen darum, wie man Atmosphären macht, legt zugleich den Gedanken nahe, daß mit diesem Wissen eine bedeutende Macht gegeben ist. Diese Macht bedient sich weder physischer Gewalt noch befehlender Rede. Sie greift bei der Befindlichkeit des Menschen an, sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert die Emotionen. Diese Macht tritt nicht als solche auf, sie greift an beim Unbewußten. Obgleich sie im Bereich des Sinnlichen operiert, ist sie doch unsichtbarer und schwerer faßbar als jede andere Gewalt.709

Dadurch, sowie durch das Wissen dessen, dass ein künstlerischer Akt sowie eine künstliche Bearbeitung von Materien Atmosphären erzeugen können, besteht die Gefahr, dass entweder das Schaffen der Atmosphäre oder die erzeugte Atmosphäre für bestimmte Zwecke instrumentalisiert werden können. Böhmes Kritik hier bezieht sich auch auf die Ästhetik in der Politik, die ebenfalls zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, im Nationalsozialismus, missbraucht wurde.710 Er sieht jedoch zur gleichen Zeit einen direkten Zusammenhang mit einer gegenwärtigen, bedauerlicherweise längstens etablierten Tendenz der Konsumgesellschaft, die von Böhme unter dem Stichwort »ästheti­ sche Ökonomie« erklärt wird.711 Jahr 1945), der zwanzig Jahre später nach dem Krieg publiziert wurde. Yamamoto weist auf die Quelle jedoch ohne die Seitenangabe hin: Bungei Shunjū (文藝春秋), Tokyo 1975 (Aug.)). I. O.: 「全般の空気よりして、当時も今日も(大和の)特攻出撃は 当然と思う。」Eigene Übers. Yamamoto (2011): S. 15f. Die in Klammern stehenden Stellen wurden von der Verfasserin hinzugefügt. 709 Böhme (2017): S. 39. 710 Böhme verweist auf die folgende Literatur: Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, 1991. Vgl.: Böhme (2017): S. 43f. 711 Die »ästhetische Ökonomie« führt Böhme folgenderweise ein: »Als ästhetische Ökonomie ist eine bestimmte Entwicklungsphase des Kapitalismus zu bezeichnen, in der sich die fortgeschrittenen westlichen Industrienationen gerade befinden. [...] Design ist alles – dieser Slogan hätte hier seinen Platz. Aber zur Kritik ist es noch zu früh, bevor nicht anerkannt ist, daß es ein legitimes Bedürfnis von Menschen ist, durch Gestaltung ihrer Umgebung bestimmte Atmosphären zu produzieren und sich selbst

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

In Bezug auf die Darstellung einer Erfahrung von kūki bei Yama­ moto ist es in jedem Fall wichtig, die geschilderte Situationsstim­ mung von der bewusst erzeugten Atmosphäre zu unterscheiden. Es scheint jedoch notwendig zu sein, zu pointieren, dass die von Böhme angesprochene »Macht« der Atmosphäre, die »beim Unbewußten« »angreift«, als nicht nur auf die bewusst erzeugte Atmosphäre, sondern auch auf die unbemerkt entstandene Situationsstimmung bezogen zu betrachten ist.712 Denn es ist kaum zu leugnen, dass die beiden Erfahrungshorizonte – gesehen vom Standpunkt des ki-Wort­ feldes – durchaus in einem Kontinuum stehen. Wir machen ständig Stimmungen und Atmosphären (mit), auch ohne darum zu wissen, auch in diesem Hier-und-Jetzt – indem wir eine Lampe anschalten, ein Fenster im Zimmer aufmachen oder jemanden (auf irgendeine Art und Weise) ansprechen. Diesbezüglich schlägt Böhme Folgendes vor: Es genügte schon, ein Wissen von ihrer Machbarkeit zu verbreiten, um ihre suggestive Kraft zu brechen und einen freieren und spielerischen in Szene zu setzen. Das Atmosphärische gehört zum Leben, und die Inszenierung dient der Steigerung des Lebens. [...] Dann aber, nach Feststellung der Legitimität von Selbstinszenierung, hat die Kritik der ästhetischen Ökonomie das Wort. Gemessen an den elementaren Bedürfnissen des Lebens und Überlebens, gemessen an der Tat­ sache, daß weltweit diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, offenbart sich der Kapitalismus westlicher Industrienationen als Verschwendungsökonomie. [...] Sie befriedigt nicht elementare Bedürfnisse, sondern reizt beständig die Gier nach Lebens­ steigerung. Das ist eine herbe Kritik, das ist eine moralische Kritik und deshalb in gewisser Weise eine äußerliche. [...] Das reicht von der akustischen Möblierung, die eine freundliche und entspannte Einkaufsatmosphäre erzeugen soll, geht über die fantastische Scheinwirklichkeiten unserer Malls und Einkaufscenter und reicht bis zur Suggestion und dem immateriellen Verkauf von ganzen Lebensstilen. Es sind neue Phänomene der Befangenheit, Entfremdung und Verblendung, die hier erzeugt wer­ den. Die Kritik, die hier zu leisten wäre, fiele einer Ästhetik der Atmosphären zu.« Böhme (2017): S. 45ff. 712 Diese zwischenmenschlich oder kollektiv geteilte Erfahrung von »Homosphäre« aus Hisayamas Sphärentheorie scheint in manchen Fällen der Erfahrung des soge­ nannten »Flows« aus dem alltäglichen Sprachgebrauch nahezustehen. In diesem Bezug können die folgenden Formulierungen Elberfelds erhellend sein: »Diese Art des Geschehens ist weder besonderen mystischen Augenblicken vorbehalten, noch ist es an esoterische Praktiken gebunden. Alle Menschen kennen diese Art des Gesche­ hens, in dem man die Zeit vergisst, alles wie von selbst zu verlaufen scheint und man am Ende aufwacht, ohne genau erklären zu können, wie es zu der Intensivierung der Situation gekommen ist. Diese Verdichtungen können aber auch in negativer Hinsicht erscheinen und werden dann mit Formulierungen verbunden wie ›es ging schief‹, ›es hat sich alles gegen mich gewendet‹, ›ich habe jede Kontrolle verloren‹.« Elberfeld (2021): S. 101f.

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

Umgang mit den Atmosphären zu ermöglichen. Ihrer Natur nach sind Atmosphären ergreifend und von einer unauffälligen Aufdringlichkeit. Es sind Wirklichkeiten, die sich als Realität geben.713

So scheint eine Notwendigkeit zu bestehen, uns nicht nur als »Rezi­ pient:innen« der Atmosphären, oder als deren »Produzent:innen« anzuerkennen, sondern uns uns selbst auch einzugestehen, als deren (Mit-) oder Verursacher zu wirken.714 Nicht nur das bewusst voll­ zogene Schaffen der Stimmungen und Atmosphären, sondern auch deren unbemerktes oder unbewusstes Entstehen, bzw. eigenes even­ tuelles Beitragen zu derer Entstehung und Erzeugung können und sollten im Augen behalten werden. Es entsteht und ist um uns herum immer schon irgendwelche Atmosphäre, bemerkt oder unbemerkt, auch in diesem Augenblick.715 Und was wäre nun, wenn sich diese zu einer Stimmung umwandelte, in der nicht nur eigenes, sondern auch ein kollektives Urteil oder eine kollektive Entscheidung beeinflusst oder beeinträchtigt wird, oder in der irgendwelche logische Konse­ quenzen von Urteilen oder Entscheidungen kollektiv ausgeblendet werden?716 713 Ebd.: S. 47. Bruce Bégout, ein französischer Philosoph, bezieht sich reichlich ebenso in seinem Buch Le concept d’ambiance auf den ästhetischen und ethischen Standpunkt Böhmes. Siehe auch: Bégout (2020): S. 389ff. 714 Die Begriffe »Rezipient« und »Produzent«, von denen hier die Idee herrührt, stammen ursprünglich von der Schrift Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik: Böhme (2017): S. 25. 715 Bezüglich der Entstehung von ki vom »Zwischen« zwischen Mensch und Mensch macht Yamaguchi die folgende Zusammenfassung der Sicht Kimuras: »Dieses Atmo­ sphärische ist aber nicht erst dann entstanden, wenn zwei Menschen einander begeg­ nen und mit bestimmten Absichten eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen ver­ suchen. Man kann dieses Atmosphärische zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Umwelt selbst nicht individualistisch auffassen, weil das stimmungsmäßige Befinden und Fühlen des Einzelnen nach Kimura seine Herkunft genetisch aus der zwischenmenschlichen Beziehung bezieht. ›Die Begegnung zwischen zwei Menschen bedeutet also das Entstehen einer neuen Atmosphäre, die zwischen ihnen und ihrer Umwelt jeweils von Moment zu Moment dynamisch anhebt.‹« Yamaguchi (1997): S. 62f. Zitatstelle zitiert von Yamaguchi aus: Kimura: »Mitmenschlichkeit in der Psychiatrie, Ein transkultureller Beitrag aus asiatischer Sicht«, in: Zeitschrift für kli­ nische Psychologie und Psychotherapie. 19, Nr. 1, 1971, S. 8ff. Wie von Yamaguchi selbst erwähnt wird, fehlt in der Ansicht ein analytischer Blick zur Entstehungsweise »des Ki« aus dem »Zwischen«. 716 Auf die Kriegsschuld Japans, die als ein Teil der Menschheitsgeschichte unaus­ löschlich bleibt, kann hier nicht eingegangen werden. Es ist jedoch zu betonen, dass es notwendig scheint, zunächst einmal selbstkritisch wahrzunehmen oder wahrzuha­ ben, dass der Mensch auch unbemerkt Atmosphären schafft. Nicht nur aufgrund

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

4.3.3 kūki und »immersion« in Affective Societies In Bezug auf die mögliche Frage, wie sich die Situationsstimmungen und -atmosphären bilden, auch ohne jegliche Absicht, scheint die interdisziplinäre Forschungsgruppe Affective Societies717, anhand der seit der Scholastik etablierten Terminologien wie Affektion (affectio) und Affekt (affectus) sowie basiert auf deren eigener Auslegung, einen gewissen Ausweg entdeckt zu haben. Innerhalb ihrer recht systematischen Forschung lassen sich zwei aufeinander verweisende Phänomenbereiche finden, die für eine Betrachtung der kūki-Erfah­ rung erhellend sein könnten: »immersion« und »resonance«.718 Hier wird also primär die Erfahrung der unbemerkt entstandenen Atmo­ sphäre fokussiert. Immersion719 als ein Phänomenbereich galt nach dem Mitau­ tor Rainer Mühlhoff und der Mitautorin Teresa Schütz aus der der eigenen Nationalität(en), sondern vielmehr im Namen der Verantwortung des Mitmenschseins, ist es unvermeidlich, sich auch die Schattenseite der menschlichen Geschichte anzuschauen, dabei in den Augen behaltend, dass manche Entfaltungen von kollektiv geteilter Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung kritische Konsequen­ zen tragen können. Erst dann scheint es möglich zu sein, sich überhaupt den Fragen zu stellen, was für Atmosphären auf welche Art und Weise zu machen sind, und wie mit welchen Atmosphären umzugehen ist. 717 In der vorliegenden Arbeit wird sich auf ihre gleichnamige Publikation Affective Societies (2019) bezogen. Die in der Forschungsgruppe einbezogenen wissenschaft­ lichen Disziplinen lauten: Philosophie, Sozial-, Kulturanthropologie, Psychiatrie, Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft, Theater­ wissenschaft und Biologie. 718 Die Grundhaltung der Forschung wird folgenderweise zusammengefasst: »This work neither assumes a dichotomous opposition between affectivity and rationality, nor does it consider affect to be a private, inner, exclusively ›subjective‹ affair. Instead, it foregrounds the situatedness of affect and emotion and emphasizes the dynamic relationality of affective processes in their embodied and embedded specificity and with regard to their efficaciousness as forceful relations in various local and translocal contexts.« Slaby et al. (2019): S. 4. Zu Charakteristiken des ki-Wortfelds siehe: Kapitel 3.3. 719 Mühlhoff und Schütz nennen in ihrem Kapitel »immersion, immersive power« zunächst zwei große Beispielbereiche: 1. »immersive arts«, unter denen verschiedenste Ansätze verstanden werden, in denen die Rezipienten der Kunst (»performance event«) von der Kunst »immersiert« (immersed) werden, in dem Sinne, dass sie nichts anderes tun können, als in dem Setting der Performance mit zu interagieren. Hierzu zählen methodisch »mobilizing the spectator, through the use of Virtual Reality (VR) or Augmented Reality (AR) tools, or through participatory techniques that involve the audience members in a situation, narration, or instruction.« (ebd.: S. 231). Es han­

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

Forschungsgruppe bisher tendenziell als der Gegenstand von Diskur­ sen im Zusammenhang mit Technologien (wie z. B. virtual reality oder cyber space etc.).720 Dieser Tendenz gegenüber positioniert sich der affekttheoretische Ansatz der Forschungsgruppe jedoch eher kontrastierend: In ihrem Ansatz werden die Phänomene und die Situationen, die sich als immersion bezeichnen lassen, gerade aus unserem alltäglichen Leben heraus betrachtet. Für die Forschenden ist die Immersion »a lived form of intersubjectivity and affectivity in a spectrum of lifeworld settings«721. Der Begriff wird von ihnen folgenderweise eingeführt: The English term »immersion« derives from the Latin verb immergere and offers a constellation of at least three slightly different meanings. First, it can refer to the act of immersing, and second, to the state of being immersed in a surrounding medium, for instance a person in water. In both cases, immersion is used transitively: somebody or something is immersed into another substance, in the sense of submersion or »diving in.« Notably, both the immersed object and the medium remain distinct in this connotation of the word. A third meaning of immersion refers to the extensive exposure of a person, for instance, to a foreign culture or language environment for the purpose of learning. In this case, immersion addresses a way of deep bodily and mental involvement up to the point of absorption and amalgamation aimed at transforming the individual. This third facet of meaning derives from the verb »to merge,« which is connected to »immersion« through the Latin verb immergere. Immersion in the sense of merging suggests the amalgamation, fusion, or coalescence of an immersed individual within something else.722

Strukturell gesehen scheint der erste Aspekt der immersion hier den Akt der Atmosphärenschaffung zu betreffen, während sich die Erfah­ delt sich hier um einen Bereich künstlerischer Erfahrung. Als ein repräsentatives Bei­ spiel wird die dänisch-österreichische Theaterspiel-Gesellschaft SIGNA genannt. 2. »Human Resource Management (HRM) in post-industrial work cultures«; der Begriff beschreibt heutige Führungsstrategien in Unternehmen, die den Lebensstil auf der Arbeit (»lifestyle environments at work«) für sowohl Unternehmen als auch für die Arbeitnehmenden vorteilhaft zu gestalten neigen: »In these settings, employees engage in a full spectrum of social, affective, psychological, and cognitive registers. In intensive and holistic environments, workers are simultaneously stimulated and har­ nessed at the level of their intrinsic motivational dispositions.« Ebd.: S. 232. 720 Vgl.: ebd. 721 Slaby et al. (2019): S. 231f. 722 Ebd.: S. 232f.

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rung von kūki eher zwischen dem Zweiten und dem Dritten zu bewe­ gen scheint. Im Vergleich zum Dritten, ist der zweite Aspekt dadurch gekennzeichnet, dass die Unterscheidung zwischen dem Medium des Immersierens und dem Immersierten »distinkt« zu bleiben scheint.723 Demgegenüber scheint diese Unterscheidung im dritten Aspekt ver­ schwommen. Bemerkenswert ist, dass der Ausdruck »immersion« auch im Bereich des Fremdsprachenerwerbs beispielsweise gebräuch­ lich ist, um von einem erwünschten, natürlichen und notwendigen Vorgang des Lernens zu sprechen.724 In dem Ansatz wird mit den Termini »affects«725 sowie »affec­ tion«726 eine Erklärungsweise gesucht, in der jede:r Beteiligte der Situation als Träger bestimmter psychologischer und biographischer Dispositionen727 verstanden wird. Die Reaktionen der Zusammen­ setzung verschiedener Dispositionen manifestieren sich in Form von Resonanzen,728 die durch die vorausgesetzte Relationalität729 Ebd. Im Übrigen gilt die Bezeichnung «immersion« in Diskursen zur Methodik der Didaktik sowohl der Fremdsprachen als auch des Bilingualismus als ein Konzept einer Methodik. Vgl.: Swain und Johnson: »Immersion Education – a Category within Bilin­ gual Education«, in: Immersion Education – International Perspectives, 1997, S. 1–16; Dausend: Fremdsprachen transcurricular lehren und lernen – ein methodischer Ansatz für die Grundschule, 2014, S. 116–132. 725 In Affective Societies wird der Affektbegriff zunächst als »relational dynamics between evolving bodies in a setting« definiert. Dies macht deutlich, dass die For­ schungsgruppe den Ansätzen nicht folgt, die Affekte als »inner states, feelings, or emo­ tions« verstehen. Ebd.: S. 26. 726 Mithilfe der Begriffe »affectus« sowie »affectio, affectiones« aus Baruch de Spi­ nozas Ethik sowie anhand deren Interpretation von Gilles Deleuzes stellt Jan Slaby drei Dimensionen aus den Termini heraus: »(1) a relational ontology; (2) a constitutive interplay of affecting and being affected; (3) a dynamic and polycentric understanding of power.« Ebd.: S. 28. 727 Affektive Disposition wird in Affective Societies folgenderweise bestimmt: »An affective disposition is an individual’s repository of affective traces of past relations, events, and encounters, acting in the present as potentials to affect and be affected. […] The concept ’affective disposition’ is coined specifically to describe couplings of active and receptive inclinations of a body as part of its striving for self-preservation (conatus) and is thus very close, but not identical, to what is called potentia in Spinozism. […] an affective disposition is inseparably a bodily and a mental entity (see Spinoza’s parallelism theorem, → affect). It manifests in forms of embodiment and in the relational dynamics of being a social body among social bodies. […].« Ebd.: S. 119. Eigene Hervorh. 728 Zum Phänomen der Resonanz sowohl aus der europäischen als auch der ostasia­ tischen Sicht siehe auch: Elberfeld (2017): S. 274–327. 729 Slaby et al. (2019): S. 109. 723

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der reziprok wirkenden Affektivität stetige affektive Bewegungen hervorrufen.730 Die affective resonance wird von Mühlhoff folgender­ weise bestimmt: Affective resonance is a type of relational dynamics of affecting and being affected, characterized as a process of reciprocal modulation between interactants. Resonance is a relational and processual phe­ nomenon. It is neither a singular affective »state« nor a one-sided transmission of affect, such as in contagion, but arises through a complex interplay between the affective dispositions […] of multiple individuals and contextual factors within an affective arrangement […]. Here, active and receptive affects are in a permanent coupling that cannot be explained as a chain of unilateral actions (A affects B, then B affects A and so on).731

Hier zeigen die Resonanzen der transformativen Dispositionen732 jedes beteiligten Individuums eine kraftähnliche Charakteristik auf.733 Sie werden nicht als solche bestimmt, die der linearen Kau­ salität (»A affects B, then B affects A and so on«) folgen, sondern als solche, die reziprok aus stetigem und gegenseitigem Affizieren und Affiziert-Werden bestehen.734 Zu erwähnen ist, dass affektive Relationen, die sich in Form von affektiven Resonanzen manifestie­ Ebd.: S. 236. Vgl.: »Paradigmatic examples of affective resonance can be found in empirical studies of the infant–caregiver dyad. In particular, the concepts of ›vitality affects‹ and ›affect attunement‹ coined by the American developmental psychologist Daniel Stern (1985/2000) are precursors of the philosophical concept of affective resonance proposed here.« Ebd.: S. 190. 731 Slaby et al. (2019): S. 189. 732 Weiter zu affective dispositions: »Or it can manifest as a specific susceptibility to be at the disposition of the present field of affective relations due to the way the person’s specific affective disposition is captured, harnessed, and thereby modulated in a certain relational context. This duality of contributing to the situation and at the same time being shaped by it is at the heart of the concept of an affective disposition.« (ebd.: S. 119f.). Es scheint hier in einer affektiven Disposition trotz deren Veränderbarkeit bzw. Umformbarkeit, die hier genannt wird, eine gewisse Kohärenz zu sehen zu sein. 733 Auf die kraft- sowie machtähnliche Charakteristik der Resonanz wird folgender­ weise eingegangen: »Phenomenologically, and from the first-person perspective, res­ onance is primarily intensive or force-like (›gripping,' ›carrying away,' ›explosive,' and so forth). Affective resonance is a subtle and ephemeral phenomenon that per­ vades most face-to-face social interaction. The concept is geared primarily toward explaining dyadic and small group interactions rather than masses and large-scale affective dynamics, although mass affects can also be seen as an example of resonance. « Ebd.: S. 188. 734 Slaby et al.: S. 189. 730

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ren, in ihrem Ansatz u. a. als zentrale Faktoren für den Prozess der Subjektbildung (subject formation) sowie der Transformation des Subjekts angesehen werden.735 Die Resonanzen hier entstehen durch die reziproke Relatio­ nalität der Affektivität, hervorgerufen mit biographisch gebildeten Dispositionen der jeweiligen Beteiligten der Situation, die jedoch wiederum durch die Resonanzen selbst beeinflusst oder umgeformt werden können. Das gegenseitige Affizieren sowie Affiziert-Werden manifestiert sich in »gegenseitiger Modulierung der Gesichtsausdrü­ cke, Geste, oder Melodie, Intonation, und Betonung während der Konversation, oder aus fortdauerndem Verhältnis«736. Vom Stand­ punkt des ki-Wortfelds aus gesehen fehlt hierbei noch ein anderes leibliches Moment der Entfaltung von Resonanzen, mit dem der Ansatz von Affective Societies sicherlich problemlos ergänzt werden kann: Riechen und Atmen der Luft bzw. Tasten und Getastetsein von der Atmosphäre. Der Ansatz der Affective Societies befreit sich von der mögli­ chen Fragestellung, womit und durch welchen Faktor die Schaffung sowie Entstehung bestimmter Stimmung und Atmosphäre zustande kommt, dadurch dass das Affizieren und Affiziert-Werden in einer geteilten Situation immer schon als ein von einer Kausalitätskette unabhängig fortlaufendes Phänomen betrachtet wird.737 So ist es – vom affekttheoretischen Standpunkt aus – möglich zu sehen, dass auch das unbemerkt entstandene kūki durch die unbemerkt laufenden Kommunikationen der Dispositionen jedes beteiligten Individuums bzw. durch die affektive Resonanz zustande kommen kann. So wie sich der Leib vorreflexiv auf die Umgebung einstellt – wie dies in der »Diskrepanzerfahrung« sowie Erfahrung der »Heterosphäre« zu

735 Hierzu wird erläutert: »affective relations constitute human and non-human actors, insofar as affective relations over time both establish and subsequently mod­ ulate – make, unmake, remake – individual capacities and dispositions. In other words, relational affect is a central factor in the process of subject formation. Moreover, rela­ tional affect is a driving force in the formation and subsequent consolidation of larger aggregates of bodies, that is, in processes of collectivization.« Ebd.: S. 27. 736 I. O.: »Elementary cases are the mutual modulation of facial expressions and ges­ tures, or of melody, intonation, and accent during a conversation or in a persistent relationship.« (ebd.: S. 189). Eigene Übers. 737 Hier spielt sicherlich eine Art Kombination der Dispositionen eine entscheidende Rolle, wenn es sich um die Entfaltungsweise der Resonanzen handelt.

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

sehen war – kommunizieren wahrscheinlich auch unsere affektiven Dispositionen miteinander – sehr wahrscheinlich unbemerkt.738 Als Letztes kann noch die dritte Dimension des Immersionsbe­ griffs anhand eines Sprachlernmodells hervorgehoben werden, in dem die Lernenden in die Sprachwelt und Sprachkultur eintauchen.739 Dort werden über verschiedenste Grenzen eigener Selbstverständlichkeiten hinweg, nicht nur die Denkweise, sondern auch die Wahrnehmungsund Fühlweise mit transformiert.740 Dies stützt sich sicherlich auf die fundamentale Weltbezüglichkeit jedes Individuums, die sich durch eine Fluidität des leiblichen Sich-Befindens kennzeichnet. So gesehen scheint auch der natürliche Lernprozess der Muttersprache bzw. ein natürlicher Vorgang des menschlichen Wachstums nichts Anderes als ein dynamischer Ort zu sein, in dem sich Subjekte herausbilden, die sich über ihre jeweils aktuellen Selbstverständlichkeiten hinweg transformieren. Dieser Vorgang stützt sich auf die in den vorigen Kapiteln eingeführte impersonale Erfahrungsebene: Es ist ein Ort, in dem alle die verschiedenen, sowohl physischen als auch meta-phy­ sischen Elemente inklusive der transformativen Dispositionen jeden Individuums beispielsweise impersonal und vorprädikativ kommuni­ zieren, wo sich erst die Subjekte herausbilden. Auch ein allzu homogenes kūki, in dem quasi keine aktive Subjek­ tivität herausgebildet werden kann, scheint so – bewusst oder unbe­ wusst – gebildet und geformt zu werden, zunächst anhand des Wie des menschlichen Sich-Befindens, aber auch anhand des Was vom Sich-Befinden, inklusive der transformativen affektiven Disposition. So erhebt sich erneut die Wichtigkeit der bewussten Wahrnehmung der Atmosphären und Stimmungen, in denen man sich befindet. Die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen der Pansphäre und einem allzu homogen eingestellten kūki scheint sich somit darin zu kris­ tallisieren, ob sich die in der Situation Beteiligten als die sich von jedem anderen unterscheidbaren Subjekte herausbilden oder aktiv daran tätig sind. Hisayama formuliert: »In ihr (der Pansphäre) wird das Ich zwar dezentralisiert, aber dort gibt es einen Mitvollzug von Atmosphäre durch die Leibessphäre, an dem das Ich sich seiner selbst

738 739 740

Vgl.: Böhme (2001): S. 46, Hisayama (2014): S. 39f. Siehe auch: Kapitel 4.2.3. Slaby et al.: S. 232. Vgl.: Yamaguchi (2004): S. 7f. Vgl. Auch : Lucken (2022): S. 295.

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völlig bewusst bleiben kann.«741 Dies heißt etwa: Auch die Erfahrung der Pansphäre ist ein Vollzug. Die Mitbeteiligten der Pansphäre haben oder strahlen möglicherweise eine harmonische Stimmung (aus) – wenn auch unbemerkt und unbeabsichtigt –, in der sie jedoch jeweils bei sich tätig bleiben.742 In einem hohen Konzentrationsmodus, wie in der Immersionserfahrung in eine Fremdsprache und deren Kultur 741 Hisayama (2014): S. 43. Hisayama führt die Pansphäre folgenderweise ausführ­ licher aus: »Die Erfahrung der Pansphäre bezeichnet den subjektiven Mitvollzug des objektiven Geschehens. Dieser Bewusstseinszustand ist im Prinzip überpersonal, d. h. so, dass es sich gar nicht mehr um das Ich handelt, denn in der Pansphäre durchdringen sich das Ich und die Welt so vollkommen, dass alle Gegensätze aufgehoben werden. Die Pansphäre als eine derartige Sphäre wird deshalb nicht vergegenständlicht gespürt, und aus diesem Grunde ist ihre Beschreibung sehr schwierig.« (Hisayama (2014): S. 42) Demgegenüber charakterisiert sich »eine radikale, »total homosphäri­ sche« Erfahrung« mit einem einhergehenden Bewusstseinsverlust sowie dem Zustande, in dem man sich dessen nicht bewusst ist. Vgl.: ebd.: S. 43. 742 Mit der Erfahrung der Pansphäre könnte die reine Erfahrung (純粋経験) aus der Früh-Philosophie Nishida Kitarōs in Parallele gestellt werden, wobei der Schilderung Nishidas die Dimension der Intersubjektivität zu fehlen scheint. Vgl.: Nishida: Nishida Kitarō Zenshū 1 (西田幾多郎全集 1), 1965, S. 11. Nishida bezieht sich auf Musikspielen als ein Beispiel von diesem Erfahrungsmodus: Wie ein Musiker ein gut eingeübtes Lied spielt. (Vgl.: ebd.) Es zeigt sich ein konkretes Beispiel der Pansphäre sowie der reinen Erfahrung in der Gegenwart nicht nur im wortwörtlich »harmonisch« klingenden Musikspielen von Orchester oder Chor, aber auch beispielsweise in man­ chen Konzertszenen aus dem Bereich Free-Jazz. Das fortlaufende Spielen entfaltet sich – trotz der Ungebundenheit an Normen der Harmonien oder Rhythmik wie z. B. in dem Bereich klassischer Musik üblich – als ein einheitliches Musikstück. Jede und jeder geübte Spielende lässt sich mit anderen Spielenden zusammen in der vor Ort entstehenden Dynamik der Resonanz fließen, indem jede:r stetig antwortend bleibt und jeder/jedem stetig geantwortet wird. Es ist in jedem Fall zu erwähnen, wie der Resonanzbegriff, sowohl »ausgehend von naturwissenschaftlichen wie auch ausgehend von geisteswissenschaftlichen For­ schungen zu einer Grundkategorie des Lebens überhaupt werden kann.« (Elberfeld (2017): S. 289.) Zum Bereich Resonanz in Diskursen der Zwischenmenschlichkeit hebt Elberfeld ebenso hervor, dass das kollektive Musikspielen (bzw. »Zusammen­ klingen«) im alten China eine entscheidende Rolle für eine Entstehung der »natürli­ chen« und »ethischen« »Ordnungen« spielte, welche als fruchtbar für die Bildung der Tugend (徳) betrachtet wurden. Hierzu bezieht sich Elberfeld auf Yueji (楽記) aus Liji (禮記) und stellt ferner anhand der Lehren zum »musikalischen Ethos« der alten Griechen seit der Zeit der Pythagoreer fest, dass trotz der bestehenden Gemeinsamkeit in den Stichwörtern »Musik« und »Ethos« in Bezug auf die Bildung der Tugend ein Unterschied zu finden sei: Während die Musikerfahrung bei den alten Griechen, »in der Einzelseele eine Übereinstimmung (symphonia) der Empfindung mit dem logos« (arete) bedeutet habe, sei die Tugend im alten China im kollektiven Klingen des zwi­ schenmenschlichen Vollzugs der Musik zu entdecken. Vgl.: Elberfeld (2017): S. 275ff.

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4.3 Kollektive Stimmungs- und Atmosphärenerfahrung und deren Grenzen

beispielsweise, gibt es kaum einen Platz für das »gefühlte Ich« – zumindest für eine Zeit lang, nicht nur weil es zum Teil um die Frage um Leben oder Tod geht, sondern auch weil man dort das »Ich« nicht im Fokus hat. Es ist dennoch das »Ich«, welches all das neu Zukommende wahrnimmt, deren jeweiligen Strukturen erkennend, weiter auf all die Neuheiten antwortend. Im Fall von einer Immersion in Fremdsprachen oder (fremde) Kulturen stehen auch die Mitmenschen dieses immersierte »Ichs« davon sicherlich nicht unberührt: Auch sie können selbst konfrontiert werden, beispielsweise mit manchen Gewohnheiten ihrer eigenen Kultur(en). Die Wellen breiten sich aus und so ist der folgende Punkt aus den vorherigen Darstellungen herauszuheben: »Immersion is therefore not to be understood as a one-directional absorption or submersion of someone into something, in which each entity remains discrete and fixed, but rather as a mutual transformation of both.«743 So ist jedes Mitglied einer kollektiv geteilten Situation, bewusst oder unbewusst, für jegliche Entstehung des kūki mit zuständig – sei es durch die Resonanzen und anhand von deren »affektiver Disposition«, sei es durch die Oszillationen in der Luft (ebenso kūki auf Japanisch) –, wie es auch die klassische Definition der Resonanz in der Physik deutlich macht.744 Slaby et al. (2019): S. 233. Dieser Zusammenhang soll mit folgender Stelle aus Affective Societies ergänzt werden: »The concept of resonance has its origins in the physics of mechanical and acoustic vibrations, where it describes a particular phenomenon in the interplay of multiple oscillating systems. A detailed look at some of these physical phenomena will reveal three features of the concept of resonance, which also apply in the realm of affectivity. Resonance in classical mechanics refers to the fundamental observation that the degree to which an oscillatory system can be induced to oscillate by coupling to another oscillating system is highly sensitive to the frequency of that other system (Tipler, 1999; Morse, 1948). For example, the extent to which a child on a playground swing can be made to swing depends on the frequency of the periodic pushes exerted by another person or by the child’s own legs. Simple systems usually have one specific frequency, called resonance frequency, at which it can much easier be induced to oscil­ late than at other frequencies. In resonance, the coupled system hits precisely that frequency. Resonance is thus a very specific and selective case of interaction in which the least effort has the greatest effect in terms of induced vibration. […]) The most interesting cases of resonance occur when multiple oscillating systems are coupled to form, as a whole, a new dynamic system. Such composite systems can enter a state of (internal) resonance, which mutually modulates the oscillations of each subsystem. This is the case, for example, with the three Jupiter moons Ganymede, Europa, and Io, which, in terms of their rotation around the planet, are in a state of ›orbit-orbit 743

744

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

4.4. Fazit des Kapitels Aus der Untersuchung der drei Ausdrücke lässt sich eine markante Charakteristik entdecken: Jedes einzelne Erlebnis von »ki ga suru«, »kehai« und »kūki« ist – von der deutschsprachigen Perspektive aus gesehen – im Grund genommen als eine Entfaltung, Entwicklung sowie ein Vollzug von den (heute) als verschiedenartig beobachtbaren und somit unterscheidbaren Wahrnehmungen, Empfindungen, Ein­ drücken und Urteilen zu verstehen. Die verschiedenen, ganzleiblichen Wahrnehmungen vollziehen und entfalten sich auf eine mediale Art und Weise, (noch) vorsprachlich und impersonal. Wenn irgendein »ki tut« (ki ga suru), so hat sich das leibliche Situiertsein auf eine Art und Weise gemeldet: Als ein Lautwerden irgendeines Eindrucks, der sich bereits im impersonalen synästhetischen Wahrnehmungsvollzug vor Ort herausgebildet hat. Kehai ist ebenso eine Erfahrung, die den Wahrnehmungsvollzug verschiedener Sinne betrifft. Die Erfahrung charakterisiert sich durch das leibliche Spüren irgendeiner Art von Anwesenheit, die jedoch schwer zu präzisieren wirkt. Kūki pointiert demgegenüber die Doppeldeutigkeit in Mechanismen menschlicher vorprädikativer Kommunikationen, die häufig unbemerkt laufen kön­ nen. Doppeldeutig sind diese im Sinne, dass das kūki als solches, das die ursprünglich neutrale »Luft« je nach Situation, Ort oder Stadt, und/oder die Subjektbildung jedes Individuums nicht nur auf irgendeine Art und Weise beeinflussen kann, sondern diese auch entweder fördern und stiften oder verhindern kann. resonance,‹ as it is called in celestial mechanics (Murray & Dermott, 1999, p. 9; see also Mühlhoff, 2015, 2018). Empirical observation shows that Io turns exactly four times, Europa two times faster than Ganymede. These exact integer ratios deviate from what is obtained when the individual rotation frequency of each moon is calculated using Newton’s law of gravitation. In reality, moons do not rotate individually around the planet, but influence each other through their reciprocal gravitational forces. They are in relations of mutual affecting and being affected by one another that are perfectly simultaneous with respect to activity and passivity. This entanglement of moving and being-moved in relation causes the moons to mutually modulate each other in their rotational frequencies. This is a phenomenon of resonance, and interestingly, it is a case where resonance does not result in identical motions because the frequencies of the moons remain different. As it turns out, the solar system is full of such rotational resonance couplings, and that makes it dynamically stable.« (ebd.: S. 191.) Die im Zitat genannten Bücher sind: Paul A. Tipler: Physics for Scientists and Engineers, 1999. Philip M. Morse: Vibration and Sound, 1948. Die zitierten Bücher sind: Murray und Dermott: Solar System Dynamics, 1999; Mühlhoff: »Affective Resonance and Social Interac­ tion«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences, Bd. 14 Nr. 4, 2015, S. 1001–1919.

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4.4. Fazit des Kapitels

Die affektive Disposition aus dem Ansatz der Affective Societies lässt sich in der vorliegenden Arbeit teilweise mit den vorprädika­ tiv laufenden Selbstverständlichkeiten offenlegen. Denn die in der Kindheit erlernte Kulturalität, Sozialisierungsform, und der Sprach­ gebrauch, die je nach Person variieren, sind auch biographisch gebildet und weitergebildet, und können so in jeder Sekunde der Erfahrung dispositiv wirken. Die Selbstverständlichkeiten kommunizieren mit­ einander – gewollt oder ungewollt –, und machen unbemerkt auch dynamische Situationsstimmungen und Atmosphären, in denen sie sich weiter verstärken, umformen, ablehnen oder auch zum Schwei­ gen bringen können. Es scheint, dass auch dort, in einem verschwie­ genen kūki der gefühlt homogenisierten Situationsstimmung, in dem man sich nicht wirklich entfalten lassen kann, auch die unzähl­ baren synästhetischen Wahrnehmungen im leiblichen Situiertsein eine Rolle spielen. Denn sie laufen eigentlich stetig und teilen sicher­ lich etwas mit. So scheint eine Notwendigkeit zu bestehen, nicht nur als »Rezipient«745 sondern auch als »Produzent«746 sowohl das Kollektive (in dem man sich befindet) als auch das eigene Situiert­ sein (im Kollektiven) jeweils gleichzeitig und gleichermaßen wach­ sam wahrzunehmen. In einer bewusst vollzogenen Erfahrung der Situationsstimmung und Atmosphäre, die sich stetig, wenn auch minimal, von einer Diskrepanzerfahrung begleitet vollzieht, steckt sicherlich bereits ein Weg zu einem Zugang zu den beiden Aspekten unseren Situiertseins, bzw. dazu, sowohl Rezipient:innen als auch Produzent:innen der Situationsstimmung und Atmosphären zu sein. Eine Erfahrung von Atmosphäre, die einem »vertraut« vorkam und »als« Homosphäre bewusst erlebt wurde und gespeichert war, kann in einem anderen Moment plötzlich ein anderes Gesicht zeigen. So wird sie dann »als« Heterosphäre neu gespeichert, deren Gesicht sich wiederum im Laufe der Zeit noch weiter ändern kann, wenn auf die Änderung gehört werden kann. Die Gesichtsänderung spiegelt sich weiter in Form von vorprädikativen Kommunikationen wider, die sich dennoch anhand der aktuellen Verständnisse und Vorstellungen von einzelnen, auch unbemerkt eigens gebrauchten Vokabeln, durchaus prädikativ manifestieren können, wie die Erfahrung von ki ga suru (ki tut: Ich habe den Eindruck, dass ...) zeigt. Selbst die Umschreibung der gespürten Atmosphäre vollzieht sich im und anhand des aktuellen 745 746

Böhme (2017): S. 25. Ebd.

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

momenthaften leiblichen Situiertsein(s), das sich stetig in Kommu­ nikationen mit den Selbstverständlichkeiten von sich selbst und den Anderen befindet. Eine Erfahrung formt sich in eine Artikulierung des Fühlens, immer schon vor Ort, also aus dem momenthaften und leiblichen Situiertsein heraus, in Zusammenarbeit mit den habituellen Selbst­ verständlichkeiten. Anhand dieser aktualisieren sich die vorprädikativ laufenden habitualisierten Selbstverständlichkeiten mit, gerade weil und wenn das Leibsein in der situativen Stimmung und Atmosphäre mit allen möglichen Elementen der Situation in Kommunikation steht. Jegliche Mutation der Artikulierung (und dementsprechend des Gesichts einer Erfahrung), die sich auch als ein natürlicher Vorgang verstehen lässt, trägt sicherlich auch zu dieser Aktualisierung der Selbstverständlichkeiten bei. Die stetige Mutation der Erfahrungsge­ sichter bzw. der Artikulierungsweise findet wohl jederzeit statt. Es geht somit im leiblichen Situiertsein vielmehr um ein bemühtes Zuhören und ein Suchen nach einer Artikulierungsmöglichkeit des Fühlens, bis es sich so anfühlt, dass sich der Leib selbst meldet und etwas sagt. Die mögliche Konsequenz in der Erfahrung von kūki – das als Wort ursprünglich Luft heißt – weckt uns dazu auf, uns gewahr zu werden, dass bereits dort, wo noch kein Wort zu finden ist, doch irgendein Fühlen auf einer Ebene läuft. Dort ist möglicherweise auch das Suchen nach Worten, wenn auch unbemerkt, am Werk. Es ist möglicherweise nicht übertrieben zu formulieren, dass genau das die Basis des sowohl impersonalen als auch personalen Fühlens ist oder zumindest deren Teilaspekt ausmacht: dass auch unbemerkt ein Suchen nach Artikulationen läuft, was sich in anderen Worten als der Vollzug des leiblichen Situiertseins verstehen lässt. Es ist wahrscheinlich (k)ein Witz, dass der Luft (kūki), die für uns ursprünglich lebensnotwendig ist, im gegenwärtigen japanischen Sprachgebrauch eine enorme Macht zugeschrieben wird, die bis dahin reicht, dass uns die Luft in unserem konkreten Situiertsein zu einer bestimmten Richtung des Denkens, Fühlens und Handelns lenken kann. Die denkbaren Faktoren, die unter dem Namen »kūki« die Beteiligten führen/lenken können, sind je nach Situation unterschied­ lich und lassen sich sicherlich plural verstehen. Die Anonymität des impersonalen Fühlens entfaltet sich in Form von Kommunikationen mit verschiedensten Details in situ. Wenn einem auffällt, dass einem die Situationsstimmung sowie Atmosphäre, in der man sich befindet,

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4.4. Fazit des Kapitels

»soundso« vorkommt, hat das Leibsein bereits ein Stück weit an der Situation Anteil. Genauso wie die Schwierigkeit, das eigene Atmen bewusst zu vollziehen, kann es schwierig sein, darauf zu hören, was (von) einem in jeder Situation und jeder Sekunde gefühlt wird. Für Heller bei­ spielsweise ist jedes Gefühl ein »Konkretisierungsprozeß«747. Das Gesamte der Situation kann in jeder Sekunde ein anderes Gesicht zeigen, auch wenn nur ein kleinstes Detail der Situation – ein Ton, die Helligkeit, die Intonation einer Aussage oder ein Blick – sich in situ ändert. Diese Änderung kann auch durch das »Was« und »Wie« eines ausgesprochenen Wortes realisiert werden. Der Prozess schreitet fort, in jeder Sekunde, mit immer ständigen Aktualisierungen der Gesichter der Atmosphäre. Für dieses impersonale748 Fühlen wird in der japanischen Sprach­ artikulierung keine Person als agierendes Subjekt markiert. Es ist möglich, dass das auch dazu beiträgt, dass die Rolle der/des Produzie­ renden der Stimmung und Atmosphäre in den Hintergrund rücken kann, wie es beim Grenzfall der Erfahrung von kūki zu sehen war. Die Wahrnehmungen beim impersonal laufenden Fühlen können, wie die kleinen Perzeptionen (petites perceptions) bei Leibniz, ganz vage und »verworren« sein, und einem »fad« scheinen. Es können jedoch genau diese (noch) nicht deutlich erkennbaren Empfindungen sein, die auch in einer zwischenmenschlich geteilten Situation etwas mitteilen oder machen können.749 Das impersonale Fühlen betrifft ein Fühlen, das wie das Atmen, ohne um es zu wissen, bereits läuft, noch bevor es »als«750 etwas oder als etwas Fremdes auffällt, bevor es »dem Ich« Vgl.: Heller (1981): S. 169. In Bezug auf die impersonale Erfahrungsebene und deren Grenzen kann die »Anonymisierung der Gewalt« in Relevanz stehen, die Waldenfels im Kontinuum zur Fremdheit am eigenen Leibe sieht: »Die Anonymisierung der Gewalt beruht auf der Verkörperung in einem Leib, der nie völlig unser eigener Leib ist, sondern stets etwas von einem Fremdkörper hat.« Waldenfels (2000): S. 18. 749 Leibniz (1996): S. 25–48. Vgl. auch: Elberfeld (2021): S. 89. 750 Dass etwas »als« soundso vorkommt, kann bereits auf der Ebene der Kulturalität erblickt werden, obschon dieses »als« je nach Individuum auch immer schon unter­ schiedlich erlebt und entfaltet zu werden scheint. (So bemerkt man auch, dass die Kultur nicht nur die Kultur heißt, die von Regionsgrenzen sowie Nationsgrenzen abhängig assoziiert wird (wie »japanische« oder »deutsche« Kultur), sondern auch die Kultivierung des Menschen an sich einschließt.) So kann die Mühe und der Versuch der vorliegenden Arbeit darin entdeckt werden, auf das immer schon laufende Fühlen noch vor jeglicher Entstehung des »als« zu hören (vgl.: Yamaguchi (2004): S. 52). Bei 747

748

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4. Impersonales Fühlen im ki-Wortfeld

entgegen gekommen zu sein scheint. Auch das spontane Aufkommen vom Ausdruck »ki ga suru« scheint nichts anderes als die Erfahrung zu sein, dass all diese ganz verworrenen, unpräzisierbaren, rohen und faden Wahrnehmungen versammelt am Leib eines Menschen zum Sprechen kommen. Es ist jedoch zur gleichen Zeit das Individuum bzw. es sind dessen Selbstverständlichkeiten, die das »Dass« und »Wie« dieses Sprechens mitprägt bzw. mitprägen. Der Mensch steht dort wie ein Medium, er ist jedoch auch ein Individuum; manche verworrenen Wahrnehmungen klingen ihm nicht, aber manche schon oder mehr, was sich auch mit der Zeit noch ändern kann. So vollzieht sich die Ästhetik bzw. die alltägliche Übung im Zuhören der Artikulierung des Fühlens, immer schon mit der Aktualisierung der Selbstverständlich­ keiten von Menschen einhergehend, die die ursprünglich gemeinsame Luft teilen.

Husserl und Merleau-Ponty wäre dies so eben die Struktur, dass »etwas als etwas« erlebt und erfahren wird. Vgl.: Giuliani-Tagmann (1983): S. 69.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Im fünften Kapitel wird anhand von zwei Beispielausdrücken, »kimochi« (気持ち) und »kibun« (気分), der Fokus auf die menschli­ che Erfahrungsebene gelegt. Anders als im vierten Kapitel wird nun die »personale« Dimension des Fühlens genauer erläutert. Dieses Kapitel handelt also von dem intentionalen oder sachbezogenen Fühlen (気持ち kimochi) sowie dem Modus des Sich-Befindens, der jedoch im Japanischen mit einer gewissen Personalität markiert wird (気分 kibun). Das Kapitel wird wiederum mit einem Fazit beschlossen.

5.1 Intentionales Fühlen Im Folgenden wird der Ausdruck »kimochi« (気持ち) im Hinblick auf Aspekte der Personalität erörtert. Zunächst wird kimochi mithilfe der lexikalischen Feldforschung vorgestellt. Anschließend wird das prozesshafte »Aufkeimen des personalen Fühlens« mit Blick auf die Sphärentheorie Hisayamas betrachtet. Hierbei werden zwei Extrem­ fälle bezüglich des Umgangs mit dem Heterosphärischen als Motive gegenübergestellt. Eines betrifft die suchtnahe Orientierung an einer bestimmten Favorisierung, die häufig zur Stiftung einer bestimmten Form des Ichs beitragen kann. Das Subjekt kann sich hier je nach Maße dem Fühlen inklusive der Stimmung und Atmosphäre wie ein:e Sklav:in unterwerfen lassen. Das andere Motiv verweist dementgegen auf eine gewisse Ignoranz jeglichem Heterosphärischen gegenüber, woraus resultieren kann, dass zwischen der zwischenmenschlich geteilten Atmosphäre und seiner eigenen Gefühlswelt keine Unter­ scheidung mehr eingesehen werden kann. Im Zuge des Fragens nach der Mitte der Extremfälle mündet die Darstellung in die Skizzierung eines »dezentralisierten« Ichs, um davon ausgehend am Ende des Kapitels den Aspekt der »Einschätzung des personalen Fühlens« zu fokussieren.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

5.1.1 kimochi (気持ち): Gefühl/Gemüt Schlägt man den Artikel zum Wort »kimochi« (気持ち) in einspra­ chigen japanischen Wörterbüchern nach, findet man die folgenden Definitionen: »Zustand des Herz(geist)es, der oft für empfindungsbe­ treffend und emotional auf Dinge und Sachen bezogen gehalten wird. Seinsweise des ki. Herzgeist, Herz, Haltung des Herzes«751 sowie »die Art und Weise des Seins des Herzens einer Sache gegenüber, Emotion (kanjō (感情))«752. Wenn das Wort kanjō (感情) nachgeschlagen wird, so findet man wiederum: »kimochi, kokoro-mochi«753 sowie kidoairaku (喜怒哀楽 Freude, Zorn, Trauer, Glück) oder »Zu- oder Abneigung, welche gefühlt auf eine Sache bezogen entsteht«754. So scheint kimochi eine gewisse Affinität zu den deutschen Worten »Gefühl«, »Emotion« und teilweise »Gemüt« zu zeigen. Es handelt sich beim Wort »kimochi«, im Kontrast zu Erfahrungen aus der impersonalen Fühlebene, mehr um die pointiertere und bewuss­ tere Ebene der Fühlereignisse. Bemerkenswert ist, dass sich kimochi genau im Übergang zwischen dem intentionalen und dem impersona­ len Fühlen (wie Stimmungserfahrungen) zu bewegen scheint. Dies lässt sich mithilfe von den weiteren Worterklärungen sowie den Beispielausdrücken aus dem Wörterbuchartikel755 besser überblicken: kimochi (気持ち) a.

die Art und Weise des Seins des Herz(geistes) (kokoromochi) einer Sache gegenüber, Emotion: z. B.: kimochi o hikishimete kakaru (das kimochi zusammenrei­ ßend, anfangen: geistig vorbereitet und wach auf eine Sache her­ angehen).

751 »Kimochi 1. Zustand des Herz(geist)es, der oft empfindungsbetreffend und emo­ tional auf Dinge und Sachen bezogen gehalten wird. Seinsweise des ki. Herzgeist, Herz, Haltung des Herzes.« I. O.: 「物事にいだく、多くは感覚的・感情的な、心 の状態。気のあり方。ここち・こころもち」 Nishio et al.: S. 341. 752 Kanjō wird beschrieben als: »die Art und Weise der Haltung des ki, Bereitschaft oder Haltung am Fühlen«: I. O.: 「物事に対して感ずる心のあり方。感情。」 Shinmura et al. (2020): S. 735. 753 I. O.: 「気持ち。心持ち。」 Nishio et al. (2016): S. 302. 754 I. O.: 「喜怒哀楽や好悪など、物事に感じて起こる気持。」 Shinmura et al. (2020): S. 661. 755 Auch hier handelt es sich um eigene, sinngemäße Übersetzungen. Die Beispiel­ sätze werden in zwei Schritte geteilt übersetzt: 1. nah an wörtlicher Übersetzung orientierte Übertragung, 2. sinngemäße Übersetzung.

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5.1 Intentionales Fühlen

b.

die Art und Weise (Seinsweise) des Herz(geist)es in Bezug auf die Frage, wie man eine Sache empfindet: z. B.: Rōjin no kimochi o taisetsu ni suru (das kimochi von älteren Menschen hochschätzen – auf die Lage und Gefühle der älteren Menschen achtsam sein), honno kimochi bakari no orei (Geschenk, das nur ein wenig von Gefühl ist; bescheidenes, kleines Geschenk, das die Dankbarkeit ausdrücken soll). Emotionen: Boku ni taishite donna kimochi de iru no ka (Was für ein kimochi ist da, mir gegenüber? – Was für ein Gefühl hast du denn mir gegenüber?).

c.

Zustand, in dem sich Herz(geist) befindet. kibun: z. B. sawayaka de ii kimochi da (es ist frisches und gutes kimochi – es fühlt sich frisch und schön an – Heute ist so ein angenehmer und schöner Tag.)756

d.

Zustand der körperlichen Befindlichkeit, »kibun, z. B: Funayoi de kimochi ga warui« (wegen Seekrankheit ist das kimochi schlecht – aufgrund der Seekrankheit übel sein).757

Zu betonen ist, dass in den Definitionen hier zwei andere Ausdrücke, sowohl kokoro (心) als auch kibun (気分), genannt werden. Letzterer wird in Kapitel 5.2 ausführlicher behandelt. In diesem Artikel sind mindestens vier verschiedene Dimensionen zu finden: 1. die Art und Weise des Empfindens (Haltung in der Art und Weise des Fühlens), 2. Urteilsnahe Empfindung und Positionierung beim Fühlen einer Sache sowie anderen Menschen gegenüber, 3. Gemütsstimmung (wie kibun), 4. Körperliche Befindlichkeit.758 Das Markante ist, dass in 756 Häufig ist es der Fall, dass der Ausdruck »kimochi« auf das Wetter, die Atmosphäre und Stimmung bezogen verwendet wird. 757 I. O.: 「気持ち 1. 物事にいだく、多くは感覚的・感情的な、心の状態。気の ありかた。▽ここち→ここち・こころもち(1)。ア. 気(1)の持ちかた。気 構え。『―を引き締めてかかる』イ. 物事をどう感じ取っているかという、心の さま。『老人の―を大切にする』『ほんの―ばかりのお礼』。感情。『ぼくに 対してどんな―でいるのか』ウ.心が置かれている状態。気分。『さわやかでい い―だ』エ.体の状態についての感じ。気分。『船酔いで―が悪い』2.(副詞的 に)そう思ってみればそう感ぜられるほどに。幾らか。『―大きめな服』[...]」 Nishio et al. (2016): S. 341. Im Anhang 6 steht die Zitierung zur Verfügung. 758 Ansonsten, oder außerdem, lässt sich auch die Verwendung des gefühlten Maßes (wie im deutschen Ausdruck »nach Gefühl«) finden. Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 341.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

den Erfahrungen des kimochi die Anwesenheit einer Person bereits im Voraus angenommen wird, die intentional auf eine Sache oder Thematik bezogen involviert ist. Nichtsdestotrotz unterläuft auch kimochi die Unterscheidung zwischen Körper, Psyche und Geist. Neben der Affinität zu kibun (Gemütsstimmung) kann außerdem ein aktiver Aspekt des Haltens von Gefühlen (ki-mochi: ki-Habe) pointiert werden. Auf der grammatischen Ebene zeigt sich das Wort als eine Zusammensetzung von zwei Wörtern: ki und mochi (持 ち).759 Mochi lässt sich als eine Nominalisierungsform vom Verb motsu (持つ »haben« oder »halten«) verstehen. Also heißt kimochi wörtlich übertragen ki-Habe.760 Die Konnotation der Personalität im Ausdruck »kimochi« kann ebenso mit der Wortkombination von ki und motsu (haben) zusammenhängen. Anzumerken ist jedoch, dass das »haben« wörtlich auf das ki bezogen wird. So ist es nichts anderes als irgendein ki, das man jetzt gerade hat, wenn man irgendein intentionales Gefühl hat, ganz unabhängig davon, wie sehr man sich von einer Sache betroffen fühlt. So besteht bereits auf der Ebene des Signifikats (signifié) die Möglichkeit, dass unterschiedliche Gefühle und Emotionen gehalten werden können, wenn einem ein anderes ki präsent vor Augen steht. Hier ist neben der Art und Weise des jeweils unterschiedlichen ki, das aktuell gehalten wird, auch die Art und Weise des Haltens von ki selbst in Frage zu stellen.

5.1.2 Aufkeimen des personalen Fühlens Die im letzten Kapitel besprochenen Begriffe, sowohl »kehai« als auch »kūki«, umkreisten eine vorprädikative und impersonale Ebene des Fühlens, die sich nicht deutlich erkennen oder präzisieren lässt: Kehai tastet einen atmosphärisch und synästhetisch am eigenen Leib, kūki hingegen betrifft vielmehr eine kollektiv erlebte Diskrepanzer­ fahrung, die sich vor Ort jedoch allzu »homogen« anfühlt. Diese ist jedoch von der Art und Weise gekennzeichnet, entweder vor Ort in der Situation nicht als »fremd« bewusst wahrnehmbar zu sein, oder zwar bereits vor Ort als »fremd« erkannt zu werden, Im Übrigen wird kimochi in der japanischen Sprache gewöhnlich häufig mit Verben wie »... ni naru« (zu einem kimochi werden), »... ga suru« (kiomochi tut) sowie »... o idaku« (kimochi umwickelnd tragen) verwendet. 760 Siehe auch: Kimura (1995): S. 128. 759

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5.1 Intentionales Fühlen

wogegen man dort jedoch keine Handlungsmaßnahme findet – wie ein gefühlter »Druck«. Aufgrund des gefühlten »Drucks« äußert man sich oder verhält man sich gegenüber solchen Diskrepanzerfahrungen von Zeit zu Zeit »widerwillig«. Von Zeit zu Zeit fällt es einem aber auch erst dann auf, dass man zuvor einem bestimmten »Druck« unterlag, nachdem man sich soundso verhalten oder soundso geäußert hat. Es kann auch der Fall sein, dass einem, einhergehend mit dem nachgelagerten Erkennen des »Druckes«, erst dann bewusst wird, dass man doch einer anderen Meinung war, nachdem man sich bereits soundso verhalten und geäußert hat.761 So handelt es sich hier um ein Bewusstwerden des personalen und somit auch persönlichen Bereichs, welcher, vom Erfah­ rungshorizont der impersonal erlebten, sowohl zwischenmenschlich als auch ganzleiblich vollzogenen Wahrnehmung, auf einmal heraus­ sticht oder aufkeimt. Die »Widerwilligkeit« im Sprechen und Handeln, hat – wie dies im Französischen à contrecœur und im Japanischen kokoro nimo nai (koto o iu)762 ausgedrückt werden kann – mehr den Anschein, als wäre einem dort etwas Festes oder Unbewegliches bereits vorge­ setzt gewesen, an dem man sich im Laufe der Situation auf einmal stößt. Ausdrücke wie »der Wille«, »le cœur« sowie »kokoro« (Herz, Herzgeist)- können mehr den Klang haben von etwas Festerem, Gebundenerem oder auch eher Substanzhafterem (cœur/kokoro) als dies bei ki der Fall ist.763 Das Schwere, wie ein Knoten oder ein Steinchen am Herz764, fällt einem von Zeit zu Zeit erst dann auf, wenn es »zu spät« ist: In der aktuellen Situation, in der man sich befindet und involviert ist, fühlt es sich »unmöglich« an, sich fundamental anders zu verhalten oder anders zu fühlen, als in der Art, die einem gerade zugänglich ist. Möglicherweise fühlt sich dieses Gefühl so präsent an, gerade weil es im Moment des Bemerkens bereits »zu spät« geworden ist. All diese Fälle betreffen sicherlich mitunter eine Konfliktsituation zwischen den laufenden Selbstverständlichkeiten und der aktuellen Wahrnehmung vor Ort, die als solche jedoch zur bewussten Aktualisierung der Selbstverständlichkeiten beitra­ gen kann. 762 Dieser Ausdruck (geschrieben in den japanischen Schriftzeichen: 心にもないこと を言う heißt wörtlich übertragen: etwas sagen, was im eigenen Herz nicht liegt, d. h.: etwas wider den eigenen Willen (des Fühlens) sagen. 763 Vgl.: Nakai (1995a): S. 170. Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 61. 764 Die leibliche Erfahrung dieses »Knotens« oder dieses »Steinchens« könnte möglicherweise im Zwischenbereich zwischen Hals und Herzorgan verortet werden. 761

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

In Bezug auf den Fall von Schmerzen am Herzen kann an den japanischen Spruch ryōshin no kashaku (良心の呵責 Vorwurf des guten Herzens – Vorwurf des Gewissens / Gewissensbiss) erinnert werden.765 Der Ausdruck wird – wie auch im alltäglichen Deutschen – gebraucht, nachdem man selbst etwas getan hat, trotz des Wissens, dass dies entweder dem Willen oder einer bestimmten Wertvorstel­ lung eines/einer anderen zuwiderlief. Es scheint häufig der Fall zu sein, dass diese Wertvorstellung nicht unbedingt mit der eigenen übereinstimmen muss, jedoch einem selbst – auch ohne es zu wissen – zumindest bekannt, vertraut ist, oder mehr oder minder internali­ siert worden ist. Unabhängig von der Frage, ob man es mit einer moralischen Wertvorstellung oder eher einer ästhetischen zu tun hat, scheint die Erfahrung der »Widerwilligkeit« oder selbst der »Widerlichkeit«, welche innerhalb der Terminologie von Hisayama Yuho zu einer Heterosphärenerfahrung gehören würde, das »sogenannte Ich« auf einmal spürbar zu machen. Diese Erfahrung kann sicherlich unter­ schiedlich beschrieben werden: Als wäre man ganz allein zurückge­ lassen oder herausgehoben von den Anderen, die auf einmal als eine Einheit angesehen werden, die sich dem »sogenannten Ich« gegenüberstellt – ohne dabei die Möglichkeit einsehen zu können, dass da eventuell doch ein paar andere Meinungen oder Mitgefühle von den anderen mitschwingen.766 Ein Problem kann wahrscheinlich dann auftauchen, wenn die Tendenz sich zu entwickeln beginnt, dass man sich auch unbemerkt oder sogar ungewollt an mögliche Erfahrungen der Widerwilligkeit oder der Heterosphären orientiert. Gemeint ist hier eine Orientierung bloß anhand und aufgrund dessen, dass die Diskrepanzerfahrung einen Rückzugsort bildet, in dem einem immer dasselbe »gefühlte

765 Der französische, gegenwärtige Philosoph Paul Ricœur schreibt in seiner Schrift Soi-même comme un autre über den Gewissensbegriff anhand von dessen Analyse Heideggers. Die passivité im Phänomen der Wahrnehmung des eigenen »Gewissens« wird bei Ricœur durch die Beispiele der Metaphern des »Rufs« sowie »Anrufs« Heideggers deutlich gemacht, was möglicherweise in ein Kontinuum zur Ansicht der Spaltung vom Ich als der/die Denkende und dem Ich als der/die Gedachte gestellt werden kann. Die Spaltung lässt sich wiederum mit der Spaltung des handelnden Ichs und urteilenden Ichs in Parallele stellen. Von dieser Tendenz wird in der vorliegenden Arbeit abgewichen, oder an dieser wird implizit gearbeitet. Ricœur (2015): S. 393ff. 766 Vgl.: Ricœur (2015): S. 394.

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5.1 Intentionales Fühlen

Ich« zugesichert wird.767 Auch kann ein weiteres Problem auftreten, wenn die Wirkung des Erleidens768 – wie jenes der Tragödie, die auch in Form von Katharsis seit Aristoteles präsent ist – als ein Mittel zur Erfahrung der Zusicherung eines bestimmten »Ichs« genutzt zu werden beginnt. Das Leiden an/in der Diskrepanzerfahrung kann auch – bewusst oder unbewusst – ein Rückzugsort für die »Selbst­ bestätigung« werden, also dafür, dass man sich immer sicher »bei sich« fühlt.769 In einer instrumentalisierten Kunsterfahrung bzw. in einem Kunstkonsum beispielsweise ist man nicht mehr »Herr« seiner Gefühle, sondern macht sich selbst zum Versklavten; man stellt sich aktiv auf eine passive Rolle des Fühlens ein, da man erwartet, dass einen die Erfahrung – zumindest während der Zeit des Konsums – soundso befülle. Das »sogenannte Ich« oder ein intentio­ nal erlebbares, personales Ich, das selbst weiß und entschieden hat, »dies« und »das« zu favorisieren, wird auf diese Weise immer wieder bestärkt und bestätigt. Die Wahrnehmung wird so immer mehr anhand der Favorisierung orientiert, die einem klarer und deutlicher als andere Wahrnehmungen und Empfindungen scheint. So kann die Wahrnehmung und das Fühlen selbst an dem Klaren und Deutlichen orientiert werden, welches einem vertraut ist und die Komfortzone (Homosphäre) ausmachen kann. Und wenn die Zeit gekommen ist, dass sich die Wahrnehmungsfähigkeit an das Konsumieren derselben Objekte völlig gewöhnt hat und kein identifizierbarer Reiz mehr vom Konsumieren zu erwarten ist, kann eine weitere Suche nach einem neuen Objekt beginnen, das potentiell eine ähnliche oder 767 Angefangen mit der Erfahrung von »es betrifft mich«, die an sich als solche sicher­ lich kein Problem darstellt. Dies betrifft sehr wahrscheinlich auch die Ich-Erfahrungen im Fühlen von »Mitgefühl« oder »Mitleid«. Es scheint somit eher ein Problem in der Habitualisierungsweise zu liegen, in der »das gefühlte Ich« auftaucht oder die mehr wie eine Sucht gesucht wird. Vgl.: Landweer et al.: (2007): S. 171. 768 Das »Erleiden« stammt vom Wortgebrauch Spinozas (bzw. von der Übersetzung des lateinischen Worts patior). Die folgende Stelle kann behilflich sein: »Ich sage, wir sind aktiv, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind [...]. Dagegen, sage ich, erleiden wir etwas, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind.« Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 2015, S. 223. (III. Teil, Definition 2). Eigene Hervorh. 769 Zu beachten ist, dass das Problem hier in der Instrumentalisierung der Diskre­ panzerfahrung, also in der Haltung zur Kunsterfahrung, und nicht am Kunstgenre der Tragödie liegt. Es ist jedoch unleugbar, dass die Frage hinsichtlich der kritischen Ästhetik der Gefühlsartikulierung eine entscheidende Rolle spielt, was und wie in einer Kunsterfahrung erlebt und erfahren wird.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

gleiche Wirkung des Erlebens – wenn auch (nur) für begrenzte Zeit – versprechen könnte. Die Tendenz oder die Orientierung nach dem »gefühlten Ich« kann zu einer logischen Konsequenz der Orientierung nach der Kom­ fortzone (Homosphäre) eigener Favorisierung führen. Je nach Hab­ itualisierung des Leibseins in dieser Komfortzone kann ein Verrosten der Wahrnehmungsfähigkeit beginnen: Es schmeckt (nur) dann, wenn X und Y im Gericht gemischt sind; es sieht (nur) dann schön aus, wenn Z zum Schminken benutzt wird; oder man fühlt sich (nur) dann geliebt, wenn dies und das gemacht wird etc. So kann – auch ohne darum zu wissen – eine Selbstzähmung der Sinne vonstattengehen. So einfach kann das Vergessen des »Fühlen-Könnens« geschehen und immer weiter habitualisiert werden.770 Erinnern wir uns doch einmal, dass es auch das Rauschen des Meeres und des Windes gab und gibt, das sich einem frisch, aber weich an die Haut zieht, das einen umwickelnd etwas sagt, das nicht einmal sprachlich präzisiert werden kann oder muss.771 Die impersonale und vorprädikative Ebene des Fühlens gehört auch zu unterschiedlichen Wahrnehmungen. Es gibt Erfahrungen, Emotionen und Gefühle, in denen man sich lebendig und fröhlich fühlt und sich somit als »fröh­ liches Ich« verstehen kann. Es gibt aber auch Erfahrungen, wie im Vollzug vom impersonalen Fühlen, in denen man sich nicht mit dem »fröhlichen Ich« identifizieren muss, oder die nicht einmal von einem »gefühlten Ich« begleitet werden müssen. Und diese sind am Werk, auch wenn bestimmte Sensationen oder ein bewusstes Gerichtet-Sein nicht da sind. Auch die Diskrepanzerfahrung, die nicht nur für die bewusste Wahrnehmung der Atmosphäre fundamental ist, sondern auch für die Stiftung der Freiheit des Individuums notwendig ist,772 steht aufgrund von deren Strukturen stetig unter einer bestimmten Gefahr: Instrumentalisierung der Diskrepanzerfahrung durch eine einseitige Orientierung nach dem »gefühlten Ich« (das Fühlen der Betroffen­ heit). Auch eine unbewusste und einseitige Orientierung nach der Homosphäre – angetrieben vom »gefühlten Ich« –, in der sich eine Vgl.: Heller (1981): S. 186. Dieses »Sich-Erinnern« kann bei Heller unter dem Stichwort »Pflege der Gefühle« entdeckt werden. Vgl.: Heller (1981): S. 184ff. 772 Vgl.: Hisayama (2014): S. 41. 770 771

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5.1 Intentionales Fühlen

bestimmte Komfortzone herausbilden kann, verknüpft sich mit einer Gefahr. Diese ist hier darin zu sehen, sonstige Erfahrungen, die sich weder wie eine reine Heterosphäre noch wie eine reine Homosphäre anfühlen, auszuschließen. Die impersonale Erfahrungsebene des Fühlens kann in diesen beiden Tendenzen so kaum oder nie präsent werden. So kann selbst die Diskrepanzerfahrung, die eigentlich als notwendig für die Wahrnehmung von Atmosphären gilt,773 doch für die (Ästhetik der) Wahrnehmung und Empfindung selbst ein »Feind« oder schädlich werden. Aber auch eine unbewusste, und blinde Ori­ entierung an bzw. Tendenzbildung zur Erfahrung von Homosphären (d. h. nicht als eine konsequente Folge der Orientierung nach der eige­ nen Favorisierung, welche nicht einmal vom »gefühlten Ich« bewusst ausgesucht wird) kann wiederum Probleme bereiten, wenn diese Tendenz einen dazu führt, auch die kleinsten Diskrepanzerfahrungen, – die einen zwar nicht einmal jucken, jedoch eigentlich stetig präsent sind –, auch unbemerkt zu ignorieren oder sogar auszublenden. Denn das würde wiederum solch etwas wie eine unendliche Lawine der (projektiven) Gefühlsdisposition von irgendeiner bestimmten Person heißen, bis auf bestimmte Fälle, in denen es u. a. um einen absoluten Abhängigkeitszustand eines Säuglings beispielsweise geht. Unabhängig von der Frage, ob intentionale Gefühle von einer Erfahrung von gefühltem Druck, einer bestimmten Abstoßung (wie Widerlichkeit) oder eher einer Favorisierung her rührten, können sich jegliche intentionalen Gefühle in jedem Moment auch ohne Absicht im Vollzug des Sich-Befindens bilden, häufig begleitet von irgendei­ ner Form vom sogenannten Ich. Ebenso, wie dies in vorigen Kapiteln thematisiert wurde, unabhängig von der Frage, ob dies von einem gefühlten Ich begleitet wird, scheint die Anwesenheit irgendeiner Atmosphäre bei jedem Sich-Befinden unleugbar. Daraus resultiert die Fragestellung, was für eine Modalität das Sich-Befinden des soge­ nannten Subjekts aufzeigt, wenn es weder als rein versklavt von der eigenen Favorisierung noch als reiner Tyrann der Situationsstimmung zu identifizieren ist, der in seiner Umgebung mit der projektiven Ignoranz jeglicher Heterosphären die Lawine seiner Gefühlswelt kreiert. Oder besser formuliert könnte die Frage lauten: In was für einer Atmosphäre sind die o. g. extremen Fälle von dem Sich-Befinden des sogenannten Subjekts abgewichen? Diese Frage ist jedoch nicht als eine Frage nach der besten Möglichkeit der Optimierungsform 773

Böhme (2001): S. 48.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

des menschlichen Daseins zu verstehen, sondern vielmehr so, dass weiterhin vom Standpunkt der die Atmosphären Mitgestaltenden die Art und Weise der Atmosphärenschaffung in Frage steht.774 In diesem Kontext kann erneut der Hinweis Hisayamas auf ein »dezentralisiertes« Ich aus seiner Schilderung der Erfahrung der bereits eingeführten Pansphäre aufschlussreich sein: Wichtig in diesem Zusammenhang ist vor allem, eine solche Erfahrung der Pansphäre von der des Bewusstseinsverlustes bei der Erfahrung einer radikalen Homosphäre klar zu unterscheiden, denn bei dieser (z. B. in einem Rauschzustand) wird die räumliche Differenzierung zwischen dem Ich und der Umwelt zunehmend verwischt, d. h. das Ich ist sich dessen nicht mehr bewusst, dass sein Dasein in dem es umgebenden Raum und somit in dessen Atmosphäre existiert. Das »Sich-Befinden« bzw. eine Selbstreflexion ist erst dann möglich, wenn eine Atmosphärenerfahrung, die heterosphärische Züge beinhaltet, durch die Diskrepanz zwischen Leibessphäre und Atmosphäre hervor­ gerufen wird. Wenn eine solche Heterosphäre verschwindet, bleibt nur noch eine radikale, »total« homosphärische Erfahrung, ohne jegliches Bewusstsein seiner Selbst. Bei einer Pansphäre ist dies jedoch nicht der Fall: In ihr wird das Ich zwar dezentralisiert, aber dort gibt es einen Mitvollzug von Atmosphäre durch die Leibessphäre, bei dem das Ich sich seiner selbst völlig bewusst bleiben kann.775

So finden wir nun ein »Ich« in einer dezentralisierten Form in der Erfahrung der Pansphäre. Dort ist man nicht ein:e Sklav:in der Situation, sondern ein:e Mitgestalter:in, der/die zugleich mitgestal­ tet wird. Man kann doch »bei sich« bleiben, auch wenn man sich »einig« mit der umgebenden Atmosphäre und den Mitmenschen fühlt. Das »dezentralisierte« Ich, das sich einig mit der umgebenden Atmosphäre fühlt, jedoch gleichzeitig von sich selbst aus im Vollzug der Tätigkeiten bleibt, kann sowohl für die kritische Ästhetik der Artikulierung des Fühlens als auch für die Ästhetik der Atmosphäre einen Hinweis darbieten.

774 Der Standpunkt lässt sich in Kapitel 5.2.3 mit der Artikulierungsästhetik des Fühlens verknüpfen. 775 Hisayama (2014): S. 43. Eigene Hervorh.

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5.1 Intentionales Fühlen

5.1.3 Einschätzung des personalen Fühlens Wie der Beispielausdruck: »Rōjin no kimochi o taisetsu ni suru« (das kimochi von älteren Menschen beachten: auf die Lage und Gefühle der älteren Menschen achtsam sein) verdeutlicht, hat kimochi den Klang, eine unsichtbare Kontur zu haben oder zeigen, welches in Erfahrungen von kūki sowie kehai nicht der Fall war.776 Die unsichtbare Kontur im Wort »kimochi«, von der hier die Rede ist, klingt eher nach einer Form von Behälter dessen, was das Fühlen von einem Menschen tragen soll. Der Ausdruck wird als ein Appell zur Vorsicht verwendet, damit man die anderen Menschen – wenn auch aus Versehen – mental nicht verletzt, demütigt oder respektlos behandelt. Dieser Behälter ist zwar nicht sichtbar, kann aber gerade deshalb angetastet, verletzt, missbraucht oder auch vielleicht missverstanden werden. So handelt es sich beim Ausdruck »kimochi« um einen Appell zur achtsamen und respektvollen Haltung zum unsichtbaren Herzen des/der Anderen (hier: Älteren), da nicht immer einzusehen ist, was für ein Wort oder Verhalten für eine:n anderen verletzend sein kann. Dieser unsichtbare Behälter würde innerhalb der Sphärentheorie Hisayamas zur Leibessphäre gehören, die nicht zwangsläufig mit der Körperkontur eines Menschen übereinstimmen muss.777 Das Antasten sowie Angetastet-Werden – sei es durch ein Spüren von einem kehai oder Blick – geschieht immer schon leiblich. Ist jemandes kimochi verletzt, so kann es ihm am Herz weh tun – man fühlt sich schwer und gesamtleiblich nicht vital. Das Geschehen des intentio­ nalen Fühlens vollzieht sich somit am eigenen Leib. Kimochi macht die personale oder privatere Ebene der Gefühlserfahrung deutlich, die das Unsichtbare des Fühlens des oder der Anderen ausdrücken kann. Es hat den Anschein eines Raumes oder Gebiets, wie ein räumlich gedachtes und leiblich spürbares Herz, es klingt jedoch nicht so sehr nach einer geschlossenen Substanz, wie das Wort »Herz« im Deut­ schen klingen kann (aber tendenziell auch kokoro im Japanischen).778 Manche Gefühle oder Eindrücke, welche im zwischenmenschlichen Umgang mit den Anderen von Zeit zu Zeit auftauchen, können irgendwo in der Luft liegen, ohne angesprochen zu werden, ohne wirklich bewusst gemacht zu werden, oder aber (wenn auch mit 776 777 778

Nishio et al. (2016): S. 341. Vgl.: Hisayama (2014): S. 31, 34f. Yamaguchi (1997): S. 61.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Mühe) gänzlich versteckt – verneint oder verdrängt – sein oder werden. Dieser letztere Fall kann einfach daran liegen, dass man auf eine andere Sache konzentriert ist. Er kann aber auch darauf gründen, dass man sich allzu sehr betroffen fühlt, oder einfach darauf, dass der Gedanke unangemessen scheint, sich mit seinen Gefühlen in der Situation aufzuhalten, sowie diese weiterhin zu verfolgen. Dabei spielen verschiedene Elemente gleichzeitig ihre eigenen Rollen, angefangen mit kultureller und sozialer Konvention oder Gewohn­ heit, persönlichen Gemütsstimmungen, geteilten vergangenen Situa­ tionen sowie Geschichten, aber auch Stimmung und Atmosphäre des Ortes, leibliches Sich-Befinden sowie persönliche momentane Interessen etc. All diese unzählbaren Momente können das Gebiet des unsichtbaren Fühlens mit ausmachen, welches sich immer schon vorprädikativ und vorreflexiv bildet. Die Konnotation der »Unsichtbarkeit« vom kimochi der Anderen, birgt die Möglichkeit, etwas Unantastbares am Menschen anzuerken­ nen, möglicherweise gerade weil jedes Individuum mit unterschiedli­ chen Selbstverständlichkeiten für sich lebt. Zur gleichen Zeit kann es gerade aufgrund der Unsichtbarkeit der Selbstverständlichkeiten von den Anderen so einfach geschehen, dass ihren unsichtbaren Herzen alles Mögliche zugeschrieben wird – wenn auch im Namen einer respektvollen Haltung gegenüber der Gefühlslage der Anderen. Wenn das Unsichtbare und Unantastbare eines Menschen viel zu groß oder grob geschätzt wird, oder überhaupt nicht angenommen wird, kann dies auch dazu führen, dass man irgendwann kein Gefühl mehr dafür hat, Anderen im Augenblick vor Augen »in echt« zu begegnen. Wiederum kann es auch Fälle geben, in denen das Herz (oder der Herzgeist) sowohl von Anderen als auch das eigene Herz als viel zu transparent angesehen werden – so transparent, dass man, ohne es zu bemerken, jemanden verletzt und sich selbst verletzen lässt. Dies kann mit einer Art von »Projektion« oder auch mit einer bemühten Form von »Einfühlung« einhergehen. Es ist nun wohl kaum mehr nötig, zu betonen, dass sich die Einschätzung der Kontur des unsichtbaren Behälters auch von den kulturell, biographisch und persönlich gebildeten Selbstverständlichkeiten ausgehend vollzieht.779 Hier ist ein Ort, in dem verschiedene Selbstverständlichkeiten in Bei Heller wird Ähnliches unter dem Stichwort »Gefühle lesen« berührt. Vgl.: Heller (1981): S. 181. Die Dimension der Einschätzung der Gefühlslage des Anderen, welche sich noch vor dem Bewusstwerden der Gefühlslage zu vollziehen scheint, kann jedoch möglicherweise bereits mit dem Moment sowie der Ebene der »Protention« 779

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5.1 Intentionales Fühlen

Begegnung kommen bzw. in eine vorprädikative und prädikative Kommunikation treten (können). Die sowohl vorprädikative als auch prädikative Kommunikation der Selbstverständlichkeiten vollzieht sich somit unvermeidlich über die Einschätzung des unsichtbaren kimochi von Anderen, die sicherlich auch unbemerkt am Werk ist. Hier ist nicht zu vergessen, dass all dies sicherlich im Vollzug des vorprädikativen Sich-Befindens in den stetig sich umwandelnden Sphären (wie Homo- oder Heterosphäre im Schema Hisayamas) zustande kommt. So sticht nun die folgende Dimension heraus: Dem unsichtbaren Behälter wie kimochi oder dem Herzen eines Anderen kann etwas zugeschrieben oder eingemalt werden, unabhängig von der Situations­ art, in der Menschen miteinander interagieren. Es geschieht jedoch jeweils in einer bestimmten Art und Weise, sicherlich einhergehend mit dem Sich-Befinden jedes Individuums in bestimmten Sphären: Man ist in soundso Atmosphären, schafft aber zugleich bewusst oder unbewusst die Atmosphären, den Anderen gegenüber, im Vollzug der Wortwahl, Gestik, Tonalität und Rhythmik. Dies kann geschehen: Um der Würde des Anderen willen, aus Respekt vor der Verletzlich­ keit – sowohl von dem Anderen, als auch von sich selbst – oder es kann auf der reinen Gewohnheit beruhen, den eigenen Gefühlsein­ druck auf das Gefühl von Anderen zu projizieren oder hiermit zu vertauschen – auch vorprädikativ und unbemerkt. Die Zuschreibung von »Eindrücken«, »Werten« oder »Qualitä­ ten« sowie »Emotionen« dem Herzen des Anderen gegenüber kann jedoch auch gegenüber sich selbst geschehen (nicht nur in dem Sinne, dass der Andere jetzt gerade sehr wahrscheinlich soundso fühle, sondern auch in dem Sinne, dass man sich selbst zuschreibt, was man selbst fühle). Dies kann nicht nur erst dann verkörpert oder sichtbar werden, wenn ein Konflikt in der Aktualisierung der Gefühls­ artikulierung entsteht, sondern auch bereits indem die Handlung, die Äußerung sowie irgendwelche Gestik (sowohl von sich selbst als auch von Anderen) soundso interpretiert werden. Die Kontextualisierung der Handlungen, Gesten sowie Äußerungen (z. B.: B passierte, weil A passiert war), die selbst nichts anderes als eine interpretative Zuschreibung zu sein scheint, kann zu weiteren Zuschreibungen bei Husserl einhergehen. Vgl.: Edmund Husserl: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein 1917/18, S. 125–153; Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeit­ bewußtseins – mit den Texten aus der Erstausgabe und dem Nachlaß, 2013, S. 57f.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

gegenüber dem Unantastbaren von Anderen sowie sich selbst führen. So kann das jeweilige Fühlen auch unbemerkt und unreflektiert anhand einer bestimmten, beständigen Orientierung geformt werden. All dies kann impersonal geschehen, ohne dabei vom Fühlen der persönlichen Betroffenheit oder vom »gefühlten Ich« begleitet werden zu müssen. Und gerade deshalb ist es kaum schwer vorstellbar, dass und wie die Selbstverständlichkeiten auch in der unbemerkten Einschätzung sowie Zuschreibung von Gefühlen eine entscheidende Rolle spielen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die in dieser Arbeit vorgenommene Teilung von Aspekten in »personal« und »impersonal« – wie es innerhalb des Wortfeldes von ki festzustel­ len war – allein gliedernd zu verstehen ist. Hiermit ist gemeint, dass die beiden Modalitäten einander überlagern: Auch die »perso­ nal« genannte, intentionale Gefühlsbildung stützt sich immer schon auf die »impersonal« attribuierten Erfahrungen der vorprädikativen Wahrnehmungsebene. Die in diesem Kapitel fokussierte »personale« Ebene der Gefühlsbildung lässt sich insofern nicht ohne Blick auf »impersonale« Prozesse verstehen. Auch in den Resonanzen, die sich im affekttheoretischen Blick in Form vom »Affizieren« sowie »Affiziert-Werden« entfalten, schei­ nen die unzählbaren Zuschreibungen der Herzen von Anderen und von sich selbst mit am Werk zu sein. So zeigt sich selbst die unbe­ wusst vollzogene Zuschreibung des Herzens mikroskopisch als ein Geschehnis, das sich automatisch in jeder geteilten Situation entfal­ tet.780 In einer Automatisierung dieses Vorgangs kann ausgeblendet werden, dass man überhaupt in jedem Augenblick eine Zuschreibung den Dingen, den Herzen, oder auch dem Wetter gegenüber macht. Die Kulturalisierung bzw. Sozialisierung jedes kleinen Kindes beruht ursprünglich auf dieser Möglichkeit der gewissen Automatisierung bestimmter Handlungsmuster, Verhaltungsweisen und des Sprachge­ brauchs. So kann ferngehalten werden, selbst die Frage zu stellen, was für eine Zuschreibungstendenz man hat, der Situation, den Herzen 780 Der Bezug zum »präpersonalen Apriori des Sozialen«, das bereits in der Ebene der »leiblichen Kommunikation« bei Schmitz festgestellt werden kann, scheint hierzu ebenso relevant zu sein (vgl.: Gugutzer (2017): S. 149). Hierbei ist darauf aufzupassen, wie von Schmitz darauf hingewiesen wird, dass in diese geteilte Situation soeben das Wilde, Rohe oder Fade, das noch kaum Wahrnehmbare und »Zählbare« einbezogen werden muss. Schmitz betont die »präpersonale« Dimension der einen, einzigen, geteilten Situation, die als solche eine bestimmte Kulturalisierungsform innezuhaben scheint. Vgl.: Gugutzer (2017): S. 156, siehe auch: Schmitz (2005a): S. 22.

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5.1 Intentionales Fühlen

der Anderen, aber auch dem eigenen Herzen gegenüber. Und so kann die Tendenz erst dann gewahr werden, wenn es bereits »zu spät« ist – wenn das Unantastbare angetastet worden ist. Eine faktische Zuspitzung dieses Automatisierungsverfahrens bestimmter erlernter Wahrnehmungs- und Verhaltungsmuster kann zum Ausblenden des Infragestellens eigener Zuschreibungstendenzen beitragen. Von die­ ser Beobachtung kehren wir zum Ausgangspunkt, nämlich unserer Frage nach Gefühlsausdrücken zurück. Ähnliche Tendenzen, wie bei Ausdrücken wie »kimochi«, sind auch bezüglich »Gefühl« im Deutschen zu beobachten: Stalfort bei­ spielsweise nennt eine historisch entwickelte Tendenz, dass »Gefühl« als Ausdruck um den Beginn des 19. Jh. gebraucht zu werden begann.781 Das Vorhandensein von »Gefühl« thematisierenden Aus­ drücken kann dazu dienen, dass angesprochen und bewusst vor Augen geführt werden kann, wie man sich fühlt – sei es in Bezug auf die Emotion von Anderen, sei es auf die von sich selbst bezogen.782 Der Umgang mit dem Wort »Gefühl« oder »kimochi« variiert, wie der Sprachgebrauch je nach Person variiert – indem variiert, wie das Wort an sich verwendet wird, aber auch, indem, das ausgedrückte Gefühl sowohl von Anderen als auch von sich selbst achtend, in der Tat anders gehandelt wird. Das aktuelle und bewusste Halten irgendeines Gefühls (kimochi) in diesem Hier-und-Jetzt, in dem schon eine Zuschreibung sowie Einschätzung des Fühlens geschehen ist, ist bereits an der Genese weiteren Fühlens im nächsten Hier-und-Jetzt beteiligt. So ist die aktu­ elle Gefühlslage (kimochi) immer schon sowohl eine Folge der bisher gehaltenen Gefühle als auch das Halten des Fühlens im Jetzt, das auch das zunächst kommende Gefühl erneut vorbereitet. Dies scheint so ununterbrochen fortzugehen. Es scheint so unleugbar zu sein, dass auch die Art und Weise des Gefühlhaltens sowie Gefühlformens von den vorprädikativen Selbstverständlichkeiten nicht unberührt bleibt. Auch ein »unsichtbares« oder noch kaum zu präzisierendes Fühlen, das trotz der Begleitung des minimal »gefühlten Ichs« (kimochi) sowie der intentionalen Bezogenheit zunächst unsichtbar bleibt, kann als solches ans Licht gebracht werden. Es kann durchaus unbegreiflich sein, bis es sich von alleine artikuliert und differenziert – auch 781 Hierzu wurde in Kapitel 2.2.3 kurz erwähnt, wie die davor mit dem Wort »Gemüts­ bewegungen« ausgedrückte Emotionalität beginnt, mit dem Wort »Gefühl« ausge­ drückt zu werden. Stalfort (2013): S. 20 und S. 265–296. 782 Vgl.: Stalfort (2013): S. 265f.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

wenn oder gerade dadurch, dass die voreilige Zuschreibung oder Ein­ schätzung immer schon am Werk ist, oder sogar kulturell, als Teil von einer Art Sozialisierungscode erwartet wird.

5.2 Gemütsstimmung in situ Nach »kimochi« wird nun »kibun« (気分) als zweiter Beispielausdruck hervorgehoben, um Aspekte situierter Personalität im ki-Wortfeld aufzuzeigen. Zunächst wird kibun wiederum mithilfe der lexikali­ schen Feldforschung vorgestellt und dabei mit kimochi verglichen. Dann wird der Punkt »Befindlichkeit und Stimmung« im Horizont des ki-Wortfelds, unter Bezugnahme auf den Ansatz in Sein und Zeit Martin Heideggers erläutert. Den Schluss bilden Bemerkungen zum »Anteil machen am ki«, wobei aufgezeigt wird, wie jedes Individuum, das die Welt von jedem momenthaft verschiedenen Sich-Befinden aus erlebt, mit dem Gebiet des Impersonalen umgehen könnte, oder wie dieser Umgang als eine Aufgabe der »kritischen Artikulierungsästhe­ tik des Fühlens« zu verstehen ist.

5.2.1 kibun (気分): Gemütsstimmung Das Wort »kibun«,783 das in der vorliegenden Arbeit, ohne ausführlich behandelt zu werden bereits mehrmals vorkam, tauchte auch im vorigen Kapitel im Wörterbuchartikel zum Wort »kimochi« auf.784 Darin scheint einen Schlüssel zu liegen, um sowohl die Differenzen als auch die innige Verbindung zwischen kimochi und kibun zu beobachten, damit die Dynamik zwischen der Impersonalität und der Personalität im Konkretisierungsprozess des intentionalen Fühlens ans Licht kommt. Schlägt man den Wörterbuchartikel vom Wort »kibun« im Iwa­ nami-kokugojiten nach, lassen sich interessante Wortkombinationen in den Definitionen und Ausdrucksbeispielen finden: 783 Das Wort kam ebenso im Artikel zu ki vor, in dem es als ein Beispielausdruck (mit der wörtlichen Übersetzung »ki-Teil (ki-Anteil)« angegeben wurde. Siehe Kapitel 3.2.2. Vgl. auch: Nishio et al. (2016): S. 312. 784 Nishio et al. (2016): S. 341.

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5.2 Gemütsstimmung in situ

kibun (気分) 1.

2.

Lage der Gefühle sowie Emotionen, die für eine Zeit lang bestehend bleiben. »kibun o ka’eru (kibun ändern – Abwechs­ lung haben / Stimmung wechseln) ein für eine kurze Zeit lang bestehendes ganzheitliches Fühlen (sowohl leiblich als auch mental).785 »kibun ga sugurenai (kibun ist nicht hervorragend: Sowohl leiblich als auch mental fühlt man sich nicht ganz wohl). Gefühl/Feeling des Ortes, an dem man sich befindet, Atmo­ sphäre. »kibun o tanoshimu« (das kibun genießen: die Stimmung des Ortes genießen) »Omatsuri-kibun (Schreinfest-kibun: Fei­ erliche Stimmung / zerstreuter geistiger Zustand)«. kibun-ya (kibun-Laden: launischer Mensch / derjenige, der sich von der momentanen Stimmung oder Laune abhängig verhält786).787

Der zweite Stichpunkt der Definitionen »Gefühl/Feeling des Ortes, an dem man sich befindet, Atmosphäre« zeigt eine deutliche Unter­ scheidungsmöglichkeit zwischen kibun und kimochi: Die unsichtbare Kontur, von der bei kimochi sowie kokoro die Rede war, kann hier nicht beobachtet werden. Jedoch bereiten die zuallererst stehende Definition »Lage der Gefühle sowie Emotionen« sowie die Beschrei­ bung »ein für eine kurze Zeit lang bestehendes Fühlen [...]« die Schwierigkeit, kibun von kimochi trotz der bestehenden markanten Unterschiede zu unterscheiden. Demgegenüber lassen sich ihre jewei­ ligen Charakteristiken doch in konkreten Beispielausdrücken deutlich erkennen. Vergleicht man die Beispielausdrücke aus demselben Arti­ kel, indem man experimentell die betreffenden Wörter tauscht, lassen sich einige Artikulierungsunterschiede schnell erkennen:

Die Klammer wurde zur Erklärung von der Verfasserin hinzugefügt. Das kann in Parallele zu »launischer Mensch« stehen. Das Wort »kibun-ya« an sich erweckt aber weniger den Eindruck, der Person, die als »kibun-ya« attribuiert wird, Vorwürfe zu machen, als dies beim deutschen Wort »launisch« der Fall ist. 787 I. O.: 「きぶん( 気分 )1. ある間続く感情の状態。『―を変える』。ある時の 心身の感じ。『―がすぐれない』2. そのあたり全体の感じ。雰囲気。『―を楽 しむ』『お祭り―』『―や(―屋)』その時の気分に左右され(て行動す)る たちの人。」 Nishio et al. (2016): S. 339. Die Zitierung im Original steht im Anhang 7 zur Verfügung. 785

786

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

a)

b)

老人の気持ちを大切にする。788 Rōjin no kimochi o taisetsu ni suru. (das kimochi von älteren Menschen hochschätzen: auf die Lage und Gefühle der älteren Menschen achtsam sein). 老人の*気分を大切にする。789 Rōjin no kibun o taisetsu ni suru. (Das kibun von älteren Men­ schen respektieren und hochschätzen: persönliche *Laune der älteren Menschen respektieren oder hochschätzen).

Während der Satz a) appelliert, man solle »auf die Gefühlslage der älteren Menschen achten«, kann der Satz b) mit kibun bereits auf der linguistischen Kollokationsebene nicht als ein vollständiger Satz angesehen werden. Falls dieser im Gedankenexperiment als ein vollständiger Satz angenommen werden würde, klänge es, als würden sich sämtliche jüngere Menschen den Älteren unterstellen bzw. der Laune der Älteren angemessen verhalten. Bezüglich der intentionalen Bezogenheit im Fühlen kann der folgende Vergleich hilfreich sein: a)

b)

ぼくに対してどんな気持ちでいるのか。 Boku ni taishite donna kimochi de irunoka. (Was für ein kimochi ist da, mir gegenüber?: Was für ein Gefühl hast du denn mir gegen­ über? Was empfindest du von mir, was denkst du über mich?) ぼくに対してどんな*気分でいるのか。 Boku ni taishite donna kibun de iru no ka. (Was für ein kibun ist da, mir gegenüber? – Was für eine *Laune hast du, mir gegenüber?)

Der Satz c) fragt direkt, was für ein Gefühl die gefragte Person der fragenden Person gegenüber hat, und somit ist es sehr wahrschein­ lich der Fall, dass die sprechende Person interessiert ist, zu wissen, ob sie eine romantische Hoffnung gegenüber der gefragten Person hegen darf. Demgegenüber kann der Satz d) mit kibun keine wirk­ liche Vorstellungsmöglichkeit darbieten: Auf jemanden oder etwas bezogen kann nicht von jemandes kibun gesprochen werden. Kibun lässt sich vielmehr wie »Gemütsstimmung« oder »Befindlichkeit« Der erste Satz jedes Satzpaars stammt vom bereits genannten Beitrag. Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 341. 789 Das Sternchen »*« wird in diesem Kapitel dann verwendet, wenn das betreffende Wort (in diesem Fall entweder »kimochi« oder »kibun«) im jeweiligen experimentellen Satz eine semantische Schwierigkeit und Unnatürlichkeit in Kollokation bzw. Kook­ kurrenz aufzeigt. 788

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5.2 Gemütsstimmung in situ

im Deutschen verstehen, d. h. als Ausdruck dafür, wie man sich sowohl leiblich, geistig als auch psychisch befindet; eine ganzleibliche Gefühlslage. Ein Unterschied zwischen der »Stimmung« und »kibun« lässt sich dort erkennen, dass von »Stimmung« auch unabhängig von einem bestimmten Bezugsmenschen gesprochen werden kann. Beispiele sind die Erfahrung von Stimmung in einer Gruppe sowie von einer Stimmung im Saal. Dies ist jedoch im Wortgebrauch von kibun nicht ganz der Fall.790 Im Sprechen von kibun ist es notwendig, dass da jemand ist, von dessen kibun gerade die Rede ist. Dies gilt auch, wenn diese seine Stimmung von ihm aus auf die Anderen übertragbar ist oder auf die Gruppe im Raum ansteckend wirkt. Somit lassen sich die Charakteristiken von kibun ungefähr in zwei Punkte zusammenfassen: 1. Den Anschein einer unsichtbaren Kontur, von welcher beim Wort »kimochi« die Rede war, hat kibun nicht; 2. Der intentionale Gehalt im Fühlen, worüber sowie wem gegenüber man was fühlt, ist bei kimochi, jedoch nicht bei kibun zu finden. Kibun lässt sich vielmehr als ein in den ganzen Leibkörper verteiltes Gefühl sowie als die momen­ tane, ganzleibliche Verfassung eines Menschen verstehen, und zwar ohne dabei die Möglichkeit auszuschließen, dass dieses Gefühl direkt mit der kollektiv geteilten Stimmung verbunden ist. Es ist vielmehr eine Art Gemütsstimmung von einem Menschen, die direkt mit der Stimmung des Ortes verbunden ist bzw. in Wechselwirkung mit dieser steht. Trotz der Konnotation, dass kibun immer eine Gemütsstimmung von jemandem ist, scheint dabei die Körperkontur eines Menschen, die einen von den Anderen trennen soll, keine Rolle zu spielen. In Beispielen wie »kibun o tanoshimu« (das kibun genießen: gute Stimmung genießen) sowie »omatsuri-kibun« (Schreinfest-kibun: Feierliche Stimmung / zerstreuter geistiger Zustand) ist dies erkenn­ bar. Es kann sowohl die Stimmung sein, die sich vor Ort verteilt, als auch die Stimmung, die auf einen mal fröhlich, mal trist und in allen Fällen ansteckend wirken kann. Dies kann möglicherweise einerseits an der Grundstruktur des Wortfelds liegen, also daran, dass ki keine Kontur zwischen dem Außen und Innen sowie dem Subjekt und Objekt voraussetzt. Andererseits kann dies ebenso an dem Teil des 790 Ein Beispiel ist, dass man den Ausdruck »die Stimmung des Raums« ins Japani­ sche nicht mit der wörtlichen Übertragung »heya/kūkan no kibun« übersetzen kann. Zur Übersetzung des Ausdrucks wird das Wort »fun’iki« (雰囲気 Atmosphäre) ange­ nommen.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Kompositums »bun« (分) liegen, das »teilen« heißt. Auf das »geteilte ki« sowie »Anteilhaben am ki« wird in den kommenden zwei Kapiteln ausführlicher eingegangen.

5.2.2 Befindlichkeit und Stimmung Eine Gemeinsamkeit der bisher im vierten und fünften Kapitel the­ matisierten Ausdrücke ist insgesamt mit der impersonalen Art und Weise der Erfahrungsentfaltung, die jedem Aufmerken der Wahrneh­ mung und Empfindung vorausgeht, zu charakterisieren. Diese scheint – auch wenn unbemerkt – stetig am Werk zu sein, auch wenn die personale Erfahrungsebene des Fühlens in den Vordergrund tritt, d. h. auch in dem Moment, in dem ein intentionales Gefühl wie kimochi entsteht. Der Begriff der »Befindlichkeit« bei Martin Heidegger kann hier in diesem Bezug einen erhellenden Blick darbieten: Wir sind »je schon immer gestimmt«791. Für Heidegger ist das Gestimmtsein zugleich die fundamentale Weltbezüglichkeit, wodurch sowohl jedes Individuum gegenüber der Welt als auch die Welt dem Individuum erschlossen und die Bezugnahme auf Dinge ermöglicht wird.792 Es ist keineswegs die Sicht der vorliegenden Arbeit, kūki und kibun mit dem Stimmungsbegriff bei Heidegger zu ersetzen. Mit der gewissen Parallele, die hier vor allem zwischen »kibun« und »Stimmung« erblickt werden kann, wird vielmehr zu pointieren gesucht, dass das Phänomen der Stimmung und der Befindlichkeit eine besonders wichtige Rolle spielt, auch in Wahrnehmungen von Eindrücken, aber auch in Handlungen.793 Nicht nur für die Erfahrung von »ki ga suru« (ki ga suru – ki tut: Es kommt mir/einem … vor)794, aber auch vom immersierenden kūki sind der vorreflexiv laufende leibliche Wahrnehmungsvollzug – sei es in Form von leiblichen Kom­ munikationen, sei es in Resonanzen durch die affektive Relationalität

Heidegger (1967): S. 134. Vgl. das Zitat: »Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf […] allererst möglich.« Ebd.: S. 137. 793 So ist »jedes Verhalten des geschichtlichen Menschen [...], ob betont oder nicht, gestimmt«. Heidegger (1967): S. 192. 794 Siehe: Kapitel 4.1.2. 791

792

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5.2 Gemütsstimmung in situ

– entscheidend. Bei Heidegger hieße dies: »Die Stimmung macht offenbar, »wie einem ist und wird«.«795 Hierbei ist zu pointieren, dass diese große Rolle der Stimmung sicherlich wiederum zu Konsequenzen führen kann, wenn der Erfah­ rung der Stimmung allzu große Macht gegeben oder zugeschrieben wird. Es handelt sich hier nicht nur um die Erfahrung von einneh­ mendem kūki796, sondern auch um die Gemütsstimmung eines Men­ schen: Beim Beispiel »kibun-ya« (wörtlich: kibun-Laden, launischer Mensch) spricht man von einer Person, die allzu sehr passiv gegen­ über seiner eigenen Laune steht: Sie verhalte sich so unkontrollierbar launisch, dass die anderen Menschen in ihrer Umgebung gezwungen oder dazu gebracht werden können, sich an ihre Äußerungen oder Handlungen anzupassen oder aber nichts Anderes wollen, als die Begegnung mit der Person zu vermeiden – denn sie hat möglicher­ weise eine Schwierigkeit, sich selbst stimmungsmäßig zu regulieren. Es ist gleichermaßen möglich, dass die Person nicht nur »versklavt« von ihrer Laune ist, sondern auch von verschiedenen Sensationen und Empfindungen am eigenen Leib. Es handelt sich somit um eine Haltung, zu passiv in Bezug auf jede aktuelle Lage bestimmter Empfindungen, Eindrücke und Stimmung zu stehen – sei es gegenüber eigener Gemütsstimmung, der Stimmung des Ortes oder jener von Anderen. Indem man sich befindet, ist dies eine unbemerkt laufende Haltung, sich auf die Stimmung allzu sehr passiv einzulassen oder sich ihr zu unterwerfen. So kann es vergessen oder verlernt werden, dass man selbst doch ein:e Mitgestaltende:r dieser Stimmung ist. Heidegger erwähnt diesbezüg­ lich etwas dazu, »Herr« der Stimmung zu sein: Daß ein Dasein faktisch mit Wissen und Willen der Stimmung Herr werden kann, soll und muß, mag in gewissen Möglichkeiten des Exis­ tierens einen Vorrang von Wollen und Erkenntnis bedeuten. Nur darf das nicht dazu verleiten, ontologisch die Stimmung als ursprüngliche Seinsart des Daseins zu verleugnen, in der es ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen ist. Und überdies, Herr werden wir der Stimmung nie stimmungsfrei, sondern je aus einer Gegenstimmung.797

795 796 797

Heidegger (1967): S. 192. Siehe Kapitel 4.3. Heidegger (1967): S. 136.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Hier in dem Zitat werden die Begriffe »Wissen« oder »Willen« dem Stimmungsbegriff vielmehr entgegen als jenem zugehörig gesetzt. An der Stelle fokussieren wir uns kurz auf die Thematik, was es heißt, »Herr« der Stimmung zu sein bzw. die Stimmung zu regulieren. In diesem Rahmen kann nicht auf die Definition der Begriffe »Wissen« und »Willen« eingegangen werden. Zu betonen ist jedoch, dass ki als Wortfeld dem Gebiet nicht entgegengesetzt werden kann, das deutschsprachig auch mit »Wille«, »Wollen« oder »Motivation« ange­ sprochen wird.798 Die Ausdrücke sind teilweise auch in Beispielen aus dem Wörterbuchartikel zu ki zu finden: kigai (気概) ki-zusammengesetzt: »Willenskraft, tapfere Umset­ zungskraft, Kraftvoll-Sein, sich unter jegliche Schwierigkeit nicht unterdrücken zu lassen.«799 ki’en (気焰) ki-Flamme: »Willenskraft und Energie, die glüht und fast aufflammt.«800 iki (意気) Willens-/Meinens-ki: »Wimmelndes genki, Energie und geistige Kraft. Aktiver Herzgeist, motiviert etwas zu schaf­ fen.«801 konki (根気) Wurzel-ki: »Vital- und Willenskraft, mit der man ohne eine Sache, die man bereits angefangen hat, aufzugeben, weiter macht.«802 haki (覇気) Vorherrschafts-ki: »1. herausströmende Willens­ kraft. 2. Wille um die Herrschaft. Ambition.«803 honki ( 本 気 ) echtes/wahres ki: »Ein wahrhaftes kimochi (Gefühl). Gefühl voller Ernst.«804 Das deutsche Wort »Wille« wird im heutigen Japanischen als ishi (意志) übersetzt. Das Wortzeichen für shi (志) war bereits im alten China präsent. Die bereits in Kapitel 3.1.1 eingeführte Zitatstelle von Mengzi beinhaltet das Zeichen, das nach der kon­ ventionellen Übersetzung mit »Wille« übersetzt wird. Vgl.: Ommerborn (1996): S. 29. Sowie Kobayashi (Hg.) (2014): S. 120. 799 I. O.: 「困難にも屈しない強い意気。気骨。はり。『 - を示す』」Nishio et al.: S. 318. 800 I. O.: 「(燃え上がるような)さかんな意気 [...]。」 Ebd.: S. 317. 801 I. O.: 「あふれる元気。気概。」 Ebd.: S. 59. Zum Wort genki (aus dem Kapitel 3.2.2): »genki (元気 ) Ursprungs-ki: Energie und Kraft, die Aktivitäten erzeugen, und die Art und Weise, dass diese Energie und Kraft überlaufend vorhanden ist. Oder auch eine gesunde Kondition eines Menschen« Nishio et al. (2016): S. 449. 802 I. O.: 「ひとつの物事を途中で投げ出さずにし続け得る精力。」 Ebd.: S. 534. 803 I. O.: 「1. あふれるばかりの意気。[...] 2. 覇者になろうとする意気。野心。」 Ebd.: S. 1181. 804 I. O.: 「冗談でない本当の気持。」 Ebd.: S. 1393. 798

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5.2 Gemütsstimmung in situ

shōki ( 正 気 ) richtiges ki: »Großherzige, richtige, klare und gerechte ki-Kraft, die zwischen dem Himmel und der Erde als existent angesehen wird, sowie die aufrichtige, aktive geistige Kraft und deren Temperament.«805 shiki (志気) ambitioniertes ki, um etwas zu schaffen: »Ambitio­ nierter Wille, den man hat, wenn man etwas tut.«806 All die Ausdrücke, kigai (気概), ki’en (気焔), iki (意気), konki (根気) und haki (覇気), können als spezifische Modi der Gemütsstimmung und Temperamente eines Menschen verstanden werden, die jedoch im deutschsprachigen Raum in der Philosophie mit den Worten »Wollen« sowie »Wille« in Bezug stehen können. Es handelt sich hier um die feurig glühende Motivation bei einer Tätigkeit (kigai, ki’en, iki, konki sowie haki). Bei honki (本気) handelt es sich zusätzlich um eine Ernsthaftigkeit im Tun und Meinen, bei shōki (正気) um die »rich­ tige« geistige Verfassung, die auch dem Vernünftig-Sein sowie dem Verstand im Deutschen nahesteht.807 Bei shiki (志気) handelt es sich um das kraftvolle (und geduldige) Wollen einer »Sache, an die sich das Herz richtet«808. Die Modi des Sich-Befindens hier umfassen die Gemütslage, das Temperament, aber auch die geistige Verfassung, die sich selbst aktiv und kraftvoll stellt. So steht das reflexive, jedoch aktive Tun des SichStellens im Vordergrund. Wie das Sich-Befinden der Befindlichkeit sprachlich eine reflexive Form hat, muss doch auch die Befindlichkeit ursprünglich selbst gestellt worden sein – wenn auch unbemerkt. So gesehen scheint ebenso im ki-Wortfeld kein »Herr« der Stimmung als fremde Instanz von außerhalb des Gestimmt-Seins mehr nötig zu sein, um motiviert, kraftvoll an etwas tätig zu sein. Dies ist sicherlich der Flexibilität des Wortfeldes zu verdanken, dessen I. O.: 「天地の間にあると考えられる、おおらかで正しい、公明な気力。ま た、人間の正しい意気・気風。」Ebd.: S. 788. 806 I. O.: 「物事をするに当たっての盛んな意気。」 Ebd.: S. 602. 807 Eine Formulierung mit »Verstand« ist im Wortgebrauch der gesprochenen Spra­ che: 正気を失う (shōki o ushinau – das shōki verlieren: Verstand verlieren). So gesehen muss der Verstandesbegriff hier mit dem in der Philosophie nicht in einem direkten Zusammenhang betrachtet werden, es ist jedoch nicht verboten oder möglich, assoziative Verbindung einzusehen. 808 Kokorozashi (志) aus shiki (志気) sowie ishi (意志 Wille) wird diesbezüglich in Kōjien (広辞苑) folgenderweise definiert: »1. Dort, wonach sich das Herz richtet. Das, was man vom Herzen aus werden möchte«. I. O.: 「1. 心の向かうところ。心にめざ すところ。[...]」 Shinmura et al. (2020): S. 1045. 805

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Breite bereits im Begriffspaar von Yin (陰) und Yang (陽) zu sehen ist: Ki formt und bewegt sich von Natur aus zwischen Aktivität und Passivität.809 So kann ki selbst der »Herr« oder besser das mitgestaltende Moment von sich selbst sein. Aber wie das? Der reflexive Aspekt im Stimmungs- und Befindlichkeitsbegriff, »sich« zu »stimmen« bzw. »sich« zu »befinden«, ist hier erneut vor Augen zu führen.810Auch die Stimmung durch »Gegenstimmung« gemäß den Worten Heideggers, »Herr werden wir der Stimmung nie stim­ mungsfrei, sondern je aus einer Gegenstimmung«811, beruht auf dem Sich-Stimmen eines Individuums in seinem konkreten Situiertsein. So gibt es also im Gestimmt-Sein doch keinen Moment, um abzu­ warten, bis die »Gegenstimmung« da ist. Denn das Abwarten kann einen wiederum dazu bringen, sich der eigenen Gemütsstimmung und der Stimmung des Ortes (allzu) passiv gegenüber zu stellen. Die Konsequenz dieses Falls wurde bereits in Kapitel 4.3.2 als eine kritische Dimension kollektiver Stimmungs- und Atmosphärenerfah­ rung erwähnt: das Ausblenden der denkbaren Konsequenzen von Urteilen oder Entscheidungen, das mit dem Ausblenden von ganz verschiedenen kleinen Wahrnehmungen, Empfindungen, Eindrücken und Gefühlen einhergehen kann. Kimura übersetzt das Wort »kibun« mit »Anteil am ki« und führt die Formulierung »Anteilhaben« ein. Dies kann dem deutschen Sich-Stimmen nahegestellt werden. Seine Auslegung von ki als Luft sowie etwas Luftartiges ist hierzu anzuführen: Ki-Bun heißt wörtlich »Anteil am Ki«. In ihm wird zunächst so viel ausgesagt, daß jeder Mensch seinen eigenen Anteil an dem an sich universalen, gemeinsamen Ki hat, und daß diese Art und Weise, der individuelle Stil und der je nach den Umständen veränderliche Modus dieses Anteilhabens seine jeweilige Stimmung bestimmen. Hat man auf glückliche Weise am Ki Anteil, so waltet eine glückliche Stimmung.

809 Zur Erinnerung: Yin (陰) steht ursprünglich für die schattige Seite und Yang (陽) für die sonnige Seite des Berges. Yin repräsentiert daraus die passivere, Yang die akti­ vere Eigenschaft von qi. Vgl.: Yamaguchi (1997): S. 46. Linck (2022): S. 18–22. Siehe auch: Kapitel 3.1.1. 810 Siehe auch: Nitta: »Chi no jishōsei to sei no konponkibun (Grundstimmung)« (知 の自証性と生の根本気分 (Grundstimmung)), in: Rinshō tetsugaku no shosō – shintai, kibun, kokoro (臨床哲学の諸相, 身体・気分・心), 2006, S. 263. 811 Heidegger (1967): S. 136.

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5.2 Gemütsstimmung in situ

Das spricht man japanisch mit einer Redewendung »Ki-Bun ga yoi«, wörtlich »Ki-Bun ist gut«.812

Hier spricht Kimura von der Zwischenspanne, in der sich ki stetig zu bewegen scheint, indem man »eigenen Anteil an dem an sich universalen, gemeinsamen Ki« hat. In dieser Zwischenspanne zwi­ schen »dem an sich universalen, gemeinsamen Ki« und dem »Anteil­ haben« an diesem, was jedem Individuum unterschiedlich geschieht, verkörpert sich kibun bei Kimura.813 So lässt sich die letzte Frage der vorliegenden Arbeit folgenderweise stellen: Wie hat man an »dem an sich universalen, gemeinsamen Ki« »seinen Anteil« – sei es in einer konkreten Situationsstimmung, sei es im Sich-Befinden im eigenen Zimmer?814

5.2.3 Anteil machen am ki Sowohl bezüglich des personalen als auch des impersonalen Fühlens, dessen Artikulierungsformen bisher im Horizont der japanischen, gesprochenen Sprache aus dem ki-Wortfeld gesucht wurden, ist eines nun deutlich: Es vollziehen sich immer schon Wahrnehmungen, Empfindungen oder Kommunikationen in unserem Situiertsein – ob in Form von Resonanz der Interaffektivität, oder im Situiertsein als »Fleisch«, ohne dass man dabei bemerken müsse, in was für einer Gemütsstimmung man sich befindet.815 Dies setzt sich fort, auch in Momenten, in denen es einem unbemerkt ist (kizuite inai: ki ist (noch) nicht geheftet – unbemerkt sein), von was für einer Ortsstimmung (fun’iki oder kūki) man gerade umgeben, immersiert oder absorbiert ist. Dies scheint sich zu vollziehen, auch ohne, dass man sich von einem intentionalen Gefühl wie kimochi betroffen fühlen muss. Es kann doch wiederum auch der Fall sein, dass erst durch das Aufmerken eines intentionalen Gefühls das »Wie« des eigenen Sich-Befindens bewusst gemacht wird. Es scheint ein gesamt­ leibliches, immer fortlaufendes, auch unbemerktes Laufen von etwas 812 Kimura (1969): S. 29. Bei der Schrift schreibt Kimura Ki groß, während er in der anderen Schrift (Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Subjektivität (1995)) ki klein schreibt. 813 Ebd. Siehe auch: Ebd.: S. 30; Doi (2019): S. 156f. 814 Kimura (1969): S. 29. 815 Vgl.: Merleau-Ponty (1968): S. 185ff. u. A.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

zu sein, das die Art und Weise des intentionalen Fühlens, des Denkens und, noch fundamentaler, der Weltbezüglichkeit des Individuums mit färbt und gestaltet.816 Dieses wird in der vorliegenden Arbeit »impersonales Fühlen« genannt, dessen Bereich, von der aktuell mit Personalität erlebten Welt aus gesehen, wie ein entweder fremdes oder sogar abwesendes Gebiet817 erscheint, obschon jene Welt sich selbst darauf stützt.818 Die Aufgabe für jedes Individuum als empfindende Person hat somit mit dem Umgang mit diesem Gebiet, dem Impersonalen, vom Blick der personal erlebten Welt aus, zu tun. Das Machtvolle des Gestimmt-Seins respektierend, oder gerade aufgrund dieses Macht­ vollen, ist die Möglichkeit ans Licht zu bringen, dieses impersonale Gebiet nicht auszugrenzen, sondern ihm aktiv zuzuhören. Denn dieses Gebiet verknüpft sich letzten Endes mit dem Diskurs der (kritischen) Ästhetik der Atmosphäre Böhmes, in welchem die Macht der Machbarkeit der kollektiv geteilten Atmosphäre pointiert wird.819 So scheint die Aufgabe hier darin zu bestehen, über die Pointierung der Möglichkeit (Machbarkeit) der sich reflexiv gestaltenden Gemüts­ stimmung (des Sich-Stimmens) hinaus, diese Gestaltbarkeit eigener Gemütsstimmung sowohl als Gestaltende als auch Gestaltete kritisch wahrnehmend (weiter) zu praktizieren. Diese Praxis vollzieht sich primär in einem vorwissenschaftlichen Bereich. Denn man ist – gewollt oder ungewollt und wenn auch teilweise – unvermeidlich selbst »Herr« der Stimmung, der diese mitgestaltet, und die wiederum die Stimmung einer kollektiv geteilten Situation mit färbt. 816 Dieses Gebiet in der Leiblichkeit lässt sich in der Phänomenologie der Wahrneh­ mung Merleau-Pontys als solches verstehen, das dem »habituellen Leib« (le corps habituel) zugehört (Merleau-Ponty (1945): S. 98 u. A.). Diese Dimension der Leib­ lichkeit kann verschiedenartig genannt werden, mit unterschiedlichem Fokus und Hintergrund. Yamaguchi nennt diese eine »vorwissenschaftliche Dimension« (先学 問的次元) und bezieht sich ebenso auf die chinesische Medizin (in der das Konzept des qi zur Erklärung gesamtleiblicher Gesundheit vorausgesetzt wird), in der das Leben eines Menschen von seinem Gesamten aus behandelt wird – nicht nur die Erkrankungsstelle beobachtend, sondern auch von der gesamten Leiblichkeit inklusive des interleiblichen und sozialen Zusammenhangs des Menschen aus. Yamaguchi (2004): S. 74. 817 Bei Merleau-Ponty kann dies auf den Terminus »Schweigen« (le silence) bezogen werden. Merleau-Ponty (1964): S. 222. 818 Dies lässt sich auch in der »Anonymität« des Empfindens, auf die von MerleauPonty hingewiesen wird, erblicken. Vgl.: Merleau-Ponty (1945): S. 249. 819 Böhme (2017): S. 25, 39.

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5.2 Gemütsstimmung in situ

In jedem Ort kommunizieren sich unterschiedlichste (Gemüts)Stimmungen, Atmosphären, Gefühle, Eindrücke, Empfin­ dungen u. A. auf verschiedenste Sinne wirkend, und sich sowohl auf der personalen als auch impersonalen Ebene bewegend. Somit ist festzustellen, dass die Basis der kritischen Wahrnehmung und Mitge­ staltung von Atmosphären, (Gemüts)Stimmungen oder kūki in jedem Hier-und-Jetzt offenliegt. Sie steckt nicht nur im künstlerischen oder politischen Kontext, sondern stetig auch in jedem Ort und jeder Zeit – im Spüren des Klimas im Wohnzimmer oder im Park, in jedem situ, das mit den am nächsten stehenden Menschen geteilt wird. Die Frage danach, wie man sich ausgehend von dieser Basis – verstanden im Sinne der ubiquitären Luftatmosphäre – seinen eigenen Anteil macht, ist zugleich als jene zu verstehen, wie man sich in situ fühlt. Im bewusst vollzogenen Fragen, wie es einem gerade geht, wie man sich fühlt, was man gerade fühlt etc., beginnt eine aktive »Suche« danach, sich nicht nur die einem gerade präsenten Gefühle vor Augen zu führen, sondern auch all die verschiedensten Sinne durch zu tasten – was und wie höre ich gerade, was rieche ich jetzt wie, was bewegt sich gerade hinter mir, wie tastet mir der Wind gerade die Haut? Die Sinne verteilen sich in unterschiedliche Richtungen und sagen einem unterschiedlichste Dinge, von Zeit zu Zeit von Überraschungen begleitet. Diese Antworten der Sinne können vor allem dann überraschend wirken, wenn sie sich stark unterscheiden von der eigenen, impersonalen und vorprädikativen Attribuierung (»Zuschreibung«), die der eigenen Gefühlslage sowie Verfassung gegenüber bereits am Werk war.820 Anders ausgedrückt: Es ergibt sich die Neugestaltung der Gemütsstimmung gerade dadurch, dass man sich bewusst bemüht, sich leiblich zuzuhören. Die ausgewogene Gemütsstimmung wird im Deutschen wohl am häufigsten versprachlicht mit »es geht mir gut«.821 Der Satz »es geht mir gut«, der einem so vertraut und selbstverständlich ist, kann in unterschiedlichste Richtungen »zerlegt« werden.822 Er kann gemeint sein im Sinne von: »Ich habe gerade keinen Kummer«, »Auch der Kummer juckt mich gerade nicht«, »Ich habe heute besonders gut geschlafen« oder auch »Heute haben wir schönes Wetter«. Es gibt sicherlich auch Fälle, in denen gemeint ist, »gutes, ausgewogenes Bezüglich der Antworten der Sinne im Kontext leiblicher Empfindungen siehe auch: Merleau-Ponty (1945): S. 248. Dt. Übersetzung: Merleau-Ponty (1964): S. 215f. 821 Auf Japanisch wäre dies beispielsweise: Genki desu (元気です). 822 Heller (1981): S. 171. 820

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Essen haben zu können«, »von Menschen umgeben zu sein, mit denen man in guter ›Resonanz‹ steht« oder einfach »sich bei sich zu fühlen«. Es erschließen sich – im genaueren Zuhören – immer weitere, verschiedene Formen von »es geht mir gut«. Dies vollzieht sich getragen von verschiedenen Arten der Tonalität bzw. imperso­ naler und leiblicher Kommunikation im Situiertsein, die sicherlich zusammen mit verschiedenen Erinnerungen das aktuelle »es geht mir gut« realisieren lassen. Es sind somit nicht nur die Attribuierungen, die machtvoll sein können, sondern gerade die Worte, und zwar die eigenen Worte, in denen die sowohl kulturell als auch biographisch und persönlich (weiter)gebildeten Selbstverständlichkeiten stecken. Was man unter welchem Wort versteht, hilft beim Wahrnehmen, verdeckt aber auch etwas beim Wahrnehmen.823 Bereits in der impersonal laufenden Gestaltung dieses »Jetzt«, das auch unbemerkt immer fortläuft, waren schon irgendwelche Worte am Werk. Wie der im japanischen Alltag recht gebräuchliche Satz »Nani­ goto mo ki no mochiyō da« (»Alles hängt von der Art und Weise der ki-Habe ab: Alles ist, wie man’s nimmt«)824 verdeutlicht, kann »alles« vom »Wie« des Anteilhabens abhängen – sei es die »Situationsstim­ mung«, sei es die sich immer fort ändernde »Gemütsstimmung«. Die Art und Weise der »ki-Habe« bzw. des »Anteilhabens« an der ursprünglich von allen gleichmäßig geteilten Luft spiegelt sich in der fortlaufenden Einschätzung der Gefühlslage wider, sowohl von den Anderen als auch von sich Selbst. Diese Einschätzung läuft auch ohne um sie zu wissen, wie die »Protention« bei Husserl.825 Die Worte, die sich hier impersonal in Form von Attribuierungen von (Gemüts)Stimmung, Atmosphäre und Gefühlslage manifestie­ ren, sind somit wohl nicht nur die Worte, die zum Sprechen (im »Bewusstsein«) präsent sind, sondern auch die Worte, die nicht Dieser Punkt wurde in Kapitel 2.3.1 und 2.3.2 bereits behandelt. In den japanischen Schriftzeichen: 何事も気の持ちようだ. Kimura erklärt den Spruch so: Dies »besagt, daß dieselbe Situation oder derselbe Sachverhalt für einen selbst durchaus verschiedene Bedeutungen bekommen kann, je nach dem, auf welche Weise man an dem ki teilhat, das sich zwischen einem selbst und diesem Sachverhalt ausbreitet.« Kimura (1995): S. 128. 825 »Protention« meint bei Husserl eine Form der Intentionalität, die jede Gegenwart des Bewusstseins vorbereitet oder dieser bevorsteht. Dieser wird die Funktion zuge­ schrieben, neben aktuellen (zeitlichen) Eindrücken die Präsentation von zukünftig zu geschehenden Eindrücken zu erfüllen. Vgl.: Husserl (2001), S. 3–19, S. 125–153; Husserl (2013): S. 57f. 823

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5.3 Fazit des Kapitels

ausgesprochen, und nicht einmal vom sogenannten »Bewusstsein« beleuchtet worden sind. Die irgendwo erlernten, völlig unbemerkt gesammelten und vergessenen Erfahrungen von Worten (und ihrem Gebrauch) können dabei unbemerkt etwas mit der Gemütsstimmung machen, das im weiteren Verlauf die zwischenmenschlich geteilte Stimmung mitgestaltet. Das sind die Selbstverständlichkeiten, die sich auch auf der Ebene des Wortgebrauchs widerspiegeln können, welche mit dem kulturell und individuell erlernten/gebildeten Vorwissen einhergeht. So scheint es, dass es nicht nur die Leiblichkeit ist, die in Begleitung vom Zuhören beachtet werden soll, sondern dass dies auch für die eigenen Worte gilt, mit denen man nicht nur mit Anderen, sondern auch mit sich selbst umgeht. Das Hören auf das eigene leib­ liche Situiertsein kann von irgendwelchen Worten begleitet gesche­ hen. Ein bemühtes Zuhören könnte aber das Laufen dieser Worte ansatzweise anhalten, oder ihnen einen kritischen Halt geben, an welchem sich die zugehörten Worte entfalten können. Der impersonale Vollzug des Sich-Befindens und Sich-Stimmens lässt sich also als die sich reflexiv gestaltende Befindlichkeit und Stimmung verstehen, die von unserem Sprachgebrauch nicht völlig unberührt geschehen können. Diese realisieren sich, indem das »Wie« des »Anteilhabens« bzw. Sich-Befindens im Hier-und-Jetzt ansatz­ weise einem bewusst und zugänglich wird. Dieses »Wie« gestaltet weiterhin unbemerkt oder bemerkt die zwischenmenschlich geteilte Stimmung und Atmosphäre. Die kritische Ästhetik der Artikulierung des Fühlens lässt sich somit als eine Arbeit am eigenen Wortgebrauch verstehen, die unvermeidlich das Zuhören gegenüber sich selbst und den Anderen erfordert – und die stetig und ständig geübt wird.

5.3 Fazit des Kapitels Sowohl im personalen und intentionalen Fühlen (kimochi) als auch im impersonalen Vollzug des Sich-Befindens (kibun) im Horizont der Personalität lässt sich eine markante Rolle der Sprache erblicken, die auch unbemerkt einschätzt und zuschreibt, wie es einem geht und wie man sich fühlt. Dabei spielt sicherlich die Kinästhesie des Menschen im Situiertsein im jeweiligen Hier-und-Jetzt, noch bevor ein bewusst erlebtes, leibliches Spüren herausgebildet wird, eine

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

wichtige Rolle.826 Der »habituelle Leib« (le corps habituel) bei Mer­ leau-Ponty wird in etwa als zum Unbewussten gehörig angesehen und wird von dem »aktuellen Leib« (le corps actuel), der die sichtbare und vergegenständlichte Seite des Körpers vertritt, unterschieden.827 Der sich auch unbewusst, habituell bewegende Körper unterstützt die Erfahrung des Leibes bzw. des bewusst erlebten Körpers (le corp actuel).828 In allen möglichen Praktiken, nicht nur aus dem sportli­ chen Bereich, sondern auch aus Bereichen, deren Fokus im ersten Blick nicht primär auf die Körperlichkeit bezogen erscheint, findet man diese Dimension: Angefangen im künstlerischen Bereich mit dem Singen, Instrument-Spielen bis hin zu einzelnen menschlichen Bewegungen aus dem Alltag wie z. B. Tippen der Tastatur, Schneiden von Gemüse beim Kochen, aber auch dem Aussprechen von Worten oder einfach dem Atmen. All diese Tätigkeiten verdanken die Ein­ übung der Grundbewegungen und -techniken zunächst einmal der Einübung, die in der bewusst erfahrbaren Dimension des »aktuellen Leibes« vollzogen wird, bis sich diese schließlich auf der Ebene des »habituellen Leibes« verwurzelt.829 Auch die habituell und kulturell unterschiedlich erlernte und weitergegebene Gestik, die ihre eigenen Selbstverständlichkeiten bildet, gehört hierzu. Dass die aktuellen, kleinsten Wahrnehmungen häufig so unbe­ merkt laufen, dass dies von Zeit zu Zeit (zu) spät zu bemerken ist (wie es in Erfahrung von kūki der Fall sein kann), kann möglicherweise auf­ grund der Unausgeglichenheit zwischen der habituellen und aktuellen Leiblichkeit geschehen, in welcher die habitualisierten Dimensionen des Körpers (le corps habituel) die aktuelle leibliche Erfahrung zum Abstrahieren bringen können.830 Der Leib bei Merleau-Ponty nimmt wahr und bewegt sich anhand von dessen habitualisierter Seite nach dem »sensorisch-motorischen Kreislauf« (le circuit sensori-moteur), Kaneko (2007): S. 6f. Merleau-Ponty (1966): S. 107. Merleau-Ponty (1945): S. 98. 828 Ebd. 829 Vgl.: Kakinuma »Ninchi baiasu to shintaizushiki« (認知バイアスと身体図式 – 人間の認知と身体の関係についての試論), in: Merurō pontī kenkyū (メルロ=ポン ティ研究), 2013, S. 19. Nach der Verwurzelung sowie in der Verwurzelung der Grund­ techniken kann außerdem eine Transformation der Grundmuster geschehen, die auch als »Interpretation« der Grundtechniken am individuellen Leib verstanden werden könnte. 830 Hierbei handelt es sich gleichzeitig um verschiedene Arten von kognitivem Bias (cognitive biases). Vgl.: Kakinuma (2013): S. 16f. 826

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5.3 Fazit des Kapitels

der von dem leiblichen »zur-Welt-Sein« aus gesehen, einen »relativ autonomen« Anschein hat.831 Zur gleichen Zeit ist zu betonen, dass es sicherlich genau dieser Dimension der menschlichen Leiblichkeit und Körperlichkeit zu verdanken ist, Fahrräder oder Autos fahren zu kön­ nen, ohne übermäßig beängstigt zu sein, oder vor einer übermäßigen Menschenmasse keine existenzielle Gefahr spüren zu müssen, auch wenn man eine von Menschen überfüllte riesige Kreuzung (wie z. B. in Shibuya in Tokyo) überquert. Einen Ausgleich der beiden Dimen­ sionen der Leiblichkeit immer schon »automatisch« zu finden – dort, wo solch ein Komplex der menschlichen Leiblichkeit entdeckt werden kann –, kann somit heißen, dass das eigene leibliche Sich-Befinden ohne bewusst erlebt werden zu müssen, je schon (weiter) läuft – ähnlich wie man »je schon gestimmt« ist.832 Die Gemütsstimmung scheint somit eine der Manifestierungsformen der Regulierung oder der Bewegungen der beiden Seiten der Leiblichkeit zu sein, auf welches es zu hören gilt – neben oder begleitet von der Arbeit an den eigenen Worten. Selbst das menschliche Atmen stützt sich ebenso auf diese Dimension der Leiblichkeit. Auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist oder es sich nicht bewusst macht, dass man gerade atmet, atmet man ein und aus. Es kann jedoch auch bewusst vollzogen werden, verfolgend und regulierend, wie langsam oder schnell, wie viel oder wenig man selbst ein- und ausatmet.833 Wie das Atmen lässt sich ebenso das leibliche Sich-Befinden bewusst machen: Z. B. indem man sich fragt: »Wie sitze ich gerade auf dem Kissen?« »Wie fühlt sich mein Nacken an?« Oder »Was sagt mir mein Körper gerade?« – und indem man den »Antworten« des jeweiligen Moments zuhört. Auch wenn der Gebrauch von Worten oder die Verbalisierung als solche immer schon das Risiko mittragen kann, etwas in der Wahrnehmung nicht nur zu erschließen, sondern auch zuzudecken, besteht selbst in Worten die Möglichkeit, den habituellen Leib anzu­ sprechen oder ihn selbst ausdrücklich sprechen zu lassen. Dort im direkten Ansprechen, wo die habituelle Leiblichkeit zu aktuellen Leiberfahrungen wird, kann – wenn auch teil- und schrittweise – an der Gewohnheit auch des habituellen Leibes gearbeitet werden. Merleau-Ponty (1945): S. 102. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 111. Heidegger (1967): S. 134. 833 Zum phänomenologisch beobachteten Zusammenhang zwischen dem Bewusst­ sein und dem Atmen siehe auch: Yamaguchi (1997): S. 74ff.

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5. Fühlen im Horizont situierter Personalität

Bezüglich der Art und Weise des »Anteilhabens« am ki kann dies Folgendes heißen: Man spricht die einem jetzt gerade nicht primär präsente Dimension des leiblichen Sich-Befindens an, legt auf diese den Fokus des Fühlens, oder lenkt auf diese die Aufmerksamkeit.834 So kann sich ein Freiraum eröffnen, indem geübt werden kann, nicht nur der eigenen Gemütsstimmung oder »Befindlichkeit«, sondern auch der schwer zu fassenden Stimmung eines Ortes zuzuhören. In dieser Übung ist man selbst sicherlich nicht mehr als reine:r Rezipient:in zu verstehen, sondern als Mitgestalter:in der eigenen Gemütsstimmung und der kollektiv geteilten Ortstimmung sowie Atmosphäre. Denn dies lässt sich auch das »schweigende« Gebiet, d. h. etwas von der automatisch laufenden Entfaltung des habituellen Leibes, gewahrer wahrnehmen. Denn dort, auf eben diesem Gebiet, differenziert sich das leibliche Fühlen sowie das Sich-Befinden vor Ort auf eine bewusstere Art und Weise, aber auch von alleine. Es ist genau dort, wo die Selbstverständlichkeiten bezüglich irgendwelcher Worte beginnen, sich sowohl vom Signifikat als auch vom Signifikanten aus, erfahrungsgemäß zu transformieren. Anzumerken ist zur gleichen Zeit, dass das Vorhanden-Sein der Vokabel inklusive des Vorwissens dessen, was für Worte für welche Art und Weise der Kinästhesie vorhanden oder erlernt sind, in diesem Transformationsprozess eine gewisse Orientierung geben kann. Ki als Wort ist somit eine von diesen Vokabeln, die das leibliche Spüren in dessen verschiedensten Manifestierungsformen sowohl im habituellen als auch im aktuellen Leib finden lassen, die sich anspre­ chen, anhören oder nachempfinden lassen. Manche Bereiche des Füh­ lens, die normalerweise durch den Mantel des bewusst erlebten, aktu­ ellen Leibes versteckt bleiben können, oder sogar zum »Schweigen« gebracht werden können, vollziehen und entfalten sich: Das leibliche Situiertsein fühlt eigentlich, bewegt sich und sagt doch vielmehr, noch bevor dies einem bewusst zugänglich wird. Es kann verschiedenste Empfindungen sein, inklusive solcher von der Situationsstimmung, in der man sich gerade befindet. Die aktuell erlebten kinästhetischen Empfindungen können jedoch durch den Mantel der »unbewusst« laufenden, habituellen Leiblichkeit abstrahiert werden. Und dort, wo sich das »Schweigen« meldet, kann bereits ein anderes Label darauf geklebt werden, als das, das sich der Leib selbst gesucht hat. Dies erinnert an den notwendigen Prozess der Kulturalisierung in der Kindheit eines Menschen. Vgl.: Stalfort (2013): S. 83f.

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5.3 Fazit des Kapitels

Die Zuschreibung und die Attribuierung, dem Fühlen, Spüren und Empfinden gegenüber, laufen fort, trotz des und mit dem leiblichen Vollzug(s) selbst. Von der linguistischen Gefühlsphänomenologie aus gesehen, besteht jedoch auch dort, im Prozess des Aufmerkens, Beschreibens sowie des Attribuierens, der habituellen und aktuellen Leiblichkeit (gegenüber), weiterhin die Möglichkeit, dass der Leib durch das Zuhören die Worte ändert, bis er sich – auch wenn nur teil- und zeitweise – beruhigt.835 Diese Übung der kritischen Ästhetik der Gefühlsartikulierung steht jeder Person offen, unabhängig von der Frage, ob man einen existenziellen Zugang zum »japanischen ki-Worfeld« hat. Die Praxis dieser Übung entfaltet sich immer schon in Form von geteilter Stimmung und Atmosphäre kollektiv. Durch das die eigenen Selbstverständlichkeiten transformierende Zuhören am Attribuieren könnte eine kreative, individuell und kollektive Mitgestaltung der Stimmung und Atmosphäre unterstützt werden.

835 An dieser Stelle kann der folgende Ausdruck relevant sein: ki ga sumu (ki erledigt sich). Dieser lässt sich in etwa mit »man beruhigt sich« übersetzen. Der japanische Psychiater Doi betrachtet psychopathologisch ein Beispiel aus einem verwandten Phänomen in der Negationsform: ki ga suma nai, d. h. »dass man sich nervös und unruhig fühlt«. Vgl.: Doi (2019): S. 177–184, eigene Übers.

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6. Fazit und Ausblick

Am Ende der vorliegenden Arbeit stehen sowohl ein Rückblick als auch ein Ausblick. Zunächst werden einige abschließende, sowohl methodische als auch inhaltliche Bemerkungen getroffen, die die vorliegende Arbeit noch einmal in einen laufenden Forschungsdiskurs einordnen. Daraufhin werden die Ergebnisse der Arbeit – wenn man sie denn als »Ergebnisse« bezeichnen soll – in zwölf Thesen aufge­ listet, erläutert und eingeordnet. Diesen folgt am Ende der Arbeit ein Ausblick mit einer kritischen Perspektive zu an das vorliegende Thema anschließenden Fragestellungen und Forschungsansätzen.

i. Zum Schluss Die vorliegende Arbeit ist mitunter den Beiträgen der deutschsprachi­ gen Vorforschungen zu der Phänomenologie des ki beispielsweise von Yamaguchi Ichirō sowie Hisayama Yuho zu verdanken. Der Ansatz Yamaguchis charakterisiert sich dadurch, dass, über das Leib-SeeleProblem hinaus, das »Zwischen« des ki als Basis der Zwischenleiblich­ keit anhand seiner konkreten Beobachtungen leiblicher Praktiken mit den spät-husserlianischen phänomenologischen Termini ausführlich behandelt wird. Der Ansatz Hisayamas, in dem die Erfahrung des Fühlens anhand verschiedener Beispielausdrücke aus literarischen Werken Natsume Sōsekis aus der Perspektive der Atmosphärenerfah­ rung analysiert wird, charakterisiert sich durch die Anlehnung an die Leibphänomenologie Hermann Schmitz’ sowie die Ästhetik der Atmosphäre Gernot Böhmes. Antwortend auf und inspiriert durch die zwei Ansätze legt die vorliegende Arbeit den Fokus auf den Prozess der Gefühlsbildung anhand von zwei Perspektiven, die aufeinander verweisen können: 1. die Leibphänomenologie und Sprachphäno­ menologie Maurice Merleau-Pontys, in denen die Wahrnehmung, Empfindung sowie Gefühle in Kontinuität gedacht werden, sowie 2. die linguistische Phänomenologie John Langshaw Austins, die

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6. Fazit und Ausblick

einen genaueren methodischen Hinweis zur phänomenologischen Betrachtung des Sprachgebrauchs gibt. So lässt sich der Kern der vorliegenden Arbeit folgenderweise charakterisieren: den Prozess der Gefühlsbildung aus dem ki-Wort­ feld unter Rücksichtnahme auf die Unterscheidungsmöglichkeit zwi­ schen der personalen und impersonalen Erfahrungsebene zu überbli­ cken, indem die Breite und die Vielfalt der Wortbedeutungen und des Wortgebrauchs des ki anhand lexikalischer Beiträge aufgezeigt wird. Um dieses Vorhaben zu erfüllen, war es eine methodische Bedingung, auf die Problematiken interkultureller Forschungen einzugehen. Die Vielfalt der natürlichen Sprachen, die nicht nur unterschiedliche Arti­ kulierungsweisen, sondern auch unterschiedliche Erfahrungsweisen des Fühlens ersichtlich machen können, ist auch bei der Anwendung von phänomenologischen Methoden im Auge zu behalten. Trotz der Verwendung der lexikalischen Beiträge kennzeichnet sich die Methode der vorliegenden Arbeit dadurch, sich nicht der diskursiven Analyse des ki, sondern der Beobachtung des konkreten, alltäglichen Sprachgebrauchs aus der Gegenwart zu widmen. Denn jeder konkrete, alltägliche Sprachgebrauch ist selbst nichts anderes als Phänomen und Erfahrung. So wie das Reflektieren des Unreflektierten, zu welchem auch die kulturell, aber auch individuell und leiblich gebildeten Selbstver­ ständlichkeiten gehören – wie bei der phänomenologischen Reduktion Merleau-Pontys als Methode –, die »Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« (« l’impossibilité d’une réduction complète »)836 aufzeigt, sollte auch die Relativierung eigener bisher gebildeter Selbstverständ­ lichkeiten als eine Anschlussmöglichkeit betrachtet werden, um wei­ teres Reflektieren des Noch-Nicht-Reflektierten in diesem Hier-undJetzt zu erschließen. So kann irgendein Geräusch, ein bestimmter Geruch oder die Präsenz irgendeiner Pflanze, alles leibliche Spüren, dem man möglicherweise bereits begegnet war oder dem man täg­ lich begegnet, auf einmal erstmal, neu oder anders »in den Sinn kommen.« Diese Eindrücke können anfangen, uns auf einmal mit einem bestimmten Drang anzusprechen, und sich plötzlich markant und sinnhaft artikulieren und differenzieren lassen. Die Transforma­ tion der Wahrnehmung und Empfindung findet immer schon statt, fortlaufend und momenthaft die Art und Weise der u. a. verbalen 836 Merleau-Ponty (1945) : Avant-Propos VIII. Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1966): S. 11. Siehe auch Depraz (2002): S. 115ff.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

Artikulierungsform mit verändernd, häufig sicherlich auch ohne, dass dies von einem selbst bemerkt wird.

ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit These 1: Eine Phänomenologie des Fühlens setzt zwangsläufig eine Kulturalität des Fühlens voraus. Hierzu ist methodisch eine bestimmte Aufmerksamkeit erforderlich. Es ist nicht übertrieben zu formulieren, dass jede Phänomenologie des Fühlens einen anthropologischen Aspekt innehat und somit immer eine Phänomenologie von Gefühlsbildung in einer oder mehreren bestimmten Kultur(en) zu sein hat.837 Die Kulturalität (kulturelle Differenz) der Gefühle kann auf der Wortebene, auch im Gebrauch der alltäglichen Wörter (wie z. B. fühlen, feel sowie sentir), innerhalb der benachbarten europäischen Sprachen festgestellt werden. Wie das tschechische Beispiel Lítost sowie die tahitianischen Vokabeln tōiahna und pe’ape’a aufzeigen, sind je nach Sprache unterschiedliche, unübersetzbare Gefühlsartikulierungen zu entdecken. Die Unüber­ setzbarkeit von Vokabeln einer Sprache in eine andere bzw. die dabei beobachtbaren Inkompatibilitäten können jedoch nicht essentialisiert werden. Denn das Nicht-Vorhanden-Sein einer Vokabel in einer anderen Sprache als der eigenen Muttersprache schließt weder aus, noch verhindert es die Möglichkeit, einen Zugang zu der die Vokabel betreffenden Erfahrung als solche zu haben, lernen oder entwickeln. Die Beschreibungen der Handlungen sowie der Situation, in der eine Vokabel bzw. ein Ausdruck gebraucht wird, helfen dabei. Es ist wiede­ rum noch im Auge zu behalten, was für eine Schwierigkeit darin liegen kann, die Gefühlsartikulierung sowie beschriebene Situation aus der fremden Kultur nicht nach dem Maße der eigenen muttersprachlichen Kultur zu beobachten bzw. überhaupt zu beurteilen. Die Empfindungen als solche können unabhängig von Mutter­ sprache(n) jedem Menschen zugänglich sein. Es variiert jedoch, je nach den verfügbaren Vokabeln (der einem vertraulichsten Sprachen), auf welche Empfindungen und auf welche Art und Weise die Auf­ merksamkeit auf jeweilige Empfindungen durch die erlernte Kultura­ Die Bedeutung der gemeinsamen Arbeit von Anthropologie und Phänomenologie im Bereich Emotionstheorien siehe: Landweer (2019): S. 48.

837

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6. Fazit und Ausblick

lität tendenziell gelenkt wird. So kann die Artikulierungsweise der Gefühle die Erfahrungsweise und den Umgang mit dem Gefühlserleb­ nis unterschiedlich gestalten. Auch die Art und Weise der Erklärung der kausalen Zusammenhänge von Handlungen, Geschehnissen und Empfindungen variiert. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass auch unterschiedliche Erfahrungen und Umgangsweisen mit »einzelnen« Gefühlserlebnissen selbst die Artikulierungsweise der Gefühle unter­ schiedlich (trans)formieren können. Phänomenologische Arbeiten zu Gefühlen haben somit nun die Aufgabe, auch auf die Beschreibungen der Gefühlsphänomene aus verschiedenen Sprachkulturen einzugehen, wobei die Aufmerksam­ keit auf Folgendes notgedrungen erforderlich ist: 1. Die Beschreibun­ gen bzw. die Phänomene, die Erfahrungen der Menschen sind, sind nicht nach dem Maße der Sprachkultur, in die sie übersetzt werden, zu bewerten. 2. Sie können trotzdem aufeinander bezogen werden, im Sinne, dass – falls vorhanden – die Gemeinsamkeit sowie die Ähn­ lichkeit als solche erkannt wird, während zugleich die Unterschiede als solche respektvoll erkannt werden. Denn die Erfahrungen können – wenn auch mit Übersetzung – nicht ersetzt werden, allein dadurch, dass jedes Wort aus jeder unterschiedlichen Sprachkultur eine eigene Geschichte hat und in einem eigenen Milieu wuchs, das sich wiederum auf eigene Weise im Zusammenhang mit anderen Kulturen befand. 3. Wichtig ist, dass die Beobachtung a priori nicht aus dem Interesse sowie Motiv getrieben wird, herauszufinden, welche der verglichenen Kulturen »überlegen« wäre. So kann nämlich der Fokus verloren gehen, dass nicht nur eine, sondern die beiden Kulturen (die für einen fremdsprachige Kultur und die einem vertraute) gleichermaßen ans Licht kommen mögen. Wenn die phänomenologische Arbeit auch dem »Wiederfinden« (retrouver) der »nicht thematisierten Welt« (le monde non-thématisé)838 gewidmet ist, so geht die Entdeckung des Fremden gleichzeitig mit einer Wieder- und Neuentdeckung der eigenen Selbstverständlichkeiten einher.

838

Merleau-Ponty (1964): S. 222.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

These 2: Die Erlernbarkeit und Veränderbarkeit der Art und Weise der kulturell erlernten Gefühlsartikulierung jedes Individuums kann die transformative Natur der Selbstverständlichkeiten in der Art und Weise der Gefühlsbildung jedes Individuums in Erinnerung rufen. Wie die Kulturalität der Gefühle als Selbstverständlichkeiten innerhalb einer Kultur im menschlichen Werdegang in jeder Gesellschaft erlernt wird, so besteht weiterhin auch bei den Erwachsenen die Möglichkeit, die eigene Kulturalität sowohl zu pflegen und zu vertiefen als auch zu reformieren. Die Erlernbarkeit der Gefühle lässt sich im Prozess der Sozialisierung des Kindes feststellen, in der z. B. gelernt wird, bei welchen Empfindungen welche Artikulierungsweisen vorhanden oder gebräuchlich sind. Sowohl die Erwachsenwerdenden als auch die Erwachsenen erleben immer neue Empfindungen, die ihrer verbalen Kapazität ausweichen oder diese übersteigen. Die Erfahrung von »Ich kenne mich nicht aus«839 ähnelt einer Erfahrung der Konfrontation mit anderen Kulturalitäten (wie z. B. Fremdsprachen). Es ist ein Aufmerken dessen, dass die bisher unbewusst für allmächtig gehal­ tenen Selbstverständlichkeiten – seien es Maße im Denken, Urteilen sowie Fühlen, sei es die Art und Weise des konkreten Umgangs mit Geschehnissen – einem so nicht mehr in der aktuellen Situa­ tion helfen können. Die Aktualisierung dieser Selbstverständlichkeiten kann bewusst oder unbewusst geschehen und geht häufig mit der Änderung sowohl des Umgangs mit der Situation sowie den Anderen als auch mit einer Änderung des Sprachgebrauchs einher. So wie die sprachliche Artikulierung bezüglich einer Gefühlserfahrung im Laufe des Lebens immer unterschiedlich zerlegt wird, so ändert sich auch der Sprachgebrauch jedes Individuums im Laufe des Lebens. Dies scheint mit der Partikularität jedes Fühlens zusammenzuhängen, bzw. der Beobachtung, dass eine bestimmte Erfahrung den individuellen Sprachgebrauch zum Transformieren bringen kann, dessen Änderung wiederum die Transformation von der Gefühlserfahrung und der Gefühlsdisposition selbst mit sich bringen kann.

839

Vgl.: Wittgenstein (2015): S. 84 (PU: § 123).

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6. Fazit und Ausblick

These 3: Dank der methodischen Verknüpfung von der Sprach­ phänomenologie Merleau-Pontys und der linguistic phenomenology Austins kann die Pluralität der leiblich erlebten Situationen in der Atmosphärenerfahrung aus dem variablen Wortgebrauch jedes Indi­ viduums erblickt werden. Wie die linguistische Phänomenologie Austins in seiner Erforschung des Gebrauchs eines Wortes – in was für einer Situation man was sagt – hinweist, sind bereits in Bezug auf ein einzelnes Wort unter­ schiedlichste Situationen zu finden, in denen mit demselben Wort gesprochen werden kann. Dies liegt einerseits an der Breite bzw. Vielfalt der Wortbedeutungen840 eines einzelnen Wortes an sich und andererseits an der Variabilität des Wortgebrauchs je nach Person, anhand welcher die unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten der Lebensform jedes Individuums erblickt werden können. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es, gerade aufgrund der je nach Person unterschiedlichen Variabilität des Wortgebrauchs, nicht möglich ist, von einem persönlichen Sprachgebrauch eines Menschen aus, eine endgültige Definition für ein Wort herzuleiten. Für Merleau-Ponty sind die Selbstverständlichkeiten genau in der »nicht thematisierten Lebenswelt« zu erblicken, die sich im Gebrauch der Sprache nur als darin impliziert erblicken lässt. So lässt sich die Erforschung der Wortbedeutung und des Wortgebrauchs Austins in dem Essay »A plea for excuses« aus Philosophical Papers mit dem Vorschlag der »Thematisierung der Sprache« (thématisation du langage) aus der Arbeitsnotiz in Le visible et l’invisible (das Sichtbare und das Unsichtbare) von Merleau-Ponty methodisch problemlos

840 Im Fall von Austin handelt es sich um die Wortbedeutungen der »excuses« (Austin (1961): S. 123.). Die Vielfalt der Wortbedeutungen, die im Wort an sich inhärent zu finden ist, lässt sich in den Wörtern schnell finden, die auch im Alltag häufig verwendet werden: wie z. B. im Wort »Zug«, das nicht nur die Fahrzeuge, Schlange von Menschen oder die ziehende Bewegung von Etwas, sondern auch die Einwirkung von Kraft, eine Bewegung im Schach, einen Schluck, »das Einziehen vom Rauch«, einen Atemzug, verschiedene Durchgänge, aber auch eine »charakteristische Art, Wesenszug« usw. heißen kann. Vgl.: Duden.de, Bibliographisches Institut GmbH (Hg.): »Zug«, https: //www.duden.de/rechtschreibung/Zug_Wagenreihe_Kolonne_Kraft (abg.am 1. Sep. 2021). Das einfache Beispiel »Zug« wird hier genannt, um darauf hinzuweisen, dass die in dieser Arbeit unternommene Untersuchung des Wortes ki prinzipiell an jedem Wort, sei es ein noch so alltägliches, durchgeführt werden und potentiell auf­ schlussreich wirken könnte.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

verknüpfen.841 Die Pluralität der erlebten Situationen, die sich aus dieser methodischen Orientierung pointiert erkennen lässt, kann bereits in der Variabilität des Sprachgebrauchs bei jedem einzelnen Menschen beobachtet werden. Im Gebrauch der Sprache eines jeden Individuums stecken bewusst oder unbewusst die individuell erleb­ ten und gedachten Situationen. Diese Beobachtung, die bereits im menschlichen, alltäglichen Sprachgebrauch verdeutlicht werden kann, gilt sowohl als eine fruchtbare Ernte aus der Methode, als auch als die Basis für die verschiedenen methodischen Fragen, die allem Indi­ viduen auftauchen können, die sich der Vielfalt der Selbstverständlich­ keiten bewusst sind. Dies gilt sicherlich auch in verschiedenen femi­ nistischen Diskursen. Jede Situationsbeschreibung eines Menschen von einem Moment variiert von der Beschreibung anderer Menschen. Dies geht damit einher, dass die Wahrnehmung jedes einzelnen Menschen von jener anderer variiert – nicht nur je nach natürlicher Sprache, sondern einfach je nach Person und Zeit. Die Erfahrung einer intersubjektiv geteilten Situationsstimmung sowie Atmosphäre ist somit a priori als Erfahrungen in Pluralform zu verstehen.

These 4: Zwischen der Herangehensweise mit einem methodischen »Zweifelsversuch«842 in der husserlianischen Epoché und einem wittgensteinianischen Aufmerken von »Ich kenne mich nicht aus« ist ein methodischer Unterschied in der Grundhaltung des Denkens festzustellen. Die unterscheidbare Grundhaltung kann einen Aus­ gangspunkt für das aufmerksame Zuhören des eigenen Nicht-Ver­ stehens sowie Nicht-Wissens hervorheben, der für Überlegungen zur Arbeit an den eigenen Selbstverständlichkeiten, verstanden als »Üben« oder »Übungsweg« dienlich sein kann.843 Ein möglicher, methodischer Unterschied zwischen der in der vorlie­ genden Arbeit verwendeten, von Austin inspirierten, linguistischen Phänomenologie und der transzendentalen Phänomenologie Hus­ serls kann im Folgenden erblickt werden: In der Methode der Epoché,

Merleau-Ponty (1964): S. 222, 229. Husserl (1976): S. 61ff. (§ 31). Husserl betrachtet die cartesische Methode des »universellen Zweifelsversuchs« zugleich »nur als methodischen Behelf«. Ebd. 843 Vgl.: Wittgenstein: S. 84 (PU § 123). 841

842

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6. Fazit und Ausblick

in der jegliche Selbstverständlichkeiten »in Klammern«844 gesetzt werden sollen, wird als erstes Motiv ein methodischer Zweifel gegen­ über der natürlichen Einstellung zur Erfahrung gehegt.845 Dies ist methodisch im Grunde von der cartesischen Meditation inspiriert.846 Die linguistische Phänomenologie beginnt demgegenüber nicht mit einem Zweifel, sondern vielmehr mit einem Aufmerken dessen, dass man sich in etwas nicht »auskennt«, welches sich in einer Konfron­ tation und Kommunikation mit Anderen – sowohl leiblich als auch mental – herausbildet.847 Dies kann – wie bei dem Versuch der »Koordinierung der Gefühle«848 bei Heller – damit einhergehen, dass man die Grenze der eigenen, aktuellen Kapazität (bzw. des eigenen Erfahrungshorizontes) nicht nur auf der verbalen, sondern auch auf der Wahrnehmungsebene spürt. In den zwei Herangehensweisen lassen sich jedoch mögliche Gemeinsamkeiten finden, z. B. darin, dass sowohl im Prozess des methodischen Zweifels als auch im Aufmerken der eigenen Grenze der Fassungskapazität eine Art Neugierde aufkeimen kann (aber nicht muss). Die angenommenen Selbstverständlichkeiten hier in der natürlichen Einstellung, die in der Epoché mit Zweifel in Frage gestellt werden sollen, haben jedoch den Anschein, als gälten sie bereits vor dem Beginn der Methodenansetzung als etwas Erkann­ tes. Demgegenüber gelten die Selbstverständlichkeiten, die in der linguistischen Phänomenologie – wenn auch immer schritt- und teilweise – entdeckt werden, vor dem Beginn der Methode (noch) nicht als etwas Erkanntes.849 Die Selbstverständlichkeiten hier sind vielmehr ein Teil dessen, was sich a posteriori wie eine Ernte aus der methodischen Beobachtung entdecken lässt. Sie zeigen sich und sind je nach Person, Perspektive und Beschreibungssprache unter­ schiedlich. Erst mit dem Aufmerken der bisher unbemerkt gewesenen Selbstverständlichkeiten, was als eine lebenslang fortgehende Arbeit Husserl (1976): S. 65 (Hua III/1 § 32). Vgl.: ebd.: S. 61ff. (§ 31). 846 Vgl.: Kobayashi: Seishinbyōri kara miru gendai shisō (精神病理から見る現代思 想), 1991, S. 41ff. 847 Vgl.: Wittgenstein: S. 84 (PU § 123). 848 Heller (1981): S. 167, 170. 849 Bei Austin würden die Selbstverständlichkeiten eher als eine »Nebenernte« der Erforschung der Wortbedeutung gelten, während diese bei Spät-Merleau-Ponty als ein Ziel einer Methode namens »Thematisierung der Sprache« betrachtet werden kann. Vgl.: Austin (1961): S. 123–152. Siehe auch: Merleau-Ponty (1964): S. 229. 844

845

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

gilt, scheint es möglich zu werden, zu erlernen und zu üben, wie in jeglicher Situation mit der eigenen Lebensform, die potentiell jeder möglichen Erfahrung eine Einrahmung gibt, oder auch der »natürlichen Einstellung« umzugehen ist. Genauso wie dieses Auf­ merken der Selbstverständlichkeiten eines Menschen in seinem Leben unendlich fortgehen kann, in dem Sinne, dass man sie je nach Ort, Zeit und Umständen immer neu findet, kann auch die »Welt« oder das »Wesen«, also das, was nach einem Zweifel in der Epoché betrachtet werden soll, immer neu erscheinen. So zeigt sich die »Naivität«, die Merleau-Ponty vorschlägt, mit der »Thematisierung der Sprache«850 zu überwinden zu versuchen, nicht mehr als Ignoranz (der Grenze eigener Fassungskapazität), sondern kanalisiert sich vielmehr zu einer unausweichlichen Erkennung, Akzeptanz sowie Berücksichtigung der sich auch unbewusst bestimmenden Selbstverständlichkeiten. Dies kann weiterhin zu einer Bereitschaft für die lebenslang weitergehende Arbeit an und mit diesen Selbstverständlichkeiten führen. Wie es von Husserl selbst mit dem Wort »üben«851 ausgedrückt wird, können und sollten die beiden Herangehensweisen – sei es vom Zweifel, sei es durch ein Aufmerken eigener Horizontgrenzen motiviert – als ein Übungsweg verstanden werden.

These 5: Die Verinnerlichungstendenz von Gefühlen kann zu Kon­ sequenzen im Horizont des ki und über den Gebrauch des ki hinaus­ führen. Die Tendenz einer Unterscheidung von »Innen« und »Außen« wird – verknüpft mit der Ansicht, »Gefühl« als innere und persönliche Empfindung zu sehen – in der Erfindung der Gefühle von Jutta Stalfort als ein Paradigmenwechsel der deutschen Sprache vom 18. Jh. betrachtet. Nach Nakai Masakazu lässt sich im historischen Wandel des Wortgebrauchs von ki und ke eine teilweise ähnliche Bewegung erblicken. Ab dem 14. Jh. vermehrt sich der Wortgebrauch von ki als ke und der Gebrauch des ki taucht mehr mit einem personalen Merleau-Ponty (1964): S. 229. Dies bezieht sich konkret auf die folgende Stelle, die in Kapitel 2.1.2 bereits zitiert wurde: »Thematisierung der Sprache überwindet eine weitere Etappe der Naivität, enthüllt ein wenig mehr noch den Horizont der Selbst­ verständlichkeiten.« Dt. Übers.: Merleau-Ponty (1986): S. 232f. Hervorh. i. O. 851 Husserl (1909): S. 109. 850

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6. Fazit und Ausblick

Bezug auf.852 Die aufgekeimte »Verinnerlichungstendenz« von ki verortet Nakai in der Übergangsepoche zwischen dem 19. und 20. Jh., in der sich die japanische Sprache durch die Modernisierung des Staats und die hiermit einhergehende Aufnahme der europäischen Wissenschaftstermini stark änderte. In diesem Zusammenhang kann die noch heute aktuelle Konvention in der japanischen Sprache, dass die Satzsubjekte abstrahiert oder nicht genannt werden, einen inter­ essanten Kontrast aufzeigen. Bezüglich des ki sind häufig Ausdrücke zu finden, in denen ki die Rolle des Satzsubjekts übernimmt, von welchem aus die impersonale Dimension der Erfahrungsweise ans Licht gebracht werden kann. Mit der Abstraktion des Satzsubjekts von Personen sowie der Flexibilität der Selbstbezeichnung sowie Anrede im Japanischen wird von Kimura die Hypothese Mori Arimasas in Zusammenhang gestellt, nach welcher das »Ich« in Japan stetig als »Du« von dem Anderen, und also in dem spezifischen Kontext gedacht werden muss.853 Jenseits der Frage, ob eine Feststellung des »Du«-Bildes vom Anderen von der Ich-Seite jemals und überhaupt möglich wäre, ist hier zu pointieren, dass diese Annahme zu einer Konsequenz führen kann, wenn sie als Teil kultureller Sitten essentia­ lisiert praktiziert wird. Die mögliche Konsequenz lässt sich mit der Konsequenz der Essentialisierung von kūki parallelisieren: Die Art und Weise, wie das »Zwischen« von Zeit zu Zeit eine allzu starke Rolle spielt, kann dazu führen, dass sich all die involvierten Menschen der situativ wahrgenommenen Luft »unterwerfen« lassen und keine eigene Initiative jener gegenüber mehr ergreifen (können). So kann ein möglicher Zusammenhang ersichtlich werden: Mit der Tendenz der Verinnerlichung von Gefühlen, bei der die Annahme einer vorausgesetzten Unterscheidung zwischen dem sogenannten »Innen« und »Außen« entweder suggeriert oder unterstützt werden kann, kann ebenso die Unterscheidung zwischen dem sogenannten »Ich« (oder meiner sowie unserer Seite) und dem »Zwischen« (oder der anderen Seite) stärker werden. Die verstärkte Unterscheidungs­ möglichkeit an sich muss nicht schädlich oder gefährlich sein. Es scheint jedoch zu bedenken zu sein, dass diese ebenso mit der mög­ lichen Gefahr verknüpft betrachtet werden kann, dass die kommuni­ kative und kreative Dimension des transformativen, dynamischen »Zwischen« durch die Verabsolutierung der Sitten bzw. eine blinde 852 853

Vgl.: Hisayama (2014): S. 24. Sowie Nakai (1995b): S. 191. Vgl.: Mori (1979): S. 63f.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

Orientierung nach einem vermeintlichen »Du« des Anderen oder »Zwischen« zum Schweigen gebracht wird.

These 6: Ki als Wortfeld unterläuft verschiedene Unterscheidungs­ möglichkeiten, die in der westeuropäischen Denktradition häufig als etwas Vorausgesetztes betrachtet wurden, wie z. B. die Unterschei­ dungen zwischen Materialität und Immaterialität, Körperlichkeit, Leiblichkeit und Geistigkeit, Subjekt und Objekt sowie Personalität und Nicht-Personalität (Impersonalität). All diese Bereiche lassen sich im Ausklang der vorliegenden Untersuchung als verschiedene Aspekte eines gesamten Bereichs (ki) verstehen, die jeweils mit unterschiedlichen Komposita sowie den korrelierenden Ausdrücken in den Vordergrund gebracht werden können. An dieser Stelle soll kurz und zusammengefasst an die Bedeutungs­ charaktere von qi und ki erinnert werden: In dem qi-Begriff aus dem Chinesischen sind folgende Aspekte zu finden, die gemeinsam heute noch im japanischen ki-Wortfeld zu erblicken sind: Bedeutungen von Luft, etwas Luftartigem, Dampf, Wolken, Körperlichkeit des Menschen in Lun’yu (論語), (sowohl körperliche, als auch geistige) Verfassung des Menschen als etwas Kultivierbares bei Mengzi (孟子) sowie ursprüngliche(r) Kraft/Stoff der Welt bei Laozi (老子) u. A., sowie psychische, mentale Dynamiken und Befindlichkeitsmodi. In den gegenwärtigen japanischen Wörterbuchartikeln zu ki und ke sind die folgenden vier Bedeutungsaspekte zu finden, unter denen jeweils weitere Differenzierungen folgen: 1. Gemütszustand, Emo­ tion, Motivation, Lust, Disposition eines Menschen, Befindlichkeits­ modi, Gefühl, Gespür, Gemütsbewegung sowie Aufmerksamkeit, 2. Spüren des Atmosphärischen und Atmosphären, 3. ein physiologi­ scher Aspekt des Menschen, 4. (klimatische) Änderungen der Natur. Anzumerken ist, dass in dem Wortfeld trotz der Möglichkeit der Bezugnahme auf Personalien auch die Möglichkeit besteht, dass ki einen apersonalen bzw. nicht-menschlichen Sachverhalt skizzieren kann, wie z. B. bei sekki (節気) sowie kikō (気候).854 854 Kikō (気候) heißt wörtlich übertragen: ki-Zeit/-Saison: Klima, Wetter. Sekki (節 気) heißt wörtlich Zeitabschnitts-ki und ist ein Jahreszeitensystem, in dem die vier Jahreszeiten nochmals in sechs unterschiedliche Saisons geteilt werden. Vgl.: Nishio et al. (2016): S. 449. Siehe Kapitel 3.2.2.

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6. Fazit und Ausblick

Die Grundstrukturen, die sich durch eine lexikalische Feldfor­ schung entdecken lassen, können folgenderweise zusammengefasst werden: Ki markiert sich im Sprachgebrauch außerhalb des Menschen (wie ein Naturphänomen), zwischen Menschen (sowie zwischen einem Menschen und seiner Umgebung), aber auch innerhalb eines Menschen. So unterläuft ki nicht nur die Unterscheidung der Materia­ lität und Immaterialität, Körperlichkeit, Leiblichkeit und Geistigkeit, Subjekt und Objekt, sondern auch die Unterscheidung zwischen der Personalität und Nicht-Personalität (Impersonalität). Diese Flexibili­ tät zeigt sich nicht nur auf der semantischen, sondern auch der gram­ matischen Ebene.855 Der im japanischen Alltag häufig verwendete Ausdruck yamai wa ki kara (病は気から Krankheit kommt von ki) wird heute häufig als ein Spruch verstanden, der eine Achtung appel­ liert, sich nicht durch das Denken und eine schlechte Gemütsstim­ mung von Krankheiten verführen zu lassen. In dieser gegenwärtigen Interpretation spielt das ki mehr die Rolle von etwas Gedanklichem, Mentalem wie Gemüt, das der Körperlichkeit, die durch das Andere krank werden kann, gegenübergestellt scheint. Auch dieser Spruch stammt von der Tradition der chinesischen Medizin, in der das qi als konkrete Funktion zur Regulierung der ganzheitlichen Gesundheit eines Menschen gilt. Aufgrund der Charakteristik, dass bei ki verschiedene Unter­ scheidungsmöglichkeiten unterlaufen werden können, sind, auch heute noch, nicht nur die Ausdrücke vorhanden, die sich synästhetisch fassen lassen, sondern auch die Sichtweise, einen Menschen als das Gesamte, untrennbar von seiner Umgebung zu sehen. Im Japanischen sind heute noch zahlreiche Ausdrücke zu finden, die das gesundheit­ liche Sich-Befinden thematisieren, welches nicht nur die leibliche, psychische oder geistige Kondition der Person betrifft, sondern auch ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung und zu Anderen widerspiegeln lässt.856 Die Beobachtung, dass das Dasein jedes Individuums dessen Verhältnis mit sich und der Umgebung wiederspiegle, kann nicht nur bezüglich der menschlichen Gesundheit, sondern auch bezüglich der Siehe Kapitel 3.3.1. Beispiele sind: genki (元気 Ursprungs-ki: Energie und Kraft, die Aktivitäten erzeugen, und die Art und Weise, dass diese Energie und Kraft überlaufend vorhanden ist, oder auch eine gesunde Kondition eines Menschen, ebd.: S. 449), aber auch byōki (病気, krankes ki: Krankheit) sowie ki ga fusagu (気が塞ぐ, »ki ist verschlossen« – »niedergeschlagen« sein). Kimura (1995): S. 129. Siehe: Kapitel 3.3.5. 855

856

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

gesundheitlichen Lage der Natur – im Sinne der Umwelt (und deren »Geschreis«) einen erhellenden Blick darbieten.

These 7. Ausdrücke mit ki können mitunter verschiedene Formen sowohl des synästhetischen Wahrnehmungsvollzugs als auch der durch Worte angeregten Synästhesie selbst beschreiben. Bezüglich des Sprachgebrauchs von ki aus der japanischen, gegenwär­ tig gesprochenen Sprache ist eine Charakteristik festzustellen, dass es sich in den sprachlichen Ausdrücken mit ki um eine durch Worte angeregte Synästhesie handelt.857 Die wörtlichen Übertragungen der Ausdrücke können für die deutschsprachige Leser:innenschaft wie Metaphern klingen, sie sind jedoch für die Sprechenden des Japani­ schen keine Metaphern. In den Ausdrücken sind Beschreibungen zu finden, welche die 1. Modalität von ki, 2. Bewegung von ki, 3. Modalität der Bewegung von ki, und 4. Das Verhältnis zwischen Men­ schen und ki versprachlichen. Diese Ausdrücke betreffen konkrete Wahrnehmungsvollzüge, Naturphänomene und Atmosphären, Auf­ merksamkeit, Gefühlslage, Gemütsstimmung, Stimmung, Befind­ lichkeitsmodi, Kondition sowie Gefühle eines Menschen. Möglicher­ weise ist es gerade durch diese Charakteristik möglich, dass ki als Wort auch teilweise oder komplett von der Personalität befreit im Gebrauch sein kann. Der Ausdruck »ki ga suru« (気がする) beispielsweise lässt sich im radikalen Sinne als Lauten (Lautwerden) eines Eindrucks verste­ hen, der sich vom vorgehenden, impersonalen und vorreflexiven Voll­ zug der ganzleiblichen Wahrnehmung im Situiertsein herausgebildet hat. Im Moment des Aussprechens des Ausdrucks ist anzunehmen, dass der Mensch wie ein Medium des Wahrnehmens und Sprechens gleichzeitig im Situiertsein steht. Kehai (けはい) sowie kewai (けはひ) lassen sich als ein leiblicher Vollzug der Wahrnehmung von etwas verstehen, dessen Anwesenheit sich leiblich verspüren lässt, jedoch einem kaum zu präzisieren zu sein scheint. Wie es bei kewai aus dem Spätaltjapanischen vor allem zu sehen ist, spielen hierbei die Sinne des Riechens, Hörens und Tastens die entscheidende Rolle. Fun’iki (雰囲気, Nebel-umringen-ki: in etwa »Atmosphäre«) wird von Ogawa als eine Form der synästhetischen 857

Zur durch Worte angeregten Synästhesie siehe: Kapitel 3.2.2.

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6. Fazit und Ausblick

Erfahrung betrachtet. So sind im Horizont des ki-Wortfelds zwei unterschiedliche Synästhesien festzuhalten: 1. Vollzug der Wahrneh­ mungen, die mehrere Sinne auf einmal betreffen; 2. Anregung und Nachvollzug der Empfindungen und Wahrnehmungen, die meh­ rere Sinne auf einmal betreffen und durch Worte evoziert werden. Es ist somit nicht verwunderlich, dass das Wortfeld über die gesund­ heitliche Kondition eines Menschen hinaus, auch die Anwesenheit und die Art und Weise von dessen Umgebung mit beschreiben kann.

These 8: Ki wirkt mitunter als Formen des impersonalen Fühlens, das sich ohne die Zusicherung der Prädikationsmöglichkeit vollzie­ hen kann. Hierin kann möglicherweise ein Grund zur Aufkeimung der historisch beobachtbaren Tendenz zu Angst oder Ungeduld dem Fühlen und Spüren gegenüber betrachtet werden. Ki als Wort taucht sowohl bezogen auf die personale Erfahrungsebene als auch auf die impersonale auf. Kimochi (気持ち) beispielsweise ver­ weist auf intentionale Gefühle und Emotionen, bei denen die Persona­ lität sowie die Bezogenheit auf ein Thema, ein Objekt und/oder eine Person präsent sind. Im Sprachgebrauch wird erwartet, dass einem die Personalität im Fühlen von kimochi klar ist – z. B. dass man sich dessen bewusst ist, dass das Fühlen sich selbst betrifft. Demgegenüber verweisen Ausdrücke wie »ki ga suru« (気がする), »kehai« (けはい), »ki ga tsuku« (気がつく) sowie »fun’iki« (雰囲気) auf eine imperso­ nale Art und Weise des Wahrnehmungsvollzugs oder der Aufmerk­ samkeitsbewegung, die anonym läuft. Hier scheint »das gefühlte Ich« (noch) vorprädikativ, vorbewusst oder dezentralisiert. Es ist charakteristisch, dass es im Fall vom Ausdruck »kehai« beispielsweise nicht nur die Merkmale und das Subjekt der Wahrnehmung von kehai sind, die unbenannt bleiben, sondern auch, dass man überhaupt »wahrnimmt«, sowie »was« dabei wahrgenommen wird.858 Im Hinblick auf den Bedeutungswandel des ki sowie ke kann möglicherweise noch eine Tendenz zu beobachten sein. Nakai weist auf die vermehrte Verwendung vom Ausdruck keniya bereits im Laufe der Heian-Zeit (794–1192) hin. Keniya (けにや) wird von Nakai als das Wundern sowie die Fragestellung nach dem Grund 858

Siehe Kapitel 4.2.1.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

sowie das Kausalitätsdenken einer verwunderlichen und kaum prä­ zisierbaren Erfahrung wie kewai verstanden.859 In Rücksichtnahme auf den Wortgebrauch von kewai, bzw. darauf dass dieses ursprüng­ lich häufig auf positiv konnotierte Erfahrungen sowie Phänomene verwies, ist in keniya die folgende Tendenz in der Haltung dem Fühlen gegenüber festzustellen: Es wurde dem Menschen immer unerträglicher, die Unverfügbarkeit der Identifizierung als »was«, aus dem eigenleiblichen Spüren und Fühlen von etwas, auszuhalten, was sich (im Moment noch) nicht präzisieren lässt. So kann sich auch der Umgang mit dem kewai verändert haben. Die impersonale Ebene des Fühlens betrifft genau diesen (noch) unpräzisierbaren Bereich des Fühlens. So gesehen scheint die Ungeduld oder Angst am Fühlen, das sich nicht genau präzisieren, attribuieren oder aufklären lässt, zwar eine gesunde Reaktion zu sein, kann jedoch zugleich als eine allgemein gesellschaftlich gesteigerte Tendenz gelten, der gegenüber achtzugeben ist.860 Denn das anonyme und impersonale Fühlen kann uns doch möglicherweise vieles mehr mitteilen, als nur unerträglich zu sein, was ein aufmerksames und langatmiges Zuhören des Füh­ lens fördern und einen Umgang mit der sogenannten »Fremdheit« einüben lassen kann.861

These 9: Eine Untersuchung eines alltäglich gebräuchlichen Worts kann verschiedene Dimensionen von unreflektiert tradierten Selbst­ verständlichkeiten aufdecken. Zu diesen zählt ebenso eine gewisse Verhaltenskonvention aus dem Alltag, die einen Kultur- sowie Sprachraum, eine gesellschaftliche Schicht oder eine bestimmte Generation betreffen kann. Im Fall von einer Untersuchung von kūki (空気) lassen sich beispiels­ weise mögliche Konsequenzen in einer kollektiven Stimmungserfah­ rung sowie -entfaltung aufdecken:

Vgl.: Nakai (1995b): S. 185. Zwischen dieser Tendenz und der »Verinnerlichungstendenz von Gefühlen«, die im Fazit von Kapitel 5 vorgestellt wurde, kann ein möglicher Zusammenhang beobachtet werden, auf welchen ein kritischer Blick, nicht nur aus der Sicht der Ästhetik der Atmosphäre sowie der Forschungen der Fremdheitserfahrung, für eine weitere Forschungsmöglichkeit notwendig ist. 861 Vgl.: Waldenfels (1997): S. 74ff. 859

860

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6. Fazit und Ausblick

Das japanische Wort »kūki« (空気), das wörtlich auch Luft heißt, bedeutet heute eine unbemerkt entstandene, kollektive, atmosphä­ rische Stimmung, die sowohl die Situationsdynamik als auch die mentale Aktivität des Individuums eingrenzen, beeinflussen oder einfärben kann. Die Konsequenz dieser Stimmungsentfaltung bzw. des passiven Anteilhabens an der situativen Stimmung lässt sich mit dem Hinweis Böhmes auf die Machbarkeit der Atmosphäre im künstlerischen Bereich beziehen: Atmosphären können geschaffen werden, sodass man der Atmosphäre nicht nur als Rezipient:in, sondern auch als Produzent:in dieser Atmosphäre begegnen kann. Ein Unterscheidungsmerkmal zwischen der Erfahrung des allzu passiven Anteilhabens an einer (allzu homogen gestimmten) Situa­ tion (kūki) (wie einer kompletten »Homosphäre«, in der Terminologie Hisayamas) und der Erfahrung der harmonisch gestimmten Atmo­ sphäre (wie der »Pansphäre«) lässt sich anhand der Frage feststellen, ob die Beteiligten aktiv bei ihrer Tätigkeit bleiben können bzw. ob die geteilte Atmosphäre zur Subjektbildung beiträgt oder diese eher verhindert oder erschwert.862 Das »dezentralisierte«863 Ich kann als ein Hinweis für die Unterscheidung zwischen den zwei Erfahrungs­ formen gelten. Da die Machbarkeit der Atmosphäre jedoch nicht nur auf das bewusste Schaffen der gewünschten Atmosphäre aus dem künstleri­ schen Bereich, sondern auch auf jegliches Entstehen von auch uner­ wünschten Atmosphären bezogen werden kann, besteht somit die Notwendigkeit, sowohl jedes Individuum nicht nur als Rezipient:in der Atmosphäre, sondern auch als Produzent:in anzuerkennen als auch, sich selbst als beides einzugestehen.

These 10: Vorprädikative und impersonale Wahrnehmungsvoll­ züge gelten als Basis von sowohl dem Gestimmt-Sein als auch dem »Stimmen« der Stimmung sowie Atmosphäre, d. h. der Gestalt­ barkeit bzw. Machbarkeit der Stimmung und Atmosphäre. Dies bedeutet zugleich, dass eine reflexive und selbstkritische Perspek­ tive hinsichtlich der Atmosphärenbildung nicht nur möglich, son­ dern auch notwendig ist. Die kritische Perspektive gegenüber dem 862

Zu den Begriffen »Homosphäre« und »Pansphäre« vgl.: Hisayama (2014): S. 39f,

42f. 863

Hisayama (2014): S. 43.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

eigenen vorprädikativ und vorreflexiv laufenden Schaffen (sowie Mitschaffen) der Atmosphäre könnte ermöglichen, wenn auch auf beschränkt oder versuchungsweise, mögliche Konsequenzen jegli­ cher Entstehung und Entfaltung der Stimmungen und Atmosphären im Auge zu behalten. Diese These kann zwar als eine Grundhaltung betrachtet werden, die beispielsweise mit der Idee von Kultivierbarkeit des qi von Mengzi (孟 子)864 im Kontinuum steht, kann jedoch gleichzeitig als eine metho­ dische Orientierung gelten, die wie bei Spät-Merleau-Ponty durch die Thematisierung der Sprache die eigene Naivität berücksichtigt.865 Sei es anhand des japanischen Ausdrucks »ki ga suru«, sei es anhand des deutschen »mir ist etwas aufgefallen«, an beiden lässt sich die Struktur eines vorgehenden Wahrnehmungsvollzugs beob­ achten. Der impersonale, vorreflexive und vorprädikative Vollzug der Wahrnehmung, der leiblichen Kommunikation sowie der affektiven Resonanzen, der jedem Aufmerken der Dinge vorausgeht, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Die Fülle der Wahrnehmungen, wie die »kleinen Perzeptionen« bei Leibniz866, die nicht einmal sprachlich präzisierbar sind, können jedoch mit uns etwas machen oder sind bereits – bemerkt oder unbemerkt – am Werk. Die auch unbemerkt laufende Attribuierung (eine Zuschreibung des »Wie« sowohl der Umgebung und anderen Menschen als auch sich selbst gegenüber) kann einen Teil dieses Gebiets erhellen, auf dem etwas zugeschrieben wird, oder das ganz und gar zum Schweigen gebracht wird. Dazwi­ schen können jedoch noch verschiedene Schritte zu entdecken sein. Die Kontextualisierung und Attribuierung aller vorgehenden Wahr­ nehmungen vollziehen sich bereits vor dem Bewusstwerden dieser Wahrnehmungen anhand und aufgrund der Selbstverständlichkeiten, die auch prädikativ – mit Sprache – sowohl in der kulturellen Sozia­ lisierung auf vielschichtig unterschiedliche Art und Weise erlernt, als auch je nach Person unterschiedlich gebildet werden. Das Phänomen der Umschreibung der Gefühle (die Verände­ rung der Artikulierung der Gefühle), in dem bewusst wird, dass das aktuelle Erlebnis über die derzeitige Artikulierungskapazität (Fas­ sungskapazität) hinaus geht (ich kenne mich nicht aus), lässt sich 864 865 866

Ommerborn (1996): S. 31. Merleau-Ponty (1964): S. 229. Leibniz (1996): S. 10ff.

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6. Fazit und Ausblick

somit als eine Möglichkeit verstehen, sich zu erschließen, dass das Laufen der bisherigen Attribuierung einmal aufgehalten wird, damit die Artikulierungsweise der Erfahrungen und Phänomene erneuert werden kann. Es ist sicherlich möglich, dieses Moment hier an eine Charakteristik aus der Methodik der Epoché zu knüpfen. Sowohl im impersonal vorgehenden Wahrnehmungsvollzug als auch in der unbemerkt laufenden Attribuierung der Phänomene, scheint das Sich-Stimmen und das Sich-Befinden jedes Individuums immer schon den Basso continuo zu spielen. So besteht die Notwen­ digkeit, auf das »Wie« dieser Befindlichkeit den Fokus zu legen, wenn es z. B. um die Fragestellung geht, wie sowohl die (persön­ liche) Gemütsstimmung als auch die kollektiv geteilte Stimmung und Atmosphäre zu gestalten sind. Denn auch die Entstehung der Stimmung aus dem impersonalen Erfahrungsbereich ist nicht ein vom Denken, Handeln sowie der Interaktion mit Anderen unabhängiges Phänomen, sondern ein hierzu direkt in einem Kontinuum stehen­ der Vollzug.

These 11: Zwischen Sprachgebrauch und stimmungshaftem SichBefinden besteht ein untrennbares, und zwischen der personalen Gefühlserfahrung der Betroffenheit und dem Fühlprozess, der sich impersonal vollzieht, besteht ein aufeinander verweisendes Verhält­ nis. Die Diskrepanzerfahrung, die – anders als in der Erfahrung der homogen gestimmten Atmosphäre wie kūki – die Atmosphäre als solche bewusst wahrnehmen und erkennen lässt, kann einerseits zur Subjektivitätsstiftung einen Beitrag leisten, während diese wie­ derum einer Gefahr untersteht, instrumentalisiert zu werden.867 Die Diskrepanzerfahrung kann zu einer einseitigen Orientierung führen, entweder sich hiervon nur fernzuhalten oder, wie im Fall von einer bestimmten Art von Kunstkonsum, mit dem damit einher­ gehenden Geschmacksurteil für eine Art Selbstbestätigung genutzt zu werden.868 Andererseits kann eine einseitige Orientierung nach der Erfahrung der eigenen, favorisierten Atmosphäre genauso schädlich

867 868

Siehe Kapitel 4.3.2. Siehe Kapitel 5.1.2.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

werden: Dort besteht in extremen Fällen eine Gefahr der Selbstzäh­ mung der Sinne.869 In diesem Zusammenhang kann an zwei, in Kapitel 5 aufgezeigte Ausdrücke erinnert werden: kimochi (気持ち ki-Habe) umfasst die folgenden Bedeutungsschichten: 1. die Art und Weise des Empfindens (Haltung in der Art und Weise des Fühlens), 2. Beurteilende Empfin­ dung und Positionierung gegenüber dem Fühlen einer Sache sowie anderen Menschen, 3. Gemütsstimmung (wie kibun), 4. körperliche Befindlichkeit. Das Markante ist, dass bei den Erfahrungen von kimochi die Anwesenheit einer Person vor-angenommen wird, die intentional auf eine Sache oder Thematik bezogen bzw. in diese involviert ist. Kibun (気分 ki-Anteil) lässt sich hingegen als ein im ganzen Körper verteiltes Gefühl sowie die momentane, ganzleibliche Verfassung eines Menschen verstehen. Eine Charakteristik ist, dass kibun auf keinen intentionalen Gehalt verweisen kann, und trotz der deutlich erkennbaren Personalität im Wort, in dem Sinne, dass der Wortgebrauch die Anwesenheit einer Person oder mehrerer Personen voraussetzt, die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass das kibun von jemandem direkt mit der kollektiv geteilten Stimmung verbunden ist. Zwischen kibun und kimochi sind somit die folgenden Unter­ schiede festzustellen: 1. Eine Art Kontur, die eine Person mit einer anderen sowie mit ihrer Umgebung teilen kann, was das personale und persönliche Fühlen von kimochi charakterisiert, hat kibun in gleicher Art und Weise nicht; 2. der intentionale Gehalt im Fühlen, worüber sowie wem gegenüber man was fühlt, ist in kibun nicht zu finden. Auch die »Leidenschaft« sowie »Pathos« und »Passion« können im ki-Wortfeld nicht als irrelevant angesehen werden, auch wenn ein markanter Unterschied bereits in der Artikulierung zu sehen ist. Bei »Leidenschaft« scheint man – wie bei der Charakteristik des »Erleidens« – nicht primär als Subjekt einer aktiven Tätigkeit zu bestehen.870 Dies lässt sich zwar mit dem »impersonalen« Wahrneh­ mungsvollzug vergleichen, der Unterschied ist jedoch, dass bei der Leidenschaft dem Subjekt sein Betroffen-Sein in einer bestimmten Art und Weise bewusst zu sein scheint. Demgegenüber erhellen Ausdrücke wie »ki ga tsuku«, »ki ga suru« und »kehai« einen pri­ Ebd. Hierzu orientiert sich die Verfasserin an der Definition des Erleidens bei Spinoza orientiert. Vgl.: Spinoza (2015): S. 223. (III. Teil, Definition 2.).

869

870

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6. Fazit und Ausblick

mär vorbewussten Prozess des impersonalen Wahrnehmens, in dem bewusst werden kann, in was für einer Situation man sich befindet.871 Von der Perspektive des ki-Wortfelds aus gesehen sind ebenso für den Bereich der personalen Erfahrungsweise des Fühlens Aus­ drücke wie »kimochi« (気持ち) vorhanden, wobei diese nicht nur auf bestimmte intentionale Emotionen, sondern auch auf eine allgemeine Gefühlslage verweisen können – wie die deutschen Worte »Gefühl« sowie »Gemüt«. Die Fühlweise der Leidenschaft ist dem ki-Wortfeld heute nicht fremd, es scheint diesbezüglich jedoch ein anderes Wortfeld, um das Wort jō (情, bereits in der chinesischen traditionellen Medizin verwendet), relevanter zu sein, das auch in der gegenwärtigen Vokabel kanjō (感情 Emotion)872 zu finden ist. Trotz des Betonens der Unterscheidungen darf jedoch zur gleichen Zeit die Kontinuität zwischen dem impersonalen Fühlen und der personalen Erfahrungsebene der Gefühle nicht außer Acht gelassen werden.873 Ein impersonal und unbewusst laufendes Fühlen im SichBefinden, in dem sich immer schon auf eine Art und Weise die Vertrautheit und die Fremdheit vermischen – sei es in Form einer Stimmung oder Atmosphäre, sei es als allgemeine Gefühlslage des Moments oder Tages –, ist durch die hiermit inhärent einhergehende Möglichkeit der Subjektbildung (Aufkeimung des »gefühlten Ichs«) mit der personalen Erfahrungsweise inklusive dem intentionalen Fühlen, Urteilen und Handeln verankert.874 So kann es eine Frage der Pflege des unbewusst laufenden Sich-Befindens sein, wenn die Leidenschaft als eine Problematik betrachtet werden soll, die in der westlichen Tradition häufig als zu beherrschend zu gelten schien. Als Resultat der vorliegenden Arbeit werden der Sprachgebrauch und das leibliche Sich-Befinden wie Befindlichkeit und Stimmung als eine untrennbare Sache betrachtet, die sich gleichzeitig kultivieren lässt.

871 Zu einem Vokabular, das mit Leidenschaft, Passion sowie Pathos in gewisser Hin­ sicht zu vergleichen ist, zählt sicherlich das Wort »aware« (あはれ) aus dem Spätalt­ japanischen. Vgl.: Ōno et al. (2018): S. 46. 872 Das Wort »kanjō« (感情) steht beispielsweise noch nicht einmal in dem Wörter­ buch Genkai (言海 1889–1991), das im 20. Jh. als das neueste und etablierteste galt. Vgl.: Fumihiko Ōtsuki: Genkai (言海), 1889–1991, S. 221f. 873 Vgl.: Kapitel 5.1.1. 874 Zur hierzu relevanten Ansicht des Fühlens von der schmitzschen Leibphänome­ nologie aus siehe: Schmitz (2014): S. 21ff.

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ii. 12 Thesen aus der vorliegenden Arbeit

These 12: Ausgehend von der Betrachtung eines Kontinuums zwi­ schen impersonaler und personaler Erfahrungsebene verweist die vorliegende Arbeit auf einen gedanklichen Weg, der von einer linguistischen Phänomenologie zu einer kritischen Artikulierungs­ ästhetik des Fühlens führen kann. Die Kontinuität zwischen der impersonalen und personalen Erfah­ rungsebene kann ebenso im alltäglichen Sprachgebrauch erblickt werden. Dies lässt sich bereits im Hinblick darauf feststellen, dass der Sprachgebrauch nicht nur die Explikation, sondern auch die Implikation inkludiert, d. h. die hiermit einhergehende Attribuierung der Wahrnehmungen und Empfindungen, die auch impersonal, vor­ reflexiv oder beinahe reflexartig und vorprädikativ am Werk ist. Die vorprädikativ laufenden Attribuierungen können von Zeit zu Zeit entweder auf der Ebene des Sprachgebrauchs oder der Handlungs­ ebene ersichtlich werden. Die Attribuierungen aus den beiden Ebenen bleiben jedoch zugleich den weiteren Attribuierungen und Kontext­ ualisierungen von anderen Individuen ausgesetzt, die sich immer fortgehend die sogenannten »Interpretationen von Interpretationen« bilden. Dass diese impersonal laufende Attribuierung der Wahrneh­ mungen und Empfindungen sowohl Anderen als auch sich selbst gegenüber am Werk sein kann, spielt im Prozess der Herausbildung der kollektiv geteilten Atmosphäre sowie Stimmung eine genauso wichtige Rolle. Der Sprachgebrauch ist nicht bloß als der invariable Gebrauch einer natürlichen Sprache zu verstehen, der häufig von einer Essentialisierung der unübersetzbaren Imkompatibilitäten von jeder natürlichen Sprache bedroht ist. Diese Perspektive führt außerdem häufig zu einer linguistisch-relativistischen Perspektive. Der in der vorliegenden Arbeit thematisierte Sprachgebrauch betrifft demgegen­ über vielmehr die persönliche Artikulierungsweise des Fühlens, die sich von jedem Individuum selbst (für sich) betrachten lässt, und zwar, ohne dass dabei die Kulturalität bzw. die einzelnen Unterschiede der betreffenden Sprache hinsichtlich der Artikulierungsweise außer Acht gelassen werden müssen. Denn die kulturell zunächst einmal erlernte und erlernbare Artikulierungsweise des Fühlens ist mit der individuellen Gewohnheit der Gefühlsbildung verknüpft, die die Gemütsstimmung des Individuums mitgestaltet – genauso wie die impersonal laufende Attribuierung der Dinge, Eindrücke sowie Atmosphäre das personale Fühlen mitbestimmen kann.

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6. Fazit und Ausblick

Die kollektiv geteilte Stimmung sowie Atmosphäre kann von diesen individuell und impersonal laufenden Gemütsstimmungen und Attribuierungen keineswegs als unabhängig betrachtet werden. Denn Menschen schaffen Atmosphären miteinander, nicht nur auf­ grund der impersonal laufenden, leiblichen Kommunikationen auf der nichtverbalen Ebene in der Luft (die mit den unbemerkt laufenden, reziproken Attribuierungen verschiedenster Eindrücke einhergehen). Die Stimmung und Atmosphäre bilden sich ebenso anhand der ver­ balen Kommunikationen, die auf den bewusst oder unbewusst gewählten Worte beruhen, die nicht nur das Klima der Zwischen­ menschlichkeit, sondern auch das eigene Sich-Befinden mitbestim­ men können. Somit lässt sich eine linguistisch-phänomenologische Arbeit als eine selbstkritische, ästhetische Arbeit verstehen, die mit einer Konfrontation mit der eigenen Gewohnheit der Artikulierung und Attribuierung der Dinge, Gefühle, Eindrücke und der Gedanken beginnt, die bisher unbemerkt selbstverständlich waren und noch sind.

iii. Ausblick Als Ausblick der vorliegenden Arbeit lassen sich verschiedene wei­ tere Forschungsmöglichkeiten erschließen. Von der Perspektive histo­ rischer Studien ausgehend kann eine Studie möglich sein, zu welcher Zeit bei welcher Autor:innenschaft welches Wort mit ki in was für Werken begann, immer häufiger oder weniger verwendet zu werden. Hierzu zählen auch Betrachtungen dazu, was für Wechselwirkungen mit was für Denktraditionen, Schulen (der Religionen und gewöhnli­ chen Praktiken der Zeit), Ismen sowie was für Änderungen, beispiels­ weise des politischen Systems, dabei eine Rolle gespielt haben. In Parallele zur Fragestellung Nakai Masakazus bezüglich der Wendung keniya (けにや)875 aus dem späteren Zeitraum der Heian-Zeit (794– 1192) kann eine Erforschung der Entstehungs- sowie Etablierungsge­ schichte der Wendungen »kimochi« (気持ち) sowie »ki ga suru« (気 がする) möglich sein. Im Zusammenhang mit dieser Forschungsmög­ lichkeit kann eine historische, literarische und linguistische Studie zur Verwendung der Selbstbezeichnung (»ich« im Deutschen) aus dem 875

Nakai (1995b): S. 185.

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iii. Ausblick

Japanischen einen erhellenden Blick darbieten.876 Die beiden Mög­ lichkeiten können zur Forschung und zu Studien der Geschichte des Emotionalitätswandels sowie der Subjektivitätsbildung im Horizont der japanischen Sprache beitragen. Aus der Moderne könnte das Genre »watakushi-shōsetsu« oder »shishōsetsu« (geschrieben als 私小説, das sich wörtlich als »IchRoman« übertragen lässt) ein Beispiel darbieten, das zu Beginn des 20. Jh. etabliert wurde, und sich stilistisch dadurch charakterisiert, persönliche Erlebnisse und Erfahrungen der Autor:innenschaft ganz und gar ohne Verheimlichung darzulegen.877 Die Darlegungen kön­ nen sich dadurch kennzeichnen, dass all die Erzählungen primär die personale Erfahrungsweise des Fühlens betreffen. Heute wird das Genre in der Literaturwissenschaft als ein solches betrachtet, dass sich antwortend auf das Genre des Ich-Romans aus dem Deutschen herausgebildet habe, wobei das Genre möglicherweise auch derart betrachtet werden kann, dass es durch ein großes Missverständnis des westlichen »Naturalismus« in der Literaturgeschichte in Japan entstanden ist.878 Auch eine Studie zum Übergang vor und nach Zur Variabilität der Selbstbezeichnungen im Japanischen siehe Kapitel 3.3.3. Als repräsentatives Werk gilt beispielsweise Futon (1907) von Tayama Katai (1872–1930). 878 Dies betrifft den Naturalismus (le naturalisme) z. B. bei Emile Zola. Tsubouchi Shōyō (坪内逍遥 1859–1935), japanischer Literat, schrieb in seinen Fachschriften Shōsetsu shinzui (小説神髄, 1885) sowie Shōsetsu no shugan (小説の主眼, 1885) und unterrichtete in seinen Vorlesungen an der Waseda Universität in Tokyo, dass der »Kern« der Literatur nicht in der »Förderung des Guten und Bestrafung des Bösen« (kanzenchōaku, 勧善懲悪), sondern darin liege, »das Innenleben (des Menschen) lückenlos, minutiös und sorgfältig heraus zu beschreiben, die menschlichen Leiden­ schaften und Verstrickungen als etwas Glühendes sichtbar zu machen« (「心の中の 内幕をば洩す所なく描きいだして周密精到、人情を灼熱として見えしむる」). Dies verstanden einige der damaligen Autor:innen in Japan als die Idealform des Naturalismus bzw. shizenshugi (自然主義), das für sie eine Orientierung bedeutete, um nach der präzisen Beschreibung der eigenen »natürlichen« Betroffenheit, Emo­ tionen und Gefühle als solche zu erkennen (Katō: Nihonbungakushi josetsu ge (日本 文学史序説 下), 1995, S. 355–363). So ist der shizenshugi (自然主義) als eine völlig andere Orientierung als der Naturalismus Zolas zu verstehen. Im Übrigen ist zu beto­ nen, dass auch hier die Übersetzung der Terminologien eine Rolle für das Missver­ ständnis gespielt hat: Shizen (自然) als eine objektive oder vergegenständlichte Natur zu verstehen, begann erst um die Meiji-Zeit. So heißt es, dass der bereits bestehenden Vokabel eine neue Bedeutung zugeschrieben wurde – im Zuge der Übersetzung des Naturbegriffs aus dem hier in dem Fall ursprünglich Holländischen (in Form von natuur). Das mit derselben Zeichenkombination geschriebene jinen (自然) aus der daoistischen Tradition bedeutet demgegenüber: »von alleine so sein« (eigene Übers. 876

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6. Fazit und Ausblick

der Entstehung dieses Genres kann als ein Forschungsobjekt einer historischen Studie zu einem Wahrnehmungswechsel dienen. Eine weitere Möglichkeit wäre eine interdisziplinäre Forschung der Subjektivität, die keineswegs getrennt von einer Forschung der Intersubjektivität betrieben werden kann. Wie das Beispiel eines Typus der Sozialphobie aus Japan taijin kyōfushō ( 対 人 恐 怖 症 ) aufzeigt, kann eine Konsequenz der »Fluidität« des »Ichs« im Japani­ schen auch darin entdeckt werden, dass die Subjektbildung in Japan häufig – auch in interkulturellen Diskursen – als ein rein kontextab­ hängiges Phänomen betrachtet wird. Es soll das »Zwischen« sein, das einem zuallererst zugänglich sei und die Basis sowohl der Subjektivi­ tät als auch der Intersubjektivität stifte, wodurch es wiederum möglich werden soll, dass sich die Situation entfalte. Angesichts der Tatsache, dass das gehaltene Bild des »Zwischens« – ebenso wie die pluralen Situationen – ganz und gar je nach Person und Zeit variiert, kann es doch nicht nur das vermeintlich jedem zugängliche »Zwischen« sein, das die Nähe und Distanz einzelner Beteiligten in einer geteilten Situation entscheidet. Das Zwischen ist vielmehr zu verstehen als das langsam erkennbar werdende Differenzieren jedes Empfindens an jedem beteiligten Individuum in jedem Moment jeder Situation. Somit ist jede Person auch unbemerkt am Sich-Differenzieren aktiv beteiligt. Das psychopathologische Grenzbeispiel von taijin kyōfushō scheint ebenso den Blindfleck der Ansicht zu pointieren, dass die Individuen in Japan (in manchen Studien auch untersucht unter dem Stichwort »nicht-westliche Kulturen«879) ausschließlich vom »Zwischen« herzuleiten wären.880 Die Symptome werden mit einer pathologischen Tendenz der »Verinnerlichung« der negativ konno­ tierten Betrachtung von Anderen sich selbst gegenüber erklärt.881 nach: Shinmura (2021): S. 1320), was möglicherweise zum Missverständnis des Naturalismus – als eine Beschreibung der natürlichen, nackten, persönlichen Geschichten beigetragen haben kann. Jinen (自然) wird heute als ein Wort betrachtet, das sich, sicherlich aufgrund der Verwendung derselben Zeichenkombination, mit shizen vermischte. Vgl.: Yanabu (1990): S. 132. 879 Siehe beispielsweise: Markus und Kitayama: »Culture and the Self: Implications for Cognition, Emotion, and Motivation«, in: Psychological Review, Nr. 98 (2), 1991, S. 224–253. Nisbett: The Geography of Thought, 2003. Siehe auch: Tanaka (2015): S. 36. 880 Vgl.: Kimura (1995): S. 137. sowie Tanaka (2015): S. 36. 881 Kimura führt hierzu folgenderweise aus: »Das wesentliche Charakteristikum der Sozialphobien besteht darin, daß beim Patienten jede eigene, von innen her kom­ mende Wertschätzung seiner selbst unmöglich ist und er gänzlich zum Gegenstand

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iii. Ausblick

So wäre das Selbst des »Ichs« in diesem Fall ganz und gar das »Du« von vermeintlich allen Menschen, die dem »Ich« alles Negative zuschreiben würden. Dort lässt sich kein anderes Ich finden, das sich selbst von alleine, also ohne ein Du, befindet. Angesichts dessen, dass dies (nicht nur, aber auch) in Japan als ein Grenzfall und Symptom einer Angststörung betrachtet wird, kann die Subjektbildung in Japan doch nicht nur mit oder in dem »Zwischen« vollendet werden, nicht nur dadurch, dass das Ich eines Subjekts nur als das kontextabhängige »Du« von Anderen betrachtet wird.882 Für die weitere Forschung zu diesem Gebiet muss ein genauerer und methodisch anderer Blick gewonnen werden, damit die Subjek­ tivität der Menschen aus verschiedenen Kulturen nicht durch die Maße von einer an die Beobachtungssprache und -kulturen stark angepassten bzw. der von einer tendenziellen Vereinfachung bedroh­ ten Theoretisierung bewertet und untersucht werden muss. Zum Schluss soll noch eines der verschiedensten Themen genannt werden, die in der vorliegenden Arbeit nicht explizit ans Licht gebracht werden konnten. Die Thematisierung der Perspektive des weiblichen Leibseins, die in der Arbeit auch aufgrund dessen aus­ gespart werden musste, dass auch das »Frau-Sein«, d. h. das Selbst­ empfinden von sich als weiblich verstehenden Menschen, variiert und die Differenzen – nicht nur der Nationalitäten, Hautfarben, sondern auch einfach der einzelnen Wahrnehmungen – bei einer phänomeno­ logischen Untersuchung von weiblichem Leibsein mitberücksichtigt werden müssen. Somit ist die Thematisierung der geschlechtlich unterschiedlichen Leiberfahrungen in Verknüpfung mit dem Sprach­ einer von außen kommenden, negativen Einschätzung durch die anderen Menschen wird. Wenn ein anderer Mensch einen selbst ansieht oder riecht, kommen die eigenen Schwachstellen ans Licht, und man selbst sinkt zum Gegenstand einer negativen Wertschätzung herab. Das Ich dieser Patienten hat keine selbständige, autonome Existenz. Ihr Selbst besteht ausschließlich in dem von den anderen Menschen wahr­ genommenen Selbst. Diese Menschen finden sich nur im anderen. Nun gibt es Men­ schen, die wirklich sehr häßlich und mißgestaltet sind und denen daher die Blicke der anderen Menschen durchaus etwas ausmachen. Aber diese Menschen sind gewöhn­ licherweise nicht bis in ihr eigenes Innenleben von den anderen beherrscht. Die Blicke der anderen Menschen lassen sie zwar nicht kalt, aber sie haben ihre Existenz fest in den eigenen Händen. Im Gegensatz dazu erschöpft sich das Selbst eines Dysmorp­ hophobikers gänzlich in dem von den anderen wahrgenommenen und verachteten Selbst.« Kimura (1995): S. 137. 882 Siehe: Kapitel 3.3.3. Vgl. auch: Mori (1979): S. 63f., Kimura (1995): S. 103, sowie Tanaka (2015): S. 35–39.

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6. Fazit und Ausblick

gebrauch einzelner Menschen als eine notwendige und fruchttragende Forschungsmöglichkeit zu nennen. Wie Hilge Landweer und Isabella Marcinski verdeutlichen, stellte die »feministische Phänomenologie der 1980er Jahre […] im Anschluss an Beauvoir fest, dass die Phänomenologie bis dahin stets von einem universalen leiblichen Subjekt ausgegangen war, das implizit jedoch als männlich vorgestellt wurde.«883 Aus dem Bereich feministischer Phänomenologien, in denen die sexuellen Differenzen betont werden, stellen die o. g. Her­ ausgeberinnen des Buches Dem Erleben auf der Spur – Feminismus und die Philosophie des Leibes (2016) ein Zitat von Iris Marion Young aus dem Aufsatz Werfen wie ein Mädchen (Throwing Like a Girl and Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory, Original erschienen im Jahr 1990) vor, das den geschlechtlichen Unterschied in der Art und Weise des leiblichen Wahrnehmens einer Frau verdeutlicht: Ein wesentliches Moment der Situation des Frau-Seins besteht darin, daß sie ständig die Möglichkeit lebt, als bloßer Körper angestarrt zu werden, als Figur und Fleisch, der sich selbst als potentielles Objekt den Intentionen und Manipulationen eines anderen Subjekts darbietet und nicht als lebende Manifestation eigener Handlungen und Intentio­ nen.884

Hierzu fassen Landweer und Marcinski folgenderweise zusammen: Aufgrund der strukturellen Erfahrung, zum Objekt gemacht zu wer­ den, ständig als Geschlechtskörper angesehen zu werden, wie es Sartre sagen würde, entwickeln Frauen eine starke Aufmerksamkeit und Selbstreflektion [sic] gegenüber ihrem eigenen Körper. Diese Distanzierung hemmt ein Aufgehen in der Welt, wenn sie es nicht sogar verunmöglicht, und blockiert die Interaktion mit ihr, also gerade das von der Phänomenologie als »normale« unterstellte leibliche Mit­ schwingen mit der Welt.885

Eine ähnliche Situation kann sicherlich bei verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Orientierungen – also nicht nur bei biologischen Frauen, sondern bei allen Menschen, die sich 883 Landweer und Marcinski (Hg.): Dem Erleben auf der Spur: Feminismus und die Philosophie des Leibes, 2016, S. 11. 884 Iris Marion Young: »Werfen wie ein Mädchen. Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit«, übers. von Barbara Reiter, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 41 Nr. 4, 1993, S. 724. Vgl.: Landweer et al. (2016): S. 11f. 885 Ebd. Hervorh. i. O.

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iii. Ausblick

selbst als »Nichtfrau« verstehen – beobachtet werden. Denn jede Wahrnehmung jedes Individuums im jeweiligen Sich-Befinden mani­ festiert sich unterschiedlich. Außerdem besteht die Möglichkeit ste­ tig, dass die Zuschreibung, Attribuierung sowie Identifizierung von Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlen, aber auch von ande­ ren Menschen, Dingen und Atmosphären als »dies« und »das« immer schon am Werk sind, ohne dass dies bewusst gemacht werden muss. Weitere Forschungsmöglichkeiten müssten also sowohl in der Kon­ frontation mit der Vielfalt der natürlichen Sprachen, als auch mit der Vielfalt der gefühlten Geschlechter und leiblichen Erfahrungen in Phänomenologien mit dem Schwerpunkt der Artikulierungen zu entdecken sein. Am Schluss dieser Arbeit bleibt für anschließende Forschungen festzuhalten: Eine linguistische Phänomenologie kann, verankert in einer selbstkritischen Artikulierungsästhetik, Selbstverständlichkei­ ten des Sprechens, Denkens, Fühlens und Sich-Befindens aufweisen, die untrennbar miteinander verwoben sind. Sie lenkt den Blick nicht nur auf das Nicht-Unterschiedene, sondern auch auf das von einem selbst immer schon unreflektiert Unterschiedene. So gibt sie einem den Freiraum, die Frage zu stellen und experimentell darauf einzuge­ hen, wie mit der eigens unreflektiert laufenden Unterscheidung und dem (noch) nicht-unterschiedenen Fühlen umzugehen ist. Der Blick auf ein oder mehrere Zwischen, in das immer schon selbstverständ­ lich Unterschiedene sowie auf Überschreitungen dieser Unterschei­ dungen in verschiedensten Ebenen kann uns mit Überraschungen der Partikularität jedes einzelnen Empfindens und Wahrnehmens begegnen lassen. In diesem Aufmerken der Partikularität und der Selbstverständlichkeiten scheint sich bereits, um es mit Wittgenstein zu sagen, das Bild selbst in eine Transformation zu begeben – jenes Bild sowohl der sogenannten »Welt« als auch des sogenannten »Ichs«, das uns sonst »unerbittlich gefangen« halten kann.886

886

Vgl.: Wittgenstein (2015): S. 82 (PU § 115).

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7. Anhänge

Anhang 1 き【気】[氣]キ ケ 1. 《名・造》心の動き・状態・働きを総合 して捉えたもの。精神。「浩然の気を養う」「気が重い」「気軽 (きがる)」「気が遠くなる」「気を静める」「気を落とす」「気 落ち」「気が利く」(ちょっとしたことにも心が行き届く)「気 が利いた(=しゃれた)文句」「よく気がつく男だ」「気が引け る」(引け目を覚える)「ほめられてその気になる(=そういう 気持が起こる)」「気は心」(わずかの事でも真心の一端は現れ る)「気働き・気概・気焰(きえん)・気力・気風(きふう・きっぷ)・ 気分・気質(きしつ・かたぎ)・気性(きしょう)・意気・本気・勇気・ 和気・鋭気・英気・根気・稚気・覇気・平気・病気・人気・男気 (おとこぎ)・親切気(しんせつぎ・しんせつげ)▽(1)は(2)(ア)の転。伴 う語との組合わせでさらに分けられて、ア. 平常の心。「気を失 う」「気を取り戻す」「気が狂う」「気が気でない」(二番目の 気がこれ)「気もそぞろだ」(→そぞろ)イ. 緊張して盛んな精 神。「気を吐く」「気をくじく」「気が抜ける」((2)(ウ)の意に も)ウ. 何かそれをしようという心の働き。「気を入れる」。特 に、意図。つもり。「今後どうする気だろう」「お前の気が知れ ない」。また、それに引かれる心。関心。「気が進まない」「お 気が向いたらいらっしゃい」「人の気を引く」エ. あれこれ考える 心。「気をもむ」「気に病む」「気を回す」(余計な事まで心を 働かせ、時には邪推する)「気のせいか尾行されているようだ」 オ. 感情。「気を悪くする」(感情を害する)「気に食わない」 (反発や不満の心が生ずる)「気まずい」。また、人を恋い慕う 心。「あの人に気がある」 2.《名・造》見えないとしても身の回りに漂うと感ぜられる もの。ア. 天地間に満ちわたるもの(の働き)。「天地正大の気」 「正気・元気・生気・山の霊気・気運・雰囲気」イ. その場の漠 然とした全体的な感じ。雰囲気。「殺伐の気がみなぎる」ウ.それ に特有の、香・味・けはい。「気の抜けたビール」「秋気を生じ る」

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7. Anhänge

▽→け(気)(1)(2)。エ. 天地間に起こる自然現象の担い手。 「気象・気候・気体・大気・空気・熱気・湿気(しっき・しっけ)」 「電気」3. 口を出入りする息。呼吸。「気息・気管・一気に飲 む・酒気を帯びる」▽漢字のもとの意味はこれ。4. 四季の中の十 五日間をまとめた期間。五日間を「候」と言い、その相継ぐ三候 が気。「気候・節気・二十四節気」887

Anhang 2 け【気】1.手には取れないが、ゆらぎ漂ってそれがあると知れ るような或る(ある)もの。▽→き(気)。ア.その存在が感じ取れる気 分・有様。「人の(隠れている)―がする」「火の―がほしい肌 寒さ」「しゃれっ―」「茶目っ―」「娑婆(しゃば)―」(俗世間 への関心)「病気の―がある」。限定しては、病気。「かぜの― が抜けない」「胸の―」「腰―」イ.含まれていてその特徴をなす 成分。要素。「塩―が薄い」「白粉(おしろい)の―がない」(全く 化粧していない)「女っ―を欠いた家」2. [接尾](形容詞語幹 …に付け)…と言う気持・心。「ねむ―」「寒―」▽→=げ 888

Anhang 3 けはい【気配】1. 何となく感じられる様子。けわい。「人が動く ―に振り向く」「秋の―がする」2.(取引。相場)▽「気配」は 当て字。(2)は「きはい」とも言う。889

Anhang 4 けはひ(ケワイ)一. [名]《ケ(気)ハヒ(延)の意。ハヒは、あ たり一面に広がること。何となく、あたりに感じられる空気。 「気配」は後世の当て字。→けしき》1.肌で感じたり、聞こえた り、匂ったりする雰囲気や様子・感じ。[...]「空の―ひややかな るに」(源氏 総角 2.匂い。「かかる―の、いとかうばしくうち

887 888 889

Nishio et al. (2016): S. 312. Ebd.: S. 421. Ebd.: S. 442.

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匂ふに。」(源氏 空蝉)。3.声。「ほのかに聞ゆる御―に慰めつ つ」(源氏 夕霧)4.音。「気近きほどの―。(琴ノ音)立ち聞き させよ。」(源氏 末摘花)5. 気温「まだ―暑きほどなれば」(源 氏 総角)6.立居や動作の感じ。「うとき人の御―の近きも(イ ヤデ)[...]」(源氏 総角)7.(様子から察せられる)人柄。「人 の―、いとあさましくやはらかに、おほどきて、物深く重き方は おくれて」(源氏 夕顔)8.なごり。「過ぎにし親の御―とまれる ふるさと」(源氏 帚木)9.ゆかり。血縁。「ただことばかりにて も、まことの親の御―ならばこそ嬉しからめ」(源氏 玉鬘)10. <化粧>(雰囲気を作る意から)けしょう。おつくり。[...]「殊に 女は、―と云ひて、顔に白粉をぬり、紅といふ物をぬり」(虎明 本狂言・鏡男) 二. 【けは・ひ】(四段)名詞ケハヒを動詞化し た語) 身づくろいをする[...]。890

Anhang 5 くうき【空気】 1. 地球を包む大気の下層部を成す、無色・無臭・ 透明の混合気体 [...] 2. 人々の気持ちを支配するようなその場の情 況。雰囲気。「失敗すると知りながら、あの時のーではそうする ほかなかった」「とても反対できるーではない」[...]。891

Anhang 6 きもち【気持ち】 1. 物事にいだく、多くは感覚的・感情的な、心 の状態。気のありかた。▽ここち→ここち・こころもち(1)。 ア. 気(1)の持ちかた。気構え。「―を引き締めてかかる」イ. 物事をどう感じ取っているかという、心のさま。「老人の―を大 切にする」「ほんの―ばかりのお礼」。感情。「ぼくに対してど んな―でいるのか」ウ.心が置かれている状態。気分。「さわやか でいい―だ」エ.体の状態についての感じ。気分。「船酔いで―が 悪い」2.《副詞的に》そう思ってみればそう感ぜられるほどに。 幾らか。「―大きめな服」▷→こころもち(2)892

890 891 892

Ōno et al. (2018): S. 464. Nishio et al. (2016): S. 390. Ebd.: S. 341.

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7. Anhänge

Anhang 7 きぶん【気分】1. ある間続く感情の状態。「―を変える」。ある 時の心身の感じ。「―がすぐれない」2. そのあたり全体の感じ。 雰囲気。「―を楽しむ」「お祭り―」―や(―屋)その時の気分 に左右され(て行動す)るたちの人。893

893

Ebd.: S. 339.

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